Rechtspaternalismus und Biomedizinrecht: Schutz gegen den eigenen Willen im Transplantationsgesetz, Arzneimittelgesetz und Embryonenschutzgesetz [1 ed.] 9783428557806, 9783428157808

Darf der Staat den mündigen Menschen gegen seinen Willen schützen? Die Frage nach der rechtlichen Zulässigkeit einer Bev

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Rechtspaternalismus und Biomedizinrecht: Schutz gegen den eigenen Willen im Transplantationsgesetz, Arzneimittelgesetz und Embryonenschutzgesetz [1 ed.]
 9783428557806, 9783428157808

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1419

Rechtspaternalismus und Biomedizinrecht Schutz gegen den eigenen Willen im Transplantationsgesetz, Arzneimittelgesetz und Embryonenschutzgesetz

Von

Antonia Reitter

Duncker & Humblot · Berlin

ANTONIA REITTER

Rechtspaternalismus und Biomedizinrecht

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1419

Rechtspaternalismus und Biomedizinrecht Schutz gegen den eigenen Willen im Transplantationsgesetz, Arzneimittelgesetz und Embryonenschutzgesetz

Von

Antonia Reitter

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn hat diese Arbeit im Wintersemester 2018/2019 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Satz: Textforma(r)t Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-15780-8 (Print) ISBN 978-3-428-55780-6 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit ist im Wintersemester 2018/2019 von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation angenommen worden. Literatur und Rechtsprechung wurden bis März 2018 berücksichtigt. Meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Dr. Tade M.  Spranger, möchte ich für die Betreuung der Arbeit sowie dafür danken, dass er meine Begeisterung für die Bioethik während des Studiums geweckt hat. Herrn Professor Dr. DDr. h. c. ­Matthias Herdegen danke ich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Großer Dank gilt außerdem Herrn Professor Dr. Raimund Waltermann für seine langjährige Unterstützung und die schöne Zeit an seinem Lehrstuhl an der Universität Bonn sowie ganz besonders meinen Kolleginnen und Kollegen am Institut und in unserer Bonner DoktorandInnenrunde. Danken möchte ich ferner Frau Dr. Cristina Pardini für die gemeinsame Zeit am Yale Interdisciplinary Center for Bioethics, während der ich die wichtigsten Impulse für diese Arbeit erhalten habe. Für die Mühen des Korrekturlesens und vielfältige Anregungen danke ich Herrn RA Thomas Kraemer und für den langjährigen Austausch Herrn Dr. André Dumont du Voitel. Der größte Dank gilt meiner Familie, meinem Mann Dr. André Gilles, meiner Schwester Carla und meinen Eltern für ihre unschätzbare Unterstützung. Köln, im Mai 2019

Antonia Reitter

Inhaltsverzeichnis Einleitung

19

A. Untersuchungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 B. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

Erster Teil Grundlegung 24

Erstes Kapitel Rechtspaternalismus

24

A. Begriffsbestimmung „Paternalismus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 I.

Charakteristika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 1. Verhalten zum Schutz oder zum Wohl der Betroffenen: Negativer und positiver Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2. Ohne oder gegen den autonom oder defizitär gebildeten Willen: Starker und schwacher Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 a) Autonome und defizitäre Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 aa) Abstrakte Autonomie: Autonomiefähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 (1) Begriffsbestimmung Autonomie / ​Selbstbestimmung . . . . . . . 31 (2) Moralische und persönliche Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . 31 (3) Persönliche Autonomie und Autonomiefähigkeit . . . . . . . . . 32 bb) Konkrete Autonomie: Umstandskenntnis, Absenz von Willensmängeln und Entscheidungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 (1) Kenntnis der entscheidungsrelevanten Umstände und Absenz relevanter Irrtümer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 (2) Freiwilligkeit der Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 cc) Anforderungen und Feststellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 dd) Anlass für Zweifel? Unvernunft der Entscheidung, Delegation der Ausführungshandlung und fehlende Authentizität . . . . . . . . . . . . 38 b) Resümee: Autonomie als Abgrenzungsmerkmal zwischen starkem und schwachem Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 3. Beeinflussung, Freiheitsbeschränkung oder Zwang? . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

II.

Eigene Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

8

Inhaltsverzeichnis III. Rechtspaternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 1. Paternalistische Gesetzesregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 a) Detektion paternalistischer Regelungsmotive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 b) Freiheitsbeeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 c) Gegen den Willen der Betroffenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2. Paternalistische Hoheitsakte außerhalb der Legislative . . . . . . . . . . . . . . . . 44 IV. Abgrenzungen: Rechtsmoralismus, moralischer Rechtspaternalismus und Perfektionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 V.

Besondere paternalistische Erscheinungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 1. Interpersoneller und staatlicher Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 2. Aktiver und passiver Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 3. Harter und weicher Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 4. Reiner und unreiner Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 5. Echter, unechter und verdeckter Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 6. Direkter und indirekter Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 7. Freiheitserweiternder Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 8. Freiheitsermöglichung, Freiheitssicherung und Verfahrenspaternalismus . 51

B. Paternalismus in Gesetzgebung und Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 I.

Paternalismus im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 1. Strafbewehrter Umgang mit Betäubungsmitteln (§ 29 Abs. 1 S. 1 BtMG) . 52 a) Regelungszweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 b) Individueller Gesundheitsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 c) Volksgesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 d) Resümee: Paternalistische Anteile im Umgangsverbot mit Betäubungsmitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2. Strafbarkeit und Straflosigkeit von erweiterten Selbsttötungskonstellationen 58 a) Straflosigkeit der Selbsttötung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 b) Staatliches Eingreifen bei Suizidversuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 c) Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) . . . . . . . . . . . . . . . 60 aa) Schutz Dritter und der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 bb) Schutz der Sterbewilligen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 cc) Schutz der Täterin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 dd) Resümee: Paternalistische Anteile des § 216 StGB . . . . . . . . . . . . 65 d) Strafbarkeit von Sterbehilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 e) Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB) 65 3. Strafbarkeit einer Körperverletzung trotz Einwilligung in Folge eines Verstoßes gegen die guten Sitten (§ 228 StGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 4. Strafbarkeit von Doping . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 5. Weitere Einschränkungen der Dispositionsbefugnis über den eigenen Körper 71

Inhaltsverzeichnis

9

6. Weitere paternalistische Regelungen des Nebenstrafrechts . . . . . . . . . . . . . 72 II.

Paternalistische Regelungen außerhalb des Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 1. Sicherheitsgurt- und Schutzhelmpflicht (§ 21a Abs. 1, 2 StVO) . . . . . . . . . 73 2. Zwangsuntersuchung, -behandlung und -ernährung von Gefangenen . . . . 76 3. Patientenverfügungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 4. Arbeitsschutzregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 5. Sozialversicherungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 6. Weitere Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 7. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82

III. Normierter Paternalismus gegenüber Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 1. Unterbringung bei Selbstgefährdung gegen den Willen der Betroffenen . . 83 2. Medizinische Zwangsbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 3. Schutz Minderjähriger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 IV. Paternalismus in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 1. Das Peep-Show-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . 85 2. Der Zwergenweitwurf-Beschluss des Verwaltungsgerichts Neustadt . . . . 86 3. Der Laserdrome-Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts . . . . . . . . . . . 87 4. Der Polygraphen-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . 88 V.

Antipaternalistische Gegenbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

VI. Resümee: Paternalismus in Gesetzgebung und Rechtsprechung . . . . . . . . . . . 90

Zweites Kapitel Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung paternalistischer Beschränkungen



93

A. Ethische Auseinandersetzungen mit paternalistischen Beschränkungen . . . . . . . . . . 94 I.

Kants deontologischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 1. Kants antipaternalistischer Rechtsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 2. Kants paternalistische Tugendpflichten gegen sich selbst . . . . . . . . . . . . . . 97 3. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98

II.

Vertragstheoretische und naturrechtliche Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98

III.

Konsequentialistische / ​utilitaristische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 1. Mills utilitaristischer (Anti-)Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 2. Rechtfertigung durch Nützlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 3. Rechtfertigung durch Freiheitserweiterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 a) Gewichtung und Bewertung der Freiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 b) Missachtung der Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 c) Schutz des zukünftigen Selbsts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

10

Inhaltsverzeichnis d) Resümee: Keine Eingriffsrechtfertigung durch Freiheitserweiterung . . 113 4. Verhältnis von zu schützendem Rechtsgut und Entscheidungsfreiheit . . . . 114 5. Resümee: Konsequentialismus und Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 IV. Kollektivismus und Kommunitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 V.

Gesellschaftliche Pflichten und Vernetzungsargumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116

VI. Paternalistische Nebenwirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 VII. Autonomieorientierte Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 1. Vorherige Zustimmung: Odysseus-Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 2. Nachträgliche Zustimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 3. Hypothetische Zustimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 4. Dworkins „rational consent“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 5. Mangelnde Authentizität der Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 6. Unumkehrbarkeit und Widersprüchlichkeit der Entscheidung . . . . . . . . . . 124 VIII. Ethische Auseinandersetzungen mit schwach paternalistischen Beschränkungen 126 IX. Resümee: Ethische Auseinandersetzungen mit paternalistischen Beschränkungen 127 B. Verfassungsrechtliche Beurteilung paternalistischer Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 I.

Eingriff in grundrechtlich geschützte Freiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 1. Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 2. Allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) . 130 a) Schutz der Freiheit zur Selbstschädigung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 b) Schutz der Freiheit von Bevormundung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 3. Allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 4. Resümee: Grundsätzlicher Schutz vor paternalistischen Freiheitsbeschränkungen durch die allgemeine Handlungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

II.

Beschränkungen des grundrechtlichen Schutzes selbstschädigenden Verhaltens 136 1. Beschränkung durch „Grundpflichten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 2. Grenzen des Grundrechtsverzichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 3. Grenzen der Verfügung über eigene Rechtsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 a) Grundrechtlicher Schutz der Verfügungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 b) Unverfügbarkeit eines Rechtsguts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 aa) Disponibilität der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 (1) Objektiviertes Menschenwürdeverständnis . . . . . . . . . . . . . 142 (2) Subjektiviertes Menschenwürdeverständnis . . . . . . . . . . . . . 143 bb) Disponibilität des Rechtsguts Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 cc) Disponibilität der Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 4. Resümee: Keine vorgelagerten Beschränkungen des grundrechtlichen Schutzes selbstschädigenden Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150

III. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung stark paternalistischer Freiheitseingriffe 151

Inhaltsverzeichnis

11

1. Individualschutz gegen den eigenen Willen als legitimer Zweck einer Freiheitsbeschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 a) Grundlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 b) „Rechtspflichten gegen sich selbst“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 c) Kollision eigener Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 d) Aspekte der Freiheitserweiterung, Freiheitsermöglichung und Freiheitssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 e) Irreversibilität und Widersprüchlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 2. Schutz gegen den eigenen Willen als Gemeinwohlbelang? . . . . . . . . . . . . . 164 a) Gemeinschaftsbezug jeder Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 b) Gesellschaftliche Auswirkungen massenhafter Selbstschädigungen und Aspekte der „Volksgesundheit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 c) Belastung der Sozialversicherung und Berührung des Sozialstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 S. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 d) Gemeinwohlinteresse an der Wahrung der „Gattungswürde“ . . . . . . . . 172 e) Schutz vor einverständlicher Schädigung durch Dritte als Gemeinwohlbelang: Rechtfertigung von indirektem Paternalismus . . . . . . . . . . . . . 174 f) Resümee: Fehlender Gemeinwohlbezug des Schutzes gegen den eigenen Willen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 3. Rechtfertigung paternalistischer Beschränkungen aus der objektiven Dimension der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 a) Objektive Wertordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 b) Grundrechtliche Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 aa) Kein Auslösen grundrechtlicher Schutzpflichten bei autonomer Selbstschädigung oder einverständlicher Drittschädigung . . . . . . 180 bb) Keine Eingriffsrechtfertigung durch grundrechtliche Schutzpflichten 181 4. Rechtfertigung paternalistischer Beschränkungen aus dem Sittengesetz . . 183 5. Rechtfertigung paternalistischer Beschränkungen wegen einer Verletzung der Wesensgehaltsgarantie (Art. 19 Abs. 2 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 6. Resümee: Keine verfassungsrechtliche Rechtfertigung stark paternalistischer Freiheitseingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 IV. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung schwach paternalistischer Freiheitseingriffe: Bevormundung defizitär Entscheidender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 1. Eingriff in den Schutzbereich grundrechtlicher Freiheiten . . . . . . . . . . . . . 186 2. Rechtfertigung des paternalistischen Schutzes defizitär Entscheidender . . 187 3. Resümee: Legitimität schwach paternalistischer Freiheitseingriffe . . . . . . 188 V.

Verfassungsrechtliche Rechtfertigung stark paternalistischer Freiheitseingriffe mit dem Schutz defizitär Entscheidender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 1. Legitimer Zweck: Schutz defizitär Entscheidender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 2. Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 3. Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192

12

Inhaltsverzeichnis a) Differenzierende Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 b) Überprüfung der Autonomie: Verfahrenspaternalismus . . . . . . . . . . . . 194 4. Verhältnismäßigkeit i. e. S. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 5. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 6. Rechtfertigung des paternalistischen Schutzes Minderjähriger . . . . . . . . . 195 VI. Resümee: Verfassungswidrigkeit von starkem und Verfassungsmäßigkeit von schwachem Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197

Zweiter Teil

Paternalismus im Biomedizinrecht 199

Drittes Kapitel

Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

200

A. Lebendorganspende in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 B. Regulierung der Lebendorganspende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 C. Strafbewehrte paternalistische Regelungen im Transplantationsgesetz . . . . . . . . . . . 205 I.

Das Verbot des Organ- und Gewebehandels (§§ 17, 18 TPG) . . . . . . . . . . . . . 206 1. Inhalt der gesetzlichen Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 a) Begriff des Handeltreibens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 b) Straflosigkeit der Gewährung oder Annahme eines angemessenen Entgelts im Rahmen der Heilbehandlung (§ 17 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 TPG) . . . 209 c) Normadressatinnen des § 17 Abs. 1 TPG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 d) Strafbarkeit der Entnahme, Übertragung und des Übertragenlassens von Organen, die Gegenstand von Organhandel sind (§ 17 Abs. 2 TPG) . . . 211 2. Schutzzweck und Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 3. Verfassungsmäßigkeit der Regelung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 a) Betroffene Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 aa) Grundrechte der Empfängerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 bb) Grundrechte der Spenderin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 cc) Grundrechte Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 b) Verfassungsrechtliche Rechtfertigungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 aa) Schutz vor Ausbeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 (1) Legitimer Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 (a) Schwach paternalistischer Integritätsschutz? . . . . . . . . 217 (b) Ausnutzungsaspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 (c) Schutz defizitär Entscheidender . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 (2) Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222

Inhaltsverzeichnis

13

(3) Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 (4) Verhältnismäßigkeit i. e. S. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 bb) Schutz der körperlichen Unversehrtheit der Spenderin . . . . . . . . . 225 cc) Schutz der Menschenwürde bei einer Kommerzialisierung des menschlichen Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 dd) Kommerzialisierung als Moralverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 ee) Schutz des Pietätsgefühls der Allgemeinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 ff) Schutz vor einer Verteilung von Organen nach finanziellen Gesichtspunkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 gg) Schutz des Transplantationswesens vor dem Anschein sachfremder Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 hh) Appell- und Präventionsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 4. Resümee: Verfassungswidrigkeit des Organhandelsverbots . . . . . . . . . . . . 233 5. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 II.

Die Eingrenzung des Lebendspenderkreises (§ 8 Abs. 1 S. 2 i. V. m. § 19 Abs. 1 Nr. 2 TPG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 1. Inhalt der gesetzlichen Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 a) „In besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig nahestehen“ . 237 b) Besondere Spendeformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 2. Schutzzweck und Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 3. Verfassungsmäßigkeit der Regelung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 a) Formelle Verfassungsmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 b) Materielle Verfassungsmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 aa) Betroffene Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 (1) Grundrechte der Spenderin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 (2) Grundrechte der Empfängerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 (3) Grundrechte der behandelnden Ärztin . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 bb) Verfassungsrechtliche Rechtfertigungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . 247 (1) Sicherung der Freiwilligkeit der Entscheidung – Schutz defizitär Entscheidender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 (a) Legitimer Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 (b) Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 (c) Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 (d) Verhältnismäßigkeit i. e. S. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 (2) Schutz vor Organhandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 (a) Legitimer Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 (b) Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 (c) Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 (d) Verhältnismäßigkeit i. e. S. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258

14

Inhaltsverzeichnis (3) Vorrang der postmortalen Spende und Schutz der potentiellen Spenderinnen vor körperlicher Schädigung . . . . . . . . . . . . . . 258 (4) Rechtfertigung aus anderen Gründen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 cc) Verletzung des Gebots schuldangemessenen Strafens, des Schuldprinzips und des Übermaßverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 (1) Fehlende Strafwürdigkeit des Tatverhaltens . . . . . . . . . . . . . 263 (2) Vorverlagerung vor eine abstrakte Gefährdung . . . . . . . . . . . 265 4. Resümee: Verfassungswidrigkeit der Spenderkreisbeschränkung . . . . . . . . 266 5. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 III. Das Verbot der Organ- oder Gewebeentnahme bei nicht volljährigen Spenderinnen (§ 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 a) Alt. 1 i. V. m. § 19 Abs. 1 Nr. 1 TPG) . . . . . . . . . 268 IV. Das Verbot der Organ- oder Gewebeentnahme bei nicht einwilligungsfähigen Spenderinnen (§ 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 a) Alt. 2 i. V. m. § 19 Abs. 1 Nr. 1 TPG) . . . 270 V.

Das Verbot der Organ- oder Gewebeentnahme bei nicht hinreichender Aufklärung (§ 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b) Alt. 1 i. V. m. § 19 Abs. 1 Nr. 1 TPG) . . . . . . . . . . 271 1. Rechtfertigung verfahrenspaternalistischer Eingriffe zum Schutz defizitär Entscheidender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 2. Verfassungsmäßigkeit der Aufklärungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

VI. Das Verbot der Organ- oder Gewebeentnahme bei fehlender Einwilligung (§ 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b) Alt. 2 i. V. m. § 19 Abs. 1 Nr. 1 TPG) . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 VII. Der Vorbehalt ärztlicher Behandlung (§ 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 i. V. m. § 19 Abs. 1 Nr. 1 TPG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 1. Gemeinwohlinteresse an der Einhaltung von Qualitätsstandards . . . . . . . . 275 2. Verfassungsmäßigkeit des Vorbehalts ärztlicher Behandlung (§ 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 i. V. m. § 19 Abs. 1 Nr. 1 TPG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 VIII. Resümee: Strafrechtlicher Paternalismus im Transplantationsgesetz . . . . . . . . 278 D. Paternalistische Regelungen im Transplantationsgesetz ohne Strafbewehrung . . . . . 279 I.

Subsidiarität der Lebendspende (§ 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 TPG) . . . . . . . . . . . . . . . 279 1. Betroffene Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 2. Rechtfertigung durch den „Schutz der Postmortalspende“ . . . . . . . . . . . . . 282 3. Paternalistischer Schutz der potentiellen Spenderin . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282

II.

Eignung, keine Gefährdung oder schwere Beeinträchtigung der Spenderin (§ 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 c) TPG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

III. Eignung zur Lebenserhaltung oder Krankheitsheilung (§ 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 TPG) 284 IV. Bereiterklärung zur Nachbetreuung (§ 8 Abs. 3 S. 1 TPG) . . . . . . . . . . . . . . . . 285 V.

Gutachtliche Stellungnahme durch die nach Landesrecht zuständige Kommission (§ 8 Abs. 3 S. 2 TPG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 1. Inhalt der gesetzlichen Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 2. Rechtfertigung des Erfordernisses einer kommissionellen Stellungnahme mit dem verfahrenspaternalistischen Schutz defizitär Entscheidender . . . . 287

E. Resümee: Paternalismen im Transplantationsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290

Inhaltsverzeichnis

15

Viertes Kapitel

Die Regelung der klinischen Prüfung im Arzneimittelgesetz 291

A. Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 I.

Historie der Forschung an Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292

II.

Das Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

III. Grundlegendes zum Schutz des Menschen im Rahmen der klinischen Prüfung 293 B. Medizinische Vertretbarkeit der Prüfung nach Risiko-Nutzen-Abwägung (§ 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 i. V. m. § 96 Nr. 10 AMG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 I.

Betroffene Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 1. Wissenschafts- und Berufsfreiheit der Prüfer und Sponsoren . . . . . . . . . . . 299 2. Verfügungsrecht des Probanden über seinen eigenen Körper aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG bzw. aus Art. 2 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300

II.

Verfassungsrechtliche Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 1. Menschenwürde der Probanden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 2. Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit der Probanden . . . . . . 302 3. Schutz der Autonomie und Schutz defizitär entscheidender Probanden . . . 303 4. Schutz des Vertrauens in die Integrität der Humanforschung . . . . . . . . . . . 305

III. Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG)? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 IV. Resümee: Verfassungsmäßigkeit des Erfordernisses einer medizinischen Vertretbarkeit nach Risiko-Nutzen-Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 C. Einwilligung nach Aufklärung (§ 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 3b), Abs. 2 S. 1 i. V. m. § 96 Nr. 10 AMG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 D. Verbot der Teilnahme untergebrachter Personen an klinischen Prüfungen (§ 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 i. V. m. § 96 Nr. 10 AMG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 I.

Betroffene Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310

II.

Verfassungsrechtliche Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 1. Kein schwacher Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 2. Schutz defizitär Entscheidender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 3. Schutz des Vertrauens in die Integrität der Humanforschung . . . . . . . . . . . 313

III. Resümee: Teilweise Verfassungswidrigkeit des Verbots der Teilnahme untergebrachter Personen an klinischen Prüfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 E. Sicherheits- und Qualitätsanforderungen (§ 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 5–9 i. V. m. § 96 Nr. 10 AMG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 F. Direkter Individual- oder Gruppennutzen von Forschung mit einschlägig Kranken (§§ 40, 41 Abs. 1 S. 1 i. V. m. § 96 Nr. 10 AMG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 I.

Betroffene Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

II.

Verfassungsrechtliche Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

16

Inhaltsverzeichnis

G. Forschung mit nicht einwilligungsfähigen Volljährigen (§§ 40, 41 Abs. 3 i. V. m. § 96 Nr. 10 AMG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 H. Forschung mit Minderjährigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 I.

Forschung mit nicht einschlägig kranken Minderjährigen (§ 40 Abs. 4 i. V. m. § 96 Nr. 10 AMG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322

II.

Forschung mit einschlägig kranken Minderjährigen (§§ 41 Abs. 2, 40 Abs. 1–4 i. V. m. § 96 Nr. 10 AMG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322

III. Verfassungsrechtliche Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 I. Zustimmende Bewertung der Ethik-Kommission (§§ 40 Abs. 1 S. 2, 42 Abs. 1 S. 7 Nr. 3 i. V. m. § 96 Nr. 11 AMG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 I.

Inhalt und Ausrichtung der gesetzlichen Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325

II.

Verfassungsrechtliche Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326

J. Resümee: Paternalismen im Arzneimittelgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327

Fünftes Kapitel

Reproduktionsmedizinische Regelungen im Embryonenschutzgesetz 329

A. Das Verbot der Eizellspende zu reproduktiven Zwecken (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 und 2, Abs. 2 Nr. 1 und 2 ESchG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 I.

Medizinischer Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331

II.

Inhalt und Ausrichtung der gesetzlichen Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332

III. Verletzung von Freiheitsrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 1. Beeinträchtigte Freiheitsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 2. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 a) Der Schutz des Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 aa) Schutz vor „gespaltener Mutterschaft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 (1) Kein empirischer Nachweis einer Kindeswohlgefährdung . 338 (2) Inkongruenz zu Samenspende und Adoption . . . . . . . . . . . . 340 (3) Widersprüchlichkeit des Arguments „Schutz vor Leben“ . . . 341 bb) Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung . . . . . . . . . . . . . . . 343 cc) Menschenwürde des Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 dd) Resümee: Keine verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Verbots der Eizellspende mit dem Kindeswohl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 b) Gesellschaftsschutz und Gemeinwohlgefährdung . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 aa) Gespaltene Mutterschaft: Verletzung von Ehe und Familie als Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 bb) „Widernatürlichkeit“ und Moralbeeinträchtigungen . . . . . . . . . . . 346 cc) Aspekte familienrechtlicher Zuordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 dd) Gefahr der „Zuchtwahl“ und der Selektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347

Inhaltsverzeichnis

17

ee) Resümee: Keine Gefährdung der Gesellschaft und des Gemeinwohls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 c) Der Schutz der Eizellspenderin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 aa) Schutz der Menschenwürde der Spenderin . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 bb) Gesundheitsschutz der Spenderinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 cc) Schutz vor Kommerzialisierung und Ausbeutung . . . . . . . . . . . . . 350 dd) Schutz defizitär Entscheidender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 ee) Resümee: Keine verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Verbots der Eizellspende mit dem Schutz der Spenderinnen . . . . . . . . . . . 352 3. Resümee: Keine verfassungsrechtliche Rechtfertigung der freiheitsrechtlichen Beschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 IV. Verletzung von Gleichheitsrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 1. Verletzung des Verbots geschlechtsbezogener Diskriminierung (Art. 3 Abs. 2 S. 1, Abs. 3 S. 1 Alt. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 a) Geschlechtsbezogene Ungleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 b) Rechtfertigung der Ungleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 aa) Biologische Unterschiedlichkeit der Keimzellen . . . . . . . . . . . . . 355 bb) Unterschiedliche Schwierigkeit der Keimzellgewinnung . . . . . . . 356 cc) Biologischer Unterschied zwischen gespaltener Mutterschaft und gespaltener Vaterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 dd) Rechtliche Zuordnungsschwierigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 ee) Weitere Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 c) Resümee: Verletzung des Verbots geschlechtsbezogener Diskriminierung 360 2. Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) . . . . . . . 361 V.

Resümee: Verfassungswidrigkeit des Verbots der Eizellspende . . . . . . . . . . . . 363

B. Das Verbot der Leihmutterschaft (§ 1 Abs. 1 Nr. 7 ESchG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 I.

Medizinischer Ausgangspunkt und Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364

II.

Inhalt und Ausrichtung der gesetzlichen Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366

III. Betroffene Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 IV. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 1. Der Schutz des Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 a) Schutz vor „gespaltener Mutterschaft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 b) Menschenwürde des Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 c) Schutz der psychischen und physischen Entwicklung des Kindes . . . . 374 d) Schutz der leiblichen Kinder und der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 2. Gesellschaftsschutz und Gemeinwohlgefährdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 a) Schutz vor sozialer Ungleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 b) Schutz der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 c) Schutz von Moral, Sitte und Gattungswürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379

18

Inhaltsverzeichnis 3. Der Schutz der Leihmutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 a) Schutz der Menschenwürde der Leihmütter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 b) Gesundheitsschutz der Leihmütter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 c) Schutz der Leihmütter vor negativen psychischen Auswirkungen . . . . 383 d) Schutz vor Ausbeutung und Schutz defizitär Entscheidender . . . . . . . . 384 e) Schutz des Elternrechts (Art. 6 Abs. 2 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 V.

Resümee: Verfassungswidrigkeit des Verbots der Leihmutterschaft . . . . . . . . . 385

C. Resümee: Paternalismen im Embryonenschutzgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386

Sechstes Kapitel

Thesenartige Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse 388

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415

„Wenn also meine Handlung, oder überhaupt mein Zustand, mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, so tut der mir Unrecht, der mich daran hindert […].“1 – Immanuel Kant.

Einleitung A. Untersuchungsgegenstand Darf der Staat den mündigen Menschen gegen seinen Willen schützen? Diese Frage nach der rechtlichen Zulässigkeit einer Bevormundung der Einzelnen zu ihrem eigenen Schutz steht im Zentrum dieser Arbeit.2 Grundlegender Bestandteil eines jeden Gesellschaftskonstrukts ist zunächst, dass in seinem Rahmen Regelungen für ein geordnetes Zusammenleben aufgestellt werden. Soweit Verhaltensge- oder -verbote entworfen werden, die dem Schutz anderer und dem Schutz der Gemeinschaft dienen, ist dies für ein friedliches Miteinander grundsätzlich unzweifelhaft angemessen. Deutlich problematischer erscheinen indes Regelungen, die ein Verhalten untersagen oder gebieten, das sich allein im eigenen Rechts- und Wirkkreis entfaltet – und die den Schutz derjenigen bezwecken, die diesen nicht wünschen oder sogar ablehnen. Wird die Freiheit der Einzelnen zu ihrem eigenen Schutz, aber gegen ihren eigenen Willen eingeschränkt, so wird gemeinhin von Paternalismus gesprochen. Ob ein Schutz gegen den eigenen Willen mit den moralphilosophischen Grundlagen unseres Rechtssystems und insbesondere auch mit der Verfassung in Einklang zu bringen ist – diese Frage sucht die vorliegende Arbeit zu beantworten. Schutz gegen den eigenen Willen reagiert regelmäßig auf selbstgefährdendes oder selbstschädigendes Verhalten. Vorgelagert stellt sich daher bereits die grundlegende Frage, was Freiheit und freies Handeln überhaupt umfasst, ob eine Gesellschaft selbstgefährdendes und selbstschädigendes Verhalten als legitime Freiheitsäußerung anerkennen will – und ob solchem Verhalten ethischer wie rechtlicher Schutz gebührt. Wie frei kann eine Entscheidung zur Selbstschädigung sein? Ist dem Menschen ein Selbsterhaltungstrieb natürlich angelegt, dürfen Vorstellungen von Natürlichkeit eine Rolle für die rechtliche Betrachtung spielen und wäre ein diesem Selbsterhaltungstrieb zuwiderlaufendes Verhalten dann zwangsläufig unfrei und bedürfte insofern keines an der Autonomie orientierten Schutzes?

1

Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797/1977, B 33, S. 337. Im Sinne einer besseren Lesbarkeit wird im Rahmen dieser Arbeit auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichwohl für beide Geschlechter. Die Verwendung von generischem Maskulinum und generischem Femininum wechselt kapitelweise. Feststehende Termini (z. B. „Patientenverfügung“ oder „Spenderkreis“) sowie wörtliche Zitate werden nicht an die jeweils gewählte generische Geschlechtsform angepasst. 2

20

Einleitung

Die liberalen Grundlagen und Traditionen unserer Gesellschaft legen grundsätzlich möglichst weitgehenden Freiheitsschutz nahe, der Einschränkungen zum eigenen Schutz nicht zulässt: „Jedermann ist frei, zu tun und zu lassen, was die Rechte anderer nicht verletzt […]“ – lautete dementsprechend ein ursprünglicher Fassungsentwurf von Art. 2 GG.3 Freiheit impliziert indes auch Verantwortung – zu bedenken sind mithin auch die Folgen umfassender Freiheit: Wo kein Schutz vor möglicherweise unvernünftigen Handlungen stattfindet, ist zwangsläufig diejenige stark benachteiligt, die nicht in der Lage ist, gute Entscheidungen zu treffen und diejenige stark begünstigt, die dazu fähig ist. Ein System absoluten Respekts vor der persönlichen Freiheit kann daher intrinsisch gut und moralisch sein – seine Konsequenzen können Menschen, die nachteilige Entscheidungen treffen, jedoch beeinträchtigen. Der Diskurs um paternalistische Bevormundung findet somit auch in Spannungsfeldern zwischen Selbstbestimmung und Selbstverantwortung und zwischen Gleichheit und Freiheit statt – und wirft die Frage auf, ob staatliches Eingreifen anhand des in ihm zum Ausdruck kommenden Respekts vor grundlegenden Werten oder anhand seiner Folgen zu beurteilen ist. Neben den moralphilosophischen Aspekten der Thematik wird sich diese Arbeit auf die rechtliche Regulierung menschlichen Verhaltens fokussieren – auf Verhaltensverbote zum eigenen Schutz. Dies bedarf auf zwei Ebenen der Abgrenzung: Zum einen wird vorliegend nicht thematisiert, ob der Staat selbstschädigendes Verhalten ermöglichen soll. Ausgehend von einer grundsätzlichen Freiheitsvermutung, auf deren Grundlage eine Einmischung immer rechtfertigungsbedürftig ist,4 stellt sich vielmehr die Frage, ob der Staat selbstschädigendes Verhalten zum eigenen Wohl untersagen darf. Zum anderen ist die Untersuchung dieser Verhaltensverbote von sog. „libertarian paternalism“5 abzugrenzen, in dessen Rahmen allein eine vorgelagerte Beeinflussung hin zu einer „guten“ Entscheidung mittels einer bestimmten „Entscheidungsarchitektur“ stattfindet. Die Entscheidung selbst bleibt indes – anders als bei Verhaltensverboten – frei und unbeschränkt.6 Die Gegenüberstellung 3

JöR N. F. Band 1 (1951), S. 56. Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 7. 5 Grundlegend der Wirtschaftsnobelpreisträger 2017 Richard Thaler und Cass Sunstein, American Economic Review 2003, 175–179. Dazu gehört auch sog. „nudging“ (wörtlich: „anstupsen“), siehe dazu Thaler / ​Sunstein, Nudge, 2008. Klassisches Nudging findet etwa statt, wenn die Essensauslage in Cafeterien so gestaltet wird, dass Obst auf Augenhöhe und Schokolade in unteren, schwerer einsichtigen und erreichbaren Regalen angeboten wird. Derartige Arrangements führen dazu, dass die Kundinnen signifikant wahrscheinlicher die gesunde Snackvariante wählen, auch wenn ihnen die Entscheidung, für welches Produkt sie sich entscheiden, grundsätzlich vollständig selbst überlassen bleibt, siehe Huster, Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und Gesundheit, 2015, S. 28; Thaler / ​Sunstein, Nudge, 2008, S. 1 f. Mit rechts- und verhaltensökonomischen Betrachtung von Paternalismus wird sich diese Arbeit nicht befassen, vgl. dazu aber etwa ausführlich Schmolke, Grenzen der Selbstbindung im Privatrecht, 2014, S. 138–266. Zu den verfassungsrechtlichen Implikationen einer staatlichen Verhaltenssteuerung zum eigenen Wohl Kolbe, Freiheitsschutz vor staatlicher Gesundheitssteuerung, 2017, S. 194–255. 6 Huster, Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und Gesundheit, 2015, S. 29, 35; Thaler / ​Sunstein, Nudge, 2008, S. 5 f. 4

Einleitung

21

von Verhaltensverboten und libertarian paternalism wirft eine zentrale Frage auf, mit der sich diese Arbeit befassen wird: Achten wir Entscheidungen, weil wir glauben, dass die Einzelne selbst am besten weiß, was gut für sie ist – oder achten wir Entscheidungen aus Respekt vor der Selbstbestimmung des Menschen, unabhängig von der Qualität der konkreten Entscheidung? Auch wenn libertäre Paternalismusmodelle verfassungsrechtlich geschützte Freiheit als solche nicht beschränken7 und daher nicht Gegenstand dieser Arbeit sein werden, haftet auch ihnen der paternalistische Grundkonflikt an: Die Selbstbestimmung wird relativiert und die Entscheidungsfreiheit zur Erreichung eines Glücks instrumentalisiert,8 das nicht durch die Betroffenen selbst, sondern von Seiten Dritter definiert wird. Eine besondere Akkumulation paternalistischer Regelungen findet sich im Bereich des Biomedizinrechts. Wo es um die Entstehung, Erhaltung und Beendigung des Lebens geht, liegt eine Bevormundung der Einzelnen besonders nahe: Die Komplexität der Gefährdungssituationen und die große Bedeutung der betroffenen Rechtsgüter motivieren eine fürsorgliche Gesetzgebung. Inwieweit diese Angelegenheiten, die wie keine anderen für das Leben der Betroffenen von zentraler Bedeutung sind, jedoch insbesondere eine Freiheit erfordern, die vernünftige wie unvernünftige Entscheidungen erfasst – ob der Staat in diesen hochsensiblen Bereichen zwischen Anfang und Ende des Lebens schützend eingreifen soll oder ob der Autonomie der Beteiligten gerade bei diesen Entscheidungen bedingungsloser Respekt gebührt – ob es der Körper als Grundlage unserer Existenz ist, den es unbedingt zu schützen gilt oder ob über diesen als Höchstpersönlichstes frei verfügt werden können soll – davon handelt diese Arbeit.

B. Gang der Untersuchung Grundlegend unterteilt sich diese Arbeit in zwei Teile. Der erste Teil wird sich in den Kapiteln eins und zwei abstrakt mit dem Phänomen Rechtspaternalismus auseinandersetzen. Die insoweit gewonnenen Erkenntnisse werden im zweiten Teil in den Kapiteln drei, vier und fünf konkret auf paternalistische Regelungen des Biomedizinrechts angewendet. Zur Einführung in die Thematik setzt sich das erste Kapitel dieser Arbeit mit der Frage auseinander, was Rechtspaternalismus bedeutet. Dazu gehört zunächst eine terminologische Bestimmung, in deren Rahmen bereits das Hinwegsetzen über den autonomen Willen der Betroffenen zu ihrem eigenen Schutz von einer 7 Huster und Schramme halten Einwirkungen auf die Entscheidungsfindung normativ gleichwohl für nicht weniger problematisch als Eingriffe in Handlungsfreiheiten, vgl. Huster  / ​ Schramme, in: Huster / ​Schramme, Normative Aspekte von Public Health, 2016, S. 37 (56). Zu einem möglicherweise aus der Menschenwürde ableitbaren Recht auf unmanipulierte Willensbildung Huster, Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und Gesundheit, 2015, S. 35. 8 Siehe dazu auch Huster, Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und Gesundheit, 2015, S. 46.

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Einleitung

Bevormundung defizitär Entscheidender abgegrenzt werden soll. Das Wesen von rechtlichem Paternalismus wird sodann anhand konkreter Beispiele aus Gesetzgebung und Rechtsprechung ausgeleuchtet. Bereits an dieser Stelle wird eine gewisse Häufung bevormundender Eingriffe im Strafrecht und in Bereichen, die das Leben, den Körper und die Menschenwürde der Einzelnen betreffen, erkennbar werden. Das zweite Kapitel wird sich mit der allgemeinen ethischen und verfassungsrechtlichen Zulässigkeit paternalistischer Beschränkungen befassen. Die Auseinandersetzung mit ethischen Betrachtungen von Paternalismus wird von Immanuel Kant über John Stuart Mill bis hin zu zeitgenössischen Moralphilosophen reichen und insbesondere zwischen deontologischen und konsequentialistischen Ansätzen unterscheiden, deren Einschätzung der Zulässigkeit paternalistischer Bevormundung grundlegend divergiert. Bei einem Topos, das sich nicht allein positivistisch beurteilen lässt, soll die Moralphilosophie eine Orientierung für die rechtliche Betrachtung des Phänomens bieten und gemeinsame fundamentale Konflikte und Lösungsansätze aufzeigen. Die Untersuchung der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit wird sich zunächst mit der Frage befassen, inwieweit selbstschädigendes Verhalten grundrechtlichen Schutz genießt und ob die Verfügung über eigene Rechtsgüter bereits auf Schutzbereichsebene Einschränkungen unterliegt. In der Folge wird für die Arbeit von entscheidender Bedeutung sein, unter welchen Umständen sich Freiheitseingriffe mit dem Schutz mündiger Bürgerinnen gegen ihren Willen rechtfertigen lassen. Dies wird sowohl unter dem Gesichtspunkt des Individualschutzes als auch im Hinblick auf einen möglichen Gemeinwohlbezug des Schutzes gegen den eigenen Willen und mit Blick auf die objektive Dimension der Grundrechte thematisiert werden. Im Anschluss wird die verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Bevormundung defizitär Entscheidender erörtert – ebenso wie die Rechtfertigung einer Freiheitsbeeinträchtigung einzelner autonom Entscheidender zum Schutz defizitär Entscheidender unter Generalisierungsgesichtspunkten. Diese abstrakte Grundlegung wird im dritten, vierten und fünften Kapitel der Arbeit auf paternalistische und paternalismusverdächtige Regelungen im Biomedizinrecht konkret angewandt. Im dritten Kapitel wird zu diesem Zweck zunächst das Transplantationsgesetz – und konkret das paternalistische Regelwerk der Lebendspende von Organen – in den Blick genommen. Besonders prägnante Beispiele einer Bevormundung der Beteiligten enthalten die Regelungen zum Organhandel, zur Eingrenzung des Kreises möglicher Lebendspenderinnen und zur Subsidiarität der Lebendorganspende gegenüber der postmortalen Organspende. Der klassische paternalistische Konflikt zwischen körperlicher Hingabe und Selbstbestimmung der Spenderinnen erhält im Transplantationsrecht durch die Bedarfs- und Notlage der potentiellen Organempfängerinnen eine zusätzlich heikle Dimension. Das vierte Kapitel dieser Arbeit wird sich paternalistischen Regelungen zur klinischen Prüfung von Arzneimitteln im Arzneimittelgesetz widmen. Auch Forschungszusammenhänge begründen ein klassisches Spielfeld zwischen Gefährdung und Selbstbestimmung der Einzelnen. Bei der Untersuchung der Regelungen wird

Einleitung

23

neben den Interessen der Beteiligten auch die Bedeutung des Vertrauens der Bevölkerung in die Humanforschung eine bedeutende Rolle spielen und einen paternalistischen Regelungsreflex im Einzelfall legitimieren können. Von zentralem Interesse werden in diesem Zusammenhang das Erfordernis der medizinischen Vertretbarkeit der klinischen Prüfung nach einer Risiko-Nutzen-Abwägung sein, das Verbot der Teilnahme untergebrachter Personen und damit insbesondere auch Strafgefangener, die besonderen Anforderungen an die Teilnahme einschlägig kranker Probandinnen sowie die zustimmende Bewertung der Ethik-Kommission, die vor jeder klinischen Prüfung eines Arzneimittels eingeholt werden muss. Im fünften Kapitel dieser Arbeit wird sich den reproduktionsmedizinischen Regelungselementen des Embryonenschutzgesetzes zugewandt und die paterna­ listischen Verbote der Eizellspende und der Leihmutterschaft erörtert werden. Die Regelungen schützen nicht nur jene Frauen, die als Eizellspenderinnen oder Leihmütter tätig werden wollen, gegen ihren Willen – insbesondere werden auch moralistische Motivationen bei der Untersuchung der Regelungen in Erscheinung treten. Abschließend werden die gefundenen Ergebnisse im sechsten und letzten Kapitel thesenartig zusammengefasst.

Erster Teil

Grundlegung Erstes Kapitel

Rechtspaternalismus Um einen Ausgangspunkt und einen Betrachtungsrahmen für die ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung von Paternalismus (dazu im zweiten Kapitel) und für die Untersuchung paternalistischer Regelungen und Entscheidungen auf dem Gebiet des Biomedizinrechts (dazu im dritten, vierten und fünften Kapitel) bereitzustellen, soll sich dem rechtlichen Paternalismus zunächst abstrakt terminologisch genähert (dazu unter A.) und sodann zur Verdeutlichung konkrete paternalistische Beispiele im deutschen Recht beleuchtet werden (dazu unter B.).

A. Begriffsbestimmung „Paternalismus“ Grundlage für ein Verständnis von Paternalismus muss primär eine terminologische Bestimmung sein. Der Begriff „Paternalismus“ wurde in dem dieser Arbeit zugrundeliegenden Kontext erstmals in den 1870er Jahren verwendet.1 Etymologisch leitet sich der Ausdruck vom lateinischen „pater“ (Vater) ab und ist mit der Vorstellung eines (gutmütigen) Vaters verknüpft, der zum Wohl seiner (unvernünftigen) Kinder für diese entscheidet.2 Während mit dem Begriff in der Debatte anfänglich die noch recht allgemeine Frage verknüpft war, inwieweit Einmischung von Seiten des Staates – insbesondere auf den Gebieten der Pädagogik und der Ökonomie3 – 1

Siehe dazu Zude, Paternalismus, 2010, S. 22, nach dem die erste heute belegte schriftliche Erwähnung des Begriffs im Jahr 1873 in den USA stattfand; nach Childress fällt die erste Nennung in die 1880er Jahre, ders., Who Should Decide?, 1982, S. 4; nach Kleinig in „the latter part of the nineteenth century“ (ebenso Häyry, in: Encyclopedia of Applied Ethics, 1998, S. 449), wobei der Begriff die Verkörperung einer konzeptionellen Veränderung darstelle, die als solche ihren Ursprung bereits im 16. Jahrhundert gehabt haben soll, ders., Paternalism, 1983, S. 3. Anders Gkountis, Autonomie und strafrechtlicher Paternalismus, 2011, S. 18 Fn. 7, der davon ausgeht, dass der Begriff erstmalig in der Debatte zwischen Hart und Devlin in den 1960er Jahren verwendet wurde. 2 Maio, Mittelpunkt Mensch: Ethik in der Medizin, 2012, S. 156 f.; Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 22. 3 Siehe Zude, Paternalismus, 2010, S. 40, 49 f., nach dem in den USA unter diesem Begriff zunächst insbesondere die Einführung einer gesetzlichen Schulpflicht sowie die Zulässigkeit von Staatseigentum an Land, Post, Bahn und Telekommunikation diskutiert wurde.

1. Kap.: Rechtspaternalismus

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zulässig sei und der Ausdruck somit vornehmlich in der politischen Philosophie und Wirtschaftslehre rund um das Spannungsfeld zwischen Individuum und Staat eine Rolle spielte,4 wurde das Verständnis von Paternalismus im Laufe der Zeit sehr viel weiter konkretisiert. Die seit den 1960er Jahren immer intensiver geführte Diskussion um das Phänomen brachte verschiedenste Definitionen hervor, die im Folgenden dargestellt werden sollen. Trotz der Varianz der Auslegungen ist der Begriff dabei übergreifend eher negativ konnotiert.5 Grundsätzlich kann zwischen Paternalismus, der von staatlicher Seite ausgeht und Paternalismus, der zwischen Individuen – etwa zwischen Ärztin und Patientin – stattfindet, unterschieden werden. Auch wenn sich diese Arbeit mit der erstgenannten Form des Paternalismus auseinandersetzen wird, sollen im Folgenden Definitionsansätze, die beide Formen erfassen, dargestellt werden, um ein umfassendes Verständnis des Begriffs und seiner Genese zu ermöglichen. Der Begriff „Paternalismus“ wird jedoch nicht immer für das in dieser Arbeit beschriebene Phänomen der Bevormundung, sondern vielfach auch für die diesen Ansatz befürwortende Haltung  – Paternalismus als Gegenbegriff zu Antipaternalismus  – verwandt. Im Folgenden soll sich jedoch zunächst auf das Phänomen als solches konzentriert werden und nicht bereits auf seine mögliche Unterstützung oder Rechtfertigung. Obwohl John Stuart Mills „On Liberty“ gemeinhin als Grundwerk der Paternalismuskritik angesehen wird,6 fällt der Begriff „Paternalismus“ in seinem 1859 erschienenen Werk kein einziges Mal. Dementsprechend findet sich darin auch keine Definition des Begriffs; aus Mills Ausführungen ergibt sich jedoch, dass er das von ihm abgelehnte Phänomen, das in der späteren Rezeption seines Werkes als „Paternalismus“ bezeichnet wurde, als die staatliche Einmischung in Entscheidungen eines erwachsenen, klaren Menschen versteht.7

I. Charakteristika In der insbesondere US-amerikanischen Rezeption des Konzepts stehen regelmäßig zumindest drei Merkmale im Vordergrund des Begriffsverständnisses, denen sich im Folgenden detaillierter gewidmet werden soll: Danach erfasst Paternalismus in der Regel ein Verhalten zum Schutz oder zum Wohl der Betroffenen (dazu

4

Zude, Paternalismus, 2010, S. 76. Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 7; Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 4; Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 22. 6 So neben vielen z. B. Häyry, in: Encyclopedia of Applied Ethics, 1998, S. 449 (450). Heinig etwa beschreibt Mill als den „Ahnherrn der Paternalismusforschung“, ders., in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 157 (165). 7 Mill, On Liberty, 1859/1946, S. 8 f. und 67. Siehe dazu ausführlich im zweiten Kapitel unter A. III. 1. 5

26

1. Teil: Grundlegung

unter 1.), es erfolgt in der Regel ohne oder gegen den Willen der Betroffenen (dazu unter 2.) und kann mit Beeinflussung, Freiheitsbeschränkungen oder Zwang einhergehen (dazu unter 3.). 1. Verhalten zum Schutz oder zum Wohl der Betroffenen: Negativer und positiver Paternalismus Allen Definitionen gemein ist ein Handeln zum Schutz oder zum Wohl der Betroffenen, wobei in diesem Zusammenhang zwischen negativem und positivem Paternalismus unterschieden werden kann. Während unter negativem Paternalismus der Schutz vor Schädigung und Schlechtem verstanden wird – so etwa von Hart, wenn er Paternalismus als „the protection of people against themselves“8 versteht –, stellt die Motivation für positiven Paternalismus die Schaffung von Vorteilen und die Förderung von Wohlergehen dar:9 „X acts toward Y in a positively paternalistic fashion to the extent that X, in order to secure some positive benefit for Y, imposes upon Y. If, however, X’s rationale for imposing upon Y is to protect Y from (further) harm or to restore Y from some harmful condition, then to that extent, X acts in a negatively paternalistic fashion.“10

Auch Devlin11 und Dworkin umschreiben paternalistisches Handeln positiv als Handeln zum Wohl der Betroffenen – „reasons referring exclusively to the welfare, good, happiness, needs, interests, or values of the person“.12 Das Spektrum des positiven Begriffsverständnisses reicht von einer vollständigen Ablehnung der Beschränkung auf die Verhinderung vor (negativer) Schädigung13 bis hin zu einer positiven Orientierung am langfristigen Wohl der Betroffenen.14 In Abgrenzung zu perfektionistischen Ansätzen15 wird in Teilen des Schrifttums angenommen, das

8 Hart, Law, Liberty, and Morality, 1963, S. 31; ausführliche Erläuterungen zu den Bestandteilen dieser Definition bei Zude, Paternalismus, 2010, S. 96 ff. 9 Childress, Who Should Decide?, 1982, S. 17; Kleinig, Paternalism, 1983, S. 13 f. Feinberg hält positiven Paternalismus für „extreme paternalism“, ders., Harm to Self, 1986, S. 8. 10 Kleinig, Paternalism, 1983, S. 14. 11 „[T]o force a man to do what is for his own moral good“ bzw. „acting for a man’s own good“, Devlin, The Enforcement of Morals, 1965, S. 133 f. Siehe dazu Zude, Paternalismus, 2010, S. 145, der Devlins Definition als „offensiven Paternalismus“ und Harts Definition als „defensiven Paternalismus“ beschreibt, a. a. O., S. 145 f. 12 Im Ganzen: „By paternalism I shall understand roughly the interference with a person’s liberty of action justified by reasons refering exclusively to the welfare, good, happiness, needs, interests, or values of the person being coerced.“, Dworkin, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 19 (20). 13 Culver / ​Gert, Philosophy in Medicine, 1982, S. 131; Kleinig, Paternalism, 1983, S. 13. 14 Birnbacher, in: von Hirsch / ​Neumann / ​Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 11 (15). 15 Siehe dazu sogleich unter A.IV.

1. Kap.: Rechtspaternalismus

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zu fördernde Wohl müsse subjektiv und in Orientierung anhand der späteren oder hypothetischen Interessen der Betroffenen bestimmt werden.16 2. Ohne oder gegen den autonom oder defizitär gebildeten Willen: Starker und schwacher Paternalismus Paternalistisches Vorgehen muss nach allgemeinem Verständnis ferner ohne oder gegen den Willen der Betroffenen erfolgen.17 Dieser Aspekt ist grundlegend von der Frage zu unterscheiden, ob der angestrebte Nutzen oder das angestrebte Wohl von der Betroffenen selbst als solche anerkannt werden oder nicht – was etwa Dworkin für eine paternalistische Grundvoraussetzung hält.18 Soweit der Nutzen des Vorgehens somit von allen als solcher anerkannt ist, können entsprechende Handlungen nach seinem Begriffsverständnis nicht paternalistisch sein.19 Eine derartige Eingrenzung lehnt Kleinig hingegen ab: Zwar sei es wahrscheinlicher, dass die Betroffene der Maßnahme zustimme, wenn sie deren Vorteil erkenne. Dann liege mangels Handelns gegen den Willen der Betroffenen kein Paternalismus mehr vor. Das bedeute aber nicht, dass ein Nichtanerkennen des Vorteils eine zwingende Voraussetzung für Paternalismus sei: Vielmehr sei durchaus denkbar, dass Menschen vielfach ihren eigenen Präferenzen folgen möchte, obwohl sie die Gefährlichkeit ihres Handelns erkennen. In diesen Fällen gebe es keinen Grund, entsprechende Verhaltensrestriktionen von dem Begriff des Paternalismus auszuschließen.20 In der Tat kann das subjektive Anerkenntnis des erstrebten Nutzens als solcher nicht Teil der Voraussetzung einer paternalistisch beschränkenden Maßnahme sein: Das ergibt sich bereits bei Betrachtung bewusst unvernünftig Handelnder, die bereit sind, ein Risiko einzugehen, auch wenn sie den damit einhergehenden Schaden möglicherweise nicht wünschen. In ihre Freiheit kann durch eine paternalistische Maßnahme ebenso eingegriffen werden wie in die Freiheit geplant selbstschädigend Handelnder, die gerade die mit einer Handlung einhergehenden Nachteile anstreben.

16

Birnbacher, in: von Hirsch / ​Neumann / ​Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 11 (15). 17 Birnbacher verlangt für die Annahme von Paternalismus, dass das entsprechende Vorgehen nicht lediglich ohne, sondern tatsächlich gegen den aktuellen Willen erfolgt, ders., in: von Hirsch / ​Neumann / ​Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 11 (12). Nach Fateh-Moghadam ist ein Handeln „gegen oder ohne den Willen“ erfasst, ders., in: Fateh-­ Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 21 (22). 18 Dworkin, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 19 (23); dazu Zude, Paternalismus, 2010, S. 161. 19 Dworkin, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 19 (23); in diesem Zusammenhang führt er als Beispiel die 40-Stunden-Woche an. 20 Kleinig, Paternalism, 1983, S. 13; wohl aber könne die Tatsache, dass das Wohl vom Betroffenen anerkannt werde oder nicht eine Konsequenz für die Frage nach der Rechtfertigung der Maßnahme spielen, a. a. O.

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1. Teil: Grundlegung

Auch Childress lehnt die Orientierung am Anerkenntnis des erstrebten Nutzens ab und geht vielmehr davon aus, dass die (wohlmeinende) Ablehnung („nonacquiescence“) von Wünschen, Entscheidungen und Handlungen anderer ausreichend für die Annahme eines paternalistischen Eingriffs sei.21 In einer weiteren Variante des Handelns ohne oder gegen den Willen der Betroffenen beinhaltet das aus seiner Perspektive, dass die paternalistische Ausrichtung des Beweggrunds („rationale“) einer Handlung entscheidend für die Einordnung sei.22 Sein Begriffsverständnis hängt somit an der subjektiven Perspektive derjenigen, die in Freiheiten eingreift und nicht derjenigen, die in ihrer Freiheit beschränkt wird. Dementsprechend halten auch Culver und Gert Handlungen für paternalistisch, bei denen subjektiv davon ausgegangen wird, dass keine vergangene, aktuelle oder direkt folgende Zustimmung zu der Handlung vorliegt.23 Eine Fokussierung auf die Motivation der Eingreifenden vernachlässigt jedoch Fälle, in denen diese irrtümlich vom Vorliegen einer Zustimmung ausgehen. Im Sinne eines umfassenden Freiheitsschutzes soll begrifflich jedoch auch die fahrlässig-paternalistische Bevormundung erfasst sein. Neben diesen Randschauplätzen des Nutzenanerkenntnisses und der subjektiven Perspektive der Eingreifenden ist in Zusammenhang mit der Nichtbeachtung des Willens der Betroffenen hingegen zentral umstritten, ob sich Paternalismus über den autonom gebildeten Willen der Betroffenen hinwegsetzen muss oder ob auch der sogenannte schwache Paternalismus, der eine defizitäre Entscheidung übergeht, als (rechtfertigungsbedürftige) Form von Paternalismus anerkannt wird. Die Unterscheidung zwischen starkem und schwachem Paternalismus („strong  / ​ weak paternalism“) stammt von Feinberg.24 Zwar wird in diesem Zusammenhang im deutschen Schrifttum häufig von hartem und weichem Paternalismus gesprochen25 – da die Begriffe „hart“ und „weich“ in der Diskussion jedoch auch anderweitig besetzt sind,26 wird diese Arbeit sich an Feinbergs ursprünglichen Begriff-

21

Childress, Who Should Decide?, 1982, S. 13 f. Kleinig, Paternalism, 1983, S. 12. 23 Culver / ​Gert, Philosophy in Medicine, 1982, S. 132 f. 24 Feinberg, CJOP 1971, 105 (110, 124). 25 So z. B.  König, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 501 (514); Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 136; Schroth, JZ 1997, 1149 (1153). Enderlein spricht mitunter von schwach und hart paternalistisch, ders., Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 138 f. Wie vorliegend etwa Schöne-Seifert, JWE 2009, 107; mit leicht abweichender Definition auch Vossenkuhl, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 163 (167). 26 Siehe sogleich unter A. V. 3. Dworkin benutzt die Begriffe „stark“ und „schwach“ („strong / ​ weak“) zur Abgrenzung zwischen Eingriffen, die sich über das Handlungsziel der Betroffenen hinwegsetzen und Eingriffen, die sich nur über das (untaugliche) Mittel zur Erreichung des anerkannten Ziels hinwegsetzen, ders., in: Stanford Encyclopedia of Philosophy, 2017, abrufbar unter http://plato.stanford.edu/entries/paternalism/ (zuletzt abgerufen am 1.3.2018). 22

1. Kap.: Rechtspaternalismus

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lichkeiten orientieren,27 ohne sich dabei indes sein inhaltliches Verständnis der Termini vollumfänglich zu eigen zu machen. Feinberg versteht starken Paternalismus als staatlichen Schutz einer Person gegen deren Willen vor den schädigenden Konsequenzen ihrer völlig freiwilligen Entscheidungen und Vorhaben.28 Er unterscheidet starken und schwachen Paternalismus an Hand der Freiheit, Souveränität oder Freiwilligkeit (häufig: „voluntariness“) der Entscheidung, die durch den Eingriff durchkreuzt wird: Wird eine Entscheidung im Vollbesitz der geistigen Kräfte, umfassend informiert und ohne Zwang getroffen und wird in das darauf folgende Verhalten auf paternalistische Art und Weise eingriffen, so erfolgt dieser Eingriff stark paternalistisch. Dagegen erlaubt schwacher Paternalismus den Eingriff in Entscheidungen, die „nonvoluntary“, also unfreiwillig oder nicht hinreichend informiert getroffen wurden.29 Häyry stellt im Rahmen der Unterscheidung zentral auf die Autonomie der Entscheidung ab,30 Kleinig auf die geistige Leistungsfähigkeit („capacity“) der Betroffenen.31 Varianten und Erweiterungen dieser Abgrenzung tauchen im Schrifttum etwa dahingehend auf, dass Häyry auch dann von schwachem Paternalismus spricht, wenn die Abwendung von Schaden bei Handlungen von Kindern oder geistig Beeinträchtigten, in Fällen fehlenden Wissens oder fehlender Kontrolle und bei unzulässiger Beeinflussung der Betroffenen von außerhalb in Frage steht.32 Erfasst sind nach ihrem Verständnis somit neben Fällen mangelnder Autonomie auch Fälle von Beeinflussung und fehlender Information. Starker Paternalismus liegt nach ihrer Betrachtung hingegen bei der Kontrollierung von selbstzerstörerischem, unmoralischem oder irrationalem Verhalten vor, das auf einer Entscheidung beruht, die nicht nachweisbar beeinträchtigt wurde.33 Da sich schwacher Paternalismus jedenfalls nicht über autonome Entscheidungen hinwegsetzt, wird dieser von Vertretern einer engen Paternalismuskonzeption bereits gar nicht als Form von Paternalismus anerkannt. Vielmehr setzt Paternalismus einem solchen Ansatz nach zwingend eine autonome Entscheidung voraus,34 sodass etwa das Übergehen von Wünschen von Kindern oder mental beeinträch 27 Feinberg hat seine Terminologie später selbst auf „hart“ und „weich“ umgestellt („hard / ​ soft“), in diesem Zusammenhang jedoch auf die vollständige Austauschbarkeit der Begriffe verwiesen, ders., Harm to Self, 1986, S. 377, Endnote 16. Siehe dazu auch Zude, Paternalismus, 2010, S. 241. 28 Feinberg, CJOP 1971, 105 (124). 29 Feinberg, CJOP 1971, 105 (110 f., 124). 30 Häyry, The Limits of Medical Paternalism, 1991, S. 64. Zur Abgrenzung ebenfalls an der Autonomiefähigkeit („Urteilsfähigkeit, Verstehen, Freiwilligkeit, Authenzität“) orientiert Maio, Mittelpunkt Mensch: Ethik in der Medizin, 2012, S. 158 f. 31 Kleinig, Paternalism, 1983, S. 14. 32 Häyry, in: Encyclopedia of Applied Ethics, 1998, S. 449 (453 f.). 33 Häyry, in: Encyclopedia of Applied Ethics, 1998, S. 449 (454). 34 Beauchamp, JWE 2009, 77 (81); Dworkin, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 105 (107); Schöne-Seifert, JWE 2009, 107 (109 f.). Trotz unterschiedlicher Terminologie in seinen Werken im Ergebnis ebenso Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 14, 16.

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1. Teil: Grundlegung

tigten Menschen, die nicht autonom handeln können, bereits begrifflich ausgeschlossen ist.35 Dies wird damit begründet, dass Paternalismus der Anmaßung ­einer Entscheidungsbefugnis bedürfe36 und schwacher Paternalismus in Folge seiner Übereinstimmung mit liberalen Prinzipien und mangels Vorliegens einer Freiheitsbeeinträchtigung im eigentlichen Sinne37 kein genuiner Paternalismus sei.38 Vorliegend soll jedoch einer weiten Paternalismuskonzeption gefolgt werden, die auch schwachen Paternalismus begrifflich erfasst: Denn beiden Varianten liegt derselbe, vorliegend interessierende Grundkonflikt zugrunde, den Enderlein als „Usurpation fremder Entscheidungstätigkeit“39 beschreibt. Durch eine vorherige Ausgrenzung von schwachem Paternalismus würde zudem der Auseinandersetzung mit diesem ebenfalls wichtigen Aspekt bevormundender Handlungen und Regelungen und der Rechtfertigung derselben vorgegriffen. Paternalistisch gehandelt werden kann nach dem vorliegenden Verständnis somit auch gegenüber nicht vollumfänglich autonom Handelnden bzw. autonomen Handlungen. a) Autonome und defizitäre Entscheidungen Von zentraler Bedeutung für die Unterscheidung von starkem und schwachem Paternalismus ist die Abgrenzung zwischen autonomen und defizitären Entscheidungen. Grundsätzlich ist Voraussetzung für eine autonome Entscheidung sowohl die abstrakte Autonomiefähigkeit des Betroffenen als auch die Entscheidungsfreiheit in der konkreten Situation. Bevor sich dem Versuch einer Begriffsbestimmung zugewandt wird, sollen jedoch zunächst die Konsequenzen einer entsprechenden Festlegung vergegenwärtigt werden. Geht man davon aus, dass eine Rechtfertigung paternalistischer Eingriffe in defizitäre Entscheidungen in viel weiterem Umfang möglich sein könnte als dies bei Eingriffen in autonomes Verhalten der Fall ist, hat das Begriffsverständnis von Autonomie einen direkten Einfluss auf den Umfang der Zulässigkeit paternalistischer Eingriffe: Je enger Autonomie definiert wird, desto weitgehender könnten paternalistische Eingriffe möglich sein  – als Stellschraube der Zulässigkeit von Paternalismus ist dieser Aspekt somit von zentraler Bedeutung.40 Zwar sprengt eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem Begriff

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Zude, Paternalismus, 2010, S. 239 f. Dworkin, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 105 (107). 37 Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 14. 38 Beauchamp, JWE 2009, 77 (82). Kritisiert wurde dieser Ansatz von Culver und Gert, die auf die Schwierigkeit der Abgrenzung zwischen autonomem und nicht autonomem Verhalten hinweisen und eine allein darauf gestützte Bewertung der Zulässigkeit eingreifenden Verhaltens ablehnen; dies., Philosophy in Medicine, 1982, S. 144 f. 39 Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 9. 40 Rigopoulou sieht sogar die Gefahr des Missbrauchs des Autonomiebegriffs zur Rechtfertigung staatlicher Beschränkungen: „Der zugrundliegende Autonomiebegriff erweist sich als verschwommenes Einfallstor für staatliche paternalistische Interventionen […].“, dies., Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 28. 36

1. Kap.: Rechtspaternalismus

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der Autonomie den Rahmen dieser Arbeit.41 Dies gilt zumal die Untersuchung der Zulässigkeit von Paternalismus auch allein auf Basis der Annahme des Vorliegens oder Nicht-Vorliegens von Autonomie, unabhängig von deren detaillierten Voraussetzungen, erfolgen kann. Zur Veranschaulichung nachfolgender Beispielsfälle soll im Folgenden dennoch ein kurzer Überblick über die bereits erfolgte Auseinandersetzung mit dem Begriff gegeben werden. aa) Abstrakte Autonomie: Autonomiefähigkeit (1) Begriffsbestimmung Autonomie / ​Selbstbestimmung Die Begriffe Autonomie und Selbstbestimmung werden weitgehend synonym verwendet.42 Das Wort Autonomie leitet sich von den griechischen Worten „autós“ und „nómos“ ab und bedeutet „nach eigenem Gesetz“.43 Eine allgemeingültige Definition von Autonomie lässt sich in Anbetracht der vielfältigen Aspekte, die der Terminus umfasst, nicht herausarbeiten – dafür fehlt es auch an einer gleichförmigen Verwendung des Begriffs.44 Mangels einer einheitlichen Definition, unter die im Rahmen der Untersuchung der Autonomie einer Entscheidung „subsumiert“ werden könnte, bedarf es für die Beurteilung vielmehr einer typologischen Betrachtung, im Rahmen derer bei Erfüllung einiger Kriterien eine freiwillige – oder eine defizitäre – Entscheidung angenommen werden kann.45 (2) Moralische und persönliche Autonomie In diesem Zusammenhang ist zunächst zwischen moralischer und persönlicher Autonomie zu unterscheiden.46 Im Rahmen der moralischen oder sittlichen Autonomie, wie sie etwa in Kants Pflichtenethik eine Rolle spielt, ist Autonomie die 41

Ausführliche Auseinandersetzungen finden sich etwa bei Beauchamp / ​Childress, Principles of Biomedical Ethics, 7. Aufl. 2013, S. 102–106; Betzler, in: Nida-Rümelin / ​Spiegel / ​Tiedemann (Hrsg.), Handbuch Philosophie und Ethik Band II, 2. Aufl. 2015, S. 187 (187–192), Gkountis, Autonomie und strafrechtlicher Paternalismus, 2011, S. 99–154; Nys / ​Denier / ​Vandevelde, in: Nys / ​Denier / ​Vandevelde (Hrsg.), Autonomy & Paternalism, 2007, S. 1 (4–12); Pieper, in: Lexikon der Bioethik, 1998, S. 289–293. 42 Vgl. Gkountis, Autonomie und strafrechtlicher Paternalismus, 2011, S. 99 Fn. 402; Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 95. 43 Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 25. Aufl. 2012, S. 69. 44 Gkountis, Autonomie und strafrechtlicher Paternalismus, 2011, S. 99, 132. 45 Auch Dworkin beschreibt die kennzeichnenden Aspekte und Merkmale der Autonomie und betont, das Konzept charakterisieren, nicht definieren zu wollen, ders., The Theory and Practice of Autonomy, 1988, S. 6; dazu Gkountis, Autonomie und strafrechtlicher Paternalismus, 2011, S. 99. 46 Gkountis, Autonomie und strafrechtlicher Paternalismus, 2011, S. 100 f.; Raz, The Morality of Freedom, 1986, S. 370 Fn. 2.

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1. Teil: Grundlegung

Freiheit, überindividuelle moralische Prinzipien entwerfen und beachten zu können.47 Kants sittliches Autonomieverständnis thematisiert die Anknüpfung an die Vernunft, die Selbstgesetzgebung und die Verallgemeinerbarkeit der eigenen Handlungsmaximen und knüpft weniger an individuelle Bedürfnisse oder die Ausrichtung von Entscheidungen an persönlichen Neigungen und Vorlieben an.48 Letzteres wird jedoch vorliegend von zentralem Interesse sein. Steht die Beurteilung von Entscheidungen als autonom oder defizitär in Frage, bedarf es somit einer Aus­ einandersetzung mit dem Begriff der persönlichen Autonomie. (3) Persönliche Autonomie und Autonomiefähigkeit Im Zentrum der verschiedensten Beschreibungen dessen, was unter persönlicher Autonomie zu verstehen ist, steht bei einem gewissen Mindestmaß an Rationalität und kognitivem Vermögen meist die Idee einer Zuständigkeit, Möglichkeit, Fähigkeit und Freiheit dahingehend, Entscheidungen, die das eigene Leben betreffen, selbstverantwortlich, selbstbestimmt und reflektiert nach dem eigenen Willen zu treffen.49 Als Voraussetzung für eine insoweit verstandene Autonomie wird gemeinhin weder hohe Intelligenz noch jedwede Bildung verlangt; wohl aber die mentale Kompetenz, die eigenen Belange zu regeln, sodass Personen, die diese Fähigkeiten nicht haben – wie beispielsweise Säuglinge oder Menschen mit starken kognitiven Beeinträchtigungen –, regelmäßig nicht dazu in der Lage sind, autonom zu handeln.50 Die grundsätzliche Autonomiefähigkeit soll insbesondere nicht relativierbar sein: Eine relativistische und in der Konsequenz autonomieperfektionistische Konzeption, nach der Autonomie ein Ideal ist, dem sich nur genähert werden kann und in Folge dessen eine graduelle Abstufung der geistigen Begabung möglich ist,51 ist 47 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785/1911, AA 04: 440, s. dazu Schönecker / ​Wood, Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, 4. Aufl. 2011, S. 145, Heyder, in: Beck (Hrsg.), Gehört mein Körper noch mir?, 2012, S. 291 (293). 48 Siehe dazu Drerup, Paternalismus, Perfektionismus und die Grenzen der Freiheit, 2013, S. 129; Gkountis, Autonomie und strafrechtlicher Paternalismus, 2011, S. 100 f.; Heyder, in: Beck (Hrsg.), Gehört mein Körper noch mir?, 2012, S. 291 (293 f.); Maio, Mittelpunkt Mensch: Ethik in der Medizin, 2012, S. 33 f., 122 f.; Raz, The Morality of Freedom, 1986, S. 370 Fn. 2. 49 Vgl. etwa Brockhaus, 24. Band, „Selbstbestimmung“, 21. Aufl. 2006, S. 811; Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189; Gutwald, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 73 (78); Häyry, in: Encyclopedia of Applied Ethics, 1998, S. 449 (449); Klimpel, Bevormundung oder Freiheitsschutz?, 2003, S. 19; Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 95; Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 136; Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 42. 50 So z. B. Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 28; Gkountis, Autonomie und strafrechtlicher Paternalismus, 2011, S. 104, 119, 132 m. w. N. 51 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (223–225); Gutwald, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.),

1. Kap.: Rechtspaternalismus

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gerade auch im Bereich von Paternalismus äußerst missbrauchsanfällig: Bei einer so verstandenen Bestimmung von Autonomie könnte zwischen besonders oder weniger autonomiefähigen Menschen unterschieden werden und eine willkürliche Eingrenzung von Autonomie erfolgen.52 Da die Unterscheidung zwischen Kompetenz und Inkompetenz jedoch für die Zulässigkeit von Bevormundung, wie noch aufzuzeigen sein wird,53 von zentraler Bedeutung ist, ist ein derartiges Konzept in Folge der mit ihm einhergehenden Gefährdung eines sicheren, individuellen Bereichs persönlicher Freiheit und Autonomie abzulehnen.54 Anders als bei einem solchen graduellen Verständnis kommt im Rahmen eines „Schwellenkonzepts“ der Selbstbestimmung ein „absoluter Wert“ zu:55 Demnach kann jeder Mensch entscheidungsfähig und autonom handeln, der die Minimalanforderungen in Form einer durchschnittlichen, rationalen Befähigung aufweist und in der Lage ist, die gewöhnlichen Herausforderungen seiner Umwelt zu meistern.56 Ein Mehr an geistigen Fähigkeiten führt dann nicht zu einem Mehr an Autonomie:57 Entweder die Betroffene verfügt über diese „Basiskompetenz“ oder nicht.58 Entscheidend ist in diesem Zusammenhang insbesondere, dass jeder Mensch oberhalb dieser Schwelle autonom handeln kann59 – unabhängig davon, wie vernünftig oder klug seine Entscheidungen anderen erscheinen mögen.60 Der Autonomie kommt somit unabhängig von der moralischen Bewertung der Entscheidungen, die in ihrer Folge getroffen werden, ein eigener Wert zu.61

Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 73 (84); Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 41. 52 Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 41. 53 Siehe dazu im zweiten Kapitel unter B. III. und B. IV. 54 Fateh-Moghadam, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 21 (34); Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 29 f.; Gkountis, Autonomie und strafrechtlicher Paternalismus, 2011, S. 120 ff. und 131; Kleinig, Paternalism, 1983, S. 69; Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 41; Wikler, Philosophy & Public Affairs 1979, 377 (380–390). 55 Gkountis, Autonomie und strafrechtlicher Paternalismus, 2011, S. 127, 132; Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 42. 56 Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 29 f.; Gkountis, Autonomie und strafrechtlicher Paternalismus, 2011, S. 120 ff. und 131; Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (225); Gutwald, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 73 (80); Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 42; Wikler, Philosophy & Public Affairs 1979, 377 (380–390). 57 Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 29 f., Gkountis, Autonomie und strafrechtlicher Paternalismus, 2011, S. 121 f.; Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 42. 58 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (226). So auch Kleinig: „Voluntariness in this sense is an all-or-nothing matter.“, ders., Paternalism, 1983, S. 69. 59 Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 30. 60 Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 45; Gkountis, Autonomie und strafrechtlicher Paternalismus, 2011, S. 124 f.; Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 42. 61 Gkountis, Autonomie und strafrechtlicher Paternalismus, 2011, S. 132.

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1. Teil: Grundlegung

Die Autonomie- und Einsichtsfähigkeit spielt im Recht auf unterschiedlichen Gebieten und in unterschiedlichen Formen eine Rolle; so etwa im Rahmen der strafrechtlichen Einwilligungsfähigkeit oder der zivilrechtlichen Geschäftsfähigkeit.62 Der Zuschreibung dieser und ähnlicher Begriffe liegt regelmäßig die Frage zugrunde, ob die Betroffene die Befähigung hat, mit den „eigenen Rechtsgütern vernünftig umzugehen“63, ob sie rationale Entscheidungen treffen und die Folgen ihres Verhaltens absehen kann und insoweit die Möglichkeit hat, rechtswirksam zu handeln. Im Bereich der rechtfertigenden Einwilligung im Strafrecht spielt für die Annahme der Einwilligungsfähigkeit insbesondere eine Rolle, ob die Betroffene in Folge psychologischer oder biologischer Komponenten64 – namentlich im Fall von Minderjährigkeit, psychischen oder physischen Einschränkungen – nicht in der Lage ist, den Wert der in Frage stehenden Güter, die relevanten, entscheidungsbegründenden Tatsachen sowie deren Folgen und die mögliche Existenz von Alternativen zu erfassen oder nach entsprechender Erkenntnis zu handeln.65 Entscheidend für die natürliche Urteils- und Einsichtsfähigkeit ist, ob die Betroffene in der Lage ist, Wesen, Bedeutung und Tragweite der Entscheidung beurteilen zu können und danach zu handeln.66 Diese Befähigung wird auch unter Berücksichtigung der Komplexität der Situation und ihrer Begleitumstände bemessen.67 Im Rahmen der Rechtsordnung wird mit Erreichen der Volljährigkeit grundsätzlich vom Vorliegen dieser Fähigkeit ausgegangen: Sie bedarf deshalb insoweit keines positiven Nachweises. Es stellt sich vielmehr negativ die Frage, ob sie im Einzelfall nicht vorliegt.68 Im Ergebnis ist somit ein gewisses Grundniveau der Befähigung, rationale Entscheidungen treffen zu können, ausschlaggebend für die Annahme von Autonomiefähigkeit. Diese Schwelle darf jedoch nicht zu hoch angesiedelt werden, um weder Paternalismus noch Perfektionismus Tür und Tor zu öffnen.69

62 Bei der Schuldfähigkeit hingegen geht es mit den Aspekten des Unrechtsbewusstseins und der Akzeptanz entsprechender Regelungen um eine andere Art der kognitiven Fähigkeit, vgl. auch Amelung, in: Kopetzki (Hrsg.), Einwilligung und Einwilligungsfähigkeit, 2002, S. 24. 63 Amelung, in: Kopetzki (Hrsg.), Einwilligung und Einwilligungsfähigkeit, 2002, S. 24 (25). 64 So genannt bei Paeffgen / ​Zabel, in: Kindhäuser / ​Neumann / ​Paeffgen (Hrsg.), StGB, 5. Aufl. 2017, § 228 Rn. 16. 65 Amelung, in: Kopetzki (Hrsg.), Einwilligung und Einwilligungsfähigkeit, 2002, S. 24 (29–32); Paeffgen / ​Zabel, in: Kindhäuser / ​Neumann / ​Paeffgen (Hrsg.), StGB, 5. Aufl. 2017, § 228 Rn. 16. 66 Bernsmann / ​Sickor, in: Höfling (Hrsg.), 2. Aufl. 2013, TPG, § 19 Rn. 5; Oswald, in: FatehMoghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 94 (112) m. w. N. 67 Paeffgen / ​Zabel, in: Kindhäuser / ​Neumann / ​Paeffgen (Hrsg.), StGB, 5. Aufl. 2017, § 228 Rn. 14, 16. 68 Siehe dazu Taupitz, MedR 2012, 583 (584). 69 Gutwald, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 73 (82).

1. Kap.: Rechtspaternalismus

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bb) Konkrete Autonomie: Umstandskenntnis, Absenz von Willensmängeln und Entscheidungsfreiheit Schwach paternalistische Regelungen können jedoch nicht nur beim Handeln von Personen, die per se nicht in der Lage dazu sind, autonom zu handeln, eingreifen, sondern auch in Konstellationen, in denen grundsätzlich autonomiefähige Menschen im konkreten Fall defizitär entscheiden – sei es in Folge mangelnder Umstandskenntnis, auf Grund von Willensmängeln oder fehlender Freiwilligkeit. Zu autonomem Verhalten gehören somit nicht nur die abstrakte Autonomiefähigkeit der Handelnden, sondern auch die konkreten Umstände, die autonomes Handeln zulassen. In Anlehnung an die Wirksamkeitsvoraussetzungen der Einwilligung im Strafrecht70 muss neben der bereits angesprochenen Einsichts- und Urteilsfähigkeit auch die ausreichende Kenntnis der entscheidungsrelevanten Umstände, die Freiheit von relevanten Willensmängeln sowie die Freiwilligkeit der Entscheidung vorliegen.71 Je nach Komplexität der Konstellation und der in Frage stehenden Entscheidungen variieren an dieser Stelle die Anforderungen, die an die Autonomie zu stellen sind.72 (1) Kenntnis der entscheidungsrelevanten Umstände und Absenz relevanter Irrtümer Zumindest bis zu einem gewissen Grad wird für eine autonome Entscheidung immer auch die Kenntnis der entscheidungsrelevanten Umstände zu fordern sein. Denn fehlendes Wissen oder das Vorliegen eines bedeutsamen Irrtums73 können 70

Einen zentralen Prüfungspunkt der wirksamen Einwilligung im Strafrecht stellt die Dispositionsbefugnis über das in Frage stehende Rechtsgut dar, vgl. nur Lenckner / ​Sternberg-Lieben, in: Schönke / ​Schröder (Hrsg.), StGB, 29. Aufl. 2014, Vor §§ 32 ff. Rn. 37; MüKo / ​Schlehofer, StGB, 3. Aufl. 2017, Vor §§ 32 ff. Rn. 151–172. Dieser Aspekt mag für den grundrechtlichen Schutz der selbstschädigenden Handlung und die Rechtfertigung von Paternalismus von Bedeutung sein – bei der reinen Feststellung des Vorliegens von schwachem Paternalismus spielt er jedoch keine Rolle. Auch Rigopoulou spricht sich dafür aus, die Autonomie in Anlehnung an die Einwilligungslehre zu bestimmen, dies., Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 321. Als normativ relevante Defizite erkennt sie daher die Täuschung, rechtsgutsbezogene Irrtümer, Drohung und Zwang an, a. a. O., S. 272–283. 71 Vgl. zu den Anforderungen an eine wirksame Einwilligung nur etwa Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 254; Kühl, in: Lackner / ​Kühl, StGB, 28. Aufl. 2014, § 228 Rn. 5–8; Lenckner / ​Sternberg-Lieben, in: Schönke / ​Schröder (Hrsg.), StGB, 29. Aufl. 2014, Vor §§ 32 ff. Rn. 35–50; MüKo / ​Schlehofer, StGB, 3. Aufl. 2017, Vor §§ 32 ff. Rn. 150–189. 72 Gutwald, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 73 (81); für die Annahme von Freiwilligkeit so auch Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 118, 120. 73 Im Rahmen der strafrechtlichen Einwilligung sind etwa rechtsgutsbezogene Irrtümer beachtlich, siehe dazu Arzt, Willensmängel bei der Einwilligung, 1970, S. 19–24; Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 201 f.;

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1. Teil: Grundlegung

rationale Autonomiehindernisse darstellen. Ob es für Autonomie auch auf das Vorliegen von Detailwissen oder eines Bewusstseins der Folgen der in Frage stehenden Handlungen ankommt, hängt von der Komplexität der Entscheidung, dem Wert der in Frage stehenden Güter oder der möglichen Irreversibilität der Entscheidung ab – im Regelfall wird jedoch die Kenntnis der zentralen Umstände und Risiken und die Absenz von völligen Fehlvorstellungen und -einschätzungen für die Annahme informierter Entscheidungen ausreichen. In Mills im Laufe dieser Untersuchung noch genauer zu beleuchtenden Brückenbeispiel, in welchem er das Szenario entwirft, dass jemand eine Brücke in Unkenntnis einer bestehenden Einsturzgefahr betreten möchte,74 wäre die Autonomie der Entscheidung in der konkreten Situation mangels Kenntnis der entscheidungsrelevanten Umstände abzulehnen. (2) Freiwilligkeit der Entscheidung Eine autonome Entscheidung muss ferner grundsätzlich eine freiwillige Entscheidung sein. Grundvoraussetzung für die Annahme von Freiwilligkeit ist wohl jedenfalls die Existenz von Handlungsalternativen75 sowie die Freiheit von Zwang. Unzweifelhaft ist, dass absoluter Zwang, der die Bildung oder die Verwirklichung des eigenen Willens vollkommen unmöglich macht,76 die Freiwilligkeit einer Entscheidung und damit die Autonomie der Betroffenen in der konkreten Situation entfallen lässt.77 Schwieriger gestaltet sich allerdings die Beurteilung des Einflusses von kompulsivem Zwang, der in Form von psychischem Druck auf die Betroffenen einwirkt78 sowie von innerem Zwang auf die Freiwilligkeit der Entscheidenden. Insoweit ist insbesondere die Einordung von Anreizen und Angeboten mit Zwangswirkung, die im dritten Kapitel der Arbeit noch von Relevanz sein wird,79 problematisch. Während äußerer Zwang einen direkten Einfluss auf die Autonomie einer Entscheidung haben kann, ist dies bei innerem Zwang regelmäßig nicht der Fall: Eine freiwillige Entscheidung muss keine leichte Entscheidung sein80 oder in Abwesendies., in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 94 (106) m. w. N.; Roxin, Strafrecht AT, Band 1, 4. Aufl. 2006, § 13 Rn. 99. 74 Mill, On Liberty, 1859/1946, S. 86. Siehe dazu im zweiten Kapitel unter A. III. 1. 75 Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, 2001, S. 233. Keinen direkten Einfluss auf die Freiwilligkeit hat jedoch die Wahrnehmung der Betroffenen, die Entscheidung sei subjektiv alternativlos, vgl. Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (246 f.). Deshalb führen schwierige Entscheidungen in Konstellationen, in denen es nur wenig erstrebenswerte Alternativen gibt, nicht zur Annahme der Unfreiwilligkeit einer Entscheidung. 76 Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, 2001, S. 232. 77 Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 115. 78 Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, 2001, S. 234. 79 Siehe dazu im dritten Kapitel unter C. I. 3. b) aa) (1) (a). 80 Vgl. dazu Gutmann / ​Schroth, Organlebendspende in Europa, 2002, S. 114.

1. Kap.: Rechtspaternalismus

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heit moralischer Verpflichtungsgefühle und inneren Drucks getroffen werden.81 Von Bedeutung ist allein, dass sich die Entscheidung als autonome Verwirklichung der eigenen Handlungsfreiheit darstellt82 – die Absenz innerer und äußerer Einflüsse auf die Entscheidung vorauszusetzen würde zu einem überhöhten und idealisierten Verständnis von Autonomie führen, das weder mit der Realität noch mit einem normativen Freiwilligkeitsbegriff übereinstimmt.83 Jedenfalls nötigender, äußerer Zwang84 und „heteronom bestimmte Entscheidungen auf Grund von Gewalt und Drohung“85 schließen Autonomie aus. cc) Anforderungen und Feststellung Sowohl die Festlegung der Anforderungen, die an das Vorliegen von Autonomie zu stellen sind, als auch ihre Feststellung ist äußerst schwierig. Grundsätzlich müssen die Anforderungen an die Autonomie in den vorliegend zu beurteilenden Fällen dieselben sein: Zwar liegt die Idee eines besonders hohen Anspruchs an die Voraussetzungen für Autonomie in Fällen, in denen etwa besonders wertvolle Rechtsgüter auf dem Spiel stehen, nahe.86 Ein solcher Ansatz ist im Ergebnis jedoch, soweit es nicht etwa um Detailwissen bei besonders komplexen Entscheidungen geht, als Annäherung an ein graduelles Autonomieverständnis aus den genannten Gründen abzulehnen.87 Die Betroffenheit bedeutsamer Rechtsgüter oder die Irreversibilität der Entscheidung sollte vielmehr als Anhaltspunkt und Anlass für eine genaue Untersuchung der Autonomie dienen. Um verdecktem Paternalismus nicht Tür und Tor zu öffnen, kann die Autonomieschwelle in diesen Fällen jedoch nicht zu höheren materiellen Anforderungen an dieselbe führen.88 Da die Fähigkeit, selbstverantwortliche Entscheidungen zu treffen, die Grundlage unserer Rechtsordnung und Gesellschaft darstellt,89 wird von ihrem Vorliegen 81

Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 255. Roxin, Strafrecht AT, Band 1, 4. Aufl. 2006, § 13 Rn. 99. 83 Ausführlich Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. ­254–256. 84 So zur Wirksamkeit der Einwilligung im Strafrecht Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 254; Oswald, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 94 (105, 107 f.); LK / ​Rönnau, StGB, 12. Aufl. 2006, Vor § 32 Rn. 207. 85 So Lenckner / ​Sternberg-Lieben zur Freiwilligkeit im Rahmen der rechtfertigenden Einwilligung im Strafrecht, dies., in: Schönke / ​Schröder (Hrsg.), StGB, 29. Aufl. 2014, Vor §§ 32 ff. Rn. 48. 86 So geht etwa Feinberg davon aus, dass die Ansprüche an die Freiwilligkeit abhängig von Bedeutung und (Ir)reversibilität der in Frage stehenden Entscheidung variieren, ders., Harm to Self, 1986, S. 117 f., 120. 87 Siehe dazu bereits unter A. I. 2. a) aa) (1). 88 So auch Gutmann, der vorschlägt in heiklen Fällen besser „höhere Anforderungen an den Nachweis des Nichtvorliegens“ von Autonomiedefiziten anzulegen, ders., in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (227). 89 Dazu ausführlich Klimpel, Bevormundung oder Freiheitsschutz?, 2003, S. 20 f. 82

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1. Teil: Grundlegung

grundsätzlich ausgegangen, soweit ihr Nicht-Vorliegen nicht in Folge starker äuße­ rer Indizien naheliegt und insoweit der konkreten Untersuchung bedarf.90 Wie bereits dargestellt, wird juristische Autonomie somit negativ bestimmt.91 Soweit keine konkreten Anhaltspunkte für das Fehlen von Autonomie bestehen,92 kann von ihrem Vorliegen ausgegangen werden. dd) Anlass für Zweifel? Unvernunft der Entscheidung, Delegation der Ausführungshandlung und fehlende Authentizität Derartige Indikatoren für das Fehlen von Autonomie können sowohl unvernünftiges Verhalten als auch die Delegation der Ausführungshandlung und die fehlende Authentizität einer Entscheidung sein. Bei der Bestimmung von Unvernunft und ihrer Abgrenzung zu Inkompetenz ist – gerade im Rahmen der Paternalismusdebatte – Vorsicht geboten, da Inkompetenz die Autonomie im Gegensatz zu Unvernunft entfallen lässt93 und damit eine viel weitgehendere Bevormundung ermöglicht. Da es sich bei beiden Phänomenen um Formen der Irrationalität handelt, ist ihre genaue Unterscheidung von zentraler Bedeutung. Jedenfalls eine von grundsätzlich autonomiefähigen Menschen getroffene, im Einzelfall irrationale oder unvernünftige Entscheidung vermag die Autonomie derselben grundsätzlich nicht in Abrede zu stellen.94 Da unvernünftige Entscheidungen vielleicht wenig erstrebenswert sind, aber von kompetenten Menschen ohne Einsichtsdefizit getroffen werden können, muss gerade die Freiheit zu unvernünftigem Handeln auch von der Autonomie gedeckt sein.95 Allein eine „Abweichung vom Üblichen“96 begründet keine Inkompetenz – ein solcher Ansatz würde das Ende jeder Individualität begründen. Ebenso wie ein besonders hoher Wert der in Frage stehenden Güter und die Irreversibilität der Entscheidung kann auch die objektive Unvernunft97 lediglich Anlass für eine Untersuchung und nicht bereits Anhaltspunkt für fehlende Auto 90 So etwa bei Kindern oder bei Anhaltspunkten für eine geistige Beeinträchtigung Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (226 f.); Klimpel, Bevormundung oder Freiheitsschutz?, 2003, S. 19 f. 91 Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 254. Siehe dazu bereit soeben unter A. I. 2. a) aa) (1). 92 Fateh-Moghadam, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 21 (37). 93 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (228). 94 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (229, 237). 95 Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 106 f.; Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (232). 96 Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 267 f. 97 Anders als die objektive Unvernunft kann jedoch die „subjektive Irrationalität“ und damit der Versuch, ein subjektives Ziel mit objektiv nicht geeigneten Mitteln zu erreichen nach Fateh-Moghadam einen Anhaltspunkt für das Fehlen von Autonomie darstellen, ders., in: Fa-

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nomie sein. Diskutiert wird ferner ob die Delegation der Ausführung einer selbstschädigenden Handlung an Dritte als Indiz für fehlende Autonomie dienen kann. Dies ist mit Rigopoulou jedoch jedenfalls in den Fällen abzulehnen, in denen die Übertragung der Selbstschädigung nicht aus psychischen, sondern aus Gründen faktischer oder körperlicher Notwendigkeit erfolgt.98 Entsprechendes muss für Entscheidungen gelten, denen es an Authentizität fehlt, die also Inkohärenzen mit persönlichen Zielen und Handlungsleitlinien oder dem eigenen Lebensentwurf aufweisen:99 Während die fehlende Übereinstimmung des Handelns mit den „stabilen Werten und Überzeugungen“100 der Handelnden einen Indikator für ein Autonomiedefizit darstellen kann, vermag sie angesichts der Tatsache, dass in einer liberalen Gesellschaft davon auszugehen ist, dass der Einzelne im Regelfall in der Lage ist, sein Leben autonom zu lenken, die Annahme eines Autonomiedefizits per se nicht begründen.101 b) Resümee: Autonomie als Abgrenzungsmerkmal zwischen starkem und schwachem Paternalismus Die aufgeworfenen Aspekte liefern Anhaltspunkte für die Bestimmung der Autonomie von Entscheidungen: Eine Kombination aus abstrakter Urteils- und Einsichtsfähigkeit (Kompetenz), hinreichend konkreter Tatsachenkenntnis und der Absenz von relevanten Willensmängeln führt wohl zur Annahme einer auch rechtlich als autonom anzusehenden Entscheidung. Ein wohlmeinender Eingriff in eine diesen Kriterien genügende, autonome Entscheidung hat stark paternalistischen Charakter. Liegen diese Voraussetzungen hingegen nicht vor und wird sich über eine defizitäre Entscheidung wohlmeinend hinweggesetzt, stellt sich der Eingriff als schwach paternalistisch dar – so verhält es sich regelmäßig beim Schutz gegen den Willen von Kindern und Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen. Da jedoch grundsätzlich von der Selbstbestimmungsfähigkeit der Einzelnen auszugehen ist, sind an die Annahme fehlender Autonomie im Übrigen höchste und – im Sinne

teh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 21 (37). In Kombination mit dem Wert des in Frage stehenden Rechtsguts ebenso Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 43. 98 Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 45. Dazu auch im zweiten Kapitel unter B. III. 2. e). 99 Siehe zu dem Begriff der Authentizität Schöne-Seifert, Grundlagen der Medizinethik, 2007, S. 47; Kaufmann, Patientenverfügungen zwischen Selbstbestimmung und staatlicher Fürsorge, 2015, S. 29. Zu einer möglichen Rechtfertigung von paternalistischen Eingriffen bei fehlender Authentizität der Entscheidung siehe auch im zweiten Kapitel unter A. VII. 5. 100 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (235). 101 Siehe dazu Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (235).

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1. Teil: Grundlegung

des Schutzes unvernünftiger, aber autonomer Entscheidungen – maximal konkretisierte102 Anforderungen zu stellen. 3. Beeinflussung, Freiheitsbeschränkung oder Zwang? Umstritten ist im Rahmen der Begriffsbestimmung von Paternalismus ferner, ob das paternalistische Übergehen des Willens der Betroffenen mit einer Freiheitsbeschränkung oder sogar mit Zwang einhergehen muss. Während etwa Beauchamp und Dworkin zunächst zumindest eine Freiheitsbeschränkung für die Annahme von Paternalismus verlangten,103 wird dies als zwingende Voraussetzung für Paternalismus inzwischen zumeist mit dem Argument abgelehnt, dass auch Lügen und Täuschungen Paternalismus begründen könnten.104 Auch Zwang stellt – soweit darunter eine Form der Einwirkung, des Drucks oder der Freiheitsbeeinträchtigung verstanden wird105 – grundsätzlich keine konstituierende Voraussetzung für Paternalismus dar.106 Ausreichen soll vielmehr, dass die (paternalistische) Behandlung eine Person trifft, die so nicht behandelt werden möchte und zu einer Autonomieverletzung der Betroffenen und der Anmaßung einer Entscheidungsbefugnis führt.107 Kleinig geht differenzierend davon aus, dass Paternalismus zu einer Einschränkung der Freiheit („freedom“) der Betroffenen führen muss, nicht aber zwingend zu einer Einschränkung der Handlungsfreiheit („liberty of action“).108 In der Tat lässt sich auch ohne Zwang und Freiheitsbeeinträchtigung jede Form der Beeinflussung, potentiell etwa in Form des Zurückhaltens von Informationen oder dem Anpreisen einer Option,109 als paternalistisch verstehen. Jedenfalls soweit Paternalismus zwischen Menschen

102

Die Bedeutung der Konkretisierung der Grenzen betont auch Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 322. 103 Beauchamp, Monist 1977, 62 (67, 69); Dworkin, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 19 (20). In später folgenden Begriffsbestimmungsversuchen wichen sie selbst von diesem Erfordernis ab, Beauchamp, JWE 2009, 77 (81); Dworkin, in: Encyclopedia of Ethics, Vol. II, 1992, S. 940. 104 Dworkin, in: Encyclopedia of Ethics, Vol. II, 1992, S. 940; Kleinig, Paternalism, 1983, S. 6, der als Beispiel anführt, dass der sterbenden Mutter verheimlicht wird, dass ihr Sohn gerade verstorben ist. 105 Duden, Deutsches Universalwörterbuch, 8. Aufl. 2015, S. 1885. 106 Childress, Who Should Decide?, 1982, S. 14; Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 7; Häyry, The Limits of Medical Paternalism, 1991, S. 51, 64; Schramme, JWE 2009, 147 (156 f.); ­VanDeVeer, Paternalistic Intervention, 1986, S. 19. Kleinig, Paternalism, 1983, S. 5, nennt beispielhaft die Abgabe von Naturalien statt Geld an Bedürftige mit dem Ziel, Verschwendung von Hilfen zu minimieren, die Sperrung einer gefährlichen Straße oder die Auszahlung eines Schadensersatzes für eine Körperverletzung als Rente und nicht im Ganzen. Ebenso Enderlein, der auch eine „unterlassene […] Ausweitung von Handlungsalternativen“ als erfasst ansieht, ders., Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 10. 107 Dworkin, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 105 (106 f.). 108 Kleinig, Paternalism, 1983, S. 7. 109 Schramme, JWE 2009, 147 (156 f.).

1. Kap.: Rechtspaternalismus

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und nicht auf staatlicher Ebene in Frage steht, muss mit ihm nicht zwingend eine Freiheitsbeschränkung oder Zwang einhergehen.110 Culver und Gert verlangen für die Annahme von Paternalismus zusätzlich die Verletzung einer moralischen Regel.111 Dies erfasse alles, was moralisch falsch („wrong“) sei und damit auch das Berauben von Freiheiten und Möglichkeiten.112 Allerdings kommt es insoweit zu einer Vermischung moralistischer und paternalistischer Aspekte,113 die für die Begriffsbestimmung des reinen Paternalismus nicht zielführend ist.

II. Eigene Definition Da das Phänomen Paternalismus im Rahmen dieser Arbeit möglichst um­fassend beleuchtet werden soll, ist eine einschränkende Definition – hinsichtlich der Begrenzung auf die Vermeidung von Schaden oder die Orientierung an einem zwingend langfristigen Wohl ebenso wie hinsichtlich des Erfordernisses einer Freiheitsbeschränkung und von Zwang – nicht zielführend. Als Grundlage für die rechtliche Beurteilung entsprechender Eingriffe muss die Definition vielmehr so weit wie möglich gefasst werden, um die der Selbstbestimmung am intensivsten widersprechenden Eingriffe  – etwa diejenigen, die nicht einmal der Abwendung von Schaden, sondern lediglich der Förderung eines zusätzlichen Wohls dienen – nicht von Anfang an außen vor zu lassen.114 Zum Zweck dieser Untersuchung sind daher im Ergebnis Verhaltensweisen als paternalistisch anzusehen, die sich im Sinne des Schutzes oder des Wohls der Betroffenen – und damit positiv wie negativ – über ihren autonom oder defizitär gebildeten Willen – und damit stark oder schwach paternalistisch – hinwegsetzen.

III. Rechtspaternalismus Dementsprechend bezweckt und bewirkt Rechtspaternalismus den Schutz der Betroffenen gegen ihren Willen mit den Mitteln des Rechts. So rechtfertigt aus Feinbergs Sicht das Prinzip des rechtlichen Paternalismus („legal paternalism“) „state coercion to protect individuals from self-inflicted harm, or in its extreme version, to guide them, whether they like it or not, toward their own good.“115 Im 110

So auch Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 7. Culver / ​Gert, Philosophy in Medicine, 1982, S. 127, 130; Culver / ​Gert, Philosophy & Public Affairs 1976, 45 (45 f., 48); Häyry, The Limits of Medical Paternalism, 1991, S. 52. 112 Culver / ​Gert, Philosophy in Medicine, 1982, S. 131 f. 113 Zur Abgrenzung sogleich unter A. IV. 114 Auch Kleinig lehnt eine entsprechende Einschränkung mit dem Hinweis ab, es sei zwischen Begriffsbestimmung und Rechtfertigung zu unterscheiden, ders., Paternalism, 1983, S. 13. 115 Feinberg, CJOP 1971, 105 (105). 111

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1. Teil: Grundlegung

Rahmen dieser Definition wird deutlich, dass Paternalismus jedenfalls auf staatlicher Ebene regelmäßig mit der Ausübung von Zwang einhergeht – oder, wie bei Arneson, zumindest mit einer Freiheitsbeschränkung. Er definiert „paternalistic policies“ als „restrictions on a person’s liberty which are justified exclusively by consideration for that person’s own good or welfare, and which are carried out either against his present will (when his present will is not explicitly overridden by his own prior commitment) or against his prior commitment (when his present will is explicitly overridden by his own prior commitment).“116 Jedenfalls soweit ein Begründungsstrang des jeweiligen Rechtsakts auch auf den Schutz der Einzelnen gegen ihren Willen abzielt oder ein Rechtsakt eine entsprechende faktische Wirkung entfaltet, lässt er sich somit als paternalistisch beschreiben.117 Sowohl gesetzliche Regelungen als auch sonstige Hoheitsakte können rechtspaternalistische Wirkung entfalten. 1. Paternalistische Gesetzesregelungen Die Einordnung von gesetzlichen Regelungen als paternalistisch erfolgt an Hand ihres Zweckes und der von diesem Zweck erfassten Auswirkungen. a) Detektion paternalistischer Regelungsmotive Zweck, Intention und Rechtfertigung einer Vorschrift, die bei paternalistischen Regelungen das Wohl der Betroffenen im Blick haben,118 sind durch Auslegung zu ermitteln. Einen Anhaltspunkt kann regelmäßig das in der Gesetzgebungshistorie verfolgte Motiv einer Regelung bieten – entscheidend ist jedoch, gegebenenfalls auch in Abweichung von den explizit genannten subjektiven Erwägungen, der „objek­tiv erkennbare Normzweck“.119 Gesetzlichen Regelungen liegt häufig eine Vielzahl von Motiven zugrunde.120 Wenn ein paternalistischer Begründungsstrang Teil eines solchen Motivbündels ist, werden die entsprechenden Regelungen häufig als gemischt oder unrein paternalistisch bezeichnet.121 Gerade soweit die außer-paternalistischen Rechtfertigungsansätze einer Vorschrift im Einzelfall jedoch nicht zu überzeugen vermögen,122 116

Arneson, Ethics 1980, 470 (471). Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 8. 118 Stepanians, JWE 2009, 129 (130). 119 Epping, Grundrechte, 7. Aufl. 2017, Rn. 50; ähnlich Sachs, Verfassungsrecht II, 3. Aufl. 2017, Kapitel 10 Rn. 34. 120 Siehe dazu auch Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 14; Kleinig, in: von Hirsch / ​Neumann / ​Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 145 (149). 121 Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 16. 122 Deshalb hält Enderlein die Einordung auch gemischt-paternalistischer Regelungen als paternalistisch für so bedeutsam, ders., Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 14. 117

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kann es sich bei solchen Regelungen auch um verdeckten, reinen Paternalismus handeln.123 Darüber hinaus lassen sich Regelungen unabhängig von ihrem benannten oder ermittelten Zweck auch dann als paternalistisch einordnen, wenn sich aus ihnen zwangsläufig eine paternalistische Wirkung im Einzelfall ergibt oder diese als gleichsam bewusste Nebenwirkung vom Regelungszweck miterfasst ist. b) Freiheitsbeeinträchtigung Eine paternalistische Gesetzesregelung muss zudem die Freiheit oder Autonomie der von der Regelung Betroffenen einschränken.124 Mit der Ausübung von unmittelbarem Zwang muss gesetzförmiger Paternalismus jedoch nicht immer einhergehen:125 Zwar sind Zwang, Verbot und Sanktion126 die insoweit klassischen rechtspaternalistischen Mittel – paternalistisch wirken können Regelungen jedoch auch durch zwangsähnliche Freiheitsbeeinträchtigungen, wie etwa der Klassifizierung eines Rechts als unveräußerlich, der Sachhilfe im Rahmen der Fürsorge anstelle der Auszahlung von Barmitteln sowie durch Regelungen, die Verträgen oder Handlungen die rechtliche Wirksamkeit absprechen.127 c) Gegen den Willen der Betroffenen Die von der paternalistischen Regelung ausgehende Förderung oder Erhaltung des Wohlergehens muss ferner gegen den Willen der Betroffenen erfolgen.128 Für die Einordnung einer gesetzlichen Regelung als paternalistisch ist es unerheblich, ob eine Mehrzahl der Bürgerinnen eine entsprechende Schutzregelung befürwortet oder nicht,129 solange diese die einzelne Betroffene zumindest auch gegen ihren Willen schützen soll.130 Dementsprechend hat auch das Einverständnis einzelner Adressatinnen einer Regelung mit dem von ihr ausgehenden Schutz keinen Einfluss auf die grundsätzlich paternalistische Natur derselben. Denn die notwendige Generalisierung, mit der gesetzliche Regelungen einhergehen, kann zu unterschied-

123

Zu unreinem und verdecktem Paternalismus siehe auch sogleich unter A. V. 4. Stepanians, JWE 2009, 129 (130). 125 Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 7. 126 Sich allein darauf beziehend Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189. 127 Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 7 f.; Stepanians, JWE 2009, 129 (130). 128 Siehe auch Stepanians, JWE 2009, 129 (130). 129 Darauf nimmt Arneson Bezug, rückt im Ergebnis jedoch auch die gesetzgeberische Intention („rationale“) für die Einordnung in den Vordergrund, ders., in: Routledge Encyclopedia of Philosophy Vol. 7, 1998, S. 250. 130 Anders Carter, die die Einordnung auch an die Motivation der Mehrheit knüpft: Wünsche diese einen eigenen Schutz, wirke das Gesetz auch gegenüber der diesen Schutz nicht wünschenden Minderheit nicht paternalistisch, dies., CJOP 1977, 133 (145). 124

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1. Teil: Grundlegung

lichen Wirkungen im Einzelfall führen: So trifft etwa die Gurtpflicht in der StVO sowohl diejenigen, die einen entsprechenden Schutz wünschen, als auch diejenigen, die ihn nicht wünschen. Die Freiheitsbeschränkung kann demnach paternalistisch und nicht-paternalistisch wirken.131 Auch wenn unterschiedlich wirkende Regelungen somit ebenso dem Schutz derjenigen dienen, die diesen Schutz wünschen, ändert dies dann nichts an ihrer Einordnung als paternalistisch, wenn sie den Schutz gegen den Willen Einzelner jedenfalls mitbezwecken und mitbewirken.132 Eine solche Regelung kann etwa paternalistische Wirkungen entfalten, wenn sie das Übergehen autonomer Entscheidungen jedenfalls in Kauf nimmt und sogar stark paternalistisch wirken, wenn sie von vorneherein nicht nur gegenüber defizitären Entscheidungen Geltung beansprucht. Die verschiedenen Schutzwirkungen können jedoch auf Ebene der Rechtfertigung der paternalistischen Eingriffe Bedeutung erlangen.133 2. Paternalistische Hoheitsakte außerhalb der Legislative Auch Hoheitsakte der Judikative und der Exekutive können paternalistischer Natur sein. Zwar kommt der Anwendung paternalistischen Gesetzesrechts im Rahmen der Rechtsprechung nicht zwingend ein eigenständiger paternalistischer Wert zu – bei entsprechender Auslegung per se paternalismus-unverdächtiger Regelungen und Konzepte kann es jedoch auch zu eigenständig-paternalistischen gerichtlichen Entscheidung kommen.134

IV. Abgrenzungen: Rechtsmoralismus, moralischer Rechtspaternalismus und Perfektionismus Zur Einordnung der Grenzen und der Rechtfertigungsansätze freiheitsbeschränkender Rechtsnormen werden verschiedene Prinzipien bemüht: Neben dem prominent von Mill vertretenen und weithin anerkannten Schädigungsprinzip („harm principle“), welches Freiheitsbeschränkungen im Falle einer Schädigung oder der

131

Dazu sogleich unter B. II. 1. Allerdings wird in diesen Fällen regelmäßig derjenige konkret beschränkt, der den Schutz nicht wünscht. Denn wer sich aus freier Überzeugung anschnallt, wird durch die Regelung unter Umständen gar nicht erst in seiner Freiheit beeinträchtigt. 132 So aber Feinberg, der Regelungen, die der Ermöglichung des Schutzes derjenigen, die ihn wünschen, bezwecken, nicht für paternalistisch, ders., Harm to Self, 1986, S. 20 f. 133 Siehe dazu im zweiten Kapitel unter B. V. Anders Oswald, die auch die Fälle von ihrem weichen Paternalismuskonzept als erfasst ansieht, in denen „sich staatliche […] Maßnahmen zum Schutz einer Person auf die Gefahr einer nicht autonomen Entscheidung dieser Person stützen, die über ihre Rechtsgüter verfügt.“, dies., Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 141. 134 So etwa im Rahmen des Menschenwürdekonzepts, siehe dazu sogleich B. IV.

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Gefahr einer Schädigung anderer legitimiert135 und dem von Feinberg entworfenen Anstößigkeitsprinzip („offense principle“), welches strafrechtliche Verbote anstößi­ ger Handlungen rechtfertigt,136 sind im vorliegenden Zusammenhang in Folge ihrer Nähe zu Paternalismus und Rechtspaternalismus insbesondere die Prinzipien des Rechtsmoralismus, des moralischen Rechtspaternalismus und des Perfektionismus von Interesse.137 Da Moralismus im Allgemeinen Handlungen ablehnt, die unmoralisch sind,138 erkennt Rechtsmoralismus solche Regelungen als legitim an, die ein Verhalten verbieten, das moralische Regeln verletzt oder an sich schlecht ist139 – auch wenn durch das Verhalten niemand konkret geschädigt oder beleidigt wird.140 Prominent etwa von Devlin vertreten, kann unmoralisches Verhalten nach diesem Prinzip zum Schutz der Gesellschaft vor Zersetzung mit den Mitteln des Rechts untersagt werden.141 Wie in Fällen des Rechtspaternalismus haben auch im Rahmen des Rechtsmoralismus die autonomen Wünsche der Betroffenen keinen Einfluss auf die Legitimität der Maßnahme142 – Rechtspaternalismus zielt jedoch im Unterschied zu Rechtsmoralismus auf das subjektive Wohl der Betroffenen und nicht auf die objektive „Durchsetzung herrschender Lebensideale“ ab.143 Moralischer Rechtspaternalismus hingegen legitimiert Handlungsverbote durch das Abwenden moralischer Schäden für die Handelnden selbst,144 auch gegen deren Willen. Vertreterinnen eines moralischen Rechtspaternalismus halten die Freiheit zu unmoralischem Handeln nicht für schützenswert.145 In Abgrenzung zu diesen Ansätzen ist ein Freiheitseingriff perfektionistisch ausgerichtet, wenn er nicht den (gegebenenfalls späteren) eigenen und authentischen Präferenzen der Betroffenen dient – das durchzusetzende Wohl also subjektiv bestimmt wird –, sondern wenn der Eingriff der Durchsetzung eines Wohls dient, das 135 „[The] only purpose for which power can be rightfully exercised over any member of a civi­ lized community, against his will, is to prevent harm to others.“, Mill, On Liberty, 1859/1946, S. 8. Vgl. auch Feinberg, Harm to Self, 1986, S. xvi f. 136 Feinberg, Harm to Self, 1986, S. xvii. Die Übersetzung „Anstößigkeitsprinzip“ stammt von Stepanians, JWE 2009, 129. 137 Siehe dazu Feinberg, Harm to Self, 1986, S. xvii; vgl. zum Ganzen auch Stepanians, JWE 2009, 129 (131 f.). 138 Häyry, in: Encyclopedia of Applied Ethics, 1998, S. 449 (450). 139 Fateh-Moghadam, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 21 (25). 140 Stepanians, JWE 2009, 129 (138–145). 141 Devlin, The Enforcement of Morals, 1965, S. 12–14; siehe dazu Stepanians, JWE 2009, 129 (139). 142 Fateh-Moghadam, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 21 (25). 143 Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 25 f.; s. auch Feinberg, Harm to Self, 1986, S. xvii. 144 Feinberg, Harm to Self, 1986, S. xvii. 145 Stepanians, JWE 2009, 129 (143) m. w. N.

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objektiv anhand von Interessen festgelegt wird, die die Betroffenen aus Sicht des Eingreifenden haben sollten, die einem Ideal entsprechen oder die zur Verbesserung des Charakters der Einzelnen notwendig sind.146

V. Besondere paternalistische Erscheinungsformen 1. Interpersoneller und staatlicher Paternalismus Grundsätzlich wurde vorliegend bereits zwischen interpersonellem und recht­ lichem bzw. staatlichen Paternalismus unterschieden. Während auf interpersoneller Ebene ganz verschiedene paternalistische Mittel denkbar sind und die Rechtfertigung eines solchen Paternalismus, der zwischen einzelnen Personen stattfindet, im Rahmen dieser Arbeit nur Anhaltspunkte für die Beurteilung von rechtlichem Paternalismus geben kann, spielen auf staatlicher Ebene wie bereits dargelegt insbesondere Freiheitsbeeinträchtigung und Zwang147 als paternalistische Mittel eine zentrale Rolle. Auch Zude zieht eine solche Trennlinie und unterscheidet in Anlehnung an Culver und Gert zwischen „social“ „individual“ und „official paternalism“:148 Danach kann es sich beim Vorgehen sozialer Einrichtungen wie Staat oder Kirche um sozialen Paternalismus, beim Handeln natürlicher Personen um individuellen Paternalismus und beim Handeln eines Individuums, dem in Folge eines Amtes eine gewisse Autorität zukommt, wie zum Beispiel einer Ärztin im Rahmen einer Zwangseinweisung, um offiziellen Paternalismus handeln.149 2. Aktiver und passiver Paternalismus Unter aktivem Paternalismus wird gemeinhin die paternalistische Verpflichtung zu einem bestimmten Tun verstanden, während passiver Paternalismus das paternalistische Abhalten oder Verbieten von bestimmten Handlungen darstellt,150 bzw. entweder die aktive Weigerung, den Wunsch der Nicht-Einmischung zu akzeptieren oder die Weigerung, die Wünsche der Betroffenen auszuführen.151

146 Birnbacher, in: von Hirsch / ​Neumann / ​Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 11 (15); Feinberg, Harm to Self, 1986, S. xvii f.; Schramme, JWE 2009, 147 f. m. w. N. 147 Häyry, in: Encyclopedia of Applied Ethics, 1998, S. 449 (451). 148 Zude, Paternalismus, 2010, S. 209 f. 149 Zude, Paternalismus, 2010, S. 209 f. 150 Kleinig, Paternalism, 1983, S. 14. Feinberg wählt als Beispiel für aktiven Paternalismus die Helmpflicht und das Betäubungsmittelverbot als Beispiel für passiven Paternalismus, ders., Harm to Self, 1986, S. 8. Siehe auch Drerup, Paternalismus, Perfektionismus und die Grenzen der Freiheit, 2013, S. 172. 151 Childress, Who Should Decide?, 1982, S. 19.

1. Kap.: Rechtspaternalismus

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3. Harter und weicher Paternalismus Carter und Childress differenzieren zudem zwischen hartem und weichem Paternalismus („hard“ und „soft paternalism“). Demnach soll harter Paternalismus in Fällen vorliegen, in denen sich der Eingriff an Wertvorstellungen orientiert, die den Betroffenen fremd sind152 und in denen bei der Bewertung von Schaden und Wohltaten nicht die den Betroffenen eigenen Werte herangezogen werden.153 Weicher Paternalismus soll in Konstellationen vorliegen, in denen der Eingriff zwar gegen den aktuellen Willen der Betroffenen erfolgt, aber an den grundlegenden Wertvorstellungen und Präferenzen der Betroffenen orientiert ist154 In ähnlicher Weise versteht auch Schroth harten Paternalismus als eine Art von Paternalismus, welche „die Werte, die zum Wohle des Individuums gelten sollen, aus der Perspektive einer objektiven Wertordnung“155 bestimmt, während bei weichem Paternalismus das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen dahingehend, über ihre eigenen Rechtsgüter zu verfügen, anerkannt wird und sie vielmehr „aus [ihrer] eigenen Perspektive heraus“ geschützt werden.156 Ein nach diesem Verständnis harter Paternalismus weist eine gewisse Ähnlichkeit zu perfektionistischen Ansätzen157 auf. 4. Reiner und unreiner Paternalismus Die Unterscheidung zwischen reinem und unreinem Paternalismus (auch „gemischter Paternalismus“,158 in der englischsprachigen Literatur häufig „pure“ und „impure paternalism“159) grenzt Maßnahmen, die ausschließlich das Wohl und den Schutz derjenigen, gegen deren Willen gehandelt wird, bezwecken (reiner Paternalismus), von jenen ab, bei denen neben dem Wohl und dem Schutz der Betroffenen auch andere Handlungsmotivationen, zum Beispiel der Schutz Dritter, maßgebend sind (unreiner Paternalismus).160 Bedeutsam ist die Unterscheidung insoweit, als in ihr zum Ausdruck kommt, dass eine Maßnahme – wie bereits dargelegt – auch dann paternalistisch sein kann, wenn ihre Motivation nicht rein paternalistisch ist, wohl aber entsprechende Elemente enthält;161 eine Konstellation die in Anbetracht 152

Carter, CJOP 1977, 133 (138 f.); Zude, Paternalismus, 2010, S. 220 f. Childress, Who Should Decide?, 1982, S. 18. 154 Childress, Who Should Decide?, 1982, S. 18. 155 Schroth, in: FS Roxin, 2001, S. 869 (880). 156 Schroth, in: FS Roxin, 2001, S. 869 (880). 157 Siehe dazu unter A. IV. 158 So etwa Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 8; Heinig, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 157 (175). 159 Siehe etwa Kleinig, Paternalism, 1983, S. 12. Dworkin meint damit wohl die Frage, ob Adressat und Profiteur der Maßnahme identisch sind, ders., in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 19 (22). 160 Childress, Who Should Decide?, 1982, S. 16; Kleinig, Paternalism, 1983, S. 11 f.; Zude, Paternalismus, 2010, S. 211 f. 161 Kleinig, Paternalism, 1983, S. 11 f. 153

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1. Teil: Grundlegung

der Tatsache, dass etwa Gesetze regelmäßig verschiedene Motive und Beweggründe haben, sehr häufig anzutreffen ist.162 5. Echter, unechter und verdeckter Paternalismus Enderlein unterscheidet ferner zwischen echtem und unechtem Paternalismus, wobei letzterer vorliegen soll, wenn die Wohlergehensförderung gegen den Willen der Betroffenen nicht den eigentlichen Sinn des Vorgehens darstellt, sondern der Erreichung eines nachgelagerten Zwecks dient, der nicht-paternalistischer Natur ist.163 Allerdings ist in dieser Hinsicht die Grenze zu unreinem Paternalismus – gerade soweit es um die Beurteilung rechtlicher Regelungen geht, die diversen Zwecken dienen – fließend.164 Im Rahmen der Betrachtung rechtlicher Regelungen ist hingegen das Gegenteil des von Enderlein beschriebenen Phänomens von besonderem Interesse: So wird noch über Regelungen zu sprechen sein, die primär oder vermeintlich einem nicht-paternalistischen Zweck dienen, der eigentliche Hintergrund der Regelung jedoch paternalistischer Natur ist. Ein derartiges Vorgehen hält Rigopoulou sogar für den Regelfall; es diene der „Verschleierung der wahren Motive des Gesetzgebers“ und könne „durch eine extensive Anwendung zur Aushöhlung des Selbstbestimmungsrechts führen“.165 Derartige Regelungen lassen sich als verdeckt paternalistisch bezeichnen. 6. Direkter und indirekter Paternalismus Konstellationen, in denen es sich bei der geschützten und der durch den Eingriff betroffenen Person um ein- und denselben Menschen handelt, bezeichnet Dworkin als „pure paternalistic“, wohingegen „impure paternalism“ vorliegt, wenn diejenige, die geschützt werden soll, und diejenige, in deren Freiheit eingegriffen wird, nicht dieselbe Person ist.166 Gemeinhin und auch vorliegend wird in diesem Zusammenhang jedoch von direktem und indirektem Paternalismus gesprochen, so etwa von Kleinig: „A paternalistic imposition is direct to the extent that X, in order to secure Y’s good, imposes only upon Y; it is indirect where the imposition on Y is achieved via an imposition on Z.“167

162

Dworkin, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 19 (20 f.) mit Beispielen für rein pater­nalistische Gesetze; Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 16. Siehe dazu bereits unter A. III. 1. c). 163 Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 16. 164 Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 16. 165 Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 22. 166 Dworkin in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 19 (22); ders., in: Wasserstrom (Hrsg.), Morality and the Law, 1970, S. 107 (111). 167 Kleinig, Paternalism, 1983, S. 14.

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(Indirekt) paternalistisch sind somit auch Konstellationen, in denen sich die konkrete Eingriffshandlung nicht direkt gegen diejenige, deren Wohl gewahrt werden soll, richtet, sondern gegen eine Dritte. Nominell wird durch entsprechende Eingriffe zwar das Wohl einer Dritten geschützt – soweit das Handlungsverbot gegenüber den Regelungsadressaten jedoch trotz Einwilligung der betroffenen Dritten Geltung beansprucht,168 handelt es sich dennoch um einen paternalistischen Eingriff: Denn die betroffenen Dritten werden ebenso wie in direkt paternalistischen Konstellationen gegen ihren Willen geschützt und indirekt in ihrer Verfügungsfreiheit beeinträchtigt.169 Indirekt paternalistische Regelungen können entweder nur den Schutz der Rechtsgutsinhaberin intendieren oder zusätzlich auch den Schutz der handelnden Schädigerin selbst. Ferner können auch beide Adressatinnen des Gesetzes sein170 – so wie es etwa bei den Regelungen zum Umgang mit Betäubungsmitteln der Fall ist.171 Gerade bei durchmischter Motivlage bietet sich eine entsprechende Regulierung zur Verschleierung paternalistischer Motive an: Sind auch weitere Gründe, die nicht dem Schutz der Rechtsgutsträgerin gegen ihren Willen dienen, für ein der aktiven Schädigerin auferlegtes Verhaltensverbot von Relevanz und soll die Schädigerin nicht allein wegen der intendierten Selbstschädigung oder -gefährdung der Rechtsgutsträgerin belangt werden, handelt es sich zwar nicht mehr um „reinen“ Paternalismus – die Intervention wird aber dennoch auch von indirekt paternalistischen Motiven getragen.172 Die Abgrenzung zwischen direktem und indirektem Paternalismus lässt sich auch unmittelbar auf strafrechtliche Vorschriften übertragen: Straftatbestände, deren Strafandrohung sich gegen die zu schützende Person selbst richtet – so beispielsweise bei einem strafbewehrten Suizidverbot – wirken direkt paternalistisch. Eine Strafnorm wirkt hingegen indirekt paternalistisch, wenn sich die Strafandrohung gegen eine Dritte richtet, die mit Einwilligung der gegen ihren Willen zu Schützenden handelt, so beispielsweise bei der strafbewehrten Tötung auf Verlangen.173 Da durch entsprechende Regelungen gegebenenfalls auch grundrechtlich gewährleistete Freiheiten der zu Schützenden beeinträchtigt werden, die nicht Adressatinnen der Regelung sind, können sie auf verfassungsrechtlicher Ebene zugleich direkt paternalistisch wirken. Fallen sowohl die Grundrechtsbeeinträchtigte als auch die 168

Auch Dworkin spricht davon, dass in diesen Fällen die Zustimmung des Opfers als Verteidigung für den Täter nicht zugelassen ist, ders., in: Wasserstrom (Hrsg.), Morality and the Law, 1970, S. 107 (110). 169 Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 9; Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 25. 170 Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 10. 171 Siehe dazu sogleich unter B. I. 1. 172 Anders du Bois-Pedan, in: von Hirsch / ​Neumann / ​Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 33 (33 f.). 173 von Hirsch / ​Neumann / ​Seelmann, in: von Hirsch / ​Neumann / ​Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, Vorwort, S. 9. Dazu sogleich unter B. I. 2. c).

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1. Teil: Grundlegung

von der Regelung paternalistisch Geschützte und die Adressatin der Strafbewehrung auseinander, so liegt ein indirekter Paternalismus im Drei-Personen-Verhältnis vor.174 7. Freiheitserweiternder Paternalismus Auf rechtlicher Ebene ist auch Paternalismus, der das Ziel der Freiheitserweiterung verfolgt und etwa von Enderlein als „freiheitsmaximierender Paternalismus“175 bezeichnet wird, von Bedeutung. Ein solcher liegt vor, wenn der Eingriff in die Freiheit der Betroffenen in letzter Konsequenz dazu führt, dass die Freiheitsräume der Betroffenen vergrößert und erweitert werden – sie also zugleich freier und unfreier werden.176 Um eine solche Erweiterung festzustellen, sind die Freiheitsräume, die bestehen, wenn kein freiheitsmaximierender paternalistischer Eingriff erfolgt, mit jenen zu vergleichen, die bestehen, wenn es zu einem entsprechenden Eingriff kommt: Die Wahrung der Selbstschädigungsfreiheit in der einen Konstellation ist den Freiheitsräumen gegenüberzustellen, die entstehen, wenn die Selbstbeeinträchtigungsfreiheit zwar eingeschränkt, aber dafür zukünftige Freiheitsräume erweitert werden.177 Dies kann sich etwa bei der Verhinderung eines Suizids ergeben: Während die aktuelle Freiheit, sich das Leben zu nehmen, durch einen entsprechenden Eingriff beeinträchtigt wird, ermöglicht diese Beschränkung zugleich möglicherweise deutlich weitgehendere Entscheidungsmöglichkeiten in der Zukunft als sie bestünden, wenn der Suizid nicht verhindert worden wäre. Unabhängig von einer möglichen Vermehrung der Entscheidungsmöglichkeiten in der Folge einer solchen Behandlung liegt in der Beeinträchtigung der konkreten Entscheidungsfreiheit zu diesem wohlorientierten Zweck jedoch jedenfalls immer ein paternalistischer Eingriff. Die durch diesen Eingriff erreichte Freiheitserweiterung kann allerdings auf Rechtfertigungsebene von Bedeutung sein. In diesem Zusammenhang ist gleichwohl zu bedenken, dass eine allein an der Breite der Entscheidungsmöglichkeiten orientierte Bewertung von Freiheitsräumen eine heteronome Einschätzung der Bedeutung von Entscheidungsfreiheit mit sich bringt.178

174

Siehe dazu im dritten Kapitel unter C. II. 3. b) bb) (3). Vgl. etwa Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 52. 176 Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 53; Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 121. 177 Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 53 f. 178 Zu einer möglichen Rechtfertigung unter diesem Gesichtspunkt im zweiten Kapitel unter A. III. 3. und B. III. 1. d). 175

1. Kap.: Rechtspaternalismus

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8. Freiheitsermöglichung, Freiheitssicherung und Verfahrenspaternalismus Davon zu unterscheiden sind Eingriffe, welche die Ausübung von Freiheit durch die Betroffene ermöglichen oder sichern sollen. So finden sich im paternalistischen Spektrum primär freiheitseinschränkende Maßnahmen, die in (häufig einer Selbstschädigung vorgelagerten) Konstellationen das nachgelagerte Fällen autonomer Entscheidungen ermöglichen oder absichern sollen179 – etwa durch Aufklärungsund Einwilligungsanforderungen. Ähnlich greift auch der von Enderlein so genannte „rationalitätsbefördernde“ Paternalismus180 dann ein, wenn Autonomie und Freiheit ermöglicht werden müssen: Nach Enderlein beeinträchtigt diese Form der Bevormundung „Freiheiten des Einzelnen zu dem Zweck […], Gefährdungen oder Hindernisse einer rationalen Entscheidung zu beseitigen, zu verringern oder auszugleichen, sofern die Person über die Angelegenheit, um deren rationale Entscheidung es geht, in der Sache nach wie vor im Wesentlichen selber entscheiden kann.“181 Ferner sind von Enderleins rationalitätsbeförderndem Paternalismus Fälle erfasst, in denen die Betroffenen in ihrer Freiheit beeinträchtigt werden, um ein Verhalten zu verhindern, das potentiell dazu führen könnte, dass sie ihre Entscheidungskompetenz verlieren182 – also gleichsam eine Sicherung der Freiheit und Autonomie stattfindet. Fateh-Moghadam unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen materiellem und prozeduralem Paternalismus, wobei er unter materiellen Paternalismus „Duldungspflichten und Verfügungsverbote“ versteht – etwa das indirekte Verbot der Verfügung über das eigene Leben in § 216 StGB – und unter prozeduralem Paternalismus die Absicherung der Selbstbestimmung über „Form- und Verfahrensvorschriften“.183 Fateh-Moghadams „prozeduralem Paternalismus“ ähnelnde Eingriffe zur Erforschung der Autonomie einer Entscheidung werden mitunter, soweit Kompetenz oder Informiertheit der Betroffenen in Frage stehen, als schwach paternalistisch eingeordnet.184 Dies vermag jedoch nicht zu überzeugen: Auch wenn das mögliche Ergebnis einer solchen Erforschung ein schwacher Paternalismus ist – etwa sofern zu Tage tritt, dass die Betroffene tatsächlich nicht in der Lage ist, autonom zu handeln – erfolgt der primäre Eingriff im Sinne der Erforschung zu 179

Siehe dazu etwa Steckmann, JWE 2002, 93 (93 f.). Siehe etwa Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 68. 181 Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 552. 182 Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 68. 183 Fateh-Moghadam, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 21 (39 f.). 184 Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 12; Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (259). Mit anderer Terminologie im Ergebnis auch Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arznei­mitteln, 2014, S. 141; ebenso Fateh-Moghadam selbst, ders., Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 29. 180

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1. Teil: Grundlegung

mindest potentiell auch gegen den Willen autonom Handelnder, die nicht vorgelagert vor der Gefahr mangelnder Entscheidungsfreiheit oder Autonomie geschützt werden wollen. Charakterisiert durch diese zumindest vorübergehende Ausrichtung kann es sich bei derartigen Verfahrenspaternalismen also auch dann um starken Paternalismus handeln, wenn die Kompetenz der nachgelagerten Hauptentscheidung, deren Freiwilligkeit abgesichert werden soll, bei den Betroffenen verbleibt.

B. Paternalismus in Gesetzgebung und Rechtsprechung In der deutschen Rechtsordnung finden sich verschiedenste Beispiele für paternalistisch motivierte und wirkende Regelungen und Entscheidungen. Im Folgenden sollen nun – unter Ausklammerung der im besonderen Teil dieser Arbeit zu besprechenden Regelungen  – einige der prägnantesten Exempel aufgeführt und erläutert werden.185

I. Paternalismus im Strafrecht 1. Strafbewehrter Umgang mit Betäubungsmitteln (§ 29 Abs. 1 S. 1 BtMG) Im Strafrecht weist etwa das Verbot des Umgangs mit Betäubungsmitteln, so wie es sich aus § 29 Abs. 1 S. 1 BtMG ergibt, paternalistische Anteile auf. Die Regelung stellt unter anderem das Handeltreiben mit Betäubungsmitteln, ihren Anbau, ihre Herstellung, Ein- und Ausfuhr, Abgabe sowie ihren Erwerb und Besitz unter Strafe.186 a) Regelungszweck Neben dem Schutz der Solidargemeinschaft, des Wirtschafts- und Finanz­systems und der ärztlichen Versorgung der Bevölkerung sowie dem Schutz vor organisierter Kriminalität187 wird auch der Schutz der Gesundheit der Einzelnen und der Bevölkerung im Ganzen („Volksgesundheit“) als Zweck und Ausrichtung des Betäu-

185

Die Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. In diesem Zusammenhang sind insbesondere die Nr. 1 und 3 von Interesse, vgl. Gesetzeswortlaut: „Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer 1. Betäubungsmittel unerlaubt anbaut, herstellt, mit ihnen Handel treibt, sie, ohne Handel zu treiben, einführt, ausführt, veräußert, abgibt, sonst in den Verkehr bringt, erwirbt oder sich in sonstiger Weise verschafft, […] 3. Betäubungsmittel besitzt, ohne zugleich im Besitz einer schriftlichen Erlaubnis für den Erwerb zu sein […].“ 187 Patzak, in: Körner / ​Patzak / ​Volkmer, BtMG, 8. Aufl. 2016, § 29 Teil 4 Rn. 1. 186

1. Kap.: Rechtspaternalismus

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bungsmittelgesetzes genannt188 – so heißt es etwa wörtlich im Gesetzentwurf zur Änderung des damaligen Opiumgesetzes: „Es geht darum, den einzelnen Menschen, insbesondere den jungen Menschen, vor schweren und nicht selten irreparablen Schäden an der Gesundheit und damit vor einer Zerstörung seiner Persönlichkeit, seiner Freiheit und seiner Existenz zu bewahren. […] Es geht darum, der Allgemeinheit den hohen Preis zu ersparen, den ihr die Opfer einer sich ungehemmt ausbreitenden Rauschgiftwelle abverlangen würden. Es geht schließlich darum, die Funk­ tionsfähigkeit der Gesellschaft nicht gefährden zu lassen.“189

Auch das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Cannabis-Beschluss aus dem Jahr 1994 die gesellschaftsschützende Bedeutung des Verbots in Anbetracht der sozialschädlichen Wirkungen des Umgangs mit Betäubungsmitteln betont.190 Als Ziel der Strafbewehrung der Einfuhr von Betäubungsmitteln wird ferner die Unterbindung des illegalen grenzüberschreitenden Verkehrs mit Drogen genannt;191 im Kontext der Abgabe von Betäubungsmitteln das Gefahrenpotential, das mit der Weiterverbreitung einhergeht,192 sowie die Gefährdung fremder Rechtsgüter, da Erwerb und Besitz von Betäubungsmitteln die unkontrollierte Weitergabe an Dritte auch dann zumindest ermöglichen, wenn sie nach Vorstellung der Täterin nur den Eigenverbrauch vorbereiten sollen.193 Hinsichtlich der von den einzelnen Tathandlungen ausgehenden Gefahr für Rechtsgüter Dritter und für die Volksgesundheit handelt es sich bei den Grundtatbeständen des § 29 BtMG somit um abstrakte Gefährdungsdelikte.194 b) Individueller Gesundheitsschutz Soweit die Umgangsverbote mit Betäubungsmitteln durch Androhung strafrechtlicher Sanktionen individualschützend darauf abzielen, Einzelne auch gegen ihren (unterstellt) autonom gebildeten Willen195 zu ihrem eigenen Schutz vor dem 188

BT-Drs. 8/3551, S. 23 f., 35, 37. Ähnlich auch BVerfG 9.3.1994  – 2  BvL 43/92 u. a.  – BVerfGE 90, 145 (174) [„Cannabis“]; BGH 20.12.1995 – 3 StR 245/95 – BGHSt 42, 1 (5). Siehe auch Patzak, in: Körner / ​Patzak / ​Volkmer, BtMG, 8. Aufl. 2016, § 29 Teil 4 Rn. 1. 189 BT-Drs. 6/1877, S. 5. 190 BVerfG 9.3.1994 – 2 BvL 43/92 u. a. – BVerfGE 90, 145 (174) [„Cannabis“]. 191 BVerfG 9.3.1994 – 2 BvL 43/92 u. a. – BVerfGE 90, 145 (192) [„Cannabis“]. 192 BVerfG 9.3.1994 – 2 BvL 43/92 u. a. – BVerfGE 90, 145 (186) [„Cannabis“]. 193 BVerfG 9.3.1994 – 2 BvL 43/92 u. a. – BVerfGE 90, 145 (187) [„Cannabis“]. 194 Krumdiek, in: Beck (Hrsg.), Gehört mein Körper noch mir?, 2012, S. 215 (218 f.). So für die Strafbewehrung des Besitzes und den Schutz der Volksgesundheit Patzak, in: Körner / ​Patzak / ​ Volkmer, BtMG, 8. Aufl. 2016, § 29 Teil 13 Rn. 2. Kritisch zu der Annahme, die Regelungen enthielten zulässigerweise abstrakte Gefährdungsdelikte, die mittelbar vor der Herbeiführung eines an sich straflosen Verhaltens schützen Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 134 m. w. N. 195 Die Autonomie der Willensbildung wird in vielen Fällen der physischen und psychischen Abhängigkeit natürlich fraglich sein – eine autonome Willensbildung ist in Zusammenhang mit dem Umgang mit Betäubungsmitteln jedoch zweifelsohne nicht per se ausgeschlossen.

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1. Teil: Grundlegung

gesundheitsgefährdenden Umgang mit Betäubungsmitteln zu bewahren, wirken sie stark paternalistisch.196 Denn die eigentlich antipaternalistische Straflosigkeit des Betäubungsmittelkonsums als reiner Akt der Selbstschädigung wird mit der Strafbewehrung des dem Konsum notwendigerweise vorausgehenden Besitzes von Betäubungsmitteln ausgehebelt.197 Durch diese Umgehung werden intrinsisch ungefährliche Handlungen wie Besitz und Erwerb von Betäubungsmitteln im Wege einer Vorverlagerung zu strafbarem Unrecht gemacht.198 Dem Widerspruch zwischen zulässigem Konsum und unzulässigem Umgang mit Betäubungsmitteln wird zwar gesetzgeberisch bedingt dadurch begegnet, dass dem erkennenden Gericht und der ermittelnden Staatsanwaltschaft in § 29 Abs. 5 und § 31a BtMG die Möglichkeit gegeben wird, von Strafe bzw. von der Verfolgung abzusehen, wenn die Betäubungsmittel lediglich zum Eigenverbrauch in geringer Menge erworben oder besessen wurden.199 Diese rein prozessuale Regelung hat jedoch keinen Einfluss auf die Einordnung des materiellen Verbots als paternalistisch.200 Die Umgangsverbote wirken direkt paternalistisch, soweit die Handelnde selbst als (zukünftige) Konsumentin geschützt werden soll und indirekt paternalistisch, soweit verhindert werden soll, dass Dritte die Selbstschädigung durch Betäubungsmittel ermöglichen.201 Die Regelungen lassen sich in ihrer derzeitigen Breite – wie Rigopoulou zutreffend darlegt – auch nicht als schwach paternalistische, abstrakte Gefährdungsdelikte zum Schutz der Jugend oder stark Süchtiger vor der Weitergabe von Betäubungsmitteln verstehen:202 Denn der Jugendschutz könne, wie auch bei legalen Genussmitteln, spezifisch geregelt werden.203 Zudem erscheine es zweifelhaft, dass es bei Süchtigen zwingend zu einem vollständigen Verlust der Autonomiefähigkeit komme204 – dagegen spreche vielmehr bereits, dass auch stark Abhängige als 196 Jedenfalls das Erwerbs- und Besitzverbot wird auch von König als in seiner Terminologie hart paternalistisch beschrieben, ders., in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 267 (277); ebenso Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 318. Klimpel hält den von der Regelung ausgehenden Eingriff wegen der mit Betäubungsmitteln einhergehenden „Gefährdung des selbstbestimmten Lebens“ durch physische oder psychische Abhängigkeit für gerechtfertigt, ders., Bevormundung oder Freiheitsschutz?, 2003, S. 198–200. S. dazu auch Krumdiek, in: Beck (Hrsg.), Gehört mein Körper noch mir?, 2012, S. 215 (225); Lagodny, in: Beck (Hrsg.), Gehört mein Körper noch mir?, 2012, S. 271 (274). 197 Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 132 f. m. w. N. 198 Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 139 und 144 f. 199 Dazu Hohmann / ​Matt, JuS 1993, 370 (372). 200 So auch Köhler, ZStW 104 (1992), 3 (40). 201 Enderlein hält die Regulierung der Weiterverbreitung von Betäubungsmitteln, mit welcher der der Weitergabe nachgelagerte, selbstgefährdende Konsum unterbunden werden soll, in einem anderen Verständnis des Begriffs ebenfalls für indirekt paternalistisch, ders., Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 140. 202 Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 135 m. w. N., 145. 203 Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 138. 204 Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 137.

1. Kap.: Rechtspaternalismus

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strafrechtlich verantwortlich gelten.205 Unter diesem Aspekt geht hingegen Köhler – nach vorliegendem Verständnis freiheitssichernd-paternalistisch – davon aus, dass die Gefahr der Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit und der Fähigkeit zur Selbstbestimmung, die mit körperlicher Abhängigkeit einhergehe und damit „im typischen Gebrauchszusammenhang“ von Betäubungsmitteln bestehe, das Umgangsverbot rechtfertige.206 c) Volksgesundheit Auch das im Rahmen der Zweckorientierung des § 29 BtMG angeführte Rechtsgut der Volksgesundheit bzw. des Bevölkerungsschutzes hat einen paternalistischen Anteil. Unter Volksgesundheit wird gemeinhin das Interesse des Staates an der Gesundheit seiner Bürgerinnen verstanden.207 Im Rahmen der Umgangsregelungen des BtMG soll die Allgemeinheit vor Nachteilen bewahrt werden, die in Folge verbreiteten Drogenkonsums und daraus resultierender Gesundheitsschädigungen Einzelner drohen.208 In diesem Zusammenhang ist insbesondere kritisiert worden, dass durch die Kreation des Kollektivrechtsguts „Volksgesundheit“ das Prinzip der Straflosigkeit der Selbstschädigung umgangen werde.209 So blieben Selbstgefährdungen auch dann Selbstgefährdungen und Gesundheit und Krankheit auch dann individuelle Zustände, wenn sie in großer Zahl aufträten.210 In der Tat erscheint die Gemeinschaftsbezogenheit der Konstruktion fraglich, soweit der Begriff allein die Gesamtheit der Gesundheit Einzelner zu einem „kollektiven Gesamtrechtsgut“211 vereint.212 Dass im Zentrum der Zwecksetzung des Betäubungsmittelrechts gerade nicht der Schutz der Allgemeinheit steht, so wie es das Rechtsgut der Volksgesundheit suggeriert, sondern vielmehr der Schutz vor potentiell vielfach auftretenden, aber dennoch individuellen Selbstgefährdungen, wird auch bei Betrachtung des § 30 Abs. 1 Nr. 3 BtMG offenbar, nach welchem erhöht bestraft wird, wer durch Abgabe, Verabreichung oder Überlassung von Betäubungsmitteln zum Verbrauch an eine andere leichtfertig deren Tod verursacht. Die Strafschärfung verdeutlicht, dass es gerade (auch autonome)  Selbstgefährdungen der Betäubungsmittelkon-

205

Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 137. Köhler, ZStW, 104 (29, 32); Köhler bejaht dies für Heroin und verneint es für Cannabis, a. a. O., S. 35. 207 MüKo / ​Rahlf, StGB, 2. Aufl. 2013, Vor §§ 29 ff. BtMG, Rn. 5. 208 Patzak, in: Körner / ​Patzak / ​Volkmer, BtMG, 8. Aufl. 2016, § 29 Teil 4 Rn. 4. 209 Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 145 m. w. N. 210 Bublitz, in: Beck (Hrsg.), Gehört mein Körper noch mir?, 2012, S. 369 (386); Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 163. 211 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 163. 212 Bublitz, in: Beck (Hrsg.), Gehört mein Körper noch mir?, 2012, S. 369 (386). Siehe dazu im zweiten Kapitel unter B. III. 2. b). 206

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1. Teil: Grundlegung

sumentinnen sind, die mit der Regelung unterbunden werden sollen.213 Insoweit das Rechtsgut der Volksgesundheit somit insbesondere auch auf den Schutz der Gesundheit der einzelnen, sich selbst schädigenden Konsumentin abzielt, lässt es sich ebenfalls zumindest als (verdeckt) paternalistisch bezeichnen. Allein durch die Kollektivierung des individuellen Schutzes wird es der Disponibilität der Einzelnen entzogen.214 Als weiterer Aspekt des Rechtsguts „Volksgesundheit“ wird neben den kollektiven Gesundheitsgefährdungen auch der Schutz der Funktionsfähigkeit215 der Gesellschaft thematisiert, die auf das Wohlergehen ihrer Bevölkerung angewiesen sei: So wird etwa vertreten, dass die Umgangsverbote mit Betäubungsmitteln die Allgemeinheit vor den gesellschaftlichen Folgen von massenhaftem Betäubungsmittelkonsum schützen sollen und davor, dass der für sie existentiell wichtige Einsatz ihrer Mitglieder in der Gesellschaft durch Betäubungsmittelkonsum verringert werde.216 Insoweit lässt sich auch eine Parallele zu Feinbergs Ansatz ziehen, der – wenn auch in anderem Kontext – davon ausgeht, dass ein Verhalten, das grundsätzlich nur die Handelnde selbst betrifft, bei massenhaftem Auftreten und damit einhergehendem, massenhaftem Entzug Einzelner von gesellschaftlicher Mitwirkung, gemeinschaftsschädigend wirken könne.217 Unabhängig von einem unter dieser Prämisse jedoch fragwürdigen strafrechtlichen Verantwortungszusammenhang,218 lässt sich bereits daran zweifeln, ob in dem vorliegenden Kontext der selbstschädigende Drogenkonsum bei Legalisierung überhaupt massenhaft auftreten würde und ob ein solcher tatsächlich regelmäßig oder zwangsläufig zu einer Verminderung der gesellschaftlichen Mitwirkung führen würde. Letzteres ist jedenfalls bei der Legalisierung von weniger schweren Betäubungsmitteln sowie von leistungssteigernden Substanzen nicht anzunehmen. Ohnehin erscheint in jedem Fall fraglich, ob eine gesellschaftliche Erheblichkeit, die sich aus dem massenhaften Anfall von Selbstgefährdungen ergibt, überhaupt einen Eingriff in die Freiheit zur Selbstgefährdung der Einzelnen rechtfertigen219 213

Puppe, in: Kindhäuser / ​Neumann / ​Paeffgen (Hrsg.), StGB, 5. Aufl. 2017, Vor §§ 13 ff. Rn. 192; dies., Strafrecht Allgemeiner Teil im Spiegel der Rechtsprechung, 3. Aufl. 2016, § 6 Rn. 15. 214 Laut Köhler kommt dem Begriff Volksgesundheit kein selbständiger Bedeutungsgehalt zu; er verselbständigt sich vielmehr „zur beliebigen Leerformel, in die unvermittelt-objektivistische Inhalte auch gegen die Freiheit und Gesundheit der einzelnen einfließen können“, ders., ZStW 104 (1992), 3 (28). 215 Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 146. 216 Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 69; siehe dazu auch Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 147. 217 Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 23: „But when ten percent of the whole population choose to live that way, they become parasitical, and the situation approaches the threshold of serious public harm. When fifty percent choose to live that way, it may become impossible for the remainder to maintain a community at all.“ 218 Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 147. 219 Das lehnt Hillgruber ab, ders., Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 163.

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und ob das staatliche Interesse an der Funktionsfähigkeit der Gesellschaft220 den Einsatz von Strafrecht im Lichte einer ohnehin fragwürdigen Bedrohung der Gesellschaft durch Betäubungsmittel legitimieren kann.221 d) Resümee: Paternalistische Anteile im Umgangsverbot mit Betäubungsmitteln Im Ergebnis wird das umfassende Umgangsverbot mit Betäubungsmitteln  – gerade auch in Anbetracht des fehlenden Strafunrechts der Selbstgefährdung – in Teilen der Jurisprudenz für unverhältnismäßig222 und verfassungswidrig223 befunden.224 Mit der Orientierung am Schutz der Gesundheit der Einzelnen und der Volks­gesundheit intendiert und bewirkt die Regelung jedenfalls auch einen Eingriff in die Freiheit der autonom handelnden Betroffenen zu ihrem (gesundheitlichen) Wohl. Da die Regelung nicht nur Minderjährige und Süchtige adressiert, die in ihrer Autonomiefähigkeit möglicherweise eingeschränkt sind, kommt dem Verbot eine stark paternalistische Wirkung zu. Denn wer sich trotz bestehender Warnungen und in Kenntnis der Risiken freiverantwortlich für den Umgang mit Betäubungsmitteln entscheidet, wird durch die Regelungen des § 29 BtMG gegen seinen Willen und auch zu seinem eigenen Schutz in dieser Freiheit beeinträchtigt.225 Daran vermag auch die Straflosigkeit des reinen Konsums nichts zu ändern, da ein solcher ohne Verwirklichung der flankierenden, strafbewehrten Handlungen des Besitzes oder des Erwerbs im Ergebnis nicht straffrei möglich ist.226 Die Verbotsregelungen führen somit auch zu einer Umgehung der Straflosigkeit des allein selbstschädigenden Konsums. Neben paternalistischen haben die Umgangsverbote auch moralistische Anteile: Die Kombination aus der Höhe der Strafandrohung und der im Einzelfall bestehenden Geringfügigkeit von Schaden und Schuld spricht dafür, dass die Strafe ins 220

Beulke / ​Schröder, Anm. z. BGH 25.9.1990 – 4 StR 359/90, NStZ 1991, 393 (394). Dagegen Hohmann / ​Matt, JuS 1993, 370 (373). Patzak hingegen hält die Volkgesundheit durch den Umgang mit Betäubungsmitteln für abstrakt gefährdet, ders., in: Körner / ​Patzak / ​ Volkmer, BtMG, 8. Aufl. 2016, § 29 Teil 13 Rn. 2. Mangels Gefährlichkeit lehnt Krumdiek dies bezüglich der Volksgesundheit und des Schutz des sozialen Zusammenlebens jedenfalls für Cannabis ab, dies., in: Beck (Hrsg.), Gehört mein Körper noch mir?, 2012, S. 215 (223 f.). Siehe zu dem Argument der Volksgesundheit im Rahmen der verfassungsrechtlichen Beurteilung von Paternalismus im zweiten Kapitel unter B. III. 2. b). 222 Nelles / ​Velten, NStZ 1994, 366 (366 f.). 223 Vgl. abweichende Meinung Sommer, nach dem die Regelung gegen Art. 103 Abs. 2 GG verstößt, BVerfG 9.3.1994 – 2 BvL 43/92 u. a. – BVerfGE 90, 145 (224 f.) [„Cannabis“]; Krumdiek, in: Beck (Hrsg.), Gehört mein Körper noch mir?, 2012, S. 215 (225, 234). Anders Patzak, in: Körner / ​Patzak / ​Volkmer, BtMG, 8. Aufl. 2016, § 29 Teil 13 Rn. 3. 224 Köhler, ZStW 104 (1992), 3 (39 f., 63). Für eine Streichung der konsumbezogenen Tatbestände des BtMG auch Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 319. 225 Siehe dazu auch ausführlich Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 133 f. 226 Siehe dazu Krumdiek, in: Beck (Hrsg.), Gehört mein Körper noch mir?, 2012, S. 215 (217). 221

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besondere auch dem gesellschaftlichen „Ausdruck der Missbilligung“ bestimmter Betäubungsmittel dienen soll.227 2. Strafbarkeit und Straflosigkeit von erweiterten Selbsttötungskonstellationen Paternalistische Regelungen finden sich in einer weiteren Häufung im Umfeld verschiedener Selbsttötungskonstellationen. a) Straflosigkeit der Selbsttötung Der Suizid(versuch) bleibt nach deutschem Recht straflos.228 Trotz der möglichen „Unvernunft“ des Suizids wird diese Selbstverfügung nicht paternalistisch durch den Gesetzgeber geregelt.229 Mangels strafbarer Haupttat kommt auch keine – indirekt paternalistische – Strafbarkeit von Teilnahmehandlungen an Selbsttötungen in Betracht.230 b) Staatliches Eingreifen bei Suizidversuchen Es stellt sich jedoch die Frage, inwieweit staatliches Eingreifen bei Suizidversu­ chen als paternalistisch einzuordnen ist – sei es auf Grundlage des Polizei- und 227

Nelles / ​Velten, NStZ 1994, 366 (367). Zu den moralistischen Aspekten der Betäubungsmittelregelungen ähnlich auch Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 17 f.; zu den moralistischen Aspekten des Schutzguts „Volksgesundheit“ Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 148 f. 228 Zwar heißt es in § 212 Abs. 1 StGB lediglich: „Wer einen Menschen tötet…“ und nicht „Wer einen anderen Menschen tötet…“ – dass die Selbsttötung straflos bleibt, ergibt sich jedoch bereits rechtshistorisch und systematisch aus dem Vergleich zur Strafandrohung des § 216 StGB: Denn bei einem anderen Verständnis wäre der Suizidversuch aus §§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB mit einer höheren Strafe bewehrt als der Versuch der Tötung auf Verlangen gemäß §§ 216, 22, 23 Abs. 1 StGB. Eine solche, am Unrechtsgehalt der Taten vorbeigehende Wertung hätte der Gesetzgeber nicht getroffen, wenn er den Suizid von § 212 StGB als miterfasst angesehen hätte, vgl. nur Neumann, in: Kindhäuser / ​Neumann / ​Paeffgen (Hrsg.), StGB, 5. Aufl. 2017, Vor § 211 ff. Rn. 39. 229 Ausführlich zur Disponibilität des Rechtsguts Leben im zweiten Kapitel unter B. II. 3. b) bb). 230 Dies folgt aus der Akzessorietätslehre, vgl. Dreier, JZ 2007, 317 (319); Knauer / ​Brose, in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, 2. Aufl. 2014, § 216 StGB Rn. 4; Neumann, in: Kindhäuser / ​ Neumann / ​Paeffgen (Hrsg.), StGB, 5. Aufl. 2017, Vor § 211 ff. Rn. 47; MüKo / ​Schneider, StGB, 3. Aufl. 2017, Vor §§ 211 ff. Rn. 32. Anders verhält es sich in anderen Rechtsordnungen, so z. B. in England, wo die Beihilfe zum Suizid unter Strafe gestellt ist, von Hirsch / ​Neumann, in: von Hirsch / ​Neumann / ​Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 71 (72 f.). Eine Strafbewehrung ärztlicher Suizidbeihilfe ist jedoch Gegenstand politischer Debatte, siehe dazu etwa Goos, Strafbarkeit der Suizidbeihilfe – verfassungswidrig?, 2015, abrufbar unter http:// www.juwiss.de/41-2015/ (zuletzt abgerufen am 1.3.2018).

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Ordnungsrechts zum Schutz der öffentlichen Sicherheit231 oder durch die Strafbewehrung der unterlassenen Hilfeleistung bei einer suizidalen Handlung durch § 323c StGB.232 Für eine entsprechende Beurteilung kommt es entscheidend auf die Detektion der Zielrichtung und der Wirkung entsprechender Maßnahmen an. Soweit es zu einem Suizidversuch im öffentlichen Raum kommt,233 liegt es nahe, bereits wegen der möglichen direkten psychischen Auswirkung auf Zeuginnen des Geschehens davon auszugehen, dass ein Eingreifen auch dem Drittschutz dient und nicht allein paternalistisch motiviert ist. Auch wenn Selbsttötungen vielfach direkte emotionale, rechtliche oder andere Auswirkungen auf Dritte haben, kann jedoch nicht per se davon ausgegangen werden, dass Belange der Allgemeinheit grundsätzlich von jedem Suizid betroffen sind.234 Jedenfalls der mit der Verhinderung eines nichtöffentlichen Suizids einhergehende Eingriff wirkt deshalb regelmäßig allein paternalistisch zum Schutz der Betroffenen. Ob ein solcher Eingriff stark oder schwach paternalistisch erfolgt, hängt davon ab, ob der Suizidwunsch im Einzelfall autonom zustande gekommen ist oder nicht. Grundsätzlich liegt der Verdacht einer Einschränkung der Fähigkeit zur freien Willensbildung bei Suizidentinnen besonders nahe.235 Insbesondere wird es im Eilfall einer anstehenden Selbsttötung zudem regelmäßig nicht möglich sein,236 die Freiverantwortlichkeit der Entscheidung vor dem Eingriff zu untersuchen. Dementsprechend verfolgt die polizeiliche Verhinderung eines Suizids regelmäßig das Ziel, die potentiell nicht freiverantwortlich Handelnde von einer unumkehrbaren Entscheidung abzuhalten.237 Entsprechende Eingriffe können auch bei stark pater 231

Götz / ​Geis, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 16. Aufl. 2017, § 4 Rn. 32; vormals galt das Einschreiten dem Schutz der öffentlichen Ordnung, a. a. O. 232 Ein Suizid gilt nach dem BGH als Unglücksfall i. S. d. § 323c StGB, BGH (Großer Strafsenat) 10.3.1954 – GSSt 4/53 – BGHSt 6, 147 (153); im Ergebnis ebenso BGH, 4.7.1984 – 3 StR 96/84  – BGHSt 32, 367 (375 f.). Gegen eine solche Annahme bei freiverantwortlich handelnden Suizidenten siehe etwa Sternberg-Lieben / ​Hecker, in: Schönke / ​Schröder (Hrsg.), StGB, 29. Aufl. 2014, § 323c Rn. 8; MüKo / ​Freund, StGB, 2. Aufl. 2014, § 323c Rn. 59, wobei es Freund für zulässig hält, von einem Unglücksfall auszugehen, soweit die Freiverantwortlichkeit des Suizidenten nicht positiv feststeht (wie es regelmäßig der Fall sein wird), a. a. O., Rn. 60. 233 So unterscheidet auch Herzberg, JZ 1988, 182 (188). 234 So aber Klimpel, der davon ausgeht, dass Fragen der Selbsttötung das Verhältnis von Menschen zueinander betreffen, da eine Selbsttötung nur „in den seltensten Fällen“ allein und ohne Berührung Dritter erfolgt, ders., Bevormundung oder Freiheitsschutz?, 2003, S. 72. Anders auch noch das Preußische OVG während des Nationalsozialismus: „Offensichtliche schwere und sinnlose Gefährdung des eigenen Lebens ist, weil der einzelne als Glied der Volksgemeinschaft dadurch Belange der Volksgemeinschaft schädigt, stets polizeiwidrig und nicht nur dann, wenn eine unmittelbare Gefährdung weiterer Kreise festgestellt wird.“, Preußisches OVG 26.1.1939 – IV C 62/38 – Preuß. OVGE 103, 159. 235 Den Versuch des Suizids wertet etwa Littwin als Indiz für eine Bewusstseinsstörung, ders., Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 43. 236 So auch Schwabe, JZ 1998, 66 (70). 237 Siehe Köhler, der von der „vermuteten Gefahr unverantwortlichen Handelns“ spricht, ders., JRE 2006, 425 (441).

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nalistischer Wirkung im Einzelfall zum Schutz der defizitär Entscheidenden gerechtfertigt sein, wenn mangels Möglichkeit einer ad hoc-Evaluation des Geisteszustands kein milderes Mittel als die Verhinderung der Selbsttötung zur Verfügung steht. Keinen Einfluss auf die Bewertung entsprechender Eingriffe kann jedenfalls haben, ob sich in der Retrospektive ergibt, dass es sich bei dem Suizidentschluss tatsächlich um eine autonome und freiverantwortliche Entscheidung handelte oder nicht. Allein bei sogenannten Appellsuiziden, bei welchen die Selbsttötung in letzter Konsequenz nicht gewollt und das Eingreifen vielmehr erwünscht ist, liegt mangels Handelns gegen den Willen der Betroffenen bereits kein paternalistischer Eingriff vor.238 c) Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) § 216 StGB stellt die Tötung auf Verlangen unter Strafe. Zwischen einer (straflosen) Beihilfe zur Selbsttötung239 und einer (strafbaren) Tötung auf Verlangen wird vom Bundesgerichtshof anhand der Tatherrschaftslehre abgegrenzt:240 Wer das Geschehen in den Händen hält, ist demnach Täterin – ist das die Geschädigte selbst, so begeht die (unterstützende) Dritte lediglich eine straflose Beihilfe zum Suizid; im umgekehrten Fall macht sie sich nach § 216 StGB strafbar. Da eine solche Einordnung auch von Zufällen abhängen und das tatsächliche Verhalten im Rahmen einer straflosen Beteiligung an einer Selbsttötung und einer strafbaren Tötung auf Verlangen gegebenenfalls nur ganz geringfügig voneinander abweichen kann – insbesondere soweit die Sterbewilligen aufgrund körperlicher Einschränkungen nicht in der Lage sind, selbst die Tatherrschaft über das Geschehen auszuüben241 – und da bei der Tötung auf Verlangen der Wunsch der Sterbewilligen ebenso in die Tat umgesetzt wird wie bei der Beihilfe zur Selbsttötung,242 stellt sich die Frage nach der Motivation und Wirkung der Strafbewehrung der Tötung auf Verlangen und

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Dazu Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 88. Zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Suizidhilfe hingegen sogleich unter B. I. 2. e). 240 BGH 14.8.1963 – 2 StR 181/63 – BGHSt 19, 135. Dazu kritisch MüKo / ​Schneider, StGB, 3. Aufl. 2017, § 216 Rn. 46–48; dagegen auch Eser / ​Sternberg-Lieben, in: Schönke / ​Schröder (Hrsg.), StGB, 29. Aufl. 2014, § 216 Rn. 11, die darauf abstellen, ob sich das Geschehen letztlich als Selbst- oder Fremdverfügung darstellt: Entscheidend soll demnach sein, ob dem Getöteten nach dem letzten Tatbeitrag des Dritten noch eine freie Entscheidung über Leben und Tod verbleibt. 241 Unter anderem unter diesem Gesichtspunkt kritisch gegenüber der Regelung Hoven, ZIS 2016, 1 (3 f.). 242 So auch von Hirsch / ​Neumann, in: von Hirsch / ​Neumann / ​Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 71 (74). Laut von der Pfordten beweist gerade die eigenhändige Ausführung der Tötung die Tatsache, dass es sich um ein freies und ernsthaftes Begehren handelt, ders., in: von Hirsch / ​Neumann / ​Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 193 (201). 239

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nach einem paternalistischen Hintergrund der Regelung. Die Begründungsstränge für die Strafbewehrung der Tötung auf Verlangen sind vielfältig und unterlagen im Laufe der Zeit starken Veränderungen.243 aa) Schutz Dritter und der Gesellschaft Paternalismus-unverdächtig wird mitunter der Schutz Dritter und der Gesellschaft als Zweck des § 216 StGB genannt: Entsprechende Ansätze stützen sich generalpräventiv244 auf das gesellschaftliche Interesse an einer Aufrechterhaltung der Unantastbarkeit fremden Lebens und der Menschenwürde, an der Stabilität lebensschützender Normen sowie auf den Schutz vor einem möglichen Dammbruch, der mit einer Freigabe der Tötung auf Verlangen einhergehen könnte und vor einer möglicherweise damit einhergehenden Gefährdung Dritter in Folge einer Steigerung der Gewaltbereitschaft, vor einer Relativierung des Tötungsverbots sowie vor einer Missbrauchsgefahr.245 Das Interesse aller an einem unantastbaren Respekt vor dem Leben Dritter werde durch die Tabuisierung der Fremdtötung, in die nicht eingewilligt werden kann, geschützt.246 Als Schutzgut der Tötung auf Verlangen wird zudem die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege genannt, die berührt sei, wenn sich bei fehlender Strafbewehrung jede, die ein Tötungsdelikt begehe, auf einen Tötungswunsch des Opfers berufen könnte, da eine solche Behauptung häufig nicht zu wiederlegen sei.247 Das gesellschaftliche Interesse am Schutz vor einem Dammbruch, vor einer Relativierung des Tötungsverbots und vor Missbrauch steht jedoch in einem Wertungswiderspruch zur Straflosigkeit bestimmter Formen der Sterbehilfe.248 Zudem darf aufgrund des Dammbrucharguments eine Verhaltensnorm – so wie vorliegend das Tötungsverbot –, wie Hoven zutreffend bemerkt, „nicht auf Kosten der Freiheit einer Person, die die Regel selbst nicht verletzt hat, stabilisiert werden“.249 Eine Instrumentalisierung des menschlichen Lebens zum Schutz überindividueller

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Ausführlich zu den Strafgründen Müller, § 216 StGB als Verbot abstrakter Gefährdung, 2010, S. 29–33. Zu den historischen Hintergründen der Regelung Kubiciel, JA 2011, 86 (87) m. w. N. 244 Fischer, StGB, 65. Aufl. 2018, § 216 Rn. 3. 245 Eser / ​Sternberg-Lieben, in: Schönke / ​Schröder (Hrsg.), StGB, 29. Aufl. 2014, § 216 Rn. 1a; Kubiciel, JA 2011, 86 (90) m. w. N.; von der Pfordten, in: von Hirsch / ​Neumann / ​Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 193 (198 f.); MüKo / ​Schneider, StGB, 3. Aufl. 2017, § 216 Rn. 3 f.; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997, S. 114 ff. 246 Engisch, in FS Mayer, 1966, S. 399 (415); Hirsch, in FS Lackner, 1987, S. 597 (612); Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997, S. 117 f. 247 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 85. 248 MüKo / ​Schneider, StGB, 3. Aufl. 2017, § 216 Rn. 4. 249 Hoven, ZIS 2016, 1 (4) m. w. N. Siehe zum Tötungstabu auch Kubiciel, ZIS 2016, 396 (397).

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Werte250 – etwa der Erhaltung eines Tabus – könnte insoweit sogar mit der Menschenwürde konfligieren. Auch das Motiv einer Erhaltung der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege ist mehr als fragwürdig: Denn in der Konsequenz dieser Argumentation würde die erhebliche Freiheitsstrafe, die diejenige erwartet, die eine andere auf Verlangen tötet, darauf basieren, dass andere Mörderinnen und Totschlägerinnen einer Bestrafung sonst mit einer entsprechenden Schutzbehauptung entgehen und dadurch die Strafrechtspflege beeinträchtigen könnten. Abgesehen davon, dass auch der derzeitige, im Verhältnis zu Mord und Totschlag wesentlich niedrigere Straf­rahmen der Tötung auf Verlangen Angeklagte zu einer solchen Schutzbehauptung motivieren könnte, kann allein die (in der Breite der Fälle zudem auch noch äußerst geringe) Gefahr eines solchen Szenarios, in dem es zu einem Missbrauch durch Dritte kommen könnte, die Strafbewehrung der Tötung auf Verlangen jedenfalls nicht stützen. Ferner stehen diese fremdschützenden Ansätze der Einordnung des § 216 StGB als eine das Individualrechtsgut Leben schützende Vorschrift entgegen: Denn ginge man von einer gesellschaftsschützenden Ausrichtung der Regelung aus, würde der Einzelnen das Verfügungsrecht über ihr Leben zu Gunsten gesellschaftlicher Interessen entzogen – ein Ansatz, der laut Kubiciel mit unserer am individuellen, freiheitlichen Selbstbestimmungsrecht orientierten Gesellschaft kaum in Einklang zu bringen ist.251 Die gesellschaftsschützenden Argumente für die Strafbewehrung der Tötung auf Verlangen haben zudem, insbesondere im Hinblick auf das Dammbruchargument und die Gefahr einer Relativierung des Tötungsverbots, auch deutlich moralistische Anteile. bb) Schutz der Sterbewilligen Im Zentrum der Motive des § 216 StGB steht der Schutz der Sterbewilligen selbst.252 So wird zum Teil vertreten, die Regelung solle die Betroffene vor einer übereilten Entscheidung schützen253 – ein Gesichtspunkt, dem in Anbetracht der Unumkehrbarkeit der Selbsttötungsentscheidung ein besonderes Gewicht zu­kommt.254 250 Vgl. Kubiciel, ZIS 2016, 396 (398): „Das Leben des Einzelnen dient allein der personalen Entfaltung, nicht der Erreichung überindividueller Zwecke wie dem Erhalt der Achtung des Rechtswertes Leben.“ 251 Kubiciel, JA 2011, 86 (90). Auch Rigopoulou hält es im Ergebnis für unhaltbar, die Regelung mit „Rechten anderer“ zu begründen, dies., Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 305–315, 322. 252 So z. B. auch von der Pfordten, in: von Hirsch / ​Neumann / ​Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 193 (199). 253 Kubiciel, JA 2011, 86 (90) m. w. N.; MüKo / ​Schneider, StGB, 3. Aufl. 2017, § 216 Rn. 7 f.; mit anderer Begründung so auch Jakobs, Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechts­ system, 1998, S. 23. 254 von der Pfordten, in: von Hirsch / ​Neumann / ​Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 193 (199).

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Grundsätzlich könnte die Regelung unter diesem Aspekt somit als „Erforschungseingriff“255 verstanden werden. § 216 StGB statuiert allerdings ein absolutes Verbot – läge der Vorschrift tatsächlich ein solcher Erforschungs- und Übereilungsschutzgedanke zugrunde, müssten konsequenterweise Handlungen auf Grundlage hinreichender Überlegungen der Sterbewilligen straffrei gestellt werden.256 Ferner wird für die Strafbarkeit nach § 216 StGB das Leben in seiner Einzigartigkeit als Grundvoraussetzung für alle sonstigen Rechtsgüter und als absolut zu schützendes und höchstes Rechtsgut angeführt.257 Ein solcher Ansatz widerspricht jedoch bereits grundsätzlich der Rechtfertigungsmöglichkeit der indirekten Sterbehilfe258 und der im Folgenden noch zu begründenden grundsätzlichen Disponibilität des Rechtsguts Leben.259 Mitunter wird auch vertreten, § 216 StGB diene ganz allgemein dem Schutz vor Missbrauch260 – oder konkreter dem Schutz vor Autonomiedefiziten und mangelbehafteten Einwilligungen.261 Bereits die Weitergabe der Tötungshandlung an Dritte könnte Zweifel an der Entschlossenheit der Sterbewilligen begründen.262 Weitergehend wird mitunter sogar angenommen, dass grundsätzlich jedem Sterbewunsch 255 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (259). 256 So auch von Hirsch / ​Neumann, in: von Hirsch / ​Neumann / ​Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 71 (97). 257 Siehe dazu etwa Hoerster, NJW 1986, 1786 (1789); Kubiciel, JA 2011, 86 (89) m. w. N.; von der Pfordten, in: von Hirsch / ​Neumann / ​Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 193 (198 f.). Dieser Ansatz steht unabhängig von der Frage, ob die Regelung des § 216 StGB dann, wenn sie ausschließlich paternalistisch den Lebensschutz der Betroffenen bezweckt, nicht im Wertungswiderspruch zur Straflosigkeit des Suizids stünde: Wenn einziges Ziel der Strafbewehrung der Lebensschutz wäre, müsste konsequenterweise auch der Suizid unter Strafe gestellt werden. Zwar unterscheiden sich Tötung auf Verlangen und Suizid elementar dadurch, dass bei der Tötung auf Verlangen, im Gegensatz zum Suizid, eine Strafbarkeit auch bei Vollendung der Tat möglich ist und eine Strafbewehrung des Suizidversuchs mit dem Strafzweck „Lebensschutz“ wiederum eine gewisse Widersprüchlichkeit birgt – eine Strafbewehrung des Suizids hätte jedoch auch die Strafbarkeit der Teilnahmehandlungen zur Konsequenz, so dass eine allein paternalistisch motivierte Strafbewehrung der Tötung auf Verlangen in Anbetracht der straflosen Selbsttötung inkonsistent wäre. 258 Kubiciel, JA 2011, 86 (89) m. w. N. 259 Siehe dazu im zweiten Kapitel unter B. II. 3. b) bb). 260 Dreier, JZ 2007, 317 (320). 261 Köhler, ZStW 104 (1992), 3 (24); Kubiciel, ZIS 2016, 396 (399); von der Pfordten, in: von Hirsch / ​Neumann / ​Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 193 (199). 262 Roxin, NStZ 1987, 345 (348); Schneider beschreibt diese Argumentation als „individuell-paternalistisch“, MüKo / ​Schneider, StGB, 3. Aufl. 2017, § 216 Rn. 5. Siehe auch Köhler, nach dem in diesen Konstellationen die Möglichkeit eines „letzten Entschließungsvorbehalts“ des Betroffenen „unaufhebbar und unaufklärbar“ bleibt. Dieser könne „nur behoben werden durch die im bloßen Selbstverhältnis letztendlich entschlossene Tat zumal unter Bedingungen, die keinem anderen mehr eine Interventionsmöglichkeit lassen.“, ders., JRE 2006, 425 (442). Auch nach Hirsch folgt Sicherheit hinsichtlich des Sterbewunsches nur aus Taten, nicht aus Worten, ders. in FS Lackner, 1987, S. 597 (612). Dagegen geht Gärditz davon aus, dass „[n]icht jede Dritthandlung, die einen Suizid fördert, […] das Risiko eines Verlustes der Selbstbestimmung“ erhöht, ders., ZfL 2015, 114 (115).

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ein fehlendes Einsichts- oder Urteilsvermögen zugrunde liege.263 Entsprechende Ansätze stoßen jedoch auf Schwierigkeiten, soweit ein Autonomiedefizit positiv feststellbar nicht vorliegt.264 Könnten Zweifel an der Autonomie und Vollzugsreife des Sterbewunsches nur im Falle des Selbstvollzugs ausgeschlossen werden,265 ließe sich die Tötung auf Verlangen als abstraktes Gefährdungsdelikt266 verstehen, das vor unfreiwilligen Entscheidungen schützen soll. Ein solch enger Zusammenhang zwischen der Delegation der Tötungshandlung und einem Autonomiedefizit des Sterbewunsches lässt sich jedoch – gerade in Fällen körperlicher Eingeschränktheit der Betroffenen, die einen eigenhändigen Suizid bereits physisch unmöglich macht – nicht konstruieren.267 Da die Regelung im Ergebnis somit nicht nur bei Defiziten eingreift, sondern auch autonom Entscheidende schützt, wirkt sie im Einzelfall auch stark paternalistisch – und, da nicht diejenige, deren Wohl bewahrt werden soll, Adressatin der Regelung ist, sondern eine Dritte, indirekt paternalistisch. Ob diese stark paternalistische Wirkung gegenüber autonom Entscheidenden mit dem Schutz defizitär Entscheidender gerechtfertigt werden kann, ist eine Folgefrage der Verhältnismäßigkeit der Regelung.268 cc) Schutz der Täterin Umgekehrt und direkt paternalistisch führt von der Pfordten für die Strafbewehrung der Tötung auf Verlangen den Schutz der Täterin vor sich selbst an: Vor der Tötung als besonders einschneidendem Erlebnis und als Tat, die im Zweifel nicht einmal zwingend im genuinen Interesse der Täterin selbst, sondern in dem ihres „Opfers“ liege, sei die Täterin auch gegen ihren Willen zu schützen.269

263

So Köhler, ZStW 104 (1992), 3 (24), der allerdings äußerste Notsituationen ausklammert. Der sog. Sensburg-Entwurf, in dessen Rahmen in der Sterbehilfedebatte im Jahr 2015 die Strafbewehrung der Teilnahme an Suiziden vorgeschlagen wurde, spricht von einem „Widerspruch zwischen Selbsttötung und Autonomie“, BT-Drs. 18/5376, S. 7. Auch Köhler hält die Beihilfe zum Suizid konsequenterweise für strafwürdig, soweit die Einwilligungsvoraussetzungen des § 226a StGB (a. F., entspricht im Grunde dem heutigen § 228 StGB) nicht vorliegen und der Wille des Betroffenen beeinflusst oder eine schwache Lage ausgebeutet wird, a. a. O., S. 25 f. 264 MüKo / ​Schneider, StGB, 3. Aufl. 2017, § 216 Rn. 6. 265 Siehe dazu Jakobs, Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, 1998, S. 23, 35. 266 So auch Dreier, JZ 2007, 317 (320) m. w. N. 267 Siehe dazu und zu dem möglicherweise vorhandenen Wunsch nach einer „professionellen Umsetzung des Sterbewunsches durch einen Arzt“ Hoven, ZIS 2016, 1 (5). 268 Dazu ausführlich im zweiten Kapitel unter B. V. Rigopoulou geht davon aus, dass die Regelung im Ergebnis auf das Risiko defizitärer Entscheidungen gestützt werden kann, dies., Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 322. 269 von der Pfordten, in: von Hirsch / ​Neumann / ​Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 193 (199). Siehe zu diesem Ansatz auch Neumann, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​ Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 245 (248 f.).

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dd) Resümee: Paternalistische Anteile des § 216 StGB Die Strafbewehrung der Tötung auf Verlangen in § 216 StGB hat neben moralistischen270 somit auch deutlich paternalistische Anteile, auf deren Basis die Sterbewillige auch gegen ihren autonomen Wunsch geschützt werden soll. d) Strafbarkeit von Sterbehilfe Dasselbe gilt für die Sterbehilfe, die auch bei aussichtsloser Krankheitsprognose nach geltendem Recht grundsätzlich über § 216 StGB strafbewehrt ist.271 Zulässig sind einzig lebensverkürzende Palliativbehandlungen im laufenden Sterbeprozess in Form von indirekter Sterbehilfe272 sowie die Unterlassung, Begrenzung oder der Abbruch einer lebensverlängernden medizinischen Behandlung nach dem Willen der Patientin.273 Entsprechendes Tun oder Unterlassen ist nicht von § 216 StGB erfasst und bleibt auch im Übrigen straflos.274 Insoweit kommt es auch nicht zu einer paternalistischen Freiheitsverkürzung. e) Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB) Seit dem Jahr 2015 ist auch die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung nach § 217 StGB275 mit Strafe bewehrt.276 Zwar lässt die Regelung die Straflosigkeit 270 Tabu- und Moralschutz waren auch tragende Elemente des BGH-Urteils im Fall des „Kannibalen von Rotenburg“. Obwohl das Opfer die Tötung durch den Angeklagten gewünscht hatte, verurteilte der BGH den „Kannibalen von Rotenburg“ nicht wegen einer Tötung auf Verlangen, sondern wegen Mordes, vgl. BGH 22.4.2005 – 2 StR 310/04 – BGHSt 50, 80–93. Vgl. zu den moralistischen Anteilen des Urteils Mosbacher, JRE 2006, 479–499. 271 Siehe nur BGH 8.5.1991 – 3 StR 467/90 – BGHSt 37, 376. Fischer plädiert dafür, den Begriff „Sterbehilfe“ nur für nicht strafbare Handlungen zu verwenden, ders., StGB, 65. Aufl. 2018, Vor §§ 211–217 Rn. 35. 272 Vgl. dazu BGH 15.11.1996 – 3 StR 79/96 – BGHSt 42, 301. 273 Die Grenzen der zulässigen Sterbehilfe wurden 2010 durch den Bundesgerichtshof neu bestimmt, BGH 25.6.2010 – 2 StR 454/09 – BGHSt 55, 191; siehe dazu Spranger, Sozialrecht und Praxis 2010, 797–804. In der Praxis stellen sich insoweit natürlich massive Abgrenzungsprobleme. 274 Vgl. nur etwa Magnus, in: Beck (Hrsg.), Gehört mein Körper noch mir?, 2012, S. 421 (437 f.); siehe etwa auch BT-Drs. 18/5373, S. 10 f. 275 § 217 StGB: (1) Wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Als Teilnehmer bleibt straffrei, wer selbst nicht geschäftsmäßig handelt und entweder Angehöriger des in Absatz 1 genannten anderen ist oder diesem nahesteht. 276 Das Bundesverfassungsgericht hat eine gegen die Regelung gerichtete Verfassungs­ beschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, BVerfG 20.7.2017 – 2 BvR 2507/16 – juris.

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des Suizids und der Teilnahme an einem solchen grundsätzlich unangetastet;277 bestraft wird gemäß § 217 StGB nunmehr jedoch, wer einer anderen geschäftsmäßig die Gelegenheit zur Selbsttötung gewährt, verschafft oder vermittelt, sofern dies in der Absicht geschieht, die Selbsttötung der anderen zu fördern.278 Dabei erfordert das Merkmal der Geschäftsmäßigkeit keine Gewinnerzielungsabsicht oder wirtschaftliche Tätigkeit, sondern zielt vielmehr darauf ab, dass die Förderung der Selbsttötung zu einem „dauernden und wiederkehrenden Bestandteil“ der eigenen Tätigkeit gemacht wird.279 Wird die Suizidhilfe in einem solchen Rahmen als „normale Dienstleistung“ angeboten und zum Geschäftsmodell gemacht, können laut Gesetzentwurf Eigeninteressen der Helferinnen bei der Entscheidung der Sterbewilligen eine Rolle spielen und die Betroffenen in ihrer Entscheidung beeinflusst, zu einer Selbsttötung verleitet oder allein qua Verfügbarkeit entsprechender Angebote indirekt dazu gedrängt werden.280 Mit der Regelung soll deshalb verhindert werden, dass ein „Gewöhnungseffekt“ hinsichtlich der assistierten Selbsttötung eintritt281 oder sogar ein Erwartungsdruck erzeugt wird, entsprechende Angebote wahrzunehmen, um der Gesellschaft oder dem eigenen Umfeld bei Krankheit nicht zur Last zu fallen.282 Obwohl das Grundrecht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper ausweislich der Gesetzesbegründung auch das Recht umfasst, über das eigene Leben zu verfügen, sei es deshalb geboten, eine Selbsttötung im Sinne des Lebensund des Selbstbestimmungsschutzes zu verhindern, wenn wegen der Einbeziehung geschäftsmäßiger Suizidhelferinnen unklar sei, ob die Entscheidung autonom getroffen wurde.283 Die Regelung ist damit als Gefährdungsdelikt zu verstehen, das die Betroffenen vor einer abstrakten Bedrohung ihrer Selbstbestimmung und ihres Lebens schützen soll.284 Im Zentrum der Zweckorientierung des Gesetzes stehen der Schutz des Lebens und der Selbstbestimmung.285 Soweit die Regelung somit verhindern soll, dass unter Druck und Beeinflussung zustande gekommene Suizidwünsche verwirklicht werden, führt sie zumindest 277

BT-Drs. 18/5373, S. 2 f. Siehe BT-Drs. 18/5373, S. 16. 279 BT-Drs. 18/5373, S. 17. 280 BT-Drs. 18/5373, S. 2, 11–13, 17 f. Ähnlich auch das BVerfG in der Begründung seiner Ablehnung des Erlasses einer einstweiligen Anordnung zur Außervollzugsetzung der Regelung: „Für den Fall, dass § 217 StGB außer Vollzug gesetzt würde, ist daher zu besorgen, dass sich insbesondere unter schweren Erkrankungen leidende, auf fremde Hilfe angewiesene Personen […] durch die dann fortsetzbaren Angebote geschäftsmäßiger Förderung der Selbsttötung zu einem Suizid verleiten lassen könnten.“, BVerfG 21.12.2015 – 2 BvR 2347/15 – NJW 2016, 558 (559). 281 BT-Drs. 18/5373, S. 2. 282 BT-Drs. 18/5373, S. 8. 283 BT-Drs. 18/5373, S. 10 f. 284 BT-Drs. 18/5373, S. 11 f.; BVerfG 21.12.2015 – 2 BvR 2347/15 – NJW 2016, 558 (559); Kubiciel, ZIS 2016, 396 (398). 285 BT-Drs. 18/5373, S. 2, 10, 12 f. 278

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auch zu einem indirekt paternalistischen Schutz gegen den (vordergründigen) Willen der Sterbewilligen. Ob dieser schwach paternalistisch ausgerichtet ist und allein auf defizitäre Entscheidungen abzielt, ist umstritten: So wurde der Konnex zwischen der Geschäftsmäßigkeit der Sterbehilfe und der Autonomie der Sterbewünsche im Rahmen der Rezeption der Regelung angezweifelt,286 da insoweit kein erhöhtes Risiko unfreiwilliger Entscheidungen bestehe.287 Paternalismuskritisch wird deshalb mitunter davon ausgegangen, dass der Regelung ein legitimes Schutzinteresse fehle, soweit die Suizidsuchende autonom über ihr Leben verfüge.288 Insoweit durch die Regelung allein die Unterstützung bei der Durchführung autonomer Sterbewünsche zum Schutz der Betroffenen verboten wird, beinhaltet sie jedenfalls auch stark paternalistische Anteile.289 Dass sich der Gesetzgeber ferner darauf bezieht, dass durch die Vorschrift die Normalität von und die Gewöhnung an assistierten Suizid verhindert werden sollen, lässt zudem auch moralistische Regelungsmotive erkennen. 3. Strafbarkeit einer Körperverletzung trotz Einwilligung in Folge eines Verstoßes gegen die guten Sitten (§ 228 StGB) Während die Selbstverletzung straflos bleibt290 und § 228 StGB stillschweigend voraussetzt, dass die Einwilligung in eine Körperverletzung grundsätzlich möglich ist, schließt diese Regelung das Entfallen der Rechtswidrigkeit trotz wirksamer Einwilligung in Fällen aus, in denen die Körperverletzung gegen die guten Sitten verstößt. Welche Schutzausrichtung dem § 228 StGB dabei zukommt, wird unter 286 Zustimmend jedoch Kubiciel, der davon ausgeht, dass der Schutz vor der Gefahr einer nicht hinreichend autonomen Entscheidung durch die Regelung zulässig sei, da regelmäßig viel für die Annahme eines defizitären Suizidwunsches spreche – gerade wenn eine Person mit eigenen Interessen an der Selbsttötung beteiligt sei, ders., ZIS 2016, 396 (398 f.). 287 Hoven, ZIS 2016, 1 (3); auch Roxin hält das Kriterium für ungeeignet, ders., NStZ 2016, 185 (189). Zustimmend hingegen grundsätzlich Gärditz, der davon ausgeht, dass die mit der Geschäftsmäßigkeit einhergehende Routine Eigendynamiken entfalten und Normalität suggerieren können, die einen Kontrollverlust der Betroffenen zur Folge haben können, ders., ZfL 2015, 114 (115). 288 Hoven, ZIS 2016, 1 (7); Roxin, NStZ 2016, 185 (186); dagegen Hillgruber, der davon ausgeht, dass die Strafbewehrung auch bei einem autonomen Sterbewunsch mit der Unantastbarkeit der Menschenwürde zu rechtfertigen sei, ders., ZfL 2015, 86 (87, 92). Demgegenüber nimmt Gärditz an, dass „ein staatliches Beharren darauf, dass das Leben lebenswert sei, obwohl der Rechtsgutsträger dies offensichtlich anders beurteilt, […] eine generell unzulässige Fremdbewertung von Leben [wäre], die gegen die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) verstößt.“, ders., ZfL 2015, 114. 289 Als „Paradebeispiel für illegitimen Paternalismus“ wird die Regelung bezeichnet von Duttge, ZStW 129 (2017), 448–466. Siehe zu Aspekten einer Verurteilung unmoralischen Verhaltens durch die Regelung Hoven, ZIS 2016, 1 (3), die vorschlägt, gegen organisierte Sterbehilfe stattdessen mit vereins- und gewerberechtlichen Regelungen vorzugehen, a. a. O. 290 Vgl. Wortlaut § 223 StGB: „Wer eine andere Person körperlich misshandelt…“; s. nur etwa Eser / ​Sternberg-Lieben, in: Schönke / ​Schröder (Hrsg.), StGB, 29. Aufl. 2014, § 223 Rn. 9.

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schiedlich beschrieben: Individualschützend und damit potentiell paternalistisch wird davon ausgegangen, der Gesetzgeber wolle im Rahmen des § 228 StGB den Schutz der Einwilligenden vor schweren körperlichen Verletzungen sicherstellen.291 Der Schutz solle demnach insbesondere in Fällen greifen, in denen die kurzfristigen Vorteile der Verletzung die schweren Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit nicht auszugleichen vermögen292 und in denen die Betroffenen die Verletzungen in der Folge bereuen oder durch sie an der Teilnahme am Sozialleben gehindert werden.293 Auch der Schutz der Betroffenen vor einer Verletzung ihrer Menschenwürde wird als Regelungsgrund genannt.294 Mitunter wird auch dritt- und staatsschützend295 das Interesse der Gesellschaft an gesunden Menschen und damit auch an der Gesundheit der Einzelnen als Motiv der Regelung angeführt296 – eine Ausrichtung, die aus den bereits im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Betäubungsmittelrecht genannten Gründen297 sowie in Anbetracht der Straflosigkeit der Selbstverletzung fragwürdig erscheint.298 Ferner wird wie auch im Rahmen des § 216 StGB das generalpräventive Ziel der Tabuisierung schwerster Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit anderer299 sowie der Schutz des sozialen Friedens und der sozialethischen Wert-300 und Moralvorstellungen301 als Regelungszweck genannt. Die Vorschrift sanktioniert ihrer Einordnung und Ausrichtung nach jedoch das Unrecht der Körperverletzung und nicht die Verletzung von Interessen Dritter oder der Öffentlichkeit.302 Da sich ein schwach paternalistischer Schutz vor nicht autonom gefällten Entscheidungen zum einen nicht durch einen Ausschluss sittenwidriger Körperverletzungen sicherstellen ließe und dieser zum anderen bereits durch die ohnehin allgemein geltenden Anforderungen an eine rechtswirksame

291

Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997, S. 122. MüKo / ​Hardtung, StGB, 3. Aufl. 2017, § 228 Rn. 22. 293 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997, S. 122. 294 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997, S. 122. Siehe zu dem Motiv eines „aufgedrängten“ Menschenwürdeschutzes im Rahmen des sog. PeepShow-Urteils und der Zwergenweitwurf-Entscheidung auch sogleich unter B. IV. 1. und B. IV. 2. 295 Klimpel, Bevormundung oder Freiheitsschutz?, 2003, S. 130. 296 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997, S. 122 f. 297 Siehe dazu bereits unter B. I. 1. c). 298 MüKo / ​Hardtung, StGB, 3. Aufl. 2017, § 228 Rn. 21. 299 MüKo / ​Hardtung, StGB, 3. Aufl. 2017, § 228 Rn. 23; Klimpel, Bevormundung oder Freiheitsschutz?, 2003, S. 134 m. w. N.; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997, S. 123, wobei Sternberg-Lieben dies in Anbetracht der Akzeptanz schwerwiegender Körperverletzungen mit Einwilligung im Kontext von Sterilisationen, Geschlechtsumwandlungen und Lebendorganspende für nicht tragfähig hält, a. a. O., S. 123 f. 300 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997, S. 124 f. 301 Dazu Klimpel, Bevormundung oder Freiheitsschutz?, 2003, S. 131–134 m. w. N., der den Ansatz im Ergebnis ablehnt, a. a. O., S. 141. Vgl. etwa zum Tabuschutz des Inzestverbots in § 173 StGB Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, 2005, S. 452–456; Zabel, JR 2008, 453–457. 302 Frisch, in: FS Hirsch, 1999, S. 485 (488, 490). 292

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Einwilligung gewährleistet ist,303 hat die Regelung – neben den in Anbetracht der Anknüpfung an die „Sittenwidrigkeit“ naheliegend moralistischen Aspekten – auch stark paternalistischen Charakter. Dies verdeutlicht auch die höchstrichterliche Auslegung der Regelung: So geht der Bundesgerichtshof inzwischen davon aus, dass für die Annahme von Sittenwidrigkeit der Umfang der Körper- und Gesundheitsschädigung und der Grad der damit verbundenen, konkreten Lebensgefahr entscheidend sei.304 Im Vordergrund steht somit – trotz per se wirksamer Einwilligung – der Schutz von Körper und Gesundheit der Betroffenen, auch gegen ihren Willen. 4. Strafbarkeit von Doping Doping wird mitunter wegen seines „unsittlichen Zwecks“, vorherrschend wohl aber in Folge der erheblichen, von ihm ausgehenden Gesundheitsgefahr, die nicht durch einen besonders wertvollen Zweck ausgeglichen wird, als sittenwidrige Körperverletzung i. S. d. § 228 StGB angesehen.305 Gleichwohl greift § 223 StGB und damit auch die Schranke des § 228 StGB nur bei einer Fremdverletzung und nicht bei einer Selbstschädigung oder der Beteiligung an einer Selbstschädigung ein.306 Nach verschiedenen Gesetzesnovellierungen ist im Rahmen des ersten eigenständigen Anti-Doping-Gesetzes (AntiDopG) vom 10.12.2015, mit dem die Dopingbekämpfung grundlegend neu geregelt wurde,307 erstmals ein strafbewehrtes Verbot des Selbstdopings von Sportlerinnen geschaffen worden.308 Anders als im Betäubungsmittelrecht bleiben Anwendung und Konsum von Dopingmitteln somit nicht straflos. § 2 AntiDopG regelt das Verbot des Umgangs mit Dopingmitteln und der unerlaubten Anwendung von Dopingmethoden bei anderen;309 § 3 AntiDopG das Selbst 303

Frisch, in: FS Hirsch, 1999, S. 485 (492). St. Rspr., siehe etwa BGH 11.12.2003 – 3 StR 120/03 – BGHSt 49, 34 (42). 305 MüKo / ​Hardtung, StGB, 3. Aufl. 2017, § 228 Rn. 53. 306 Fischer, StGB, 65. Aufl. 2018, § 228 Rn. 23. 307 BT-Drs. 18/4898, S. 2. 308 BT-Drs. 18/4898, S. 26. 309 § 2 AntiDopG: (1) Es ist verboten, ein Dopingmittel, das ein in der Anlage I des Internationalen Übereinkommens vom 19. Oktober 2005 gegen Doping im Sport (BGBl. 2007 II S. 354, 355) in der vom Bundesministerium des Innern jeweils im Bundesgesetzblatt Teil II bekannt gemachten Fassung (Internationales Übereinkommen gegen Doping) aufgeführter Stoff ist oder einen solchen enthält, zum Zwecke des Dopings beim Menschen im Sport 1. herzustellen, 2. mit ihm Handel zu treiben, 3. es, ohne mit ihm Handel zu treiben, zu veräußern, abzugeben oder sonst in den Verkehr zu bringen oder 4. zu verschreiben. (2) Es ist verboten, 1. ein Dopingmittel, das ein in der Anlage I des Internationalen Übereinkommens gegen Doping aufgeführter Stoff ist oder einen solchen enthält, oder 2. eine Dopingmethode, die in der Anlage I des Internationalen Übereinkommens gegen Doping aufgeführt ist, zum Zwecke des Dopings im Sport bei einer anderen Person anzuwenden. (3) Es ist verboten, ein Dopingmittel, das ein in der Anlage zu diesem Gesetz aufgeführter Stoff ist oder einen solchen enthält, in nicht geringer Menge zum 304

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doping.310 Durch § 4 AntiDopG werden die Verbote aus § 2 und § 3 ­AntiDopG – abgestuft nach dem jeweils verwirklichten Unrecht311 – mit einer Straf­bewehrung versehen. Ausweislich der Gesetzesbegründung dient das Anti-­Doping-Gesetz dem Schutz der Integrität des organisierten Sports, der Fairness und Chancengleichheit im sportlichen Wettbewerb312 sowie der Glaubwürdigkeit und Vorbildfunktion des Sports.313 Zudem sprächen wirtschaftliche Aspekte für das Dopingverbot, da Doping die sauberen Konkurrentinnen dopender Sportlerinnen schädige, ebenso wie Veranstalterinnen, Vereine, Sponsorinnen, Medien und Zuschauerinnen, die Vermögenswerte aufbringen, um an einem vermeintlich fairen Wettkampf teilzuhaben.314 Die Regelungen zielen jedoch auch auf den Gesundheitsschutz der Sportlerinnen selbst und auf den Schutz der Allgemeinheit ab, die über die Krankenkassen die Kosten der Behandlung von Doping-Folgeschäden trage und dadurch belastet werde.315 Neben paternalistischen Anteilen gegenüber der selbst dopenden Sportlerin, die trotz möglicherweise autonomer Entscheidung vor einer Gesundheitsschädigung geschützt werden soll, steht hinter der Regelung neben den genannten gesellschaftsschützenden Aspekten auch der Gesundheits- und Autonomieschutz der nichtZwecke des Dopings beim Menschen im Sport zu erwerben, zu besitzen oder in oder durch den Geltungsbereich dieses Gesetzes zu verbringen. 310 § 3 AntiDopG: (1) Es ist verboten, 1. ein Dopingmittel, das ein in der Anlage I des Internationalen Übereinkommens gegen Doping aufgeführter Stoff ist oder einen solchen enthält, sofern dieser Stoff nach der Anlage I des Internationalen Übereinkommens gegen Doping nicht nur in bestimmten Sportarten verboten ist, oder 2. eine Dopingmethode, die in der Anlage I des Internationalen Übereinkommens gegen Doping aufgeführt ist, ohne medizinische Indikation bei sich in der Absicht, sich in einem Wettbewerb des organisierten Sports einen Vorteil zu verschaffen, anzuwenden oder anwenden zu lassen. Das Verbot nach Satz 1 gilt nicht, wenn das Dopingmittel außerhalb eines Wettbewerbs des organisierten Sports angewendet wird und das Dopingmittel ein Stoff ist oder einen solchen enthält, der nach der Anlage I des Internationalen Übereinkommens gegen Doping nur im Wettbewerb verboten ist. (2) Ebenso ist es verboten, an einem Wettbewerb des organisierten Sports unter Anwendung eines Dopingmittels nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 oder einer Dopingmethode nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 teilzunehmen, wenn diese Anwendung ohne medizinische Indikation und in der Absicht erfolgt, sich in dem Wettbewerb einen Vorteil zu verschaffen. (3) Ein Wettbewerb des organisierten Sports im Sinne dieser Vorschrift ist jede Sportveranstaltung, die 1. von einer nationalen oder internationalen Sportorganisation oder in deren Auftrag oder mit deren Anerkennung organisiert wird und 2. bei der Regeln einzuhalten sind, die von einer nationalen oder internationalen Sportorganisation mit verpflichtender Wirkung für ihre Mitgliedsorganisationen verabschiedet wurden. (4) Es ist verboten, ein Dopingmittel nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 zu erwerben oder zu besitzen, um es ohne medizinische Indikation bei sich anzuwenden oder anwenden zu lassen und um sich dadurch in einem Wettbewerb des organisierten Sports einen Vorteil zu verschaffen. Absatz 1 Satz 2 gilt entsprechend. 311 BT-Drs. 18/4898, S. 28. 312 Deren Qualität als strafrechtlich zu schützende Rechtsgüter anzweifelnd König, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 267 (279). 313 BT-Drs. 18/4898, S. 17, 22. 314 BT-Drs. 18/4898, S. 17, 22 f. 315 BT-Drs. 18/4898, S. 17, 22.

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dopenden Sportlerinnen:316 Denn die saubere Sportlerin wird durch die Regelungen vor dem Druck geschützt, selbst zu leistungssteigernden Substanzen greifen zu müssen, wenn sie gegen gedopte Konkurrentinnen bestehen will.317 Dem Reglement kommen somit deutlich drittschützende Aspekte zu.318 5. Weitere Einschränkungen der Dispositionsbefugnis über den eigenen Körper Paternalistische Regelungen finden sich in Zusammenhang mit einverständlicher Körperverletzung auch soweit es um Sterilisation und Kastration geht. So ist nach § 1631c BGB die Sterilisation Minderjähriger verboten;319 ferner finden sich im Kastrationsgesetz (indirekt) stark paternalistische Regelungen, nach denen in eine Kastration nur eingewilligt werden kann, soweit die Behandlung in Folge körperlicher und seelischer Leiden indiziert ist (§ 2 Abs. 1 Nr. 2 KastrG), der Betroffene das 25. Lebensjahr vollendet hat (§ 2 Abs. 1 Nr. 3 KastrG), durch die Kastration keine Nachteile zu erwarten sind, die zu dem angestrebten Erfolg der Behandlung außer Verhältnis stehen (§ 2 Abs. 1 Nr. 4 KastrG), die Behandlung lege artis vorgenommen wird (§ 2 Abs. 1 Nr. 5 KastrG) sowie gemäß § 5 Abs. 1 KastrG eine Gutachterstelle die ordnungsgemäße Untersuchung und Aufklärung sowie das Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 2 und 3 KastrG bestätigt hat, wobei das Nicht-Einholen einer solchen Bestätigung gemäß § 7 Nr. 1 KastrG für die behandelnde Ärztin strafbewehrt ist.320 Durch diese Erfordernisse wird der einwilligende Erwachsene unter anderem stark paternalistisch vor den Folgen dieser weitreichenden Entscheidung geschützt. Ein Sonderfall der Selbstverletzung in Form der Wehrpflichtentziehung durch Selbstverstümmelung wird ferner durch § 109 StGB und § 17 WStG unter Strafe 316 König, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 267 (279). 317 So noch zu der Vorgängerregelung im AMG MüKo / ​Freund, StGB, 2. Aufl. 2013, § 6a AMG, Rn. 6–11. 318 Dieser drittschützende Aspekt unterscheidet das Doping im sportlichen Wettbewerb von „Doping“ in außersportlichen Bereichen, so wie etwa am Arbeitsplatz, vgl. etwa DAK-Gesundheitsreport 2015, abrufbar unter https://www.dak.de/dak/download/vollstaendiger-bundes​ weiter-gesundheitsreport-2015-1585948.pdf (zuletzt abgerufen am 1.3.2018). Die Arzneimittelverschreibungsverordnung und das BtMG, die den Einsatz der dort genannten Stoffe zum pharmakologischen Neuroenhancement regulieren, zielen (noch) nicht auf den Schutz der wirtschaftlichen Wettbewerber, sondern vornehmlich auf den Schutz des Konsumenten selbst ab. 319 Nach § 1631c BGB können weder die Eltern noch das Kind selbst in die Sterilisation einwilligen; mitunter wird auch bei der Sterilisation Erwachsener (paternalistisch) eine medizinische oder eugenische Indikation als Voraussetzung für die Zulässigkeit der Sterilisation verlangt, s. LK / ​Hirsch, StGB, 11. Aufl. 2005, § 228 Rn. 39 f. m. w. N. 320 Klimpel hält die Regelung in Anbetracht der die Selbstbestimmung in diesen Fällen verdrängenden „übermächtigen Triebstruktur“ für gerechtfertigt, ders., Bevormundung oder Freiheitsschutz?, 2003, S. 207.

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gestellt. Obwohl nach diesen Vorschriften eine Form der Selbstverletzung strafbewehrt wird, ist der Normzweck nicht paternalistischer Natur: § 109 StGB gehört zu den Straftaten gegen die Landesverteidigung und § 17 WStG zu den Dienstentziehungsdelikten, deren Schutzzweck vielmehr die Erhaltung der Einsatzbereitschaft und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr darstellt, welche nicht durch Selbstverletzung ausgehebelt werden sollen.321 Die Vorschriften dienen somit nicht dem ungewollten Selbstschutz, sondern statuieren eine Pflicht zur Sicherung der Landesverteidigung gegenüber der Allgemeinheit322 – unabhängig davon, dass sie inzwischen mit Aussetzung der Wehrpflicht ohnehin an Bedeutung verloren haben. Mitunter wird davon ausgegangen, dass die Strafbewehrung des Schwangerschaftsabbruchs nach dem dritten Monat die Schwangere vor einer selbstschädigen­ den Entscheidung schützen soll.323 Während der Regelung ein solcher Effekt zweifelsohne zukommen kann, ist ihr Primärzweck des § 218 StGB jedoch der Schutz des ungeborenen Lebens.324 6. Weitere paternalistische Regelungen des Nebenstrafrechts Neben den paternalistischen Regelungen des Nebenstrafrechts, die Gegenstand des zweiten Teils dieser Arbeit sein werden, enthält auch das Gendiagnostikgesetz (GenDG) stark und schwach paternalistische Vorschriften – so etwa die Regelung zur Qualitätssicherung (§ 5 GenDG), des Arztvorbehalts (§ 7 GenDG), der Regelungen zu Einwilligung und Aufklärung (§§ 8, 9 GenDG) sowie der Sonderregelungen für Nicht-Einwilligungsfähige (§ 14 GenDG). Ebenso können die Verwendungsverbote genetischer Untersuchungen für Versicherungen und Arbeiter in §§ 18, 19 GenDG die Betroffenen gegen ihren Willen schützen und daher paternalistisch wirken.325 Auch im Chemikaliengesetz und der Gefahrstoffverordnung, in der Chemikaliensanktionsverordnung sowie im Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch finden sich Regelungen mit paternalistischen Anteilen.

321 Dau, in: Erbs / ​Kohlhaas (Hrsg.), Strafrechtliche Nebengesetze, 217. Lfg. 2017, § 17 WStG Rn. 4; MüKo / ​Dau, StGB, 3. Aufl. 2018, § 17 WStG Rn. 1 f. 322 Köhler, ZStW 104 (1992), 3 (21); Hohmann / ​Matt, JuS 1993, 370 (372). 323 So noch vor Einführung der heutigen Regelung wegen der größeren Gefährdung der Schwangeren bei einem Abbruch nach diesem Zeitpunkt Schmitt, in: FS Maurach, 1972, S. 113 (120). 324 BGH 21.4.1978 – 2 StR 686/77 – BGHSt 28, 11 (15); vgl. im Übrigen etwa Kühl, in: Lackner / ​Kühl, StGB, 28. Aufl. 2014, § 218 Rn. 1 jedoch auch mit Bezugnahme auf den Schutz der Schwangeren. 325 Siehe allgemein zur paternalistischen Wirkung der Kontrolle des Zugangs zu prädiktiven genetischen Tests Vossenkuhl, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 163 (174 f.).

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II. Paternalistische Regelungen außerhalb des Strafrechts 1. Sicherheitsgurt- und Schutzhelmpflicht (§ 21a Abs. 1, 2 StVO) Außerhalb des Strafrechts wird in Zusammenhang mit Paternalismus insbesondere die bußgeldbewehrte Sicherheitsgurt- und Schutzhelmpflicht aus den §§ 21a Abs. 1, 2, 49 Abs. 1 Nr. 20a StVO i. V. m. § 24 Abs. 2 StVG intensiv diskutiert. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in zwei Entscheidungen mit der Schutzhelmpflicht für Kraftradfahrerinnen326 und mit der Gurtanlegepflicht327 auseinandergesetzt und in diesem Zusammenhang die Vereinbarkeit der den Pflichten zugrundeliegenden Regelungen mit dem Grundgesetz festgestellt. Auch wenn das Bundesverfassungsgericht den möglicherweise von den Regelungen bezweckten Schutz der Betroffenen selbst thematisiert, wenn es etwa anmerkt, dass „die Benutzung der Dreipunktgurte das Verletzungsrisiko des Insassen entscheidend“ herabsetze,328 oder dass „ein Schutzhelm geeignet ist, Kopfverletzungen zu vermeiden oder jedenfalls deren Schwere zu vermindern“329, stehen überraschenderweise keine paternalistischen, sondern vielmehr drittschützende Aspekte der Regelungen im Vordergrund der verfassungsgerichtlichen Ausführungen: So diene die Schutzhelmpflicht der „Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens“,330 denn durch das Tragen eines Schutzhelms könne auch Schaden von anderen abgewendet werden, wenn etwa eine Kraftradfahrerin bei einem Unfall in Folge des Schutzhelms bei Bewusstsein bliebe.331 Ebenso bliebe auch die Fahrzeuginsassin, die in Folge des Gurttragens weniger schwer verletzt sei, in der Lage adäquat zu reagieren und könne so Folgeschädigungen Dritter vermeiden.332 Zudem argumentiert das Bundesverfassungsgericht damit, dass sich das gefährliche Verhalten bei unterbleibendem Tragen eines Schutzhelms in der Öffentlichkeit und damit in einem für die Allgemeinheit wichtigen Bereich abspiele.333 Ferner belasteten die Folgekosten von Verletzungen ohne Schutzhelm die Allgemeinheit334 – und Verletzungen anderer Fahrzeuginsassen durch nichtangeschnallte Mitfahrer bei einer Kollision könnten durch das Tragen von Gurten vermieden werden.335 Diese dritt- und gesellschaftsschützenden Begründungsansätze sehen sich in der Literatur jedoch intensiver Kritik ausgesetzt. Die vom Bundesverfassungsgericht 326

BVerfG 26.1.1982 – 1 BvR 1295/80 u. a. – BVerfGE 59, 275. BVerfG 24.7.1986 – 1 BvR 331/85 u. a. – NJW 1987, 180. 328 BVerfG 24.7.1986 – 1 BvR 331/85 u. a. – NJW 1987, 180. 329 BVerfG 26.1.1982 – 1 BvR 1295/80 u. a. – BVerfGE 59, 275 (278). 330 BVerfG 26.1.1982 – 1 BvR 1295/80 u. a. – BVerfGE 59, 275 (279). 331 BVerfG 26.1.1982 – 1 BvR 1295/80 u. a. – BVerfGE 59, 275 (279). 332 BVerfG 24.7.1986 – 1 BvR 331/85 u. a. – NJW 1987, 180. Ebenso BGH 20.3.1979 – VI ZR 152/78 – BGHZ 74, 25 (34). 333 BVerfG 26.1.1982 – 1 BvR 1295/80 u. a. – BVerfGE 59, 275 (279). 334 Ebenso zur Beanspruchung von Rettungseinrichtungen und Pflegefürsorge BGH 20.3.1979 – VI ZR 152/78 – BGHZ 74, 25 (34). 335 BVerfG 24.7.1986 – 1 BvR 331/85 u. a. – NJW 1987, 180. 327

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1. Teil: Grundlegung

angeführte Idee, die weniger schwer verletzte gurt- oder schutzhelmtragende Verkehrsteilnehmerin sei in der Folge besser in der Lage, mit-betroffenen Unfallopfern zu helfen,336 ist etwa von Hillgruber mit dem Hinweis abgelehnt worden, dass es keine Pflicht gebe dafür zu sorgen, sich für einen potentiellen Unfall jederzeit in einem Zustand zu erhalten, der eine Hilfeleistung erlaube.337 Das verlange weder die sich aus § 323c StGB ergebende Hilfeleistungspflicht noch die Betriebsgefahr eines Kraftfahrzeugs.338 Nach Hillgruber vermag auch der vom Bundesverfassungsgericht angesprochene Öffentlichkeitsbezug die Tragepflicht nicht zu rechtfertigen, da die öffentliche Sicherheit allein durch die Sichtbarkeit einer Selbstgefährdung nicht gefährdet werde, sondern lediglich bei der Berührung eines Allgemeininteresses, die in diesen Fällen jedoch nicht vorliege.339 Fragwürdig erscheint die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts auch hinsichtlich der Folgekosten für die Allgemeinheit.340 Denn eigentlich müsste in einer libertären Gesellschaft jede, die ihr eigenes Risiko trägt, auch das machen können, was sie möchte.341 Da im Rahmen des verpflichtenden Sozialversicherungssystems jedoch nicht jede ihr eigenes Risiko trägt, sondern die Sozialversicherungsgemeinschaft die Risiken aller gemeinsam, stößt dieses Prinzip in der deutschen Rechtsordnung an seine Grenzen. Dies gilt insbesondere, da auch ein umfassender Ausschluss der sozialversicherungsrechtlichen Kostentragung für Selbstgefährdungen nicht denkbar ist: Denn es ist mit Dworkins und Feinbergs „argument from psychic costs“ nicht nur der Einzelnen, sondern insbesondere auch der Gesellschaft als solcher nicht zumutbar, diese Menschen sich selbst zu überlassen.342 Trotz insoweit zwangsläufig bestehender Folgekosten der Allgemeinheit bei Selbstgefährdungen, vermögen diese als Rechtfertigung für derartige Freiheitseinschränkungen nicht zu tragen: Denn gerade die gesellschaftliche Pflicht, die sozialen Folgekosten in allen Fällen, also auch bei Selbstgefährdungen zu übernehmen, soll ihrem Zweck nach sicherstellen, „dass alle, insbesondere schwächere Menschen, so weit als möglich ein selbstbestimmtes Leben führen können“.343 Die 336 BVerfG 26.1.1982 – 1 BvR 1295/80 u. a. – BVerfGE 59, 275 (279); BVerfG 24.7.1986 – 1 BvR 331/85 u. a. – NJW 1987, 180. 337 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 97 f. 338 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 97 f. Anders Fischer, der davon ausgeht, dass die Wertung nicht offensichtlich unhaltbar und damit vom gesetzgeberischen Spielraum in Anbetracht der in Frage stehenden, zentral bedeutsamen Rechtsgüter, gedeckt sei. Laut Fischer verfängt auch der Vergleich zu § 323c StGB nicht, da das Strafrecht eingriffsintensiver sei und die Tatsache, dass ein Verhalten nicht strafrechtlich sanktioniert sei, keinen Rückschluss darauf zulasse, dass man es nicht vorgelagert mit einem Bußgeld bewehren könne, ders., Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, 1997, S. 263 f. 339 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 98 f. 340 Siehe dazu auch im zweiten Kapitel unter B. III. 2. c). 341 So auch Dworkin, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 105 (109). 342 Dworkin, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 105 (109); Feinberg, Harm to Self, 1986, S.140 f. 343 Klimpel, Bevormundung oder Freiheitsschutz?, 2003, S. 177.

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freiheitsermöglichende staatliche Verpflichtung zur Übernahme der Kosten kann deshalb die Zulässigkeit einer entsprechenden Handlungseinschränkung nicht begründen.344 Dementsprechend besteht de facto etwa in der gesetzlichen Krankenversicherung auch keine Einschränkung für Leistungen bei Verletzungen, die sich die Versicherte selbst zugefügt oder die sie bei der Ausübung selbstgefährdender Risikosportarten erlitten hat. Im Ergebnis vermögen die dritt-345 und allgemeinheitsschützenden346 Argumente, die für die Gurt- und Helmpflicht angeführt werden, nicht zu überzeugen. Sie verdecken vielmehr den Blick auf die eigentlich paternalistische Zwecksetzung der Regelungen.347 Diese Verschleierung kommt auch darin zum Ausdruck, dass wiederholt insbesondere die Geringfügigkeit des mit der Tragepflicht einhergehenden Eingriffs und die großen Vorzüge derselben betont werden.348 Insoweit wird von der zentralen Frage abgelenkt, ob die paternalistischen Wirkungen der Regelung aus sich selbst heraus oder durch – möglicherweise bestehende – dritt- und allgemeinheitsschützende Interessen gerechtfertigt werden können. Die geringe Eingriffstiefe allein kann als Argument jedenfalls nicht verfangen, da sie keinen Einfluss auf die Beurteilung der paternalistischen Natur der Regelung hat.349 Soll Bevormundung vermieden werden, darf es nicht zu einer fremdbestimmten Unterscheidung zwischen Wichtigkeit und Unwichtigkeit des in Frage stehenden Verhaltens und einer damit einhergehenden, heteronomen Relativierung der Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts kommen. Eigentlich paternalistischer Natur ist auch das drittschützend anmutende Argument des Bundesverfassungsgerichts, nach welchem die Gurtpflicht unter anderem das Ziel verfolge, Mitfahrerinnen vor nicht angeschnallten, im Wagen „herumschleudernden“ Personen zu schützen.350 Während dahingestellt sein mag, ob die 344

Siehe auch Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 100–102. Anders von Münch, der davon ausgeht, dass „beim Straßenverkehr eben doch immer wieder die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer und damit die „Rechte anderer“ i. S. des Art. 2 Abs. 1 Halbs. 2 GG eine Rolle spielen.“, ders., in: FS Ipsen, 1977, S. 113 (121). 346 Diesbezüglich anders Rigopoulou, die davon ausgeht, dass die Regelungen durch ein „Allgemeininteresse an der Wahrung der zur Schadensabwehr gebotenen mitmenschlichen Solidarität“ gerechtfertigt werden können, dies., Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 319. 347 Auch Hillgruber und Klimpel gehen davon aus, dass die Regelung „allein“ bzw. „in erster Linie“ dem Schutz der Betroffenen vor sich selbst diene, Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 102; Klimpel, Bevormundung oder Freiheitsschutz?, 2003, S. 177. 348 So in BGH 20.3.1979 – VI ZR 152/78 – BGHZ 74, 25 (34); BVerfG 26.1.1982 – 1 BvR 1295/80 u. a. – BVerfGE 59, 275 (278); BVerfG 24.7.1986 – 1 BvR 331/85 u. a. – NJW 1987, 180; Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 78. 349 Im Ergebnis ähnlich Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 139; Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 14. Auch Hillgruber lehnt die Idee einer „Erheblichkeitsschwelle“ in diesem Zusammenhang ab, ders., Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 96 f. Klimpel hält die Regelung in Folge des mit ihr einhergehenden Schutzes der „Grundvoraussetzungen eines selbstbestimmten Lebens“ dennoch für rechtfertigbar, ders., Bevormundung oder Freiheitsschutz?, 2003, S. 178. 350 BVerfG 24.7.1986 – 1 BvR 331/85 u. a. – NJW 1987, 180. 345

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ses Argument inhaltlich verfängt und ob ein solches Szenario nicht vielmehr weitgehend konstruiert ist, schützt die Regelung unter diesem Aspekt laut Hill­gruber jedenfalls wiederum Personen auch gegen ihren Willen: Denn indem sie sich zu der nicht angeschnallten Mitfahrerin in das Fahrzeug setzen, gefährden sie sich selbst.351 Neben den direkt paternalistischen Aspekten der Regelung wird insoweit auch ein indirekt paternalistisches Argument begründet, in dessen Rahmen zwar die Adressatin der Regelung und das Schutzobjekt nicht identisch sind, der Schutz aber dennoch auch gegen den Willen der zu Schützenden erfolgen kann. Da die Betroffene zudem zwar nicht zwingend die Details der Gefahren kennt, die sie unangeschnallt oder ohne Schutzhelm im Straßenverkehr erwarten, wohl aber in der Regel die grundsätzliche Risikonähe ihres Verhaltens352 und sich insofern autonom gegen die Sicherheitsvorkehrungen entscheiden kann, entfalten Sicherheitsgurtund Schutzhelmpflicht jedenfalls auch eine stark paternalistische Wirkung. 2. Zwangsuntersuchung, -behandlung und -ernährung von Gefangenen Gemäß § 101 Abs. 1 S. 1 Strafvollzugsgesetz (StVollzG)353 sind bei Lebens- oder schwerwiegender Gesundheitsgefahr für Strafgefangene sowohl zwangsweise medizinische Untersuchungen und Behandlungen als auch zwangsweise Ernährung zulässig, soweit diese zumutbar und nicht erheblich lebens- oder gesundheitsgefährdend sind. Denkbar sind somit Konstellationen, in denen die Gefangene, die sich freien Willens beispielsweise zu einem Hungerstreik entschließt, gegen ihren Willen vor einer Gesundheitsschädigung oder dem Hungertod bewahrt wird. Mitunter wird angenommen wird, die Regelung diene dem Schutz öffent­ licher Belange – etwa dem Schutz der Durchführung des Hauptverfahrens, den die Untersuchungshaft unter anderem bezweckt354 oder dem Schutz politischer Entscheidungsträgerinnen vor entsprechendem Druck.355 Eine zentrale Rolle spielt jedoch  – bei autonom wie bei defizitär getroffenen Entscheidungen  – auch der Schutz der Betroffenen.356 Hinter dieser auch-paternalistischen Zwecksetzung stehen jedoch weitergehende Aspekte: Zum einen dient ein Hungerstreik regelmäßig nicht der Selbstschädigung, sondern einem darüber hinausgehenden Ziel, das durch die mit der Nahrungsver 351

Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 103. Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 136. 353 Im Sinn der Einfachheit soll vorliegend auf die bundesgesetzliche Regelung Bezug genommen werden, die insoweit allgemeine Aussagekraft entfaltet, als sie in den Ländern ohne eigene Strafvollzugsgesetze weiterhin Wirkkraft entfaltet und die de facto erlassenen Strafvollzugsgesetze einzelner Länder sinngemäße oder sogar wortgleiche Parallelregelungen enthalten, s. dazu auch Ertem, in: Beck (Hrsg.), Gehört mein Körper noch mir?, 2012, S. 253 (257 f.). 354 Klimpel, Bevormundung oder Freiheitsschutz?, 2003, S. 107 m. w. N.; Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 60. 355 Klimpel, Bevormundung oder Freiheitsschutz?, 2003, S. 108 f. m. w. N. 356 Starck, in: von Mangoldt / ​Klein / ​Starck (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2010, Art. 1 Abs. 1 Rn. 61. 352

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weigerung einhergehende Bedrohung erreicht werden soll. So geht etwa Klimpel davon aus, dass die Zwangsernährung sich deshalb zwar über den aktuellen Willen der Betroffenen hinwegsetzt, nicht aber im Widerspruch zum grundsätzlichen Willen der Betroffenen stehe.357 Die Autonomie sei somit gewahrt und der mit der Zwangsernährung einhergehende Eingriff gerechtfertigt.358 Zum anderen wird auf die besondere Schutzbedürftigkeit von Gefangenen rekurriert: Zwar erscheint es in der Tat naheliegend, dass die mit der Inhaftierung einhergehende Beeinträchtigung der körperlichen Freiheit und der Entscheidungsfreiheit ebenso wie die naturgemäß unausweichliche hierarchische Einordnung durch die Inhaftierung einen enormen Einfluss auf die Möglichkeit und Fähigkeit zur freien Willensbildung hat. Da trotz der widrigen Umstände und der unzweifelhaft bestehenden besonderen Schutzbedürftigkeit von Gefangenen eine autonome Entscheidung jedoch grundsätzlich möglich bleibt,359 entfaltet die Regelung im Ergebnis jedenfalls auch stark paternalistische360 Wirkung. 3. Patientenverfügungen Der inzwischen gesetzlich geregelten Verbindlichkeit von Patientenverfügungen gemäß § 1901a Abs. 1 S. 2 BGB kommt grundsätzlich eine antipaternalistische Wirkung zu, da sie der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Patientinnen zu dienen bestimmt ist.361 Gemäß § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB können einwilligungsfähige Volljährige für den Fall ihrer Einwilligungsunfähigkeit im Rahmen einer Patientenverfügung schriftlich festlegen, ob sie in bestimmte, zum Zeitpunkt der Festlegung noch nicht unmittelbar bevorstehende Untersuchungen ihres Gesundheitszustands, Heilbehandlungen oder ärztliche Eingriffe einwilligen oder sie untersagen.362 Die mit dem Dritten Gesetz zur Änderung des Betreuungs 357

Klimpel, Bevormundung oder Freiheitsschutz?, 2003, S. 117. Klimpel, Bevormundung oder Freiheitsschutz?, 2003, S. 117. Zu Klimpels grundsätzlicher Herangehensweise an die Rechtfertigung paternalistischer Regelung, die sich in diesem Anwendungsbeispiel wiederspiegelt im zweiten Kapitel unter B. III. 1. e). 359 Siehe dazu ausführlich im vierten Kapitel unter D. 360 Ebenfalls als paternalistisch bezeichnet Klimpel die Regelung, ders., Bevormundung oder Freiheitsschutz?, 2003, S. 118. Im Ergebnis ähnlich auch Isensee: „So bildet die Zwangsernährung eines hungerstreikenden Strafgefangenen einen Eingriff in seine allgemeine Handlungsfreiheit und in seine körperliche Unversehrtheit. Der Eingriff ist nicht zu rechtfertigen, solange der Betroffene der Selbstbestimmung fähig ist.“ ders., in: Isensee / ​Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IX, 3. Aufl. 2011, § 191 Rn. 245. Zu einer Verletzung des Selbstbestimmungsrechts und der Menschenwürde bei Annahme eines auf der staatlichen Fürsorgepflicht basierenden Eingriffsrechts Ertem, in: Beck (Hrsg.), Gehört mein Körper noch mir?, 2012, S. 253 (269). 361 Vgl. den Gesetzentwurf, BT-Drs. 16/8442, S. 3. Siehe zum Ganzen Kaufmann, Patientenverfügungen zwischen Selbstbestimmung und staatlicher Fürsorge, 2015; Verrel / ​Simon, Patientenverfügungen, 2010. 362 Siehe zu Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht im deutschen Recht unter Berücksichtigung neuester BGH-Rechtsprechung Spranger, Sozialrecht und Praxis 2017, 595 (595–598). 358

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rechts vom 29. Juli 2009363 in das BGB eingefügten Regelungen haben jedoch auch paternalistische Anteile. So können die verfahrensrechtlichen Regelungsanteile zum Schutz der Betroffenen364 auch gegen den Willen derselben wirken. Dies gilt insbesondere für die Prüfungspflicht und den damit einhergehenden Einschätzungsspielraum der Betreuerin bzw. Vorsorgebevollmächtigten dahingehend, ob die Festlegungen in der Patientenverfügung auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation der Betroffenen zutreffen oder nicht (§ 1901a Abs. 1 S. 1 BGB). Diesem zusätzlichen Schutz kann sich die Verfasserin einer Patientenverfügung nicht entziehen.365 Dies gilt auch für das in § 1901b BGB geregelte Gespräch zur Feststellung des Patientenwillens, in dessen Rahmen die behandelnde Ärztin prüft, welche ärztliche Maßnahme im Hinblick auf den Gesamtzustand und die Prognose der Patientin indiziert ist und diese Maßnahme mit der Betreuerin bzw. Vorsorgebevollmächtigten unter Berücksichtigung des Patientenwillens erörtert. Gerade die Bezugnahme auf die medizinische Indikation der Behandlung kann zum Einfallstor366 für ein schützendes Hinwegsetzen über den Patientenwillen werden. Auch das Erfordernis der Bestimmtheit und der Schriftlichkeit der Patientenverfügung in § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB dient der Absicherung der Betroffenen, kann aber zugleich Wirkung gegen ihren Willen entfalten. 4. Arbeitsschutzregelungen Auch Regelungen im Arbeitsschutz enthalten paternalistische Anteile. So sind Beschäftigte gemäß § 15 Abs. 1 S. 1 ArbSchG dazu verpflichtet, für ihre Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit Sorge zu tragen. Die Arbeitgeberin muss ihren Arbeitnehmerinnen den gemäß § 3 ArbSchG erforderlichen Schutz zur Verfügung stellen und die Arbeitnehmerinnen anweisen, diesen Schutz auch wahrzunehmen. Zwar wird mitunter argumentiert, die Regelungen bezweckten den Schutz der Allgemeinheit vor einer Belastung der Sozialversicherung; zudem komme der Freiwilligkeit einer selbstgefährdenden Entscheidung in Anbetracht der Abhängigkeit vom eigenen Arbeitsplatz eine nur untergeordnete Bedeutung zu.367 Die von dem Schutzbedürfnis der konkreten Arbeitnehmerin unabhängige Sorgfaltspflicht der Arbeitgeberin bringt indes den auch indirekt paternalistischen Charakter der Regelungen zum Ausdruck: Selbst wenn die Arbeitnehmerin in Kenntnis der Gefahr handelte und sich willentlich über die Schutzvorschriften hinweggesetzt hat, trifft die Arbeitgeberin strafrechtliche Verantwortlichkeit.368

363

BGBl. 2009 I S. 2286. BT-Drs. 16/8442, S. 3. 365 Vgl. Reimer, Die Forschungsverfügung, 2017, S. 196. 366 So Reimer, Die Forschungsverfügung, 2017, S. 219. 367 Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 73. 368 OLG Naumburg 25.3.1996 – 2 Ss 27/96 – NStZ-RR 1996, 229–232; Puppe, Strafrecht Allgemeiner Teil im Spiegel der Rechtsprechung, 3. Aufl. 2016, § 6 Rn. 17. 364

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Dworkin weist jedoch auch auf den gemeinschaftsschützenden Aspekt – etwa einer zwingenden 40-Stunden-Woche – hin, der neben den paternalistischen Anteilen entsprechender Regelungen stehe: Demnach diene die Freiheitsbeschränkung der Einzelnen, die mit derartigen Vorschriften einhergehe, nicht nur ihrem Schutz, sondern sei vielmehr das einzige geeignete Mittel, um einen Schutz für alle zu erreichen.369 Der gemeinschaftliche Nutzen könne nur durchgesetzt werden, wenn die Regelungen zwingend für alle gelten.370 Entsprechenden Einschränkungen kommen neben paternalistischen somit auch allgemeinheitsschützende Wirkungen zu. 5. Sozialversicherungspflicht In Deutschland besteht unter anderem für abhängig Beschäftigte eine Versicherungspflicht in der Arbeitslosenversicherung (§§ 24 ff. SGB III), in der Krankenversicherung (§ 5 SGB V), in der Rentenversicherung (§§ 1 ff. SGB VI), in der Pflegeversicherung (§§ 20 ff. SGB XI) und in der Unfallversicherung (§ 2 SGB VII). Die Sozialversicherung dient laut Bundesverfassungsgericht „der sozialen Sicherung und dem sozialen Ausgleich, namentlich dem Schutz der sozialen Existenz gegen die Wechselfälle des Lebens“371 und „enthält von jeher auch ein Stück staatlicher Fürsorge“.372 Sie schützt vor dem finanziellen Risiko, das mit Arbeitslosigkeit, Krankheit, Alter, Unfällen und Pflegebedürftigkeit einhergeht373 – und soweit dieser Schutz verpflichtend ausgestaltet ist, kommt ihm auch eine paternalistische Wirkung zu. Der individuelle Schutzaspekt ist jedoch regelmäßig nicht das alleinige Ziel sozialrechtlicher Pflichtversicherungen:374 So dient die Pflichtversicherung neben dem Schutz der sozial Bedürftigen auch dem sozialen Ausgleich zwischen Versicherten mit niedrigerem und höherem Einkommen.375 Heinig hält das Sozialversicherungssystem sowohl generell unter dem Aspekt der Versicherungspflicht und des „Prinzips des sozialen Schutzes“ als auch im Einzelfall für paternalistisch: Als Beispiel nennt er etwa den (heutigen) § 24 Abs. 2 SGB  II, nach welchem Arbeitslosengeld in Form von Sach- anstelle von Geldleistungen erbracht werden kann, wenn sich die Leistungsberechtigte im Einzelfall – etwa in Folge einer Suchterkrankung – als ungeeignet erweist, ihren Bedarf 369

Dworkin, in: Wasserstrom (Hrsg.), Morality and the Law, 1970, S. 107 (112). Dworkin, in: Wasserstrom (Hrsg.), Morality and the Law, 1970, S. 107 (112). 371 BVerfG 27.5.1970 – 1 BvL 22/63 u. a. – BVerfGE 28, 324 (348). 372 BVerfG 10.5.1960 – 1 BvR 190/58 u. a. – BVerfGE 11, 105 (114). 373 Für die gesetzliche Krankenversicherung etwa ausdrücklich BVerfG 4.2.2004  – 1  BvR 1103/03 – BVerfGK 2, 283 (287 f.). 374 So auch Littwin, der davon ausgeht, dass die Sozialversicherungspflicht auch dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung einer Alters- und Gesundheitsabsicherung diene, ders., Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 79; sowie Heinig, der vom „Prinzip des sozialen Schutzes“ spricht, das neben anderen sozialversicherungsrechtlichen Prinzipien regelmäßig von Relevanz sei, ders., in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 157 (175). 375 BVerfG 4.2.2004 – 1 BvR 1103/03 – BVerfGK 2, 283 (288). 370

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mit den gewährten Geldleistungen zu decken.376 Obwohl die Hilfeleistungen der Ausübung der Freiheitsrechte dienen sollen,377 findet an dieser Stelle eine Bevormundung zum eigenen Schutz statt. Hinsichtlich der paternalistisch wirkenden Aspekte der Versicherungspflicht gilt jedoch auch das soeben zu den Arbeitsschutzregelungen Ausgeführte: Die Verpflichtung der Einzelnen dient neben ihrem Schutz auch dem sozialen Ausgleich zwischen den Versicherten und dem Schutz des Interesses der Mehrheit an der Funktionstüchtigkeit, Effizienz und Sicherheit des Systems.378 6. Weitere Regelungen Zahlreiche weitere Regelungen weisen zumindest paternalistische Anteile auf379 – so etwa § 138 BGB, wonach die Sittenwidrigkeit ebenso wie der Wucher unter Ausbeutung einer Zwangslange, von Unerfahrenheit oder eines Mangels an Urteilsvermögen und Willensschwäche zur Nichtigkeit eines Rechtsgeschäfts 376 § 24 Abs. 2 SGB II: „Solange sich Leistungsberechtigte, insbesondere bei Drogen- oder Alkoholabhängigkeit sowie im Falle unwirtschaftlichen Verhaltens, als ungeeignet erweisen, mit den Leistungen für den Regelbedarf nach § 20 ihren Bedarf zu decken, kann das Arbeits­ losengeld II bis zur Höhe des Regelbedarfs für den Lebensunterhalt in voller Höhe oder anteilig in Form von Sachleistungen erbracht werden.“, s. dazu Heinig, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 157 (173). 377 Heinig, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 157 (173). 378 Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 18. 379 Stark paternalistischen Charakter hatten zum Beispiel die §§ 1, 8 TSG a. F., die als Voraussetzung für die Änderung des Vornamens und der Geschlechtszugehörigkeit von Transsexuellen eine Altersgrenze von 25 Jahren vorsahen. Laut Regierungsentwurf zum TSG sollte diese Altersgrenze sicherstellen, dass die Reifung des jungen Menschen zum Zeitpunkt der Entscheidung bereits abgeschlossen sei und dieser in der Zeit bis zum 25. Lebensjahr, in der sich die Lebensumstände möglicherweise noch erheblich verändern, prüfen kann, ob er mit allen Konsequenzen in der Rolle des anderen Geschlechts leben möchte, BT-Drs. 8/2947, S. 14 f. Diese Zwecksetzung hielt auch das BVerfG grundsätzlich für grundgesetzkonform, da der Gesetzgeber zu Regelungen, die in Art. 2 Abs. 1 GG eingreifen, befugt sei, „wenn sie den Betroffenen daran hindern sollen, sich selbst einen größeren persönlichen Schaden zuzufügen“. Der Gesetzgeber könne die Durchführung der geschlechtsangleichenden Operation deshalb verfassungsrechtlich zulässigerweise an ein bestimmtes Alter anknüpfen, „sofern [er damit] erreichen wollte, daß der schwere medizinische Eingriff erst erfolgen solle, wenn eine Rückkehr des Transsexuellen zu seinem ursprünglichen Geschlecht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr zu erwarten ist.“, BVerfG 16.3.1982 – 1 BvR 938/81 – BVerfGE 60, 123 (132). Siehe zu den paternalistischen Anteilen und weiterer Kritik Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 77 f. Im Ergebnis erklärte das BVerfG beide Regelungen wegen einer Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG für nichtig, da sie nicht die operative Geschlechtsumwandlung mit einer Altersgrenze versahen, sondern die personenstandsrechtliche Änderung des Geschlechts bzw. des Vornamens. Damit sei der bereits geschlechtsanpassend operierte unter-25-Jährige trotz im Übrigen gleicher Verhältnisse ohne sachlichen Grund anders behandelt worden als der geschlechtsanpassend operierte über-25-Jährige, BVerfG 16.3.1982 – 1 BvR 938/81 – BVerfGE 60, 123 (133); BVerfG 26.1.1993 – 1 BvL 38/92 u. a. – BVerfGE 88, 87 (98).

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führen. Insoweit kommt es zu einem „Schutz des Schwächeren vor dem Stärkeren“,380 der auch gegen den Willen des Schwächeren erfolgen und insoweit paternalistisch wirken kann.381 Ähnlich verhält es sich mit den Formvorschriften im Bürgerlichen Recht, die – zumindest hinsichtlich ihrer Warnfunktion, z. B. im Rahmen des § 311b BGB – auch einen paternalistischen Übereilungsschutz bezwecken. Paternalistische Aspekte enthalten ferner das Ehevertragsrecht und das Verbraucherkreditrecht.382 Auch die Regelungen von Anwaltszwang und notwendiger Verteidigung (so etwa in § 78 ZPO, § 73 Abs. 4 SGG, § 140 StPO, § 114 FamFG) sowie das Verbot anwaltlicher Vertretung bei widerstreitenden Interessen (§ 3 Abs. 2 BORA) dienen unter anderem dem Schutz der Betroffenen gegen ihren eigenen Willen.383 Neben dem Schutz der Allgemeinheit und der öffentlichen Ordnung durch die Verhinderung von Manipulationen und der Ausbreitung von organisiertem Verbrechen384 enthält ferner die Reglementierung von Glücksspiel nach den §§ 33c ff. GewO und § 284 StGB einen paternalistischen Anteil, soweit sie „zur Eindämmung der Betätigung des Spieltriebs, zum Schutze […] der Spieler sowie im Interesse des Jugendschutzes“ (§ 33f Abs. 1 GewO) erfolgt. Sie schützt die Spielsüchtigen durch Eingrenzung der Spielmöglichkeiten zumindest auch gegen ihren Willen vor einer Selbstschädigung, an der Dritte beteiligt sind.385 Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht das staatliche Sportwetten-Monopol unter anderem im Sinne der Bekämpfung der Spiel- und Wettsucht und damit auch aus paternalistischen Gründen für zulässig befunden.386 Es betonte in diesem Zusammenhang jedoch, dass diese „zu schwerwiegenden Folgen nicht nur für die Betroffenen selbst, sondern auch für ihre Familien und für die Gemeinschaft führen“ könne.387 Es gibt zudem eine Vielzahl schein-paternalistischer Regelungen, die im Rahmen der Debatte auftauchen und die im Einzelfall paternalistisch wirken können, primär jedoch eine andere Zielsetzung verfolgen: So ist etwa denkbar, dass § 1 PflVG, der von jeder Halterin eines Kraftfahrzeugs den Abschluss einer Haftpflichtversicherung verlangt, paternalistische Wirkung entfaltet, insoweit die Adressatinnen der Regelung (potentiell auch gegen ihren Willen) davor geschützt werden, sich ohne 380

Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, 1997, S. 262. 381 Siehe zu den paternalistischen Anteilen von § 138 Abs. 1 BGB Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 172, 382–410. Siehe auch Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 265 zu Zinswucher und zum Schutz vor Ausbeutung im dritten Kapitel unter C. I. 3. b) aa). Grundsätzlich zu den paternalistischen Grenzen vertraglicher Selbstbindung Schmolke, Grenzen der Selbstbindung im Privatrecht, 2014, S. 73–86. 382 Dazu ausführlich Schmolke, Grenzen der Selbstbindung im Privatrecht, 2014, S. 271–522, 705–910. 383 Siehe dazu Maier-Reimer, NJW-Editorial Heft 17/2013. 384 Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 81. 385 Fischer geht davon aus, dass die Reglementierung des Glücksspiels „als Schutz des Schwächeren vor dem Stärkerem“ zu verstehen ist, ders., Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, 1997, S. 262. 386 BVerfG 28.3.2006 – 1 BvR 1054/01 – BVerfGE 115, 276 (304 f.). 387 BVerfG 28.3.2006 – 1 BvR 1054/01 – BVerfGE 115, 276 (305).

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Versicherung im Straßenverkehr der Gefahr einer Schädigung auszusetzen, deren Ausgleich sie wirtschaftlich stark belasten könnte. Im Fokus der Zwecksetzung steht jedoch der Schutz Dritter vor einer Schädigung durch nicht solvente Straßenverkehrsteilnehmerinnen, der durch das Einspringen der Pflichtversicherung gewährleistet wird.388 Ebenso könnte die Begrenzung der Zugänglichmachung pornographischer Schriften gemäß § 184 StGB und § 119 Abs. 3 OWiG als paternalistischer Schutz der Einzelnen vor ihr schadenden Aufnahmen gesehen werden; vorherrschender Regelungszweck ist aber wohl das Verhindern der Anregung von gewalttätigem Sexualverhalten und der Schutz Jugendlicher sowie Erwachsener „vor ungewollter Konfrontation“389 und damit ein nicht-paternalistischer – gegebenenfalls aber moralistischer – Drittschutz. Auch die Landesnichtraucherschutzgesetze führen zu einem Gesundheitsschutz der Raucherinnen gegen ihren Willen, in dem sie den selbstschädigenden Tabakkonsum an bestimmten Orten unterbinden. Sie dienen jedoch vornehmlich dem nicht-paternalistischen Schutz Dritter vor den Gesundheitsgefahren, die mit dem Passivrauchen einhergehen.390 Ebenso können Verbraucherschutzregelungen im Einzelfall paternalistische Wirkungen entfalten – der Zweck entsprechender Vorschriften ist jedoch in der Regel nicht das Auf­ drängen eines ungewollten Schutzes,391 sondern der Schutz des gesellschaftlichen Interesses an der Wahrung von Qualitätsstandards.392 7. Resümee Außerhalb der „klassischen“ paternalistischen Beschränkungen in Zusammenhang mit dem Schutz des Lebens und der Gesundheit, haben auch weitere, per se unverdächtigere Regelungskomplexe paternalistische Anteile. Vielfach sind die mit-beabsichtigten paternalistischen Wirkungen jedoch  – wie etwa im Rahmen des Arbeits- und Verbraucherschutzes, der Sozialversicherungspflicht und des Dopings  – aus dritt- und systemschützenden Gründen unproblematisch außer­ paternalistisch zu rechtfertigen. 388

Lampe, in: Erbs / ​Kohlhaas (Hrsg.), Strafrechtliche Nebengesetze, 217. Lfg. 2017, § 1 PflVG Rn. 1; Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 80. 389 Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 89 m. w. N. 390 So ausdrücklich beispielsweise § 1 NRSchG Sachsen-Anhalt, der insbesondere den Schutz von Kindern und Kranken betont; § 1 BremNiSchG; § 1 RPNRSchG und das BVerfG: „Die Raucher werden hierbei nicht in unzulässiger Weise bevormundet, ihnen wird insbesondere kein Schutz vor Selbstgefährdung aufgedrängt […]. Die Landesnichtraucherschutzgesetze zielen weder auf Suchtprävention noch auf den Schutz des Einzelnen vor sich selbst. Ihr Ziel ist vielmehr der Schutz vor den Gefahren des Passivrauchens […]. Es geht um den Schutz der Gesundheit nicht des Rauchers, sondern der Gesundheit der anderen Personen, die in der jeweiligen Situation nicht selbst rauchen.“, BVerfG, 30.7.2008 – 1 BvR 3262/07 – BVerfGE 121, 317 (359). Siehe auch Köhler, ZStW 104 (1992), 3 (27); Schramme, JWE 2009, 147 (155); von Vernebelung und Umgehung der Paternalismus-Problematik spricht hingegen Huster, Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und Gesundheit, 2015, S. 23 f. 391 Siehe dazu auch Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 20 f. 392 Vgl. dazu auch im dritten Kapitel unter C. VII. 1.

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III. Normierter Paternalismus gegenüber Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen In vielen Bereichen existieren Regelungen, die Menschen, die kognitiv beeinträchtigt sind und die die Rechtsordnung als nicht oder noch nicht vollumfänglich entscheidungsfähig einstuft, (auch) gegen ihren Willen vor sich selbst schützen. Solchen schwach paternalistischen Regelungen kommt nach ihrer Grundkonzeption eine breite Akzeptanz zu.393 1. Unterbringung bei Selbstgefährdung gegen den Willen der Betroffenen Sowohl die §§ 1906 Abs. 1, 1631b BGB394 als auch die Gesetze für psychisch Kranke bzw. psychische Krankheiten (PsychKG oder Unterbringungsgesetze) der Länder regeln die Unterbringung von Kindern, psychisch Kranken und Betreuten gegen ihren Willen im Falle einer Selbstgefährdung. Voraussetzung für eine psychiatrische Zwangseinweisung ist beispielsweise in Nordrhein-Westfalen unter anderem eine gegenwärtige, erhebliche Selbstgefährdung durch krankheitsbedingtes Verhalten, die nicht anders abgewendet werden kann, vgl. § 11 Abs. 1 S. 1 PsychKG NRW.395 Der Regelung liegt zugrunde, dass das krankheitsbedingte Verhalten regelmäßig mit einem Autonomiedefizit einhergeht – insoweit ist sie schwach paternalistisch ausgerichtet. Faktisch werden Zwangseinweisungen vielfach mit der 393

Zur Rechtfertigung entsprechender Regelungen im zweiten Kapitel unter B. IV. § 1906 Abs. 1 BGB: „Eine Unterbringung des Betreuten durch den Betreuer, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, ist nur zulässig, solange sie zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, weil 1. auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung des Betreuten die Gefahr besteht, dass er sich selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt, oder 2. zur Abwendung eines drohenden erheblichen gesundheitlichen Schadens eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff notwendig ist, die Maßnahme ohne die Unterbringung des Betreuten nicht durchgeführt werden kann und der Betreute auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der Unterbringung nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann.“; § 1631b Abs. 1 BGB: „Eine Unterbringung des Kindes, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, bedarf der Genehmigung des Familiengerichts. Die Unterbringung ist zulässig, solange sie zum Wohl des Kindes, insbesondere zur Abwendung einer erheblichen Selbst- oder Fremdgefährdung, erforderlich ist und der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch andere öffentliche Hilfen, begegnet werden kann. Ohne die Genehmigung ist die Unterbringung nur zulässig, wenn mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist; die Genehmigung ist unverzüglich nachzuholen.“ 395 § 11 Abs. 1 S. 1 PsychKG NRW: „Die Unterbringung Betroffener ist nur zulässig, wenn und solange durch deren krankheitsbedingtes Verhalten gegenwärtig eine erhebliche Selbstgefährdung oder eine erhebliche Gefährdung bedeutender Rechtsgüter anderer besteht, die nicht anders abgewendet werden kann.“ So nahezu gleichlautend auch beispielsweise § 8 Abs. 1 S. 1 PsychKG Berlin; § 11 Abs. 1 S. 1 PsychKG Rheinland-Pfalz; § 9 Abs. 1, 2 PsychKG Bremen; § 7 Abs. 1 PsychKG Schleswig-Holstein. 394

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Erfahrung gerechtfertigt, dass temporäre Krisen durch entsprechende Behandlung überwunden werden können;396 rechtlich bedarf es einer erheblichen Selbstgefährdung397 sowie der Erforderlichkeit der Maßnahme, die ausschließlich als ultima ratio eingesetzt werden darf. Parallel liegt insoweit die ebenfalls schwach paternalistische Befugnis der Polizei zur Ingewahrsamnahme zum Schutz von Personen vor einer Gefahr für Leib oder Leben, die insbesondere auf Fälle zugeschnitten ist, in denen sich die Betroffenen erkennbar in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand oder sonst in hilfloser Lage befindet.398 2. Medizinische Zwangsbehandlung Ebenso verhält sich die Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme durch die Betreuerin nach § 1906a Abs. 1 S. 1 BGB, die erteilt werden kann, wenn sie – neben weiteren Voraussetzungen – zur Abwendung eines drohenden erheblichen gesundheitlichen Schadens notwendig, verhältnismäßig, zur Gesunderhaltung alternativlos und erforderlich ist und die Betreute auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann.399 Da die Regelung bereits tatbestandlich nur eingreift, wenn ein Autonomiedefizit vorliegt, gehen auch von dieser Norm regelmäßig schwach paternalistische Eingriffe zum Schutz der Betreuten gegen ihren Willen aus. 396

Beauchamp, JWE 2009, 77 (87). Die akute Selbstgefährdung wird regelmäßig eng in Richtung Suizidgefahr ausgelegt, vgl. Schöne-Seifert, JWE 2009, 107 (124). 398 So etwa in § 35 Abs. 1 Nr. 1 PolG NRW, § 28 PolG BW, § 13 PolG Saarland oder § 22 SächsPolG. 399 § 1906a Abs. 1 S. 1 BGB: „Widerspricht eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff dem natürlichen Willen des Betreuten (ärztliche Zwangsmaßnahme), so kann der Betreuer in die ärztliche Zwangsmaßnahme nur einwilligen, wenn 1. die ärztliche Zwangsmaßnahme zum Wohl des Betreuten notwendig ist, um einen drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden abzuwenden, 2. der Betreute auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann, 3. die ärztliche Zwangsmaßnahme dem nach § 1901a zu beachtenden Willen des Betreuten entspricht, 4. zuvor ernsthaft, mit dem nötigen Zeitaufwand und ohne Ausübung unzulässigen Drucks versucht wurde, den Betreuten von der Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeugen, 5. der drohende erhebliche gesundheitliche Schaden durch keine andere den Betreuten weniger belastende Maßnahme abgewendet werden kann, 6. der zu erwartende Nutzen der ärztlichen Zwangsmaßnahme die zu erwartenden Beeinträchtigungen deutlich überwiegt und 7. die ärztliche Zwangsmaßnahme im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus, in dem die gebotene medizinische Versorgung des Betreuten einschließlich einer erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt ist, durchgeführt wird.“ Zu der ähnlichen Vorgängerregelung in § 1906 Abs. 3 BGB a. F. Deutsch / ​Spickhoff, Medizinrecht, 7. Aufl. 2014, Rn. 1212 und BVerfG 26.7.2016 – 1 BvL 8/15 – NJW 2017, 53–60. 397

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3. Schutz Minderjähriger Auch die Regelungen zum Schutz Minderjähriger, vornehmlich in den §§ 104 ff. BGB sowie den Regelungen des Jugendschutzgesetzes und des Jugendarbeitsschutzgesetzes, gewähren Schutz (auch) gegen den Willen der Betroffenen. Während das Minderjährigenrecht im BGB insbesondere die Minderjährige, die sich vertraglich binden will, paternalistisch gegen ihren Willen vor zukünftigen Belastungen durch solche Verbindlichkeiten schützen will, bezwecken das Jugendschutzgesetz und das Jugendarbeitsschutzgesetz die Bewahrung Minderjähriger vor Schäden durch Alkohol- und Tabakkonsum, durch unbeaufsichtigten nächtlichen Besuch in Gaststätten, jugendgefährdende Medien sowie durch gefährliche und zeitintensive Arbeit. Auch wenn Minderjährige nicht zwingend unfähig sind, selbstbestimmte und autonome Entscheidungen zu treffen, steht hinter den generalisierenden Altersgrenzen die Idee der altersmäßig eingeschränkten Fähigkeit zum Treffen vollumfänglich autonomer Entscheidungen.400

IV. Paternalismus in der Rechtsprechung Auf die in Teilen paternalistisch orientierten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Cannabisverbot, zur Schutzhelmtragepflicht sowie zur Gurtpflicht wurde bereits im Kontext der entsprechenden Vorschriften eingegangen.401 Vornehmlich in Zusammenhang mit einer möglichen Verletzung der Menschenwürde bediente sich die Rechtsprechung auch außerhalb dieser Regelungen paternalistischer Argumente. 1. Das Peep-Show-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts Mit Urteil vom 15.12.1981 entschied das Bundesverwaltungsgericht, dass sogenannte „Peep-Shows“ den guten Sitten zuwiderliefen und ihnen die nach § 33a GewO erforderliche Erlaubnis deshalb versagt werden müsse.402 Die Sittenwidrigkeit ergebe sich in Folge der besonderen Umstände bei einer Peep-Show, namentlich des mechanisierten Bezahlvorgangs, bei dem der Anblick der Frau wie Ware eines Automaten verkauft werde und des nur einseitig möglichen Sichtkontakts, durch den die Frau wie eine Sache als bloßes Anregungsobjekt angeboten werde. Die Show stelle deshalb eine Erniedrigung dar, die die Frau in ihrer Menschenwürde verletze.403 Auch wenn sich die Frauen aus freien Stücken zur Teilnahme an 400

Zur Rechtfertigung entsprechender Regelungen siehe im zweiten Kapitel unter B. V. 6. Siehe dazu unter B. I. 1. und B. II. 1. Ausführungen zu der paternalistischen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Lebendorganspende (BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399) folgen im dritten Kapitel dieser Arbeit. 402 BVerwG 15.12.1981 – 1 C 232/79 – BVerwGE 64, 274 [„Peep-Show“]. 403 BVerwG 15.12.1981 – 1 C 232/79 – BVerwGE 64, 274 (278 f.) [„Peep-Show“]. 401

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einer Peep-Show entschlössen, komme es zu dieser Menschenwürdeverletzung, da die Menschenwürde objektiv und unverfügbar sei und wegen ihrer über den Einzelfall hinausreichenden Bedeutung auch gegen den Willen der Betroffenen selbst zu verteidigen sei.404 Die Ausübung einer solchen Peep-Show unterstünde auf Grund des gewerberechtlichen Erlaubnisvorbehalts der Mitverantwortung des Staates, der wiederum nach Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG dem Schutz der Menschenwürde verpflichtet sei.405 Indem das Bundesverwaltungsgericht in dieser Entscheidung ein Verhalten, das auf einer freiverantwortlichen Entscheidung beruht, zum Schutz der Menschenwürde der Betroffenen selbst untersagt, argumentiert es stark paternalistisch.406 2. Der Zwergenweitwurf-Beschluss des Verwaltungsgerichts Neustadt Das Verwaltungsgericht Neustadt entschied in seinem weithin bekannt gewordenen sogenannten Zwergenweitwurf-Beschluss vom 21.5.1992, dass eine Veranstaltung, bei der sich kleinwüchsige Menschen von zahlenden Kundinnen möglichst weit werfen lassen, in Folge eines Menschenwürdeverstoßes sittenwidrig und eine entsprechende Untersagungsverfügung nicht zu beanstanden sei.407 Der Menschenwürdeverstoß ergebe sich insbesondere daraus, dass die Geworfene wie ein Sportgerät benutzt und damit entwürdigt und zum Objekt gemacht werde.408 Da auf die Menschenwürde nicht wirksam verzichtet werden könne, komme es auch bei einer freiwilligen Teilnahme zu einer Menschenwürdeverletzung.409 Auch 404

BVerwG 15.12.1981 – 1 C 232/79 – BVerwGE 64, 274 (279 f.) [„Peep-Show“]. BVerwG 15.12.1981 – 1 C 232/79 – BVerwGE 64, 274 (279) [„Peep-Show“]. In einer späteren Entscheidung hat das BVerwG das Verbot von Peep-Shows dann nicht mehr auf seine ursprüngliche Menschenwürdeargumentation, sondern – moralistisch – auf einen offenkundigen Verstoß gegen das herrschende Wertempfinden (siehe dazu Discher, JuS 1991, 642 (647–649)) gestützt: „Mit ihm verweist das Gesetz auf die dem geschichtlichen Wandel unterworfenen sozialethischen Wertvorstellungen, die in der Rechtsgemeinschaft als Ordnungsvoraussetzungen anerkannt sind. […] Als Indizien für eine in der Rechtsgemeinschaft vorherrschende Überzeugung kommen u. a. die Behördenpraxis, die Rechtsprechung und die von ihnen ausgelösten Reaktionen der Öffentlichkeit in Betracht.“, BVerwG 30.1.1990 – 1 C 26/87 – BVerwGE 84, 314 (317 f.). 406 Zu den paternalistischen Anteilen der Idee einer Unverfügbarkeit der Menschenwürde und eines damit einhergehenden objektiven Begriffsverständnisses im zweiten Kapitel unter B. II. 3. b) aa). In der Einordnung ebenso Vossenkuhl, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 163 (168). 407 VG Neustadt 21.5.1992 – 7 L 1271/92 – NVwZ 1993, 98 [„Zwergenweitwurf“]. 408 VG Neustadt 21.5.1992 – 7 L 1271/92 – NVwZ 1993, 98 (99) [„Zwergenweitwurf“]. 409 VG Neustadt 21.5.1992 – 7 L 1271/92 – NVwZ 1993, 98 (99) [„Zwergenweitwurf“]. Auf gleicher Linie wie das VG Neustadt und das BVerwG argumentieren die Vertreter der Ansicht, die Fernsehsendung „Big Brother“, bei der die Kandidaten ohne Kontakt zur Außenwelt in einem Container leben und dort 24 Stunden am Tag von Fernsehkameras beobachtet werden, verstoße gegen die Menschenwürde, s. etwa Hinrichs, NJW 2000, 2173 (2175); Schmitt Glaeser, ZRP 2000, 395–402. Dagegen Köhne, ZRP 2001, 435 f. So argumentiert etwa Hinrichs, die Show objektiviere die Kandidaten, „indem ihr intimstes soziales Verhalten an den anonym konsumierenden Zuschauer vermarktet wird“, dies., NJW 2000, 2173 (2175). Da die Kandida 405

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diesem Beschluss liegt in Form des aufgedrängten Menschenwürdeschutzes gegen den explizit geäußerten und autonom gebildeten Willen des Betroffenen, der das Verfahren selbst als Antragsteller betrieben hatte, ein direkter, starker Paternalismus zugrunde. 3. Der Laserdrome-Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts Das Bundesverwaltungsgericht entschied in seiner Auseinandersetzung mit der Betriebsuntersagung sogenannter „Laserdrome“ am 24.10.2001, dass die Veranstaltung solcher Spiele, bei denen Menschen „spielerisch getötet“ würden, infolge der damit einhergehenden „Tendenz zur Bejahung oder zumindest Bagatellisierung der Gewalt“ und der „möglichen Auswirkungen einer solchen Tendenz auf die allgemeinen Wertvorstellungen und das Verhalten in der Gesellschaft“ die Menschenwürde der Beteiligten trotz ihres Einverständnisses verletze.410 Obwohl dies insoweit anklingt, ist die Entscheidung nicht paternalistischer Natur: Denn das Bundesverwaltungsgericht betonte in den Gründen, dass es bei dem Spiel nicht zu einer Würdeverletzung der einwilligenden Mitspielerinnen komme,411 sondern das Spiel vielmehr deshalb gegen die Menschenwürde verstoße, weil „beim Spielteilnehmer eine Einstellung erzeugt oder verstärkt wird, die den fundamentalen Wert- und Achtungsanspruch leugnet, der jedem Menschen zukommt“ und davon „die Vorstellung von der Verfügbarkeit des Menschen als bloßes Objekt“ eingeschlossen werde.412 Zwar wurde diese Annahme in der Literatur mitunter kritisch gesehen413 – mangels Schutzes der einzelnen einwilligenden Mitbetroffenen gegen ihren Willen und mangels Möglichkeit einer Einwilligung der Allgemeinheit, ist die Annahme einer derartigen gemeinschaftsbezogenen Menschenwürdeverletzung jedoch nicht paternalistisch.

ten als „Mittel zum Zweck“ verwendet und ihre Intimsphäre damit gleichsam kommerzialisiert würden, vermöge ihre Einwilligung die Verletzung ihrer Menschenwürde nicht zu rechtfertigen, a. a. O. 410 BVerwG 24.10.2001 – 6 C 3/01 – BVerwGE 115, 189 (198–200). 411 BVerwG 24.10.2001 – 6 C 3/01 – BVerwGE 115, 189 (199). 412 BVerwG 24.10.2001 – 6 C 3/01 – BVerwGE 115, 189 (200). Dem entgegengesetzt und zugleich geradezu lehrbuchartig antipaternalistisch hat der bayrische Verwaltungsgerichtshof hinsichtlich der vergleichbaren Paintball-Spiele entschieden, dass diese weder die Menschenwürde der konkreten Spieler noch die Würde des Menschen als Gattungswesen verletzten. Die Menschenwürde des Einzelnen könne nicht verletzt sein, soweit es sich um autonomes Verhalten handele und „keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die betreffende Person aus psychischen oder physischen Gründen unfrei ist“, BayVGH 27.11.2012 – 15 BV 09.2719 – ZfBR 2013, 271 (272). Eine Würdeverletzung des Menschen als Gattungswesen liege bei regelkonformem Spiel mangels Erwecken der „Vorstellung von der Verfügbarkeit des Menschen als bloßem Objekt“ nicht vor, a. a. O, S. 273. 413 Kritisch etwa Scheidler, JURA 2009, 575–578.

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4. Der Polygraphen-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts Paternalistische Anteile enthält jedoch der Polygraphen-Beschluss vom 18.8.1981, in welchem das Bundesverfassungsgericht trotz Einwilligung und expliziten Wunsches des Beschwerdeführers davon ausgegangen ist, dass die Verwendung eines „Lügendetektors“ im Rahmen eines Strafverfahrens das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG verletze.414 Selbst bei angenommener Dispositionsbefugnis des Einzelnen über seine Rechte sei die Einwilligung mangels Entscheidungsfreiheit des von einer Freiheitsstrafe bedrohten Angeklagten unwirksam: Denn aus seiner Perspektive stelle die Untersuchung durch den Lügendetektor sich als derart günstige Gelegenheit dar, dass er sie im Grunde nicht ausschlagen könne.415 Dem Beschluss ist in der Literatur Kritik entgegen geschlagen.416 Insbesondere sei die Einwilligung nicht unwirksam, da ein Verwenden des Tests gegen den Angeklagten sicher unzulässig und es in dem in Frage stehenden Fall gerade um die Ent- und nicht die Belastung des Betroffenen gegangen sei.417 Auch die denkbare Entstehung eines „mittelbaren Einwilligungsdrucks“418 für andere Betroffene könne das Verbot einer Möglichkeit zur Entlastung des Einzelnen im konkreten Fall jedenfalls bei drohender Freiheitsstrafe nicht rechtfertigen.419 Da eine mögliche Drucksituation in der Tat nicht zwangsläufig zu einer unwirksamen Einwilligung des Betroffenen führt420 – und diese zudem nicht einmal konkret negative Auswirkungen nach sich ziehen kann, da allein eine mög­liche Entlastung der Betroffenen in Frage steht – stellt sich der Beschluss als stark paternalistisch dar: Er übergeht auch den autonomen Willen der Betroffenen zu ihrem vermeintlichen Schutz.421 In diesem Zusammenhang erscheint besonders problematisch, dass mit diesem paternalistischen „Schutz“ eine Beeinträchtigung der Rechte der Angeklagten auf eine wirksame Verteidigung und ein faires Verfahren422

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BVerfG 18.8.1981 – 2 BvR 166/81 – NJW 1982, 375. BVerfG 18.8.1981 – 2 BvR 166/81 – NJW 1982, 375. 416 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 138 f.; Höfling, NJW 1983, 1582; Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 245; Schwabe, NJW 1982, 367. 417 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 139; Schwabe, NJW 1982, 367. 418 Seiterle, Hirnbild und „Lügendetektion“, 2010, S. 279. 419 Seiterle, Hirnbild und „Lügendetektion“, 2010, S. 234, 281. 420 So auch Hillgruber: „Aus der Zwangslage, in der sich der Angeklagte befindet, folgt nicht ohne weiteres, daß er die für eine wirksame Einwilligung erforderliche Freiheit der Entscheidung nicht hat.“, ders., Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 138 f. 421 Seiterle spricht davon, dass ein „Grundrechtsschutz gegen sich selbst“ das Verbot bei wirksamer Einwilligung der Betroffenen nicht legitimieren könne, ders., Hirnbild und „Lügendetektion“, 2010, S. 234. 422 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 138 f. 415

1. Kap.: Rechtspaternalismus

89

einhergeht und er somit sogar eine Freiheitsstrafe der Betroffenen zur Folge haben kann.423 Der Bundesgerichtshof ist in Zusammenhang mit polygraphischen Untersuchungen von seiner ursprünglich paternalistischen Argumentation abgerückt. Während er im Jahr 1954 noch davon ausging, dass auch der freiwillige Einsatz von Polygraphen die Menschenwürde der Beschuldigten verletze, 424 gab er diese Rechtsprechung im Jahr 1998 zugunsten einer in der Sache antipaternalistischen Argumentation auf. Polygraphische Untersuchungen seien als Beweismittel auf wissenschaftlicher Grundlage demnach zwar ungeeignet,425 bei freiwilliger Mitwirkung der Beschuldigten verstoße ihr Einsatz jedoch nicht gegen die Menschenwürde. Dem Beschuldigten, die seine Entlastung erstrebt, könne „diese Möglichkeit nicht unter Hinweis auf die allgemein staatliche Verpflichtung zu Achtung und Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG) verwehrt werden. Ein solches Verbot bedeutet einen dem Willen und den Interessen des Beschuldigten widersprechenden, der Sache nach ungerechtfertigten „Schutz“ […].“426

V. Antipaternalistische Gegenbeispiele Es gibt jedoch auch eine Vielzahl selbstschädigender Handlungen, die nach deutschem Recht zulässig sind und bei denen der Wille der Betroffenen nicht zu ihrem Wohl übergangen wird. So bleiben, wie bereits angesprochen, die Selbstverletzung ebenso wie der Suizidversuch und die Beteiligung am Suizid straflos. Ebenfalls nicht vom Gesetzgeber eingeschränkt werden Gefälligkeitssterilisationen und andere medizinisch nicht indizierte Eingriffe, etwa im Rahmen der plastischen Chirurgie, die mit schweren gesundheitlichen Risiken einhergehen können.427 Trotz erheblichen Gefahrenpotentials unterliegen auch Sportarten wie Boxen, Fallschirmspringen, Tiefseetauchen oder Motorsport ebenso wie Tätowierungen und Piercings keinem Verbotsreglement. Zulässig sind ferner Alkohol- und Tabakkonsum, obwohl mehr als 10 % der Todesursachen bei Männern in Deutschland direkt (Alkoholvergiftungen, Polyneuropathien) oder indirekt (Leberzirrhosen, Krebserkrankun-

423 Auf diesen Effekt weist auch Höfling hin: „Der Angeklagte würde – um seiner Würde und seines Persönlichkeitsrechts willen (!) – unter Umständen lebenslang hinter Gitter geschickt – ein perverses Ergebnis einer fragwürdigen Grundrechtsdogmatik!“, ders., NJW 1983, 1582. Neben den aufzeigten Entscheidungen, die ein paternalistisches Vorgehen gegenüber Erwachsenen behandeln, finden sich in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Sonnenstudioverbot für Minderjährige aus dem Jahr 2011 ferner lehrbuchartige paternalistische Argumentationen zum Schutz Minderjähriger vor ihrem eigenen, selbstschädigendem Verhalten, BVerfG 21.12.2011 – 1 BvR 2007/10 – NJW 2012, 1062–1065. 424 BGH 16.2.1954 – 1 StR 578/53 – NJW 1954, 649. 425 So auch noch einmal in BGH 30.10.2010 – 1 StR 509/10 – NStZ 2011, 474 (475). 426 BGH 17.12.1998 – 1 StR 156/98 – NJW 1999, 657 (659). 427 Siehe zum Ganzen Wagner, Die Schönheitsoperation im Strafrecht, 2015.

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1. Teil: Grundlegung

gen, Verkehrsunfälle) auf Alkoholkonsum zurückgeführt werden können.428 Zwar wohnen der Alkohol- und Tabaksteuer auch gesundheitspolitische Lenkungsziele inne,429 die zu einer Konsumverringerung führen sollen – das selbstschädigende Verhalten als solches bleibt jedoch bevormundungsfrei. Auch die Prostitution ist, obwohl sie mitunter als eine Verletzung der Menschenwürde angesehen wird430 und insoweit ein denkbarer Anknüpfungspunkt für paternalistische Verbote besteht, in Deutschland zulässig und zivilrechtlich seit dem Jahr 2001 besonders durch das Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten geschützt. Eine mögliche Moralverletzung durch Prostitution und die potentielle Selbstschädigung der Prostituierten bleibt strafrechtlich irrelevant.431

VI. Resümee: Paternalismus in Gesetzgebung und Rechtsprechung Stark und schwach paternalistische Motive und Wirkungen tauchen wiederholt im deutschen Recht auf  – in besonderer Häufung in Zusammenhang mit Verletzungen der Menschenwürde und mit körperlichen Beeinträchtigungen und Selbstschädigungen. Während der mühseligen Debatte um die Zulässigkeit paternalistischer Eingriffsbegründungen vielfach durch Vorschieben anderer Gründe ausgewichen wird, lassen die erläuterten Beispiele das vorhandene Anliegen des Gesetzgebers und der Rechtsprechung erkennen, Menschen auch vor sich selbst zu schützen. Sowohl in Folge einer Verschleierung der primär paternalistischen Ausrichtung als auch auf Grund vielschichtiger Interessenlagen kommt es bei Regelungen und Entscheidungen mit paternalistischen Anteilen vielfach zu einer Durchmischung mit anderen Beweggründen.432 Diese häufig auftretende Kombination aus paternalistischen und nicht-paternalistischen Motiven wirft die Frage auf, ob die Gesellschaft den Schutz der Einzelnen möglicherweise immer auch aus einem eigenen Interesse heraus bezweckt. Dies könnte zur Folge haben, dass die dargestellten Regelungen und Entscheidungen nur paternalistisch motiviert erscheinen, mittelbar aber eigentlich immer am Schutz der Gesellschaft orientiert sind.

428

John / ​Hanke, Alcohol and Alcoholism 2002, 581 (583). So beschreibt es das Bundesverfassungsgericht in Zusammenhang mit seiner Beurteilung der Spielautomatensteuer, BVerfG 1.3.1997 – 2 BvR 1599/89 – NVwZ 1997, 573 (575). Littwin hält die Steuerbelastungen für mittelbar beschränkend, ders., Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 238. 430 Dazu MüKo / ​Renzikowski, StGB, 3. Aufl. 2017, Vor §§ 174 ff. Rn. 43 m. w. N. 431 Im Rahmen eines liberalen Strafrechts befürwortet dies mangels Verletzung rechtlich geschützter Interessen anderer MüKo / ​Renzikowski, StGB, 3. Aufl. 2017, Vor §§ 174 ff. Rn. 45. 432 Siehe zur Vermischung mit anderen Beweggründen auch Dworkin, in: Wasserstrom (Hrsg.), Morality and the Law, 1970, S. 107 (108). 429

1. Kap.: Rechtspaternalismus

91

Bei genauerer Betrachtung wird jedoch offenbar, dass der Schutz der Einzelnen gegen ihren Willen nicht auf einer gesellschaftsorientierten Motivlage basiert.433 Zwar wird im Rahmen der dargestellten Regelungen und Entscheidungen vielfach gerade in solche selbstgefährdende oder -schädigende Handlungen eingegriffen, die in der Öffentlichkeit stattfinden – so etwa bei der Gurt- und Helmpflicht, zu deren Rechtfertigung das Bundesverfassungsgericht explizit den Öffentlichkeitsbezug der Handlungen herangezogen hat.434 Auch bei den die Menschenwürde betreffenden paternalistischen Entscheidungen zu Peep-Show und Zwergenweitwurf standen Handlungen in Frage, die sich im öffentlichen Raum abspielten und mit denen Dritte in Berührung kamen. Aus dem Öffentlichkeitsbezug der genannten Konstellationen ergibt sich jedoch nicht, dass der eigentliche Zweck von Paternalismus zwangsläufig ein Gesellschaftsschutz wäre. So kann der Schutz des Allgemeininteresses etwa die Gurt- und Helmpflicht wie aufgezeigt nicht tragen.435 Sowohl bei der Peep-Show als auch beim Zwergenweitwurf generiert sich zudem nicht etwa der Schutz und damit das Handlungsverbot, sondern vielmehr die vorgelagerte Verletzung der Menschenwürde aus dem Öffentlichkeitsbezug der entsprechenden Handlung. In beiden Konstellationen bedarf es einer (einverständlichen) Behandlung durch Dritte, damit es nach Auffassung der entscheidenden Gerichte – und der Frage nach der Reaktion auf diese Verletzung vorgelagert – überhaupt zu einer Menschenwürdeverletzung kommen kann. Gegen eine per se gesellschaftsschützende Orientierung von Paternalismus spricht ferner, dass auch private Handlungen ohne Öffentlichkeitsbezug – wie etwa im Rahmen der Verbotsregelungen des Betäubungsmittelgesetzes – im deutschen Recht paternalistisch beschränkt werden. Zwar ist auch im Falle des Betäubungsmittelkonsums die Einzelne in ihrer Rolle als Mitglied der Gesellschaft betroffen: Diese Betroffenheit geht jedoch nicht über das Maß hinaus, in welchem die Einzelne immer auch Mitglied der Gesellschaft ist. Ließe sich allein durch die zwangsläufige Verortung in einem Sozialgefüge ein Verantwortungsbezug gegenüber der Gesellschaft herstellen, wäre die Einzelne dann in jedem, auch ihrem höchstpersönlichsten, Verhalten der Allgemeinheit verpflichtet. Eine solche Wertung könnte mit dem selbstverantwortlichen Menschenbild einer liberalen Gesellschaft jedoch nicht in Einklang gebracht werden. Trotz vielfacher Motivvermischungen kann es daher – da nicht jeder Schutz der Einzelnen gegen ihren Willen auch eine Orientierung am gesellschaftlichen Wohl beinhaltet – rein paternalistische Zwecksetzungen geben. Im zweiten Kapitel dieser Arbeit gilt es deshalb, die Frage nach der ethischen und rechtlichen Tragfähigkeit

433 Siehe zu der auch in der Sache fehlenden zwangsläufigen Verknüpfung von Selbstschädigung und Gesellschaftsschädigung im zweiten Kapitel unter B. III. 2. a). 434 BVerfG 26.1.1982 – 1 BvR 1295/80 u. a. – BVerfGE 59, 275 (279); siehe dazu soeben unter B. II. 1. 435 Siehe dazu soeben unter B. II. 1.

92

1. Teil: Grundlegung

paternalistischer Begründungsstränge zu beantworten. Ihr kommt sowohl für rein paternalistische Einschränkungen als auch für gemischt paternalistische Regelungen und Entscheidungen eine entscheidende Bedeutung zu: Dies gilt insbesondere, soweit die Motivvermischungen lediglich einer Verschleierung der primär paternalistischen Zielsetzung dienen.

Zweites Kapitel

Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung paternalistischer Beschränkungen Im Folgenden soll zunächst eine allgemeine Erörterung der Rechtfertigung und Rechtfertigbarkeit von paternalistischen Beschränkungen erfolgen, bevor diese im dritten, vierten und fünften Kapitel dieser Arbeit im Rahmen von Beispielen aus dem Biomedizinrecht konkrete Anwendung erfährt. Insoweit werden in diesem Kapitel eine Grundlage, ein Ausgangspunkt und ein Betrachtungsrahmen für die Beurteilung der konkreten Regelungen aus dem Transplantationsgesetz, dem Arzneimittelgesetz und dem Embryonenschutzgesetz gelegt. Die Frage der Zulässigkeit paternalistischer Eingriffe soll dabei zunächst aus ethischer (dazu unter A.) und sodann aus verfassungsrechtlicher Perspektive (dazu unter B.) beleuchtet werden. Die ethische Debatte um Paternalismus ist nicht nur bedeutend älter und tiefschürfender als es die rechtliche ist – sie bietet insbesondere eine Orientierung für die verfassungsrechtliche Beurteilung des Phänomens. So können ethische Perspektiven für das Verständnis rechtlicher Konzepte von Bedeutung sein und sollen vorliegend in dieser Funktion nutzbar gemacht werden, ohne dabei jedoch die Grenze zwischen den Disziplinen zu verschleiern.1 Ethik ist der Bereich der Philosophie, der menschliches Handeln zum Gegenstand hat und sich mit dessen Richtigkeit und moralischer Bewertung auseinandersetzt.2 Sie sucht nach Kriterien für die Beurteilung von Handlungen und nach Gründen für die Anerkennung oder Verwerfung von Normen, Regelungen und Werten.3 Anders als das Recht wird Ethik zwar nicht verbindlich durch den Staat verbürgt,4 stellt aber vielfach die Grundlage für rechtliche Regelungen dar. Da auch das Grundgesetz auf moralphilosophischen Grundlagen beruht,5 lassen sich bei einer ethischen Auseinandersetzung mit dem Thema Paternalismus bereits die zentralen Aspekte herausarbeiten, die als Basis für die rechtliche Bewertung dienen können. Bereits im Vorfeld können so Widersprüche in Argumentationslinien 1

Siehe dazu Herdegen, der im Hinblick auf die Menschenwürde zwar darauf hinweist, dass diese offen für Deutungen außerhalb des Rechts sei, die unterschiedlichen Wertungen zwischen Recht und Ethik indes nicht verwischt werden dürften, ders., in: Gröschner / ​Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, 2009, S. 93 (98 f.). 2 Siehe nur etwa Kress, in: Lexikon der Bioethik, 1998, S. 654–682; Prechtl, in: Metzler Lexikon Philosophie, 3. Aufl. 2008, S. 163 f. 3 Prechtl, in: Metzler Lexikon Philosophie, 3. Aufl. 2008, S. 163 f. 4 Prechtl, in: Metzler Lexikon Philosophie, 3. Aufl. 2008, S. 163 f. 5 Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 215.

94

1. Teil: Grundlegung

aufgezeigt, Systeme und Strukturen entwickelt und die Erkenntnisse für die rechtliche Betrachtung und Bewertung genutzt werden.6

A. Ethische Auseinandersetzungen mit paternalistischen Beschränkungen Verschiedene Grundströmungen der Ethik und Moralphilosophie haben sich mit der Zulässigkeit paternalistischer Beschränkungen auseinandergesetzt. Besonders prominent stehen sich in der Debatte um die Zulässigkeit von Bevormundung deontologische (dazu unter I.) und konsequentialistische Ansätze (dazu unter III.) gegenüber.

I. Kants deontologischer Ansatz Im Zentrum deontologischer Ansätze7 steht die Annahme, dass Handlungen moralisch nicht mit Blick auf ihre Konsequenzen und Folgen zu beurteilen sind, sondern allein anhand ihrer Motivation, bestimmte Pflichten einzuhalten und anhand des intrinsischen Werts, der ihnen zukommt.8 Nach deontologischer Ethik ist der Einzelne Selbstzweck; es kommt ihm ein absoluter Wert und Respekt als Person „qua Person“ zu.9 Dementsprechend ist eine paternalistische Einmischung in jedem Fall abzulehnen, weil sie die absolut zu schützende Autonomie und Freiheit des Betroffenen verletzt10 und damit „begründete Ansprüche missachtet, die Personen als Personen gegeneinander erheben“.11 Immanuel Kant (1724–1804) ist der wohl bedeutendste Vertreter der deontologischen Ethik. In seiner „Metaphysik der Sitten“ (1797) unterscheidet er zwischen Rechts- und Tugendpflichten12 sowie zwischen Legalität und Moralität: Recht­liche Gesetze können sich demnach nur auf „die Freiheit im äußeren Gebrauche“ beziehen, 6 Zu der Bedeutung der philosophischen Betrachtung für die rechtliche Bewertung Heinig, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 157 (169); Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 25; Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 27 f. 7 Aus dem griechischen „deon“ (Pflicht) und „logos“ (Wort), Pflichtenlehre, siehe etwa Blume, in: Handwörterbuch Philosophie, 2003, S. 291. 8 Blume, in: Handwörterbuch Philosophie, 2003, S. 291; McNaughton, in: Routledge Encyclopedia of Philosophy Vol. 2, 1998, S. 890. 9 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (215, 221); spezifisch in Bezug auf Kant Schönecker / ​Wood, Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, 4. Aufl. 2011, S. 52, 95, 149, 152, 171. 10 Regan, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 113 (117). 11 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (216). 12 Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797/1977, AB 48 (S. 347).

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

95

während sich moralische Gesetze auf „die Freiheit sowohl im äußern als innern Gebrauche der Willkür“ beziehen können.13 Soweit es um die Bewertung der Zulässigkeit paternalistischer Eingriffe geht, ist bei Kant zwischen seiner Rechtslehre, die nach dem dieser Arbeit zugrundeliegenden Verständnis antipaternalistisch ausgerichtet ist, und seiner Tugendlehre, die nach diesem Verständnis paternalistisch ausgerichtet ist, zu unterscheiden.14 1. Kants antipaternalistischer Rechtsbegriff Bereits Kants Rechtsverständnis ist antipaternalistisch ausgerichtet, insofern er Recht definiert als den „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“.15 Demnach ist die Aufgabe des Rechts „auf die gegenseitige Abgrenzung und Absicherung individueller Freiheitsräume“16 beschränkt. Alle Handlungen, die nur die Person selbst betreffen und keinen Freiheitsbereich anderer verletzen, gehören einer absolut geschützten Sphäre individueller Handlungsfreiheit an, in welcher der Einzelne das Recht hat, völlig nach Belieben zu verfahren, so dass jeder Eingriff in diese Sphäre unzulässig wäre:17 „Wenn also meine Handlung, oder überhaupt mein Zustand, mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, so tut der mir Unrecht, der mich daran hindert […].“18

Diesem Verständnis folgend ist ein Eingriff zum Wohl des entscheidungsfähigen Betroffenen mit den Mitteln des Rechts unzulässig.19 Zudem darf nach Kants Verständnis nur dann Zwang ausgeübt werden, wenn dadurch die Rechtspflicht des Einzelnen, die Freiheit eines anderen zu respektieren, ausgeübt wird – auch demnach wäre eine paternalistische Intervention unzulässig und Unrecht.20 Diese Wertung ergibt sich auch aus Kants Verständnis der angeborenen Freiheit, die er als das „einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht“ beschreibt und unter der er die „Unabhängigkeit von eines anderen 13

Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797/1977, AB 6 f. (S. 318). Siehe auch a. a. O., B 15 (S. 324). 14 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (216). 15 Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797/1977, B 33 (S. 337). 16 Mayr, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 48 (49). 17 Dazu auch Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (216). 18 Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797/1977, B 33 (S. 337). 19 Siehe auch Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (216). 20 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (217).

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1. Teil: Grundlegung

nötigender Willkür […] sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann“21 versteht. Kants Verständnis der Freiheit des Einzelnen impliziert auch, dass jeder sein Leben – vorbehaltlich der Freiheit Dritter – ohne staatliche Bevormundung nach eigenem Belieben gestalten kann.22 Dies gilt zumal Kants Rechtsverständnis und Freiheitsraum unabhängig von den Beweggründen des Handelnden besteht, so dass die „Freiheit der Willkür zum Schutzmantel […] des ethisch-neutralen individuellen Glücksstrebens“23 wird. Rechtmäßige Handlungen können demnach auch unethisch sein  – die zentrale Grundlage für ein antipaternalistisches Rechtsverständnis.24 Eben dieses antipaternalistische Rechtsverständnis bringt Kant auch in seinem Werk „Über den Gemeinspruch“ (1793) zum Ausdruck, in welchem er davon ausgeht, dass jeder sein Glück frei verfolgen kann, wenn er nur die Freiheit anderer nicht beeinträchtigt: „Niemand kann mich zwingen, auf seine Art […] glücklich zu sein, sondern ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Weg suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit anderer […] keinen Abbruch tut.“25

Sogar den wörtlichen Bezug zur „Väterlichkeit“ des Staates wählt Kant, wenn er sich klar gegen eine bevormundende Obrigkeit wendet: „Eine Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, d. i. eine väterliche Regierung (imperium paternale), wo also die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaftig nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem Urteile des Staatsoberhauptes […], bloß von seiner Gütigkeit zu erwarten: ist der größte denkbare Despotismus […].“26

Zwar ist Kants Rechtsverständnis ein mit Zwang durchsetzbares Recht des Bürgers gegen den Staat fremd; er geht aber jedenfalls von einer Pflicht des Staates aus, seine Bürger nicht zu bevormunden.27 Dies steht in Einklang mit dem bereits dargelegten Rechtsbegriff Kants, der auf die Freiheit der Willkür abzielt, soweit keine Rechte Dritter betroffen sind.28 21

Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797/1977, B 45 (S. 345). Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 25 m. w. N. 23 Ellscheid, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 182 (185). 24 Ellscheid, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 182 (186 f.). 25 Kant, Über den Gemeinspruch, 1793/1946, S. 36. 26 Kant, Über den Gemeinspruch, 1793/1946, S. 36. Zustimmend Berlin, Freiheit, 1969/1995, S. 238 f. 27 Ellscheid, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 182 (183). Auch Hruschka spricht davon, dass Kant ein paternalistisches System an dieser Stelle ablehnt, ders., Kant und der Rechtsstaat, 2015, S. 40. 28 Ellscheid, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 182 (185). 22

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

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2. Kants paternalistische Tugendpflichten gegen sich selbst Im Rahmen seiner Tugendlehre entwarf Kant Pflichten gegen sich selbst und statuierte in diesem Zusammenhang auch die Pflicht, sich nicht selbst körperlich zu verstümmeln.29 Dementsprechend versteht Kant Selbsttötung als Verstoß gegen die Tugendpflicht in Form einer vollkommenen Pflicht gegen sich selbst: „Die Selbstentleibung ist ein Verbrechen (Mord).“30

Das Verbot der Selbsttötung begründet er damit, dass jeder Mensch Pflichten habe und niemand sich seiner Verbindlichkeit entziehen könne. Ferner setzt er die Vernichtung des Subjekts der Sittlichkeit – der eigenen Person – mit der Vernichtung der Sittlichkeit als solcher gleich: Indem der Mensch mit dem Selbstmord sich selbst als Mittel benutze, würdige er die gesamte Menschheit herab.31 Im vorliegenden Zusammenhang ist von besonderem Interesse, wie jene – nach dem in dieser Arbeit angelegten Verständnis paternalistische – Pflicht wirkt und ob sie nach Kants Lehre durchgesetzt werden kann. Nach Kants Einteilung handelt es sich bei dem Selbstverstümmelungsverbot nicht um eine Rechts-, sondern um eine Tugendpflicht und damit um eine innere Pflicht, die der Ethik und nicht der Rechtslehre angehört.32 Soweit die Tugendpflichten nicht zugleich auch Pflichten gegenüber anderen sind, können sie keine Rechtspflichten sein.33 Der Unterschied zwischen Rechts- und Tugendpflicht liegt nach Kant vielmehr genau darin, dass „zu dieser ein äußerer Zwang moralisch-möglich ist, jene aber auf dem freien Selbstzwange allein beruht.“34 Dass die moralischen Pflichten gegen sich selbst nicht mit Recht durchsetzbar sind, ergibt sich auch bereits aus dem klar antipaternalistischen und liberalen Rechtsbegriff Kants,35 so wie er soeben dargestellt wurde.36 Dementsprechend wird auch in der Literatur davon ausgegangen, dass sich das Selbstentleibungsverbot als „besondere ethische Pflicht“ nach Kants Verständnis einer Verrechtlichung entzieht.37

29

Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797/1977, A 71–A 115 (S. 553–583). Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797/1977, A 72 (S. 554). 31 Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797/1977, A 73 f. (S. 555). 32 Fateh-Moghadam, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 21 (30). 33 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (216); Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 24; Maio, Mittelpunkt Mensch: Ethik in der Medizin, 2012, S. 30; Schroth, JZ 2004, 469 (472). 34 Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797/1977, A 9 (S. 512). 35 Gutmann, in: van den Daele (Hrsg.), Biopolitik, 2005, S. 235 (246). 36 Siehe dazu soeben unter A. I. 1. 37 Ellscheid, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 182 (192). Dies ergebe sich bereits daraus, dass Kant als Beispiel für besondere ethische Pflichten die Pflichten gegen sich selbst benennt, die schon begrifflich nicht mit seinem Verständnis von Recht als „Freiheit im äußeren Gebrauche“ in Einklang zu bringen seien, a. a. O. 30

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1. Teil: Grundlegung

Da die Selbsttötung keine Freiheit Dritter betreffe, könne sie keine Verletzung einer Rechtspflicht begründen.38 3. Resümee Im Ergebnis muss Paternalismus nach Kants Rechtsverständnis somit unzulässig sein, da kein Zwang ausgeübt werden darf, wo keine Rechte, Rechtsgüter oder Freiheiten Dritter betroffen sind und nur das Wohl des Betroffenen selbst gefördert werden soll.39 Auch wenn Kant ethische Pflichten gegen sich selbst anerkennt, steht das seiner absoluten Ablehnung eines rechtlichen Paternalismus’ nicht entgegen. Auch Isaiah Berlin stimmt mit Kants deontologischem Antipaternalismus überein.40 Er geht ebenfalls davon aus, dass der Schrecken des Paternalismus darin liege, dass dieser das eigene „Selbstbild beleidigt, demzufolge ich ein menschliches Wesen bin, das entschlossen ist, sein eigenes Leben gemäß seinen eigenen (nicht unbedingt rationalen oder wohltätigen) Zwecken zu führen, und das vor allem berechtigt ist, von anderen als ein solches anerkannt zu werden“.41 Mit dem ihr eigenen, absoluten Respekt vor der Person und ihrer Freiheit und Autonomie stellt die Deontologie eine unbedingte Grundlage für die Ablehnung von Paternalismus dar.42

II. Vertragstheoretische und naturrechtliche Ansätze Auch aus vertragstheoretischer Perspektive dient Staatsgewalt nicht dem Schutz des Einzelnen vor sich selbst. So nimmt Thomas Hobbes (1588–1679) an, dass der Vorteil des Einzelnen aus der Unterordnung unter staatliche Gewalt darin besteht, „dass man seine Freiheit so weit genießt, als kein Schaden daraus entsteht“.43 Ist

38 Ellscheid, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 182 (192, 196). 39 So auch Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (218, 251); Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 24; Schroth, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (488). 40 Dazu Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (218). 41 Berlin, Freiheit, 1969/1995, S. 238 f. 42 So im Ergebnis auch Gutmann: „Wer Rechtspaternalismus mit Aussicht auf Erfolg kritisieren will, muss dies von einer deontologischen Grundlage aus tun, dem Prinzip des Respekts vor dem Selbstbestimmungsrecht autonomer Personen tout court.“, ders., in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (222); ebenso Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 316. 43 Hobbes, Grundzüge der Philosophie, Bd. 2, 1642/1949, S. 209 f.

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

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der Staat jedoch etabliert, findet bei Hobbes kaum individuelle Rücksicht statt44 – der Staat könnte dann auch paternalistisch intervenieren.45 John Locke (1632–1704) geht zwar von einer naturrechtlichen Verpflichtung des Menschen zur Selbsterhaltung und von einem entsprechenden Verbot der Selbstschädigung aus46 – das Gesetz und seine Vorschriften dürften jedoch nur soweit reichen „als es dem allgemeinen Wohl derer dient, die unter diesem Gesetz stehen“.47 Die Gewalt der Gesellschaft und der Legislative könne also nicht weiter­ gehen, als es das öffentliche, gemeinsame Wohl erfordere.48 Eingriffe erfolgen demnach regelmäßig im Sinne Dritter und der Gesellschaft – allein Kinder und solche Erwachsene, die nicht in der Lage sind, Gesetze zu verstehen und frei zu handeln, dürften väterlich bevormundet werden.49 Demnach ließe sich lediglich ein nach dem vorliegenden Verständnis schwach paternalistischer Eingriff rechtfertigen. Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) hingegen steht einer bevormundenden Gemeinschaft im Zweifel aufgeschlossen gegenüber. Das ergibt sich daraus, dass er den Einzelnen für gemeinschaftsbezogen hält und dieser im Rahmen des Gesellschaftsvertrags unter der Herrschaft der volonté generale stehe.50 Diese Unterwerfung finde auch statt, wenn die volonté generale mit dem individuellen Willen kollidiere.51 Denn Rousseau setzt in der volonté generale den individuellen Willen und das Allgemeinwohl im Grunde gleich – es gibt damit keine Freiheit vor dem Staat.52 Im Rahmen seines Freiheitsverständnisses erkennt er lediglich den guten Willen als Ausdruck von Freiheit an.53 44

von der Pfordten, JZ 2005, 1069 (1070). Dementsprechend weist Seiterle darauf hin, dass ein Menschenwürdeverständnis, das sich im Zweifel gegen die Selbstbestimmung der Einzelnen wendet, nicht mit dem demokratischen Grundgedanken vereinbar sein könne – wohl aber mit Hobbes’ Modell des Gesellschaftsvertrags, ders., Hirnbild und „Lügendetektion“, 2010, S. 143 f. 46 Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, Die zweite Abhandlung über die Regierung, 1689/1967, § 6, S. 202 f.; siehe auch unter § 135 S. 290. Siehe dazu Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 13; Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 119. 47 Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, Die zweite Abhandlung über die Regierung, 1689/1967, § 57 S. 236. 48 Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, Die zweite Abhandlung über die Regierung, 1689/1967, § 131 S. 286, § 135 S. 291. Siehe dazu Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 12 f. 49 Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, Die zweite Abhandlung über die Regierung, 1689/1967, §§ 58–60, S. 237–239. Bei einer freiwilligen Preisgabe der Rechtsgüter dürfe dies nicht geschehen, Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 118 m. w. N. 50 Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, Erstes Buch, 7. Kapitel, 1762/2011, S. 22; Zweites Buch, 4. Kapitel, S. 33; dazu Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 17; Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 118. 51 Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, Erstes Buch, 7. Kapitel, 1762/2011, S. 21 f.; dazu Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 17 f. 52 Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, Erstes Buch, 7. Kapitel, 1762/2011, S. 22; Hill­ gruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 18 f. 53 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 20. 45

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1. Teil: Grundlegung

John Rawls (1921–2002) hält nach seinem vertragstheoretischen Ansatz, so wie er ihn in seinem Hauptwerk „A Theory of Justice“ (1971) entworfen hat, Re­gelungen für fair und gerecht, die freie und vernünftige Menschen in einem Ur- oder Naturzustand unter einem „Schleier des Nichtwissens“ in ihrem eigenen Interesse vereinbaren würden. Der Schleier des Nichtwissens bewirkt eine Situation der Gleichheit, in der „sich alle in der gleichen Lage befinden und [sich] niemand Grundsätze ausdenken kann, die ihn aufgrund seiner besonderen Verhältnisse bevorzugen“.54 Rawls’ Ansatz weist dabei auch eine gewisse Vernunftorientierung auf, soweit er davon ausgeht, dass festzustellen ist, „welche Grundsätze ver­nünftigerweise in der Vertragssituation zu akzeptieren wären“.55 Nach Rawls’ Theorie gehen die Beteiligten im Urzustand von ihrer zukünftigen Vernünftigkeit und Fähig­keit zur Regelung eigener Angelegenheiten aus, weshalb „sie keine Pflichten gegenüber sich selbst an[erkennen], denn das wäre zur Förderung ihres Wohles unnötig“.56 Dies lässt sich als Absage an einen starken Paternalismus verstehen. Rawls geht jedoch auch davon aus, dass die Betroffenen sich gegen eine Unterentwicklung oder Beeinträchtigung der Fähigkeit, vernünftig handeln zu können, würden absichern wollen.57 Er hält es für vernünftig, wenn die Betroffenen sich vor eigenen „vernunftwidrigen Neigungen“, „törichten Handlungen“ und „unglücklichen Folgen unklugen Verhaltens“ schützen wollen.58 Die Betroffenen würden insoweit einen „regulierenden“ Paternalismus anerkennen, „um sich gegen Schwäche und Versagen ihrer Vernunft und ihres Willens in der Gesellschaft zu schützen […], wenn wir nicht selbst für unser Wohl sorgen können“.59 Leitlinien für demnach zulässige Surrogats-Entscheidungen Dritter seien jedoch die „Bedürfnisse des Betroffenen selbst“, „soweit sie nicht unvernünftig sind“, sowie die Vorstellung einer hypothetischen Zustimmung des Betroffenen, wenn er bei Vernunft wäre.60 Im Ergebnis sind paternalistische Eingriffe nach Rawls somit nur „durch das offenbare Versagen oder Fehlen der Vernunft und des Willens gerechtfertigt […] und sie müssen geleitet sein von den Grundsätzen der Gerechtigkeit und den Kenntnissen der längerfristigen Bedürfnisse des Betroffenen […].“61 Er betont jedoch, dass ein solcher Paternalismus nur dem Schutz der eigenen Unvernunft und nie dem Angriff „auf jemandes Überzeugungen und Charakter, auch wenn die Aussicht auf spätere Zustimmung besteht“, dienen darf.

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Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1971/1990, S. 28 f. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1971/1990, S. 35. 56 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1971/1990, S. 281. 57 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1971/1990, S. 281. 58 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1971/1990, S. 281. 59 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1971/1990, S. 281. 60 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1971/1990, S. 281 f. 61 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1971/1990, S. 282. 55

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

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Zweifel an der Absolutheit von Rawls’ Ablehnung von starkem Paternalismus ergeben sich jedoch in mehrerlei Hinsicht: Zum einen bleibt in gewissem Maße offen, was Rawls mit Vernunft meint. Ginge er davon aus, dass auch kompetente Erwachsene paternalistisch bevormundet werden dürfen, wenn sie unvernünftig sind oder handeln,62 so wäre nicht nur schwach, sondern auch stark paternalistischen Eingriffen Tür und Tor geöffnet. Zum anderen lässt sein Bezug auf „törichte“ Handlungen daran zweifeln, ob tatsächlich jede voll autonome Entscheidung nach dem Willen der Betroffenen im Urzustand geschützt werden soll. In Zusammenhang mit seinen im Werk nachfolgenden Äußerungen über einen „vernünftigen Lebensplan“, der bestimme, was für den Menschen gut sei,63 bleibt ferner offen, ob er damit nicht auch Eingriffe in die Autonomie des Einzelnen zugunsten dieses vernünftigen Lebensplans für möglich halten64 und insoweit eine subjektivistisch-paternalistische Bevormundung in der Einzelsituation zugunsten des allgemeinen Lebensentwurfes für zulässig erachten könnte. Gegen ein derartiges Verständnis von Rawls spricht jedoch zum einen seine Berufung auf die Menschenwürde, die die Beteiligten durch ihre Vereinbarungen würden schützen wollen und die nach Kants Verständnis, auf das Rawls vielfach Bezug nimmt, eine Verobjektivierung der Einzelnen ablehnt.65 Zum anderen wird dies auch durch seine klare Formulierung gestützt, nach der paternalistische Eingriffe „durch das offenbare Versagen oder Fehlen der Vernunft und des Willens“66 gerechtfertigt sein müssen. Jedenfalls soweit mit der Vernunft, auf die sich Rawls bezieht, ein der dieser Arbeit zugrundeliegenden Vorstellung von Autonomie ähnelndes Konstrukt gemeint ist, geht auch Rawls davon aus, dass es zu keiner Vereinbarung stark paternalistischer Regelungen im Urzustand kommen würde und diese demnach als nicht gerecht abzulehnen seien.67

III. Konsequentialistische / ​utilitaristische Ansätze Als konsequentialistische Strömung ist im Rahmen des Utilitarismus für die moralische Bewertung einer Handlung – in diametralem Gegensatz zur Deontologie – nicht die Motivation des Handelnden oder der intrinsische Wert der Handlung entscheidend, sondern allein die Nützlichkeit der Konsequenzen und Auswir-

62 Mit dieser Frage beschäftigt sich auch Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 162. 63 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1971/1990, S. 446. 64 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (234). 65 Siehe etwa Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785/1911, AA 04: 429, 10–12; 433, 26–28. 66 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1971/1990, S. 282 (Herv. d. Verf.). 67 Siehe zu den paternalistischen, naturrechtlichen Ansätzen bei Christian Wolff Drerup, Paternalismus, Perfektionismus und die Grenzen der Freiheit, 2013, S. 183 f.

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1. Teil: Grundlegung

kungen des Verhaltens.68 Daran gemessen ist eine Handlung ethisch, wenn mit ihr das größte Wohl für den Einzelnen bzw. für alle erreicht wird – und es ist folglich geboten, das zu tun, was im größten Nutzen für die Betroffenen resultiert.69 Aus konsequentialistischer und insbesondere aus utilitaristischer Perspektive ist Paternalismus dementsprechend immer dann ethisch zu rechtfertigen, wenn das Gute oder das Wohl, das der paternalistische Eingriff mit sich bringt, gegenüber dem Schlechten oder dem Leid, das er hervorruft, überwiegt und er somit insgesamt zu mehr Glück und Wohlbefinden führt.70 Paternalistische Eingriffe sind hingegen abzulehnen, soweit eine Nicht-Einmischung mit den besten Konsequenzen für den Betroffenen einhergeht. Utilitarismus kann ferner über die Einzelbetrachtung hinaus auch auf die Gesamtheit der Menschen abzielen und folgen- und nutzenorientiert auf einer empirischen Kalkulation des Glücks der Mehrheit von Menschen beruhen, wobei die Interessen jedes Menschen gleich geachtet werden.71 1. Mills utilitaristischer (Anti-)Paternalismus Ohne das Wort Paternalismus selbst in seinem Werk auch nur einmal verwendet zu haben, wird John Stuart Mill (1806–1873) gemeinhin als Urvater des Antipaternalismus betrachtet.72 In seinem diesbezüglichen Grundwerk „On Liberty“ (1859) nimmt er eine grundlegend antipaternalistische Haltung ein: „[The] only purpose for which power can be rightfully exercised over any member of  a civilized community, against his will, is to prevent harm to others. His own good, either physical or moral, is not a sufficient warrant. He cannot rightfully be compelled to do or forbear because it will be better for him to do so, because it will make him happier, because, in the opinion of others, to do so would be wise, or even right. […] The only part of the conduct of any one, for which he is amenable to society, is that which concerns others. In the part which merely concerns himself, his independence is, of right, absolute. Over himself, over his own body and mind, the individual is sovereign.“73

Nach dem von Mill entwickelten harm principle können und müssen Handlungen, die anderen Schaden zufügen, durch aktives Eingreifen der Gesellschaft kontrolliert und die Freiheiten des Handelnden insoweit eingeschränkt werden.74 Sobald das Verhalten eines Einzelnen die Interessen anderer auf nachteilige Weise 68

Gessmann, in: Philosophisches Wörterbuch, 23. Aufl. 2009, S. 733 f.; Prechtl, in: Metzler Lexikon Philosophie, 3. Aufl. 2008, S. 641; Wildfeuer, in: Handwörterbuch Philosophie, 2003, S. 660 f. 69 Arneson, in: Routledge Encyclopedia of Philosophy Vol. 7, 1998, S. 250. 70 Dworkin, in: Encyclopedia of Ethics, Vol. II, 1992, S. 940 (941); Regan, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 113; Zude, Paternalismus, 2010, S. 244. 71 Maio, Mittelpunkt Mensch: Ethik in der Medizin, 2012, S. 38–40. 72 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (196). 73 Mill, On Liberty, 1859/1946, S. 8 f. 74 Mill, On Liberty, 1859/1946, S. 49.

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

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berühre, könne die Gesellschaft den Handelnden sozial und rechtlich bestrafen, wenn eine derartige Einmischung dem Gemeinwohl nutze und eine Bestrafung zu ihrem Schutz erforderlich sei.75 Die Schädigung oder die Gefahr der Schädigung von Interessen Dritter allein rechtfertige dann die Einmischung seitens der Gesellschaft.76 Soweit aber Angelegenheiten in Frage stünden, die nur die Person selbst betreffen, müsse dieser ein Handeln nach eigener Neigung und Beurteilung auf eigene Gefahr immer erlaubt sein.77 Handele jemand ausschließlich in eigenen Belangen und zu eigenen Lasten und werden durch das Verhalten keinerlei Interessen eines anderen berührt oder verletzt, so könne ein solches Verhalten zwar persönlich oder gesellschaftlich abgelehnt werden, müsse aber immer volle gesetzliche und soziale Freiheit genießen.78 Dies gelte ausnahmsweise auch bei der Beeinträchtigung von Rechten Dritter, soweit der Dritte dem Eingriff zugestimmt habe, volljährig sei und die gewöhnliche geistige Reife besitze.79 Mill begründet diese Freiheit damit, dass niemand die Befugnis habe, einem erwachsenen Menschen vorzuschreiben, wie er mit seinem Leben verfahren müsse.80 Denn wenn nicht der Charakter des Einzelnen, sondern die Traditionen und Sitten anderer die Verhaltensregeln bestimmen würden, fehle es an einer zentralen Voraussetzung für persönliches Glück und für individuellen und gesellschaftlichen Fortschritt.81 Der Betroffene habe schließlich selbst das größte Interesse an seinem Wohlergehen – eine Freiheitsbeschränkung zur Förderung desselben durch die Gesellschaft könne hingegen nur auf allgemeinen Annahmen gründen, die in der Gesamtschau zwar richtig sein können, im Einzelfall aber immer Gefahr laufen, falsch angewendet zu werden.82 Einwirkungen auf den Willen des Betroffenen in Form von Aufforderungen, Hinweisen und Ratschlägen hält Mill zwar für zulässig; die tatsächliche Entscheidung müsse jedoch allein bei den Betroffenen selbst verbleiben.83 Die Fehler, die der Einzelne dann wahrscheinlich entgegen der Warnungen und Hinweise begehen wird, werden aus Mills Sicht durch das erhebliche Übel aufgewogen, das dem Betroffenen zugefügt wird, wenn andere seinen Willen auf Grundlage ihrer eigenen Vorstellungen davon, was das Beste für ihn sei, übergehen.84 Dennoch darf nach Mill in zwei Konstellationen auch in rein selbstschädigendes Verhalten eingegriffen werden: Zum einen könne ein Eingriff zulässig sein, soweit 75

Mill, On Liberty, 1859/1946, S. 67, 84. Mill, On Liberty, 1859/1946, S. 84. 77 Mill, On Liberty, 1859/1946, S. 49, 84. 78 Mill, On Liberty, 1859/1946, S. 67. 79 Mill, On Liberty, 1859/1946, S. 67. 80 Mill, On Liberty, 1859/1946, S. 68. 81 Mill, On Liberty, 1859/1946, S. 50. 82 Mill, On Liberty, 1859/1946, S. 68, 74. 83 Mill, On Liberty, 1859/1946, S. 9, 68, 84. 84 Mill, On Liberty, 1859/1946, S. 68. 76

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1. Teil: Grundlegung

der Betroffene sich des selbstschädigenden Charakters seiner Handlung nicht bewusst sei. In diesem Zusammenhang berühmt geworden ist Mills Brückenbeispiel: Danach darf jemand gegen seinen Willen vom Betreten einer Brücke abgehalten werden, wenn diese einsturzgefährdet ist und keine Zeit bleibt, den Betroffenen zu warnen. In einem solchen Dazwischentreten liege keine Freiheitsverletzung, da im Rahmen von Mills Freiheitsverständnis zwar jeder tun kann, was er möchte – der Betroffene in diesem Fall aber lediglich die Brücke überschreiten und eben nicht ins Wasser stürzen möchte.85 Wisse der Betroffene jedoch um die Gefahr, in die er sich begibt, so obliege die Bewertung, ob es sich lohnt, diese Gefahr einzugehen oder nicht, wiederum ausschließlich ihm und niemand anderem. Wenn er erwachsen und zurechnungsfähig ist, so ist nach Mill lediglich eine Warnung und kein gewaltsames Abhalten zulässig.86 Dasselbe gelte auch für andere Warnungen, etwa Hinweise auf die Gefährlichkeit des Inhalts einer Giftflasche – solche stellten keine Freiheitsverletzung dar.87 Zum anderen dürfe in selbstschädigendes Verhalten eingegriffen werden, wenn die Selbstverfügungsfreiheit dazu benutzt werde, sich dieser zu entledigen: Diese absolute Grenze zieht Mill in seinem ebenfalls prominenten Selbstversklavungsbeispiel. Obwohl oder gerade weil nach seiner Lehre grundsätzlich dann am besten für den Betroffenen gesorgt ist, wenn dieser selbst frei entscheiden kann, wäre ein Vertrag, durch den der Betroffene sich selbst in die ewige Versklavung begeben würde, nach Mill unzulässig.88 Mill begründet dieses Verbot der Selbstversklavung damit, dass derjenige, der seine Freiheit verkaufe, den Zweck vereitele, zu welchem ihm die Selbstverfügung gestattet sei.89 Die Freiheit, die eigene Freiheit zu veräußern, sei keine Freiheit – Freiheit enthielte nicht die Freiheit, unfrei zu sein.90 Dem harm principle entsprechend ist selbstschädigendes Verhalten nach Mill auch dann zulässigerweise zu verbieten, soweit es Rechte anderer berührt oder auch nur die Gefahr der Schädigung von Interessen Dritter besteht: So hält er einen Alkoholrausch per se für nicht strafwürdig – diese Bewertung ändert sich jedoch, sobald jemand in diesem Zustand zu Gewaltausbrüchen neigt: Dann sei schon das Verbot des Konsums, der dann bereits ein Delikt gegen Dritte darstellt, zulässig.91 Ebenso verhält es sich mit anderen selbstschädigenden Handlungen, die als solche

85

Mill, On Liberty, 1859/1946, S. 86. Mill, On Liberty, 1859/1946, S. 86. 87 Mill, On Liberty, 1859/1946, S. 86. 88 Mill, On Liberty, 1859/1946, S. 92. 89 Mill, On Liberty, 1859/1946, S. 92. 90 Mill, On Liberty, 1859/1946, S. 92. Möller geht davon aus, dass es durchaus dem Willen einer Person entsprechen könne, ihre Freiheit aufgeben zu wollen. Ein entsprechendes Verbot beinhalte daher eine Freiheitseinschränkung. Er nimmt deshalb an, dass Mill die Freiheit nicht nur als Möglichkeit zur freien Entscheidung ansieht, sondern auch als „Zustand“, den der Betroffene nicht durch seinen Gebrauch verlieren soll, ders., Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 120 f. 91 Mill, On Liberty, 1859/1946, S. 87 f. 86

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

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dem Betroffenen nach Mills Doktrin nie verboten sein dürften – es sei denn, sie werden in der Öffentlichkeit begangen und verletzen insoweit die guten Sitten.92 Dementsprechend ist nach Mill auch die Aufforderung zur Selbstschädigung trotz der ihr innewohnenden Überschreitung des rein individuell-persönlichen Bereichs grundsätzlich von der persönlichen Freiheit geschützt: Da sich jeder selbst gefährden dürfe, dürfe sich auch darüber ausgetauscht werden.93 Es müsse erlaubt sein, jemanden zu einer ebenfalls erlaubten Handlung zu raten.94 Die Grenze zieht Mill jedoch in Fällen, in denen der Dritte ein eigenes Interesse an der Selbstschädigung des anderen hat: So dürfe zwar Glücksspiel nicht verboten sein – die Beförderung desselben aber schon, da die Veranstalter regelmäßig ein Interesse an der Maßlosigkeit der Selbstschädigung der Betroffenen hätten.95 Für zulässig hält Mill ferner eine indirekte Abschreckung etwa durch Besteuerung: Diese dürfe zwar nicht allein zu diesem Zweck erfolgen  – da der Staat aber Steuern erheben müsse, könne er auch Handlungen besonders belasten, die er für schädlich hält.96 Im Ergebnis lehnt Mill somit fast jede Form dessen, was im Rahmen dieser Arbeit als starker Paternalismus beschrieben wird, ab.97 Da nach seiner Auffassung jedoch allein Entscheidungen geistig reifer Volljähriger zu schützen sind, gilt dies nicht für schwachen Paternalismus. Ebenso hält Mill Aufforderungen und Hinweise98 und damit das, was vorliegend als freiheitsermöglichender Paternalismus99 beschrieben wurde, für zulässig. Mill geht ferner davon aus, dass selbstschädigendes Verhalten bereits dann untersagt werden kann, wenn es – wie in seinem Alkoholrauschbeispiel – mit der abstrakten Gefahr einer Schädigung anderer verbunden ist.100 Abgesehen von seinem Hinweis auf die Sittenwidrigkeit öffentlich begangener Selbstschädigungen bringt er im Übrigen eine antimoralistische Einstellung zum Ausdruck, wenn er zwischen persönlich möglicherweise abzulehnendem und tatsächlich verbotswürdigem Verhalten unterscheidet. Unabhängig davon, dass andere ein bestimmtes Verhalten vielleicht für falsch befinden, hält Mill es für eine Grundfreiheit, das zu tun und anzustreben, was man möchte, so lange kein Dritter dabei zu Schaden kommt.101 In der Rezeption von Mills Thesen ist dem mit dem Verbot der Selbstversklavung einhergehenden paternalistischen Bruch besondere Kritik entgegengeschla-

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Mill, On Liberty, 1859/1946, S. 88. Mill, On Liberty, 1859/1946, S. 88. 94 Mill, On Liberty, 1859/1946, S. 88. 95 Mill, On Liberty, 1859/1946, S. 88–90. 96 Mill, On Liberty, 1859/1946, S. 90 f. 97 Dagegen Hart, Law, Liberty, and Morality, 1963, S. 31 f. 98 Mill, On Liberty, 1859/1946, S. 68, 84. 99 Siehe dazu bereits im ersten Kapitel unter A. V. 8. 100 Mill, On Liberty, 1859/1946, S. 87 f. 101 Mill, On Liberty, 1859/1946, S. 11, 67. 93

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1. Teil: Grundlegung

gen:102 Obwohl die Interessen keines anderen durch einen derartigen Vertrag berührt werden und obwohl sich der Betroffene möglicherweise frei und autonom zur Selbstversklavung entschließt, lehnt Mill eine derartige Konstruktion wie soeben dargestellt ab.103 Die Widersprüchlichkeit dieses Ansatzes ergibt sich bei Betrachtung seiner im Übrigen grundlegend antipaternalistischen Argumente und seiner Begründung des Verbots der Selbstversklavung: Zum einen geht er  – utilitaristisch – davon aus, dass der Betroffene selbst weiß, was für ihn am besten ist, und freie Entscheidungen damit zum größten Wohlbefinden führen104 und zum anderen argumentiert er – scheinbar deontologisch – in Zusammenhang mit der Selbstversklavung mit dem absoluten Wert, welcher der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, und der souveränen Herrschaft über eigene Belange zukommt.105 Doch nicht nur die Widersprüchlichkeit seiner Herangehensweise, sondern auch den einzelnen Bestandteilen seiner Theorie ist Kritik entgegengeschlagen: So übersehe sein Verbot der Selbstversklavung, dass die Aufgabe der Autonomie gerade der ultimative Akt der Autonomieausübung sei.106 Ferner erscheine die utilitaristische Begründung seines Antipaternalismus, die sich darauf stützt, dass der Einzelne immer wisse, was für ihn am besten ist, mehr als fragwürdig: Vielmehr seien durchaus viele Situationen denkbar, in denen Dritte oder der Staat, die nicht von zeitweisen Vorteilen oder anderen, die Willenskraft schwächenden Faktoren beeinflusst sind, das persönliche Interesse der Betroffenen besser beurteilen können als diese selbst.107 Seine Argumentation ist insoweit nicht nur lückenhaft, sondern aus utilitaristischer Perspektive auch nicht zwingend so absolut und strikt antipaternalistisch, wie es zunächst scheint: Denn weiß der Staat in einzelnen Fällen tatsächlich besser, was für den Einzelnen gut ist, muss aus streng utilitaristischer Sicht ein paternalistischer Eingriff eigentlich immer zulässig sein.108 Ein absolutes Verbot antipaternalistischer Eingriffe vermag der Utilitarismus in letzter Konse 102 Siehe etwa Arneson, Ethics 1980, 470 (473–487); Dworkin, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 19 (28); Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 76; Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 30 f. 103 Mill, On Liberty, 1859/1946, S. 92. 104 Mill, On Liberty, 1859/1946, S. 68, 74. 105 Mill, On Liberty, 1859/1946, S. 8 f., 92. Siehe dazu Dworkin, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 19 (28); ders., in: Wasserstrom (Hrsg.), Morality and the Law, 1970, S. 107 (118); Feinberg, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 3 (5, 18); Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (199). 106 Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 30, die nicht so sehr die Widersprüchlichkeit, sondern vielmehr die Irreversibilität der Entscheidung problematisiert, a. a. O., S. 30 f. 107 Vgl. Drerup, Paternalismus, Perfektionismus und die Grenzen der Freiheit, 2013, S. 187; Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (200) m. w. N.; Kleinig, Paternalism, 1983, S. 48; Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 29. 108 Vgl. Dworkin, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 19 (28). Ausführlicher Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (201).

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quenz nicht zu liefern.109 Mill setzt sich jedenfalls nicht mit der Möglichkeit auseinander, dass ein Freiheitseingriff zum eigenen Wohl aus seiner utilitaristischen Sicht unter Umständen für den Betroffenen das Beste sein könnte.110 2. Rechtfertigung durch Nützlichkeit Eine klassisch utilitaristische Argumentation streitet wie bereits dargelegt in Fällen der Nützlichkeit des Eingriffs für eine paternalistische Intervention. Soweit der Betroffene nicht das tut, was für ihn am besten und nützlichsten ist, können Freiheitsbegrenzungen im Einzelfall gerechtfertigt sein: Die Belastung durch den Einsatz von Zwangsmaßnahmen könne durch das verhinderte Leid und die wahrscheinlich große Dankbarkeit derer aufgewogen werden, die durch den Eingriff vor schweren Verletzungen oder Verlusten bewahrt würden.111 Der Schutz der Entscheidungsfreiheit stünde der Rechtfertigung eines paternalistischen Eingriffs dann nicht entgegen, wenn der Verlust dieser Freiheit gering und die durch den Eingriff gesicherten Werte von grundlegender Bedeutung wären.112 Bedenken begegnet eine solche Argumentation jedoch insbesondere insoweit, als die „Berechnung“ von Nützlichkeit und die Abwägung der sich aus dem Zwangseingriff ergebenden Vor- und Nachteile großen Unsicherheitsfaktoren ausgesetzt ist. Eine solche Herangehensweise verstößt zudem gegen die deontologische Vorstellung, dass Freiheit nicht lediglich ein Mittel zur Befriedigung von Bedürfnissen darstellt, sondern dass ihr als solcher ein Wert zukommt, der durch den Eingriff verletzt wird. Auch wenn paternalistische Eingriffe somit erreichen können, wozu Freiheit gemeinhin gebraucht wird, wird die Entscheidungsfreiheit des Betroffenen durch ein solches Vorgehen verletzt.113 3. Rechtfertigung durch Freiheitserweiterung Eine besondere Ausformung der konsequentialistischen Beurteilung von Paternalismus stellt der freiheitserweiternde Paternalismus dar, nach welchem pater­ nalistische Eingriffe zulässig oder sogar geboten sein können, wenn das Übergehen des aktuellen Willens des Betroffenen zu einer Vermehrung der in Zukunft möglichen, freien Entscheidungen führt und Entscheidungsspielräume insoweit

109 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (202); dazu auch ders., in: Kühler / ​Nossek (Hrsg.), Paternalismus und Konsequentialismus, 2014, S. 27–66; in Zusammenhang mit Mill auch Arneson, Ethics 1980, 470 (473). 110 So auch Arneson, in: Routledge Encyclopedia of Philosophy Vol. 7, 1998, S. 250. 111 Dazu Kleinig, Paternalism, 1983, S. 49. 112 Dazu Kleinig, Paternalism, 1983, S. 50. 113 Zu diesen Einwänden auch Kleinig, Paternalism, 1983, S. 50.

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1. Teil: Grundlegung

im Ergebnis vergrößert werden.114 Eine derartige Argumentation kann beispielsweise ein Verbot von Drogen rechtfertigen, weil die Freiheit des Betroffenen in Folge des Konsums und der Abhängigkeit reduziert wird115 – und ein ähnliches Argument führt auch Mill für die von ihm vertretene Unzulässigkeit der Selbstversklavung an.116 Auch nach Mills Ansatz kann jedoch die bloße Erweiterung der Entscheidungsmöglichkeiten nicht jeden Freiheitseingriff rechtfertigen: Ein solcher ist vielmehr allein zur Verhinderung eines unwiederbringlichen Verlusts jedweder Entscheidungsfreiheit zulässig. Der amerikanische Philosoph Donald H. Regan legt Mills Verbot der Selbst­ versklavung zugrunde, um ein durchweg freiheitserweiterndes Argument zu etablieren, nach dem derjenige paternalistisch bevormundet werden darf, dessen Freiheit durch den Eingriff maximiert wird.117 Dementsprechend stimmt er mit Mills Verbot der Selbstversklavung überein, da durch den eigenen Verkauf in die Sklaverei – auch wenn dieser eine Ausübung von Freiheit darstellt – mehr Freiheit zerstört wird als durch ein Verbot der Selbstversklavung.118 Unter freiheitserweiternden Gesichtspunkten darf nach Regan selbst in die Freiheit des umfassend informierten und autonom handelnden Selbstschädigers eingegriffen werden – etwa in die des Rauchers, der sich über die Folgen seines Konsums völlig im Klaren ist.119 Enderlein geht davon aus, dass freiheitsmaximierender Paternalismus im Einzelfall auch verfassungsrechtlich zulässig sein kann,120 wenn er zu einer Erweiterung von Freiheiten führt oder die Beeinträchtigung zukünftiger Wahlfreiheiten verhindert.121 a) Gewichtung und Bewertung der Freiheiten Das zentrale Problem, dem sich freiheitserweiternde Ansätze ausgesetzt sehen, ist jedoch die bereits in Zusammenhang mit dem klassischen Nützlichkeits-Argument thematisierte Schwierigkeit der Gewichtung und Bewertung der zueinander in Verhältnis zu setzenden Freiheiten. Sobald nämlich die jeweils aktuelle Entscheidungsfreiheit beeinträchtigt werden darf, wenn der Eingriff insgesamt mit einer Vermehrung von Freiheiten einhergeht, muss feststellbar sein, wann ein solches

114 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (204). Siehe dazu bereits im ersten Kapitel unter A. V. 7. 115 Dworkin, in: Encyclopedia of Ethics, Vol. II, 1992, S. 940 (941). 116 Mill, On Liberty, 1859/1946, S. 92; Dworkin, in: Encyclopedia of Ethics, Vol. II, 1992, S. 940 (941). Siehe dazu soeben unter A. III. 1. 117 Regan, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 113 (117). 118 Regan, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 113 (117). 119 Regan, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 113 (118). 120 Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 148 f. Kritisch Schmolke, Grenzen der Selbstbindung im Privatrecht, 2014, S. 61 f. 121 Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 52.

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

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„Mehr“ an Freiheit überhaupt vorliegt.122 Die Zulässigkeit eines solchen Eingriffs dürfte wohl jedenfalls nicht von der Bewahrung einer möglichst großen Anzahl an Handlungsmöglichkeiten abhängen, denn naturgemäß geht mit jeder Entscheidung, die zur Führung eines sinnhaften Lebens erforderlich ist, die Einschränkung einer Vielzahl von anderen Entscheidungsmöglichkeiten einher. Da aber Handlungsunfähigkeit nicht Ziel von am Wohl orientierten paternalistischen Eingriffen sein kann, ist eine rein quantifizierende Betrachtung abzulehnen123 – ein mengenmäßiges Mehr an Möglichkeiten führt nicht zwangsläufig zu einer Vergrößerung der Freiheit und insbesondere auch nicht zu einer Besserstellung des Betroffenen.124 Im Rahmen einer sinnvollen freiheitsmaximierenden Herangehensweise müssen somit auch Bedeutung und Gewicht der Freiheiten in die Bewertung mit einfließen.125 Eine solche Qualifizierung und Bewertung von Freiheiten sieht sich jedoch erheblichen Schwierigkeiten ausgesetzt. Regan geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass der Wert von Freiheiten intuitiv bestimmt werden müsse und es Freiheiten und Aktivitäten gebe, die intrinsisch wertvoller seien als andere.126 Er strebt im Ergebnis eine „Maximierung von wertvollen Handlungsoptionen über die gesamte Lebensdauer“127 an. Auch Enderlein hat sich mit der Beurteilung einer solchen Freiheitserweiterung auseinandergesetzt: Um eine solche festzustellen, seien jene Freiheitsräume, die bestehen, wenn kein freiheitsmaximierender paternalistischer Eingriff erfolgt – und damit die Konstellation, in der die Selbstbeeinträchtigungsfreiheit gewahrt bleibt, aber zukünftige Freiheiten beeinträchtigt werden – mit den Freiheitsräumen zu vergleichen, die bestehen, wenn ein freiheitsmaximierender paternalistischer Eingriff erfolgt – und wenn somit die Selbstbeeinträchtigungsfreiheit eingeschränkt wird, aber dafür zukünftige Freiheitsräume erweitert werden.128 Für die Zulässigkeit des Eingriffs komme es dann entscheidend auf die Gewichtung der Freiheiten an, die nicht anhand der Quantität der Entscheidungsmöglichkeiten vorzunehmen sei, sondern im Lichte ihrer moralischen Wichtigkeit und 122 Auch Schmolke thematisiert die Schwierigkeit der Quantifizierung von Freiheit, ders., Grenzen der Selbstbindung im Privatrecht, 2014, S. 61. 123 Darüber besteht weitgehend Einigkeit, vgl. Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 54 f.; Regan, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 113 (119 f.). So auch Möller, der in diesem Zusammenhang äußert, dass das Ideal seines Freiheitsverständnisses keine möglichst hohe Anzahl an Handlungsmöglichkeiten beinhalte, sondern eben auch die Freiheit, sich durch Entscheidungen dieser Möglichkeiten zu entledigen, ders., Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 123 f. sowie Gutmann, der davon ausgeht, dass es in der Natur von Entscheidungen liege, dass durch sie Möglichkeiten ausgeschlossen und Freiheit eingegrenzt würden, ders., in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (204 f.). 124 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (204 f.); Regan, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 113 (119 f.). 125 Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 54, 62; Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 122. 126 Regan, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 113 (119 f.). 127 Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 123. 128 Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 53 f.

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1. Teil: Grundlegung

Bedeutung für den Betroffenen und sein Wohlergehen zu erfolgen habe.129 Im Ergebnis geht Enderlein davon aus, dass jedenfalls in drastischen Fällen, wie etwa der Selbstver­sklavung aus einer Laune heraus, den zukünftigen Freiheiten ein gegenüber der gegenwärtigen Freiheit vor bevormundenden Eingriffen größeres Gewicht zukomme.130 Grundsätzlich bleibt jedoch zweifelhaft, ob sich Freiheiten überhaupt vergleichen lassen.131 Der freiheitserweiternde Ansatz beruht dementsprechend nicht nur auf „vielen Variablen und Prognosen“, wie Klimpel mit Recht zu Bedenken gibt.132 Insbesondere kommt in der Vergleichsproblematik die grundlegende Schwierigkeit jedes paternalistischen Eingriffs zum Ausdruck: Bereits die Gewichtung und Bewertung der Freiheiten geht zwangsläufig mit einer Fremdbestimmung und Bevormundung einher – die Autonomie der Betroffenen wird somit schon im Rahmen der dem Eingriff vorgelagerten Bewertung übergangen. b) Missachtung der Autonomie Die Autonomie des Betroffenen wird jedoch nicht nur durch die fremdbestimmte Gewichtung der Freiheiten berührt, sondern immer auch durch den auf dieser Beurteilung beruhenden Eingriff. Anders sieht das Enderlein, der davon ausgeht, dass ein entsprechendes Vorgehen die Autonomie des Betroffenen nicht verletze: „Wer den anderen deswegen über die Maximierung der gegenwärtigen Wahlfreiheiten entscheiden lassen will, weil dadurch die Wahlmöglichkeiten des anderen befördert werden, hat die Entscheidung, die gegenwärtigen Wahlfreiheiten des anderen zu maximieren, bereits getroffen – unabhängig vom Willen des anderen. Also macht es wenig Sinn, die Maximierung der gegenwärtigen Wahlfreiheiten des anderen ohne dessen Willen mit Gründen der Usurpation fremder Entscheidungstätigkeit zu kritisieren.“133

Enderlein geht folglich davon aus, dass der Gegenauffassung ebenfalls eine freiheitsmaximierende, fremdbestimmte Gewichtung von Freiheiten zu Grunde liege, in deren Rahmen die gegenwärtige Freiheit vor Bevormundung absoluten Vorrang vor dem Schutz zukünftiger Freiheiten genieße.134 Er selbst nimmt jedoch an, dass zukünftige Freiheiten jedenfalls nicht per se weniger bedeutsam oder schützenswert seien als gegenwärtige.135 Diese Verteidigung seines Ansatzes ist von 129 Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 54 f., 62. Zur Kritik, eine Gewichtung von Freiheiten sei aus verschiedenen Gründen schwierig oder gar nicht möglich, a. a. O. S. 63–66. 130 Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 62. 131 So auch Kleinig, Paternalism, 1983, S. 53. 132 Klimpel, Bevormundung oder Freiheitsschutz?, 2003, S. 39. 133 Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 59. 134 Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 61. Kritisch Schmolke, Grenzen der Selbstbindung im Privatrecht, 2014, S. 62. 135 Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 60.

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

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Gutmann zurückgewiesen worden: So basiere die grundsätzliche Ablehnung von Paternalismus entgegen der Auffassung von Enderlein nicht auf der Idee einer gegenwärtigen Freiheitsmaximierung, sondern auf dem Respekt vor der selbstbestimmten Handlung des gegenwärtig Betroffenen.136 Im Rahmen von Enderleins Freiheitserweiterung würde aber das Selbstbestimmungsrecht dieses gegenwärtig Betroffenen zugunsten abgespaltener, zukünftiger Varianten derselben Person instrumentalisiert und die Idee der Freiheit – die keine Freiheit mehr sei, wenn sie nur ausgeübt werden könne, soweit sie der Vergrößerung der Gesamtfreiheiten diene – ad absurdum geführt.137 Dem ist im Ergebnis zuzustimmen: Unabhängig von einer möglichen Vorteilhaftigkeit der Entscheidung für den Betroffenen bleibt der paternalistische Eingriff eine fremde, bevormundende Entscheidung, durch welche die Individualität des Betroffenen übergangen wird.138 Wer den Respekt vor der Autonomie des Einzelnen ernst nimmt, darf diese auch nicht zugunsten möglicher Zukunftsentwicklungen beschneiden. Enderleins Rechtfertigungsansatz, der sich darauf stützt, dass auch der Respekt vor der gegenwärtigen Autonomie in Folge der damit einhergehenden Gewichtung eine freiheitsmaximierende Herangehensweise sei, hat vielmehr Schwächen: Er geht insofern an der Sache vorbei, als der Respekt vor der gegenwärtigen Autonomie kein Ergebnis einer abwägenden Gewichtung verschiedener Freiheiten ist, sondern wie in der deontologischen Ethik darauf basiert, dass der (naturgemäß gegenwärtigen) Freiheit ein absoluter Wert zukommt, der nicht auf einer externen Festlegung basiert, sondern intrinsisch besteht. Selbst wenn diesem grundlegenden Respekt vor der gegenwärtigen Entscheidungsfreiheit jedoch ein freiheitsmaximierender Ansatz zugrunde liegen würde, vermag Enderleins Ansatz nicht zu erklären, weshalb eine andere Gewichtung von Freiheiten gleichsam „zulässiger“ wäre. c) Schutz des zukünftigen Selbsts In der Nähe von freiheitsmaximierenden Ansätzen sind Argumentationen an­ gesiedelt, nach denen paternalistische Eingriffe mit dem Verweis auf ein „zukünftiges Selbst“ gerechtfertigt werden können.139 Diesen Betrachtungen liegt der 136 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (206 f.). 137 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (207 f.). 138 So auch Kleinig, Paternalism, 1983, S. 54 f. Kleinig geht davon aus, dass der Malus dieser Fremdbestimmung auch nicht durch eine gegebenenfalls verhältnismäßig geringe Freiheitsbeschränkung und vergleichbar große Vorteile für den Betroffenen aufgewogen würde, ders., Paternalism, 1983, S. 54. 139 Vgl. etwa Parfit, in: Montefiore (Hrsg.), Philosophy and Personal Relations, 1973, S. ­137–169; Regan, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 113 (123, 125 f.). Dazu Kleinig, Paternalism, 1983, S. 45–48 m. w. N.

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1. Teil: Grundlegung

Gedanke zugrunde, dass durch ein selbstschädigendes oder selbstgefährdendes Verhalten ein zukünftiges Selbst, das sich von dem jetzigen Selbst unterscheiden lässt, verletzt wird und damit ein paternalistischer Eingriff gegenüber dem gegenwärtigen Selbst durch den Schutz des späteren Selbst des Betroffenen und damit quasi durch den Schutz einer anderen Person gerechtfertigt ist.140 So geht etwa Regan davon aus, dass zugunsten einer zukünftigen, vernünftigeren Person in die Freiheit der gegenwärtigen Person eingegriffen werden darf – aus Sicht eines allwissenden Paternalisten zum Beispiel in die Freiheit eines Fahrradfahrers, der durch einen Unfall schwer verletzt würde, wenn er keinen Helm trüge. Ein solcher Paternalismus wäre nach Regan zulässig, obwohl es in Folge des Eingriffs gar nicht mehr zu der Entwicklung des zukünftigen, durch den Unfall klügeren Selbsts kommt und es sich insoweit nur um eine potentielle, imaginäre Person dreht, zu deren Gunsten gehandelt wird.141 Auch Kleinig erkennt an, dass jemand, der vor einem Unfall keinen Wert darauf legt, einen Schutzhelm zu tragen, nach einem Unfall höchstwahrscheinlich eine gewisse Persönlichkeitsveränderung dahingehend durchlaufen könnte, dass er nunmehr großen Wert auf das Tragen eines Schutzhelms legen würde – weshalb sich darstellen ließe, dass bei einem Fahren ohne Helm das spätere Selbst durch das frühere Selbst verletzt werde.142 Dementsprechend sei ein paternalistischer Eingriff dann gerechtfertigt, wenn sich mit gewisser Sicherheit voraussagen ließe, dass sich die Meinung des Betroffenen hinsichtlich des Eingriffs ändern würde, wenn es zu einer Schädigung käme: In einer solchen Konstellation sei man es dem späteren Selbst schuldig, paternalistisch in den Willen des früheren Selbsts einzugreifen.143 Diese Herangehensweise ist jedoch in verschiedenerlei Hinsicht problematisch, wie auch Kleinig anerkennt: Denn wenn der ohne Schutzhelm Fahrende zum Beispiel in Folge des Unfalls verstirbt, entstünde gar kein zu schützendes „späteres Selbst“. Dasselbe Problem stellt sich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass wohl die meisten, die nach dieser Argumentation Subjekt eines paternalistischen Eingriffs würden, aller Wahrscheinlichkeit nach gar nicht in einen Unfall verwickelt würden: Dann wird im Rahmen eines solchen Ansatzes die Mehrzahl der Betroffenen paternalistisch behandelt, um das spätere Selbst einer Minderheit zu schützen.144 Insbesondere spricht jedoch die mit ihr einhergehende künstliche Unterteilung eines Menschen in verschiedene Persönlichkeiten gegen die aufgezeigte Herange 140

Kleinig, Paternalism, 1983, S. 46. Damit basiert dieser Ansatz auf einem diskontinuierlichen Personen- oder Identitätsbegriff. Siehe zum Diskurs um personale Identität etwa Quante, Philosophische Rundschau 1995, 35–59 und zum Personenbegriff als solchem etwa Birnbacher, in: Strasser / ​Starz (Hrsg.), Personsein aus bioethischer Sicht, 1997, S. 9–25; Sturma, in: Sturma / ​ Heinrichs (Hrsg.), Handbuch Bioethik, 2015, S. 129–136. 141 Regan, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 113 (126). 142 Kleinig, Paternalism, 1983, S. 46. 143 Kleinig, Paternalism, 1983, S. 47. 144 Kleinig, Paternalism, 1983, S. 47.

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

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hensweise: Denn eine derartige Aufspaltung stimmt nicht nur nicht mit der subjektiven Wahrnehmung von Persönlichkeitskontinuität145 überein, sondern stellt auch jede Form der Verantwortlichkeit oder Bindung, etwa an vertragliche Vereinbarungen, in Frage:146 Unter diesem Aspekt könnte sonst jegliche Verantwortung des jetzigen Selbsts durch Verweis auf ein von diesem zu unterscheidendes, früheres Selbst abgelehnt werden. Zudem stellt eine solche Betrachtung geradezu eine Instrumentalisierung des Betroffenen zugunsten seines zukünftigen Selbst dar147 – ohne Wahrung des Respekts vor der gegenwärtigen Autonomie. In Folge zwangsläufiger Zukunftsorientierung basiert der Eingriff in diesen Fällen ferner immer auf einer hypothetischen Weiterentwicklung der Persönlichkeit, was in der Sache nicht überzeugen kann. Eine spekulative Herangehensweise droht vielmehr zum Türöffner für jede Bevormundung zugunsten eines potentiell vernünftigeren, späteren Verhaltens zu werden.148 d) Resümee: Keine Eingriffsrechtfertigung durch Freiheitserweiterung Soweit durch sie gegenwärtige Freiheiten zugunsten potentieller zukünftiger Entwicklungen eingeschränkt werden, können freiheitserweiternde Ansätze im Ergebnis nicht überzeugen,149 da ihnen immer ein nicht primär autonomieorientiertes, objektiviertes Freiheitsverständnis zugrunde liegt.150 Denn Autonomie muss immer gegenwärtige Autonomie bedeuten – alle anderen Stadien der Autonomie sind mangels Greifbarkeit lediglich einer objektivierenden Beurteilung zugänglich, was der Selbstbestimmung als intrinsisch subjektivem Gut widerspricht. Soll für einen Eingriff allein die Erweiterung von Freiheit entscheidend sein, muss deshalb zugunsten einer fremdbestimmten Wertung immer um die gegenwärtige Autonomie des Betroffenen gefürchtet werden. Zwar werfen die von Enderlein angeführten Fälle, in denen er den zukünftigen Entscheidungsmöglichkeiten Vorrang vor der gegenwärtigen Freiheit von Bevormundung einräumt – so etwa im Falle der durch eine Laune motivierten Selbstversklavung  – in der Tat Zweifel an der absoluten Ablehnung einer freiheitserweiternden Betrachtung auf. Ein Eingriff auf Grundlage von Freiheitserweiterung 145 Ob personale Identität tatsächlich durch körperliche Kontinuität garantiert wird, ist philosophisch indes umstritten, siehe nur etwa Quante, Philosophische Rundschau 1995, 35 (39). 146 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (241); Schroth, in: FS Roxin, 2001, S. 869 (877); ders., JZ 2004, 469 (472). 147 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (242). 148 Ähnlich Schroth, in: FS Roxin, 2001, S. 869 (877). 149 Vgl. Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebend­ organspende, 2006, S. 189 (208 f.). 150 Möller hält den Aspekt der Freiheitsmaximierung ebenfalls für nicht vereinbar mit einem „Ansatz, der die Autonomie des Einzelnen in den Vordergrund rückt […].“, ders., Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 123.

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1. Teil: Grundlegung

widerspricht dennoch dem Selbstbestimmungsschutz des Einzelnen: Wenn der autonomen Entscheidung des Betroffenen ein absoluter Wert zukommt, kann keine objektivierte Wertung Einfluss auf die Zulässigkeit der Bevormundung haben. Werden derart drastische Fälle wie die anlasslose Selbstversklavung zugelassen, besteht jedoch die Gefahr, dass die Betroffenen nicht ausreichend vor verborgen-defizitären Entscheidungen geschützt werden. Unter diesem Gesichtspunkt könnte dem Gedanken der Gewichtung von Freiheiten, der der Freiheitserweiterung innewohnt, zumindest eine Indizwirkung im Rahmen eines Gefährdungsschutzes zukommen: So könnte ein paternalistischer Eingriff zulässig sein, wenn der Rückschluss auf ein Autonomiedefizit des Betroffenen naheliegt, weil die gefährdeten, zukünftigen Freiheiten eklatant bedeutsamer sind als die gegenwärtige Entscheidungsfreiheit – etwa bei der Bedrohung von Rechtsgütern mit absoluter Lebensrelevanz ohne erkennbaren Anlass. Bei nachgewiesener Selbstbestimmtheit einer solchen Entscheidung muss ein protektiver Eingriff jedoch – im Sinne des absoluten Respekts vor der Autonomie – immer als unzulässig abgelehnt werden. 4. Verhältnis von zu schützendem Rechtsgut und Entscheidungsfreiheit Der Idee der Freiheitserweiterung ähneln Ansätze, nach denen paternalistische Eingriffe gerechtfertigt sind, soweit das zu schützende Rechtsgut von besonderer Wichtigkeit und die Freiheit, in die eingegriffen wird, von untergeordneter Bedeutung ist.151 Klassisches Beispiel ist insoweit wiederum die Gurt- oder Helmpflicht, die mitunter dadurch gerechtfertigt wird, dass durch sie das Risiko einer schweren Schädigung auf Kosten eines lediglich trivialen Freiheitseingriffs gesenkt werden kann.152 Auch ein solcher Ansatz führt jedoch zu einer problematischen Relativierung der mit ihm einhergehenden Autonomieverletzung. Diese bleibt unabhängig davon, wie „schwer“ der Eingriff wiegt, bestehen und rechtfertigungsbedürftig – ganz abgesehen davon, dass auch in einer solchen Konstellation die bedeutsame Frage offenbleibt, wer die (eigentlich höchstpersönliche) Unterscheidung zwischen zentral wichtigen Werten und trivialen Entscheidungen vornehmen soll, ohne fremdbestimmt und bevormundend vorzugehen.

151 Etwa bei Dworkin, in: Wasserstrom (Hrsg.), Morality and the Law, 1970, S. 107 (110, 124); Kleinig, Paternalism, 1983, S. 68. 152 So etwa bei Dworkin, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 105 (110). Unter Ergänzungen so auch Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (245).

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

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5. Resümee: Konsequentialismus und Paternalismus Im Ergebnis kranken konsequentialistische Beurteilungen153 paternalistischer Eingriffe immer daran, dass sie die zentrale Bedeutung der Möglichkeit, eigene Entscheidungen zu treffen und eigene Fehler zu machen, übersehen und mit dem Aufdrängen zwangsläufig fremder Vorstellungen davon, was für den Betroffenen gut sein könnte, diesem den Respekt als gleichwertiges moralisches Wesen absprechen.154 Ein absoluter Antipaternalismus, der Freiheit nicht als objektives, sondern als subjektives Gut von höchstem Wert ansieht, kann nicht konsequentialistisch begründet werden.155 Vielmehr steht gerade hinter paternalismus-freundlichen Ansätzen regelmäßig eine konsequentialistische Sichtweise: Wenn ein Verhalten immer dann für zulässig befunden wird, wenn es im Großen und Ganzen am meisten Gutes fördert oder am meisten Schlechtes verhindert und die Autonomie in Anbetracht der objektiven Bewertung von Rechtsgütern eine relativierbare Rolle spielt, spricht wenig gegen paternalistische Eingriffe.156 Deren umfassende und unbedingte Abwehr vermag allein ein deontologischer Ansatz zu leisten.

IV. Kollektivismus und Kommunitarismus Auch kollektivistische und kommunitaristische Herangehensweisen stehen paternalistischen Freiheitseinschränkungen grundsätzlich offen gegenüber: Im Rahmen des Kollektivismus genießen die Interessen der Gesellschaft als Ganze Vorrang vor den Bedürfnissen des Einzelnen;157 ebenso ist im Kommunitarismus die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft von entscheidender Bedeutung, so dass ethische Bewertungen immer im Kontext der Gemeinschaftstraditionen und kultureller Übereinkünfte stattfinden.158 Folglich spielt bei Zugrundelegung dieser Ansätze die Idee des Respekts vor individuellen Entscheidungen eine im Zweifel unter­ geordnete Rolle – weshalb auch ein geringer Rechtfertigungsdruck für paternalisti 153

Vgl. zu dem ebenfalls konsequentialistischen Ansatz des Präferenzutilitarismus, nach dem das Wohlergehen der Betroffenen subjektivistisch-paternalistisch gefördert werden darf, etwa Brock, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 237 (249–258) und zu konsequentialistischen „behavioral law and economics“-Ansätzen, nach denen ein paternalistischer Eingriff gerechtfertigt ist, soweit der mit ihm verbundene Vorteil durch Schadensabwendung gegenüber dem mit ihm verbundenen Aufwand und den mit ihm verbundenen Nachteilen überwiegt Mayr, in: FatehMoghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 48 (53) m. w. N. 154 Vgl. Dworkin, in: Encyclopedia of Ethics, Vol. II, 1992, S. 940 (941). 155 Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 32; siehe auch Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (208 f., 214). 156 Culver / ​Gert, Philosophy in Medicine, 1982, S. 143; Fateh-Moghadam, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 21 (24); Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 29. 157 Sedmak, in: Metzler Lexikon Philosophie, 3. Aufl. 2008, S. 298. 158 Buchanan, in: Routledge Encyclopedia of Philosophy Vol. 2, 1998, S. 464 (465).

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1. Teil: Grundlegung

sche Eingriffe besteht:159 Denn wenn der Einzelne außerhalb seiner Gemeinschaftsidentität oder ohne Fokussierung auf das Gemeinwohl nur falsche Vorstellungen des guten Lebens verfolgen kann, dann muss die eigenverantwortliche Entscheidung nicht geschützt werden.160 Dementsprechend paternalistisch geht etwa von Jhering davon aus, dass „Zwecksubject des Sittlichen“ nur der Mensch als Glied der Gemeinschaft sein könne und dass die Gesellschaft verpflichtet sei, für ihre Mitglieder zu sorgen.161

V. Gesellschaftliche Pflichten und Vernetzungsargumente In einer gewissen Nähe zu kollektivistischen und kommunitaristischen Ansätzen sind auch die sog. Vernetzungsargumente oder Argumente der „interconnectedness“ einzuordnen. Auf deren Basis darf seitens der Gesellschaft bei individuellen Selbstschädigungen eingegriffen werden, weil jede Selbstschädigung in Folge der zwangsläufigen Vernetzung des Individuums immer auch eine Schädigung der Gesellschaft darstellt. Den Ansätzen liegt der Gedanke zugrunde, „dass prinzipiell alles, was ein Mensch tut, andere Menschen beeinträchtigen kann; dass kein Mensch eine Insel ist; dass die gesellschaftlichen und individuellen Aspekte des menschlichen Daseins sich in der Praxis oft nicht auseinanderhalten lassen.“162 Selbstverletzendes Verhalten beeinträchtige primär Ansprüche der Gesellschaft, weil Individuen so tief in die Gesellschaft eintauchen, dass ihre Angelegenheiten gleichzeitig auch zu Angelegenheiten der Gesellschaft würden.163 Da die Gesellschaft zum Überleben aller notwendig sei, müssten ihre Mitglieder sicherstellen, dass sie in der Lage sind, zu dieser beizutragen. Es bestehe eine Selbsterhaltungspflicht, soweit die Gesellschaft eine Voraussetzung für menschliches Gedeihen darstelle.164 In der Tat ist die Gesellschaft als solche zwar in vielen Fällen bei Selbstschädigungen mit-betroffen – sei es durch eine in der Folge möglicherweise fehlende Leistungsfähigkeit des Einzelnen oder durch die Kosten, die mit Selbstschädigung oder sogar Selbsttötung für die Gesellschaft einhergehen.165 Ein zwangsläufiger Zusammenhang lässt sich pauschal jedoch nicht darstellen. Vielmehr sind Verhaltensweisen und Selbstschädigungen denkbar, die allein Auswirkungen gegenüber dem Handelnden selbst entfalten oder andere nur indirekt, entfernt oder geringfügig 159 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (193). 160 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (194). 161 von Jhering, Der Zweck im Recht, Bd. 2, 1877/1923, S. 153–155. 162 Berlin, Freiheit, 1969/1995, S. 277. 163 Dazu Kleinig, Paternalism, 1983, S. 39. Siehe auch Kliemt, der davon spricht, dass es kaum Handlungen gibt, „die ihrer Natur nach ausschließlich den Handelnden selbst betreffen“, ders., in: Taupitz (Hrsg.), Kommerzialisierung des menschlichen Körpers, 2007, S. 95 (99). 164 Zum Ganzen Kleinig, Paternalism, 1983, S. 39–41. 165 So auch Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 22.

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

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berühren.166 Insbesondere hinsichtlich der Selbsttötung ist etwa zu bedenken, dass diese die Gesellschaft nicht in jedem Fall belasten muss. Fragen der Nützlichkeit können vielmehr nur im Einzelfall beantwortet werden,167 weshalb eine genera­ lisierende Regel nach diesem Entwurf abzulehnen ist. Eine derartige Funktiona­ lisierung des Einzelnen zugunsten der Gemeinschaft widerspricht zudem dem unbedingten Respekt vor der Selbstbestimmung und der Selbstzweckhaftigkeit jedes Menschen.168 Eine Selbsterhaltungspflicht zugunsten der Gesellschaft kann somit nicht überzeugen.169

VI. Paternalistische Nebenwirkungen Ebenfalls an den Schutz der Gemeinschaft knüpfen Konzepte an, nach denen naturgemäß generalisierende Kollektivmaßnahmen oder gesetzliche Regelungen, die von einer Mehrheit gewünscht sind und nur gegenüber einer Minderheit paternalistisch wirken, einer Rechtfertigung zugänglich sein können, soweit sie von nur mäßiger Eingriffsschwere sind.170 Wenn die Maßnahme den Schutz eines besonders bedeutsamen Guts bezweckt, für die ablehnende Minderheit kaum mit Nachteilen verbunden ist und es unverhältnismäßig aufwendig wäre, sie allein auf die zustimmende Mehrheit zu begrenzen, wird mitunter sogar angenommen, dass ein entsprechendes Vorgehen gar nicht paternalistisch sei, sondern allein durch die Interessen der Mehrheit motiviert werde.171 166

Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 22. Das kann sich jedoch nach Feinberg in zwei Konstellationen ändern: Zum einen in einer extremen Bedrängnissituation der Gesellschaft, in der jeder gebraucht werde. Nehme sich in dieser Konstellation ein Einzelner das Leben, schwäche er die gesamte Gemeinschaft. Insoweit lasse sich eine Unterscheidung zwischen Verhalten, das nur den Einzelnen selbst betrifft und Verhalten, das alle betrifft sowie zwischen Nicht-­Helfen und Schädigen nicht mehr aufrechterhalten. Zum anderen könne eine derartige Unterscheidung problematisch werden, wenn sich eine große Masse an Menschen ihrer gesellschaftlichen Verpflichtung entzieht: Dann könne ein Verhalten, das als solches nur selbstbezogen ist, infolge seines massenhaften Auftretens zu einer Schädigung der Gemeinschaft führen, a. a. O. S. 22 f. 167 Eine sozialutilitaristische Herangehensweise unter diesem Aspekt ablehnend Klimpel, Bevormundung oder Freiheitsschutz?, 2003, S. 72. 168 Klimpel, Bevormundung oder Freiheitsschutz?, 2003, S. 72 f. 169 Im Ergebnis lehnt auch Kleinig die Linie der Vernetzungsargumente ab, ders., Paternalism, 1983, S. 45. 170 Dazu Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebend­ organspende, 2006, S. 189 (245). 171 Dworkin nennt als Beispiel die von einer Mehrheit gewünschte Fluoridierung des Trinkwassers, ders., in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 105 (110). Mangels direkten paternalistischen Zwecks und vielmehr intendierten Schutzes der ihn wünschenden Mehrheit seien entsprechende Regelungen nicht paternalistisch, a. a. O. Feinberg nennt als Beispiel für eine entsprechende Regelung das Duellier-Verbot: Dies erscheine paternalistisch, diene aber eigentlich dem Schutz aller davor, in eine Situation zu kommen, in der sich aus traditionellen Gründen duelliert werden müsse. Soweit es aber Zweck des Gesetzes sei, der Mehrheit die Erreichung eines kollektiven Wohls zu ermöglichen und nicht ein umsichtiges Verhalten der Minderheit zu erzwingen, hält Feinberg eine entsprechende Regelung nicht für paternalistisch, ders., Harm to Self, 1986, S. 19–21.

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1. Teil: Grundlegung

Soweit der Schutz auch gegen den Willen Einzelner mitbezweckt und in Kauf genommen wird, vermag der Wunsch der Mehrheit jedoch nichts an der Einordnung einer Maßnahme als (auch-)paternalistisch zu ändern. Ebenso kann eine Rechtfertigung, die sich an Eingriffsschwere und Nachteilsabwägung orientiert, aus Gründen des Autonomieschutzes als solche nicht überzeugen. Paternalistische Eingriffe, zu denen es als Nebenwirkung und Folge eines erwünschten Schutzes Dritter kommt, können jedoch durch den Schutz dieser Dritten gerechtfertigt werden.172 Der Autonomieschutz kann dann in Form von Ausstiegsmöglichkeiten Einzelner gewahrt bleiben – es sei denn, der mit der Regelung bezweckte Schutz kann auch im Einzelfall nur Wirkung entfalten, wenn ein Verhalten allen verboten wird.173

VII. Autonomieorientierte Ansätze Hinsichtlich der Rechtfertigung von Paternalismus lässt sich ferner eine Vielzahl autonomieorientierter Ansätze ausmachen, die aus verschiedenen Perspektiven von einer Zulässigkeit paternalistischer Eingriffe ausgehen, soweit diese in irgendeiner Form mit der Autonomie des Betroffenen übereinstimmen – sei es auch qua paternalistischer Definition nicht mit den unmittelbar geäußerten Präferenzen. 1. Vorherige Zustimmung: Odysseus-Paternalismus Die ausdrückliche Einwilligung des Betroffenen in einen Eingriff hat zentralen Einfluss auf dessen Bewertung: Während die aktuelle Zustimmung des Betroffenen bereits der Annahme eines paternalistischen Eingriffs entgegensteht, wird ein Eingriff, der auf Basis einer vorangegangenen Zustimmung erfolgt, als sog. Odysseus-Paternalismus mitunter einer gesonderten Rechtfertigung zugeführt. Das Konzept des Odysseus-Paternalismus nimmt Bezug auf Homers Odyssee, in welcher beschrieben wird, dass Odysseus seinen Gefährten aus Angst, sonst den betörenden Kräften der Sirenen zu verfallen, befiehlt, ihn vor der Begegnung mit den Sirenen am Schiffsmast festzubinden und ihn auch, wenn er dies später in Anwesenheit der Sirenen wünschen sollte, nicht wieder zu befreien.174 Er gibt seinen Gefährten somit auf, seinen potentiell nachfolgenden Willen auf seinen eigenen, vorangegangenen Wunsch hin zu durchkreuzen.175 172

Siehe dazu unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten unter B. V. Das wäre etwa in Feinbergs Beispiel des Duellier-Verbots (ders., Harm to Self, 1986, S. 19 f.) der Fall: Wenn eine Mehrheit davor geschützt werden wolle, in eine Situation zu kommen, in der man sich duellieren müsse, müsse das Duellieren allen verboten werden. Die Statuierung von Ausnahmen würde den Schutz aller unterlaufen. 174 Homer, Die Odyssee, XXII. Gesang, S. 213. 175 „Doch bindet mich in Bande, schmerzliche, daß ich an Ort und Stelle fest verharre, aufrecht an den Mastschuh, und es seien die Taue an ihm selber angebunden. Und wenn ich euch anflehe und verlange, daß ihr mich löst, so sollt ihr mich alsdann in noch mehr Bande zwängen.“, 173

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

119

Ein solcher Eingriff, der zwar gegen den aktuellen Willen des Betroffenen, aber auf seinen vorher ausdrücklichen, im Hinblick auf die konkrete Situation geäußerten Wunsch hin erfolgt, wird trotz seines gegenwärtig paternalistischen Charakters vielfach für zulässig erachtet.176 Anwendung findet dieses Konzept etwa bei Anweisungen für zukünftige Krankheitsschübe bei bipolaren Störungen und Alzheimer-Erkrankungen177 oder im Vorfeld von möglicherweise persönlichkeitsverändernden Behandlungen wie der Tiefen Hirnstimulation.178 Wenn die antizipierte Situation im Vorfeld hinreichend konkretisiert und später als Symp­tom eindeutig identifiziert werden kann, können etwa Patientenverfügung und Vorsorge­ vollmacht im deutschen Recht taugliche Instrumente wirksamer Odysseus-Verfügungen sein.179 Mitunter wird davon ausgegangen, dass diese klassischen Odysseus-Konstellationen gar keinen Paternalismus beinhalten, da der Betroffene den Eingriff als solchen nicht grundsätzlich ablehne.180 Dem ist jedoch zu widersprechen: Soweit in den aktuellen Willen des Betroffenen eingegriffen wird, handelt es sich qua definitionem um eine rechtfertigungsbedürftige, paternalistische Beschränkung. Wie bereits dargelegt, bedeutet Autonomie grundsätzlich gegenwärtige Autonomie. Es erklärt sich jedenfalls nicht von selbst, weshalb sich ein vorangegangener Wille per se gegen den aktuellen Willen durchsetzen können sollte. Eine solche Sichtweise könnte zudem dann problematisch werden, wenn der nachfolgende Eingriff doch nicht nur temporär, sondern dauerhaft nicht mehr gewünscht wird.181 In der klassischen Odysseus-Konstellation kann sich der Eingriff jedoch unter Umständen schwach paternalistisch auf Basis des Verlusts der Entscheidungsfreiheit des

Homer, Die Odyssee, XXII. Gesang, S. 213; s. dazu auch Dworkin, in: Wasserstrom (Hrsg.), Morality and the Law, 1970, S. 107 (119 f.); Schöne-Seifert, JWE 2009, 107 (111). 176 So z. B. Carter, CJOP 1977, S. 133 (136); Dworkin, in: Wasserstrom (Hrsg.), Morality and the Law, 1970, S. 107 (119 f.). 177 Schöne-Seifert, JWE 2009, 107 (111). 178 Spranger, Sozialrecht und Praxis 2017, 595 (599 f.). 179 Spranger, Sozialrecht und Praxis 2017, 595 (598–600). 180 So Schramme, der auf die Abgrenzung zu echten paternalistischen Eingriffen wert legt, da er davon ausgeht, dass das Beispiel des Odysseus-Paternalismus häufig dazu genutzt werde, um aufzuzeigen, dass staatlicher Paternalismus angemessen und sinnvoll sei, ders., JWE 2009, 147 (155 f.). 181 Eine solche Situation entwirft auch Kleinig und grenzt die klassischen Fälle des OdysseusPaternalismus von Fällen ab, in denen der Betroffene zwar ebenfalls seine vorherige Zustimmung zu einem Eingriff gegen den eigenen Willen gibt, diese aber nicht dadurch motiviert ist, dass er vor einer zukünftigen Willensänderung geschützt werden will: Anders als bei Odysseus sei auch denkbar, dass nach Erteilung der Zustimmung im Verlauf nicht lediglich ein temporär anderer Wunsch entstehe, sondern sich die Meinung des Betroffenen grundlegend ändere, ders., Paternalism, 1983, S. 57. Er wählt als Beispiel u. a. den Vertrag über eine Suchtbehandlung, in welcher der Patient sich dazu verpflichtet, über einen gewissen Zeitraum hinweg in einer bestimmten Einrichtung zu bleiben. Auch wenn er sich darauf einlasse, sei es denkbar, dass ihm die Behandlungsmethode nicht zusage und er vor Ablauf der vereinbarten Behandlungszeit entlassen werden wolle, dazu a. a. O., S. 56.

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1. Teil: Grundlegung

Betroffenen rechtfertigen lassen, zu dem es in Folge der Betörung durch die Sirenen – oder im alltäglichen Szenario etwa durch Betäubungsmittelkonsum – kommen kann. 2. Nachträgliche Zustimmung Neben der vorherigen wird auch die nachträgliche Zustimmung zum Ansatzpunkt paternalistischer Rechtfertigungskonzepte gemacht. So geht etwa Carter davon aus, dass (interpersonelles) paternalistisches Verhalten gerechtfertigt wird, wenn der Betroffene dem Eingriff nachträglich ausdrücklich zustimmt oder einer Zustimmung nach entsprechender Aufforderung oder nach dem Erlangen relevanter Informationen zugeneigt ist.182 Ähnlich beschreibt Dworkin elterlichen Paternalismus: Auch dieser basiere auf der Annahme, dass die älter werdenden Kinder eines Tages einsehen, dass die Freiheitsbeschränkungen seitens der Eltern das Beste für sie waren.183 Problematisch ist ein derartiges Konstrukt jedoch im Hinblick auf Fälle, in denen eine nachträgliche Zustimmung etwa in Folge eines plötzlichen Versterbens gar nicht mehr erteilt werden kann oder in welchen manipulierend in eine spätere Bewertung der Situation eingegriffen wird.184 Im Augenblick des Eingriffs besteht somit zwangsläufig eine Ungewissheit über die nachfolgende Zustimmung185  – die naturgemäß spekulative Antizipation derselben kann eine Rechtfertigung des Eingriffs deshalb nicht begründen. Insbesondere aber wird der Eingriff in die aktuelle Autonomie des Betroffenen auch durch eine nachträgliche Zustimmung nicht ungeschehen gemacht. Da eine nachträgliche Zustimmung keine rückwirkende Eingriffsbefugnis erteilen kann,186 ist ein entsprechender Rechtfertigungsansatz abzulehnen. 3. Hypothetische Zustimmung Als Rechtfertigung für paternalistische Eingriffe kommt ferner eine hypothetische Zustimmung des Betroffenen in Betracht. Auf eine solche kann unproblematisch rechtfertigend zurückgegriffen werden, wenn der Betroffene im Augenblick des Eingriffs nicht entscheidungsfähig oder nicht ausreichend informiert ist. Mangels wirksamen, entgegenstehenden Willens erfolgen entsprechende Eingriffe – so

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Carter, CJOP 1977, S. 133 (136). Dworkin, in: Wasserstrom (Hrsg.), Morality and the Law, 1970, S. 107 (119). 184 Kleinig, Paternalism, 1983, S. 61 f. 185 Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 187; Kleinig, Paternalism, 1983, S. 62; letzterer verweist in diesem Zusammenhang jedoch auf Carter, nach der es mehr oder weniger Grund zu der Annahme und verschiedene Indizien dafür geben könne, dass später eine Zustimmung erteilt werde, a. a. O., m. w. N. 186 Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 187. 183

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

121

etwa in Mills Brückenbeispiel187 oder bei der lebensrettenden Operation eines Bewusstlosen188 – nicht stark, sondern vielmehr schwach paternalistisch.189 Auch VanDeVeer geht im Rahmen seines „Principle of Autonomy-Respecting Paternalism“190 davon aus, dass solche Freiheitseingriffe zulässig sein können, wenn sie den Respekt vor der Autonomie des Betroffenen achten.191 Paternalistische Einmischungen seien deshalb gegenüber grundsätzlich entscheidungsfähigen Personen gerechtfertigt, wenn der Betroffene dem Eingriff zustimmen würde, wenn ihm alle relevanten Umstände bewusst wären oder er nicht aktuell in seiner Entscheidungsfähigkeit beeinträchtigt wäre.192 Im Sinne des Autonomieschutzes kann sich der hypothetische Willen des Betroffenen zwar nicht gegen eine gegenwärtige, autonome Entscheidung durchsetzen. Soweit die Selbstbestimmung jedoch wie in VanDeVeers Entwurfs beeinträchtigt ist, ist die schwach paternalistische Rechtfertigung eines Eingriffs, der sich am hypothetischen Willen des Betroffenen orientiert, denkbar. 4. Dworkins „rational consent“ Die von dem amerikanischen Philosophen Ronald Dworkin (1931–2013) ver­ tretene Rechtfertigung paternalistischer Eingriffe mit dem „rational consent“ des Betroffenen steht der Idee der hypothetischen Zustimmung zumindest nah. Demnach sind paternalistische Maßnahmen einer Rechtfertigung zugänglich, wenn rational handelnde Menschen einer Einschränkung ihrer Freiheit zustimmen würden, obwohl durch die Ausübung dieser Freiheit keine fremden Interessen betroffen werden.193 Eine solche, rational-hypothetische Zustimmung hält Dworkin insbesondere in Fällen für naheliegend, in denen irreversible, lebensverändernde Entscheidungen getroffen werden,194 in denen der Betroffene unter einem solchen psychischen Druck steht, dass er nicht mehr in der Lage ist, klar und ruhig über

187

Siehe dazu bereits unter A. III. 1. Dworkin, in: Encyclopedia of Ethics, Vol. II, 1992, S. 940 (941). 189 So im Ergebnis auch Kleinig, Paternalism, 1983, S. 59–61 und Maio, der mit einem anderen Autonomieverständnis solche Fälle mangels „Wohlüberlegtheit“ und Authentizität der Entscheidung des Betroffenen ebenfalls eigentlich für Fälle von schwachem Paternalismus hält, da durch den Eingriff letztlich der aktuell vorherrschende Wunsch des Betroffenen zugunsten eines eigentlichen, verborgenen Wunsches übergangen würde, ders., Mittelpunkt Mensch: Ethik in der Medizin, 2012, S. 160. 190 VanDeVeer, Paternalistic Intervention, 1986, S. 88 f. 191 VanDeVeer, Paternalistic Intervention, 1986, S. 424. 192 VanDeVeer, Paternalistic Intervention, 1986, S. 424. 193 Dworkin, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 19 (29); ders., in: Wasserstrom (Hrsg.), Morality and the Law, 1970, S. 107 (119 f.). Die Zustimmungsidee ist an Rawls angelehnt, s. Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 159. 194 Dworkin, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 19 (31); ders., in: Wasserstrom (Hrsg.), Morality and the Law, 1970, S. 107 (122). 188

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1. Teil: Grundlegung

die Folgen seiner Entscheidung nachzudenken195 und in denen er die drohenden Gefahren nicht ausreichend versteht oder zu würdigen weiß.196 Der Eingriff diene dann der Verwirklichung der eigenen Ziele des Betroffenen.197 Soweit ein solcher Eingriff von staatlicher Seite erfolge, treffe diese die Beweislast hinsichtlich der Schäden oder Vorteile, die verhindert oder erreicht werden sollen, ihrer Wahrscheinlichkeit sowie der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme. Deshalb sei immer der am wenigsten einschneidende Eingriff zu wählen, auch wenn dieser für die Gesellschaft aufwendiger oder teurer sein sollte.198 Dworkins Ansatz hat insbesondere dahingehend Kritik erfahren, dass das Kriterium der Rationalität zu unbestimmt bleibe199 und es eine Vielzahl von Handlungen gebe, die von Dritten als irrational eingestuft werden könnten.200 Ferner respektiere sein Ansatz die Autonomie entscheidungsfähiger Menschen nicht201 und könnte zu Perfektionismus und der Aufoktroyierung eines „Rationalitätsideals“ Dritter führen.202 Zudem sei grundsätzlich zweifelhaft, ob eine vollumfänglich rational handelnde Person jemals Eingriffen zustimmen würde, die ihr verbieten, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen.203 Auch ob es überhaupt derart bestimmbare Ziele jedes Einzelnen gebe, die durch einen solchen Eingriff geschützt werden können, bleibe fragwürdig.204 In der Tat kann die Idee einer hypothetischen „rationalen“ Zustimmung einen Eingriff nicht rechtfertigen, der sich gegen eine Entscheidung richtet, die zwar möglicherweise irrational ist, nicht aber die Schwelle zum Autonomieverlust überschreitet. Sonst würde vielmehr die dem Paternalismus gerade innewohnende Gefahr des Übergehens autonomer Entscheidungen zugunsten eines fremdbestimmten Vernunftdiktats drohen. In einer gewissen Nähe zu Dworkins Ansatz gehen Culver und Gert davon aus, dass ein paternalistischer Eingriff immer dann gerechtfertigt sei, wenn alle ratio 195 Dworkin, in: Wasserstrom (Hrsg.), Morality and the Law, 1970, S. 107 (123); treffen diese Situationen – wie bei einem Suizid in Folge einer akut verzweifelten Lage – mit irreversiblen Entscheidungen zusammen, so hält Dworkin jedoch kein absolutes paternalistisches Verbot für angemessen, sondern vielmehr eine Art aufgezwungene Wartezeit, a. a. O., S. 123. Siehe auch Dworkin, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 19 (32). 196 Dworkin, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 19 (32); ders., in: Wasserstrom (Hrsg.), Morality and the Law, 1970, S. 107 (124). 197 Dworkin, in: Wasserstrom (Hrsg.), Morality and the Law, 1970, S. 107 (124). 198 Dworkin, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 19 (33 f.); ders., in: Wasserstrom (Hrsg.), Morality and the Law, 1970, S. 107 (125 f.). 199 Zude, Paternalismus, 2010, S. 173. 200 VanDeVeer, Paternalistic Intervention, 1986, S. 74. 201 Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 187; Gutwald, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 73 (90); VanDeVeer, Paternalistic Intervention, 1986, S. 72. 202 Birnbacher, in: von Hirsch / ​Neumann / ​Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 11 (15); Gutwald, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 73 (90). 203 VanDeVeer, Paternalistic Intervention, 1986, S. 74. 204 Regan, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 113 (116).

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

123

nal denkenden Menschen darin übereinstimmten, dass die Nachteile, die mit der generellen Erlaubnis eines Verhaltens einhergehen würden, gegenüber den Nachteilen, die das generelle Verbot eines Verhaltens verursachen würde, überwiegen.205 Allein die einstimmige Zustimmung könne einen entsprechenden Eingriff zulässig machen; die einstimmige Ablehnung ließe die Rechtfertigung entfallen.206 Kritik ist diesem Ansatz insofern entgegen geschlagen, als Culver und Gert damit einen generalisierten Maßstab der Vernünftigkeit über die persönliche Selbstbestimmung des Einzelnen stellen.207 In der Tat kann eine externe Beurteilung der Vernünftigkeit des Eingriffs in den autonomen Willen des Einzelnen auch nicht durch die Idee einer „Schwarmintelligenz“ legitimiert werden. 5. Mangelnde Authentizität der Entscheidung Auf Basis einer Orientierung an der Gesamtpersönlichkeit des Bevormundenden wird ferner vertreten, dass Freiheitseingriffe zulässig seien, soweit die übergangenen Entscheidungen nicht mit den langfristigen und wirklichen Zielen des Betroffenen übereinstimmen und deshalb nicht authentisch getroffen worden seien.208 Im Unterschied zu den Ideen des Schutzes eines zukünftigen Selbsts209 sind in diesem Zusammenhang Ziele gemeint, die der Betroffene bereits zum Zeitpunkt des Eingriffs verfolgt und die nicht erst in Folge einer zukünftigen Persönlichkeitsveränderung entstehen. Dementsprechend bemisst sich etwa Kleinigs Bewertung der Zulässigkeit paternalistischer Eingriffe anhand der Wahrung der persönlichen Integrität („personal integrity“)210 des Betroffenen und damit anhand der Authentizität der zugrundeliegenden Entscheidung. So werde die persönliche Integrität des Betroffenen nicht verletzt, wenn die Entscheidung, in die paternalistisch eingegriffen werden soll, dauerhafte, stabile und wichtige Vorhaben gefährde und keine bedeutsamen Bedürfnisse und Neigungen des Bevormundenden betreffe.211 Dann seien paternalistische Eingriffe gerechtfertigt, auch wenn der Betroffene in der konkreten Situation autonom in einem absoluten Sinn handele und lediglich seiner vollen Freiwilligkeit („voluntariness“) in einem relativen Sinn nicht gerecht werde.212 Kleinig erkennt zwar die moralische Gefahr, die Belastung, die mit paternalistischen Eingriffen in autonomes Verhalten einhergeht und die hohen Anforderungen an die Rechtfertigung solcher Freiheitsbeschränkungen an. Er 205

Culver / ​Gert, Philosophy in Medicine, 1982, S. 149. Culver / ​Gert, Philosophy in Medicine, 1982, S. 149. 207 Vgl. Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (233). 208 Dazu Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (236) m. w. N. 209 Siehe dazu unter A. III. 3. c). 210 Kleinig, Paternalism, 1983, S. 67. 211 Kleinig, Paternalism, 1983, S. 68. 212 Kleinig, Paternalism, 1983, S. 69. 206

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1. Teil: Grundlegung

hält eine Rechtfertigung jedoch für möglich, soweit der Betroffene den Eingriff nicht ablehnt, sondern dankbar auf ihn reagiert, weil er anerkennt, dass in diesem Eingriff keine Einmischung oder versteckte Manipulation, sondern vielmehr eine wohlwollende Identifikation mit seinen grundlegenden Zielen und Einstellungen zum Ausdruck kommt.213 Obwohl Paternalismus selbst nicht erstrebenswert sei und daher allein ultima ratio sein könne, sei er in Fällen gerechtfertigt, in denen charakterliche Schwächen die Ziele, die besonders eng mit der eigenen Identität verbunden sind, einem unnötigen Risiko aussetzen.214 Interessant ist Kleinigs Variation einer liberalen Paternalismusidee insbesondere, insoweit er davon ausgeht, dass eine Entscheidung, die die eigentlichen Wünsche des Betroffenen nicht widerspiegele, auch nicht um jeden Preis geschützt werden müsse.215 Da bei einer Überordnung „eigentlicher Wünsche“ gegenüber gegenwärtigen Entscheidungen jedoch eine heteronome Bewertung der Interessen des Betroffenen vorgenommen werden muss, bleibt ein solcher Ansatz bei aller Identitätswahrung und -anerkennung im Hinblick auf den Selbstbestimmungsschutz des Einzelnen dennoch problematisch. Zudem erscheint schon zweifelhaft, ob jeder Mensch überhaupt derart klare und unveränderliche Vorhaben hat, die durch ein selbstschädigendes Verhalten gefährdet werden könnten.216 Vielmehr ist gerade auch die Möglichkeit der Veränderung der eigenen Vorhaben ein Wesensmerkmal der Autonomie.217 Jedenfalls aber kommt es im Rahmen von Kleinigs authenti­ zitätsorientierten Ansatz trotz seiner Ausrichtung an der Identitätswahrung immer zu einer Missachtung des aktuellen, autonomen Willens des Betroffenen.218 6. Unumkehrbarkeit und Widersprüchlichkeit der Entscheidung Eine gewisse Nähe zu der Idee der Freiheitserweiterung weisen Ansätze auf, nach welchen paternalistisch in Entscheidungen eingegriffen werden darf, die in ihren Konsequenzen unumkehrbar und in ihrer Ausübung widersprüchlich sind. So spricht sich etwa Dworkin für die Zulässigkeit paternalistischer Eingriffe in irreversible und tiefgreifende Freiheitsausübungen aus: Da viele Entscheidungen unumkehrbar seien, reiche allein die Irreversibilität einer Entscheidung als Maßstab zwar nicht aus – ein paternalistischer Eingriff sei aber dann zulässig, wenn der Betroffene durch die irreversible Entscheidung sein gesamtes Lebenskonzept 213

Kleinig, Paternalism, 1983, S. 70. Kleinig, Paternalism, 1983, S. 70. 215 Siehe dazu auch Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 175. 216 So auch Regan, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 113 (116). Kritisch zu Kleinigs Ansatz und den Gefahren der Unterstellung einer solchen Langzeitpräferenz auch Schmolke, Grenzen der Selbstbindung im Privatrecht, 2014, S. 62 f. 217 Klimpel, Bevormundung oder Freiheitsschutz?, 2003, S. 38. 218 „[Es] muss beachtet werden […], dass in einer freien Entscheidung ein von dem Inhalt der gewählten Alternative unabhängiger Wert liegt.“, Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 176. 214

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

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aufs Spiel setze. Dies sei etwa bei der Einnahme abhängig machender Drogen, die psychisch und physisch besonders schädigend seien, zu bejahen.219 Die Irreversibilität von Entscheidungen wird als Ansatzpunkt paternalistischer Eingriffe regelmäßig in Zusammenhang mit der Aufgabe der eigenen Autonomie und des eigenen Lebens diskutiert. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die Zerstörung der Autonomie oder der Grundlagen der eigenen Autonomie widersprüchlich und nicht als Ausdruck von Autonomie zu schützen sei, da „[e]ine Argumentation, die ihr eigene Basis in Frage stellt, […] ihren Geltungsgrund“220 verliere: Die Selbstverwerfung eines Konzepts sei nicht dessen Anwendung, sondern seine Verletzung.221 Bevormundende Eingriffe in derartiges Verhalten könnten demnach mit dem Schutz der Autonomie gerechtfertigt werden.222 Die Unveräußerlichkeit zentraler und grundlegender Rechtsgüter wie Leben und Selbstbestimmung wird auch in der klassischen deontologischen Ethik damit begründet, dass sich der Einzelne bei einer Veräußerung dieser Güter in Widerspruch zu sich selbst setzen würde.223 So lehnt Kant die Selbsttötung („Selbstentleibung“) wegen der ihr innewohnenden Widersprüchlichkeit ab: Niemand könne die Befugnis haben, sich durch Selbsttötung seinen Verbindlichkeiten und Pflichten zu entziehen224 und „über sich als bloßes Mittel zu ihm beliebigen Zweck“ disponieren, da dadurch „die Menschheit in seiner Person“ herabgewürdigt werde.225 Auch ­Hegel sieht aus Gründen der Widersprüchlichkeit jene Güter als unveräußerlich an, „welche meine eigenste Person und das allgemeine Wesen meines Selbstbewußtseyns ausmachen, wie meine Persönlichkeit überhaupt, meine allgemeine Willensfreiheit […]“.226 Als Beispiel für derart widersprüchliche Veräußerungen führt er – ebenso wie später Mill227 – die Selbstversklavung an.228 Der Gedanke der Widersprüchlichkeit, der somit auch bei Kant, Hegel und Mill gerade im Zusammenhang mit der Zerstörung des eigenen Lebens durch Selbst­ tötung und der Zerstörung der eigenen Selbstbestimmung durch Selbstversklavung auftaucht, birgt jedoch seinerseits Widersprüche. Soweit allein auf die Autonomie und Freiheit des Betroffenen abgestellt wird, ist nicht einsichtig, weshalb die Irreversibilität einer Entscheidung etwas an der ihr gebührenden Achtung ändern sollte. 219 Zum Ganzen Dworkin, in: Wasserstrom (Hrsg.), Morality and the Law, 1970, S. 107 (122 f.). 220 Klimpel, Bevormundung oder Freiheitsschutz?, 2003, S. 29 f. 221 Klimpel, Bevormundung oder Freiheitsschutz?, 2003, S. 29 f. 222 So Klimpel im Rahmen seines „autonomieorientierten Paternalismus“, ders., Bevormundung oder Freiheitsschutz?, 2003, S. 36. Siehe dazu auch unter B. III. 1. e). 223 Vgl. Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebend­ organspende, 2006, S. 189 (208, Fn. 98) m. w. N. 224 Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797/1977, A 73 (S. 555). 225 Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797/1977, A 73 (S. 555). 226 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1820/2009, § 66, S. 70, Z. 23–27. 227 Dazu bereits unter A. III. 1. 228 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1820/2009, § 66, S. 71, Z. 8 f.

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1. Teil: Grundlegung

Vielmehr wird durch eine solche Herangehensweise die Autonomie zum Selbstzweck gemacht und die Selbstbestimmung in letzter Konsequenz nicht respektiert. Der soeben dargelegte Ansatz führt dann zu einem liberalen Grundsätzen widersprechenden Zwang zur Wahrnehmung eigener Rechte.229 Denn eine irreversible Autonomieausübung ist im Grunde gar nicht widersprüchlich230 – sie ist nur nicht wiederholbar.231 Widersprüchlich ist allein die Freiheitsbeschränkung im Namen des Freiheitsschutzes.

VIII. Ethische Auseinandersetzungen mit schwach paternalistischen Beschränkungen Mangels Übergehens einer autonomen Entscheidung besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass schwach paternalistische Eingriffe in Handlungen und Entscheidungen zulässig sind, die aufgrund fehlender geistiger Kapazität oder altersmäßiger Reife des Handelnden nicht autonom zustande kommen.232 Das Bedürfnis des Autonomie- und Rechtsgüterschutzes sticht in diesen Fällen die nicht schutzwürdige, da nicht vorliegende Selbstbestimmung des Betroffenen aus. Der Selbstbestimmung gebührt jedoch auch bei der Beurteilung schwach paternalistischer Eingriffe eine gewisse Aufmerksamkeit: So darf die Autonomie des Betroffenen nicht zusätzlich gefährdet werden, indem immens hohe Anforderungen an das Vorliegen selbst­bestimmter Entscheidungen gestellt werden und dadurch eine Vielzahl von Eingriffen als schwach paternalistisch legitimiert wird.233 Sonst droht unter dem schwach paternalistischen Deckmantel des Schutzes der Selbstbestimmung de facto deren Einschränkung.234 Im Sinne des Selbstbestimmungsschutzes ist deshalb die Grenzziehung zwischen autonomen und defizitären Entscheidungen und zwischen starkem und schwachem Paternalismus von zentraler Bedeutung.235 229 Buyx, in: Taupitz (Hrsg.), Kommerzialisierung des menschlichen Körpers, 2007, S. 267 (274). 230 Einen Widerspruch im Rahmen der Selbstversklavung sieht auch Buyx nicht, dies., in: Taupitz (Hrsg.), Kommerzialisierung des menschlichen Körpers, 2007, S. 267 (275). 231 So Fateh-Moghadam, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 21 (30); Seelmann, in: in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 206 (209 f.). Siehe auch Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 188. 232 Vgl. nur etwa Dworkin, in: Encyclopedia of Ethics, Vol. II, 1992, S. 940; ders., in: Wasserstrom (Hrsg.), Morality and the Law, 1970, S. 107 (118 f.); Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 12; Mill, On Liberty, 1859/1946, S. 67. 233 Gutwald, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 73 (75); Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 33. 234 Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 33. 235 Siehe auch Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 33. Fateh-­ Moghadam beschreibt die dem schwachen Paternalismus innewohnendem Gefahren eindrücklich: „Der blinde Fleck der liberalen Paternalismuskritik besteht im Autonomiebegriff.“, ders., in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 21 (27).

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

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Ferner kann der Wille des Betroffenen im Rahmen der Rechtfertigung schwach paternalistischer Eingriffe trotz seiner Defizite nicht völlig außer Acht bleiben. Allein die Abwendung von Schaden vermag schwachen Paternalismus noch nicht zu rechtfertigen, wie Mayr eindrücklich am Beispiel der finanzielle Absicherung garantierenden Zwangsverheiratung von Kindern aus wirtschaftlich benachteiligten Hintergründen illustriert.236 Schwacher Paternalismus sollte sich nicht an perfektionistischen „objektiven Wohlfahrtsannahmen“,237 sondern vielmehr am persönlichen Interesse des Einzelnen im konkreten Szenario orientieren. Um dies zu gewährleisten, wird die Zulässigkeit schwach paternalistischer Eingriffe mitunter von einer hypothetischen Zustimmung des Betroffenen abhängig gemacht, die dieser erteilen würde, wäre er in der Lage, eine autonome Entscheidung zu treffen.238 Zwar bietet dies keinen klaren Handlungsmaßstab – eine Grundorientierung an der Autonomie des Betroffenen muss jedoch, soweit möglich, immer auch Richtschnur von schwachem Paternalismus sein.239 Im Ergebnis darf es unter dem Deckmantel von schwachem Paternalismus jedenfalls nicht zu einer Autonomieverletzung „durch die Hintertür“ kommen: Die Selbstbestimmung des Betroffenen muss sowohl bei der Einordnung des Eingriffs als schwach paternalistisch als auch hinsichtlich des angestrebten Wohls von zentraler Bedeutung sein.

IX. Resümee: Ethische Auseinandersetzungen mit paternalistischen Beschränkungen Seit der Schaffung einer antipaternalistischen Argumentationsgrundlage durch Kant im 18. Jahrhundert240 ist die moderne Paternalismuskritik „ein Produkt des politischen Liberalismus“,241 in dessen Rahmen die Freiheit und die damit einhergehende Selbstverantwortung des Individuums die zentralen Werte darstellen.242 Zwar kann auch persönliche Freiheit in einer sozialen Gemeinschaft nicht grenzenlos gelten; vielmehr muss auch sie immer in einen angemessenen Ausgleich mit dem Schutz Dritter und der Gesellschaft gebracht werden. Im Hinblick auf die

236

Mayr, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 48 (50). 237 Gutwald, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 73 (75). 238 VanDeVeer, Social Theory and Practice 1980, 187 (200). 239 Siehe dazu Gutwald, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 73 (92). 240 Siehe dazu Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (222), der den augenblicklichen Schwerpunkt der Kritik des Rechtspaternalismus jedoch im angelsächsischen Raum verortet und die zeitgenössische hiesige Kritik lediglich als „Importprodukt angelsächsischer Provenienz“ bezeichnet. 241 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (192); siehe dazu auch Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 14. 242 Dietze, Reiner Liberalismus, 1985, S. 6.

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1. Teil: Grundlegung

Bedeutung der Selbstverantwortung im Liberalismus kann die Freiheit aber nicht zum eigenen Wohl beeinträchtigt werden. Der insoweit grundlegend bedeutsame Respekt vor der Selbstbestimmung des Einzelnen kann – soweit allein der eigene Rechtskreis der Handelnden betroffen ist – nur absolut wirken. Denn Selbstbestimmung ist nur dann von Wert, wenn sie vollständig und unbedingt vor Fremdbestimmung geschützt ist. Jegliche Relativierung kann sonst der Willkür Tür und Tor öffnen; dies gilt bereits im Rahmen der Festlegung der Parameter der Autonomie. Konsequentialistische Ansätze können einen solchen absoluten Selbstbestimmungsschutz wie dargelegt nicht gewähren, da ihnen eine Abwägung mit Folgen und Nutzen einzelner Handlungen zugrunde liegt, die jederzeit auch anderen Werten den Vorrang einräumen und mit einer naturgemäßen Relativierung jedes einzelnen Werts einhergehen kann. Es ist deshalb allein die deontologische Ethik, die den absoluten Schutz der Selbstbestimmung gewährleisten kann und jeder Relativierung grundlegend entgegensteht.243

B. Verfassungsrechtliche Beurteilung paternalistischer Eingriffe Nach Betrachtung des moralphilosophischen Ausgangspunktes sollen nun die verfassungsrechtlichen Grundlagen für die Beurteilung paternalistischer Regelungen und Beschränkungen unter dem Grundgesetz bereitet werden. In diesem Zusammenhang soll begründet werden, weshalb starker Paternalismus einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung als solcher im Ergebnis nicht zugänglich ist. Zu diesem Zweck wird zunächst erörtert, ob und in welche grundrechtlich geschützten Freiheiten durch paternalistische Regelungen eingegriffen wird (dazu unter I.), wodurch ein grundrechtlicher Schutz vor paternalistischen Eingriffen bereits auf Schutzbereichsebene beschränkt werden könnte (dazu unter II.) und ob die mit paternalistischen Regelungen einhergehenden Grundrechtseingriffe verfassungsrechtlich zu rechtfertigen sind (dazu unter III.).

I. Eingriff in grundrechtlich geschützte Freiheiten Für die Beantwortung der Frage, in welche grundrechtlich geschützten Freiheiten paternalistische Regelungen eingreifen, ist primär von Belang, welches Verhalten solche Vorschriften grundsätzlich überhaupt berühren. Zwar können diese verschiedenste Bereiche betreffen – allen paternalistischen Regelungen gemein ist jedoch, dass sie ein selbstgefährdendes oder selbstschädigendes Verhalten im wei-

243 So auch Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (222); ebenso Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 316.

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

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testen Sinne beschränken sollen. Wenn die Selbstschädigung244 in den Schutzbereich eines oder mehrerer Grundrechte fällt und wenn paternalistische Regelungen zur Verkürzung eines derart gewährleisteten Rechts zur Selbstschädigung führen, kommt es zu einem grundrechtlich relevanten Eingriff. Für die Gewährleistung einer solchen Freiheit kommen mehrere Grundrechte in Betracht: die Menschenwürde (dazu unter 1.), das allgemeine Persönlichkeitsrecht (dazu unter 2.), die allgemeine Handlungsfreiheit (dazu unter 3.) sowie – je nach konkretem Regelungsgehalt der jeweiligen paternalistischen Norm  – spezielle Grundrechte. Welche speziellen Grundrechte im Einzelfall betroffen sind, hängt von der Ausgestaltung der konkreten paternalistischen Regelung ab, deren Untersuchung an dieser Stelle jedoch noch nicht erfolgen soll. Vielmehr stellt sich zunächst die abstrakte Frage, ob und welche Grundrechte immer – übergeordnet oder subsidiär – durch paternalistische Regelungen beeinträchtigt werden. 1. Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 GG Per se bringen paternalistische Regelungen jedenfalls keine Menschenwürdeverletzung mit sich. Dies ergibt sich bereits aus dem Schutzbereich der Menschenwürde, der zwar nicht klar positiv definiert ist, aber verschiedene Dimensionen umfasst, deren gemeinsame Nenner laut Herdegen „der Schutz eines engeren Bereiches der persönlichen Selbstbestimmung, die Gewährleistung seelischer und körperlicher Integrität und der soziale Geltungsanspruch des Einzelnen sowie der Schutz vor Willkür sind“.245 Die auch vom Bundesverfassungsgericht angewandte Objektformel nähert sich einem Verständnis der Menschenwürde durch eine Definition des Eingriffs und der Verletzung derselben,246 die vorliegen soll, „wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird“.247 Zwar besteht insoweit eine gewisse Nähe zu den von der Menschenwürde geschützten Bereichen, als eine paternalistische Bevormundung gegen den Willen des Betroffenen die persönliche Selbstbestimmung berührt. Da sich der Staat im Rah 244 Um eine unnötige Verkomplizierung zu vermeiden, wird im Folgenden lediglich von selbstschädigendem Verhalten die Rede sein: Das darin enthaltene Minus, sowohl in Form von selbstgefährdendem Verhalten als auch in Form des Nicht-Ergreifens von die persönliche Situation verbessernden Maßnahmen, soll als davon umfasst angesehen werden. 245 Herdegen, in: Maunz / ​Dürig (Hrsg.), GG, 81. Lfg. 2017, Art. 1 Abs. 1 Rn. 34 m. w. N. 246 Siehe zu dieser Verletzungsperspektive auch Herdegen, in: Maunz / ​Dürig (Hrsg.), GG, 81. Lfg. 2017, Art. 1 Abs. 1 Rn. 36. 247 So ursprünglich Dürig, AöR 1956 (81), 117 (127); siehe in der Rechtsprechung des BVerfG nur etwa exemplarisch BVerfG 16.7.1969 – 1 BvL 19/63 – BVerfGE 27, 1 (6); BVerfG 9 6. 1970 – 1 BvL 24/69 – BVerfGE 28, 386 (391); BVerfG 21.6.1977 – 1 BvL 14/76 – BVerfGE 45, 187 (228). In neuerer Zeit kam die reaktivierte Objektformel etwa in der Entscheidung des BVerfG zum Luftsicherheitsgesetz zum Tragen, BVerfG 15.2.2006 – 1 BvR 357/05 – BVerfGE 115, 118 m. Anm. Starck, JZ 2006, 417.

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1. Teil: Grundlegung

men dieser Bevormundung mit seiner Wertung zudem potentiell über die eigene, persönliche Wertung des Betroffenen erhebt und dadurch den Respekt vor seinen Entscheidungen und individuellen Präferenzen nicht wahrt, kommt es auch zu einer gewissen Objektivierung des Bevormundenden. Nicht jede paternalistische Einschränkung der Selbstbestimmung stellt jedoch eine „Herabwürdigung zu einem bloßen Mittel“ dar: So darf vielmehr nicht übersehen werden, dass paternalistische Regelungen trotz ihres Bevormundungscharakters das Wohl des Einzelnen im Blick haben. Zwar mag eine Bevormundung den Betroffenen als vollwertiges Subjekt teilweise verkennen; sie würdigt ihn deshalb aber nicht „zur vertretbaren Größe“ herab. Insbesondere findet auch keine Instrumentalisierung des Betroffenen statt; er bleibt vielmehr Zweck seiner selbst. Es wäre deshalb zu weitgehend, bei jeder Bevormundung eine Menschenwürdeverletzung anzunehmen. Desgleichen ist auch die Selbstschädigung als solche nicht von der positiven Menschenwürdegarantie geschützt. Dementsprechend stellt ein Eingriff in die Freiheit zur Selbstschädigung nicht zwangsläufig einen Eingriff in die Menschenwürde dar. Dies ergibt sich bereits aus einer folgeorientierten Perspektive: Würde jede Beschränkung selbstschädigenden Verhaltens als Menschenwürdeverletzung verstanden werden, würde dies gemischt-paternalistische Maßnahmen immer und unabhängig vom Einzelfall verfassungswidrig machen – und zwar selbst dann, wenn diese durch gute andere, bevormundungsfreie Gründe grundsätzlich rechtfertigbar wären. Dies kann nicht gewollt sein. Dementsprechend greift nicht jede paternalistische Regelung in die von Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Menschenwürde ein. 2. Allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) In Zusammenhang mit paternalistischen Regelungen ist regelmäßig von einer Betroffenheit des Selbstbestimmungsrechts des Einzelnen die Rede, wobei vielfach unklar bleibt, was damit verfassungsrechtlich gemeint ist. Das Bundesverwaltungsgericht und der Bundesgerichtshof beziehen sich in Zusammenhang mit dem Selbstbestimmungsrecht ausdrücklich auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG.248 Auch in der Literatur ist aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht etwa ein Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper249 bzw. ein „Recht auf ethisch-existentielle Selbstbestimmung“250 abgeleitet worden. Insoweit stellt sich die Frage, ob das von paternalistischen Regelungen 248 BVerwG 27.4.1989 – 3 C 4/86 – BVerwGE 82, 45 (48 f.); BGH 25.6.2010 – 2 StR 454/09 – BGHSt 55, 191. So etwa auch BT-Drs. 18/5373, S. 10. 249 Di Fabio, in: Maunz / ​Dürig (Hrsg.), GG, 81. Lfg. 2017, Art. 2 Rn. 204. Siehe auch Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 116 und Fateh-Moghadam, der ein eigenes körperliches Selbstbestimmungsrecht des Organspenders entwickelt, das er aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG ableitet, ders., Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 263. 250 Koppernock, Das Grundrecht auf bioethische Selbstbestimmung, 1997, S. 219.

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

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beeinträchtigte Verhalten grundsätzlich und unabhängig von dem jeweiligen konkreten Regelungsinhalt durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht geschützt ist. a) Schutz der Freiheit zur Selbstschädigung? Auch wenn dies für selbstbestimmtes Sterben und Selbsttötung mitunter anders gesehen wird,251 ist selbstschädigendes Verhalten als solches, so wie es regelmäßig durch paternalistische Regelungen beeinträchtigt wird, nicht vom Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts erfasst. Das aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitete252 allgemeine Persönlichkeitsrecht ergänzt die benannten Grundrechte, die jeweils ebenfalls zentrale Aspekte der Persönlichkeitsentfaltung schützen, und gewährleistet „die engere persönliche Lebenssphäre und die Erhaltung ihrer Grundbedingungen“253 an Stellen, an denen dies die Nominat-Grundrechte nicht vollständig leisten können  – insbesondere in Zusammenhang mit neueren Entwicklungen und damit einhergehenden Gefährdungen des Persönlichkeitsschutzes.254 In Folge des Einflusses der Menschenwürde auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht enthält dieses „ein Element der „freien Entfaltung der Persönlichkeit“, das sich als Recht auf Respektierung des geschützten Bereichs von dem „aktiven“ Element dieser Entfaltung, der allgemeinen Handlungsfreiheit […], abhebt. […] Es erstreckt sich nur auf Eingriffe, die geeignet sind, die engere Persönlichkeitssphäre zu beeinträchtigen.“255

Das allgemeine Persönlichkeitsrecht sichert zudem „jedem Einzelnen einen autonomen Bereich privater Lebensgestaltung, in dem er seine Individualität entwickeln und wahren kann“.256 Im Sinne der Konkretisierung hat das Bundesverfassungsgericht im Laufe der Zeit verschiedene Fallgruppen des allgemeinen Per­ sönlichkeitsrechts herausgearbeitet, so etwa den Schutz privater Lebensgestaltung, den Schutz der Ehre, das Recht am eigenen Bild, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, der Schutz der Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme und verschiedene mehr.257 251 Vgl. etwa Gärditz, ZfL 2015, 114; siehe auch die Stellungnahme deutscher Strafrechtslehrerinnen und Strafrechtslehrer zur geplanten Ausweitung der Strafbarkeit der Sterbehilfe, S. 2, abrufbar unter: https://www.uni-goettingen.de/de/document/download/91b7753c190b11fa46c1​ b95f5138d280.pdf/Resolution_zur_Sterbehilfe _15_4.pdf (zuletzt abgerufen am 1.3.2018). Auch das BVerwG geht davon aus, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht auch das Recht eines schwer und unheilbar kranken Menschen umfasse, zu entscheiden, wie und zu welchem Zeitpunkt sein Leben enden soll, BVerwG 2.3.2017 – 3 C 19/15 – NJW 2017, 2215. 252 St. Rspr., vgl. nur etwa BVerfG 3.6.1980 – 1 BvR 185/77 – BVerfGE 54, 148 (153). 253 BVerfG 3.6.1980 – 1 BvR 185/77 – BVerfGE 54, 148 (153). 254 BVerfG 3.6.1980 – 1 BvR 185/77 – BVerfGE 54, 148 (153). 255 BVerfG 3.6.1980 – 1 BvR 185/77 – BVerfGE 54, 148 (153). 256 BVerfG 5.6.1973 – 1 BvR 536/72 – BVerfGE 35, 202 (220). 257 Vgl. nur etwa die Darstellung bei Dreier, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2013, Art. 2 I Rn. 71–84; Jarass, in Jarass / ​Pieroth, GG, 14. Aufl. 2016, Art. 2 Rn. 40–50; Starck, in: von Mangoldt / ​Klein / ​Starck (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2010, Art. 2 Abs. 1 Rn. 171–184.

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1. Teil: Grundlegung

Während es durchaus denkbar ist, dass sich der Schutz einzelner selbstschädigender Handlungen in ihrer konkreten Ausformung in diese Fallgruppen einordnen lässt,258 fügt sich der Schutz selbstschädigenden Verhaltens als solcher weder in eine der genannten Fallgruppen noch in den Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts im Übrigen ein. So lässt sich eine prinzipielle Bedeutung der Selbstschädigung für die Grundbedingungen der persönlichen Lebenssphäre und für die Entwicklung der eigenen Individualität ebenso schwerlich darstellen wie ein zwangsläufiger Bezug zu der engeren Persönlichkeitssphäre. Gerade im Licht der Menschenwürde, in welchem das allgemeine Persönlichkeitsrecht zu verstehen ist, lässt sich nicht jede Selbstschädigung als besonders schützenswerte Persönlichkeitsentfaltung betrachten, die den anderen von dem ungeschriebenen Grundrecht geschützten Verhaltensweisen entspricht. Im Hinblick auf die Beschränkung der Selbstschädigung scheint weniger die Respektierung eines geschützten Persönlichkeitsbereiches berührt zu sein als vielmehr das vom Bundesverfassungsgericht insoweit abgegrenzte und von der allgemeinen Handlungsfreiheit geschützte aktive Element dieser Entfaltung. Die Selbstschädigung als solche fällt somit nicht in den Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. b) Schutz der Freiheit von Bevormundung? Anders wird das von Möller hinsichtlich der Freiheit von Bevormundung beurteilt. Unter diesem Gesichtspunkt bestehe ein grundsätzlicher Schutz vor paternalistischen Beschränkungen durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht: Dieses gewähre ein „Recht, Fragen, soweit sie ausschließlich einen selbst betreffen, auch selbst entscheiden zu können“.259 Nach Möller sind paternalistische Eingriffe deshalb immer anhand zweier Grundrechte zu überprüfen: anhand des durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht gewährleisteten Rechts auf Paternalismusfreiheit und anhand des Grundrechts, das durch die jeweilige paternalistische Regelung konkret eingeschränkt werde.260 Die grundsätzliche Betroffenheit des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch paternalistische Regelungen folgt aus Möllers Verständnis dieses Grundrechts, nach welchem es ähnlich der allgemeinen Handlungsfreiheit261 als Auffanggrundrecht für besonders persönliche Entscheidungen diene, die nicht von einem Spezialgrundrecht geschützt würden.262 Das allgemeine Persönlichkeitsrecht erfasse 258

So etwa für die selbstbestimmte Lebensbeendigung unheilbarer Kranker BVerwG 2.3.2017 – 3 C 19/15 – NJW 2017, 2215. 259 Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 100. 260 Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 99; ähnlich auch Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 139. 261 Bei Möller: das allgemeine Freiheitsrecht, ders., Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 56; diese Terminologie findet sich etwa auch in BVerfG 12.1.1983 – 2 BvR 864/81 – BVerfGE 63, 45 (60). 262 Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 53.

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

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demnach tatbestandlich „aus der Menge der von Art. 2 I GG geschützten Positionen diejenigen, die wegen ihrer Zugehörigkeit zur engeren persönlichen Lebenssphäre eines besonderen Schutzes bedürfen [und somit] alle Freiheitsbeschränkungen mit besonderer Relevanz für die Persönlichkeit […]“.263 Das allgemeine Persönlichkeitsrecht sei deshalb grundsätzlich einschlägig, soweit „starke Präferenzentscheidungen im Bereich der Ethik, also dem Gebiet, das nach dem Guten fragt, dem, was er einzelne Mensch ist und was er sein will“, in Frage stünden.264 Es umfasse „im Zentrum den Schutz ethisch wichtiger Positionen als das Recht, entsprechend den eigenen ethischen Entscheidungen sein Leben ausrichten zu können“.265 Bei Entscheidungen, die ausschließlich den eigenen Rechtskreis berühren, handele es sich immer um solche „ethische Entscheidungen von hoher Präferenz“, da diese grundlegend für die Persönlichkeitsentfaltung und für die unbeschränkte und selbstbestimmte Umsetzung des eigenen Lebensentwurfs seien.266 Infolgedessen zeige sich „in jedem Paternalismus, auch in den „kleinen“ Fällen […] eine gewisse Geringschätzung des Staates für seine Bürger […]“.267 Die Annahme eines allgemeinen „Rechts auf Paternalismusfreiheit“ führt jedoch zu einer Vermischung von Zweck und Inhalt einer Regelung. Denn für die Beantwortung der Frage, ob ein Grundrechtseingriff vorliegt, ist der Zweck einer Regelung zunächst unerheblich – er gewinnt vielmehr erst in Zusammenhang mit der Frage nach der Rechtfertigung des Eingriffs an Bedeutung. Insofern kann der bevormundende Zweck paternalistischer Regelungen nicht per se einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht begründen. Dass Möller aus diesem Aspekt heraus dennoch die generelle Betroffenheit eines Grundrechts ableitet, das neben dem eigentlich durch die Regelung berührten, konkreten Grundrecht steht, führt zudem zu einer unnatürlichen Aufspaltung des Schutzes, die Rigopoulou für wenig erkenntnis-gewinnbringend hält: Vielmehr müsse diese „unnötige Doppelprüfung“ ohnehin im selben Ergebnis münden.268 Zudem gehe die Detektion eines Rechts gegen Paternalismus an der eigentlich interessierenden Frage nach der Rechtfertigung paternalistischer Eingriffe vorbei.269 Neben diesen dogmatischen Aspekten vermag Möllers Einordnung paternalistischer Bevormundung in den Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts auch inhaltlich nicht zu überzeugen: Zwar werden durch viele paternalistische Einschränkungen „ethisch wichtige Präferenzentscheidungen“ betroffen – so kommt es tatsächlich gerade in Zusammenhang mit moralischen Grundentscheidungen zu einer gewissen Häufung paternalistischer Regelungen.270 Es ist jedoch nicht er 263

Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 52 f. Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 70. 265 Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 90. 266 Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 97 f. 267 Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 98. 268 Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 57. 269 Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 57. 270 Siehe dazu im dritten, vierten und fünften Kapitel dieser Arbeit. 264

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1. Teil: Grundlegung

sichtlich, dass jede paternalistische Regelung dem „Schutz ethisch wichtiger Positionen“ dient; vielmehr spielt Paternalismus wie dargelegt auch in ethisch per se eher weniger bedeutsameren Konstellationen wie der Gurtpflicht eine Rolle. Der von Möller angelegte generelle Schutz vor Paternalismus führt insoweit zu einer Aufweichung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts mit der Folge, dass auch profanste Handlungen von diesem geschützt sein können, soweit diese dem Betroffenen nur gegen seinen Willen und zu seinem eigenen Schutz untersagt werden. Für solche Entscheidungen, die entgegen Möllers Auffassung nicht immer besonders persönlicher Natur sind, dient als Auffanggrundrecht jedoch die allgemeine Handlungsfreiheit und nicht das allgemeine Persönlichkeitsrecht. 3. Allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) Dementsprechend wird mitunter vertreten, dass das „Selbstbestimmungsrecht“ als solches keine eine eigene Grundrechtsposition darstelle, sondern vielmehr ein Element bzw. ein Anwendungsfall der allgemeinen Handlungsfreiheit sei.271 Da zudem grundsätzlich alle denkbaren Verhaltensweisen paternalistisch reglementiert werden können, begründen paternalistische Einschränkungen jedenfalls immer eine Beeinträchtigung der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG – soweit diese nicht von den gegebenenfalls durch die konkreten paternalistischen Regelungen berührten, speziellen Grundrechtsverbürgungen verdrängt wird. Während im Rahmen der sogenannten Persönlichkeitskerntheorie vertreten wurde, Art. 2 Abs. 1 GG erfasse seinem Wortlaut entsprechend lediglich die freie Entfaltung der Persönlichkeit und damit ausschließlich Verhalten, das für diese von zentraler Bedeutung ist, schützt Art. 2 Abs. 1 GG nach nunmehr ganz herrschendem Verständnis als allgemeine Handlungsfreiheit und allgemeines Freiheitsrecht jedes menschliche Verhalten vor staatlichen Eingriffen.272 Dieses Verständnis stützt sich zum einen auf die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes, der zu entnehmen ist, dass vorangegangene Fassungsentwürfe von Art. 2 GG lauteten: „Jedermann hat die Freiheit, innerhalb der Schranken der Rechtsordnung und der guten Sitten alles zu tun, was anderen nicht schadet.“273 „Jedermann ist frei, zu tun und zu lassen, was die Rechte anderer nicht verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“274

Die Wortwahl legt nahe, dass der Regelung ein umfassender Schutzcharakter zukommen sollte – zumal wohl vornehmlich aus sprachästhetischen Gründen gegen 271

Heide, Medizinische Zwangsbehandlung, 2001, S. 193. Ganz h. M., so die st. Rspr. seit der „Elfes“-Entscheidung BVerfG 16.1.1957  – 1  BvR 253/56 – BVerfGE 6, 32. Zur Entwicklung und zum Umfang Di Fabio, in: Maunz / ​Dürig (Hrsg.), GG, 81. Lfg. 2017, Art. 2 Rn. 12–18 m. w. N. 273 JöR N. F. Band 1 (1951), S. 54. 274 JöR N. F. Band 1 (1951), S. 56. 272

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

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die letztgenannte Version entschieden wurde, da diese zu „vulgär“ klinge.275 Zum anderen spricht laut der Elfes-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auch die Systematik für einen umfassenden Schutz durch Art. 2 Abs. 1 GG: So ließen die Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG keine Interpretation des Schutzbereichs zu, die sich allein auf den Schutz des Kernbereichs der Persönlichkeit beschränkt, da nicht ersichtlich sei, „wie die Entfaltung innerhalb dieses Kernbereichs gegen das Sittengesetz, die Rechte anderer oder sogar gegen die verfassungsmäßige Ordnung einer freiheitlichen Demokratie sollte verstoßen können.“276 Für einen umfassenden Schutz spricht auch, dass die Abgrenzung zwischen schutzwürdigem und schutzunwürdigem Verhalten in einer liberalen und pluralistischen Gesellschaft nahezu unmöglich ist277 – eine solche würde dem Menschenbild des Grundgesetzes und der Menschenwürde widersprechen, die die Auslegung der allgemeinen Handlungsfreiheit „dirigiert“278 und die „gerade in der freien Willensbildung und -betätigung, sofern keine Freiheitsrechte anderer tangiert werden“279, besteht. Vielmehr bedarf „[j]ede Einschränkung der Freiheit […] ihrer Rechtfertigung durch die Freiheit der anderen“.280 Alles andere würde zu einer Abwertung einzelner Arten der Freiheitsausübung führen, denen bereits qua definitionem jeder grundrechtliche Schutz versagt würde.281 Das Grundgesetz und als Auffanggrundrecht jedenfalls Art. 2 Abs. 1 GG schützen somit alle menschlichen Handlungen und Verhaltensweisen.282 Davon ist laut Literatur283 und Bundesverfassungsgericht284 ausdrücklich auch selbstschädigendes und selbstgefährdendes Verhalten erfasst: „Auch ein Verhalten, das Risiken für die eigene Gesundheit oder gar deren Beschädigung in Kauf nimmt, ist vom Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit geschützt.“285 275

JöR N. F. Band 1 (1951), S. 61. So versteht auch das BVerfG die Entstehungsgeschichte, BVerfG 16.1.1957 – 1 BvR 253/56 – BVerfGE 6, 32 (36) [„Elfes“]. 276 BVerfG 16.1.1957 – 1 BvR 253/56 – BVerfGE 6, 32 (36) [„Elfes“]. 277 Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 53. 278 Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 236. 279 Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 53 f. Siehe zur Grundlegung von Art. 1 Abs. 1 GG für eine pluralistische Gesellschaft auch Kunig, in: von Münch / ​ Kunig (Hrsg.), GG, Band 1, 6. Aufl. 2012, Art. 1 Rn. 20. 280 Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 236 (Herv. d. Verf). 281 Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 236 f. 282 Neben vielen so auch Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 115 f. 283 Vgl. etwa Di Fabio, in: Maunz / ​Dürig (Hrsg.), GG, 81. Lfg. 2017, Art. 2 Rn. 50; Esser, Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 74–76; Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (255) m. w. N.; Kloepfer, Verfassungsrecht II, 2010, § 56 Rn. 19; Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 234; Schwabe, JZ 1998, 66 (69). 284 Vgl. etwa BVerfG 9.3.1994 – 2 BvL 43/92 u. a. – BVerfGE 90, 145 (171) [„Cannabis“]; BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399 (3401); BVerfG 21.12.2011 – 1 BvR 2007/10 – NJW 2012, 1062 (1063); s. a. BVerwG 27.4.1989 – 3 C 4/86 – BVerwGE 82, 45 (48). 285 BVerfG 21.12.2011 – 1 BvR 2007/10 – NJW 2012, 1062 (1063).

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1. Teil: Grundlegung

4. Resümee: Grundsätzlicher Schutz vor paternalistischen Freiheitsbeschränkungen durch die allgemeine Handlungsfreiheit Im Rahmen der an dieser Stelle noch allgemeinen Betrachtung bleibt im Ergebnis festzuhalten, dass weder die Menschenwürde noch das allgemeine Persönlichkeitsrecht einen Schutz gegen Paternalismus jeder Art bieten. Da aber jedes Verhalten durch die allgemeine Handlungsfreiheit geschützt wird, gilt dies auch für alle Freiheiten, die durch paternalistische Regelungen beschränkt werden – einschließlich der Freiheit, sich selbst zu schädigen oder sich einverständlich durch Dritte schädigen zu lassen.286 Grundrechtlicher Schutz vor paternalistischen Regelungen gewährt somit zumindest die allgemeine Handlungsfreiheit. Zwar greifen konkrete paternalistische Regelungen auch in den Schutzbereich spezieller Grundrechte ein – so etwa in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, das allgemeine Persönlichkeitsrecht, die Berufsfreiheit, die Wissenschaftsfreiheit oder den Schutz der Familie, wie im zweiten Teil dieser Arbeit noch ausgeführt werden wird. Der Schutz, den diese speziellen Grundrechte gewähren, kann aber nicht geringer ausfallen, als der, den die – gegebenenfalls subsidiäre – allgemeine Handlungsfreiheit bietet. Für diese noch abstrakte Betrachtung bietet es sich daher ohnehin an, die allgemeine Handlungsfreiheit als Verkörperung des grundrechtlichen Mindestschutzstandards zum Prüfungsmaßstab zu machen.

II. Beschränkungen des grundrechtlichen Schutzes selbstschädigenden Verhaltens Dieser grundsätzlich bestehende Schutz könnte jedoch bereits auf Schutzbereichsebene Beschränkungen erfahren. Bevor sich einer möglichen Rechtfertigung von Eingriffen in die allgemeine Handlungsfreiheit unter paternalistischen Gesichtspunkten zugewandt werden wird (dazu unter III.), sollen nun zunächst solche, möglicherweise vorgelagerten Beschränkungen des soeben aufgezeigten Schutzes selbstschädigenden Verhaltens erörtert werden, die sich aus „Grundpflichten“ (dazu unter 1.), Grenzen des Grundrechtsverzichts (dazu unter 2.) und Grenzen der Verfügung über eigene Rechtsgüter (dazu unter 3.) ergeben könnten. 1. Beschränkung durch „Grundpflichten“ Eine derart vorgelagerte Beschränkung könnte aus der Annahme von „Grundpflichten“ folgen: Wenn mit den Grundrechten, die den staatlichen Schutz einer Freiheitsausübung gewähren, „Grundpflichten“ korrespondierten, die die Bürger zu einer Freiheitsausübung oder -erhaltung verpflichten, könnte es in paternalis 286 Für einen Schutz der Selbst- und der einverständlichen Fremdschädigung durch Art. 2 Abs. 1 GG auch Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 322.

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

137

tischen Konstellationen zu einer Kollision verschiedener Rechte und Pflichten kommen – etwa der Freiheit zu selbstschädigendem Verhalten aus Art. 2 Abs. 1 GG mit einer Grundpflicht zur Bewahrung der eigenen Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG. Die Idee einer „Grundpflicht“ taucht auch in der Tat insbesondere in Zusammenhang mit der Menschenwürde auf: So wird mitunter eine Pflicht aus Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitet, sich nicht irreversibel körperlich zu schädigen287 oder die eigene Menschenwürde nicht zu verletzen.288 Derartige Ansätze sind jedoch zu Recht auf Kritik gestoßen: So soll der grundrechtsberechtigte Bürger nicht zum Grundrechtsverpflichteten und die Menschenwürde nicht zu einer Gebotsnorm gemacht werden.289 Die Annahme von Grundpflichten sei mit dem vorherrschenden Grundrechtsverständnis und „dem Menschenbild des Grundgesetzes“ unvereinbar290 und würde der Funktion der Grundrechte grundlegend zuwiderlaufen.291 Die Unzulässigkeit einer Annahme von Grundpflichten ergibt sich tatsächlich zum einen bereits aus der klassischen Konzeption der Grundrechte als „Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat“292 und zum anderen daraus, dass es im Grundgesetz – außerhalb der ausdrücklich genannten staatsbürgerlichen Pflichten und der elterlichen Pflicht zur Pflege und Erziehung ihrer Kinder aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG – keinen Anhaltspunkt für eine „Pflicht“ zum Gebrauch oder Schutz der eigenen, grundrechtlich geschützten Freiheiten gibt. Ganz im Gegenteil nennt das Grundgesetz den Bürger in Art. 1 Abs. 3 GG eben nicht als Adressaten grundrechtlicher Pflichten.293 Dementsprechend äußerte das Bundesverfassungsgericht in Zusammenhang mit Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG, der Eltern zur Pflege und Erziehung ihrer Kinder verpflichtet, auch ausdrücklich: „Diese Pflichtbindung unterscheidet das Elternrecht von allen anderen Grundrechten […].“294

Eine Pflicht zur Freiheitsausübung oder erhaltung ist mit der Idee grundrecht­ licher Gewährleistungen unvereinbar, die den Bürger gegenüber dem Staat berechtigen und den Staat gegenüber dem Bürger verpflichten sollen und nicht umgekehrt. Da Grundpflichten vielmehr selbst Freiheitseinschränkungen darstellen würden, ist eine Beschränkung der Freiheit zu selbstschädigendem Verhalten auf der Grundlage von „Grundpflichten“ abzulehnen.

287

Nitschmann, ZStW 2007, 546 (559). So im Grunde das „Peep-Show“-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 15.12.1981 – 1 C 232/79 – BVerwGE 64, 274. Vgl. dazu Höfling, NJW 1983, 1582 (1584). 289 Höfling, NJW 1983, 1582 (1584). 290 Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 135 f., 142. 291 Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 229. 292 BVerfG 15.1.1958 – 1 BvR 400/51 – BVerfGE 7, 198 (204) [„Lüth“]. 293 Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 110–112; siehe auch Herdegen, in: Maunz / ​Dürig (Hrsg.), GG, 81. Lfg. 2017, Art. 1 Abs. 3 Rn. 13, 99. 294 BVerfG 29.7.1968 – 1 BvL 20/63 u. a. – BVerfGE 24, 119 (143). 288

138

1. Teil: Grundlegung

2. Grenzen des Grundrechtsverzichts Auch mögliche Grenzen eines Grundrechtsverzichts können den grundrechtlichen Schutz selbstschädigenden Verhaltens nicht beschränken. Im Rahmen des klassischen Grundrechtsverzichts gibt der Grundrechtsberechtigte einen grundrechtlichen Schutz auf, der ihm eigentlich zukäme. Diese Aufgabe führt bei Disponibilität des Schutzguts dazu, dass es nicht zu einem Eingriff in den Schutzbereich des jeweiligen Grundrechts kommt.295 Der Betroffene ermächtigt den Staat gleichsam zur Beeinträchtigung eines grundrechtlichen Schutzguts, zum Eingriff in den Schutzbereich eines Grundrechts296 – so etwa bei der Einwilligung in die gerichtliche Verwertung von unter Verstößen gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht zustande gekommenen Tonaufnahmen als Beweismittel297 oder der Einwilligung in die Telekommunikationsüberwachung, die einen Eingriff in das durch Art. 10 Abs. 1 GG geschützte Fernmeldegeheimnis ausschließt.298 Dieser klassischen Verzichtsanordnung kommt jedoch für die Beurteilung paternalistischer Beschränkungen keine Aussagekraft zu: Denn auch wenn der staat­ liche Schutz in den vorliegend besprochenen Bevormundungskonstellationen ebenfalls nicht gewünscht ist, ergibt sich die relevante Grundrechtsbeeinträchtigung bei paternalistischen Regelungen nicht auf der Ebene des primär schädigenden Ereignisses – wie beim Grundrechtsverzicht etwa durch das Abhören von staatlicher Seite – sondern erst nachgelagert in dem staatlichen Verbot des schädigenden Ereignisses – etwa dem Verbot einer Selbstschädigung des Betroffenen. Die beiden Ausgangslagen unterscheiden sich somit an zentraler Stelle: Die Beeinträchtigung grundrechtlich geschützter Rechtsgüter geht beim Grundrechtsverzicht von Seiten des Staates aus; bei dem selbstschädigenden Verhalten, das durch paternalistische Regelungen unterbunden werden soll, von Seiten des Betroffenen selbst.299 Eine Parallele zwischen Paternalismus und Grundrechtsverzicht lässt sich auch nicht konstruieren, soweit ein grundrechtliches Schutzgut indisponibel ist und es 295 Stern, Staatsrecht III/2, 1994, S. 912–916, der allerdings davon ausgeht, dass es trotz Verzichts zu einem Eingriff kommt, der jedoch hingenommen wird, a. a. O. S. 928; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 135 f. Siehe auch Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 229, der dazu ausführt: „Damit findet das Selbstverständnis des Grundrechtsträgers zwar nicht bei der Auslegung des grundrechtlichen Schutzbereichs, aber bei der Bestimmung der Eingriffsqualität eines Aktes seinen Niederschlag.“, a. a. O. S. 229 f. 296 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 135; Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 250. 297 Di Fabio, in: Maunz / ​Dürig (Hrsg.), GG, 81. Lfg. 2017, Art. 2 Rn. 228. 298 BVerfG 12.3.2003 – 1 BvR 330/96 u. a. – BVerfGE 107, 299 (313). Hillgruber lehnt in Konstellationen wie dieser die Annahme eines Grundrechtsverzichts ab, da das Grundrecht als solches bereits tatbestandlich nur vor einer Beeinträchtigung des Rechtsguts gegen den Willen des Betroffenen schütze, ders., Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 135. Weitere Beispiele bei Stern, Staatsrecht III/2, 1994, S. 902. 299 Ähnlich auch Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 228.

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

139

in Folge der Unverzichtbarkeit zu einem staatlichen Schutz gegen den Willen des Betroffenen kommt. Was prima facie ähnlich anmutet, ist wiederum grundlegend unterschiedlicher Natur, da der grundrechtliche Eingriff bei Paternalismus von dem nicht gewünschten Verbot einer Selbstschädigung ausgeht, während der grundrechtliche Eingriff bei dem „versuchten“, im Ergebnis aber unwirksamen Verzicht auf ein indisponibles Grundrecht durch die ursprüngliche staatliche Beeinträchtigung bewirkt wird. Auch Schwabe hält Aspekte des Grundrechtsverzichts in paternalistischen Konstellationen für bedeutungslos,300 weil letztere nicht die Frage beschäftigt, welche Folgen der Verzicht auf ein Recht gegenüber dem Staat nach sich zieht, sondern welche Konsequenzen der Verzicht auf ein Recht für den Verzichtenden selbst hat.301 Wenn es etwa im Rahmen der „Peep-Show“-Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts wegen der Unwirksamkeit eines „Verzichts“ auf die Menschenwürde zu einer paternalistischen Bevormundung kommt,302 dann ist damit nicht der soeben dargestellte Verzicht auf einen grundrechtlichen Schutz in einer staatlichen Eingriffssituation gemeint: Vielmehr führt erst die Unwirksamkeit des Verzichts in einer ursprünglich „staatsfreien“ Situation zu einem Grundrechtseingriff von staatlicher Seiten im Rahmen der Entscheidung. Insoweit steht kein Grundrechtsverzicht im Sinne einer Einwilligung in einen staatlichen Eingriff, sondern eine staatliche Schutz- bzw. Grundrechtsbewahrungspflicht in Frage. Denn mit dem Verzicht auf die Bewahrung eines eigenen Grundrechts wird nicht auf einen Grundrechtsschutz verzichtet, sondern eine grundrechtlich geschützte Freiheit ausgeübt.303 In der Paternalismusdebatte ist daher vielmehr die sogleich zu erörternde Frage nach der Disponibilität grundrechtlich geschützter Güter von Relevanz. 3. Grenzen der Verfügung über eigene Rechtsgüter Zu differenzieren ist dabei zwischen dem Verzicht auf den Schutz durch die Grundrechte gegenüber dem Staat und dem Verzicht auf bzw. der Verfügung über die eigenen grundrechtlichen Schutzgüter.304 Überschneidungen kann es jedoch insoweit geben, als Aspekte der Disponibilität grundrechtlicher Schutzgüter sowohl für den Grundrechtsverzicht als auch für die Verfügung über eigene Rechtsgüter von Bedeutung sind: Die Verfügung über eigene Rechtsgüter wird zwar grundsätz-

300

Für die Entscheidung zur Lebendspende ebenso Zillgens, Die strafrechtlichen Grenzen der Lebendorganspende, 2004, S. 315 f. 301 Schwabe, JZ 1998, 66 (68). 302 BVerwG 15.12.1981 – 1 C 232/79 – BVerwGE 64, 274 (279); siehe dazu bereits im ersten Kapitel unter B. IV. 1. 303 Vgl. Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 236, der unabhängig von dem Urteil davon ausgeht, dass eine Unverzichtbarkeit die Grundrechte zu einer die grundrechtliche Freiheit beeinträchtigenden Pflicht machen würde. 304 Siehe auch Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 137.

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1. Teil: Grundlegung

lich durch die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG geschützt.305 Ein Rückgriff auf das subsidiäre Auffanggrundrecht könnte jedoch gesperrt sein, wenn ein spezielles Grundrecht die Beeinträchtigung des von ihm geschützten Rechtsguts als Freiheit selbst positiv schützt (dazu unter a)) oder wenn ein spezielles Grundrecht die Verfügung über das von ihm geschützte, indisponible Rechtsgut untersagt (dazu unter b)).306 a) Grundrechtlicher Schutz der Verfügungsfreiheit Inwieweit spezielle Grundrechte die Freiheit der Verfügung über die von ihnen geschützten Rechtsgüter positiv gewährleisten, wird in der Literatur unterschiedlich bewertet307 und bei der verfassungsrechtlichen Betrachtung konkreter paternalistischer Regelungen im Biomedizinrecht noch Gegenstand dieser Arbeit sein.308 Eine Betrachtung des positiven Schutzes durch spezielle Grundrechte ist im Rahmen dieser gegenwärtig noch abstrakten Darstellung jedoch weder möglich, da dafür auf ein konkretes Rechtsgut und Verhalten abgestellt werden müsste, noch von Belang, da zunächst nur die grundsätzliche Zulässigkeit von Paternalismus in Frage steht und ein Verfügungsschutz durch weitere, spezielle Grundrechte nur zu einem – im Verhältnis zur allgemeinen Verfügungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG – gleich starken oder stärkeren Schutz führen würde. Ergibt sich somit bereits unter dem verhältnismäßig schwachen Schutz der allgemeinen Verfügungsfreiheit keine Zulässigkeit von starkem Paternalismus, kann sich diese a minore ad maius erst recht auch im Rahmen spezieller Verfügungsfreiheiten nicht ergeben. Umgekehrt hätte die Tatsache, dass die Verfügung über ein bestimmtes Rechtsgut nicht durch spezielle Grundrechte geschützt ist, ebenfalls keinen Einfluss auf die Beurteilung einer paternalistischen Einschränkung: Der Rückgriff auf die allgemeine Verfügungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG wäre nicht gesperrt, da das in Frage stehenden Verhalten ja eben nicht bereits vom Schutzbereich eines spezielleren Grundrechts erfasst ist.309

305 Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes, 1981, S. 29; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 227; Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 155 f. 306 Zu letzterem Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 137 f. 307 Vgl. etwa die unterschiedlichen Ansätze bei Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes, 1981, S. 27–29; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 141; Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 230–232; Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 191; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997, S. 20–23. 308 Siehe dazu etwa im dritten Kapitel unter C. II. 3. b) aa) (1). 309 Siehe zur Auffangwirkung des Art. 2 Abs. 1 GG bei Fehlen eines spezialgrundrechtlichen Verfügungsschutzes Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 155 f.

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

141

b) Unverfügbarkeit eines Rechtsguts Demgegenüber ist die Anordnung der negativen Unverfügbarkeit eines speziellen Rechtsguts durch ein Grundrecht auch für die abstrakte Betrachtung der Zulässigkeit von Paternalismus von Bedeutung: Zur Beantwortung der Frage, ob reiner Paternalismus in irgendeiner Konstellation verfassungsrechtlich zulässig sein kann, müssen die aus paternalistischer Perspektive günstigsten und aus verfassungsrechtlicher Perspektive strengsten Umstände zugrunde gelegt werden. Wenn alle Szenarien beurteilt werden sollen, in denen Paternalismus nur denkbar zulässig sein könnte, sind die Grenzen der Verfügungsfreiheit anders als die positive Erweiterung des Schutzes durch spezielle Gewährleistungen von Relevanz. Denn ein Verhalten wird nicht mehr über die allgemeine Handlungsfreiheit geschützt, soweit die ihm innewohnende, konkrete Verfügung durch ein spezielles Grundrecht untersagt wird. Statuiert ein Grundrecht somit die Unverfügbarkeit seines Schutzguts und ist ein Rückgriff auf die allgemeine Handlungsfreiheit gesperrt, besteht grundsätzlich auch kein grundrechtlicher Schutz mehr vor paternalistischen Regelungen. Die staatliche Anordnung der Unverfügbarkeit eines Rechtsguts kann allein selbst als Verkürzung grundrechtlicher Freiheiten zu rechtfertigen sein, wenn die Verfügung über eigene Rechtsgüter Grundrechtsausübung ist.310 Welche grundrechtlichen Schutzgüter indisponibel sein könnten, wird somit in der Folge zu beleuchten sein. Individualrechtsgüter sind grundsätzlich disponibel.311 Eine mögliche Unverfügbarkeit wird jedoch vornehmlich hinsichtlich der Menschenwürde (dazu unter aa)) sowie hinsichtlich der Rechtsgüter Leben (dazu unter bb)) und Selbstbestimmung (dazu unter cc)) thematisiert. Im Ergebnis wird die Verfügbarkeit all dieser Rechte und Rechtsgüter jedoch zu bejahen sein. aa) Disponibilität der Menschenwürde Am intensivsten wird in Literatur und Rechtsprechung die Frage nach der Disponibilität der Menschenwürde diskutiert. Wäre die Menschenwürde indisponibel, wäre ein selbstverfügendes Verhalten, welches auch die eigene Menschenwürde berührt, grundrechtlich nicht über Art. 2 Abs. 1 GG geschützt. Da dieser Schluss bei freiwilliger Selbstverfügung jedoch voraussetzt, dass der Schutzbereich der Menschenwürde objektiv und nicht subjektiv bestimmt wird, hängt die Frage nach 310 Vgl. zu letzterem auch Stepanians, JWE 2009, 129 (130): „Auch durch die Anerkennung unveräußerlicher Rechte wird die Freiheit und Autonomie der Träger dieser Rechte eingeschränkt. Denn die Unveräußerlichkeit solcher Rechte beschneidet die Verhandlungsautonomie ihrer Träger, indem sie alle Versuche, diese Rechte zu veräußern oder aufzugeben, ihrer rechtlichen Wirksamkeit beraubt.“ 311 Im strafrechtlichen Zusammenhang siehe nur etwa Lenckner / ​Sternberg-Lieben, in: Schönke / ​Schröder (Hrsg.), StGB, 29. Aufl. 2014, Vor §§ 32 ff. Rn. 36; MüKo / ​Schlehofer, StGB, 3. Aufl. 2017, Vor § 32 Rn. 151.

142

1. Teil: Grundlegung

der Disponibilität der Menschenwürde unmittelbar mit der Frage zusammen, wer den Schutzbereich derselben definiert. In einem weiteren Sinne entscheidend wird deshalb sein, ob die Definitionsmacht über die Freiheiten und die Reichweite des Schutzbereichs eines Grundrechts grundsätzlich beim Grundrechtsträger selbst oder beim grundrechtsverpflichteten Staat liegt. Nur in letzterem Fall könnte es zu einem Grundrechtsschutz auch gegen den Willen des Grundrechtsträgers kommen. Ob insoweit das Selbstverständnis und die Selbstbestimmung des Einzelnen oder vielmehr objektive Maßstäbe und ein absolutes Menschenbild des Grundgesetzes bei Auslegung und Verständnis der Grundrechte dominieren, ist bereits Gegenstand ausführlicher wissenschaftlicher Debatte gewesen.312 (1) Objektiviertes Menschenwürdeverständnis Die Idee der Indisponibilität grundgesetzlich gewährleisteter Rechte und der Menschenwürde lässt sich bereits Äußerungen des Abgeordneten Süsterhenn im Parlamentarischen Rat entnehmen, der in Zusammenhang mit der Debatte um die Fassung von Art. 1 Abs. 2 GG darauf hinwies, dass die dort genannte „Unveräußerlichkeit“ der (damals noch Freiheits- und) Menschenrechte bedeute, „dass der Träger dieser Rechte nicht auf sie verzichten könne“.313 Die Annahme der Unverfügbarkeit der Menschenwürde ist unmittelbar mit einem objektivierten Menschenwürdeverständnis verbunden: Denn allein ein objektiver Anteil der Menschenwürde kann der Verfügung des Einzelnen entzogen sein.314 Dementsprechend begründete auch das Bundesverwaltungsgericht im Rahmen der „Peep-Show“-Entscheidung315 seine Auffassung, dass die Menschenwürde ein objektiver, unverfügbarer Wert sei, „auf dessen Beachtung der Einzelne nicht wirksam verzichten“316 könne, mit der objektiven, „normativen Kraft“ des Menschenwürdeschutzes und seiner „für die verfassungsmäßige Ordnung des sozialen Zusammenlebens konstitutiven Bedeutung“, die verloren ginge, wenn die Beantwortung der Frage, ob die Teilnahme an einer Peep-Show die Menschenwürde der Darstellerinnen verletze, (unter anderem) diesen selbst überlassen bliebe.317 Die Idee der Unverfügbarkeit der Menschenwürde ergibt sich insoweit aus zwei Teilschritten: der Annahme, dass die Definition und das Begriffsverständnis der Menschenwürde einer objektiven Be-

312

Vgl. ausführlich Höfling, NJW 1983, 1582 (1583); Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 126–132; Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 249–257. 313 JöR N. F. Band 1 (1951), S. 52. 314 Siehe etwa Isensee: „Es bleibt ein Moment objektiver Menschenwürde, über die das Individuum nicht verfügen und auf die es nicht verzichten kann.“, ders., in: Isensee / ​Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IX, 3. Aufl. 2011, § 191 Rn. 246. 315 Siehe dazu bereits im ersten Kapitel unter B. IV. 1. 316 BVerwG 15.12.1981 – 1 C 232/79 – BVerwGE 64, 274 (279). 317 BVerwG 15.12.1981 – 1 C 232/79 – BVerwGE 64, 274 (280).

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

143

stimmung zugänglich seien und der Auffassung, dass über diesen objektiv bestimmten Menschenwürdegehalt nicht verfügt werden könne. Folgt man einem solchen Menschenwürdeverständnis, erfährt der Schutz von selbstschädigendem Verhalten, welches den objektiven, unverfügbaren Schutzgehalt der Menschenwürde berührt, eine Begrenzung. Kritisiert wird an der aufgezeigten objektiven Interpretation jedoch ihre fehlende Orientierung an dem für das Menschenwürdeverständnis zentral bedeutsamen Selbstverständnis und der Selbstbestimmung des Einzelnen.318 Ein objektiviertes Verständnis widerspreche der Vorstellung der Menschenwürde als „Grundnorm personaler Autonomie“.319 Die mit der Selbstbestimmung unmittelbar zusammenhänge Menschenwürde dürfe nicht gegen die Autonomie des Betroffenen verwendet werden.320 Denn die Menschenwürde schütze den Menschen auch davor, „zum Objekt der Menschenwürdedefinition eines anderen zu werden“.321 Insbesondere eine sonst bestehende „Menschenwürdepflicht“ sei abzulehnen.322 Ein Würdeverständ­nis, das am Selbstverständnis des Einzelnen vorbeigehe, sehe sich zudem dem Verdacht ausgesetzt, unter dem Deckmantel der Fürsorge die Durchsetzung von Moral anzustreben.323 Gerade der letztgenannte Aspekt erscheint mit Blick auf die „Peep-Show“- und die „Zwergenweitwurf“-Entscheidung durchaus naheliegend: In deren Rahmen kam es bei der Beurteilung von Fällen zu einer „Verobjektivierung“ des Menschenwürdeschutzes, die einen direkten Bezug zur Öffentlichkeit, eine gewisse Anstößigkeit und zumindest wohl nicht allgemein-verträgliche Moralkonzepte aufwiesen. Eine moralisierende Rechtfertigung der streitgegenständlichen Verbote mittels der Menschenwürde eröffnet der Willkür jedoch Tür und Tor – und verkürzt die Freiheiten einer Minderheit, die ohne Drittschädigung ausgelebt werden, zugunsten der Moralvorstellungen einer Mehrheit. (2) Subjektiviertes Menschenwürdeverständnis Demgegenüber wird ein liberales Grundrechtsverständnis durch die subjektive Orientierung am Selbstverständnis und an der Selbstbestimmung der Grundrechtsberechtigten charakterisiert  – und die grundrechtlichen Freiheiten dementspre-

318

Siehe etwa Höfling, NJW 1983, 1582 (1583); siehe zur Individualbezogenheit der Menschenwürde auch Suchomel, Partielle Disponibilität der Würde des Menschen, 2010, S. 128 f., 208 f., 245. 319 Dreier, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2013, Art. 1 I Rn. 42. 320 Gutmann, in: van den Daele (Hrsg.), Biopolitik, 2005, S. 235 (247). 321 Hufen, NJW 2001, 849 (851). 322 König, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, Vor § 17 Rn. 18; Schroth, in: FS Roxin, 2001, S. 869 (875). 323 Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 117–119.

144

1. Teil: Grundlegung

chend durch die Grundrechtsberechtigten selbst ausgefüllt.324 Das Bundesverfassungsgericht hat dem Selbstverständnis der Betroffenen für die Inhaltsbestimmung der Menschenwürde sowie anderer Grundrechte große Bedeutung beigemessen: So ging es etwa in Zusammenhang mit der Bestimmung des Schutzbereichs von Art. 4 GG und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts davon aus, dass „bei der Würdigung dessen, was im Einzelfall als Ausübung von Religion und Weltanschauung zu betrachten ist, […] das Selbstverständnis der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften nicht außer Betracht bleiben“325 dürfe und dass „der Inhalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts maßgeblich durch das Selbstverständnis seines Trägers geprägt“326 werde. Im Hinblick auf die Menschenwürde legt insbesondere die Objektformel, nach der eine Menschenwürdeverletzung daran bemessen wird, dass der konkrete Mensch durch die staatliche Maßnahme zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird327 und die sich das Bundesverfassungsgericht in zahlreichen Entscheidungen zu eigen gemacht hat,328 ein subjektiviertes Würdeverständnis nahe: Denn ist die Selbstverfügung von der Autonomie der Betroffenen gedeckt und können diese in eigenen Angelegenheiten selbst über ihre Lebensführung entscheiden, wird ihre Subjektstellung gerade nicht in Frage gestellt.329 Diese Lesart ergibt sich auch mit Blick auf Kants Selbstzweckformel, an die die Dürig’sche Objektformel angelehnt ist:330 „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“331 „Denn vernünftige Wesen stehen alle unter dem Gesetz, daß jedes derselben sich selbst und alle andere niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst behandeln solle.“332

Die Bedeutung der Selbstbestimmung für die Menschenwürde hat das Bundesverfassungsgericht jedoch auch außerhalb der Anwendung der Objektformel betont, wenn es äußerte: 324

Klein, Der Staat 1975, 153 (164–166); Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 126 f.; Müller, Die Positivität der Grundrechte, 1969, S. 98 f. 325 BVerfG 16.10.1968 – 1 BvR 241/66 – BVerfGE 24, 236 (247). 326 BVerfG 3.6.1980 – 1 BvR 185/77 – BVerfGE 54, 148 (156). 327 Dürig, AöR 1956 (81), 117 (127). Siehe dazu auch bereits unter B. I. 1. 328 Siehe in der Rechtsprechung des BVerfG nur etwa exemplarisch BVerfG 16.7.1969  – 1 BvL 19/63 – BVerfGE 27, 1 (6); BVerfG 9 6. 1970 – 1 BvL 24/69 – BVerfGE 28, 386 (391); BVerfG 21.6.1977  – 1  BvL 14/76  – BVerfGE 45, 187 (228); BVerfG 17.1.1979  – 1  BvR 241/77 – BVerfGE 50, 166 (175). 329 Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 159; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 138, 176. Dürig selbst ging hingegen davon aus, dass die Menschenwürde auch dann verletzt sein könne, wenn der Betroffene mit dem in Frage stehenden Angriff einverstanden sei, ders., AöR 81 (1956), 117 (126). 330 Siehe dazu auch Herdegen, in: Maunz / ​Dürig (Hrsg.), GG, 81. Lfg. 2017, Art. 1 Abs. 1 Rn. 36. 331 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785/1911, AA 04: 429, 10–12. 332 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785/1911, AA 04: 433, 26–28.

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

145

„Das Grundgesetz geht von der Würde der freien, sich selbst bestimmenden menschlichen Persönlichkeit als höchstem Rechtswert aus […].“333 „Art. 1 Abs. 1 GG schützt die Würde des Menschen, wie er sich in seiner Individualität selbst begreift und seiner selbst bewußt wird. Hierzu gehört, dass der Mensch über sich selbst verfügen und sein Schicksal eigenverantwortlich gestalten kann.“334

Auch in der Literatur wird vielfach ein subjektivistisches Menschenwürde­ verständnis vertreten, für das die individuelle Selbstbestimmung des Einzelnen von zentraler Bedeutung ist.335 Die Würde des Menschen besteht demnach darin, dass „die Person ihr eigenes Schicksal bestimmen kann (soweit sie hierdurch andere nicht schädigt) und hierin fremder Willkür nicht unterworfen ist.“336 Da „die personale Autonomie […] der Kern jeder Legitimation von Staatlichkeit und Recht“337 sei und die Selbstbestimmung im Zentrum des grundgesetzlichen Würdekonzepts stehe, solle der Staat den Einzelnen selbst über seine Lebensführung entscheiden lassen, und „auch darüber, ob sein Leben moralischen oder ‚Menschenwürde-Standards‘ genügt oder nicht“.338 Die Achtung der Menschenwürde bestehe auch aus der „Respektierung der Freiheit eines jeden Menschen über und für sich selbst“339 und schütze „die Verfügbarkeit über sich selbst“340. Auf Basis dieses subjektivistischen Menschenwürdeverständnisses kann die selbstbestimmten Entscheidung für ein – auch selbstschädigendes – Verhalten eine Würdeverletzung nicht begründen.341 Im Ergebnis muss in einer Gesellschaft, die Individualität und Pluralismus schützen will, die Selbstbestimmung des Grundrechtsträgers im Zentrum des Verständnisses aller persönlichkeitsbezogenen Grundrechte und deshalb insbesondere der 333

BVerfG 13.4.1978 – 2 BvF 1/77 u. a. – BVerfGE 48, 127 (163). BVerfG 11.10.1978 – 1 BvR 16/72 u. a. – BVerfGE 49, 286 (298). 335 Siehe neben vielen Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 159; Her­ degen, in: Maunz / ​Dürig (Hrsg.), GG, 81. Lfg. 2017, Art. 1 Abs. 1 Rn. 79; Höfling, NJW 1983, 1582 (1583); Kandler, Rechtliche Rahmenbedingungen biomedizinischer Forschung, 2008, S. 31; Klimpel, Bevormundung oder Freiheitsschutz?, 2003, S. 230; Littwin Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 134; Spranger, in: Breyer / ​Engelhard (Hrsg.), Anreize zur Organspende, 2006, S. 111 (124); Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997, S. 47 f. Zuneigend noch Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 138, kritischer, ders., ZfL 2015, 86 (87, 92). 336 Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 251. 337 Kandler, Rechtliche Rahmenbedingungen biomedizinischer Forschung, 2008, S. 31. 338 Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 159. Stern bezeichnet die Autonomie als „Herzstück“ der Menschenwürde, ders., Staatsrecht III/1, 1988, S. 31. 339 v. Olshausen, NJW 1982, 2221 (2222). 340 Lenckner / ​Sternberg-Lieben, in: Schönke / ​Schröder (Hrsg.), StGB, 29. Aufl. 2014, Vor §§ 32 ff. Rn. 37 unter Verweis auf BVerfG 11.10.1978 – 1 BvR 16/72 – BVerfGE 49, 286 (298). 341 Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 118; siehe auch Kandler: „Was sich als Akt autonomer Selbstdefinition erweist, kann den Einzelnen nicht in der Menschenwürde verletzen.“, ders., Rechtliche Rahmenbedingungen biomedizinischer Forschung, 2008, S. 31; ebenso Sternberg-Lieben: „Die freie Disposition des einzelnen läßt aber eine Tangierung [des] Schutzbereichs [der Menschenwürde] entfallen“, ders., Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997, S. 47. 334

146

1. Teil: Grundlegung

Menschenwürde stehen. Das fordert bereits das von Selbstbestimmung geprägte Menschenbild des Grundgesetzes.342 Ein solches, autonomie-geprägtes Menschenwürdeverständnis hat zur Folge, dass die entsprechende eigene Bewertung des Grundrechtsträgers eine Würdeverletzung ausschließen können muss. Ein sonst denkbarer Menschenwürdeschutz gegen den eigenen Willen steht der Idee der Objektformel diametral entgegen: Denn vor einer Objektifizierung kann der Einzelne nur auf Grundlage seines eigenen, subjektiven Menschenwürdeverständnisses geschützt werden. Eine heteronome Festlegung des eigenen Würdeverständnisses könnte vielmehr selbst eine Menschenwürdeverletzung begründen343 und würde – wenn etwa die Mehrheit darüber zu entscheiden hätte, was die Menschenwürde verletzt und was nicht – einem effektiven Minderheitenschutz entgegenstehen.344 Auf einer subjektiven Grundlage wird die Menschenwürde in Fällen, in denen das in Frage stehende Verhalten Ausdruck eigener Selbstbestimmung ist, gar nicht erst berührt. Wenn der Einzelne sein Verhalten anhand seines autonomen Menschenwürdeverständnisses ausrichtet, kommt es mangels Betroffenheit der Menschenwürde auf eine mögliche Verfügbarkeit oder Unverfügbarkeit derselben nicht mehr an:345 Soweit die Reichweite des Menschenwürdeschutzes selbst bestimmt wird, bedarf es keiner Verfügung über denselben. Wenn die Deutungshoheit über die eigene Menschenwürde bei den Betroffenen selbst verbleibt, kann es mangels denkbarer Betroffenheit der Würde auch nicht zu einem aufgedrängten Menschenwürdeschutz kommen. Der Schutz selbstverfügenden Verhaltens durch Art. 2 Abs. 1 GG kann damit auch nicht durch die Menschenwürde gesperrt oder verkürzt werden. Die Menschenwürde, die die selbstbestimmte Entscheidung vielmehr gerade stützt und schützt, vermag diese nicht wieder einzuschränken.346

342

Herdegen, in: Maunz / ​Dürig (Hrsg.), GG, 81.  Lfg. 2017, Art. 1 Abs. 1 Rn. 28; Seiterle, Hirnbild und „Lügendetektion“, 2010, S. 140, Zillgens, Die strafrechtlichen Grenzen der Lebendorganspende, 2004, S. 73, 328. Vgl. dazu auch Kolbe, Freiheitsschutz vor staatlicher Gesundheitssteuerung, 2017, S. 162–169. 343 In einer Parallele hält Gärditz das „staatliche Beharren darauf, dass das Leben lebenswert sei, obwohl der Rechtsgutsträger dies offensichtlich anders beurteilt“ für eine „generell unzulässige Fremdbewertung von Leben, die gegen die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) verstößt.“, ders., ZfL 2015, 114. 344 Siehe zu diesem Gedanken bei Auslegung des Begriffs der öffentlichen Ordnung Hönings  / ​ Spranger, in: Preuß / ​Hönings / ​Spranger (Hrsg.), Facetten der Pietät, 2015, S. 335 (359). 345 Dementsprechend geht etwa Sternberg-Lieben davon aus, dass der Inhalt der Menschenwürde sehr wohl indisponibel sei und eine Einwilligung in die Verletzung der Menschenwürde nicht wirksam erfolgen könne – der Schutzbereich der Menschenwürde bei freiwilliger Disposition aber nicht betroffen sei, ders., Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997, S. 47 f. Trotz eines subjektiven Menschenwürdeverständnisses hält auch Suchomel die Menschenwürde für unverzichtbar im Sinne eines „Totalverzichts“ – den Verzicht auf die staatliche Schutzgewährleistung bei selbstbestimmten Vorgängen unter Privaten hält er aber für möglich, ausführlich ders., Partielle Disponibilität der Würde des Menschen, 2010, S. 155–246. 346 Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 251; so auch Roxin: „[D]ie Menschenwürde ist ein Abwehrrecht und dient nicht der Einschränkung selbstbestimmten Handelns.“, ders., NStZ 2016, 185 (186) und Spranger: „Art. 1 Abs. 1 GG bietet keine hin-

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

147

bb) Disponibilität des Rechtsguts Leben Auch die Disponibilität des Rechtsguts Leben ist Gegenstand von Uneinigkeit. Eine Unverfügbarkeit des eigenen Lebens wird mitunter aus der polizeirechtlichen Eingriffsbefugnis bei Suizid und aus der Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen347 oder daraus abgeleitet, dass das durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gewährleistete Recht auf Leben wegen Art. 1 Abs. 2 GG348 unveräußerlich und unverzichtbar sei.349 Eine Verfügung sei infolge einer gegenüber der Gemeinschaft bestehenden „Rechtspflicht zum Weiterleben“350 und wegen Kants Einordnung der Selbsttötung als „intrapersonaler Pflichtverstoß“ abzulehnen.351 Verbreitet wird das Leben als höchstpersönlichstes Individualrechtsgut indes für disponibel gehalten.352 Eine „Rechtspflicht zum Weiterleben“ gebe es nicht.353 Da eine Selbstverfügung über das eigene Leben (grundsätzlich) keine fremden Interessen berühre, könne es in einer liberalen Gesellschaft keinen Lebensschutz gegen den Willen des Rechtsgutsinhabers geben.354 Für die Disponibilität des Rechtsguts Leben spreche zudem, dass bereits das Grundgesetz selbst in der Schrankensystematik des Art. 2 Abs. 2 GG Eingriffe in das Rechtsgut Leben vorsehe.355 reichende Basis für Versuche, den Menschen vor sich selbst zu schützen.“, ders., in: Breyer / ​ Engelhard (Hrsg.), Anreize zur Organspende, 2006, S. 111 (124); ders., MedR 2001, 238 (242). 347 Klinkenberg, JR 1978, 441 (443 f.). 348 Art. 1 Abs. 2 GG: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ 349 Schroeder, ZStW 106 (1994), 565 (573 f.). 350 So Klinkenberg, JR 1978, 441. 351 Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797/1977, A 72–74 (S. 554 f.). Vgl. zu Kants Ablehnung der Selbstentleibung bereits unter A. I. 2. Ausführlich zu den verschiedenen Begründungsansätzen Müller, § 216 StGB als Verbot abstrakter Gefährdung, 2010, S. 32–61 m. w. N.; siehe auch die weiteren Nachweise bei Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 230. Auch Köhler hält die Selbsttötung für die Verletzung einer Rechtspflicht gegen sich selbst, die bei voller Urteilskraft des Handelnden zwar ein Unrecht im Selbstverhältnis begründen, Dritten aber keine Interventionsbefugnis verleihen könne, ders., JRE 2006,  425 (439 f., 442). 352 So auch Chatzikostas, Die Disponibilität des Rechtsgutes Leben, 2001, S. 235, der das Leben als Individualrechtsgut grundsätzlich bis zur Grenze des § 216 StGB für vollumfänglich disponibel hält und den Versuch der Kollektivierung des Rechtsguts Leben unter verschiedenen Aspekten ablehnt, a. a. O. Auch Müller setzt die Möglichkeit der Disposition des Rechtsguts Leben voraus, wenn er davon ausgeht, dass die Regelung des § 216 StGB allein als abstraktes Gefährdungsdelikt zu rechtfertigen sei, das vor der „abstrakten Gefahr des Fehlens der Voraussetzungen einer rechtlich wirksamen Disposition des Rechtsgutsinhabers“ schützt, ders., § 216 StGB als Verbot abstrakter Gefährdung, 2010, S. 133, 199; ebenso Hoven, ZIS 2016, 1 (3); Gärditz, ZfL 2015, 114. 353 Chatzikostas, Die Disponibilität des Rechtsgutes Leben, 2001, S. 235; Gärditz, ZfL 2015, 114; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 82; in der Folge differenzierend, ders., ZfL 2015, 86 (92). 354 Hoven, ZIS 2016, 1 (3). 355 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 226; Hoven, ZIS 2016, 1 (2) m. w. N.

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1. Teil: Grundlegung

Der Auffassung, dass das Rechtsgut Leben disponibel ist, ist schon deshalb zuzustimmen, weil es dem soeben dargelegten, autonomiezentrierten Menschenwürdeverständnis diametral entgegenstehen bzw. es sogar verletzen würde, dem Einzelnen die Verfügung über sein eigenes Leben abzusprechen.356 Ein Verfügungsverbot über das eigene Leben wäre nicht mit einer freiheitlichen Rechtsordnung und dem selbstbestimmungsgeprägten Menschenbild des Grundgesetzes vereinbar. Eine „Rechtspflicht zum Weiterleben“ widerspricht zudem auch Kants Pflichtenverständnis, in dessen Rahmen er das Verbot der Selbstentleibung den Tugend- und nicht den Rechtspflichten zuordnet. Nach seinem Rechtsverständnis kann die Selbsttötung keine Verletzung einer Rechtspflicht begründen, da sie keine Freiheiten Dritter betrifft.357 Richtigerweise führt auch die zwangsläufige Irreversibilität der Verfügung358 über das eigene Leben nicht zu einer Unzulässigkeit der Disposition über das Rechtsgut. Zwar besteht gerade wegen der Irreversibilität einer solchen Entscheidung mit Recht ein ausgeprägtes staatliches Interesse daran, Menschen davor zu bewahren, ihr Leben auf Basis einer defizitären Entscheidung aufzugeben:359 Dieser Aspekt kann jedoch keinen Einfluss auf die Beurteilung der Dispositionsbefugnis des autonom Handelnden über sein höchstpersönlichstes Rechtsgut haben. Ob das Grundrecht auf Leben aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG auch einen positiven Schutz der Verfügungsfreiheit über das Leben gewährt oder nicht,360 kann an dieser Stelle offen bleiben: Auch wenn dies nicht der Fall ist, ergibt sich aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG schon nach seinem Wortlaut361 jedenfalls kein Verfügungsverbot über das eigene Leben.362 Dementsprechend ist die Selbsttötung nach wohl vorherrschender Ansicht zumindest über Art. 2 Abs. 1 GG geschützt.363 Zwar wird bisweilen eine 356 Auch Eser stellt die Frage, ob ein „Lebenszwang“ die Menschenwürde verletzt ders., MedR 1985, 6 (15); siehe auch Gärditz, ZfL 2015, 114. 357 Siehe dazu bereits unter A. I. 1. und A. I. 2. 358 Siehe zu Aspekten der Irreversibilität von Entscheidungen aus moralphilosophischer Perspektive bereits unter A. VII. 6. 359 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (253). 360 Ablehnend etwa Di Fabio, in: Maunz / ​Dürig (Hrsg.), GG, 81.  Lfg. 2017, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG Rn. 47; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 83 f.; Kunig, in: von Münch / ​Kunig (Hrsg.), GG, Band 1, 6. Aufl. 2012, Art. 1 Rn. 36, Art. 2 Rn. 50; Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 232; Reimer, ZfL 2015, 66 (70). 361 „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ 362 „Dass es kein negatives Recht auf Leben gibt, heißt nicht, dass der Grundrechtsträger auf sein positives Recht auf Leben nicht verzichten könnte.“, Reimer, ZfL 2015, 66 (70). 363 Di Fabio, in: Maunz / ​Dürig (Hrsg.), GG, 81. Lfg. 2017, Art. 2 Rn. 50; Jarass, in: Jarass / ​ Pieroth, GG, 14. Aufl. 2016, Art. 2 Rn. 81; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 84; Kloepfer, Verfassungsrecht II, 2010, § 56 Rn. 19; Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 93; Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 239; Reimer, ZfL 2015, 66 (71). Möller hält die Selbsttötung als „Umsetzung einer Entscheidung von hoher ethischer Präferenz“ zudem für durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht geschützt, a. a. O., S. 94; für einen Schutz durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht auch Gärditz, ZfL 2015, 114.

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

149

seelische Beeinträchtigung, die in jedem Suizidwunsch zum Ausdruck komme, als Argument gegen die Schutzwürdigkeit einer entsprechenden Entscheidung angeführt.364 Eine solche wäre jedoch lediglich auf Rechtfertigungs- und nicht bereits auf Schutzbereichsebene von Relevanz.365 Auch die Idee, dass die „Vernichtung“ der Persönlichkeit schon vom Wortlaut des Art. 2 Abs. 1 GG, der die „Entfaltung“ der Persönlichkeit schützt, nicht erfasst sein könne,366 ist in Folge des weiten Verständnisses der allgemeinen Handlungsfreiheit abzulehnen: Im Hinblick auf den bereits dargestellten, umfassenden Freiheitsschutz, den Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet,367 muss konsequenterweise auch die Selbsttötung durch die allgemeine Handlungsfreiheit geschützt sein. Mitunter wird sogar aus der Menschenwürde das Recht abgeleitet, „in selbstverantwortlicher Entschließung dem eigenen Leben ein Ende zu setzen“.368 cc) Disponibilität der Selbstbestimmung Diskutiert wird auch die Disponibilität der Selbstbestimmung als solcher. Obwohl er im Übrigen weitgehende persönliche Freiheit propagiert, geht Mill wie bereits dargestellt in seinem berühmten Selbstversklavungsbeispiel davon aus, dass ein Vertrag mit dem Ziel der Selbstversklavung unzulässig sei. Er begründet dies damit, dass derjenige, der seine Freiheit verkaufe, im Wege der Selbstbestimmung den Zweck vereitele, aufgrund dessen ihm die Selbstverfügung gestattet sei.369 Dem Einzelnen soll die Verfügung über seine Freiheit zur Selbstbestimmung demnach zum Schutz aller künftigen Entscheidungen entzogen sein. Dementsprechend hält auch Enderlein allein die Selbstbestimmung für indisponibel, da die einzigen Grenzen der Dispositionsbefugnis diejenigen seien, die aus der Idee der Selbst­ bestimmung selbst erwüchsen.370

364

So für die meisten Fälle Gallas, JZ 1960, 649 (655); Geilen, JZ 1974, 145 (152) m. w. N.; Götz / ​Geis, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 16. Aufl. 2017, § 4 Rn. 32; Köhler, ZStW 104 (1992), 3 (24), der allerdings äußerste Notsituationen ausklammert. 365 Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 93. 366 Frotscher, DVBl. 1976, 695 (702); Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, 1977, S. 39 Fn. 9, S. 51 Fn. 57. 367 Siehe dazu bereits unter B. I. 3. 368 Herdegen, in: Maunz / ​Dürig (Hrsg.), GG, 81. Lfg. 2017, Art. 1 Abs. 1 Rn. 89. 369 Siehe dazu bereits unter A. III. 1. Auch Köhler hält die Selbstversklavung für die Verletzung einer Rechtspflicht gegen sich selbst, die bei voller Urteilskraft des Handelnden zwar ein Unrecht im Selbstverhältnis begründen, Dritten aber keine Interventionsbefugnis verleihen könne, ders., JRE 2006, 425 (439 f., 442). 370 Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 160. Dies ist der Grund, weshalb Enderlein paternalistischen Schutz nur dann für zulässig hält, wenn er das Ziel verfolgt, zukünftige Möglichkeiten der Selbstbestimmung nicht zu sehr zu beeinträchtigen und zu einer Freiheitsmaximierung führt, a. a. O. Schmolke geht davon aus, dass die Menschenwürde „extremen Fälle der freiwilligen Freiheitsbeschränkung“ – wie etwa der Selbstversklavung – entgegenstehen könne, ders., Grenzen der Selbstbindung im Privatrecht, 2014, S. 60.

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1. Teil: Grundlegung

Die diesen Ansätzen zugrundeliegende Annahme, nach der allein auf die Freiheit zur selbstbestimmten Freiheit nicht verzichtet werden dürfe, kann zumindest derart apodiktisch nicht gelten. Auch wenn viel dafür spricht, hohe Anforderungen an Verfügungen über die Freiheit zur Selbstbestimmung zu stellen, folgt aus der besonderen Bedeutung dieser Freiheit dennoch nicht per se die vollständige Unverfügbarkeit derselben. Zwar kann die Verfügung über die Selbstbestimmung ebenso wie die Verfügung über das Rechtsgut Leben irreversibel sein. Auch bei dieser kann jedoch allein die Unumkehrbarkeit der Entscheidung ihrer Zulässigkeit nicht entgegenstehen. Theoretisch sind vielmehr Situationen denkbar, in denen – etwa zum Schutz Dritter – gerade eine Verfügung über die eigene Selbstbestimmung der Autonomie der Betroffenen gerecht würde. Deshalb kann auch die von Hegel angelegte und von Mill aufgegriffene Idee der Widersprüchlichkeit einer freien Entscheidung zur Aufgabe der Möglichkeit, freie Entscheidungen treffen zu können, wie bereits dargelegt371 nicht überzeugen.372 Zwar sind kaum realitätsnahe Konstellationen denkbar, in denen sich jemand tatsächlich auf Basis freister Willensbestimmung gegen die zukünftige Ausübung des freien Willens entscheiden würde – abstrakt denkbar sind sie wie in Mills Selbstversklavungsbeispiel jedoch zweifelsohne. Deshalb ist nicht die Verfügung über dieselbe, sondern ganz im Gegenteil allein eine Beschränkung der Selbstbestimmung zugunsten der Selbstbestimmung „widersprüchlich“. Eine kategorische Ablehnung ihrer Disponibilität ist nicht begründbar. Da zudem die Aufgabe der Selbstbestimmung von der Aufgabe des Lebens denklogisch mitumfasst ist, muss bei Annahme einer zumindest grundsätzlich bestehenden Disponibilität des Rechtsguts Leben bereits  a maiore ad minus auch die Disponibilität der Selbstbestimmung angenommen werden. 4. Resümee: Keine vorgelagerten Beschränkungen des grundrechtlichen Schutzes selbstschädigenden Verhaltens Im Ergebnis ist der grundrechtliche Schutz selbstschädigenden Verhaltens somit nicht bereits auf Schutzbereichsebene beschränkt und wird nicht durch ein grundrechtliches Verfügungsverbot gesperrt. Aus einem der Freiheit des Einzelnen verpflichteten Grundgesetz können weder „Grundpflichten“ noch Beschränkungen der Verfügung über eigene Rechtsgüter abgeleitet werden. Vielmehr ist gerade auch die Aufgabe eigener Rechtspositionen Kern der von einer liberalen Rechtsordnung unbedingt zu wahrenden Selbstbestimmung.373 Alles andere würde eine Verletzung des vorliegend vertretenen, autonomiezentrierten Menschenwürde­ verständnisses begründen. Selbstschädigungen und Selbstverfügungen werden 371

Siehe dazu bereits unter A. VII. 6. Siehe dazu auch Seelmann, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 206 (209 f.). 373 Siehe Hoven, ZIS 2016, 1 (2) m. w. N. 372

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

151

dementsprechend immer jedenfalls subsidiär durch die allgemeine Handlungsfreiheit, Art. 2 Abs. 1 GG geschützt.

III. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung stark paternalistischer Freiheitseingriffe Jede Freiheit, die durch paternalistische Regelungen beschränkt wird – und damit auch die Freiheit, sich selbst zu schädigen – wird, wie soeben dargestellt,374 durch die allgemeine Handlungsfreiheit geschützt. Da Beschränkungen der Ausübung einer grundrechtlich geschützten Freiheit einer Rechtfertigung bedürfen, soll eine solche nun anhand des Maßstabs der allgemeinen Handlungsfreiheit unter paternalistischen Gesichtspunkten untersucht werden. Die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG wird durch die Rechte anderer, die verfassungsmäßige Ordnung und das Sittengesetz eingeschränkt. Die Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung wird seit dem Elfes-Urteil des Bundesverfassungsgerichts als einfacher Gesetzesvorbehalt verstanden, so dass die allgemeine Handlungsfreiheit durch „die allgemeine Rechtsordnung […], die die materiellen und formellen Normen der Verfassung zu beachten hat, also eine verfassungsmäßige Rechtsordnung sein muß“, beschränkt wird.375 Die Schranken der „Rechte anderer“ und des „Sittengesetzes“ werden in Folge dieses Verständnisses im Grunde bedeutungslos376 und gehen in der allgemeinen Rechtsordnung auf.377 Zur Einschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit bedarf es somit eines verfassungsmäßigen Gesetzes. Da im Sinne der Übertragbarkeit der abstrakten Betrachtung auf verschiedenste paternalistische Regelungen an dieser Stelle kein konkretes Gesetz überprüft werden kann, wird im Folgenden  – bei im Übrigen angenommener Verfassungsmäßigkeit des jeweiligen Gesetzes als Schranke der allgemeinen Handlungsfreiheit  – allein die Schranken-Schranke der Verhältnis­ mäßigkeit einer stark paternalistischen Regelung untersucht. Unter gedanklicher Zugrundlegung einer Vorschrift, die ausschließlich dem Schutz eines autonom entscheidenden Erwachsenen gegen seinen Willen dient,378 soll die Betrachtung 374

Siehe dazu unter B. I. 3. BVerfG 16.1.1957 – 1 BvR 253/56 – BVerfGE 6, 32 (38) [„Elfes“]. 376 So Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 165 f., 173, 177; Jarass, in: Jarass / ​Pieroth, GG, 14. Aufl. 2016, Art. 2 Rn. 19; Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 241. Anders Isensee, in: Isensee / ​Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IX, 3. Aufl. 2011, § 191 Rn. 246. Siehe zu der Schranke des Sittengesetzes sogleich unter B. III. 4. 377 So für die „Rechte anderer“ Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 241 m. w. N. 378 Relevant ist in diesem Zusammenhang nicht, ob der Schutz gegen den Willen des Betroffenen ausdrücklich vom Gesetzgeber als Gesetzeszweck genannt ist – entscheidend ist vielmehr der „objektiv erkennbare Normzweck“, Epping, Grundrechte, 7. Aufl. 2017, Rn. 50; ähnlich auch Sachs, Verfassungsrecht II, 3. Aufl. 2017, Kapitel 10 Rn. 34. 375

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1. Teil: Grundlegung

Aufschluss über die grundsätzliche verfassungsrechtliche Zulässigkeit eines paternalistischen Regelungszwecks in Ansehung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit geben. Die Anknüpfung an die allgemeine Handlungsfreiheit und ihre Schranken bietet sich vorliegend wie bereits dargelegt nicht nur deshalb an, weil durch paternalistische Regelungen unterschiedlichste Verhaltensweisen beeinträchtigt werden können und im Rahmen einer abstrakten Betrachtung nicht die Betroffenheit spezieller Grundrechtsbestimmungen, sondern sinnvollerweise nur die – zumindest subsidiär – immer einschlägige allgemeine Handlungsfreiheit untersucht werden kann. Insbesondere ist eine Überprüfung der Zulässigkeit von starkem Paternalismus anhand der allgemeinen Handlungsfreiheit aber auch deshalb sinnvoll, weil ihr ebenso eine Aussagekraft für eine mögliche Verletzung spezieller Grundrechte durch einzelne Regelungen zukommt: Kann ein Eingriff in die mit einem einfachen Gesetzesvorbehalt versehene allgemeine Handlungsfreiheit nicht mit einer paternalistischen Zwecksetzung gerechtfertigt werden, so wird sich auch kein Eingriff in ein anderes Grundrecht paternalistisch rechtfertigen lassen, das durch einen einfachen oder qualifizierten Gesetzesvorbehalt beschränkt oder vorbehaltlos gewährleistet wird. Im Ergebnis wird festzustellen sein, dass Schutz gegen den eigenen Willen als solcher den Ansprüchen der Schranken-Schranke der Verhältnismäßigkeit nicht genügt. So stellt er weder in Form des Individualschutzes gegen den eigenen Willen einen legitimen Zweck einer Freiheitsbeschränkung dar (dazu unter 1.), noch kann der Schutz gegen den eigenen Willen als Gemeinwohlbelang verstanden und unter diesem Gesichtspunkt legitimer Zweck einer Freiheitsbeschränkung sein (dazu unter 2.). Eine Rechtfertigung paternalistischer Beschränkungen kann sich auch nicht aus der objektiven Dimension der Grundrechte (dazu unter 3.), aus dem Sittengesetz (dazu unter 4.) oder wegen einer Verletzung der Wesensgehaltsgarantie (dazu unter 5.) ergeben. Die Verfassungsmäßigkeit von reinem Paternalismus ist deshalb im Ergebnis abzulehnen. Ob eine (auch-)paternalistische Regelung im Einzelfall auf Basis anderer, darüber hinausgehender Zwecksetzungen einer Rechtfertigung zugänglich ist, ist im Rahmen der Abstraktion der Betrachtung an dieser Stelle nicht von Belang. 1. Individualschutz gegen den eigenen Willen als legitimer Zweck einer Freiheitsbeschränkung Eine rein paternalistische Ausrichtung kann zunächst unter individualschützenden Aspekten kein legitimer Zweck einer Grundrechtseinschränkung sein.

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

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a) Grundlegung Unter einem legitimen Zweck wird zumeist ein legitimes öffentliches Interesse und Gemeinwohlziel verstanden, das sich unmittelbar aus der Verfassung ergeben kann, aber nicht muss.379 Der Schutz des Betroffenen gegen seinen Willen ergibt sich zwar nicht unmittelbar aus der Verfassung. Gesetzeszwecke, die nicht von Verfassungsrang sind, können jedoch vom Gesetzgeber auch selbst aufgestellt werden, soweit sie nicht bereits als solche im Widerspruch zur Verfassung stehen.380 Zentral bedeutsam ist deshalb, ob der Schutz gegen den eigenen Willen als Regelungszweck in Einklang mit der Verfassung steht. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in verschiedenen Zusammenhängen zu diesem Thema geäußert, wenn auch vielfach nicht konkret und direkt. Der Schutz von Minderjährigen wurde vom Bundesverfassungsgericht auch gegen den Willen der Betroffenen für zulässig gehalten.381 Mit einem Verweis auf mögliche Reifeaspekte hat das Bundesverfassungsgericht fürsorgerische Eingriffe jedoch auch bei Volljährigen für legitim befunden: Anlässlich der Beurteilung von Regelungen zur Personenstandsänderung von Transsexuellen, die eine Altersgrenze von 25 Jahren vorsahen, hielt es den mit den Regelungen einhergehenden Eingriff in die all­ gemeine Handlungsfreiheit für gerechtfertigt, „wenn sie den Betroffenen daran hindern sollen, sich selbst einen größeren persönlichen Schaden zuzufügen“.382 Ähnlich äußerte sich das Bundesverfassungsgericht auch in Bezug auf die Regelungen des Transplantationsgesetzes zur Lebendspende von Organen, hinsichtlich derer es zwar anerkannte, dass „der Schutz des Menschen vor sich selbst als Rechtfertigungsgrund staatlicher Maßnahmen in Ansehung der durch Art. 2 Abs. 1 GG verbürgten allgemeinen Handlungsfreiheit grundsätzlich seinerseits einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung“ bedürfe, da „[a]uch selbstgefährdendes Verhalten […] Ausübung grundrechtlicher Freiheit“ sei.383 Das ändere „aber nichts daran, dass es ein legitimes Gemeinwohlanliegen [sei], Menschen davor zu bewahren, sich selbst einen größeren persönlichen Schaden zuzufügen“.384 Paternalismuskritischer ließ sich das Bundesverfassungsgericht vernehmen, soweit keine konkrete Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit stark paternalistischer Regelungen anstand: So ging es in Zusammenhang mit der (wohl schwach paternalistischen) Unterbringung psychisch Kranker davon aus, dass „es unter der 379

Hufen, Staatsrecht II, 6. Aufl. 2017, § 9 Rn. 19; BVerfG 12.5.1987 – 2 BvR 1226/83 u. a. – BVerfGE 76, 1 (53). 380 Sachs, Verfassungsrecht II, 3. Aufl. 2017, Kapitel 10 Rn. 33. 381 Siehe nur etwa BVerfG 18.7.1967 – 2 BvF 3/62 – BVerfGE 22, 180; BVerfG 21.12.2011 – 1 BvR 2007/10 – NJW 2012, 1062–1065. 382 BVerfG 16.3.1982 – 1 BvR 938/81 – BVerfGE 60, 123 (132). Kritisch Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 77 f. 383 BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399 (3401). 384 BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399 (3401). Dazu ausführlich im dritten Kapitel dieser Arbeit.

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1. Teil: Grundlegung

Herrschaft des Grundgesetzes in der Regel jedermann frei [stehe], Hilfe zurückzuweisen, sofern dadurch nicht Rechtsgüter anderer oder der Allgemeinheit in Mitleidenschaft gezogen werden […].“385 Der Freiheitsanspruch des Art. 2 Abs. 1 GG müsse nur zurücktreten, „wenn überwiegende Belange des Gemeinwohls, wie sie mit den Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG bestimmt sind, es zwingend gebieten […]“.386 Dass staatliche Eingriffe bei zur Selbstbestimmung fähigen Menschen Grenzen unterworfen sind, brachte das Bundesverfassungsgericht auch zum Ausdruck, als es äußerte, dass das Gewicht des Freiheitsanspruchs eben auch von der Fähigkeit zu selbstbestimmtem Handeln abhänge und dem Staat bei einer Beeinträchtigung derselben „fürsorgerisches Eingreifen auch dort erlaubt [sei], wo beim Gesunden Halt geboten ist“.387 Insoweit wird zwar keine absolute Ablehnung von starkem Paternalismus statuiert – wohl aber die Bedeutung der Selbstbestimmung für die Begrenzung desselben anerkannt. Für unzulässig hält das Bundesverfassungsgericht hingegen jedenfalls Eingriffe, die lediglich die „Besserung“ des Betroffenen gegen seinen Willen bezwecken und damit weder dem Schutz des Einzelnen noch dem der Allgemeinheit dienten.388 Die zentrale Bedeutung der Selbstbestimmung hat das Bundesverfassungsgericht insbesondere in Zusammenhang mit der Menschenwürde immer wieder betont. So statuierte es bei seiner Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit lebenslanger Freiheitsstrafen, dass der Menschenwürde „die Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen zugrunde [liege], das darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich zu entfalten“.389 Es sei Ausdruck der „unverlierbare[n] Würde des Menschen als Person […], dass er als selbstverantwortliche Persönlichkeit anerkannt bleibt“.390 Zur Würde des Menschen gehöre ferner, „dass der Mensch über sich selbst verfügen und sein Schicksal eigenverantwortlich gestalten“ könne.391 Die mit der Menschenwürde einhergehende Freiheit zur Selbstbestimmung und Entfaltung sei jedoch gemeinschaftsgebunden und bestehe deshalb nicht unbegrenzt: Vielmehr müsse sich der Einzelne „diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht; doch muß die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleiben […].“392 385

BVerfG 7.10.1981 – 2 BvR 1194/80 – BVerfGE 58, 208 (225). BVerfG 7.10.1981 – 2 BvR 1194/80 – BVerfGE 58, 208 (225) (Herv. d. Verf.). 387 BVerfG 7.10.1981 – 2 BvR 1194/80 – BVerfGE 58, 208 (225). 388 BVerfG 18.7.1967 – 2 BvF 3/62 u. a. – BVerfGE 22, 180 (219 f.). 389 BVerfG 21.6.1977  – 1  BvL 14/76  – BVerfGE 45, 187 (227) [„Lebenslange Freiheitsstrafe“]. 390 BVerfG 21.6.1977  – 1  BvL 14/76  – BVerfGE 45, 187 (228) [„Lebenslange Freiheitsstrafe“]. 391 BVerfG 11.10.1978 – 1 BvR 16/72 – BVerfGE 49, 286 (298). 392 BVerfG 21.6.1977  – 1  BvL 14/76  – BVerfGE 45, 187 (228) [„Lebenslange Freiheitsstrafe“]. 386

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

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Auch das Bundesverwaltungsgericht hat sich – außerhalb seiner bereits dargelegten, paternalistischen „Peep-Show“-Entscheidung393 – klar selbstbestimmungsfreundlich und antipaternalistisch geäußert: „Das Selbstbestimmungsrecht schließt die Befugnis ein, darüber zu entscheiden, welchen Gefahren sich der einzelne aussetzen will. Es widerspricht im Kern dem umfassenden Persönlichkeitsrecht, […] staatlichen Behörden die Befugnis einzuräumen, dem Staatsbürger vorzuschreiben, was er im Interesse seines Eigenschutzes zu tun hat. Eine solche staatliche Bevormundung ist nicht verfassungsgemäß. […] Besteht keine Selbstmordgefahr und ist die freie Willensentschließung nicht beeinträchtigt, so gibt es keine verfassungsrechtliche Legitimation dafür, die Handlungsfreiheit des [Einzelnen] in dessen eigenem Interesse einzuschränken.“394

Im Ergebnis zeigen sich bei der Untersuchung der Rechtsprechung hinsichtlich des Schutzes des Menschen gegen seinen eigenen Willen somit erhebliche Inkonsistenzen. So vermag sich nicht in Einklang bringen zu lassen, wie es legitimer Zweck einer Freiheitseinschränkung sein kann, Menschen auch gegen ihren Willen vor einer Selbstschädigung zu bewahren, während sich zugleich aus der Menschenwürde ergibt, dass die Grenzen der Selbstbestimmung nur in der Betroffenheit der Rechtsgüter Dritter oder der Allgemeinheit liegen. Rein paternalistische Eingriffe lassen sich nicht unter Maßnahmen „zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens“395 subsumieren. Auch die Wahrung der „Eigenständigkeit der Person“396 kann durch bevormundende Regelungen durchaus in Frage gestellt werden. Die Inkonsistenz der bundesverfassungsgerichtlichen Argumentation offenbart sich am deutlichsten im Rahmen des Beschlusses zur Verfassungsmäßigkeit der Regelungen zur Lebendorganspende im Transplantationsgesetz, in welchem das Bundesverfassungsgericht zunächst zwar den grundrechtlichen Schutz selbstschädigenden Verhaltens anerkannte, im nächsten Schritt aber davon ausging, dass der Schutz des Betroffenen gegen seinen Willen legitimer Zweck einer Grundrechtsbeschränkung sein könne. Dies widerspricht nicht nur den soeben dargestellten Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts zur zentralen Bedeutung der Selbstbestimmung  – es widerspricht auch sich selbst: Derselbe Ausgangspunkt kann nicht zugleich Schutz- und Einschränkungsgrund eines bestimmten Verhaltens sein. Selbstschädigung und Selbstschutz sind vielmehr zwei Seiten derselben Medaille: Die Freiheit zu ersterem anzuerkennen und sie dann auf Basis von letzterem einzuschränken oder sogar aufzugeben, ist paradox. In der Jurisprudenz wird der Schutz des selbstbestimmt Handelnden gegen seinen Willen als Rechtfertigung einer Grundrechtsverkürzung in weiten Teilen abgelehnt. Aufgabe des Staates sei nicht die Übernahme eines Grundrechtsschutzes gegen den eigenen Willen, sondern vielmehr die Gewährleistung öffentlicher Si 393

Dazu bereits im ersten Kapitel unter B. IV. 1. BVerwG 27.4.1989 – 3 C 4/86 – BVerwGE 82, 45 (48–50). 395 BVerfG 20.7.1954 – 1 BvR 459/52 u. a. – BVerfGE 4, 7 (16). 396 BVerfG 21.6.1977  – 1  BvL 14/76  – BVerfGE 45, 187 (228) [„Lebenslange Freiheitsstrafe“]. 394

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1. Teil: Grundlegung

cherheit: Dementsprechend seien das Selbstbestimmungsrecht und die individuelle Freiheit, soweit sie eigenverantwortlich ausgeübt würden, allein zum Schutz Dritter und der Allgemeinheit einschränkbar.397 Ein Schutz des Einzelnen gegen seinen Willen widerspreche sowohl dem dem Grundgesetz zugrundliegenden Respekt vor dem selbstverantwortlich handelnden Grundrechtsinhaber als auch einem liberalen Grundrechtsverständnis, in dessen Zentrum die individuelle Freiheit stehe, die im Rahmen eines unerwünschten Schutzes in ihr Gegenteil verkehrt würde.398 Zudem beinhalte ein paternalistischer Eingriff eine Anmaßung, im Rahmen derer „der Staat notwendig eine höhere Vernunft in Anspruch [nimmt] und behauptet, besser zu wissen als der Einzelne, was für ihn gut sei“.399 Auch Hillgruber geht davon aus, dass Regelungen verfassungswidrig seien, „die ihrer objektiven Zielrichtung nach – ausschließlich – bezwecken, den Einzelnen gegen seinen Willen vor den Folgen seiner Grundrechtsausübung, d. h. vor sich selbst zu schützen“.400 Als legitimer Zweck einer Freiheitseinschränkung komme „allein der Schutz eines schlechthin zu schützenden Interesses der Allgemeinheit, die Wahrung des Gemeinwohls, in Betracht“.401 Hillgruber begründet seine antipaternalistische Haltung mit einer Parallele zu dem im Rahmen des Lüth-Urteils vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Vorbehalt des allgemeinen Gesetzes in Art. 5 Abs. 2 GG und geht davon aus, dass auch Gesetze, die die allgemeine Handlungsfreiheit einschränken, „gegenüber der Freiheitsausübung inhaltlich neutral“ und in diesem Sinne allgemein zu sein haben:402 Sie dürften „sich nicht gegen eine bestimmte Handlung als solche richten, sondern haben dem Schutz eines Gemeinschaftsgutes zu dienen. […] Weder Unwert noch „Schädlichkeit“ eines Handlungsinhalts berechtigen für sich genommen, dem Einzelnen ein bestimmtes Verhalten zu verbieten. Hinzutreten muß vielmehr eine […] Sozialschädlichkeit der Handlung.“403 Dies folge auch aus der Sphärentheorie des Bundesverfassungsgerichts,404 397 Doehring, in: FS Zeidler, Band 2, 1987, S. 1553 (1555); Isensee, in: Isensee / ​Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IX, 3. Aufl. 2011, § 191 Rn. 244; Jarass, in Jarass / ​ Pieroth, GG, 14. Aufl. 2016, Art. 2 Rn. 34; Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 147 m. w. N., 244. 398 Doehring bezeichnet die individuelle Freiheit als „Grundakkord der Verfassung“, ders., in: FS Zeidler, Band 2, 1987, S. 1553 (1555); Esser, Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 89; Isensee, in: Isensee / ​Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IX, 3. Aufl. 2011, § 191 Rn. 244; Schwabe spricht sonst gar von einer „Pervertierung der Grundrechte“, ders., JZ 1998, 66 (69 f.). 399 Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 264. 400 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 120. 401 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 120. 402 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 120. Methodisch kritisch aber im Ergebnis zustimmend Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 103 f. Kritisch Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, 1997, S. 110 ff. 403 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 119 (Herv. d. Verf.). 404 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 120; zustimmend Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 147.

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

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nach der dem Einzelnen ein Bereich privater Lebensgestaltung vorbehalten bleibt, welcher der Einwirkung der öffentlichen Gewalt entzogen ist.405 Das Recht auf diese Sphäre darf laut dem Bundesverfassungsgericht nur eingeschränkt werden, wenn der Betroffene „durch sein Sein oder Verhalten auf andere einwirkt und dadurch die persönliche Sphäre von Mitmenschen oder Belange des Gemeinschaftslebens berührt“.406 Daraus folgert Hillgruber, „dass der Schutz des Menschen vor sich selbst für sich allein genommen als ausschließlicher gesetzgeberischer Zweck eine Freiheitseinschränkung grundsätzlich nicht zu legitimieren vermag“.407 Ebenso verlangt Enderlein, dass das die allgemeine Handlungsfreiheit einschränkende Gesetz dem Kriterium der „Allgemeinheit“ dienen müsse und sich deshalb nicht gegen „das grundrechtlich geschützte Rechtsgut als solches“ richten dürfe, das er als „die Freiheit der Person von staatlichen Einschränkungen […], selber, eigenverantwortlich wählen zu können, wie sie ihr Leben führt“ beschreibt.408 Verfolge also ein Gesetz den Zweck, „den Einzelnen gegen dessen Willen vor einer unklugen oder selbstschädigenden Handlungswahl zu schützen, liegt darin eine Reglementierung der Lebensführung, die unmittelbar gegen das grundrechtlich geschützte Rechtsgut gerichtet ist“.409 Dies nehme dem Gesetz die geforderte Allgemeinheit – und damit allen paternalistischen Zwecksetzungen die verfassungsrechtliche Zulässigkeit.410 In der Tat vermag eine Einschränkung der Handlungsfreiheit allein auf Basis der Verwirklichung der gesetzgeberischen Vorstellung davon, wie ein Leben zu führen und wie eine Freiheit zu nutzen ist, nicht mit einem freiheitsorientierten Grundrechtsverständnis in Einklang gebracht zu werden. Der Schutz des Einzelnen gegen seinen Willen ist kein legitimer Zweck der Einschränkung einer grundrechtlichen Freiheit, da er grundlegenden Werten der Verfassung widerspricht. Aufgedrängtem Schutz steht bereits das Menschenbild des Grundgesetzes entgegen, das auf die „Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person“411 fokussiert ist, „ohne dabei deren Eigenwert anzutasten“412 und in dessen Rahmen sich der Einzelne allein „diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen [muss], die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht, vorausgesetzt, dass dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleibt.“413 405

BVerfG 16.1.1957 – 1 BvR 253/56 – BVerfGE 6, 32 (41) [„Elfes“]. BVerfG 5.6.1973 – 1 BvR 536/72 – BVerfGE 35, 202 (220) (Herv. d. Verf.). 407 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 120 f. Kritisch gegenüber Hillgrubers Ansatz Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, 1997, S.110 ff. 408 Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 147. 409 Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 147. 410 Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 147. 411 BVerfG 20.7.1954 – 1 BvR 459/52 u. a. – BVerfGE 4, 7 (15 f.). 412 BVerfG 20.7.1954 – 1 BvR 459/52 u. a. – BVerfGE 4, 7 (16). 413 BVerfG 20.7.1954 – 1 BvR 459/52 u. a. – BVerfGE 4, 7 (16). 406

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1. Teil: Grundlegung

Auch aus der Menschenwürde folgt „das Recht des Einzelnen […], autonom über Lebensplan und Glücksvorstellungen zu entscheiden“.414 Dem Menschenwürdeschutz liegt laut Bundesverfassungsgericht „die Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen zugrunde, das darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich zu entfalten“.415 Dementsprechend ist es insbesondere die Selbstbestimmung, die in allen Bereichen des Lebens von der Menschenwürde erfasst wird416 und die ihr „Herzstück“417 darstellt: „Art. 1 Abs. 1 GG schützt die Würde des Menschen, wie er sich in seiner Individualität selbst begreift und seiner selbst bewusst wird. Hierzu gehört, dass der Mensch über sich selbst verfügen und sein Schicksal eigenverantwortlich gestalten kann.“418

Diese Eigenständigkeit des Menschen sollte in einer ursprünglichen Fassung des Art. 1 GG sogar ausdrücklich ins Zentrum des Grundgesetzes gestellt werden: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.“419

Als tragendes Konstitutionsprinzip stellt die Menschenwürde die Grundlage und den höchsten Wert der verfassungsmäßigen Ordnung dar:420 Ihr Verständnis begründet das Verständnis aller Grundrechte.421 Soweit also im Zentrum der Grundrechte die Selbstverantwortlichkeit des Einzelnen neben der Idee steht, dass eine persönliche Entfaltung in jede Richtung möglich ist, wenn dadurch nicht Belange Dritter oder der Allgemeinheit berührt werden, kann eine Bevormundung allein zum Wohl des freiverantwortlich Handelnden bereits im Sinne des Respekts vor der Menschenwürde des Einzelnen kein legitimer Zweck einer Freiheitsbeschränkung sein. Vielmehr wohnt einer derartigen Annahme ein Widerspruch inne, der in verschiedenerlei Hinsicht unauflöslich ist: Dies folgt zum einen aus dem grundrechtlichen Schutz, der selbstschädigendem Verhalten zukommt.422 Soweit die Rechtsgüter ein- und desselben Menschen in Frage stehen, ist es – wie bereits ausgeführt – paradox, selbstschädigendes Ver 414

Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 210. BVerfG 21.6.1977  – 1  BvL 14/76  – BVerfGE 45, 187 (227) [„Lebenslange Freiheitsstrafe“]. 416 Herdegen, in: Maunz / ​Dürig (Hrsg.), GG, 81. Lfg. 2017, Art. 1 Abs. 1 Rn. 28, 84. Dazu auch Lipp, Freiheit und Fürsorge, 2000, S. 127 m. w. N. Siehe auch bereits ausführlich unter B. II. 3. b) aa) (2). 417 Stern, Staatsrecht III/1, 1988, S. 31. 418 BVerfG 11.10.1978 – 1 BvR 16/72 – BVerfGE 49, 286 (298). 419 So der Herrenchiemsee-Entwurf zu Art. 1 GG, JöR N. F. Band 1 (1951), S. 48. 420 Siehe nur etwa BVerfG 16.1.1957 – 1 BvR 253/56 – BVerfGE 6, 32 (36) [„Elfes“]; BVerfG 21.6.1977 – 1 BvL 14/76 – BVerfGE 45, 187 (227) [„Lebenslange Freiheitsstrafe“]. 421 „Die personale Autonomie ist der Grund, weshalb in einem Staat den Menschen Rechte zugeschrieben werden.“, Klimpel, Bevormundung oder Freiheitsschutz?, 2003, S. 20 f. „Denn allein die personale Autonomie ist der Kern jeder Legitimation von Staatlichkeit und Recht.“, Kandler, Rechtliche Rahmenbedingungen biomedizinischer Forschung, 2008, S. 31. 422 Vgl. dazu Isensee, in: Isensee / ​Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IX, 3. Aufl. 2011, § 191 Rn. 244 sowie soeben unter B. II. 3. a). 415

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

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halten zunächst unter grundrechtlichen Schutz zu stellen, um den Eingriff in diese Gewährleistung dann zugunsten eines Schutzes vor Selbstschädigung verfassungsrechtlich zu rechtfertigen. Denn der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs ist der Konflikt verschiedener Rechtsgüter immanent, die in einen Ausgleich gebracht werden müssen.423 Eine derartige Abwägung liegt rein paternalistischen Regelungen aber gar nicht zugrunde: In deren Rahmen stehen sich vielmehr nur scheinbar verschiedene grundrechtlich geschützte Güter gegenüber – etwa in Form der körperlichen Unversehrtheit und der allgemeinen Handlungsfreiheit. Denn die körperliche Unversehrtheit wird in der paternalistischen Grundkonstellation gar nicht beeinträchtigt, wenn freiwillig über sie disponiert wird – tatsächlich berührt wird in diesen Fällen nur das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen. De facto stehen sich somit auf der Freiheitsebene das Recht auf Selbstschädigung und auf Rechtfertigungsebene der Schutz vor Selbstschädigung gegenüber. Ebenso wenig, wie die eigene Religionsfreiheit durch die eigene Religionsfreiheit begrenzt werden kann, lässt sich das eigene Recht auf Selbstschädigung jedoch durch das eigene Recht auf Selbstschädigung begrenzen. Wenn auf beiden Seiten der Abwägung dasselbe Rechtsgut desselben Rechtsgutsträgers steht, wird der grundrechtliche Schutz selbstschädigenden Verhaltens vielmehr durch die Hintertür entwertet. Der weitere, paternalistischen Regelungen innewohnende Widerspruch, der darin besteht, dass der Staat die Handlungsfreiheit des Einzelnen verkürzt und ihn damit gleichsam schädigt, um eine selbst gewählte Schädigung des Betroffenen zu verhindern oder abzumildern, ist zum anderen im Hinblick auf das Würdeverständnis des Grundgesetzes nicht hinnehmbar: Wenn das Bundesverfassungsgericht davon ausgeht, dass die Würde des Menschen verletzt ist, wenn er zum Objekt staatlichen Handelns gemacht wird,424 kommt darin die zentrale Bedeutung des Selbstverständnisses des Einzelnen unmissverständlich zum Ausdruck: Der Mensch hat Subjekt zu bleiben und als solches muss er sein Leben nach seinen eigenen Präferenzen gestalten können. Die Würde des Menschen liegt somit, wie bereits dargelegt, insbesondere auch in seiner Autonomie. Die Selbstbestimmung findet ihre natürlichen Grenzen in den Regelungen für ein geordnetes Zusammenleben und in den Interessen Dritter und der Allgemeinheit. Eine darüberhinausgehende Freiheitseinschränkung zum eigenen Wohl führt jedoch zu einer Missachtung der Individualität und Eigenverantwortlichkeit des Betroffenen. Auch wenn es durch paternalistische Einschränkungen nicht zwangsläufig zu einer Instrumentalisierung des Einzelnen kommt und die Menschenwürde insoweit nicht verletzt sein muss,425 stünde die Anerkennung des aufgedrängten Schutzes als legitimer Zweck einer Freiheitsbeschränkung doch in Widerspruch zu dem grundlegenden Konzept, das in der Menschenwürde zum Ausdruck kommt. 423

Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 241. Vgl. nur etwa BVerfG 16.7.1969 – 1 BvL 19/63 – BVerfGE 27, 1 (6); BVerfG 9 6. 1970 – 1 BvL 24/69 – BVerfGE 28, 386 (391); BVerfG 21.6.1977 – 1 BvL 14/76 – BVerfGE 45, 187 (228) [„Lebenslange Freiheitsstrafe“]. 425 Siehe dazu bereits unter B. I. 1. 424

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1. Teil: Grundlegung

b) „Rechtspflichten gegen sich selbst“ Dementsprechend kann die Bewahrung vor autonomer Selbstschädigung auch unter keinem anderen Gesichtspunkt legitimer Zweck einer Freiheitsbeeinträchtigung sein. Dies gilt auch dann, wenn der Schutz gegen den eigenen Willen mögliche „Rechtspflichten gegen sich selbst“426 verletzt. Derartige „Rechtspflichten gegen sich selbst“ werden laut Köhler durch Handlungen „eindeutig negatorischer, nicht mehr reversibler oder zu kompensierender Aufgabe des geistig-leiblichen Selbstbesitzes in seinem substantiellen Potential“ verletzt.427 Ein solches Unrecht wird begründet, soweit die „Bedingungen der Handlungsfreiheit“ grundlegend betroffen sind428 – etwa bei Selbstversklavung, Selbsttötung oder Selbstverstümmelung.429 Der Idee der „Rechtspflichten gegen sich selbst“ ist jedoch breite Kritik entgegengeschlagen.430 So sei das Konstrukt moralistisch und würde rechtliche Freiheit zur „Freiheit der Pflichterfüllung“ machen.431 „Selbstverpflichtende Rechte“ gebe es nur auf ethischer und nicht auf rechtlicher Ebene, wo Recht und Pflicht nicht in derselben Person liegen und Rechte, insbesondere Grundrechte, nur andere verpflichten könnten.432 Ein solcher Ansatz verkenne zudem, dass selbstgefährdendes Verhalten ja gerade verfassungsrechtlich geschützt sei,433 weshalb eine Rechtspflicht gegenüber sich selbst dazu führen würde, dass die Freiheit der Person postuliert werde, „um sie ihr im gleichen Atemzug wieder zu nehmen“.434 Diese bereits aufgezeigte, der paternalistischen Idee zugrundeliegende Widersprüchlichkeit ist es auch, die die „Rechtspflichten gegen sich selbst“ ebenso wie „Grundpflichten“435 verfassungsrechtlich unhaltbar macht. Auch nach Kant können Rechtspflichten gegen sich selbst nicht bestehen: Wie bereits dargelegt, würde eine derartige Konstruktion nicht mit seinem Grundkonzept übereinstimmen, nach welchem Pflichten gegen sich selbst als Tugend- und nicht als Rechtspflichten ausgestaltet sind und dement­ sprechend nicht mit Mitteln des Zwangs oder Rechts durchgesetzt werden können.436 426

Köhler, JRE 2006, 425. Köhler, JRE 2006, 425 (439). 428 Köhler, JRE 2006, 425 (439). 429 Köhler, JRE 2006, 425 (440). 430 Ellscheid, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 182 (196); Fateh-Moghadam, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 21 (29–31); Schroth, JRE 2007, 395 (403, 407); Vossenkuhl, in: von Hirsch / ​Neumann / ​Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 275 (284). 431 Fateh-Moghadam, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 21 (29). 432 Bublitz, in: Beck (Hrsg.), Gehört mein Körper noch mir?, 2012, S. 369 (389, 391). 433 Fateh-Moghadam, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 21 (30). 434 Schroth, JRE 2007, 395 (407). 435 Dazu bereits unter B. II. 1. 436 Siehe dazu bereits unter A. I.2.; Ellscheid, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 182 (196 f.); Fateh-Moghadam, in: Fateh-­Moghadam / ​ Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 21 (30). 427

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

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Im Ergebnis geht auch Köhler davon aus, dass die Verletzung von Rechtspflichten gegen sich selbst allein ein „Selbstzwangsrecht“, nicht jedoch eine Zwangsbefugnis anderer Personen (und damit auch des Staates) begründe.437 Die Verletzung einer Rechtspflicht gegen sich selbst bleibe „Unrecht bloß im Selbstverhältnis“.438 Sofern die der Pflichtverletzung zugrundeliegende Entscheidung daher in „ungetrübter Urteilskraft“ getroffen werde, gebe sie niemand anderem die Befugnis zur „zwangsrechtlichen Intervention“.439 Dementsprechend kann die Verletzung einer „Rechtspflicht gegen sich selbst“ auch keinen staatlichen Grundrechtseingriff rechtfertigen. c) Kollision eigener Grundrechte Auch eine Rechtfertigung paternalistischer Eingriffe durch die Verletzung eigener, kollidierender Grundrechte  – insoweit der Einzelne durch sein selbstschädigendes Verhalten etwa seine grundrechtlichen Schutzgüter wie Leben oder körperliche Unversehrtheit berührt440 – ist aus systematischen Gründen strikt abzulehnen: So ist bereits ein der Verletzung eigener Grundrechte vorgelagerter Eingriff mangels Zurechenbarkeit zu staatlichem Handeln nicht denkbar. Insbesondere ist das Konstrukt der Rechtfertigung qua Grundrechtskollision jedoch grundlegend auf den Ausgleich sich gegenüberstehender Interessen verschiedener Grundrechtsträger angelegt441 – eine Konstellation, die im Rahmen des klassischen paternalistischen Eingriffs wie ausgeführt nicht vorliegt.442 Soweit das Bundesverwaltungsgericht und das Bundesverfassungsgericht in ihren Entscheidungen entsprechende Kollisionen zugrunde gelegt haben,443 ist in der Literatur mit Recht darauf hingewiesen worden, dass eine solche Betrachtung Rechte mit Interessen verwechsele: So könnten eigene Rechte gegenüber dem Staat nicht miteinander kollidieren, sondern nur die Wahrnehmung verschiedener Interessen.444 Dieser Konflikt würde 437

Köhler, JRE 2006, 425 (441). Köhler, JRE 2006, 25 (442). 439 Köhler, JRE 2006, 425 (442). 440 Ähnliches legt van Spyk aus Schweizer Perspektive nahe, wenn er eine Abwägungslösung anstrebt und davon ausgeht, dass das Selbstbestimmungsrecht zugunsten des Integritätsschutzes durch den Gesetzgeber einschränkbar ist, ders., Das Recht auf Selbstbestimmung in der Humanforschung, 2011, S. 92. 441 Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 241; Scholz, in: Maunz / ​Dürig (Hrsg.), GG, 81.  Lfg. 2017, Art. 9 Rn. 148. Bublitz spricht von einem funktionalen Verständnis der Grundrechte in Form der „wechselseitigen Abgrenzung von Freiheitssphären“, ders., in: Beck (Hrsg.), Gehört mein Körper noch mir?, 2012, S. 369 (391). Ein solches Verständnis stimmt auch mit Kants Rechtsverständnis überein als „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“, ders., Die Metaphysik der Sitten, 1797/1977, B 33 (S. 337). 442 Siehe dazu soeben unter B. III. 1. a). 443 Vgl. etwa BVerwG 27.4.1989 – 3 C 4/86 – BVerwGE 82, 45 (48–51); BVerfG 23.3.2011 – 2 BvR 882/09 – BVerfGE 128, 282 (304). 444 Bublitz, in: Beck (Hrsg.), Gehört mein Körper noch mir?, 2012, S. 369 (394). 438

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1. Teil: Grundlegung

durch die Entscheidung als „die originäre Freiheit des Grundrechtsträgers“ selbst gelöst.445 Eine reziproke Beschränkung der Grundrechte desselben Inhabers sei nur denkbar, soweit man Grundrechte in „Gütererhaltungspflichten“ umdeute.446 Eine Rechtfertigung paternalistischer Eingriffe im Rahmen einer solchen Missachtung der Grundrechtsdogmatik ist jedoch wie bereits dargelegt447 abzulehnen. d) Aspekte der Freiheitserweiterung, Freiheitsermöglichung und Freiheitssicherung Da dementsprechend auch eine Rechtfertigung durch das kollidierende Grundrechtsgut der eigenen Freiheit nicht möglich ist, kommt eine Legitimierung paternalistischer Eingriffe unter dem bereits aus moralphilosophischer Perspektive beleuchteten Gedanken der Freiheitserweiterung448 ebenfalls nicht in Betracht. Auch Möller hält Eingriffe unter diesem Gesichtspunkt für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar, da dieses die subjektive Freiheit des Einzelnen schütze und nicht die objektive Freiheit, die gegen den Willen des Betroffenen maximiert werden könne.449 Dasselbe gilt für paternalistische Eingriffe, welche die Autonomie des Betroffenen ermöglichen und sichern sollen. So umfasst etwa der von Enderlein so genannte „rationalitätsbefördernde“ Paternalismus wie bereits dargestellt450 zwei Aspekte: die Beseitigung von Hindernissen für eine rationale Entscheidung sowie das Verhindern der Entstehung von Entscheidungsinkompetenz.451 Eingriffe, die solche „rationalitätsbefördernde Zwecke“ verfolgen, stellen laut Enderlein keine Verletzung der Selbstbestimmung dar und können einer Rechtfertigung zugänglich sein,452 wenn das „Gewicht der Angelegenheit, um deren rationale Entscheidung es geht“ gegenüber dem „Gewicht der Nachteile und beeinträchtigten Freiheiten, die mit dem Eingriff einhergehen“ überwiegt.453 Derart relativistische Ansätze können sich in das der vorliegenden Arbeit zugrundeliegende Konzept indes nicht einfügen. Vielmehr ist zu unterscheiden: Soweit ein Eingriff der Herbeiführung einer autonomen Entscheidung dient, die zuvor nicht

445

Bublitz, in: Beck (Hrsg.), Gehört mein Körper noch mir?, 2012, S. 369 (394). Bublitz, in: Beck (Hrsg.), Gehört mein Körper noch mir?, 2012, S. 369 (395). 447 Siehe soeben unter B. II. 1.; B. III. 1. b). 448 Siehe dazu unter A. III. 3. 449 Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 124 f. Auch Enderlein hält grundrechtliche Einschränkungen unter diesem Aspekt weiterhin für rechtfertigungsbedürftig, ders., Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 148 f. 450 Siehe dazu bereits im ersten Kapitel unter A. V. 8. 451 Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 68, 551 f. 452 Auch Steckmann geht davon aus, dass Paternalismus gerechtfertigt sein kann, soweit das durch die paternalistische Handlung verfolgte Wohlergehen „die Wiederherstellung, die Bewahrung oder die Ermöglichung der Autonomie“ beinhaltet, ders., JWE 2002, 93 (93 f.). 453 Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 69. 446

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

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vorlag – so etwa der Eingriff in Mills Brückenbeispiel454 – handelt es sich um eine schwach paternalistische Maßnahme. Eine entsprechende Freiheitsbeschränkung sieht sich dann nicht mit den Rechtfertigungsproblemen des starken Paternalismus konfrontiert.455 Eine zusätzliche Informierung des Betroffenen oder eine ähnliche „Zugabe“ ändert an der Beurteilung des Eingriffs nichts, der sich nach dem vorzugswürdigen Schwellenkonzept von Autonomie456 entweder als schwach paternalistisch rechtfertigen lässt oder nicht und insoweit keine relativierbaren Zwischenstufen anerkennt, auf denen „mehr“ oder „weniger“ autonom und dementsprechend schutzwürdig gehandelt werden kann. Mangels Freiheitsverkürzung kommt es durch eine reine Information allein ohnehin nicht zu einem rechtfertigungsbedürftigen Eingriff. Oberhalb der Eingriffs- und Autonomieschwelle vermögen Aspekte der Freiheitserweiterung, Freiheitsermöglichung und Freiheitssicherung für sich genommen jedoch keine verfassungsrechtliche Rechtfertigung paternalistischer Eingriffe zu leisten. e) Irreversibilität und Widersprüchlichkeit Klimpel geht von einer Zulässigkeit paternalistischer Eingriffe in Fällen der „Selbstnegation der Autonomie“ aus und meint damit Konstellationen, in denen „die Grundvoraussetzungen zukünftigen Freiheitsgebrauchs schwer und irreversibel beschädigt werden“.457 In einer gewissen Parallele zu Mills Selbstversklavungsbeispiel458 versteht er die „Sicherung und Verteidigung der Autonomie“ aus Gründen der Widersprüchlichkeit459 als Aufgabe des Rechts und hält konsequenterweise etwa Eingriffe in Selbsttötungen für gerechtfertigt.460 Dieser „autonomieorientierte Paternalismus“ müsse sich nicht dem üblichen, antipaternalistischen Vorwurf aussetzen, da er „sich nicht gegen die Ausübung, sondern nur gegen die Aufhebung der Autonomie“ richte.461 Trotz ihrer autonomieschützenden Orientierung erfolgen diese Eingriffe in die Handlungsfreiheit jedoch gegen den autonom gebildeten Willen des Betroffenen 454

Siehe dazu unter A. III. 1. Siehe zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung von schwachem Paternalismus sogleich unter B. IV. 456 Siehe dazu bereits im ersten Kapitel unter A. I. 2. a) aa) (3). 457 Klimpel, Bevormundung oder Freiheitsschutz?, 2003, S. 39. Ähnlich auch Köhler, der davon ausgeht, dass der Betroffene bei eindeutig negatorischer, irreversibler Aufgabe des geistig-leiblichen Selbstbesitzes eine Rechtspflicht gegen sich selbst verletzt, ders. JRE 2006, 425 (439). Im Ergebnis spricht er Dritten bei einem autonom verursachten Unrecht allein im Selbstverhältnis jedoch keine Eingriffsbefugnis zu, a. a. O., S. 442. Für eine paternalistische Intervention auf Grundlage der Menschenwürde bei intensiver Beschränkung der eigenen Selbstbestimmung hingegen Schmolke, Grenzen der Selbstbindung im Privatrecht, 2014, S. 60. 458 Siehe dazu unter A. III. 1. 459 Siehe dazu bereits aus moralphilosophischer Perspektive unter A. VII. 6. 460 Klimpel, Bevormundung oder Freiheitsschutz?, 2003, S. 72. 461 Klimpel, Bevormundung oder Freiheitsschutz?, 2003, S. 142. 455

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1. Teil: Grundlegung

und richten sich insoweit sehr wohl direkt gegen die Ausübung von Autonomie. Auch diesbezüglich sei auf bereits Geäußertes verwiesen: Soweit die Autonomie wie vorliegend als zentral bedeutsam und absolut schutzwürdig erachtet wird, erscheint nicht einsichtig, weshalb einzelne autonome Entscheidungen  – etwa in Folge ihrer Widersprüchlichkeit oder Irreversibilität – von diesem Schutz ausgenommen sein sollten.462 Sobald die Autonomie im Sinne der Bewahrung von Autonomie beeinträchtigt wird, gerät sie zum Selbstzweck und erfährt in ihrer aktuellen Verkörperung nicht den ihr gebührenden Respekt. Vielmehr führt eine irreversibilitätsorientierte Betrachtung zu einer externen Beurteilung des Wertes der einen (gegenwärtigen) Freiheit im Angesicht einer anderen (zukünftigen) Freiheit, was nicht Aufgabe einer liberalen Rechtsordnung ist, in deren Zentrum der gegenwärtig selbstverantwortliche handelnde, freie Mensch steht. Mangels Konsistenz463 und mangels absoluten Respekts vor der Autonomie des Einzelnen ist eine Rechtfertigung „autonomieorientiert“-paternalistischer Eingriffe in widersprüchliche oder irreversible Entscheidungen abzulehnen. Der Individualschutz des Einzelnen gegen seinen Willen kann somit als solcher unter keinem Gesichtspunkt legitimer Zweck einer Freiheitsbeschränkung sein. 2. Schutz gegen den eigenen Willen als Gemeinwohlbelang? Im Gegensatz zum Individualschutz gegen den eigenen Willen können der Schutz von Gemeinwohlbelangen und der Schutz der Allgemeinheit legitime Zwecke grundrechtlicher Freiheitsbeschränkungen darstellen. In der Folge stellt sich daher die Frage, ob der Schutz des Einzelnen gegen seinen Willen einen Gemeinwohlbelang konstituieren und sich eine Rechtfertigung paternalistischer Eingriffe unter diesem Aspekt ergeben kann. Dies legt – ohne weitere Begründung – jedenfalls der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zu den paternalistischen Regelungen im Transplantationsgesetz464 nahe: Darin erkannte das Bundesver 462

Siehe bereits unter A. VII. 6. Inkonsistenzen zeigen sich bei Klimpel zudem soweit er davon ausgeht, dass Einschränkungen der Dispositionsbefugnis über den eigenen Körper zulässig seien, weil schwere körperliche Schädigungen mit einer Beeinträchtigung der Autonomie und der individuellen Lebensentfaltung einhergingen, ders., Bevormundung oder Freiheitsschutz?, 2003, S. 142. Ein solcher Zusammenhang besteht jedoch nicht zwangsläufig – vielmehr kann es gerade durch paternalistische Eingriffe zu einer solchen Beeinträchtigung der Autonomie und individuellen Lebensentfaltung kommen. Auch Klimpels Darlegungen zur Zulässigkeit indirekter Sterbehilfe offenbaren Inkonsistenzen, soweit er sie darauf gründet, dass Schmerz eine Autonomieverletzung darstellen könne und entsprechende Verlangen nach Schmerzlinderung darum „eine autonome Entscheidung zur Bewahrung der Autonomie in der letzten Lebensphase“ und nicht autonomiezerstörend seien (a. a. O., S. 97). In letzter Konsequenz zerstört auch die indirekte Sterbehilfe mit dem Tod die Autonomie der Betroffenen – folgerichtig dürfte diese nach Klimpels autonomieorientiertem Ansatz somit entweder nicht zulässig sein oder das Argument müsste auch auf die anderen Formen der Sterbehilfe übertragbar sein. 464 Ausführlich dazu im dritten Kapitel dieser Arbeit. 463

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

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fassungsgericht den grundrechtlichen Schutz selbstgefährdenden Verhaltens und die dementsprechende Rechtfertigungsbedürftigkeit bevormundender staatlicher Maßnahmen zwar an, ging in der Folge aber davon aus, „dass es ein legitimes Gemeinwohlanliegen ist, Menschen davor zu bewahren, sich selbst einen größeren persönlichen Schaden zuzufügen […]“.465 Unabhängig davon, dass auch-paternalistische Regelungen, die neben dem Schutz des Betroffenen gegen seinen Willen andere zulässige, gemeinwohlorientierte Zwecke verfolgen, jedenfalls aus diesen außer-paternalistischen Gründen verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein können, ist der reine Schutz des Einzelnen gegen seinen Willen – wie im Folgenden ausgeführt wird – im Ergebnis jedoch nicht als Gemeinwohlbelang zu verstehen, der legitimer Zweck einer grundrechtlichen Freiheitsbeschränkung sein könnte. a) Gemeinschaftsbezug jeder Handlung Ein solcher Zusammenhang ließe sich jedoch konstruieren, wenn angezweifelt wird, dass es überhaupt eine rein „selbstbezügliche Verhaltenssphäre“ gibt oder wenn angenommen wird, dass der Mensch als Teil der Gesellschaft und Gemeinschaft mit seinen Handlungen immer auch Einfluss auf seine Umgebung nimmt.466 Bestünde insoweit ein Gemeinschaftsbezug jedes menschlichen Verhaltens, könnte die Einschränkung selbstschädigenden Verhaltens durch damit einhergehende, negative gesellschaftliche Auswirkungen gerechtfertigt werden. Dem paternalistischen Schutz des Betroffenen käme dann ein dritt- bzw. gesellschaftsschützender Charakter zu.467 Wie bereits dargelegt, wird die Grenze zwischen selbst- und gesellschaftsschädigendem Verhalten auch in der Moralphilosophie mitunter als fließend verstanden;468 mit der Folge, dass von einer Selbstschädigung Einzelner immer auch Dritte direkt oder indirekt betroffen sein könnten – so zum Beispiel nahestehende oder hilfeleistende Personen oder die Gesellschaft als solche, soweit sie für ihre Funktionstüchtigkeit auf ihre Mitglieder angewiesen ist. Auch Kant begründet sein Verbot der Selbsttötung damit, dass jeder Mensch Pflichten habe und niemand sich seinen Verbindlichkeiten entziehen könne.469 465

BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399 (3401) (Herv. d. Verf.). Eingeschränkt auf leichtfertige Selbstschädigung: „Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist es grundsätzlich ein legitimes Gemeinwohlanliegen, Menschen davor zu bewahren, sich selbst leichtfertig einen größeren persönlichen Schaden zuzufügen.“, BVerfG 21.12.2011 – 1 BvR 2007/10 – NJW 2012, 1062 (1063). 466 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (251). Diese Frage stellt sich auch Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 158. 467 Siehe zu der Frage nach einer gesellschaftsschützenden Zweckorientierung von Paternalismus bereits im ersten Kapitel unter B. VI. 468 Siehe dazu bereits unter A. V. 469 Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797/1977, A 73 f. (S. 555).

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1. Teil: Grundlegung

Gleichermaßen wurde in rechtlichem Kontext angenommen, dass paternalistische Regelungen auch der Erhaltung eines „bestimmte[n] sozialen Umfeld[s] und Klima[s]“ dienten470 und die Beeinträchtigung der Interessen Einzelner immer „Rückwirkungen auf die Interessen der anderen Bevölkerungsgruppen“ hätten.471 Entsprechendes ließe sich auch aus der Menschenbildformel des Bundesverfassungsgerichts ableiten, soweit diese die „Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person“472 hervorhebt. Demgegenüber geht jedoch Murmann davon aus, dass „die Sozialbindung nicht als äußere Schranke der Selbstbestimmung, sondern als deren immanente Grenze“ zu verstehen sei.473 Da das Grundgesetz voraussetze, dass der Staat dem Bürger zu dienen habe, könne der Gemeinschaftsbezug des Menschen nicht als Anforderung des Staates an denselben verstanden werden.474 Vielmehr sei die Autonomie ein „tragende[s] Konstitutionsprinzip der Verfassung“, weshalb die Sozialbindung eine Bevormundung des Einzelnen nicht rechtfertigen könne.475 Grundsätzlich besteht, wie bereits aus moralphilosophischer Perspektive ausgeführt,476 weder ein zwangsläufiger Zusammenhang zwischen Selbst- und Gesellschaftsschädigung, noch kann eine grundgesetzliche Gemeinschaftsbindung zu einer Selbsterhaltungspflicht des Einzelnen477 führen. Er bleibt vielmehr Selbstzweck und existiert nicht im Dienste der Gesellschaft. Dass dies auch die Mütter und Väter des Grundgesetzes so sahen, belegt bereits die soeben zitierte Entwurfsfassung von Art. 1 GG: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.“478

Einschränkungen selbstschädigenden Verhaltens können daher allein dann gerechtfertigt werden, wenn dieses Rechte Dritter oder der Gesellschaft unmittelbar berührt. Ein generalisierender Ansatz, der jeder individuellen Freiheitsausübung 470 Kleinig, in: von Hirsch / ​Neumann / ​Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 145 (150). 471 Bleckmann, RdA 1988, 332 (334). Siehe zu einer Betroffenheit Dritter durch die Wahrnehmung und Begegnung mit selbstschädigendem Verhalten anderer, die zu einer Rechtfertigung der mit einem Verbot der Selbstschädigung einhergehenden Freiheitsbeschränkung führen könnte, ausführlich Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, 1997, S. 207 ff., 281; Schwabe, JZ 1998, 66 (71). 472 BVerfG 20.7.1954 – 1 BvR 459/52 u. a. – BVerfGE 4, 7 (15 f.). 473 Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 221. Zum Interesse der Allgemeinheit an der Aufrechterhaltung grundrechtlich geschützter Freiheiten als „immanente Gemeinwohlschranke“ individueller Rechte s. a. Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 174. 474 Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 222. 475 Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 224 f. 476 Siehe dazu bereits unter A. V. 477 Gegen eine Rechtspflicht zur physischen Erhaltung zugunsten der Gemeinschaft in Zusammenhang mit dem Strafgrund des § 216 StGB auch Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997, S. 114. 478 Herrenchiemsee-Entwurf zu Art. 1 GG, JöR N. F. Band 1 (1951), S. 48.

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

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einen Gemeinschaftsbezug zuschreibt, wird zu Recht wegen der mit ihm einhergehenden Verkennung der individualschützenden Ausrichtung und der Verobjektivierung des subjektiven Charakters der Grundrechte abgelehnt.479 b) Gesellschaftliche Auswirkungen massenhafter Selbstschädigungen und Aspekte der „Volksgesundheit“ Ein selbstschädigendem Verhalten innewohnender Gemeinschaftsbezug ließe sich jedoch auch konstruieren, wenn man davon ausgeht, dass sich Individualrechtsgüter nicht bei jeder einzelnen, wohl aber bei massenhafter Betroffenheit zu einem Schutzgut der Gemeinschaft ausweiten. Ein solcher Ansatz liegt dem Rechtsgut der „Volksgesundheit“ zugrunde, unter der das „Interesse des Staates an der Gesundheit seiner Bürger“480 bzw. an der „allgemeinen Gesundheit“481 verstanden wird.482 Während es sich bei der Gesundheit als solcher zweifelsohne um ein Individualrechtsgut handelt, wird sie in Form der Volksgesundheit durch Erstreckung auf Viele gleichsam zum Kollektivrechtsgut483 gemacht. Dementsprechend könnte auch ein paternalistischer Ansatz bei einer gewissen Ausbreitung von Selbstschädigungen als allgemeinheitsschützender, legitimer Zweck einer Freiheitsbeschränkung verstanden werden. Sogar ohne Bezug auf ein gehäuftes Auftreten ist das preußische Oberverwaltungsgericht im Jahr 1939 davon ausgegangen, dass der Einzelne „als Glied der Volksgemeinschaft“ durch schwere Gefährdungen des eigenen Lebens auch Belange der Volksgemeinschaft schädige.484 Zwar ist eine solche Gleichsetzung des Wohls des Einzelnen mit dem Wohl der „Volksgemeinschaft“ im Lichte des

479 Esser, Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 94 f.; Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 174. Unabhängig davon kann selbstschädigendes Verhalten im Einzelfall natürlich tatsächlich Außenstehende direkt betreffen, mit der Folge, dass eine entsprechende Freiheitseinschränkung zum Schutz Dritter gerechtfertigt werden kann. Eine abstrakte Zulässigkeit von Paternalismus kann dies jedoch nicht begründen. In welchen konkreten Fällen von einer regelmäßigen, direkten Betroffenheit Dritter auszugehen ist, hat der Gesetzgeber im Rahmen seines Beurteilungsspielraums bezüglich einer diesbezüglichen Gefahrenprognose zu entscheiden, vgl. dazu Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 163 f. Siehe auch Hoven konkret zum Rechtsgut Leben: „Ein Verständnis von Leben als Rechtsgut der Allgemeinheit reduziert den Bürger auf eine staatliche Ressource und steht in offenkundigem Widerspruch zu den Grundsätzen unseres freiheitlich-individualistischen Wertesystems.“, dies., ZIS 2016, 1 (3). 480 MüKo / ​Rahlf, StGB, 2. Aufl. 2013, Vor §§ 29 ff. BtMG Rn. 5. 481 Maurach / ​Schroeder / ​Maiwald, Strafrecht BT, Teilband 2, 10. Aufl. 2013, § 56 Rn. 3, zum Terminus a. a. O., § 56 Rn. 2 f. 482 Siehe dazu bereits im ersten Kapitel unter B. I. 1. c). 483 Hillgruber spricht von einem „kollektiven Gesamtrechtsgut“, ders., Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 163. 484 Preußisches OVG 26.1.1939 – IV C 62/38 – Preuß. OVGE 103, 159.

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1. Teil: Grundlegung

nationalsozialistisch-ideologischen Hintergrunds des Urteils zu sehen.485 Auch außerhalb dieses Zusammenhangs wird jedoch vertreten, dass Individualrechtsgüter auch Gemeinschaftsgüter486 seien oder es jedenfalls durch Ausweitung und „Pluralisierung“ auf mehrere Bürger werden könnten.487 Demnach wären Verbote von Selbstschädigungen, die in einer gewissen Häufung auftreten, zum Schutz der Volksgesundheit als öffentlichem Interesse zulässig.488 Dagegen wird jedoch mit Recht vorgebracht, dass sich an der Natur von Selbstgefährdungen durch ein vielfaches Auftreten derselben nichts ändere;489 allein durch ihre Zusammenfassung werde die Gesundheit Einzelner nicht zu einem Kollektivrechtsgut, über das nicht mehr verfügt werden könne:490 „Der Einzelne ist nicht Bestandteil eines „Volkskörpers“, für dessen Gesundheitszustand er verantwortlich wäre.“491

Durch den Begriff der Volksgesundheit drohe sonst die Einwirkung objektivistischer Ansätze auf individuelle Freiheiten.492 Auch gesellschaftliche Auswirkungen, die massenhafte Selbstgefährdungen mit sich bringen, könnten eine Beeinträchtigung der Selbstgefährdungsfreiheit nicht rechtfertigen.493 Im Ergebnis ist den Kritikern494 des Rechtsguts „Volksgesundheit“ zuzustimmen: Soweit dem Gesetzgeber bei der Beurteilung der Gefahr eines massenhaften Auftretens von Selbstgefährdungen ein weiter Beurteilungsspielraum zukommt, könnte beinahe jede gesundheitliche Selbstgefährdung als potentielles Massenphänomen unter dem Stichwort der Volksgesundheit untersagt werden. Paternalistischen Regelungen würde durch ein entsprechendes Begriffsverständnis weitgehend unbegrenzt Tür und Tor geöffnet, während von der eigentlich individualschützenden Tendenz derartiger Eingriffe abgelenkt würde. Wenn unter dem Aspekt der Volkgesundheit beinahe jede Selbstschädigung zur Kollektivgefährdung gemacht werden könnte, 485 So heißt es in dem Urteil ausdrücklich weiter: „Nach nationalsozialistischer Anschauung hat der einzelne nicht die natürliche Freiheit, nach eigenem Ermessen ungebunden über sein Leben und seine Gesundheit zu befinden. Denn es handelt sich hierbei um Werte, die nicht nur dem einzelnen gehören, sondern bei denen er zugleich stets als Mitglied der Volksgemeinschaft betrachtet werden muss.“, Preußisches OVG 26.1.1939 – IV C 62/38 – Preuß. OVGE 103, 159 (160). Siehe dazu auch Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 11. 486 Ablehnend hinsichtlich des Rechtsguts Leben Hoven, ZIS 2016, 1 (3). 487 Schneider, Die Güterabwägung des Bundesverfassungsgerichts, 1979, S. 134; mit Einschränkungen zustimmend Littwin, der grundrechtliche Schutzgüter für „für den Bestand der freiheitlich-demokratischen Grundordnung konstituierend“ und „individuell geschützte Gemeinschaftswerte“ hält, ders., Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 149. 488 Doehring, in: FS Zeidler, Band 2, 1987, S. 1553 (1555); Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 200; Martens, DöV 1976, 457 (460). 489 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 163. 490 Bublitz, in: Beck (Hrsg.), Gehört mein Körper noch mir?, 2012, S. 369 (386). 491 Huster, Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und Gesundheit, 2015, S. 21. 492 Köhler, ZStW 104 (1992), 3 (28). 493 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 163. 494 Böllinger, KritJ 1991, 393 (405 f.); Hassemer, NStZ 89, 553 (557); Roxin, Strafrecht AT, Band 1, 4. Aufl. 2006, § 2 Rn. 46.

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träfe den Einzelnen in der Folge eine Pflicht gegenüber der Gemeinschaft, sich gesund zu erhalten, die es unter dem Grundgesetz jedoch nicht geben kann. Sollten tatsächlich massenhafte Selbstgefährdungen eklatanten Ausmaßes drohen,495 könnten Freiheitsbeschränkungen, die diesen entgegenwirken, durch das Gemeinschaftsinteresse an der Funktionsfähigkeit von Staat und Gesellschaft gerechtfertigt werden. Soweit diese jedoch nicht ernstlich gefährdet ist, ist ein Rückgriff auf die aus der Zeit gefallene Volksgesundheit, welche die Gesundheit auf unzulässige Weise weg von einem Interesse des Einzelnen hin zu einem Interesse der Gemeinschaft verlagert, abzulehnen. c) Belastung der Sozialversicherung und Berührung des Sozialstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 S. 1 GG) Auch wenn selbstschädigendes Verhalten einen Zustand herbeiführen kann, der etwa Ansprüche auf Kranken-, Pflege- oder Rentenversicherungsleistungen begründet, können Belastungen der Sozialversicherung und die Berührung des Sozialstaatsprinzips aus Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 S. 1 GG den paternalistischen Schutz gegen den eigenen Willen ebenfalls nicht zu einem am Gemeinwohl orientierten, legitimen Zwecke einer Grundrechtsbeeinträchtigung machen. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang zunächst, dass in einigen Bereichen des Sozialversicherungsrechts das Finalprinzip gilt, nach welchem ein Leistungsanspruch allein bei entsprechendem Bedarf, unabhängig von dessen Ursache entsteht.496 Demnach werden grundsätzlich auch die Folgekosten selbst verursachter Verletzungen von den Sozialversicherungssystemen getragen. Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht die mit den sozialversicherungsrechtlichen Ansprüchen verbundenen Folgekosten für die Allgemeinheit, die aus dem erhöhten Verletzungsrisikos erwachsen, das etwa Kraftradfahrer auf sich nehmen, die keinen Schutzhelm tragen, als Argument für die Zumutbarkeit einer Schutzhelmpflicht angeführt.497 Die Rechtfertigung einer Beschränkung selbstgefährdenden Verhaltens mit den damit einhergehenden Belastungen der Sozialsysteme wird in der Literatur hingegen überwiegend abgelehnt.498 Dies würde in der Konsequenz zu einer 495 Daran in Bezug auf die Disposition des Rechtsguts Leben zweifelnd Hoven, die davon ausgeht, dass die Existenz der Gemeinschaft wegen des menschlichen Selbsterhaltungstriebs keine reale, sondern allein eine theoretische Bedrohung erfahre, dies., ZIS 2016, 1 (3). 496 Siehe nur etwa Waltermann, Sozialrecht, 12. Aufl. 2016, § 5 Rn. 80. 497 BVerfG 26.1.1982 – 1 BvR 1295/80 u. a. – BVerfGE 59, 275 (279). Vgl. dazu bereits im ersten Kapitel unter B. II. 1. 498 Befürwortend jedoch Heinig, der davon ausgeht, dass die „Rücksicht auf solidarisch finanzierte Gesundheitssysteme“ einen „legitimen, Freiheitsrechte auch einschränkenden Gemeinwohlbelang“ darstellen können, ders., in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 157 (176).

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1. Teil: Grundlegung

„Rechtspflicht zu ‚vernünftigem‘ Verhalten“ führen.499 Insbesondere diene das Sozialstaatsprinzip zudem nicht der Beschränkung grundrechtlicher Freiheiten: Eine Einschränkung der Freiheit der Lebensführung und der Selbstgefährdung entspreche nicht seiner Aufgabe und Funktion, die au contraire im Schutz und der Unterstützung der Betroffenen liege.500 Ferner widerspreche es dem Grundrechtsteil des Grundgesetzes, das Sozialstaatsprinzip als Legitimationsgrundlage für das Aufdrängen ungewollten Schutzes zu verstehen.501 Auch das Bundesverfassungsgericht selbst äußerte in anderem Zusammenhang, dass dem Sozialstaatsprinzip zwar „Bedeutung für die Auslegung von Grundrechten sowie für die Auslegung und verfassungsrechtliche Beurteilung von – nach Maßgabe eines Gesetzesvorbehalts – grundrechtseinschränkenden Gesetzen zukommen“502 könne. Es sei „jedoch nicht geeignet, Grundrechte ohne nähere Konkretisierung durch den Gesetzgeber, also unmittelbar, zu beschränken“.503 Selbst soweit in der Literatur davon ausgegangen wird, dass die Allgemeinheit nicht „das Risiko und die Folgen unvernünftigen Handelns“504 tragen müsse, wird eine staatliche Beschränkung der Freiheit des Einzelnen trotz seiner finanziellen Beteiligung an der Versorgung der Allgemeinheit nur dann für zulässig gehalten, wenn die mit der Selbstgefährdung einhergehenden Lasten für die Allgemeinheit eine gewisse Erheblichkeitsschwelle überschreiten:505 Bis zu der Grenze, an der die Versorgung der Allgemeinheit nicht mehr gut bewältigt werden könne, dürfe der Einzelne frei über seine körperliche Integrität verfügen.506 Hillgruber lehnt die Rechtfertigung einer Einschränkung selbstgefährdenden Verhaltens durch damit einhergehende, soziale Lasten der Allgemeinheit und das Sozialstaatsprinzip als zirkelschlüssig ab: Wenn die Sozialversicherung auch bei Eigen- oder Mitverschulden leiste, sei dies entweder sozialstaatlich geboten – mit der Folge, dass „das Sozialstaatsgebot nicht gleichzeitig als verfassungsrecht­liche Rechtfertigung für ein freiheitseinschränkendes Verbot der Selbstgefährdung dienen“507 könne – oder die Finalität der Leistungsgewährung sei auf Grundlage des Sozialstaatsprinzips nicht zwingend vorgeschrieben – mit der Folge, dass sich dieses Prinzip allein aus einfachem Recht ergebe. Auch zugunsten eines einfach-gesetzlichen Prinzips ließe sich ein entsprechender Grundrechtseingriff jedoch nicht rechtfertigen.508 Hillgruber erkennt zwar an, dass im Sinne der Erhaltung der 499

Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 229. Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, 1997, S. 262; Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 192 f. 501 Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 132. 502 BVerfG 13.1.1982 – 1 BvR 848/77 u. a. – BVerfGE 59, 231 (262 f.). 503 BVerfG 13.1.1982 – 1 BvR 848/77 u. a. – BVerfGE 59, 231 (263). 504 Doehring, in: FS Zeidler, Band 2, 1987, S. 1553 (1557). 505 Doehring, in: FS Zeidler, Band 2, 1987, S. 1553 (1557 f.). 506 Doehring, in: FS Zeidler, Band 2, 1987, S. 1553 (1565). 507 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 101. 508 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 102. 500

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

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Leistungsfähigkeit des Systems ein berechtigtes Interesse daran bestehe, möglichst wenig Leistungsfälle zu generieren – die Rechtfertigung eines Eingriffs in grundrechtlich geschützte Abwehrrechte auf dieser Grundlage lehnt er jedoch ab:509 Da aus Gründen der Verhältnismäßigkeit eine solche Einschränkung der Selbst­ gefährdung wegen einer Belastung der Sozialsysteme nur für sozial Schwache gelten könne, welche die Folgelasten der Allgemeinheit nicht selbst mittragen, würde eine Freiheitsbeeinträchtigung unter diesem Aspekt zu einer Schlechterstellung sozial Schwacher und damit zu einer Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes führen.510 Finanzielle Unterstützungsleistungen und die damit einhergehende Freiheitsermöglichung auch für Bedürftige stellten somit vielmehr den Sinn des Sozialstaatsprinzips und den Preis der Freiheit dar, den der Sozialstaat zu zahlen habe.511 Auch Dietlein geht davon aus, dass mit der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen der Schutzhelmentscheidung der Sozialstaat zum „Bumerang“ für den Bürger werde: Dieser sei eigentlich zugunsten des Bürgers eingerichtet, schaffe aber bei einer Argumentation mit den Lasten des Systems eine Verhaltensverpflichtung „durch die Hintertüre“.512 Da die Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs auf Grundlage eines Prinzips, das die Bürger schützen und ihre Freiheiten absichern soll, der Idee des Sozialstaats zentral widerspricht, ist diesen Ansichten zuzustimmen. Soweit es überhaupt tatsächlich zu einer massiven Beeinträchtigung der Sozialversicherungssysteme durch selbstschädigendes Verhalten kommen sollte, läge die Stellschraube des Systems nicht in den Freiheitsrechten der Selbstschädiger, sondern in ihren Leistungsansprüchen: Dann käme bei einer erheblichen Belastung der Allgemeinheit statt einer Beeinträchtigung grundrechtlich geschützter Freiheitsrechte allein eine Kürzung der Sozialleistungen in Betracht  – freilich nur bis zur Grenze des verfassungsrechtlich garantierten Mindestschutzes.513 Und auch diese zwingend verbleibende, gesellschaftliche Pflicht, die auf dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip514 basiert und die vorschreibt, die sozialen Folgekosten auch 509

Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 101. Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 161. Schwabe hält den Gleichheitssatz in diesen Fällen nicht für verletzt. Dagegen spreche die geringe Vergleichbarkeit der beiden Konstellationen, soweit zum einen ein Risiko auf eigene Kosten und zum anderen ein Risiko auf Steuerzahlerkosten eingegangen werde und die eine tatsächliche Ungleichbehandlung zwischen denjenigen, die sich eine Selbstgefährdung leisten könnten und denjenigen, die das nicht könnten, faktisch meistens nicht umsetzbar sei, so dass es in der Regel, wie etwa bei der Helmpflicht, ohnehin beim generellen Verbot bliebe, ders., JZ 1998, 66 (73). 511 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 161 f., 177; ebenso Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, 1997, S. 262. 512 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 229. 513 Dies sieht auch Fischer als milderes Mittel zum Schutz der Allgemeinheit an, ders., Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, 1997, S. 261; ebenso Schwabe, JZ 1998, 66 (73). Siehe zu einer Schutzpflicht auch aus Dworkins und Feinbergs „argument from psychic costs“ bereits im ersten Kapitel unter B. II. 1. 514 Vgl. dazu BVerfG 9.2.2010 – 1 BvL 1/09 u. a. – BVerfGE 125, 175. 510

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1. Teil: Grundlegung

von selbstschädigendem Verhalten zumindest ab einer Gefährdung der Grundversorgung zu übernehmen, kann paternalistische Freiheitsverkürzungen nicht rechtfertigen: Denn der vom Sozialstaat ausgehende Schutz soll seinem Zweck nach gerade sicherstellen, „dass alle, insbesondere schwächere Menschen, so weit als möglich ein selbstbestimmtes Leben führen können“.515 Die Freiheiten, die durch den Schutz des Sozialstaats gewährt werden, können nicht auf seiner Basis wieder eingeschränkt werden. Die Rechtfertigung eines stark paternalistischen Eingriffs auf Grundlage einer Belastung der Sozialsysteme und einer Berührung des Sozialstaatsprinzips kommt deshalb nicht in Betracht.516 d) Gemeinwohlinteresse an der Wahrung der „Gattungswürde“ Auch die Idee einer mit Selbstschädigungen einhergehenden Verletzung der Gattungs- oder Menschheitswürde kann kein legitimes Gemeinwohlinteresse an der Beschränkung grundrechtlich garantierter Freiheiten der Selbstbeeinträchtigung begründen. Dies indes befürwortenden Ansätzen liegt der Gedanke zugrunde, dass sich der Schutzbereich von Art. 1 Abs. 1 GG auf die Würde der Gattung Mensch erstreckt,517 so dass der Einzelne auch gegenüber Dritten zum Schutz der eigenen Würde verpflichtet ist.518 Auch Kant ging davon aus, dass der Einzelne die Menschheit in der eigenen Person „als Zweck, niemals bloß als Mittel“519 behandeln dürfe. Da der Mensch sich etwa beim Suizid selbst als Mittel benutze, würdige er insoweit die gesamte Menschheit herab.520 Die korrespondierenden Pflichten gehö­ ren bei Kant jedoch, nach seinem wie bereits dargestellt liberalen Rechtsverständnis,521 zu den Tugend- und nicht zu den Rechtspflichten522  – und können somit nicht als Argument für die Beschränkung einer rechtlich gewährleisteten Freiheit dienen.523

515

Klimpel, Bevormundung oder Freiheitsschutz?, 2003, S. 177. Das Sozialstaatsprinzip vermag jedoch schwach paternalistische Eingriffe, soweit die Fähigkeit zur freien Selbstbestimmung der Betroffenen eingeschränkt ist, zu rechtfertigen, ­Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, 1997, S. 266; s. a. BVerfG 7.10.1981 – 2 BvR 1194/80 – BVerfGE 58, 208 (225), das im Rahmen der Rechtfertigung der zwangsweisen Unterbringung psychisch Kranker Bezug auf den Sozialstaats­ gedanken nimmt. 517 Grimm, NJW 1989, 1305 (1310). 518 Seelmann, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 206 (211). 519 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785/1911, AA 04: 429, 11–12. 520 Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797/1977, § 6 A 73 f. (S. 555). 521 Siehe dazu bereits unter A. I. und B. II. 3. b) bb). 522 So auch Gutmann, in: van den Daele (Hrsg.), Biopolitik, 2005, S. 235 (245 f.); dazu auch Dreier, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2013, Art. 1 I Rn. 15. 523 Ohne explizite Begründung so auch Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 260; i. E. gegen eine Heranziehung Kants zur Begründung einer Gattungswürde auch Dreier, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2013, Art. 1 I Rn. 115. 516

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

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Auch in der Literatur ist ein aus der Menschenwürde folgender „Gattungsschutz“ abgelehnt worden:524 Ein solcher lasse sich weder aus der Historie noch aus dem Wortlaut des Grundgesetzes ableiten,525 das ausdrücklich von der „Würde des Menschen“ und nicht „der Menschen“ oder „der Menschheit“526 spreche.527 Ferner spreche auch eine teleologische Betrachtung gegen eine Erstreckung des Schutzes auf eine Menschheits- oder Gattungswürde:528 Die Konstruktion eines derartigen „Kollektivguts“ könne sich nicht gegen den grundlegenden Achtungsanspruch des Einzelnen durchsetzen.529 Andernfalls würde der Einzelne in seiner Autonomie und Würde einem heteronom bestimmten Menschheitsbild unterworfen und die Würde gleichsam zur Pflicht.530 Die Menschenwürde drohe dann dem Schutz von Ideologien statt dem Schutz von Menschen zu dienen.531 Es müsse ausgeschlossen bleiben, eine „‚Würde der Menschheit‘ gegen die Würde des Menschen auszuspielen“.532 Der Menschenwürdeschutz dürfe nicht von einer Übereinstimmung der individuellen Interessen mit den Interessen der Mehrheit abhängig gemacht werden.533 Die „Selbstentwürdigung“ werde zudem von der Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG nicht erfasst.534 Auch dem vorliegend vertretenen, selbstbestimmungszentrierten Menschenwürdeverständnis535 widerspricht eine derartige Instrumentalisierung und Objektivierung der Menschenwürde zugunsten der „Gattung“ und zu Lasten der individuellen Menschenwürde. Den Einzelnen gerade im Rahmen der Menschenwürde zu einem Mittel zur Bewahrung der Gattungswürde zu machen, kann schon mit der Objektformel und ihrer Kant’schen Grundlegung536 nicht in Einklang gebracht werden.537 524 Dreier, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2013, Art. 1 I Rn. 115; skeptisch auch Herdegen, in: Maunz / ​Dürig (Hrsg.), GG, 81. Lfg. 2017, Art. 1 Abs. 1 Rn. 32 und Spranger, Recht und Bioethik, 2010, S. 96 f. 525 Seelmann, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 206 (213). 526 Herdegen, in: Maunz / ​Dürig (Hrsg.), GG, 81. Lfg. 2017, Art. 1 Abs. 1 Rn. 32. 527 Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, 2007, S. 330. Nach Müller-Terpitz kann dementsprechend auch der Schutz- und Achtungsauftrag in Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG nur den einzelnen Menschen im Blick haben, a. a. O., S. 330. 528 Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, 2007, S. 331. 529 Gutmann, in: van den Daele (Hrsg.), Biopolitik, 2005, S. 235 (243). 530 Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, 2007, S. 331 f. 531 Gutmann, in: van den Daele (Hrsg.), Biopolitik, 2005, S. 235 (243) m. w. N. 532 Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 261. 533 Spranger, Recht und Bioethik, 2010, S. 97. 534 Herdegen, in: Maunz / ​Dürig (Hrsg.), GG, 81. Lfg. 2017, Art. 1 Abs. 1 Rn. 32. 535 Siehe dazu bereits unter B. II. 3. b) aa) (2). 536 Siehe auch dazu unter B. II. 3. b) aa) (2). 537 Abzulehnen sind deshalb auch (moralistische) Variationen dieses Ansatzes, die Freiheitsbeschränkungen etwa zugunsten eines „gemeinsame[n] Interesse[s] aller (individuellen) Menschen an der Erhaltung ihres ‚Menschenbildes‘“, Seelmann, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​ Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 206 (213), oder zur Verhinderung einer bei extremer Selbstentwürdigung und -erniedrigung drohenden, allgemeinen „Verrohung des sozialen Umgangs“, Kleinig, in: von Hirsch / ​Neumann / ​Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 145 (148, 171), für zulässig halten.

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1. Teil: Grundlegung

e) Schutz vor einverständlicher Schädigung durch Dritte als Gemeinwohlbelang: Rechtfertigung von indirektem Paternalismus Diskutiert wird ferner ein mögliches Gemeinwohlinteresse an der Verhinderung einer einverständlichen Schädigung seitens Dritter, das die Zulässigkeit indirekt paternalistischer Regelungen538 begründen könnte, bei denen sich das Verbot als unmittelbare Eingriffshandlung nicht an denjenigen richtet, dessen Wohl gewahrt werden soll, sondern an Dritte, die mit seinem Einverständnis tätig werden.539 Für die Beantwortung dieser Frage ist von zentraler Bedeutung, ob (starker) direkter und (starker) indirekter Paternalismus grundlegend unterschiedlich zu behandeln sind oder nicht. Dies bejahend geht etwa Esser davon aus, dass indirekt paternalistische Regelungen – anders als direkt paternalistische – per se aus Gründen des Gemeinwohlschutzes einer Rechtfertigung zugänglich seien: Wenn Schädiger und Geschädigter nicht identisch seien, bestünde ein Interesse der Allgemeinheit an der Regelung von „Drittbeeinträchtigungsbefugnissen“. Dem Schädiger dürften besonders schwerwiegende Einwirkungen auf grundrechtlich geschützte Güter anderer trotz Einwilligung des Betroffenen verboten werden, da ein zentraler Unterschied zwischen der Verfügung über eigene Rechtsgüter und dem Einverständnis mit der Beeinträchtigung derselben durch Dritte bestünde. Dementsprechend sei es in Anbetracht der Sozialgebundenheit jedes Einzelnen von gesellschaftlicher Relevanz und von zentraler Bedeutung für ein geregeltes Zusammenleben, dass die Reichweite einer zulässigen Einwirkung auf fremde Rechtsgüter reguliert würde. Das Interesse der Allgemeinheit an einer Regelung dieser Drittbeeinträchtigungsbefugnisse ergebe sich bereits aus den Vorschriften in §§ 216, 228 StGB und könne die mit indirekt paternalistischen Regelungen einhergehenden, grundrechtlichen Beeinträchtigungen des Geschädigten rechtfertigen.540 Dagegen wird jedoch vorgebracht, dass es irrelevant sei, durch wen die Rechtsgüter des Betroffenen beeinträchtigt würden: Es gebe keinen wertungsmäßigen Unterschied zwischen der selbsttätigen Verfügung über eigene Rechtsgüter und der autonomen Zulassung einer Beeinträchtigung derselben durch Dritte.541 Das in Frage stehende Rechtsgut werde bei einer 538 Siehe ausführlich etwa Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 488–505. 539 Vgl. zur Unterscheidung von direktem und indirektem Paternalismus, die beide sowohl stark als auch schwach paternalistisch ausgerichtet sein können, im ersten Kapitel unter A. V. 6. 540 Zum Ganzen Esser, Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 96, 198. Auch Köhler geht davon aus, dass „[d]ie Willensäußerung, die einen anderen zur rechtswidrigen Negation seiner selbst zu ermächtigen trachtet, […] als Akt rechtlicher Übertragung eigentlich unwirksam“ sei. Dementsprechend könne „eine rechtliche Befugnis zur Aufhebung einer Person […] selbst durch deren Übertragungsakt nicht begründet werden.“ Die „staatliche Rechtsorganisation“ sei dann vielmehr „zur schützenden Intervention zwangsbefugt.“, ders., JRE 2006, 425 (442 f.). 541 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 17; Schroth, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (474) unter Bezugnahme auf

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

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freiwilligen Verfügung in beiden Konstellationen nicht verletzt.542 Es liege „in der Freiheit des Einzelnen, sich bei der Disposition über eigene Rechtsgüter auch der Hilfe Dritter zu bedienen“.543 Abgesehen davon, dass der Einzelne der einverständlichen Fremdschädigung in einem höheren Maß ausgeliefert ist als der eigenen Selbstschädigung,544 besteht in der Tat kein Anknüpfungspunkt für eine unterschiedliche Behandlung der Freiheit, sich selbst zu schädigen und der Freiheit, sich einverständlich schädigen zu lassen.545 Ein solcher kann sich insbesondere nicht daraus ergeben, dass indirekter Paternalismus den Betroffenen nominell vor dem Handeln eines anderen schützt: Zwar kann der Schutz Dritter grundsätzlich legitimer und nicht-paternalistischer Zweck einer Freiheitsbeschränkung sein – der von indirektem Paternalismus ausgehende Schutz beschränkt die Freiheit des Betroffenen gegen seinen eigenen Willen jedoch in gleichem Maße wie direkter Paternalismus. Denn durch indirekt paternalistische Regelungen wird nicht nur zum „Schutz eines anderen“ in die Handlungsfreiheit des Schädigers eingegriffen, sondern vor allem auch in die grundrechtlich abgesicherte Freiheit des paternalistisch Geschützten, in die Beeinträchtigung seiner Rechtsgüter einwilligen zu können.546 Trotz vermeintlicher Drittschutzebene beschränken indirekt paternalistische Regelungen somit die selbe Verfügungsfreiheit wie es auch direkt paternalistische Regelungen tun. Mangels Rechtsgutsbeeinträchtigung kann die Freiheitsbeschränkung in diesen Fällen nicht dadurch gerechtfertigt werden, dass die gewünschte Schädigung von Seiten Dritter erfolgt. Soweit der Verfügende selbstbestimmt handelt und keine Ausnutzung überlegenen Wissens seitens des Primärschädigers stattfindet,547 lassen direkt wie indirekt paternalistische Regelungen einen Respekt vor der Autonomie des Betroffenen gleichermaßen vermissen. Eine grundlegend ungleiche Behandlung vermag auch in Anbetracht der Möglichkeit und des Schutzes der Verfügung des Betroffenen über seine eigenen Rechtsgüter548 ebenso wenig zu überzeugen wie die KonstrukRoxin, Strafrecht AT, Band 1, 4. Aufl. 2006, § 11 B Rn. 123 f., der als Voraussetzungen einer Gleichwertigkeit die Zurechnungsfähigkeit, Freiheit von Willensmängel und dieselbe Risikokenntnis des Betroffenen nennt, a. a. O. Rn. 124. Auch Murmann geht davon aus, dass „Unterscheidungen nach der äußeren Gestaltung der selbstverfügenden Entscheidung insoweit die normative Relevanz [fehlt]. Es kommt also […] nicht darauf an, ob das Opfer an fremdes Verhalten nur anknüpft, sich fremder Hilfe bedient oder den Vollzug der Handlung insgesamt dem Außenstehenden überläßt.“, ders., Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 315 f. 542 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 17. 543 Gärditz, ZfL 2015, 114 (115). 544 Dies ebenfalls anerkennend Roxin, Strafrecht AT, Band 1, 4. Aufl. 2006, § 11 B Rn. 123. 545 Für eine einheitliche Beurteilung von Selbstschädigung und einverständlicher Fremdschädigung auch Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 322. 546 Zum grundrechtlichen Schutz der Einwilligung in die Beeinträchtigung eigener Rechtsgüter Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 118, 191. 547 Roxin verlangt Zurechnungsfähigkeit, Freiheit von Willensmängeln und Risikokenntnis auf dem Niveau der Schädigerin, ders., Strafrecht AT, Band 1, 4. Aufl. 2006, § 11 B Rn. 124. 548 Siehe dazu unter B. I. 3. und B. II. 3.

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1. Teil: Grundlegung

tion eines Gemeinwohlbezugs oder eines Interesses der Allgemeinheit am Schutz individueller Rechtsgüter vor einer gewünschten Beeinträchtigung durch Dritte:549 Insbesondere Essers Ableitung eines solchen Gemeinwohlinteresses aus der Existenz der §§ 216, 228 StGB ist zirkelschlüssig und vermag nicht zu beantworten, auf welcher Basis diese Regelungen dann selbst einer Rechtfertigung zugänglich sind. Auch die rechtssystematische Kohärenz mit – möglicherweise verfassungsrechtlich fragwürdigen – Regelungen rechtfertigt die mit indirekt paternalistischen Regelungen einhergehenden Grundrechtsbeeinträchtigungen nicht. Eine grundlegend unterschiedliche Behandlung von direktem und indirektem Paternalismus kommt somit weder aus Aspekten des Dritt- noch des Gemeinwohlschutzes in Betracht. Die „Delegation der Ausführungshandlung“ bei einer einverständlichen Fremdschädigung wird jedoch mitunter als Indiz für ein möglicherweise eingriffsrechtfertigendes Autonomiedefizit des Verfügenden gewertet.550 Zwar kann eine derartige Indizwirkung bereits in solchen Fällen nicht greifen, in denen die Übertragung der selbstschädigenden Handlungen auf einen Dritten auf zwingenden Gründen und insbesondere körperlichen Einschränkungen basiert.551 Allerdings bringt die Beteiligung Dritter an der Schädigung den Betroffenen mangels endgültiger Kontrollierbarkeit wie bereits angesprochen in eine verletzlichere Position als dies bei der Selbstschädigung der Fall ist.552 Insoweit kann die Ausführungsdelegation zumindest Anlass eines verfahrenspaternalistischen Eingriffs zur Erforschung der Autonomie553 oder eines auf der Gefahr unwirksamer Einwilligungen basierenden Verbots sein.554 Grundsätzlich begründet allein die Abgabe der Ausführungshandlung jedoch kein legitimes Gemeinwohlinteresse an einer indirekt paternalistischen Freiheitsbeschränkung. f) Resümee: Fehlender Gemeinwohlbezug des Schutzes gegen den eigenen Willen Der Schutz des Einzelnen gegen seinen Willen lässt sich im Ergebnis somit regelmäßig auch nicht als Gemeinwohlbelang verstehen, der legitimer Zweck einer grundrechtlichen Freiheitsbeschränkung sein könnte. Während sich auch-paterna 549

So auch Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 149. So unter bestimmten Umständen Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 491 f.; zu Zweifeln bei der Tötung auf Verlangen siehe Roxin, NStZ 1987, 345 (348); Köhler, JRE 2006, 425 (442). Vgl. dazu bereits im ersten Kapitel unter B. I. 2. c) bb). 551 Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 45; siehe in Zusammenhang mit der Tötung auf Verlangen auch Hoven, ZIS 2016, 1 (5); gegen die Indikation eines Entscheidungsdefizits in diesen Fällen auch Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 491 f. 552 Zu entsprechenden Gefahren auch Roxin, Strafrecht AT, Band 1, 4. Aufl. 2006, § 11 B Rn. 123. 553 Siehe dazu auch im ersten Kapitel unter A. V. 8. 554 Siehe dazu unter B. V. 550

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

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listische Regelungen im Falle einer gleichzeitig von ihnen ausgehenden Schutzwirkung zugunsten Dritter oder des Gemeinwohls unter diesem Aspekt unpro­ blematisch legitimieren lassen, sind konstruierte Ausweitungen von ausschließlich selbstbezogenen, autonomen Schädigungen oder Gefährdungen Einzelner auf eine mit diesen einhergehende Betroffenheit der Allgemeinheit  – etwa wegen eines massenhaften Anfalls von Selbstschädigungen, einer mit Selbstschädigungen einhergehenden Belastung der Sozialsysteme oder eines Interesses an dem Schutz vor einverständlicher Fremdschädigung – wie dargelegt abzulehnen.555 Der Schutz des Menschen gegen seinen selbstbestimmten Willen allein vermag ebenso wenig einen legitimen Zweck der mit entsprechenden Regelungen einhergehenden Freiheitsbeschränkungen darzustellen wie etwaige Umgehungen dieser Annahme durch die Konstruktion eines vermeintlichen Gemeinwohlbezugs.556 Auch unter diesem Gesichtspunkt kann sich eine Rechtfertigung rein paternalistischer Regelungsansätze nicht ergeben. 3. Rechtfertigung paternalistischer Beschränkungen aus der objektiven Dimension der Grundrechte Auch die objektive Dimension der Grundrechte kann im Ergebnis keinen Einfluss auf die Zulässigkeit paternalistischer Freiheitsbeschränkungen nehmen. Die neben den subjektiven, abwehrrechtlichen Aspekten der Grundrechte stehenden objektiven Grundrechtsgehalte wirken auf verschiedenen Ebenen: Neben den vorliegend weniger relevanten Instituts- und institutionellen Garantien,557 werden die Grundrechte objektiv auch als Teil eines wertgebundenen Systems verstanden, in dessen Rahmen das einzelne Grundrecht eine Wertentscheidung enthält, der eine Ausstrahlungswirkung auf die gesamte Rechtsordnung zukommt.558 Ein zentraler Aspekt der objektiven Grundrechtsgehalte sind die grundrechtlichen Schutzpflichten.559 Basis und Ausgangspunkt der Wertordnungslehre stellte das Lüth-Urteil von 1958560 dar,561 in dem das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich statuierte, dass

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Auch Rigopoulou geht davon aus, dass die „Folgekosten“ einer Selbstschädigung für die Allgemeinheit grundsätzlich die Freiheitseinschränkung der Einzelnen nicht legitimieren könnten. Vielmehr stehe der Einzelnen ihre Freiheit aufgrund ihres Menschseins zu und nicht wegen ihrer Nützlichkeit für die Gesellschaft, dies., Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 317. 556 Siehe zu einer drohenden Umgehung des Autonomieschutzes durch Bezugnahme auf „mittelbare Folgen“ für Dritte und die Allgemeinheit auch Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 322. 557 Dazu Herdegen, in: Maunz / ​Dürig (Hrsg.), GG, 81. Lfg. 2017, Art. 1 Abs. 3 Rn. 18. 558 BVerfG 15.1.1958 – 1 BvR 400/51 – BVerfGE 7, 198 [„Lüth“]; Antoni, in: Hömig / ​Wolff (Hrsg.), GG, 11. Aufl. 2016, Vorbemerkungen Rn. 4; Herdegen, in: Maunz / ​Dürig (Hrsg.), GG, 81. Lfg. 2017, Art. 1 Abs. 3 Rn. 52, 57. 559 Herdegen, in: Maunz / ​Dürig (Hrsg.), GG, 81. Lfg. 2017, Art. 1 Abs. 3 Rn. 20. 560 BVerfG 15.1.1958 – 1 BvR 400/51 – BVerfGE 7, 198. 561 Siehe dazu etwa Dreier, Dimensionen der Grundrechte, 1993, S. 10.

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1. Teil: Grundlegung

„das Grundgesetz […] in seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet hat“.562 a) Objektive Wertordnung Dass die objektive Wertordnung der Grundrechte und ihre Ausstrahlungswirkung keinen Einfluss auf die Zulässigkeit paternalistisch motivierter Grundrechtseingriffe haben können, ergibt sich indirekt bereits aus eben jenem Lüth-Urteil, in dem das Bundesverfassungsgericht äußerte, dass in der objektiven Wertordnung „eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck kommt […]“.563 Ein System, das der Stärkung dienen soll, vermag einen Freiheitseingriff und damit eine Verkürzung der Geltungskraft der Grundrechte nicht zu rechtfertigen.564 Auch Hillgruber leitet aus dem verstärkenden Verständnis der objektiven Wertordnung ab, dass es keinen Vorrang des objektiven Charakters der Grundrechte vor ihrer abwehrrechtlichen Ausrichtung und damit auch keine Einschränkung subjektiver Grundrechtsgewährleistungen durch objektive Wertentscheidungen geben könne.565 Dementsprechend ließe sich auch staatliche Bevormundung nicht durch die objektive Wertordnung rechtfertigen, da sonst der Grundrechtsberechtigte von dem Wert, den das Grundrecht schützt, getrennt und dieser durch das Grundrecht geschützte Wert zur Einschränkung seiner Freiheitsausübung genutzt werden müsste.566 Den Grundrechtsrechtberechtigten derart in die Pflicht zu nehmen, sei aber „mit der freiheitssichernden, abwehrrechtlichen Garantiefunktion der Grundrechte völlig unvereinbar“.567 Gegen eine Einschränkung der Abwehrrechte durch die objektive Wertordnung spricht ferner, dass auf diesem Wege fremdbestimmte, staatlich festgelegte Werte die individuelle Selbstbestimmung des Einzelnen verdrängen und so eine Konformität erzwingen würden, die der Vielfältigkeit der persönlichen Freiheiten entgegenstünde.568 Eine Einschränkung grundrechtlich geschützter, individueller Freiheiten, wie sie von paternalistischen Regelungen ausgeht, auf die objektive Wertordnung zu stützen, die doch der Stärkung dieser konkreten Abwehrrechte dienen soll und sich aus eben jenen Grundrechten selbst ergibt, widerspricht dem 562

BVerfG 15.1.1958 – 1 BvR 400/51 – BVerfGE 7, 198 (205) [„Lüth“]. BVerfG 15.1.1958 – 1 BvR 400/51 – BVerfGE 7, 198 (205) [„Lüth“] (Herv. d. Verf.). 564 Im Ergebnis ebenso Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 109 und Littwin, der davon ausgeht, dass die objektive Wertordnung der Ausdehnung und nicht der Einschränkung des Schutzbereichs dient, ders., Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 163. Siehe auch Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 230; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 130–134, 176. 565 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 130, 176. 566 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 134. 567 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 134. 568 So auch Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 167 f.; Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 115. 563

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

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vom Bundesverfassungsgericht entworfenen Konzept und ist als paradox abzulehnen. Der objektive Wertgehalt der Grundrechte muss vielmehr subsidiär zum subjektiven Freiheitsschutz stehen.569 b) Grundrechtliche Schutzpflichten Dies gilt dementsprechend auch für eine Einschränkung selbstschädigenden Verhaltens in Zusammenhang mit grundrechtlichen Schutzpflichten, so wie sie sich aus der objektiven Wertordnung der Grundrechte ergeben. Die staatliche Pflicht zum Schutz von Grundrechtsgütern vor Gefährdungen oder Schädigungen stellt eine anerkannte Grundrechtsfunktion dar,570 in deren Rahmen der Staat die Grundrechte nicht nur selbst achten, sondern auch sicherstellen soll, dass ihre Schutzgüter nicht durch Dritte beeinträchtigt werden.571 Die Herleitung und Begründung grundrechtlicher Schutzpflichten sind ebenso wie ihr Umfang und ihre Reichweite umstritten.572 Das Bundesverfassungsgericht hat staatliche Schutzpflichten erstmals in seinem Urteil zu den Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs (Schwangerschaftsabbruch I) anerkannt und in diesem Zusammenhang eine umfassende Schutzpflicht gegenüber dem menschlichen Leben aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG abgeleitet:573 Demnach verbietet die Schutzpflicht nicht nur staatliche Eingriffe, „sondern gebietet dem Staat auch, sich schützend und fördernd vor diese Leben zu stellen, das heißt vor allem, es auch vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren“.574 Relevanter als die Frage der Herleitung ist im vorliegenden Zusammenhang jedoch die Frage nach den Voraussetzungen für ein Eingreifen staatlicher Schutzpflichten und nach ihrem Umfang. Isensee geht davon aus, dass ein „rechtswidriger Eingriff (Übergriff)“ eines Privaten auf ein grundrechtliches Schutzgut oder die Gefahr eines solchen Eingriffs575 die staatliche Schutzpflicht aufleben lasse.576 569 Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 164. Unerheblich wäre insoweit auch, ob sich die staatliche Schutzpflicht auf ein gegenüber dem Beeinträchtigen höherwertiges Rechtsgut bezieht: Nicht nur erscheint die Festlegung einer Rangordnung von Rechtsgütern äußerst problematisch – jedenfalls würde dies nichts an der unzulässigen Funktionsumkehrung der Grundrechte durch eine grundrechtliche Beschränkung mit einer Schutzpflicht ändern, s. Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 229 f. 570 Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2003, S. 228. 571 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 142. 572 Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2003, S. 229–234 m. w. N.; Herdegen, in: Maunz / ​Dürig (Hrsg.), GG, 81. Lfg. 2017, Art. 1 Abs. 3 Rn. 21. Ausführlich Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 34–69. 573 BVerfG 25.2.1975 – 1 BvF 1/74 u. a. – BVerfGE 39, 1 (41) [„Schwangerschaftsabbruch I“]. 574 BVerfG 25.2.1975 – 1 BvF 1/74 u. a. – BVerfGE 39, 1 (42) [„Schwangerschaftsabbruch I“]. 575 Isensee, in: Isensee / ​Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IX, 3. Aufl. 2011, § 191 Rn. 225. 576 Isensee, in: Isensee / ​Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IX, 3. Aufl. 2011, § 191 Rn. 225.

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1. Teil: Grundlegung

Diese Beschreibung soll im Folgenden als Grundlage einer Untersuchung dienen, die belegen soll, dass grundrechtliche Schutzpflichten bei einer autonomen Beeinträchtigung der eigenen grundrechtlichen Schutzgüter oder bei einer einverständlichen Beeinträchtigung derselben durch Dritte nicht ausgelöst werden (dazu unter aa)) und dass die Existenz einer Schutzpflicht den mit paternalistischen Regelungen einhergehenden Eingriff, zumindest in die allgemeine Handlungsfreiheit, nicht zu rechtfertigen vermag (dazu unter bb)). aa) Kein Auslösen grundrechtlicher Schutzpflichten bei autonomer Selbstschädigung oder einverständlicher Drittschädigung Schutzpflichten werden weder durch selbstgefährdendes noch durch einverständlich-fremdgefährdendes Verhalten ausgelöst. Denn bei einer Beeinträchtigung der eigenen, grundrechtlich geschützten Güter oder bei einem Einverständnis in die Beeinträchtigung derselben seitens Dritter liegt bereits kein rechtswidriger Eingriff oder Übergriff vor. Im Schrifttum wird zwar mitunter davon ausgegangen, dass eine Selbstgefährdung staatliche Schutzpflichten ebenso auszulösen vermöge wie eine aus sonstigen Quellen herrührende Gefährdung.577 Dem wird jedoch mit Recht entgegengehalten, dass staatliches Eingreifen nicht notwendig sei, soweit der Selbstschädigende Herr der Lage ist.578 Der Betroffene sei nur schutzwürdig, wenn seine Handlungen auf fehlender Absicht oder Tatsachenkenntnis beruhten.579 Die Garantie personaler Freiheit, die durch die Grundrechte gewährleistet wird, werde sonst ins Gegenteil verkehrt.580 Einen Schutz gegen den autonomen Willen könne es schon deshalb nicht geben, weil die Schutzpflicht des Staates auf dem Recht des Einzelnen auf Schutz basiere und auf eigene Rechte verzichtet werden könne.581 Insoweit bleibe „der Wille des Einzelnen für die Gewährleistung des Schutzes“ maßgebend.582 Auch das Bundesverfassungsgericht ging in seinen beiden Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch davon aus, dass die Schutzpflicht es gebiete, das Leben „vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren“.583 Da es in paternalistischen Konstellationen an einem solchen, schutzpflichtauslösendem Dreiecksverhältnis fehlt, weil Störer und Opfer dieselbe Person sind, kann es keine

577

Stern, Staatsrecht III/1, 1988, S. 736. Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 246. 579 Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 187. 580 Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 228 f. 581 Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 221 f. 582 Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 221 f. 583 BVerfG 25.2.1975 – 1 BvF 1/74 – BVerfGE 39, 1 (42) [„Schwangerschaftsabbruch I“]; BVerfG 28.5.1993 – 2 BvF 2/90 – BVerfGE 88, 203 (251) (Herv. d. Verf.) [„Schwangerschaftsabbruch II“]. 578

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

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grundrechtliche Schutzpflicht gegen sich selbst geben.584 Auch bei paternalistischen Regelungen, die in wirksam-einverständliche Drittbeeinträchtigungen eingreifen, fehlt es an einem rechtswidrigen Übergriff.585 Grundrechte können somit auch als Schutzpflichten keinen Schutz gegen den eigenen Willen des Betroffenen legitimieren. Mangels rechtswidrigen Übergriffs werden diese weder durch selbstgefährdendes noch durch einverständlich-fremdgefährdendes Verhalten,586 sondern nur durch Eingriffe Dritter ausgelöst, denen der Betroffene nicht zustimmt. bb) Keine Eingriffsrechtfertigung durch grundrechtliche Schutzpflichten Ohnehin ließe sich mit Schutzpflichten jedoch jedenfalls kein Eingriff in die Grundrechte des Geschützten rechtfertigen. Denn Schutzpflichten werden – ebenso wie die Grundrechte, auf denen sie basieren – bereits den Voraussetzungen für die Einschränkung von Grundrechten, wie etwa dem Gesetzesvorbehalt oder den Anforderungen des Art. 19 Abs. 1 GG, nicht gerecht.587 Auch wenn mit der Pflicht zum Schutz grundsätzlich ein Recht zum Schutz korrespondiert,588 statuieren die Schutzpflichten als solche eine staatliche Aufgabe und begründen keinen Eingriffsoder Befugnistitel.589 Ferner steht die grundrechtlich geschützte Verfügungsfreiheit einem aus Grundrechten abgeleiteten Eingriffsrecht zum Schutz von Rechtsgütern gegen den Willen ihres Inhabers auch in diesem Zusammenhang entgegen.590 584

Heide, Medizinische Zwangsbehandlung, 2001, S. 214 f.; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 228; Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 214. Möller bejaht das Vorliegen entsprechender Schutzpflichten jedoch für geistig Beeinträchtigte und Minderjährige, ders., Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 216. 585 Esser, Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 88; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 107; Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 247. 586 Gegen die Inanspruchnahme einer grundrechtlichen Schutzpflicht gegen den Willen des Grundrechtsberechtigten selbst auch Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 147. Zum Teil wird jedoch ein Eingreifen staatlicher Schutzpflichten gegen den Willen des zu schützenden Grundrechtsinhabers konstruiert, indem davon ausgegangen wird, dass die Entscheidung, die eigenen Rechtsgüter zu beeinträchtigen gleichzeitig eine Beeinträchtigung der sich aus den Grundrechten ergebenden objektiven Wertordnung darstelle, s. Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 245 m. w. N. Auch diese Annahme führt zu einer unzulässigen, im Folgenden noch dazulegenden Verobjektivierung der Grundrechte. 587 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 68; ähnlich auch Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 145, 172; Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (255). 588 Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 244; Schwabe, JZ 1998, 66 (70). 589 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 68 f.; Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 145; Hermes / ​Walther, NJW 1993, 2337 (2339); Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 147, 167; Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 184; Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (255). 590 Schwabe, JZ 1998, 66 (70).

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1. Teil: Grundlegung

Während etwa im Falle des Schwangerschaftsabbruchs das Lebensrecht des nasci­ turus dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren gegenübersteht,591 stünde der Freiheitseinschränkung des Betroffenen in der paternalistischen Grundkonstellation sein eigener, nicht gewünschter Schutz gegenüber, der – wie bereits dargestellt592 – grundsätzlich kein legitimer Zweck einer Grundrechtsbeschränkung sein kann. Im Übrigen wäre die Anerkennung einer Schutzpflicht als Schranke einer grundrechtlichen Freiheit auch systemwidrig,593 da die objektive Wertordnung des Grundgesetzes wie ausgeführt der Verstärkung der Abwehrrechte und nicht ihrer Verkürzung dient, so dass eine Begrenzung subjektiver, grundrechtlicher Positionen des Einzelnen durch die ihm dienenden Schutzpflichten paradox wäre:594 Durch die Einschränkung grundrechtlicher Freiheiten mit grundrechtlichen Schutzpflichten würden sich beide Grundrechtsfunktionen gleichsam aufheben und ihrer Wirksamkeit berauben.595 Der aufgedrängte Schutz durch die Grundrechte würde zu einer Grundpflicht, so wie sie vorliegend bereits abgelehnt wurde.596 Im Ergebnis nehmen objektive Grundrechtsgehalte im Allgemeinen und grundrechtliche Schutzpflichten im Speziellen deshalb keinen Einfluss auf die verfassungsrechtliche Beurteilung paternalistisch motivierter Eingriffe:597 Während grundrechtliche Schutzpflichten vorgelagert bereits tatbestandlich weder durch autonom motivierte Selbstschädigungen des Grundrechtsinhabers noch durch einverständliche Beeinträchtigungen seitens eines Dritten ausgelöst werden können, vermögen objektive Grundrechtsgehalte den mit einem ungewollten Schutz einhergehenden Eingriff in eine grundrechtlich geschützte Freiheit aus systematischen Gründen ohnehin nicht zu rechtfertigen, weil sie einer Verstärkung und keiner Verkürzung der Abwehrrechte dienen.

591 Vgl. BVerfG 25.2.1975 – 1 BvF 1/74 – BVerfGE 39, 1 [„Schwangerschaftsabbruch I“]; BVerfG 28.5.1993 – 2 BvF 2/90 – BVerfGE 88, 203 [„Schwangerschaftsabbruch II“]. 592 Siehe dazu bereits unter B. III. 1. 593 Esser, Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 92. 594 Esser, Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 89 f.; ­Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 69; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 148; Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (255 f.); Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 109. 595 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 69; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 148; Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 246 f. Dagegen auch Kandler, Rechtliche Rahmenbedingungen biomedizinischer Forschung, 2008, S. 32. 596 Esser, Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 90; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 148 m. w. N. Siehe bereits unter B. II. 1. 597 Im Ergebnis ebenso Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 229 f.; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 221 f.

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

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4. Rechtfertigung paternalistischer Beschränkungen aus dem Sittengesetz Auch die in Art. 2 Abs. 1 GG genannte Schranke des Sittengesetzes vermag den mit paternalistischen Regelungen einhergehenden Eingriff nicht zu rechtfertigen. Zwar wird mitunter erwogen, die von der Schranke des Sittengesetzes geschützten moralischen Grundlagen unserer Gesellschaft und unverfügbaren Grundrechtsanteile etwa bei drohendem Selbstmord598 oder in sonstigen Extremfällen599 zugunsten paternalistischer Regelungen zum Zuge kommen zu lassen. Der Schranke des Sittengesetzes eine eigenständige Bedeutung beizumessen, wird jedoch in weiten Teilen der verfassungsrechtlichen Literatur abgelehnt: Sie wird vielmehr regelmäßig für bedeutungslos gehalten,600 da sie lediglich bei Beeinträchtigung fremder Rechte oder Rechtsgüter zum Tragen komme und damit keine weitgehenderen Beschränkungen zulasse als die Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung (und der Rechte anderer).601 Mit dem Sittengesetz unter dem Gesichtspunkt allgemeiner Moralvorstellungen eine Einschränkung der Handlungsfreiheit in Fällen zuzulassen, in denen weder Rechte Dritter noch Gemeinwohlbelange berührt sind, lässt sich laut Hillgruber auch nicht mit der Wesensgehaltsgarantie aus Art. 19 Abs. 2 GG und der Freiheitsgewährleistung des Art. 2 Abs. 1 GG vereinbaren.602 Ob der Schranke des Sittengesetzes nun im Einzelfall eine eigenständige Bedeutung zukommen kann oder nicht, ist vorliegend insoweit unerheblich,603 als paternalistische Eingriffe ohne Betroffenheit sonstiger verfassungsrechtlicher Güter allein auf Basis der Sitte und der Moralvorstellungen der Allgemeinheit jedenfalls nicht gerechtfertigt werden können. Die Selbstbestimmung und das individuelle Menschenbild des Grundgesetzes würden entwertet, wenn sie zugunsten einer moralischen Mehrheitsmeinung eingeschränkt werden könnten604 und das paternalistische allein durch ein moralistisches Dilemma ausgetauscht. 598 Vgl. Isensee, in: Isensee / ​Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IX, 3. Aufl. 2011, § 191 Rn. 246, nach dem es unverfügbare Grundrechtsmomente gibt, die Bestandteile des Sittengesetzes sind und deren Wahrung Aufgabe des Staates ist. 599 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 228. 600 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 165 f., 173, 177; Jarass, in: Jarass / ​Pieroth, GG, 14. Aufl. 2016, Art. 2 Rn. 19. Anders Isensee, in: Isensee / ​Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IX, 3. Aufl. 2011, § 191 Rn. 246. 601 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 165–173, 177. 602 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 167 f. Das Sittengesetz als „Moralkodex“ zu verstehen, das einen Grundrechtseingriff rechtfertigen könnte, hält auch Möller für „in einem freiheitlichen Staat etwas zwielichtig“, ders., Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 130. 603 So auch Enderlein, der davon ausgeht, dass sich – soweit sich aus der Verfassung Einschränkungen ergeben – „aus der Schranke des Sittengesetzes keine weitergehenden paternalistischen Eingriffsbefugnisse herleiten“ lassen, ders., Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 146. 604 Ähnlich Littwin, der davon ausgeht, dass eine Berücksichtigung der herrschenden Moral in diesem Zusammenhang „unserem pluralistischen Staatsverständnis […] sowie dem Gedanken des […] Minderheitenschutzes […] zuwiderlaufen [würde]. Der Mensch würde von einem sittlich autonomen zu einem fremdbestimmten Wesen.“, ders., Grundrechtsschutz gegen sich

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1. Teil: Grundlegung

5. Rechtfertigung paternalistischer Beschränkungen wegen einer Verletzung der Wesensgehaltsgarantie (Art. 19 Abs. 2 GG) In Zusammenhang mit Paternalismus und dem unantastbaren Wesensgehalt der Grundrechte nach Art. 19 Abs. 2 GG wird nicht nur darüber debattiert, ob ein pater­nalistischer Eingriff in jedem Fall verfassungsrechtlich unzulässig sein muss, wenn er sich gegen die Ausübung der Autonomie als solche richtet, nicht inhaltlich und wertungsmäßig neutral ist und dadurch möglicherweise die allgemeine Handlungsfreiheit in ihrem Wesensgehalt antastet,605 sondern auch darüber, ob paternalistische Eingriffe gerechtfertigt sein könnten, soweit Art. 19 Abs. 2 GG nicht nur als „Schranken-Schranke“, sondern auch als Verpflichtung zur „Absicherung eines Mindestgehalts der Grundrechte“ zu verstehen wäre.606 Die Wesensgehaltsgarantie soll die Staatsgewalt jedoch binden und ihre Einwirkung auf die Grundrechte beschränken,607 um den Bürger vor zu weitreichenden Freiheitseinschränkungen zu schützen. Sie gegen die Freiheit des Einzelnen einzusetzen, würde die bürgerschützende Funktion der Wesensgehaltsgarantie in ihr Gegenteil verkehren, weshalb ein solcher Ansatz abzulehnen ist. Dies brachte auch das Bundesverfassungsgericht zum Ausdruck, insoweit es davon ausgegangen ist, dass es vielmehr die paternalistische Freiheitsentziehung zum Zwecke der Besserung der Betroffenen selbst sei, die „das Grundrecht der persönlichen Freiheit in seinem Wesensgehalt“ antaste.608 6. Resümee: Keine verfassungsrechtliche Rechtfertigung stark paternalistischer Freiheitseingriffe Der mit stark paternalistischen Regelungen einhergehende Eingriff in die Grundrechte des autonom Entscheidenden, dessen Freiheit zur Selbstschädigung und Selbstgefährdung jedenfalls durch die allgemeine Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG geschützt wird, lässt sich grundsätzlich nicht mit seinem eigenen Schutz rechtfertigen.609 Den Individualschutz des Betroffenen gegen seinen eigenen Wilselbst, 1993, S. 197 f. S. auch Möller: „[E]ine solche Argumentation [ist] unter dem Grundgesetzt nicht gestattet, da jeder unter dem Grundgesetz das Recht hat, seine eigenen Moralmaßstäbe festzusetzen“, ders., Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 131. 605 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 119 f. 606 Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 205 f. Littwin lehnt dies im Ergebnis jedoch ab, ausführlich a. a. O., S. 205–228. 607 Remmert, in: Maunz / ​Dürig (Hrsg.), GG, 81. Lfg. 2017, Art. 19 Abs. 2 Rn. 18. 608 BVerfG 18.7.1967 – 2 BvF 3/62 – BVerfGE 22, 180 (220). Im Übrigen enthält das Urteil jedoch auch paternalistische Passagen, soweit es den Schutz der Einzelnen für einen zulässigen Beschränkungsgrund hält, a. a. O., S. 181, 219 f. 609 Ausdrücklich ebenso Böllinger, KritJ 1991, 393 (406); Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 174; Kandler, Rechtliche Rahmenbedingungen biomedizinischer Forschung, 2008, S. 33; von Münch, in: FS Ipsen, 1977, S. 113 (128); Murmann, Die Selbstver-

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

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len als legitimen Zweck einer Grundrechtsbeschränkung anzusehen, würde den von den Grundrechten intendierten Freiheitsschutz in sein Gegenteil verkehren.610 Vielmehr nimmt bereits das auf der Menschenwürde basierende, selbstbestimmungsorientierte Menschenbild des Grundgesetzes eine antipaternalistische Haltung ein.611 Freiheitsrechtliche Beschränkungen sind allein zum Schutz der Rechte, Rechtsgüter und Interessen Dritter und der Allgemeinheit denkbar – und auch als solche lässt sich der paternalistische Schutz gegen den eigenen Willen wie dar­ gelegt nicht verstehen: Selbstschädigung und Selbstverfügung begründen als solche grundsätzlich weder eine Beeinträchtigung der Rechte Außenstehender noch von Belangen der Gemeinschaft.612 Bereits aus systematischen Gründen können paternalistische Freiheitseingriffe auch nicht mit objektiven Grundrechtsgehalten, dem Sittengesetz oder dem Wesensgehalt der Grundrechte gerechtfertigt werden.613 Dementsprechend kann es weder ein Recht noch einen Anspruch gegen den Staat auf paternalistischen Schutz geben: Soweit die Selbstbestimmung diktiert, dass in autonom-selbstschädigendes Verhalten nicht eingegriffen werden darf, verlangt die Selbstverantwortung auch das Tragen ihrer Konsequenzen.614 Das im Rahmen dieser abstrakten Betrachtung gewonnene Ergebnis lässt sich aufgrund des geringen Schutzniveaus der allgemeinen Handlungsfreiheit auch auf alle speziellen Grundrechte übertragen, in die konkrete paternalistische Regelungen eingreifen: Wenn nicht einmal ein Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit mit dem Schutz des Einzelnen gegen seinen Willen gerechtfertigt werden kann, so gilt dies erst recht nicht für Eingriffe in spezielle Freiheitsrechte, die nur unter noch höheren Anforderungen einschränkbar sind. Keinen Einfluss hat dieses Ergebnis jedoch auf die Beurteilung gemischt-paternalistischer Regelungen: Die grundsätzliche Problematik von Paternalismus führt nicht zu einem gesteigerten Rechtfertigungsbedarf in dem Sinne, dass „[d]ie Rechte Dritter oder die legitimen Interessen der Allgemeinheit […] so hochwertig sein [müssten], dass sie auch den „Malus“ des Paternalismus rechtfertigen.“615 Soweit eine Regelung auf einem anderen, außerpaternalistischen, legitimen Zweck basiert und unter diesem Gesichtspunkt verhältnismäßig ist, ist vielmehr nicht ersichtlich, wieso ein dysfunktionaler anderer Rechtfertigungsstrang Einfluss auf die Verfassungsmäßigkeit einer Regelung haben sollte. Auch soweit sich die Beurteilung der antwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 315; Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 144. 610 Siehe dazu unter B. III. 1. 611 Siehe dazu unter B. III. 1. 612 Siehe dazu unter B. III. 2. 613 Siehe dazu unter B. III. 3., B. III. 4. und B. III. 5. 614 Doehring, in: FS Zeidler, Band 2, 1987, S. 1553 (1559); Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 150. 615 Heinig, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 157 (176 f.). Heinig geht davon aus, dass dies relativ zu der Schwere des Eingriffs steht: „Je schwerer ein Eingriff in der Perspektive des Betroffenen wegen seines paternalistischen Effekts wiegt, desto höhere Anforderungen sind zu stellen.“, a. a. O.

186

1. Teil: Grundlegung

Verfassungsmäßigkeit bestimmter Regelungen im Laufe der Zeit verändert, kann die ursprüngliche Zwecksetzung der Wirksamkeit einer nun vielleicht in einem neuen Licht verhältnismäßig erscheinenden Regelung nicht entgegenstehen.

IV. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung schwach paternalistischer Freiheitseingriffe: Bevormundung defizitär Entscheidender In der Folge bleibt zu untersuchen, inwieweit sich die Rechtfertigung von schwachem Paternalismus von der Rechtfertigung von starkem Paternalismus unterscheidet. In Abgrenzung zu starkem Paternalismus setzt sich schwacher Paternalismus, wie bereits dargestellt,616 über nicht autonom, sondern defizitär gebildeten Willen hinweg. Insoweit stellt sich die Frage, ob der Eingriff in die Verfügungsfreiheit defizitär Entscheidender überhaupt grundrechtlich geschützt ist (dazu unter 1.) und inwieweit ein Eingriff in diese Freiheit zum Schutz defizitär Entscheidender möglicherweisen einer anderen, verfassungsrechtlichen Rechtfertigung zugänglich ist (dazu unter 2.). 1. Eingriff in den Schutzbereich grundrechtlicher Freiheiten Wie bereits dargestellt ist selbstschädigendes Verhalten grundsätzlich durch die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG geschützt.617 Für die Verfassungsmäßigkeit von schwachem Paternalismus ist zunächst von zentraler Bedeutung, ob dies auch dann der Fall ist, wenn das selbstschädigende Verhalten auf einer defizitären Entscheidung beruht. Mitunter wird angenommen, dass defizitäre Entscheidungen mangels Fähigkeit zu und Ausübung von Selbstbestimmung grundrecht­lich gar nicht erst geschützt seien.618 Da von der allgemeinen Handlungsfreiheit die „Freiheit als das Vermögen, sein Verhalten selbst zu bestimmen“619 geschützt werde, setze diese die „Fähigkeit zur Selbstbestimmung“ voraus:620 „Wer […] unfrei oder nicht einsichtsfähig ist, eigenverantwortlich über die Nutzung seiner grundrechtlich geschützten Interessen zu entscheiden, dem wird durch staatliche Bevormundung keine Freiheit genommen.“621

In der Folge wäre der staatliche Eingriff in eine derartige Entscheidung mangels Schutzbereichseröffnung nicht als grundrechtsrelevante Freiheitsbeschränkung zu qualifizieren. 616

Vgl. zu der Abgrenzung und den Kriterien bereits im ersten Kapitel unter A. I. 2. Siehe unter B. I. 3. 618 Lipp, Freiheit und Fürsorge, 2000, S. 130 f. 619 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 121. 620 Lipp, Freiheit und Fürsorge, 2000, S. 130. 621 Schwabe, JZ 1998, 66 (70). 617

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

187

Defizitäre Entscheidungen grundrechtlich gar nicht erst zu schützen, steht jedoch nicht in Einklang mit den vorangegangenen Ausführungen zum Charakter der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG:622 Zwar ließe sich im Rahmen der Persönlichkeitskerntheorie unter Umständen annehmen, dass ausschließlich freiverantwortliches und autonomes Handeln auch tatsächlich als freie und „wahre“ Entfaltung der Persönlichkeit zu verstehen ist. Wie bereits dargestellt, erscheint es aber vorzugswürdig, Art. 2 Abs. 1 GG als umfassende Handlungsfreiheit zu begreifen, die jedes menschliche Verhalten vor staatlichen Eingriffen schützt. Folgt man dieser Prämisse konsequent, so muss darunter auch ein Verhalten fallen, das auf mangelnder Einsichtsfähigkeit, Tatsachenkenntnis oder Willensfreiheit beruht. Ob tatsächlich Freiheiten ausgeübt werden, kann nicht daran gemessen werden, ob die zugrundeliegenden Entscheidungen vollumfänglich autonom getroffen werden. Dies widerspricht nicht nur der Wahrnehmung der Betroffenen, die trotz vorhandener Autonomiedefizite in dem von ihnen gewählten Verhalten die Ausübung ihrer Freiheiten erblicken, sondern auch dem Freiheitskonzept der Grundrechte, das durch eine solche Annahme stark eingeschränkt und verengt würde. Dass autonomiedefizitäres Verhalten grundrechtlichen Schutz genießt, hat auch das Bundesverfassungsgericht vorausgesetzt, als es etwa zur Freiheit der Person entschied, dass diese „auch dem Geisteskranken und nicht voll Geschäftsfähigen durch Art. 2 Abs. 2 GG garantiert ist […]“.623 Im Ergebnis wird deshalb auch ein durch Autonomiedefizite beeinträchtigtes Verhalten jedenfalls durch die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1  GG geschützt.624 Auch wenn der Wille defizitär Entscheidender zu ihrem eigenen Schutz übergangen werden kann, ist dieser nicht per se rechtlich unbeachtlich.625 2. Rechtfertigung des paternalistischen Schutzes defizitär Entscheidender Staatliche Eingriffe zum Schutz defizitär Entscheidender werden allgemein als zulässig angesehen.626 Starker Paternalismus in Reinform wurde vorliegend als verfassungswidrig abgelehnt, weil der Schutz des Betroffenen gegen seinen Willen mit seiner grundgesetzlich besonders protegierten Selbstbestimmung kollidiert. Zu einer derartigen Kollision kommt es im Falle defizitärer Entscheidungen aber nicht: Zwar wird auch im Rahmen von schwachem Paternalismus gegen den Willen des 622

Siehe dazu unter B. I. 3. BVerfG 7.10.1981 – 2 BvR 1194/80 – BVerfGE 58, 208 (224). 624 Im Ergebnis ebenso Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 265. 625 So aber Lipp, Freiheit und Fürsorge, 2000, S. 145. 626 Vgl. nur etwa BVerfG 18.7.1967  – 2  BvF 3/62  – BVerfGE 22, 180 (219); BVerfG 7.10.1981 – 2 BvR 1194/80 – BVerfGE 58, 208 (224 f.); BVerfG 26.7.2016 – 1 BvL 8/15 – NJW 2017, 53–60. Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 71 f., 121; Isensee, in: Isensee / ​Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IX, 3. Aufl. 2011, § 191 Rn. 246; Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 244. 623

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1. Teil: Grundlegung

Betroffenen vorgegangen – dieser basiert jedoch nicht auf Selbstbestimmung und Autonomie. Entsprechende Grundrechtseingriffe können vielmehr mit dem Schutz des Betroffenen vor den Folgen seiner defizitären Entscheidungen gerechtfertigt werden, da die die Selbstbestimmung schützende Funktion der Grundrechte und das Menschenbild des Grundgesetzes einer solchen Rechtfertigung mangels Autonomiefähigkeit des Betroffenen nicht entgegenstehen.627 Dementsprechend ist auch das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich davon ausgegangen, dass „Eingriffe fürsorgerischen Charakters“ zum Zweck des Schutzes geistig Beeinträchtigter auch zu Lasten ihrer eigenen Freiheit zulässig seien.628 3. Resümee: Legitimität schwach paternalistischer Freiheitseingriffe Im Ergebnis genießt somit auch selbstverfügendes Verhalten, das auf defizitären Entscheidungen beruht, grundrechtlichen Schutz durch die allgemeine Handlungsfreiheit. Diese Freiheit kann jedoch auch gegen ihren Willen durch den Schutz der Betroffenen beschränkt werden, da die selbstbestimmungsorientierte Ausrichtung des Grundgesetzes diesem aufgedrängten Schutz mangels allgemeiner Autonomiefähigkeit der Handelnden oder in Folge von Autonomiedefiziten in der konkreten Situation nicht entgegensteht.629

627

So auch Hillgruber, der davon ausgeht, dass das Recht auf individuelle Selbstbestimmung Grund der hier in Frage stehenden Freiheit und gleichzeitig auch deren Grenze sei, ders., Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 71 f., 121; Enderlein bezieht sich ferner auf den „Respekt vor dem anderen als Vernunftperson“, der in Fällen von schwachem Paternalismus nicht zum Tragen komme, ders., Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 148; von Münch, in: FS Ipsen, 1977, S. 113 (127). Siehe auch BVerfG 7.10.1981 – 2 BvR 1194/80 – BVerfGE 58, 208 (225): „Bei psychischer Erkrankung wird die Fähigkeit zur Selbstbestimmung häufig erheblich beeinträchtigt sein. In solchen Fällen ist dem Staat fürsorgerisches Eingreifen auch dort erlaubt, wo beim Gesunden Halt geboten ist.“ Köhler geht von einer Rechtfertigung auf Basis einer allgemeinen Hilfspflicht, der besonderen Personensorge und dem hypothetischen Willen der Personen aus, die einem schützenden Eingriff zustimmen würden, wenn sie einsichtsfähig wären ders., JRE 2006, 425 (441). 628 BVerfG 18.7.1967 – 2 BvF 3/62 – BVerfGE 22, 180 (219). 629 Weitergehend lässt sich sogar annehmen, dass die Zuständigkeit für den Schutz des Betroffenen, der dem autonom Handelnden grundsätzlich selbst obliegt, bei Autonomiedefiziten auf den Staat übergeht und das Eingriffsrecht insoweit zu einer staatlichen Pflicht wird. Dementsprechend leitet auch das Bundesverfassungsgericht aus dem Sozialstaatsprinzip ab, dass Schutz und Fürsorge desjenigen, der nicht in der Lage ist, freiverantwortlich zu handeln, zur Aufgabe des Staates werden können, BVerfG 7.10.1981 – 2 BvR 1194/80 – BVerfGE 58, 208 (224 f.). So auch Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, 1997, S. 266. Vgl. auch Isensee, in: Isensee / ​Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IX, 3. Aufl. 2011, § 191 Rn. 246, der von einer Grundrechtsfürsorge spricht, die der Staat all jenen schuldet, die nicht frei verantwortlich handeln können. Littwin leitet entsprechende Aufgaben aus der „fehlende[n] Wahrnehmungsfähigkeit der Grundrechte durch den Trägers [sic] unter dem Gesichtspunkt der sozialstaatlichen Fürsorgepflicht“ ab, ders., Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 244.

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

189

V. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung stark paternalistischer Freiheitseingriffe mit dem Schutz defizitär Entscheidender Beleuchtet wurden damit bisher die verfassungsrechtliche Zulässigkeit stark paternalistisch ausgerichteter Regelungen, die stark paternalistisch wirken, sowie die verfassungsrechtliche Zulässigkeit schwach paternalistisch ausgerichteter Regelungen, die schwach paternalistisch wirken. In der Rechtswirklichkeit finden sich jedoch regelmäßig Regelungen, die schwach paternalistisch ausgerichtet sind, aber stark paternalistisch wirken – also dem Schutz defizitär Entscheidender dienen, aber zugleich in die selbstschädigenden Entscheidungen autonom Handelnder eingreifen. So zielt etwa das Minderjährigenrecht oder die Strafbewehrung der Tötung auf Verlangen zwar unter anderem darauf ab, Menschen vor den Folgen defizitär getroffener Entscheidungen zu bewahren – die Regelungen begrenzen de facto jedoch auch die Freiheit derer, die autonom handeln und entscheiden.630 Denn sie knüpfen tatbestandlich nicht an ein Autonomiedefizit, sondern vielmehr an ein Merkmal an, das den Gesetzgeber – so wie etwa Minderjährigkeit oder Suizidalität – lediglich an der Autonomie der Entscheidung zweifeln lässt. Gerade die mit Gesetzen einhergehende Generalisierung kann dazu führen, dass im Einzelfall autonom getroffene Entscheidungen von bevormundenden Regelungen erfasst werden, die auf den Schutz vor defizitären Entscheidungen und damit eigentlich schwach paternalistisch ausgerichtet sind.631 Soweit durch entsprechende Regelungen aber trotz ihres schwach paternalistisch ausgerichteten Gefährdungsschutzzwecks auch autonome Entscheidungen konsumiert werden, kommt ihnen zugleich eine stark paternalistische Wirkung zu, die als mitintendiert angesehen werden muss, wenn sich die Regelung nicht explizit nur über defizitäre Entscheidungen hinwegsetzt.632 Jede andere Betrachtung würde zu einer Ver­wischung der klaren Grenzen zwischen starkem und schwachem Paternalismus und zu einer leichten Umgehung des vorliegend herausgearbeiteten, verfassungsrechtlichen An 630

Siehe dazu bereits im ersten Kapitel unter B. I. 2. c) bb) und B. III. 3. Siehe dazu auch Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 45 f., die derartige Regelungen dennoch als weich paternalistisch beschreibt: „Das Recht muss nicht die Wirksamkeit einer nicht-defizitären Entscheidung auch dort garantieren, wo bestimmte objektive Umstände die Möglichkeit nahe legen, dass es sich um eine defizitäre Entscheidung handelt.“, a. a. O., S. 46. 632 Auch das Bundesverfassungsgericht ging in seiner Entscheidung zur Zwangsbehandlung im Rahmen der öffentlich-rechtlichen Unterbringung in Mecklenburg-Vorpommern davon aus, dass eine (nach dem dieser Arbeit zugrundeliegenden Verständnis schwach paternalistische) gesetzliche Grundlage für eine Zwangsbehandlung „die krankheitsbedingte Einsichtsunfähigkeit des Betroffenen oder dessen Unfähigkeit zu einsichtsgemäßem Verhalten zur Voraussetzung“ haben muss, vgl. BVerfG, 19.07.2017 – 2 BvR 2003/14 – NJW 2017, 2982. Eine entsprechende Eingriffsgrundlage erfasst dann bereits tatbestandlich lediglich defizitär Entscheidende. Grundlegend anders neben vielen Oswald, nach der eine Regelung bereits dann als schwach paternalistisch einzuordnen ist, wenn der „Schutz einer (jedenfalls indiziert) nicht selbstverantwortlich handelnden Person vor sich selbst“ bezweckt ist, dies., Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 145. 631

190

1. Teil: Grundlegung

tipaternalismus633 führen: Dann ließe sich jede stark paternalistisch wirkende Regelung durch Zuschreibung eines autonomieschützenden Zwecks in einen schwachen Paternalismus ummünzen und einer Rechtfertigung auf dieser Ebene zugänglich machen. Deshalb ist deutlich zwischen schwach paternalistischen Regelun­gen, die allein in defizitäre Entscheidungen eingreifen, und solchen Regelungen zu unterscheiden, die dem Schutz vor defizitären Entscheidungen dienen, aber eine hetero­gene Gruppe von Entscheidungen übergehen, die zum Teil defizitär und zum Teil autonom getroffen werden. Denn soweit das definitorische Verständnis von schwachem Paternalismus und die damit direkt verbundenen Möglichkeiten seiner Rechtfertigung von einer – denkbar willkürlich wählbaren – Ausrichtung der Freiheitsbeschränkung am Autonomieschutz abhinge, würde ein antipaternalistischer Selbstbestimmungsschutz bereits im Ansatz ausgehebelt. Allein das mit-bezweckte und bewirkte Übergehen von autonomen Entscheidungen verleiht Regelungen einen auch stark paternalistischen Charakter, der mit dem Schutz der Betroffenen gegen ihren Willen wie dargelegt634 nicht zu rechtfertigen ist. Inwiefern sich die stark paternalistischen Anteile derartiger Regelungen dennoch mit dem Schutz der defizitär Entscheidenden rechtfertigen lassen, ist eine Frage der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in das Selbstbestimmungsrecht autonom Handelnder, die sich insbesondere aus der Generalisierungsnotwendigkeit gesetzlicher Regelungen ergeben kann und im Folgenden beleuchtet werden soll. 1. Legitimer Zweck: Schutz defizitär Entscheidender Wie dargelegt kann der Schutz defizitär Entscheidender grundsätzlich legitimer Zweck einer diesen gegenüber wirkenden Freiheitsbeschränkung sein. Zugunsten der defizitär Entscheidenden wirken die entsprechenden, bevormundenden Regelungen schwach paternalistisch und sind unter diesem Gesichtspunkt einer Rechtfertigung zugänglich. Der Schutz defizitär Entscheidender bleibt jedoch auch dann legitimer Zweck einer Freiheitsbeschränkung, wenn von entsprechenden Regelungen ebenso autonom Entscheidende erfasst werden. Die Tatsache, dass die bevormundende Regelung gegenüber diesen stark paternalistisch wirkt, macht den Zweck der Regelung nicht illegitim: Vielmehr ist die Beschränkung der Freiheit der autonom Handelnden dann zum Schutz Dritter, namentlich der defizitär Entscheidenden, einer Rechtfertigung zugänglich. Besteht die „Möglichkeit eines Entscheidungsdefizits“, kann der Gesetzgeber grundsätzlich dazu berechtigt sein, „auch solchen Entscheidungen die Wirksamkeit zu versagen, die in Wahrheit nicht defizitär getroffen wurden“.635

633

Siehe dazu soeben unter B. III. Siehe dazu soeben unter B. III. 635 Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 495 (Herv. d. Verf.), der ein erhöhtes Risiko einer defizitären Entscheidung bereits für ausreichend hält, a. a. O., 634

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

191

2. Geeignetheit Derartige Regelungen sind im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ge­ eignet, wenn sie den legitimen Zweck der Regelung zumindest fördern können.636 Dafür müssen sie die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass der Erfolg zumindest teilweise eintritt.637 Regelungen, die der Gefahr von defizitären Entscheidungen begegnen wollen und die auch die Freiheit autonom Entscheidender beeinträchtigen, können dementsprechend nur geeignet sein, soweit tatsächlich eine Gefährdung der Autonomie Einzelner vorliegt und zusätzlich ein Wirkzusammenhang zwischen dem mit der Regelung einhergehenden Freiheitseingriff und dem bezweckten Schutz besteht:638 Ohne diese beiden Aspekte kann eine Zweckförderung nicht stattfinden. Eine Gefährdungslage kann sich jedoch nicht bereits daraus ergeben, dass die Feststellung autonomer Entscheidungen im Rahmen von generalisierenden Regelungen einer zwangsläufigen Unsicherheit ausgesetzt ist: Zwar weist Murmann zu Recht darauf hin, dass es sich bei der Autonomie um einen Lebensbereich handelt, „in dem sich das Vorliegen tatsächlicher Zustände nur über Indizien erschließen läßt“ und „Sicherheit schlechterdings nicht erreichbar ist“.639 Allerdings kann die Tatsache, dass sich die Freiwilligkeit einer Entscheidung niemals gesichert überprüfen lässt, nicht allein Grundlage einer Gefährdungssituation sein, da sich sonst grundsätzlich jedes Verhalten vorsorglich verbieten ließe: Denn die Freiwilligkeit einer Entscheidung kann niemals absolut und letztendlich sicher festgestellt werden kann. Die naturgemäß mit dem Konstrukt der Autonomie verbundene Unsicherheit legt jedoch den Grundstein für die Annahme der Gefahr defizitärer Entscheidungen. Sie konstituiert einen Gefahrenanlass, soweit zusätzliche, konkrete Tatsachen und Anhaltspunkte640 einen drohenden Autonomieausfall indizieren. Eine Regelung, S. 495, 504. Diesbezüglich kritisch Fateh-Moghadam, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 21 (36). 636 Siehe nur etwa Grzeszick, in: Maunz / ​Dürig (Hrsg.), GG, 81. Lfg. 2017, Art. 20 Rn. 112. 637 Grzeszick, in: Maunz / ​Dürig (Hrsg.), GG, 81. Lfg. 2017, Art. 20 Rn. 112. 638 Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 195 f.; dies., in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 94 (99). 639 Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 495. S. auch Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 45 f. 640 Dies fordert auch Fateh-Moghadam für Regelungen, die er als weich paternalistische, objektive Verfügungsverbote bezeichnet, ders., in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 21 (37, 41). Er verlangt zusätzlich einen drohenden irreversiblen Schaden für ein besonders hochwertiges Rechtsgut, a. a. O., S. 41. Im Anschluss an Fateh-Moghadam auch Oswald, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 94 (99). Siehe auch Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 496; Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 45 f. Murmann hält §§ 216 und 228 StGB für derartige Gefährdungsdelikte, bei denen er als Indizien für das Risiko defizitärer Entscheidungen zum einen die Delegation der Ausführung und die „Intensität“ und „fehlende Sinnhaftigkeit“ des Eingriffs ansieht (a. a. O., S. 496 f., 503). Kritisch Fateh-Moghadam, a. a. O., S. 36.

192

1. Teil: Grundlegung

die nicht an das Vorliegen eines Autonomiedefizits anknüpft, sondern an die Gefahr defizitärer Entscheidungen, kann zur Zweckerreichung also nur geeignet sein, soweit ein entsprechender Gefahrenanlass besteht, in dessen Rahmen ein durch konkrete Tatsachen und Anhaltspunkte begründetes Risiko defizitärer Entscheidungen besteht und die Freiheitsbeschränkung nichts in Blaue hinein in einer Konstellation erfolgt, in der die Gefahr defizitärer Entscheidungen ebenso hoch ist wie in jeder anderen, alltäglichen Situation auch. Eine solche Gefahrenprognose liegt zwar grundsätzlich im weiten Beurteilungsspielraum und der Zwecksetzungskompetenz des Gesetzgebers641 – ohne dass aber zumindest ein Regelungsanlass vorliegt, kann eine entsprechende Freiheitseinschränkung weder geeignet sein, noch der zentralen Bedeutung der Selbstbestimmung gerecht werden. Neben dem so umrissenen Gefahrenanlass setzt die Geeignetheit einer entsprechenden Regelung einen Wirkzusammenhang voraus, in dessen Rahmen die in Frage stehende Regelung auch tatsächlich den Schutz vor der Gefahr defizitärer Entscheidungen fördern können muss. 3. Erforderlichkeit Stark paternalistische Auswirkungen lassen sich durch den Schutz der defizitär Entscheidenden rechtfertigen, soweit dieser Schutz erforderlich ist – das heißt, „der Gesetzgeber nicht ein anderes, gleich wirksames aber das Grundrecht nicht oder doch weniger fühlbar einschränkendes Mittel hätte wählen können“.642 a) Differenzierende Regelungen Gegenüber einer Regelung, die Selbstschädigungen zum Schutz defizitär Entscheidender umfassend paternalistisch untersagt, kann zunächst eine Regelung ein milderes, die Grundrechte weniger einschränkendes Mittel darstellen, die zwischen defizitär und autonom Entscheidenden differenziert und bereits tatbestandlich nur gegenüber defizitär und nicht auch gegenüber autonom Handelnden Geltung beansprucht. Denkbar milder ist ferner eine Regelung, im Rahmen derer sich der Einzelne – gleich der Wiederlegung einer Vermutung – der paternalistischen Grundregelung entziehen kann, wenn im Einzelfall positiv feststeht, dass keine Gefahr einer defizitären Entscheidung besteht und Autonomiedefizite nicht vorliegen.643 641

Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 163 f. Siehe nur etwa BVerfG 16.3.1971 – 1 BvR 52/66 u. a. – BVerfGE 30, 292 (316). 643 Siehe zu letzterem ebenso Fateh-Moghadam, der davon ausgeht, dass derartige Gefährdungsverbote, die nicht auf die Überprüfung der Freiwilligkeit ausgerichtet sind, nur verhältnismäßig sein können, soweit sie eine Ausnahmeregelung „für den Fall vorsehen, dass das Vorliegen von Entscheidungsdefiziten im Einzelfall ausgeschlossen werden kann.“, ders., in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 21 (41). 642

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

193

Zwar existieren auch im Rahmen sonstiger Gefährdungsdelikte im Regelfall keine „Ausnahmetatbestände“ für die Widerlegung der Gefahrenvermutung. Die vorliegend beschriebenen Regelungen unterscheiden sich aber auch in einem entscheidenden Punkt von dem klassischen Gefährdungsdelikt: Während bei letzterem unklar ist, ob das abstrakt gefährliche Verhalten im Verlauf des konkreten Falls auch tatsächlich konkret gefährlich wirken wird, steht in den vorliegend diskutierten Fällen bereits fest, ob die entsprechende Gefahr besteht oder nicht, ob es sich also um eine defizitäre Entscheidung handelt oder nicht.644 Anknüpfungspunkt des Gefährdungsschutzes ist nicht der auch aus allwissender Perspektive unklare weitere Gefährdungsverlauf, sondern vielmehr die naturgemäße Schwierigkeit der Feststellbarkeit von Autonomie, die besteht, obwohl die Autonomie der Entscheidung in der Situation – unabhängig von einer möglichen Feststellbarkeit – de facto konkret vorliegt oder nicht vorliegt. Soweit aber die besondere Gefahr defizitärer Entscheidungen im Einzelfall der gesetzlich geregelten Konstellation nicht bestehen kann, fällt auch der Verbotszweck der Regelung vollständig weg: Anders als beim abstrakten Gefährdungsdelikt, bei dem das verbotene Verhalten auch bei Nicht-Eintreten einer Schädigung abstrakt gefährlich bleibt, verschwindet die Gefährlichkeit des Handelns mit dem Nachweis der fehlenden Autonomiebeeinträchtigung in den vorliegend interessierenden Fällen vollumfänglich. Auch wenn die faktische Möglichkeit eines Autonomienachweises grundsätzlich in Frage gestellt werden kann: Jedenfalls soweit in der konkreten Situation keine weitergehenden Zweifel an der Autonomie des Betroffenen bestehen, als sie auch in allen anderen Lebenssituationen in Folge der immer existierenden Feststellungsschwierigkeiten vorliegen, kann eine differenzierende Regelung ein milderes Mittel gegenüber dem verallgemeinernden Ansatz darstellen. Eine solche differenzierende Regelung ist indes nicht in jeder Konstellation gleich wirksam. Vielmehr ist die „Grenze der Steuerungsfunktion des Rechts“ laut Gutmann überschritten, soweit bei Autonomiedefiziten „die abstrakt-generelle Natur des Gesetzes auf unterschiedliche und faktisch unterschiedlich autonome Personen Anwendung finden muss, ohne die nötigen Differenzierungen im Einzelfall vornehmen zu können“.645 Wenn eine mit differenzierenden Regelungen einhergehende Einzelfallprüfung praktisch nicht umsetzbar ist, können diese im Verhältnis zu einem verallgemeinernden Verbot auch nicht gleich wirksam sein. Allein wenn durch den tatbestandlichen Ausschluss autonom Entscheidender oder die Statuierung einer Ausnahmeregelung zugunsten autonom Entscheidender der Dennoch beschreibt Fateh-Moghadam sowohl den von ihm sog. prozeduralen Paternalismus als auch die von ihm sog. Verfügungsverbote wegen des intendierten Schutzes vor unfreiwilligen Entscheidungen als nach der hier verwendeten Terminologie schwach paternalistisch, a. a. O., S. 41; siehe zu Fateh-Moghadams Unterscheidung bereits im ersten Kapitel unter A. V. 8. 644 Fateh-Moghadam, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 21 (36). 645 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (252).

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1. Teil: Grundlegung

intendierte Schutz defizitär Entscheidender nicht beeinträchtigt wird und die Regelung nicht an Schutzeignung einbüßt, wirkt sie bei gleicher Wirksamkeit im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht der autonom Entscheidenden milder, weil sie es nicht mehr beeinträchtigt. Kann die Regelung defizitär Entscheidende unter diesen Umständen jedoch nicht ebenso wirkungsvoll schützen, ist die Bevormundung autonom Entscheidender gleichsam als Preis der Verallgemeinerung erforderlich. Dementsprechend ist auch das Bundesverfassungsgericht davon ausgegangen, dass „gewisse Härten für Einzelne in Kauf genommen werden, da ein Gesetz, das seiner Natur nach typisieren muß, nicht alle Einzelfälle berücksichtigen kann und fast immer mit anderen Interessen in Konflikt gerät; es genügt, wenn es eine für möglichst viele Tatbestände angemessene Regelung schafft.“646 b) Überprüfung der Autonomie: Verfahrenspaternalismus Als im Verhältnis zu einem umfassenden Verbot milderes Mittel kommt außerdem die Überprüfung der Freiwilligkeit der zugrundeliegenden Verfügungsentscheidung in Betracht647  – in Form eines sogenannten Verfahrenspaternalismus, in dessen Rahmen ein der eigentlich in Frage stehenden Entscheidung vorgelagerter Eingriff zur Erforschung der Autonomie stattfindet.648 Doch auch die Regelung einer solchen Überprüfung kann dem umfassenden Verbot einer Verfügung, das defizitär wie autonom Entscheidende in ihrer Freiheit beeinträchtigt, nur dann die Erforderlichkeit nehmen, soweit es ebenso wirksam ist. Diesbezüglich gilt das soeben Gesagte: Soweit eine verfahrenspaternalistisch vorgeschaltete Überprüfung der Freiwilligkeit den Schutz beeinträchtigt, müssen die mit dem umfassenden Verbot einhergehenden Freiheitsbeschränkungen auch gegenüber autonom Entscheidenden hingenommen werden.

646

BVerfG 29.11.1961 – 1 BvR 758/57 – BVerfGE 13, 230 (236). So auch einer der Beschwerdeführer in dem Verfahren vor dem BVerfG, in dem die Verfassungsmäßigkeit der Spenderkreisbeschränkung im TPG in Frage stand (dazu im dritten Kapitel unter C. II.). Er hielt die Eingrenzung des Spenderkreises zur Sicherung der Freiwilligkeit nicht für erforderlich, da die kommissionelle Überprüfung der gesetzlichen Voraussetzungen in jedem Einzelfall ein milderes, gleich geeignetes Mittel darstelle, BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – juris, Rn. 18; s. a. Spranger, Recht und Bioethik, 2010, S. 393. Auch Oswald geht im Rahmen der Erforderlichkeit solcher Maßnahmen davon aus, dass Information und Aufklärung mildere Mittel darstellen können, ebenso wie prozedurale Eingriffe gegenüber Verfügungsverboten, dies., Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 145 f. unter Bezugnahme auf Fateh-Moghadam, in: Fateh-Moghadam / ​ Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 21 (40). 648 Siehe dazu bereits im ersten Kapitel unter A. V. 8. 647

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

195

4. Verhältnismäßigkeit i. e. S. Regelungen, die autonom Entscheidende zum Schutz defizitär Entscheidender bevormunden, sind dann verhältnismäßig i. e. S., wenn im Rahmen einer Abwägung die zu schützende Integrität der defizitär Entscheidenden gegenüber dem beeinträchtigten Selbstbestimmungsrecht der autonom Entscheidenden überwiegt. Insoweit kann eine Rolle spielen, ob das Ausmaß der Gefahr zur Schwere des Eingriffs und dem Gewicht der in Frage stehenden Rechtsgüter in einem angemessenen Verhältnis steht.649 5. Resümee Im Ergebnis kann der Schutz defizitär Entscheidender also nicht nur Regelungen legitimieren, die gegenüber defizitär Entscheidenden wirken, sondern auch solche, die gegenüber autonom Entscheidenden Wirkung entfalten. Trotz ihrer stark paternalistischen Auswirkung im Einzelfall können solche Regelungen durch den Schutz defizitär Entscheidender gerechtfertigt werden. Für die Geeignetheit einer solchen Regelung ist bedeutsam, dass im Hinblick auf defizitäre Entscheidungen ein gewisser Gefahrenanlass und zwischen Gefahrverhütung und Regelung ein Wirkzusammenhang besteht. Eine verallgemeinernde Regelung kann dann auch erforderlich sein, wenn mildere Mittel in Form einer differenzierenden Regelung oder einer verfahrenspaternalistischen Überprüfung der Autonomie der zugrundeliegenden Entscheidung keinen im Verhältnis zur umfassenden Verbotsnorm gleich wirksamen Schutz defizitär Entscheidender bieten können. Überwiegt die zu schützende Integrität der defizitär Entscheidenden gegenüber dem beeinträchtigten Selbstbestimmungsrecht der autonom Entscheidenden, kann eine solche Regelung auch verhältnismäßig i. e. S. sein. An der grundsätzlich bestehenden verfassungsrechtlichen Unzulässigkeit von starkem Paternalismus vermag dies nichts zu ändern: Die Rechtfertigung erfolgt insoweit nicht auf Grundlage des Schutzes autonom Entscheidender, sondern auf Grundlage des Schutzes defizitär Entscheiden­der. Die stark paternalistischen Auswirkungen müssen unter den genannten Voraussetzungen im Rahmen eines zwangsläufig abstrakt-generellen Regelungssystems hingenommen werden. 6. Rechtfertigung des paternalistischen Schutzes Minderjähriger Wie bereits dargestellt, schützen auch die spezifischen Regelungen für Minderjährige, vornehmlich in den §§ 104 ff. BGB sowie im Rahmen der Regelungen des Jugendschutzgesetzes und des Jugendarbeitsschutzgesetzes, die Betroffenen (auch) 649

Siehe zu den letztgenannten Kriterien auch Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 146 f.

196

1. Teil: Grundlegung

gegen ihren Willen.650 Der gesetzliche Minderjährigenschutz lässt sich ebenfalls unter den soeben aufgezeigten Gesichtspunkten des Schutzes defizitär Entscheidender rechtfertigen. Dies gilt, obwohl er sich nicht ohne Weiteres dem schwach paternalistischen Schutz Nicht-Einsichtsfähiger zuordnen lässt: Denn weder leidet per se jeder Minderjährige zwingend unter einem alters- und entwicklungsbedingten Autonomiedefizit, noch wird jeder von einem solchen mit Vollendung der gesetzlichen Altersgrenze automatisch frei. Die Volljährigkeitsgrenze knüpft nicht an die tatsächlichen Begebenheiten an, sondern begründet eine gesetzgeberische Vermutung. Die Regelungen zum Minderjährigenschutz gelten somit auch zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen, die trotz Verbleibens unter der jeweiligen gesetzlichen Altersgrenze zu freiverantwortlichem und autonomen Handeln in der Lage sind. Soweit Kinder und Jugendliche tatsächlich nicht einsichtsfähig sind, lassen sich paternalistische Eingriffe des Minderjährigenschutzes wie die beschriebenen Fälle fehlender Einsichtsfähigkeit mit dem Schutz der Betroffenen auch gegen ihren Willen schwach paternalistisch rechtfertigen. Ebenso lässt sich die stark paternalistische Bevormundung von Kindern und Jugendlichen, die de facto vollumfänglich autonom entscheiden können, unter dem Gesichtspunkt des Schutzes des einzelnen, defizitär entscheidenden Minderjährigen rechtfertigen:651 Grundsätzlich sind Regelungen des Minderjährigenrechts zum Schutz defizitär Handelnder geeignet: Bei einer Anknüpfung paternalistischer Regelungen an die Minderjährigkeit besteht zum einen der geforderte Gefahrenanlass, denn es besteht eine naheliegend hohe Wahrscheinlichkeit, dass Kinder und Jugendliche entwicklungsbedingte Autonomiedefizite aufweisen. Untersagt man den Minderjährigen gefährliche Handlungen oder die Eingehung rechtlicher Verbindlichkeiten besteht zum anderen auch der geforderte Wirkzusammenhang zwischen der Gefahr der fehlenden Einsichtsfähigkeit und der schützenden Regelung, die dieser Gefahr durch Verbote und Unwirksamkeitsregelungen begegnen kann. Als milderes Mittel kommt im Minderjährigenrecht mangels gleicher Wirksamkeit auch keine Statuierung einer Einzelfallausnahme oder die einzelne verfahrenspaternalistische Freiwilligkeitsüberprüfung in Betracht. Denn zum einen deckt der Schutz Minderjähriger alle Lebensbereiche und alle rechtlichen Kontakte ab, so dass die Kreation von Ausnahme- und Überprüfungsregelungen schon in der Umsetzung undenkbar ist: Insbesondere Massengeschäfte des täglichen Lebens müssen sich notwendigen gesetzlichen Generalisierungen unterwerfen; eine Einzelfallregelung und überprüfung könnte weder in jeder Situation greifen, noch einen gleichwertigen Schutz gewähren. Um einen wirksamen Schutz zu ermöglichen, müssen entsprechende Einschränkungen vielmehr auch gegenüber Minderjährigen gelten, 650

Siehe dazu bereits im ersten Kapitel unter B. III. 3. Abweichend geht Fateh-Moghadam in Zusammenhang mit einer dem Minderjährigenschutz dienenden Regelung im TPG davon aus, dass diese einen Gefährdungstatbestand darstelle, „der dem Schutz vor möglicherweise defizitären Entscheidungen Minderjähriger dient“, ders., Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 243. Siehe dazu auch Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 122–125. 651

2. Kap.: Ethische und verfassungsrechtliche Beurteilung

197

die im Einzelfall entgegen der gesetzlichen Vermutung in der Lage sind autonom zu handeln. Eine pauschale Festlegung der Altersgrenze, bis zu der Kinder und Jugendliche rechtlich bevormundet werden, ist zur Erfüllung der staatlichen Schutzund Erziehungsaufgabe erforderlich.652 Auch an der Angemessenheit entsprechender Regelungen besteht kein Zweifel: Wegen der greifbaren Gefährdung der Selbstbestimmung und daraus folgender Gefährdung der Integrität Minderjähriger erscheint die Beeinträchtigung der Freiheit und stark paternalistisch wirkende Bevormundung gegenüber den autonom entscheidenden Minderjährigen, die naturgemäß mit entsprechenden (insbesondere Stichtags-) Regelungen einhergehen, grundsätzlich als verhältnismäßig i. e. S.653

VI. Resümee: Verfassungswidrigkeit von starkem und Verfassungsmäßigkeit von schwachem Paternalismus Im Ergebnis bleibt somit festzuhalten, dass das Grundgesetz mittels der allgemeinen Handlungsfreiheit jedes menschliche Verhalten schützt – und damit grundsätzlich auch die Freiheit, sich selbst Schaden zuzufügen, die regelmäßig durch paternalistische Regelungen beeinträchtigt wird.654 Dieser grundrechtliche Schutz selbstschädigenden Verhaltens wird auf Schutzbereichsebene weder durch „Grundpflichten“ noch durch Verfügungsverbote über eigene Rechtsgüter beschränkt.655 Der daher mit stark paternalistischen Regelungen einhergehende Eingriff (zumindest) in die allgemeine Handlungsfreiheit des Bevormundeten lässt sich nicht verfassungskonform mit stark paternalistischen Motiven – also dem Schutz gegen den eigenen autonomen Willen – rechtfertigen: Eine solche Ausrichtung kann unter der selbstbestimmungsorientierten Konzeption des Grundgesetzes kein legitimer Zweck einer Freiheitseinschränkung sein. Vielmehr sind freiheitsrechtliche Beschränkungen allein zum Schutz der Rechte, Rechtsgüter und Interessen Dritter 652 Mit anderem Ansatz im Ergebnis so auch Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 124 f.; Schwabe, JZ 1998, 66 (70). 653 So im Ergebnis auch Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 122. Das BVerfG geht davon aus, dass entsprechende Eingriffe durch die „Annahme der mangelnden Einsichtsfähigkeit oder jedenfalls mangelnden grundsätzlichen Einsichtsbereitschaft eines nicht unerheblichen Teils der Minderjährigen bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres“ gerechtfertigt seien, BVerfG 21.12.2011 – 1 BvR 2007/10 – NJW 2012, 1062 (1064). Als Maßstab für die Rechtfertigung der Härten, die mit Stichtagsregelungen grundsätzlich unvermeidlicher- und notwendigerweise einhergehen, ist nach dem BVerfG entscheidend, ob der Gesetzgeber den ihm bei der Stichtagsregelung zukommenden Gestaltungsfreiraum in sachgerechter Weise genutzt hat, ob er die für die zeitliche Anknüpfung in Betracht kommenden Faktoren hinreichend gewürdigt hat und ob sich die gefundene Lösung im Hinblick auf den gegebenen Sachverhalt und das System der Gesamtregelung durch sachliche Gründe rechtfertigen lässt oder als willkürlich erscheint, st. Rspr., vgl. nur etwa BVerfG 7.7.1992 – 1 BvL 51/86 – BVerfGE 87, 1 (47); aus neuerer Zeit BVerfG 11.11.2008 – 1 BvL 3/05 – BVerfGE 122, 151. 654 Siehe dazu unter B. I. 655 Siehe dazu unter B. II.

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1. Teil: Grundlegung

und der Allgemeinheit denkbar.656 Anders stellt sich diese verfassungsrechtliche Beurteilung hingegen dar, soweit die selbstschädigende Handlung des Einzelnen nicht auf einer autonomen Entscheidung beruht: Trotz des grundrechtlichen Schutzes, den sein auf Autonomiedefiziten basierendes Verhalten weiterhin genießt, lässt sich der mit einer schwach paternalistischen Regelung einhergehende Freiheitseingriff mangels entgegenstehender Selbstbestimmung nunmehr mit dem Schutz seiner Integrität rechtfertigen.657 Dieser Schutz defizitär Entscheidender kann weitergehend auch Regelungen rechtfertigen, die bevormundend in die Freiheit autonom Entscheidender eingreifen. Die Rechtfertigung dieser stark paternalistisch wirkenden Eingriffe zum Schutze der defizitär Entscheidenden sehen sich jedoch strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen ausgesetzt.658

656

Siehe dazu unter B. III. Siehe dazu unter B. IV. 658 Siehe dazu unter B. V. 657

Zweiter Teil

Paternalismus im Biomedizinrecht Nach der abstrakten, begriffstheoretischen, moralphilosophischen und verfassungsrechtlichen Auseinandersetzung mit Paternalismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen widmet sich der folgende zweite Teil dieser Arbeit der konkreten Untersuchung und Betrachtung möglicherweise paternalistischer Regelungen auf dem Gebiet des Biomedizinrechts. Die Fokussierung auf dieses Rechtsgebiet basiert auf der dort anzutreffenden besonderen Häufung paternalistischer Regelungen. Gegenstände des Biomedizinrechts sind „Forschung, Lehre, therapeutische Konzepte und Behandlungsmethoden der Humanmedizin, die sich […] von den Erkenntnissen und Anwendungsbereichen der Humanbiologie auf den Menschen im Zusammenhang mit Beginn und Ende seines Lebens beziehen“1 sowie „[a]us der Spanne zwischen Leben und Tod […] diejenigen medizinischen Maßnahmen […], die einen besonderen Bezug zur Bioethik haben, wie insbesondere Transplantation und klinische Versuche“.2 Die Akkumulation paternalistischer Regelungen auf diesem Gebiet beruht auch auf der besonderen Schutzbedürftigkeit der Betroffenen in den normierten Bereichen: Nicht nur finden sich Menschen dort regelmäßig in Situationen, die mit einer Beeinträchtigung oder Gefährdung der Autonomie einhergehen – häufig stehen auch Leben und körperliche Unversehrtheit in Konstellationen auf dem Spiel, die gerade für den medizinischen Laien nicht immer vollumfänglich durchdringbar und kontrollierbar sind. Die Kombination aus der Komplexität der Gefährdungssituationen und der großen Bedeutung der betroffenen Rechtsgüter legt deshalb einen Schutz der Betroffenen, gegebenenfalls auch gegen ihren Willen, besonders nahe. Die unter diesem Aspekt besonders hervorstechenden biomedizinrechtlichen Vorschriften aus dem Transplantationsgesetz, dem Arzneimittelgesetz und dem Embryonenschutzgesetz3 sollen im Folgenden einer konkreten, verfassungsrecht 1

Quaas / ​Zuck, Medizinrecht, 3. Aufl. 2014, § 66 Rn. 4. Quaas / ​Zuck, Medizinrecht, 3. Aufl. 2014, § 66 Rn. 4. 3 Stark und schwach paternalistische Regelungen enthält jedoch etwa auch das Gendiagnostikgesetz (GenDG), in Form der Vorschrift zur Qualitätssicherung (§ 5 GenDG), des Arztvorbehalts (§ 7 GenDG), der Regelungen zu Einwilligung und Aufklärung (§§ 8, 9 GenDG) sowie der Sonderregelungen für Nicht-Einwilligungsfähige (§ 14 GenDG). Ebenso können die Verwendungsverbote genetischer Untersuchungen für Versicherungen und Arbeitgeber in §§ 18, 19 GenDG die Betroffenen auch gegen ihren Willen schützen und daher paternalistisch wirken. Siehe zu moralisch-liberalem Paternalismus im GenDG Begemann, Der Zufallsfund im Medizin- und Gendiagnostikrecht, 2015, S. 155–157, 229–233; zur paternalistischen Wirkung der Kontrolle des Zugangs zu prädiktiven genetischen Tests ohne konkreten Bezug zum GenDG 2

200

2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

lichen Untersuchung anhand der soeben abstrakt entworfenen Maßstäbe4 unterzogen werden. Dafür soll jeweils zunächst der Regelungsinhalt sowie der durch Auslegung zu ermittelnde „objektiv erkennbare Normzweck“5 und die Wirkweise der Regelungen dargelegt werden, die für die Einordnung als paternalistisch von Bedeutung sind. Die sich anschließende verfassungsrechtliche Untersuchung kann sodann Aufschluss darüber geben, welche weiteren, speziellen Grundrechte durch paternalistische Regelungen berührt werden können. Auch eine Auseinandersetzung mit den nicht-paternalistischen Regelungsanteilen wird relevant werden: Da der Schutz gegen den eigenen Willen regelmäßig nicht alleinige Basis einer Freiheitsbeschränkung ist, ist die Betrachtung der außerpaternalistischen Regelungszwecke in doppelter Hinsicht mit einem Erkenntnisgewinn verbunden: Erweisen sie sich als nicht tragfähig, können sie zunächst einen Hinweis darauf geben, dass der eigentliche Grund der Beschränkung paternalistischer Natur ist, was durch die anderen Aspekte verschleiert werden soll. Ferner kann bei fehlender Tragfähigkeit außerpaternalistischer Regelungszwecke deutlich werden, dass es für die Verfassungsmäßigkeit einer solchen Regelung auf die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Paternalismus ankommt, auch wenn sich die Regelung – möglicherweise vermeintlich – auch auf weitere Zwecke stützt.6 Für Auslegung, Verständnis und Rechtfertigung der Regelung sind die paternalistischen Anteile somit immer von Bedeutung:7 „Entscheidend ist also nicht der Charakter eines Gesetzes als paternalistisch oder nicht, sondern, ob sich der Staat zur (Teil)Rechtfertigung einer Freiheitsbeschränkung auf den Regelungszweck, den Einzelnen vor sich selbst zu schützen, berufen kann.“8

Drittes Kapitel

Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz Die wohl prägnantesten und umstrittensten Beispiele für paternalistische Vorschriften finden sich im Transplantationsgesetz vom 1.12.1997. Das Transplantationsgesetz regelt die Postmortal- und die Lebendspende und -entnahme und die Übertragung von Organen und Geweben (§ 1 TPG). Adressatinnen der Vorschriften sind sowohl die Organspenderinnen und -empfängerinnen als auch die behandelnVossenkuhl, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 163 (174 f.). 4 Siehe dazu im zweiten Kapitel unter B. 5 Epping, Grundrechte, 7. Aufl. 2017, Rn. 50; ähnlich Sachs, Verfassungsrecht II, 3. Aufl. 2017, Kapitel 10 Rn. 34. Siehe dazu auch im ersten Kapitel unter A. III. 1. a). 6 Dazu auch Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 14; Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 15. 7 Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 14. 8 Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 15.

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

201

den Ärztinnen. Das Gesetz ist zentral auf den Ausgleich zwischen dem Schutz der Spenderin und dem Schutz der Empfängerin ausgerichtet.9 Im Fokus der Betrachtung paternalistischer Anteile des Transplantationsgesetzes stehen die Regelungen zur Lebendspende von Organen und Geweben: Ein Schutz gegen den Willen der Spenderin ist zwar grundsätzlich auch in Zusammenhang mit der postmortalen Spende denkbar, gegenüber einer Toten im Ansatz aber eher fernliegend: Auch wenn dieser ein postmortales Persönlichkeitsrecht und ein postmortaler Würdeschutz zukommt,10 muss ein gesetzgeberischer Paternalismus in Form der grundrechtsrelevanten Beeinträchtigung des Selbstbestimmungsrechts mangels Existenz eines aktuellen Willens ausscheiden. Im Bereich der postmortalen Spende ist jedoch der paternalistische Schutz der Organempfängerin möglich – so zum Beispiel im Bereich des Organhandels, soweit die Empfängerin vor finanzieller Ausbeutung ihrer verzweifelten Lage geschützt werden soll.11 Von besonderer Prägnanz sind paternalistische Ansätze jedoch qua Natur der Sache im Bereich der Lebendspende, bei welcher es naheliegt, sowohl die potentielle Spenderin vor der Beeinträchtigung ihrer körperlichen Integrität als auch die potentielle Empfängerin etwa in Organhandelskonstellationen vor finanzieller Ausbeutung zu schützen. Die diesbezüglichen Vorschriften stehen deshalb im Zentrum der folgenden Untersuchung.

A. Lebendorganspende in der Praxis In der Praxis kommt der Lebendspende insbesondere in Anbetracht des eklatanten Organmangels eine große Bedeutung zu:12 Den im Jahr 2017 auf eine Niere wartenden 10.663 Personen im Gebiet von Eurotransplant13 (7.620 in Deutschland) stehen 3.126 Nieren gegenüber (1.383 in Deutschland), die im selben Jahr nach einer postmortalen Spende transplantiert wurden.14 2017 kam es im gesamten Gebiet von Eurotransplant zu lediglich 1.292 und in Deutschland zu 557 Lebendspenden von Nieren.15 In Deutschland warten damit derzeit beinahe viermal mehr

9

Schroth, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (470). 10 Vgl. dazu etwa Herdegen, in: Maunz / ​Dürig (Hrsg.), GG, 81.  Lfg. 2017, Art. 1 Abs. 1 Rn. 56–58. 11 Dazu im Folgenden unter C. I. 3. b) aa). 12 Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 6; Breyer et al., Organmangel, 2006, S. 33–39; Scheinfeld, Organtransplantation und Strafrechtspaternalismus, 2016, S. 36–50; Zillgens, Die strafrechtlichen Grenzen der Lebendorganspende, 2004, S. 69 f. 13 Dies umfasst die Teilnahmestaaten Österreich, Belgien, Kroatien, Deutschland, Ungarn, Luxemburg, Niederlande und Slowenien, vgl. http://www.eurotransplant.org/cms/index.php?​ page=about_brief (zuletzt abgerufen am 1.3.2018). 14 Zahlen von http://statistics.eurotransplant.org/ (zuletzt abgerufen am 1.3.2018). 15 Zahlen von http://statistics.eurotransplant.org/ (zuletzt abgerufen am 1.3.2018).

202

2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

Menschen auf eine Nierentransplantation, als Nieren vermittelt werden können.16 Da selbst bei größtmöglicher Nutzbarmachung der Postmortalspende im Hinblick auf Melde- und Zustimmungsraten in Deutschland ein Mangel an Nierentransplantaten bestünde,17 verdeutlichen diese Zahlen die Notwendigkeit einer Ausweitung der Lebendspenden von Nieren. In Deutschland werden nahezu ausschließlich Nieren und Lebersegmente lebend transplantiert.18 Insbesondere die Lebendspende von Nieren gewinnt immer mehr an Bedeutung:19 Der Anteil der Lebendspenden bei transplantierten Nieren ist zwischen 2003 und 2016 von 16,1 % auf 28,5 % gestiegen.20 Denn gerade der Nierenlebendspende kommen gegenüber der postmortalen Nierenspende enorme Vorteile zu: Die Fünf-Jahres-Transplantat-Funktionsrate bei Lebendspenden ist mit 87,2 % deutlich höher als die entsprechende Rate postmortal gespendeter Nieren (71,1 %),21 was insbesondere auf die kürzere Unterbrechung der Durchblutung des Organs (Ischämiezeit) bei der Lebendspende zurückzuführen ist.22 Durch eine Lebendspende kann zudem die durchschnittliche Wartezeit auf eine postmortal gespendete Niere von derzeit sechs bis sieben Jahren23 signifikant verkürzt werden, was einer Verschlechterung des körperlichen Gesamtzustands der Patientinnen durch eine entsprechend längere Dialysebehandlung vorbeugt.24 Ferner wird die Transplantation bei der Lebendspende zu einem im Voraus planbaren Eingriff; bei einer entsprechend passgenauen Kombinierung von Spenderin und Empfängerin 16 Die Deutsche Stiftung Organspende spricht davon, dass dreimal mehr Menschen auf die Vermittlung einer Nierentransplantation warten als Nieren vermittelt werden können, vgl. http:// www.dso.de/organspende-und-transplantation/warteliste-und-vermittlung.html (zuletzt abgerufen am 1.3.2018). 17 Breyer et al., Organmangel, 2006, S. 41–48, 123. 18 http://statistics.eurotransplant.org/ (zuletzt abgerufen am 1.3.2018); klinisch möglich, aber wenig etabliert sind auch Lebendtransplantationen von Teilen der Bauchspeicheldrüse, des Dünndarms und der Lunge, Zillgens, Die strafrechtlichen Grenzen der Lebendorganspende, 2004, S. 120. 19 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, Vor § 8 Rn. 1; mit älteren Zahlen zur Lebendspende allgemein ebenso Esser, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 1. Aufl. 2003, § 8 Rn. 2. 20 Vgl. zu den Werten den Jahresbericht der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) 2016, S. 80; Jahresbericht der DSO 2012, S. 32. Abrufbar unter http://www.dso.de/ servicecenter/ (zuletzt abgerufen am 1.3.2018). Der Anteil der Lebendspenden bei Lebertransplantationen lag im Jahr 2016 bei knapp 6 %, Jahresbericht DSO 2016, a. a. O., S. 82. 21 Jahresbericht der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) 2012, S. 32. Abrufbar unter http://www.dso.de/servicecenter/ (zuletzt abgerufen am 1.3.2018). Bei der Lebersegment­ spende liegt die 5-Jahres-Funktionsrate von Lebendtransplantaten bei 58,9 % im Gegensatz zu 53,4 % bei Postmortalspenden, a. a. O. S. 41. 22 Jahresbericht der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) 2012, S. 32. Abrufbar unter http://www.dso.de/servicecenter/ (zuletzt abgerufen am 1.3.2018). 23 So die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO), https://www.dso.de/organspendeund-transplantation/warteliste-und-vermittlung/niere.html (zuletzt abgerufen am 1.3.2018). 24 Jahresbericht der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) 2012, S. 32. Abrufbar unter http://www.dso.de/servicecenter/ (zuletzt abgerufen am 1.3.2018). Siehe dazu auch Breyer et al., Organmangel, 2006, S. 31. Zu den vielgestaltigen Nachteilen der Dialyse s. a. Zillgens, Die strafrechtlichen Grenzen der Lebendorganspende, 2004, S. 69 m. w. N.

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

203

muss die Patientin zudem nur mit einer geringeren Dosierung von Immunsuppressiva behandelt werden.25 In Anbetracht des massiven Organmangels ist jedoch unabhängig von den konkreten Vorteilen für die einzelne Empfängerin insbesondere auch die Vermehrung der Gesamtzahl von Spenderorganen durch die Lebendspende für all diejenigen, die ein Spenderorgan benötigen, von möglicherweise lebensrettender Bedeutung. Die negativen Auswirkungen der Lebendspende für die Spenderinnen selbst halten sich demgegenüber in sehr überschaubaren Grenzen: In Anbetracht der relativ geringen Gefährlichkeit der Lebendnierenspende selbst führt insbesondere das allgemeine Operationsrisiko zu einer Mortalität von 0,025–0,03 %;26 da vornehmlich gesunde Menschen Nieren spenden, sind schwere Komplikationen zudem selten.27 Allein bei 0,2–0,5 % der Spenderinnen kommt es im Laufe ihres Lebens zu terminalem Nierenversagen.28 Statistisch gleichen die gesundheitlichen Vorteile im Ergebnis die minimalen Risiken einer Lebendspende aus: Denn die Langzeit-Lebenserwartung von Nierenlebendspenderinnen ist gegenüber der Gesamtbevölkerung sogar erhöht, was wohl auf die intensive Nachbehandlung und das größere Gesundheitsbewusstsein der Spenderinnen zurückzuführen ist.29 Nach der Einführung von § 44a SGB V im Jahr 2012 steht den Spenderinnen von Organen und Geweben zudem ein besonderer Krankengeldanspruch zu, der – im Gegensatz zum Krankengeld in sonstigen Fällen – in voller Höhe des Nettoarbeitsentgelts geleistet wird, um dem dem Gemeinwohl dienenden Einsatz der Spenderinnen gerecht zu werden.30

B. Regulierung der Lebendorganspende Bevor sich der Untersuchung einzelner Vorschriften zugewandt wird, soll zunächst ein Überblick über die Regulierung der Lebendspende im deutschen Transplantationsrecht gegeben werden. Neben dem in § 17 TPG statuierten Verbot, mit Organen oder Geweben, die der Heilbehandlung einer anderen zu dienen bestimmt sind, Handel zu treiben,31 regelt § 8 TPG die Zulässigkeit der Entnahme von Organen und Geweben von einer lebenden Spenderin. § 8 Abs. 1 S. 1 TPG schreibt vor, dass die Entnahme von Organen oder Geweben zum Zwecke der Übertragung 25 Esser, Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 3; Zillgens, Die strafrechtlichen Grenzen der Lebendorganspende, 2004, S. 76; zum Ganzen Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 5 m. w. N. 26 Breyer et al., Organmangel, 2006, S. 30; Henne-Bruns / ​Kaatsch, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 1. Aufl. 2003, Anhang 1 zu § 8 Rn. 11–15. 27 Sommerer et al., Nephrology Dialysis Transplantation, 2004, suppl 4, S. iv45. 28 Sommerer et al., Nephrology Dialysis Transplantation, 2004, suppl 4, S. iv45 (iv45 f.). 29 Sommerer et al., Nephrology Dialysis Transplantation, 2004, suppl 4, S. iv45 (iv45–iv47). 30 BT-Drs. 17/9773, S. 39; siehe auch etwa Waltermann, in: Knickrehm / ​Kreikebohm / ​Waltermann (Hrsg.), Sozialrecht, 5. Aufl. 2017, § 44a SGB V Rn. 1. 31 Dazu im Folgenden unter C. I.

204

2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

auf andere bei einer lebenden Person nur zulässig ist, wenn die Person volljährig und einwilligungsfähig ist (Nr. 1 a)),32 über die Entnahme gemäß der in § 8 Abs. 2 TPG genannten Anforderungen aufgeklärt wurde und in die Entnahme eingewilligt hat (Nr.  1 b)),33 nach ärztlicher Beurteilung als Spenderin geeignet ist und voraussichtlich nicht über das Operationsrisiko hinaus gefährdet oder über die unmittelbaren Folgen der Entnahme hinaus gesundheitlich schwer beeinträchtigt wird (Nr. 1 c)).34 Ferner muss die Übertragung des Organs nach ärztlicher Beurteilung geeignet sein, das Leben der Empfängerin zu erhalten, bei ihr eine schwerwiegende Krankheit zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Beschwerden zu lindern (Nr.  2);35 zudem darf kein geeignetes Organ von einer verstorbenen Spenderin zur Verfügung stehen (Nr. 3)36 und der Eingriff muss von einer Ärztin vorgenommen werden (Nr. 4).37 Nach § 8 Abs. 1 S. 2 TPG ist die Entnahme einer Niere, des Teils einer Leber oder anderer nicht regenerierungsfähiger Organe darüber hinaus nur zulässig zum Zwecke der Übertragung auf Verwandte ersten oder zweiten Grades, Ehegatten, eingetragene Lebenspartnerinnen, Verlobte oder andere Personen, die der Spenderin in besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig nahestehen.38 Die Entnahme darf nach § 8 Abs. 3 TPG erst durchgeführt werden, nachdem sich die Spenderin und die Empfängerin zur Teilnahme an einer ärztlich empfohlenen Nachbetreuung bereit erklärt haben (S. 1)39 und die nach Landesrecht zuständige Kommission gutachtlich dazu Stellung genommen hat, ob begründete tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Einwilligung in die Organspende nicht freiwillig erfolgt oder das Organ Gegenstand verbotenen Handeltreibens nach § 17 TPG ist (S. 2).40 Außerhalb gerichteter Spenden innerhalb der genannten Verwandtschafts- und Näheverhältnisse sind Lebendspenden in Deutschland somit unzulässig – das gilt für nicht gerichtete Spenden, etwa an eine Warteliste, anonymen Spenden sowie für gerichtete Spenden an Personen außerhalb der zulässigen Näheverhältnisse. Unzulässig sind ferner Lebendspendemodelle wie „Poolspenden“, bei denen eine Spende zugunsten einer spendesolidarisch organisierten Gruppe erfolgt.41 Allein die sogenannte Überkreuz-Lebendspende kann laut Bundessozialgericht unter bestimmten Voraussetzungen, die im Folgenden noch dargelegt werden,42 gemäß

32

Dazu im Folgenden unter C. III., C. IV. Dazu im Folgenden unter C. V., C. VI. 34 Dazu im Folgenden unter D. II. 35 Dazu im Folgenden unter D. III. 36 Dazu im Folgenden unter D. I. 37 Dazu im Folgenden unter C. VII. 38 Dazu im Folgenden unter C. II. 39 Dazu im Folgenden unter D. IV. 40 Dazu im Folgenden unter D. V. 41 Zillgens, Die strafrechtlichen Grenzen der Lebendorganspende, 2004, S. 130. Siehe dazu im Folgenden unter C. II. 1. b) und C. II. 5. 42 Siehe dazu unter C. II. 1. b). 33

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

205

§ 8 Abs. 1 S. 2 TPG zulässig sein.43 Medizinisch kommt eine Überkreuz-Lebendspende grundsätzlich dann in Betracht, wenn eine transplantationsbedürftige Patientin eine mögliche Nierenspenderin zur Verfügung hätte, die rechtlich zu dem nach § 8 Abs. 1 S. 2 TPG zulässigen Spenderkreis gehört, die aber aus medizinischen Gründen, beispielsweise in Folge einer Blutgruppeninkompatibilität, nicht als Spenderin in Frage kommt. Findet sich in dieser Situation ein anderes „Transplantationspaar“, bei dem die potentielle Nierenspenderin der nierenkranken Partnerin ihr Organ ebenfalls aus medizinischen Kompatibilitätsgründen nicht spenden kann und passen die potentiellen Spenderinnen medizinisch mit der jeweiligen transplantationsbedürftigen Patientin des anderen Paars zusammen, kommt eine Überkreuz-Lebendspende der beiden gesunden Partnerinnen an die spende­bedürftige, medizinisch kompatible Partnerin des anderen Paares in Betracht. Die Einzelne entscheidet sich in dieser Situation somit für eine Organspende an eine (potentiell mehr oder weniger) Fremde – vor dem Hintergrund, dass die Partnerin dieser Fremden wiederum der eigenen Partnerin ein (kompatibles) Organ spendet.44 Im internationalen Vergleich, insbesondere in den Vereinigten Staaten, sind Lebendspendemodelle wie die Überkreuz-Lebendspende, Poolspenden sowie die anonyme nicht-gerichtete Spende deutlich weniger restriktiv geregelt und von zentraler, praktischer Bedeutung.45

C. Strafbewehrte paternalistische Regelungen im Transplantationsgesetz Die rechtliche Regelung der Lebendspende von Organen sieht sich verschiedenen Herausforderungen ausgesetzt: Zunächst entzieht sie sich dem üblichen, rechtlichen Bewertungsmaßstab ärztlicher Behandlungen, da sie der Spenderin als Patientin selbst (körperlich) nicht nützt. Jedenfalls soweit man davon ausgeht, dass es trotz Einwilligung der Betroffenen zu einer Schädigung derselben kommt, kann einer Organentnahme aus ärztlicher Perspektive der Grundsatz „primum non nocere“  – „zuerst einmal nicht schaden“  – entgegenstehen.46 Bei der Regelung der Lebendspende besteht zudem ein Konflikt zwischen dem Schutz der Spenderin 43

BSG 10.12.2003 – B 9 VS 1/01 R – BSGE 92, 19 (20). Siehe dazu Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 261; Gutmann / ​Schroth, Organlebendspende in Europa, 2002, S. 6 f.; Schroth, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (489); Spranger, Recht und Bioethik, 2010, S. 387; ders., in: Breyer / ​Engelhard (Hrsg.), Anreize zur Organspende, 2006, S. 111 (122); Zillgens, Die strafrechtlichen Grenzen der Lebendorganspende, 2004, S. 143. Siehe dazu im Folgenden unter C. II. 1. b). 45 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, Vor § 8 Rn. 2; Cronin / ​Siegler, in: Gruessner / ​Benedetti, Living Donor Organ Transplantation, 2008, S. 16 (21); Gutmann / ​Land, in: Gruessner / ​Benedetti, Living Donor Organ Transplantation, 2008, S. 37. 46 Esser, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 1. Aufl. 2003, § 8 Rn. 47; Henne-Bruns / ​Kaatsch, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 1. Aufl. 2003, Anhang 1 zu § 8 Rn. 31. 44

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

und dem Schutz der Empfängerin, deren gesundheitliche Interessen sich diametral gegenüber stehen:47 Der mit der Organübertragung einhergehenden gesundheit­ lichen Besserstellung der Empfängerin entspricht eine mit der Organentnahme einhergehende gesundheitliche Schlechterstellung der Spenderin.48 Eine nähere Betrachtung dieser Gegenüberstellung und des Ausmaßes der divergierenden Folgen für die Beteiligten bringt jedoch zum Ausdruck, was die Lebendspende grundsätzlich so erwünscht macht: De facto steht eine verhältnismäßig geringe Schädigung der Spenderin einer gewichtigen gesundheitlichen Besserstellung der Empfängerin gegenüber. Grundsätzlich ethisch unproblematisch sind Konstellationen, in denen sich die Vor- und Nachteile eines operativen Eingriffs – zum Beispiel einer aufgrund einer Appendizitis indizierten Blinddarmentfernung – in ein- und derselben Patientin verwirklichen und die Nachteile des Eingriffs (im Beispiel: die Risiken einer Infektion oder der Narkose) durch die mit ihm einhergehenden Vorteile (im Beispiel: Verhindern einer sonst drohenden Perforation in die Bauchhöhle) unmittelbar aufgewogen werden. Der ethische Grundkonflikt der Lebendspende begründet sich demgegenüber darin, dass die gesundheitlichen Risiken der Lebendspenderin nicht in ihrer eigenen Person kompensiert werden, sondern nur bei Einbeziehung der Empfängerin in die „Kosten-Nutzen-Rechnung“.49 Diese Konstellation wirft ein paternalistisches Kernproblem auf: Kann eine solche Kosten-Nutzen-Kalkulation heteronom für die Betroffenen angestellt? Kann ihre persönliche Bewertung sowohl der „Nachteile“ (stellt eine gewünschte Spende einen Schaden dar?) als auch der „Vorteile“ (können diese auch einen ideellen und persönlichen Nutzen erfassen?) des Eingriffs durch eine verobjektivierte Außensicht ersetzt werden? Auch unter diesem Gesichtspunkt sollen im Folgenden die im vorliegenden Zusammenhang interessanten Vorschriften des Transplantationsgesetzes zur Lebendspende von Organen auf ihre paternalistischen Anteile und ihre verfassungsrechtliche Zulässigkeit hin untersucht werden.

I. Das Verbot des Organ- und Gewebehandels (§§ 17, 18 TPG) Der Handel mit menschlichen Organen ist beinahe auf der ganzen Welt verboten50 und in Deutschland mit Strafe bewehrt. Zwar ist Handel auch mit postmortal gespendeten Organen denkbar; das Hauptaugenmerk der den Organhandel 47

Henne-Bruns / ​Kaatsch, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 1. Aufl. 2003, Anhang 1 zu § 8 Rn. 32. Feuerstein, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 1. Aufl. 2003, Anhang 2 zu § 8 Rn. 1; Henne-Bruns  / ​ Kaatsch, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 1. Aufl. 2003, Anhang 1 zu § 8 Rn. 31. 49 Feuerstein spricht von „interpersoneller Nutzen / ​Risiko-Bilanzierung“, ders., in: Höfling (Hrsg.), TPG, 1. Aufl. 2003, Anhang 2 zu § 8 Rn. 1. 50 Im Iran besteht die Möglichkeit finanzieller Kompensation für Lebendspenden unter Fremden, die bei Nieren zu einer bedarfsdeckenden Versorgung geführt hat, vgl. Eich, in: Taupitz (Hrsg.), Kommerzialisierung des menschlichen Körpers, 2007, S. 309 (309–311); Ghotbi, 48

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

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betreffenden rechtlichen und ethischen Diskussion liegt jedoch auf der kommerzialisierten Lebendspende.51 Insbesondere in Zusammenhang mit potentiell paternalistischen Eingriffen spielt das Verbot des Handels mit postmortal gespendeter Organe jedenfalls keine Rolle: Da im Rahmen des Handels mit bereits postmortal gespendeten Organen ein Schutz der Spenderin qua Natur der Sache nicht mehr als Motiv gesetzgeberischen Handelns in Betracht kommt, ist eine paternalistische Herangehensweise auf dieser Ebene fernliegend und soll deshalb von der vorliegenden Betrachtung ausgenommen werden. 1. Inhalt der gesetzlichen Regelung Nach dem Transplantationsgesetz ist es unter Strafandrohung (§ 18 TPG) untersagt, mit Organen oder Geweben, die einer Heilbehandlung einer anderen zu dienen bestimmt sind, Handel zu treiben (§ 17 Abs. 1 S. 1 TPG) oder Organe oder Gewebe, die Gegenstand verbotenen Handeltreibens sind, zu entnehmen, auf einen anderen Menschen zu übertragen oder sich übertragen zu lassen (§ 17 Abs. 2 TPG). Die Vorschrift hat insbesondere das Handeltreiben zum Zwecke der Transplantation im Blick; erfasst ist jedoch auch die Abgabe von Organen und Geweben an Pharmaunternehmen zur Arzneimittelherstellung.52 a) Begriff des Handeltreibens Für die Auslegung des Begriffs „Handeltreiben“ wird im Gesetzentwurf auf die Auslegung des gleichlautenden Begriffs im Rahmen des Betäubungsmittelgesetzes verwiesen.53 Demnach ist Handeltreiben „jede eigennützige, auf Güterumsatz gerichtete Tätigkeit […], selbst wenn es sich nur um eine gelegentliche, einmalige oder vermittelnde Tätigkeit handelt“, typischerweise also die „gewerbliche Organvermittlung“.54 Das Handeltreiben setzt jedoch keinen Erfolg im Sinne einer tatsächlich erfolgten Übertragung voraus.55 Ungeschriebene Voraussetzung für das Vorliegen von Handeltreiben ist ein Eigennutz der Spenderin: Dieser umfasst jeden

EJAIB 2013, 190. Zu den die Kommerzialisierung von Organspenden untersagenden Regelungen im Biomedizinübereinkommen und dem Zusatzprotokoll über die Transplantation menschlicher Organe und Gewebe des Europarates Spranger, Recht und Bioethik, 2010, S. 85–87, 394–396 und Radau, Die Biomedizinkonvention des Europarates, 2006, S. 117 f. 51 König, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, Vor § 17 Rn. 2. 52 BT-Drs. 13/4355, S. 29. 53 BT-Drs. 13/4355, S. 29 f. 54 BT-Drs. 13/4355, S. 29 f. Weitere, dieser ähnelnde Definitionen bei Schroth, in: Roxin / ​ Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (481); ders., in: FS Roxin, 2001, S. 869 (883). 55 Schroth, in: FS Roxin, 2001, S. 869 (883).

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

materiellen und immateriellen56 Vorteil57 und liegt allein dann nicht vor, wenn die Spenderin durch die Spende keinerlei Besserstellung erfährt – beim reinen Ausgleich finanzieller Aufwendungen und Nachteile, wie etwa dem Ersatz von Fahrtkosten oder der Kompensation von Arbeitsausfall.58 Einen Grenzfall, der zwischen Eigennutz und Nachteilsausgleich angesiedelt ist, stellt die Übernahme einer Berufsunfähigkeits- oder Lebensversicherung für die Spenderin dar: Sie begründet laut Gesetzgeber jedoch kein Handeltreiben i. S. d. § 18 TPG.59 Jedenfalls von der Regelung erfasst und strafbewehrt untersagt sind jedoch alle über die reine Kompensation von wirtschaftlichen Einbußen hinausgehenden Zahlungen oder andere Zuwendungen, so etwa Dankbarkeitsgaben60 der Organempfängerin an die Organspenderin in jeder Gestalt oder eine Entlohnung der Organspenderin etwa von Seiten der Krankenversicherung der Organempfängerin in der Form pauschalierter Anerkennungszahlungen.61 Dass das Handelsgut im Transplantationsrecht jedoch ganz im Gegensatz zu dem Handelsgut im Rahmen des Betäubungsmittelrechts nicht gesundheitsgefährdend, sondern vielmehr gesundheitsförderlich und der Umsatz desselben im Rahmen einer Transplantation grundsätzlich erwünscht ist,62 hat das Bundessozialgericht dazu bewogen, die vollständige Übertragbarkeit der betäubungsmittelrechtlichen Definition und der damit einhergehenden Wertungen auf das Transplantationsrecht in Frage zu stellen. Dementsprechend hat es das Merkmal des Handeltreibens in seiner Entscheidung zur Überkreuz-Lebendspende auch restriktiv ausgelegt: Obwohl 56

Dazu ausführlich König, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 18 Rn. 31. Schroth plädiert – mangels Messbarkeit – für eine Unanwendbarkeit des Organhandelsverbots im Falle von Zielsetzungen wie dem Sichern einer Beziehung oder der Aufrechterhaltung einer Arbeitskraft, ders., in: FS Roxin, 2001, S. 869 (886). Außerhalb messbarer Werte ebenfalls zweifelnd Bernsmann / ​Sickor, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 18 Rn. 34 f. 57 Bernsmann / ​Sickor, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 18 Rn. 33–35; Schroth, in: FS Roxin, 2001, S. 869 (883). 58 BT-Drs. 13/4355, S. 30; König, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 501 (515); König, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 18 Rn. 27; Schroth, in: FS Roxin, 2001, S. 869 (884). 59 BT-Drs. 13/4355, S. 30. Siehe dazu auch König, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 501 (515); König, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 18 Rn. 28; Schroth, in: FS Roxin, 2001, S. 869 (884 f.). In einer Grauzone liegen auch Schmerzensgeldzahlungen an Organspender: Zwar dürften solche vom Gesetzgeber in klarer Opposition zu jeder Kommerzialisierung nicht gewünscht sein; sie stellen im Grunde jedoch ebenfalls lediglich Kompensationsleistungen dar, s. Schroth, in: FS Roxin, 2001, S. 869 (884). 60 Dagegen bei Sozialadäquanz und Nachträglichkeit Scheinfeld, Organtransplantation und Strafrechtspaternalismus, 2016, S. 70–72. Zur Frage, ob nachträgliche Dankbarkeitsgaben von den Parallelregelungen im Biomedizinübereinkommen und dem Zusatzprotokoll über die Transplantation menschlicher Organe und Gewebe des Europarates erfasst sind Spranger, Recht und Bioethik, 2010, S. 86. 61 Letzteres ist als Modell so von Esser entworfen worden, ders., Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 201. 62 BSG 10.12.2003 – B 9 VS 1/01 R – BSGE 92, 19 (25 f.); s. a. König, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 501 (512 f.); Schroth, in: FS Roxin, 2001, S. 869 (883).

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

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nach dem Wortlaut und der üblichen Auslegung der Norm davon auszugehen ist, dass eine solche Spende als an sich eigennütziges und auf den Umsatz von Organen ausgerichtetes Verhalten ein Handeltreiben i. S. d. § 17 TPG darstellen müsste, da Organhandel weder voraussetzt, dass die Vorteile den Handeltreibenden selbst zugehen, noch dass es in irgendeiner Form zu einem Austausch von Geld kommt,63 hat das Bundessozialgericht dies im konkreten Fall abgelehnt: Ein Handeltreiben sei vielmehr nur dann anzunehmen, wenn der Vorgang die „Gefahr der Ausbeutung“ in sich trage, was etwa bei einer Überkreuz-Lebendspende zwischen zwei Ehepaaren nicht von vorneherein der Fall sei.64 b) Straflosigkeit der Gewährung oder Annahme eines angemessenen Entgelts im Rahmen der Heilbehandlung (§ 17 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 TPG) Straffrei bleibt gemäß § 17 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 TPG jedoch die Gewährung oder Annahme eines angemessenen Entgelts für die zur Erreichung des Ziels der Heilbehandlung gebotenen Maßnahmen, insbesondere für Entnahme, Konservierung, Aufbereitung, Aufbewahrung und Beförderung der Organe oder Gewebe. Obwohl sie nach der dargelegten Auslegung in Folge ihrer Umsatzbemühungen und ihres Vorteilsstrebens grundsätzlich vom Begriff des „Handeltreibens“ erfasst sind, machen sich namentlich die an der Transplantation mitwirkenden Ärztinnen, das Pflegepersonal sowie die an der Aufbewahrung und dem Transport von Organen Beteiligten, die für ihre Tätigkeit ein angemessenes Entgelt verlangen, auf Grund dieser Einschränkung bei ihrer Tätigkeit nicht wegen Organhandels strafbar.65 Kritisiert wurde in diesem Zusammenhang jedoch, dass die Anknüpfung der Straflosigkeit an das Merkmal der Angemessenheit des Entgelts den Organhandel gleichsam zu einem „Delikt gegen die Preistreiberei“ mache, anstatt ihn am kommerziellen Um 63 Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 261; Schroth, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (493); ders., in: FS Roxin, 2001, S. 869 (886); ders., Anm. z. BSG 10.12.2003 – B 9 VS 1/01 R, JZ 2004, 469. So auch das BSG selbst, das davon ausging, dass der für ein Handeltreiben nach dem Betäubungsmittelrecht notwendige Eigennutz des Täters auch „in einer rein immateriellen Besserstellung bestehen“ könne, BSG 10.12.2003 – B 9 VS 1/01 R – BSGE 92, 19 (25). 64 BSG 10.12.2003 – B 9 VS 1/01 R – BSGE 92, 19 (26). Mangels Schutzzweckberührung stimmt auch Schroth einer entsprechend teleologischen Reduktion zu, ders., in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (493); ders., in: FS Roxin, 2001, S. 869 (886); ders., Anm. z. BSG 10.12.2003 – B 9 VS 1/01 R, JZ 2004, 469 f. Für eine teleologische Reduktion bei sog. „Dankbarkeitsgaben“ mangels Betroffenheit der vom Organhandelsverbot geschützten Rechtsgüter König, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 501 (516); ders., in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 18 Rn. 29. 65 König, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 501 (521); Schroth, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (481).

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

gang mit Organen zu messen.66 Zudem komme die Klausel jedermann zugute: der Transplantationschirurgin ebenso wie der Organhändlerin.67 Auch wenn es im Ergebnis sinnvoll ist, die im Rahmen der Organspende als Heilbehandlung üblicherweise vergüteten Tätigkeiten von der Strafbewehrung auszunehmen, ist die Anknüpfung an die Angemessenheit der Vergütung nicht zweckmäßig. Die insoweit verfehlte Ausnahmeregelung ist bereits Ausdruck der grundsätzlichen Widersprüchlichkeiten, unter denen das Organhandelsverbot leidet und auf die im Folgenden noch näher einzugehen sein wird.68 c) Normadressatinnen des § 17 Abs. 1 TPG Dass neben der entnehmenden und übertragenden Ärztin grundsätzlich auch Spenderin und Empfängerin als Adressatinnen der Strafbewehrung in Betracht kommen, legt bereits § 18 Abs. 4 TPG nahe, nach welchem das Gericht unter anderem bei Spenderin und Empfängerin von einer Bestrafung nach § 18 Abs. 1 TPG absehen oder diese nach § 49 Abs. 2 StGB mildern kann.69 Jedenfalls die Spenderin macht sich in der klassischen Organhandelskonstellation, in der sie Geld für die Entnahme eines ihrer Organe erhält, auch als Täterin eines Organhandels i. S. d. § 17 Abs. 1 TPG strafbar, da sie insoweit mit Organen oder Geweben, die der Heilbehandlung einer anderen zu dienen bestimmt sind, Handel treibt.70 Nicht 66

König, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, Vor § 17 Rn. 11; ders., in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 501 (523). König kritisiert in diesem Zusammenhang beispielsweise, dass sich der Chirurg, der in Folge von Zeitdruck ohne Überprüfung ein Gewebe verpflanzt, das von einer Gewebebank kommt, die überhöhte Preise hat, was er billigend in Kauf nimmt, eines Organhandels strafbar macht und dass in direkter Konsequenz der Norm im Grunde das Gehalt der Beteiligten Ärzte und Pfleger, das unabhängig von dem konkreten Umgang mit Organen gewährt wird, auf seine Angemessenheit hin überprüft werden müsste, a. a. O. S. 524. Siehe auch Schroth, in: FS Roxin, 2001, S. 869 (887). Detailliert König, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 18 Rn. 34 ff. 67 König, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 501 (523, 526); offen bleibt im Rahmen dieser Kritik natürlich, wie der persönliche Anwendungsbereich auf einen „Organhändler“ zu begrenzen sein könnte. 68 Siehe dazu ausführlich sogleich unter C. I. 3. 69 Schroth sieht darin zum einen ein Indiz dafür, dass dem Gesetzgeber bewusst war, dass es nicht unproblematisch ist, diejenigen, deren Rechtsgüter von einer Regelung geschützt werden sollen, selbst zu bestrafen und zweifelt zum anderen die Übereinstimmung der Regelung mit dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 Abs. 2 GG an, ders., in: FS Roxin, 2001, S. 869 (881). Siehe zu einem möglichen, mit der Regelung einhergehenden Verstoß gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung auch König, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 501 (520); Schroth, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (482 f.). 70 Vgl. § 17 Abs. 1 TPG. Diese Strafbarkeit war wohl während des Gesetzgebungsverfahrens noch umstritten gewesen, König, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 18 Rn. 22. Zur Strafbarkeit der Spenderin siehe auch Zillgens, Die strafrechtlichen Grenzen der Lebendorganspende, 2004, S. 278 f.

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

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strafbar macht sich nach § 17 Abs. 1 TPG jedoch die Empfängerin des Organs: Wer ein Organ oder Gewebe im Rahmen eines Organhandels zum Zwecke der Übertragung auf sich selbst erwirbt, soll laut Gesetzentwurf mangels Umsatzförderung und in Folge der notstandsähnlichen Situation straflos bleiben.71 Insoweit grenzt sich der Gesetzgeber klar vom Betäubungsmittelrecht und dem in diesem Rahmen grundsätzlich pönalisierten Erwerb für den „Eigenbedarf“ ab.72 Die Straflosigkeit der Empfängerin ergibt sich laut König systematisch auch daraus, dass das Betäubungsmittelrecht anders als das Transplantationsrecht Handel und Erwerb insofern unterscheidet, als es neben der Handelsstrafbarkeit einen eigenen Erwerbstatbestand vorsieht – sowie aus der ausdrücklichen Strafbewehrung des „Sich-Übertragen-Lassen“ in § 17 Abs. 2 TPG.73 Allerdings seien strafbare Teilnahmehandlungen der Empfängerinnen an einer Tat nach Abs. 1 in Fällen denkbar, in denen deren Handeln über die notwendige Teilnahme hinausgehe.74 Jedenfalls die potentielle Spenderin des Organs ist jedoch zugleich Schutzobjekt und Adressatin der Regelung in Abs. 1.75 d) Strafbarkeit der Entnahme, Übertragung und des Übertragenlassens von Organen, die Gegenstand von Organhandel sind (§ 17 Abs. 2 TPG) Strafbar ist nicht nur das Handeltreiben mit Organen selbst, sondern gemäß § 17 Abs. 2 TPG auch die dem Organhandel nachgelagerte Entnahme sowie die Übertragung und das sich Übertragenlassen von Organen und Geweben, die Gegenstand verbotenen Handeltreibens sind.76 Die Vorschrift dient der Unterbindung der „mittelbaren Förderung des Organhandels“.77 71

BT-Drs. 13/4355, S. 30. Eine Strafbarkeit in Folge fehlenden Eigennutzes ablehnend auch Bernsmann / ​Sickor, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 18 Rn. 28 und im Anschluss an die Vorauflage Zillgens, Die strafrechtlichen Grenzen der Lebendorganspende, 2004, S. 279. 73 König, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 18 Rn. 32. Dazu sogleich unter C. I. 1. d). 74 König, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 18 Rn. 33. 75 Für eine Notstandsrechtfertigung von Spender und Empfänger in Extremfällen Scheinfeld, Organtransplantation und Strafrechtspaternalismus, 2016, S. 481–486. 76 Ferner enthält die Regelung in § 18 Abs. 2 TPG eine Qualifikation für gewerbsmäßiges Handeln, die in der Literatur ebenfalls auf Kritik gestoßen ist: So kann sie den berufsmäßig mit der Transplantation Beschäftigten, der dauerhaft überhöhte Preise nimmt genauso treffen wie den Organhändler im Untergrund und wird deshalb für unangemessen weit befunden, König, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 501 (528); ders., in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 18 Rn. 65; Schroth, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (483). Der Versuchsstrafbarkeit gemäß § 18 Abs. 3 TPG kommt in Anbetracht der ohnehin schon früh ansetzenden Vollendung wenig Bedeutung zu, König, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 501 (528); Schroth, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (483). 77 BT-Drs. 13/4355, S. 30. 72

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

In der Literatur wird hinsichtlich dieser Teilregelung bemängelt, sie mache die behandelnde Ärztin trotz fehlenden Eigennutzes ohne ersichtlichen Grund von der Teilnehmerin am bereits nach Abs. 1 erfolgten Organhandel zur Täterin einer eigenen Tat.78 Insbesondere jedoch die Bestrafung der Empfängerin nach Abs. 2, die sich ein Organ übertragen lässt, welches Gegenstand verbotenen Handeltreibens ist,79 sieht sich heftiger Kritik ausgesetzt: Der Gesetzentwurf begründet die Regelung damit, dass die Empfängerin mit ihrer Bereitschaft, Geld für ein Organ zu geben, entscheidend und ebenso verwerflich wie in den übrigen von der Norm erfassten Fällen zur Kommerzialisierung der Organübertragung beitrage.80 In der Literatur wird jedoch insbesondere in Frage gestellt, ob die Annahme eines Organs durch die Empfängerin wirklich genauso strafwürdig sei wie etwa die Vermittlung durch mafiaähnlich vorgehende Organhändlerinnen.81 Problematisch sei zudem die mit der Regelung einhergehende Kriminalisierung Schwerkranker, die zur Erhaltung ihrer Gesundheit „die Früchte des Unrechts“ lediglich ausnutzten, „nachdem das Unrecht bereits geschehen“ sei.82 Die Regelung sei in Anbetracht der Notlage der potentiellen Empfängerinnen rechtspolitisch verfehlt.83 In der Tat wird diese Ausweitung der Strafbewehrung auf die schwer kranken potentiellen Empfängerinnen und auf die ihnen helfenden Ärztinnen der lebens­ bedrohenden Situation, in der sich die Betroffenen in diesen Konstellationen befinden, nicht gerecht. Dies gilt insbesondere in Anbetracht der auch im Übrigen bestehenden, noch aufzuzeigenden Legitimationsdefizite des Organhandelsverbots.84

78

König, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 501 (527); ders., in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 18 Rn. 57, der davon ausgeht, dass eine auch ohne Abs. 2 gegebene Strafbarkeit als Täter im Falle des Eigennutzes und eine Strafbarkeit als Teilnehmer im Falle fehlenden Eigennutzes dem Unrechtsgehalt der Tat besser gerecht würden, a. a. O. Ebenso Schroth, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (481 f.). 79 Diese Erweiterung der ursprünglichen Regelung, die nur auf eine Übertragung der Organe abstellte, wurde erst auf einen entsprechenden Beschluss des Gesundheitsausschusses hin gesetzlich festgeschrieben, vgl. BT-Drs. 13/8017, S. 20. 80 BT-Drs. 13/8017, S. 43 f. 81 König, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 501 (519). 82 Schroth, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (482). 83 Zillgens, Die strafrechtlichen Grenzen der Lebendorganspende, 2004, S. 295–298. Zu einer Lösung über Notstandsregelungen, a. a. O., S. 298–304; Bernsmann / ​Sickor, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 18 Rn. 53–59; in Anbetracht der Menschenwürde als Schutzgut des Organhandelsverbots kritisch Schroth, in: FS Roxin, 2001, S. 869 (889 f.). 84 Dazu sogleich unter C. I. 3.

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

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2. Schutzzweck und Einordnung Im Rahmen des Gesetzentwurfs wird ausgeführt, dass die den Organhandel unter Strafe stellenden Regelungen der Gefahr der Ausnutzung begegnen sollen, die in Anbetracht der Organknappheit und der gesundheitlichen Notlagen der Erkrankten drohe.85 Dies soll durch die Kriminalisierung des gewinnorientierten Umgangs mit Organen erreicht werden.86 Zudem diene die Strafbewehrung dem Schutz der potentiellen Spenderinnen, indem der Ausbeutung ihrer möglichen wirtschaftlichen Notlage insbesondere in Ländern der sog. Dritten Welt begegnet werde.87 Die Strafandrohung bezwecke eine präventive Eindämmung des Organhandels – auch im Hinblick auf eine mögliche Auslandsberührung der einzelnen Spende.88 Zudem soll die Transplantationsmedizin durch das Verbot vor dem „Anschein sachfremder Erwägungen“ bewahrt und der Gefahr der Verteilung von Organen nach finanziellen und nicht nach medizinischen Gesichtspunkten vorgebeugt werden.89 Ferner entlaste die Pönalisierung die behandelnde Ärztin, die die Übertragung gehandelter Organe auf dieser Grundlage leichter ablehnen könne.90 Im Zentrum des Regelungszwecks stehen laut Gesetzentwurf jedoch der Schutz der potentiellen Empfängerin vor Ausbeutung ihrer gesundheitlichen Notlage und der Schutz der körperlichen Integrität der potentiellen Spenderin.91 Insoweit dieser Schutz auch gegen den Willen der autonom handelnden Schutzobjekte Wirkung entfaltet und entfalten soll, ist die Regelung stark paternalistischen Charakters. Der Gesetzentwurf nennt zudem den Schutz der Menschenwürde als Regelungsgrund und bezieht sich ausdrücklich auf dessen Wirkung nach dem Tod und auf das Pietätsgefühl der Allgemeinheit.92 Die Formulierung lässt offen, ob auch die Menschenwürde der lebenden Spenderin von der Regelung geschützt werden soll. Ist dies der Fall, kommt der Regelung auch insoweit eine paternalistische Ausrichtung zu. Da die Spenderin des Organs zugleich Schutzobjekt und Adressatin der Regelungen in § 17 Abs. 1 und Abs. 2 TPG ist, wirken diese direkt paternalistisch. Vorgelagert, aber ebenfalls direkt paternalistisch wirkt § 17 Abs. 2 TPG auch gegenüber der Empfängerin: Da die Regelung ein Verhalten unter Strafe stellt, das an einen bereits erfolgten Organhandel anknüpft, kann sie zwar unmittelbar niemanden mehr schützen93 – weil die Vorschrift wie dargelegt jedoch die mittelbare Förderung des 85

BT-Drs. 13/4355, S. 15. BT-Drs. 13/4355, S. 15. 87 BT-Drs. 13/4355, S. 15. 88 BT-Drs. 13/4355, S. 15. 89 BT-Drs. 13/4355, S. 15. 90 BT-Drs. 13/4355, S. 15. 91 BT-Drs. 13/4355, S. 29. 92 BT-Drs. 13/4355, S. 29. 93 Schroth sieht das „Austrocknen eines Marktes“ als einzige und die Strafbewehrung nicht rechtfertigende Zwecksetzung an, ders., in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (482). 86

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

Organhandels unterbinden soll, kriminalisiert sie paternalistisch ein Verhalten der Empfängerin auch zu ihrem eigenen Schutz vor Ausbeutung. Die Strafandrohung gegenüber den beteiligten Ärztinnen konstituiert einen indirekten Paternalismus,94 da sie ein Verhalten zum Schutz einer Dritten auch gegen deren Willen unterbinden. Nicht paternalistisch wirkt jedoch der von der Regelung überdies bezweckte Schutz derjenigen Kranken, die nicht jeden Preis für ein Organ entrichten können, vor einer Verteilung von Organen unter finanziellen Aspekten. 3. Verfassungsmäßigkeit der Regelung? Damit stellt sich die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der Regelung – sowohl unter ihren paternalistischen als auch unter ihren nicht-paternalistischen Aspekten. In der Folge wird darzustellen sein, in welche speziellen Grundrechte durch die Regelung eingegriffen wird (dazu unter a)) und unter welchen Gesichtspunkten eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung der mit der Regelung einhergehenden Freiheitsverkürzung denkbar ist (dazu unter b)). Insoweit soll auch diskutiert werden, wie sich finanzieller oder krankheitsbedingter Druck auf die Freiwilligkeit einer Entscheidung auswirkt und ob bereits das Moment der Ausbeutung oder die Wahrscheinlichkeit einer defizitären Entscheidung die Regelung zu legitimieren vermögen. a) Betroffene Grundrechte aa) Grundrechte der Empfängerin Denkbar ist zunächst ein mit der Regelung einhergehender Eingriff in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit der potentiellen Organempfängerin, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG. Ein solcher wäre nach den vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Kriterien anzunehmen, soweit die Regelung dazu führt, „dass einem kranken Menschen eine nach dem Stand der medizinischen Forschung prinzipiell zugängliche Therapie, mit der eine Verlängerung des Lebens, mindestens aber eine nicht unwesentliche Minderung des Leidens verbunden ist, versagt bleibt“95 und „die Therapiemöglichkeiten dieser Patientengruppe kausal zurechenbar nachhaltig beeinträchtigt“96 werden. Geht man davon aus, dass durch Zahlung von Geld tatsächlich Organspenden motiviert würden, zu denen es ohne diesen Anreiz nicht käme, lässt sich eine solche, mit dem Organhandelsverbot einhergehende Einschränkung bejahen.97 Ein von der Regelung ausgehender Eingriff in das Recht 94

Siehe auch Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 158. BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399 (3400). 96 BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399 (3401). 97 Zwar stünde einer Vielzahl dieser finanziell motivierten Spenden auch die Beschränkung des Spenderkreises nach § 8 Abs. 1 S. 2 TPG entgegen (dazu ausführlich im Folgen unter C. II.): Dies hat jedoch keinen Einfluss auf die Eingriffsqualität, die vom Organhandelsverbot selbst 95

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

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auf Leben und körperliche Unversehrtheit der Empfängerin erscheint aber dennoch zumindest zweifelhaft: So steht zwischen dem Nicht-Zustandekommen einer Spende in Folge des Organhandelsverbots und einer damit einhergehenden Beeinträchtigung von Therapiemöglichkeiten jedenfalls der Entschluss der potentiellen Spenderin, die Spende nicht auch ohne Bezahlung zu vollziehen. Ein unmittelbarer Eingriff in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit der Empfängerin durch das Organhandelsverbot erscheint insofern zumindest nicht zwingend.98 Jedenfalls aber nimmt das Organhandelsverbot der Empfängerin die Freiheit, die Organspenderin etwa in Form einer Zahlung zu entlohnen, die einen eigennützigen, über einen Nachteilsausgleich hinausgehenden Güterumsatz darstellt. Damit wird durch die Regelung zumindest in ihre allgemeine Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG eingegriffen. Da die Regelung ein entsprechendes Verhalten untersagt und gegenüber Teilen der Beteiligten unter Strafe stellt, gilt dies unabhängig davon, ob die Empfängerin Adressatin des Verbotstatbestands beider Absätze ist oder nicht: Zu einer Verkürzung ihrer entsprechenden Freiheiten kommt es dennoch – ob es sich bei den Regelungen um direkten oder indirekten Paternalismus handelt, hat auf die verfassungsrechtliche Bewertung derselben keinen Einfluss.99 bb) Grundrechte der Spenderin Durch die Regelung wird die Spenderin zudem in ihrer Freiheit beeinträchtigt, gegen Geld über ihre spendbaren Organe zu verfügen. Dieses Verbot kann sowohl einen Eingriff in ihre durch Art. 4 Abs. 1 GG geschützte Gewissensfreiheit als auch in ihr über Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG geschütztes allgemeines Persönlichkeitsrecht begründen. Denn auch eine kommerzielle Organspende kann Betätigung einer von Art. 4 Abs. 1 GG geschützten Gewissensentscheidung und dem durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht geschützten Bereich privater Lebensgestaltung zuzuordnen sein. Grundrechtlicher Schutz für die Spende in Organhandelskonstellationen und für die Annahme von Zahlungen wird zudem subsidiär jedenfalls über die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet.100

ausgeht. Im Übrigen sind auch finanziell motivierte Spenden innerhalb des de lege lata zulässigen Spenderkreises denkbar. 98 Zillgens hingegen bejaht eine entsprechende Beschränkung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit des Empfängers, dies., Die strafrechtlichen Grenzen der Lebendorganspende, 2004, S. 320 Fn. 33. 99 Siehe dazu im zweiten Kapitel unter B. III. 2. e). 100 So für die Kommerzialisierung des eigenen Körpers Scheinfeld, Organtransplantation und Strafrechtspaternalismus, 2016, S. 349.

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

cc) Grundrechte Dritter Die Regelungen der §§ 18, 19 TPG beschränken zudem die über Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit der behandelnden Transplantationschirurginnen und aller weiteren im Rahmen ihrer (erlaubten) Berufstätigkeit am Organhandel Beteiligten. Denn das Organhandelsverbot bewirkt, dass sie Transplantationen, die zu ihrer beruflichen Tätigkeit gehören, nicht durchführen können, wenn die Spende einen kommerziellen Hintergrund hat. b) Verfassungsrechtliche Rechtfertigungsansätze Eine Rechtfertigung dieser mit der Regelung einhergehenden Freiheitsbeeinträchtigungen wird unter verschiedenen Aspekten für möglich gehalten. Im Folgenden soll eine Rechtfertigung auf Grundlage des Schutzes vor der Gefahr von Ausbeutung der Empfängerin und der Spenderin (dazu unter aa)), des Schutzes der körperlichen Unversehrtheit der Spenderin (dazu unter bb)), des Schutzes der Menschenwürde im Rahmen der Kommerzialisierung des menschlichen Körpers (dazu unter cc)), des Moralschutzes im Rahmen einer Kommerzialisierung (dazu unter dd)), des Schutzes des Pietätsgefühls der Allgemeinheit (dazu unter ee)), des Schutzes vor einer Verteilung von Organen nach finanziellen Gesichtspunkten (dazu unter ff)), des Schutzes des Transplantationswesens vor dem Anschein sachfremder Erwägungen (dazu unter gg)) sowie des Aspektes der Appell- und Präventionsfunktion eines entsprechenden Verbots (dazu unter hh)) beleuchtet werden. aa) Schutz vor Ausbeutung Im Entwurf zum Transplantationsgesetz wird als Regelungszweck des Organhandelsverbots zentral der Schutz vor der Gefahr von Ausbeutung und die Verhinderung des Ausnutzens von Notlagen thematisiert. Die Gesetzesbegründung bezieht sich dabei vornehmlich auf eine Ausnutzung der gesundheitlichen Notlage der Empfängerin,101 nennt aber auch die Gefahr der Ausnutzung einer wirtschaftlichen Notlage der Spenderin.102 (1) Legitimer Zweck Für eine Rechtfertigung der vorliegend in Frage stehenden Freiheitsbeeinträchtigungen muss der Schutz vor Ausbeutung einen legitimen Zweck für einen Grundrechtseingriff darstellen. Insoweit stellt sich zunächst die Frage, was mit 101 102

BT-Drs. 13/4355, S. 15, 29. BT-Drs. 13/4355, S. 15.

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

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dem Schutz vor Ausbeutung überhaupt gemeint ist. Grundsätzlich basiert die Idee von Ausbeutungsschutz darauf, dass die Betroffenen in Abhängigkeits- und Druck­ situationen Entscheidungen treffen, die sie unter anderen Umständen nicht treffen würden. Auch das Organhandelsverbot fokussiert sich laut Gesetzentwurf auf einen Schutz der Ausgebeuteten vor einer Ausnutzung ihrer Notlage und Bedrängungssituation.103 Dabei bleibt jedoch unklar, welches zu schützende Rechtsgut hinter diesem Ausbeutungsschutz steht. (a) Schwach paternalistischer Integritätsschutz? Soweit die Ausbeutungssituation zu einer Einschränkung der Freiwilligkeit und Autonomie der Betroffenen führt und diese sich auf jener defizitären Grundlage zu einer körperlichen bzw. wirtschaftlichen Selbstschädigung entschließen, kann ein schwach paternalistischer Integritätsschutz unproblematisch legitimer Zweck einer mit dem Organhandelsverbot einhergehenden Freiheitsbeeinträchtigung sein.104 Das Organhandelsverbot erfasst jedoch nicht lediglich Konstellationen, in denen die Handelsbeiträge auf defizitären Entscheidungen basieren: Denn weder schafft jede vom Organhandelsverbot erfasste, reine Dankbarkeitsgabe eine Ausbeutungssituation, noch vermag jeder Druck und jede schwierige Lage der in der Ausnutzungssituation getroffenen Entscheidung ihre Autonomie zu nehmen. Das Selbstbestimmungsrecht von gesundheitlich oder wirtschaftlich Bedrängten ist vielmehr ebenso zu respektieren wie das von Menschen, die sich nicht in Bedrängnis befinden. Aus einer Situation großer Bedürftigkeit kann sich zudem keine pauschale und generalisierende Annahme fehlender Autonomie und Kompetenz ergeben105 – vielmehr sind äußerer und innerer Druck regelmäßig Komponenten besonders wichtiger Entscheidungen und können ihnen ihre Autonomie und Wirksamkeit nicht grundsätzlich nehmen. Dies muss prinzipiell auch in Organhandelsfällen der Maßstab sein, um die Anforderungen an die Autonomie der Entscheidungen in dieser Situation nicht über jene auf anderen Gebieten anzuheben.106 Ebenso wenig kann fehlender Altruismus eine Autonomiebeeinträchtigung begründen. Zwar wird als Argument gegen Organhandel mitunter angeführt, die

103

BT-Drs. 13/4355, S. 15, 29. Siehe dazu im zweiten Kapitel unter B. IV. 105 Siehe dazu in Zusammenhang mit entgeltlichen Eizellspenden Hörnle, in: von Hirsch / ​ Neumann / ​Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 111 (126). 106 Fateh-Moghadam geht davon aus, dass das Organhandelsverbot „spezifische Rahmenbedingungen für eine autonome Spendeentscheidung im Transplantationswesen [konstituiert], die weit über die Anforderungen in anderen Kontexten hinausgeht“, ders., Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 262. Tatsächlich fordern Bernsmann / ​Sickor, dass die Einwilligungsfähigkeit der Betroffenen in Organspende-Fällen nicht wie sonst bei Volljährigen grundsätzlich angenommen werden darf, sondern sie im Einzelfall positiv festzustellen ist, dies., in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 19 Rn. 5. 104

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

finanzielle Entlohnung der Spende nehme ihr den selbstlosen Charakter.107 Allerdings ist nicht ersichtlich, weshalb eine Bezahlung zwingend eine altruistische Spendemotivation108 oder die Freiwilligkeit der Spendeentscheidung entfallen lassen sollte. Entsprechende Bedenken bestehen jedenfalls bei der Gewährung einer Aufwandsentschädigung für Blut- oder Samenspenden offenkundig nicht. Selbst wenn sich eine Entlohnung und eine altruistische Spendemotivation gegenseitig ausschließen würden, könnte dies per se keine Autonomiebeeinträchtigung begründen und das Organhandelsverbot unter diesem Gesichtspunkt rechtfertigen: So indiziert laut Fateh-Moghadam ein eigenes Interesse der Spenderin an der Transplantation – zum Beispiel der Wunsch, mit der Partnerin wieder in Urlaub fahren zu können – vielmehr gerade die Freiwilligkeit der Entscheidung.109 Es ist nicht ersichtlich, weshalb lediglich vollständig altruistische Spenden als zulässig oder autonom anzusehen sein sollten. Auch unter dem Gesichtspunkt des Einflusses von Angeboten und Anreizen mit zwingender Wirkung auf die Willensbildung110 lässt sich kein pauschales Entfallen der Autonomie in der Organhandelssituation konstruieren. Derartige Angebote mit zwingender Wirkung lassen den Betroffenen subjektiv keine echte Wahl, da ihre Nichtannahme mit unerträglichen Konsequenzen einhergehen würde.111 Zwar kann es sich so auch in der klassischen Organhandelssituation verhalten, in welcher der wirtschaftliche Ruin durch den lukrativen Verkauf eines Organs oder die gesundheitliche Verschlechterung bis hin zum eigenen Tod durch den Ankauf eines überteuerten Organs abgewendet werden kann. Derart zwangsbehaftete Angebote haben jedoch nicht notwendig freiwilligkeitsbeendenden Charakter. Feinberg unterscheidet für die Bewertung des Einflusses entsprechender Angebote mit subjektiv zwingender Wirkung auf die Autonomie zwischen zwei Ausgangssituationen: die Konstellation, in der eine Zwangslage geschaffen wird, um sie mit einem Angebot mit zwingender Wirkung ausbeuten zu können und die Konstellation, in der durch das Angebot das Bestehen einer vorgefundenen Zwangslage ausgenutzt wird.112 Die Herbeiführung einer Zwangslage und deren anschließende Ausbeutung reduziere die Freiwilligkeit der entsprechend darauf reagierenden Entscheidung regelmäßig bis hin zum Entfallen der Autonomie.113 Die Ausbeutung einer vorgefundenen Zwangslage hingegen könne die Freiwilligkeit der entsprechenden Entscheidung zwar beeinträchtigen, lasse die Autonomie der Entscheidung aber nicht entfallen: 107 Kohlhaas, NJW 1971, 1870 (1872). Zillgens befürchtet, dass die Zahlung von Geld Dritte an einer altruistischen Spende hindern könnte, dies., Die strafrechtlichen Grenzen der Lebendorganspende, 2004, S. 241. 108 Siehe auch Esser, Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 207. 109 Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 269. 110 Feinberg bezeichnet diese als „coercive offers“, vgl. etwa ders., Harm to Self, 1986, S. 246–248. 111 Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 246. 112 Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 246. 113 Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 248, 263.

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

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Denn in diesen Situationen erweitere auch ein ausbeuterisches Angebot lediglich die Möglichkeiten der Betroffenen.114 Um eine derartige Konstellation handelt es sich in der klassischen Organhandelssituation: Zu dem Zeitpunkt, in welchem Spenderin und Empfängerin aufeinandertreffen, befinden sich beide bereits in ihrer gesundheitlichen bzw. wirtschaftlichen Notlage. Das Angebot, ein Organ kaufen bzw. verkaufen zu wollen, mag zwar unter Umständen subjektiv alternativlos erscheinen: Objektiv muss in der Situation aber weder ein Organ gegen Geld gespendet werden, noch muss für ein Spenderorgan viel Geld bezahlt werden. Auch wenn sie einen starken Druck auf die betroffene Person ausüben können, führen diese (auch zwangsbehafteten) Angebote objektiv zu einer reinen Erweiterung von Möglichkeiten. Denn den Betroffenen verbleibt, auch wenn sie das Angebot ausschlagen, immer bedingungslos das, was sie bereits haben115 – es vermag ihre Situation dementsprechend allein zu verbessern.116 Deshalb kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Entscheidung für ein solches Angebot per se defizitär oder unfreiwillig erfolgt.117 Derartige Angebote können zwar ausbeutend wirken, müssen aber keinen direkten Zwangscharakter entwickeln.118 Die Betroffenen haben faktisch vielmehr jederzeit Handlungsalternativen; die Existenz guter Alternativen ist keine Voraussetzung für die Autonomie einer Entscheidung. Da das Angebot die Ausgangslage der Betroffenen in der Organhandelssituation nicht beeinträchtigt, ist mit Feinberg davon auszugehen, dass die Autonomie der Entscheidung durch ein entsprechendes Angebot im Regelfall nicht beeinträchtigt wird. Die hohe Anziehungskraft einer Option lässt sich nicht mit nötigendem Zwang und Freiwilligkeit sich nicht mit Absenz von Beeinflussung gleichsetzen.119 Insofern ist weder dem kommerziellen Organhandel noch der Ausbeutung als solcher bereits grundsätzlich das Entscheidungsdefizit der Beteiligten

114

Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 248, 263. Price, Legal and Ethical Aspects of Organ Transplantation, 2000, S. 310. 116 Price, Legal and Ethical Aspects of Organ Transplantation, 2000, S. 311. 117 Price, Legal and Ethical Aspects of Organ Transplantation, 2000, S. 310. 118 Insofern gilt es zu unterscheiden, vgl. Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 246; Price, Legal and Ethical Aspects of Organ Transplantation, 2000, S. 311; Scheinfeld, Organtransplantation und Strafrechtspaternalismus, 2016, S. 360, 372 f. 119 Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 173 m. w. N. Schroth hingegen geht davon aus, dass das Organhandelsverbot einen schwachen Paternalismus enthalte, da finanzielle Faktoren zu Entscheidungen der Betroffenen führten, die ihren eigentlichen Präferenzen nicht entsprächen. Das Organhandelsverbot diene insofern der Sicherung autonomer Entscheidungen, ders., in: FS Roxin, 2001, S. 869 (880). Nach vorliegend vertretener Auffassung kann die mangelnde Authentizität einer Entscheidung allein jedoch kein Entfallen der Autonomie (siehe dazu bereits im ersten Kapitel unter A. I.2.a)dd)) und nicht jede Form des Geldflusses im Rahmen einer Organspende eine Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit der Betroffenen begründen. Auch der Schutz vor „Selbstkorrumpierung“, den Schroth als übergeordneten Zweck des Organhandelsverbots ansieht (ders., in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (481); ähnlich auch ders., in: FS Roxin, 2001, S. 869 (882)), begründet nach dem vorliegenden Autonomieverständnis kein Autonomiedefizit. 115

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

inhärent.120 Die unzweifelhafte Gefahr von großem Druck in klassischen Organhandelssituationen führt nicht zu einem zwangsläufigen Entfallen der Freiwilligkeit der in diesem Zusammenhang getroffenen Entscheidungen. Die Ausbeutung als solche ist somit eine reine Umstandsbeschreibung, die keine unmittelbaren Schlüsse auf die Autonomie der Beteiligten zulässt: Ausbeutung und Zwang dürfen nicht gleichgesetzt werden.121 Da freiwillige Entscheidungen somit auch in Organhandelssituationen möglich bleiben, schützt das Organhandelsverbot im Ergebnis auch autonom Entscheidende gegen ihren Willen und kann nicht als ausschließlich schwach paternalistisch qualifiziert werden. (b) Ausnutzungsaspekte Der Schutz vor einer vollumfänglich autonom getroffenen Entscheidung kann wie dargelegt jedoch kein legitimer Zweck einer Grundrechtsbeschränkung sein.122 In Zusammenhang mit dem Organhandelsverbot stellt sich deshalb die Frage, ob sich an dieser antipaternalistischen Bewertung dadurch etwas ändert, dass eine Drucksituation von außen ausgenutzt wird, in der die Betroffene eine Entscheidung trifft, die sich nicht treffen würde, wenn sie sich nicht in der Notlage befinden würde. In anderen Rechtsgebieten, so zum Beispiel im Rahmen des Wuchers in § 138 Abs. 2 BGB, steht im Zentrum des Ausbeutungsbegriff tatsächlich die „bewusste Ausnutzung der Situation des Bewucherten (seiner Zwangslage, seiner Unerfahrenheit usw.).“123 Nicht gewollt ist also, dass sich jemand an der bedrängten Lage der Betroffenen – im Rahmen des Organhandels also sowohl jene der Spenderin, die sich in finanzieller Not befindet als auch jene der Empfängerin, die sich in gesundheitlicher Not befindet  – bereichert. Der Fokus der Verwerflichkeit liegt insoweit nicht auf dem Nachteil der Ausgebeuteten, sondern auf dem Vorteil der Ausbeuterin. So heißt es in Zusammenhang zu dem in § 232 StGB unter Strafe gestellten Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung ausdrücklich, dass die Ausbeutung „nicht auf eine spürbare Verschlechterung der Vermögensverhältnisse des Opfers, sondern auf die Erlangung übermäßiger Vorteile durch den Täter abstellt“.124 Dass nicht nur die Schädigung des „Opfers“ im Zentrum des Ausbeutungsbegriffs steht, sondern auch die auf einer Ausnutzung beruhende Bereicherung der Täterin, wird zudem dadurch unterstrichen, dass es sich etwa selbst dann um

120 Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 269; Price, Legal and Ethical Aspects of Organ Transplantation, 2000, S. 311 f.; Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 174. 121 Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 174. 122 Siehe dazu im zweiten Kapitel unter B. III. 123 MüKo / ​Armbrüster, BGB, 7. Aufl. 2015, § 138 Rn. 154. 124 Böse, in: Kindhäuser / ​Neumann / ​Paeffgen (Hrsg.), StGB, 5. Aufl. 2017, § 232 Rn. 8.

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ein Wuchergeschäft i. S. d. § 138 BGB handeln kann, wenn der Geschäftsabschluss von der benachteiligten Partei initiiert wurde.125 Die Fokussierung auf die unmäßige Bereicherung der ausnutzenden Person geht jedoch im Rahmen des Organhandelsverbots an der Sache vorbei. Zunächst vermag die Ausnutzung per se keinen Einfluss auf die Autonomie der Entscheidung der Ausgenutzten zu nehmen. Solange diese weiterhin autonom entscheiden, gebührt ihrem selbstschädigenden Vorgehen, wie dargelegt,126 im Rahmen des antipaternalistischen, selbstbestimmungsorientierten Menschenbildes des Grundgesetzes absoluter Respekt. Die Bereicherung an der Drucksituation seitens Dritter vermag daran nichts zu ändern: Alles andere ist in einer Konstellation, in der es in Folge der autonomen Selbstverfügung über den eigenen Körper bzw. die eigene Brieftasche nicht zu einer Rechtsgutsbeeinträchtigung kommt, als reiner Moralismus abzu­lehnen. Die Bereicherung von Dritten vermag der autonom getroffenen Selbstverfügungsentscheidung nicht die Wirksamkeit zu versagen – das muss auch dann gelten, wenn die Ausnutzung mit einer Schädigung der Betroffenen einhergeht. Allein die Unmäßigkeit des Vorteils der Einzelnen, so unmoralisch er auch sein mag, kann eine Freiheitsbeeinträchtigung nicht legitimieren. Dies gilt in der Organhandelskonstellation insbesondere auch deshalb, weil die Bereicherung auf Seiten der Organempfängerin in Form einer potentiell lebensrettenden Maßnahme, der Erlangung des benötigten Organs, erfolgt. Die Ausnutzung ist somit für sich genommen kein Übel, das es im Rahmen einer grundrechtlichen Freiheitsbeeinträchtigung zu verhindern gilt. Vielmehr impliziert Ausnutzung in Reinform lediglich, dass eine vorgefundene Situation zum eigenen Vorteil gebraucht wird – eine Konstellation, die insbesondere in wirtschaftlichen Zusammenhängen an der Tagesordnung ist. (c) Schutz defizitär Entscheidender Das Organhandelsverbot könnte in Anbetracht der potentiellen Ausbeutung dennoch unter dem Aspekt des Autonomieschutzes einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung zugänglich sein. Obwohl es tatbestandlich auch autonome Entschei­ dungen erfasst, kann die Sicherung autonomer Entscheidungen bzw. der Schutz defizitär Entscheidender legitimer Zweck der mit dem Organhandelsverbot einhergehenden Freiheitsbeeinträchtigung sein  – auch zu Lasten der autonom Entscheidenden.127

125

BGH 24.5.1985 – V ZR 47/84 – NJW 1985, 3006 f.; siehe auch MüKo / ​Armbrüster, BGB, 7. Aufl. 2015, § 138 Rn. 154. 126 Siehe dazu im zweiten Kapitel unter B. III. 127 Siehe zu dieser Konstellation bereits im zweiten Kapitel unter B. V.

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

(2) Geeignetheit Das auch gegenüber autonomen Entscheidungen Wirkung entfaltende Organ­ handelsverbot ist zum Schutz defizitär Entscheidender aber nur dann geeignet, wenn eine Gefährdungslage für die Autonomie und ein Wirkzusammenhang zwischen der Regelung und dem Schutz der Autonomie besteht.128 Entscheidend ist somit zunächst, ob es in den Organhandelssituationen zu einer Gefährdung der Autonomie kommt. In diesem Zusammenhang ist zwischen der Organhandels­ situation auf dem freien Markt und pauschalierten Anerkennungszahlungen sowie reinen Dankbarkeitsgaben zu unterscheiden. In der Organhandelssituation auf dem freien Markt, in der Menschen mit existentiellen Schwierigkeiten, in extremen gesundheitlichen und wirtschaftlichen Notlagen aufeinandertreffen, liegt die Möglichkeit einer Ausbeutung und einem darauf beruhenden Autonomiedefizit, gerade in Anbetracht des Gewichts der drohenden Einbußen und der Bedeutung der in Frage stehenden Rechtsgüter, durchaus nahe. Obwohl wie dargestellt keine pauschale Aussage über ein Entfallen der Autonomie getroffen werden kann,129 ist eine gewisse Gefährdung der Autonomie nicht zu verleugnen. Während weder Kompetenz noch Umstandskenntnis im Rahmen einer Organhandelskonstellation per se gefährdet erscheinen, stellt sich dies für die Willensfreiheit anders dar: Zweifelsohne kann eine Situation der gesundheitlichen oder wirtschaftlichen Not oder Bedrängnis einen Einfluss auf die Willensbildung der Betroffenen haben. Wer die Aussicht hat, nur durch den Kauf oder Verkauf eines Organs das eigene Leben zu retten oder die eigene wirtschaftliche Existenz zu erhalten, wird sich häufig in einer extremen Zwangslage befinden, die zumindest eine Gefährdung der Autonomie und Freiwilligkeit begründen kann. Dieser Autonomiegefährdung bei Organhandel auf dem freien Markt130 kann das Verbot von Handel entgegenwirken, sodass auch ein diesbezüglicher Wirkzusammenhang besteht und die Regelung unter diesem Gesichtspunkt geeignet erscheint. Anders stellt es sich jedoch bei den ebenfalls vom Organhandelsverbot erfassten pauschalierten Anerkennungszahlungen, reinen Dankbarkeitsgaben und ähnlichen Zuwendungen dar. Insoweit ist nicht ersichtlich, dass sie die Freiwilligkeit der Handelnden einer besonderen Bedrohung aussetzen würden. Insbesondere gibt es keine grundsätzliche Korrelation zwischen Unentgeltlichkeit und Autonomie oder zwischen Entlohnung und Unfreiwilligkeit.131 Ohne Autonomiegefährdung in diesem Bereich ist das absolute Verbot auch dieser Zuwendungen, so wie es die gegenwärtige Fassung der Norm enthält, mangels Gefährdungslage und Wirk­ zusammenhangs nicht zum Schutz defizitär Entscheidender geeignet. In seiner 128

Siehe zu den Voraussetzungen bereits im zweiten Kapitel unter B. V. Siehe dazu soeben unter C. I. 3. b) aa) (1) (a). 130 Schroth geht davon aus, dass es in klassischen Organhandelskonstellationen naheliegenderweise zu „Schwächesituationen“ kommt, ders., in: FS Roxin, 2001, S. 869 (877). 131 So auch Breyer et al., Organmangel, 2006, S. 130 f. 129

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

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jetzigen Breite kann das Organhandelsverbot unter dem Aspekt der Ausbeutung und des Autonomieschutzes schon deshalb nicht verhältnismäßig sein. (3) Erforderlichkeit Das Organhandelsverbot kann zum Schutz defizitär Entscheidender auf dem freien Markt erforderlich sein, wenn innerhalb eines weiten gesetzgeberischen Einschätzungs- und Gestaltungsspielraums kein gleich wirksames, milderes Mittel zur Verfügung steht132  – konkret also etwa eine differenzierende Regelung oder eine verfahrenspaternalistische Überprüfung der Autonomie der zugrundeliegenden Entscheidung keinen im Verhältnis zur umfassenden Verbotsnorm gleich wirksamen Schutz der defizitär Entscheidenden bieten kann.133 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob zur Verhinderung defizitärer Entscheidungen (und von Organhandel) nicht immer die kommissionelle Überprüfung der Freiwilligkeit gemäß § 8 Abs. 3 S. 2 TPG als milderes, gleich geeignetes Mittel zur Verfügung steht.134 Einer kommissionellen Überprüfung kommt jedenfalls eine niedrigere Eingriffswirkung zu: Im Rahmen einer Überprüfung im Einzelfall wird nicht vereinheitlichend in das Selbstbestimmungsrecht von jeder eingegriffen, die an einer Organspende beteiligt ist, bei der es auch zu einem Austausch wirtschaftlicher Güter kommt. Statt für das Selbstbestimmungsrecht der Beteiligten nachteilig zu verallgemeinern, kommt es insoweit zu einer zielgenaueren Auswahl und damit zu einer Verringerung der Anzahl von Konstellationen, in denen Spenden untersagt werden. In Folge dieser Zielgerichtetheit und der Ersetzung eines starren Verbots durch eine Einzelfallbetrachtung geht mit der kommissionellen Überprüfung ein weitaus schwächerer Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Beteiligten einher – sie stellt ein gegenüber dem Organhandelsverbot milderes Mittel dar. Im Hinblick auf eine gleichwertige Eignung ist jedoch zu beachten, dass das Ergebnis der gutachterlichen Untersuchung jedenfalls de lege lata keine rechtliche Bindungswirkung entfaltet und insofern keinen direkten Einfluss auf die Strafbarkeit des Vorgangs hat.135 Ferner wird im Rahmen des Verfahrens in seiner 132

BVerfG 16.3.1971 – 1 BvR 52/66 – BVerfGE 30, 292 (316) m. w. N.; BVerfG 19.3.1975 – 1 BvL 20/73 – BVerfGE 39, 210 (230) m. w. N.; BVerfG 6.10.1987 – 1 BvR 1086/82 u. a. – BVerfGE 77, 84 (109). 133 Siehe den Voraussetzungen bereits im zweiten Kapitel unter B. V. 3. 134 So auch bereit das BSG zur Anwendung der Regelung auf die Überkreuz-Lebendspende: „Dem Einwand, dass auch hier wirtschaftliche Überlegungen im Hintergrund vorhanden sein könnten, ist der Gesetzgeber – im Übrigen für alle Fälle der Lebendspende – selbst begegnet, in dem er die Prüfung, ob Anhaltspunkte für eine fehlende Freiwilligkeit der Organspende oder für verbotenen Organhandel vorhanden sind, nach § 8 Abs. 3 S. 2 TPG in die Hand einer Ethikkommission gelegt hat.“, BSG 10.12.2003 – B 9 VS 1/01 R – BSGE 92, 19 (26); siehe auch Spranger, Recht und Bioethik, 2010, S. 388. 135 Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 240; Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 52.

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

gegenwärtigen Ausgestaltung nicht die Freiwilligkeit bzw. das Nichtvorliegen von Organhandel positiv festgestellt, sondern lediglich das Nichtvorliegen diesbezüg­ licher Anhaltspunkte im Einzelfall überprüft.136 Zwar dürfte der faktische Effekt137 der kommissionellen Stellungnahme einer rechtlichen Bindungswirkung nahekommen, da eine Ärztin das nach negativer Entschlussfassung der Kommission mit einer Transplantation verbundene Risiko strafrechtlicher Konsequenzen im Falle von Organhandel wohl kaum auf sich nehmen würde. Dennoch ist zu konzedieren, dass einem generellen Ausschluss kommerzieller Spenden eine größere Wirkkraft zukommt. Das gilt auch für die allein negative Überprüfung des Nichtvorliegens entsprechender Anhaltspunkte. Ein gleich wirksames, milderes Mittel wäre jedoch die positive Überprüfung der Entscheidungen im Einzelfall als de lege ferenda bindende Voraussetzung der Zulässigkeit einer Transplantation. Auch wenn die Autonomie einer Entscheidung wie bereits ausgeführt immer nur beschränkt einer Feststellung zugänglich ist,138 ist ein solches Vorgehen vorzugswürdig. Denn das Feststellungsrisiko hängt selbstverfügenden Entscheidungen immer und naturgemäß an. Soweit eine Untersuchung von Autonomie möglich ist, vermag eine kommissionelle Begutachtung indes einen gegenüber dem generellen Verbot gleichwertigen und zugleich differenzierteren Schutz zu gewährleisten: Anders als etwa im Minderjährigenrecht, bei dem eine Überprüfung jeder Einzelentscheidung bereits aus praktischen Gründen im alltäglichen Leben nicht umsetzbar ist,139 finden Lebendorganspenden immer noch in überschaubarer Anzahl und in einem Setting statt, das eine Einzelbetrachtung im Rahmen der ohnehin notwendigen, aufwendigen Krankenbehandlung zulässt. Unter diesen Umständen kann eine kommissionelle Überprüfung gegenüber einem umfassenden Verbot ein autonomieschonenderes und damit milderes und zugleich ebenso geeignetes Mittel zum Schutz defizitär Entscheidender begründen. Ein umfassendes Verbot jeder finanziellen Zuwendung ist insoweit nicht erforderlich. (4) Verhältnismäßigkeit i. e. S. Da die Regelung hinsichtlich reiner Dankbarkeitsgaben und pauschalierter Anerkennungszahlungen bereits nicht geeignet und im Angesicht der Möglichkeit einer Freiwilligkeitsüberprüfung auch im Übrigen nicht erforderlich ist, kann sie auch nicht verhältnismäßig i. e. S. sein. Die zu schützende Integrität der defizitär 136

BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399 (3402). Dazu Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 240; Hillenkamp, MedR 2016, 109 (110). 138 Dies steht für Esser im Zentrum des Organhandelsverbots: Die angenommene Unfreiwilligkeit der Entscheidungen behandele „streng genommen das Problem der verläßlichen Eruierung echter Freiwilligkeit“, ders., Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 206. 139 Siehe dazu bereits im zweiten Kapitel unter B. V. 6. 137

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

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Entscheidenden kann unter diesem Gesichtspunkt gegenüber dem beeinträchtigten Selbstbestimmungsrecht der autonom Entscheidenden nicht überwiegen.140 Zwar stehen mit Leben und körperlicher Unversehrtheit ebenso wie mit der wirtschaftlichen Existenz der Betroffenen hohe Rechtsgüter auf dem Spiel – in seiner jetzigen Breite steht die mit dem Organhandelsverbot einhergehende Beeinträchtigung der Autonomie der Beteiligten jedoch außer Verhältnis: Dies wird besonders deutlich, soweit man sich im Hinblick auf die Organempfängerin vor Augen führt, dass dieser durch die Regelung zum Schutz vor wirtschaftlicher Ausbeutung ein potentiell lebensrettendes Organ vorenthalten wird.141 Unter dem Gesichtspunkt der Ausbeutung und des Schutzes defizitär Entscheidender ist die Regelung daher in ihrer Breite nicht zu rechtfertigen. Der insoweit mit ihr einhergehende starke Paternalismus, der autonom Entscheidende gegen ihren Willen schützt, ist als verfassungswidrig abzulehnen. bb) Schutz der körperlichen Unversehrtheit der Spenderin Laut Gesetzentwurf ist Schutzgegenstand der Regelung auch die körperliche Integrität der Spenderin.142 Da das Organhandelsverbot wie dargelegt nicht ausschließlich die Folgen defizitärer Entscheidungen unterbindet, handelt es sich auch insoweit um einen stark paternalistischen Regelungsansatz.143 Mit Recht ist zudem darauf hingewiesen worden, dass die körperliche Unversehrtheit in einer straffreien altruistischen Spendekonstellation ebenso beeinträchtigt wird wie in einer Organhandelskonstellation – auch insoweit kann die Gesundheit der Spenderin daher nicht widerspruchsfrei als taugliches Schutzgut des Organhandelsverbots dienen.144 Die Regelung ist unter diesem Aspekt einer Rechtfertigung nicht zugänglich.145 cc) Schutz der Menschenwürde bei einer Kommerzialisierung des menschlichen Körpers Der Gesetzentwurf nennt zudem den Schutz der Menschenwürde als Zweck der Regelung: Diese sei verletzt, wenn der Mensch „zum Objekt finanzieller Interessen“ werde.146 Auch die Parallelregelungen des Biomedizinübereinkommens des Europarates (Art. 21) und seines Zusatzprotokolls über die Transplantation 140

Siehe zu den diesbezüglichen Voraussetzungen bereits im zweiten Kapitel unter B. V. 4. Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 169. 142 BT-Drs. 13/4355, S. 29. 143 So in anderer Terminologie auch Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 166; Scheinfeld, Organtransplantation und Strafrechtspaternalismus, 2016, S. 479. 144 Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 166. 145 So auch König, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 18 Rn. 22. 146 BT-Drs. 13/4355, S. 29. 141

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

menschlicher Organe und Gewebe (Art. 21, 22), die die Kommerzialisierung der Organspende ebenfalls untersagen, dienen dem Schutz der Menschenwürde.147 Die Annahme einer Menschenwürdeverletzung durch Kommerzialisierung und Kommodifizierung des eigenen Körpers erfolgt regelmäßig unter Rückbesinnung auf Kant, da der Mensch bei Kant immer „Zweck an sich selbst“148 zu sein hat und Selbstverfügungen als Tugendpflichtverstoß strikt abgelehnt werden.149 Das Organhandelsverbot kann jedoch nicht unter dem Aspekt einer Verletzung der Menschenwürde im Rahmen der Kommerzialisierung des menschlichen Körpers gerechtfertigt werden. Im Hinblick auf Kant sei zunächst auf den bereits dargelegten Unterschied zwischen Tugend- und Rechtspflichten verwiesen  – eine Pflicht gegen sich selbst, wie sie das Selbstverstümmelungsverbot darstellt, ist einer rechtlichen Durchsetzung nicht zugänglich.150 Ferner würde eine direkte Anwendung des kantischen Gedankens auf das Organhandelsverbot übersehen, dass Kant die unentgeltliche Selbstverstümmelung ebenso verurteilt wie die entgeltliche.151 Dementsprechend kann Kant für eine unterschiedliche Bewertung der entgeltlichen und der unentgeltlichen Organspende nicht herangezogen werden. Die Rechtfertigung des Organhandelsverbots unter dem Gesichtspunkt einer Menschenwürdeverletzung ist jedoch insbesondere deshalb abzulehnen, weil eine Kommerzialisierung oder Kommodifizierung des eigenen Körpers die Menschenwürde gar nicht beeinträchtigt. Zum einen steht beim Organhandel nicht der Verkauf eines Menschen in Frage, der Träger der Menschenwürde ist, sondern der Verkauf eines abgetrennten menschlichen Körperteils, dem für sich genommen keine eigene Würde zukommt.152 Da die Lebendspende unter bestimmten Umständen de lege lata zulässig ist, beeinträchtigt die reine Weggabe eines Körperteils als solche die Menschenwürde nach Auffassung der Rechtsordnung offenkundig nicht.153 Auch die Verbindung von körperlicher Hingabe und finanzieller Gegenleistung ist rechtlich grundsätzlich akzeptiert und vorgesehen – so etwa bei Prosti­tution 147 Explanatory Report to the Additional Protocol to the Convention on Human Rights and Biomedicine concerning Transplantation of Organs and Tissues of Human Origin, Anmerkung 112, abrufbar unter https://rm.coe.int/16800d37ac (zuletzt abgerufen am 1.3.2018); siehe dazu auch Radau, Die Biomedizinkonvention des Europarates, 2006, S. 118. Kritisch zu diesen Regelungen Spranger, Recht und Bioethik, 2010, S. 85–87, 394–396. 148 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785/1911, AA 04: 433, 26–28. 149 Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797/1977, A 74 (S. 555); siehe dazu Herrmann, in: Taupitz (Hrsg.), Kommerzialisierung des menschlichen Körpers, 2007, S. 173 (175). 150 Siehe dazu bereits im zweiten Kapitel unter A. I. 151 Siehe dazu Hörnle, in: von Hirsch / ​Neumann / ​Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 111 (122). 152 van den Daele, in: Taupitz (Hrsg.), Kommerzialisierung des menschlichen Körpers, 2007, S. 127 (131). 153 Auch van den Daele geht davon aus, dass die Weggabe von Körperteilen zwar eine „Verdinglichung des Körpers“ darstellt, aber als solche keine Menschenwürdeverletzung konstituiert – denn sonst sei auch eine altruistische Spende nicht möglich, ders., in: Taupitz (Hrsg.), Kommerzialisierung des menschlichen Körpers, 2007, S. 127 (131).

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

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und körperlicher Arbeit sowie bei der Zahlung von Aufwandsentschädigungen für Blut- und Plasmaspenden. Zwar wird bei diesen Vorgängen – anders als bei der Organspende – kein Teil der körperlichen Substanz unwiderbringlich aufgegeben. Auch die genannten kommerziellen Körperhingaben können jedoch mit erheblichen und dauerhaften körperlichen Schädigungen einhergehen. Im Sinne der Einheit der Rechtsordnung kann die kommerzialisierte Organspende hinsichtlich einer möglichen Betroffenheit der Menschenwürde daher nicht anders bewertet werden.154 Zum anderen soll durch das Organhandelsverbot auch die Menschenwürde der­ jenigen geschützt werden, die für die Spende von Organen freiwillig Geld entgegennehmen und damit nicht, wie es im Gesetzentwurf heißt, zum Objekt finanzieller Interessen werden, sondern sich selbst zum Objekt finanzieller Interessen machen. Ein solcher Menschenwürdeschutz gegen den autonomen Willen der Betroffenen wäre als stark paternalistisch abzulehnen.155 Nach dem vorliegend vertretenen Ansatz kommt jedoch bereits eine Betroffenheit der Menschenwürde in derartigen Fällen nicht in Betracht. Einem subjektivistischen Menschenwürdeverständnis entsprechend kann die Menschenwürde in Fällen, in denen die Betroffene sich autonom zu dem in Frage stehenden Verhalten entschließt und dieses nicht als Verletzung ihrer Menschenwürde empfindet, nicht berührt sein:156

154 Vgl. auch Kliemt, in: Taupitz (Hrsg.), Kommerzialisierung des menschlichen Körpers, 2007, S. 95 (196). 155 So König, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, Vor § 17 Rn. 18, 22; Schroth, in: FS ­Roxin, 2001, S. 869 (874 f.). Eine Weitergabe von Organen gegen Entgelt im Rahmen eines „ungezügelten Organmarkts“ bzw. eines „offenen Organhandels“ mit zweifelhafter Freiwilligkeit wird hingegen mitunter als möglicherweise menschenwürdeverletzend erachtet und eine entsprechende Einschränkung verfassungsrechtlich für zulässig gehalten, König, a. a. O., Rn. 18; Esser, Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 205. 156 Siehe dazu bereits im zweiten Kapitel unter B. II. 3. b) aa) (2). Ebenso Esser, Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 205, Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 161; König, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, Vor § 17 Rn. 18; ders., in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 501 (506); Schroth, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (479); ders., in: FS Roxin, 2001, S. 869 (873), die davon ausgehen, dass es bei der freiwilligen Entscheidung, ein Organ gegen Geld zu spenden oder bei der Annahme von Dankbarkeitsgaben und ähnlichem regelmäßig nicht zu einer Infragestellung der Subjektqualität und damit auch nicht zu einer Menschenwürdeverletzung komme. Esser lehnt den sonst mit der Reglung einhergehenden Verlust der Definitionsmacht über die eigene Menschenwürde ab, ders., a. a. O., S. 204. Anders Zillgens, die davon ausgeht, dass nicht nur ein „international konsentiertes Werturteil“ und die „geistesgeschichtliche Tradition“ ein „starkes Indiz“ für eine Betroffenheit der Menschenwürde bei Organhandel darstellten, sondern die Verletzung sich insbesondere daraus ergebe, dass man mit der Zulassung der Selbstkommerzialisierung „eine Handlungsalternative [eröffne], die zum Paradigma würde für das Verhalten anderer in wirtschaftlicher Not befindlicher Menschen.“ Deshalb verbiete es „der objektiv-rechtliche Gehalt der Menschenwürdegarantie, die individuelle Entscheidung zur kommerziellen Lebendorganspende als rechtlich beachtlich anzuerkennen.“, dies., Die strafrechtlichen Grenzen der Lebendorganspende, 2004, S. 325, 328 f.

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

„Der Schutz der Menschenwürde ist im Kern der Schutz der Autonomie der Person, also Schutz der Selbstbestimmung.“157

Auf diese Bewertung hat auch eine mit der Spende möglicherweise einherge­ hende Kommerzialisierung des eigenen Körpers keinen Einfluss: Insoweit sei vielmehr erneut auf entsprechende, zulässige Kommerzialisierungen des Körpers wie etwa bei der Prostitution hingewiesen, in deren Rahmen der Gesetzgeber die Menschenwürde offenkundig nicht für beeinträchtigt hält.158 In der Literatur wird unter einem weiteren Aspekt auf die fehlende Tragfähigkeit des Kommerzialisierungsarguments hingewiesen: So ist gemäß § 17 Abs. 1 S. 1 TPG lediglich ein Handel mit Organen und Geweben, die einer Heilbehandlung zu dienen bestimmt sind, verboten. Dementsprechend ist jede körperliche Substanz, die nicht als Organ oder Gewebe durch das Transplantationsgesetz anerkannt ist159 oder nicht der Heilung, sondern der Forschung oder der Kosmetikproduktion dient oder Bestandteil eines Arzneimittels ist (§ 17 Abs. 1 S. 2 Nr. 2), dem freien Handel zugänglich.160 Käme es aber – wie der Gesetzentwurf es nahelegt – bei jedem Organhandel zu einer Menschenwürdeverletzung, so sei eine solche Einschränkung nicht überzeugend:161 Zwar könne das Argument der Sicherstellung der Medikamentenversorgung für die Bereichsausnahme zugunsten von Arzneimitteln überzeugen. Dies ändere jedoch nichts daran, dass insoweit trotz Aufarbeitung ebenfalls menschliche Organ- und Gewebematerialien verwendet würden, deren Kommerzialisierung im Bereich der Arzneimittelherstellung offenbar keine Beeinträchtigung der Menschenwürde darstelle.162 Die Begrenzung des Verbots gerade auf den Handel mit potentiell lebens- und gesundheitserhaltenden Organen und Geweben sei zudem insbesondere in Anbetracht der Straffreiheit des Handels mit Organen und Geweben in Forschung oder Kosmetik paradox.163 Soweit diese Teilbereiche aus dem Handelsverbot ausgeklammert sind, erweist sich die Annahme der Verknüpfung einer Kommerzialisierung des Körpers mit einer Menschenwürdeverletzung in den übrigen Organhandelskonstellationen in der Tat als widersprüchlich. Mangels einer mit der – von der Regelung untersagten – autonomen 157 van den Daele, in: Taupitz (Hrsg.), Kommerzialisierung des menschlichen Körpers, 2007, S. 127 (130). 158 So auch König, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 501 (506 f.); mit weiteren Beispielen auch Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 160. 159 Dies gilt etwa gemäß § 1 Abs. 3 Nr. 2 TPG für Blut und Blutbestandteile. 160 König, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 501 (509 f.); Schroth, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (479 f.); ders., in: FS Roxin, 2001, S. 869 (873 f.). 161 Schroth, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (479 f.); ders., in: FS Roxin, 2001, S. 869 (873 f.). 162 König, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 501 (509). 163 König, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 501 (512); ders., in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, Vor § 17 Rn. 18.

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

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Kommerzialisierung des Körpers einhergehenden Verletzung der Menschenwürde kann das Organhandelsverbot unter diesem Aspekt einer Rechtfertigung nicht zugänglich sein.164 dd) Kommerzialisierung als Moralverletzung Im Umfeld der Debatte um eine mit der Kommerzialisierung des menschlichen Körpers einhergehende Menschenwürdeverletzung finden sich auch moralistische Argumente: So berühre die Kommerzialisierung des menschlichen Körpers das Sittengesetz, da sie bei vielen Menschen intuitiv Ablehnung hervorrufe und die ökonomische Nutzung von Körperteilen als „Entweihung“ und „der richtige Umgang mit dem menschlichen Körper“ als schutzwürdiges Gut empfunden werde.165 Sie wird intrinsisch als moralisch inakzeptabel erachtet166 und eine drohende „soziale Werterosion“ als gesellschaftlicher Schaden angeführt.167 Gerade in Zusammenhang mit der Lebendspende wird sich auch auf eine altruistische „Kultur der Gabe“168 berufen. Gegen derartige Ideen spricht nicht nur, dass Kommerzialisierung und Altruismus sich in keiner Weise ausschließen169 und eine Kommerzialisierung der Organspende einer „Kultur der Gabe“ nicht zwangsläufig widersprechen muss. Zudem sind Kommerzialisierungen des menschlichen Körpers in anderen Zusammenhängen wie bereits dargelegt auch moralisch anerkannt.170 Insbesondere können derart moralistische Argumente in einer pluralistischen Gesellschaft jedoch keine Rechtfertigung einer Grundrechtsbeschränkung begründen: So lässt sich weder feststellen, welche moralischen Eindrücke die Mehrheit der Gesellschaft von einer 164

Für einen Schutz vor einer möglicherweise durch fehlende Freiwilligkeit der Spende induzierten Menschenwürdeverletzung ist die Regelung zu weit gefasst: Ein Schutz der autonom Handelnden wäre insoweit nicht erforderlich. Auch eine mögliche Betroffenheit der Menschenwürde Verstorbener kann das Organhandelsverbot in seiner jetzigen Breite, in der insbesondere auch Organhandel unter Lebenden unter Strafe gestellt wird, mangels Erforderlichkeit nicht rechtfertigen. Gegen eine Rechtfertigung unter letzterem Aspekt auch König, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, Vor § 17 Rn. 19; Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 180–182; Schroth, in: FS Roxin, 2001, S. 869 (871 f.). 165 Dazu van den Daele, in: Taupitz (Hrsg.), Kommerzialisierung des menschlichen Körpers, 2007, S. 127 (127 f.). 166 Marckmann, in: Taupitz (Hrsg.), Kommerzialisierung des menschlichen Körpers, 2007, S. 69 (73). 167 Vgl. in Zusammenhang mit der Selbstversklavung kritisch dazu Buyx, in: Taupitz (Hrsg.), Kommerzialisierung des menschlichen Körpers, 2007, S. 267 (276). 168 Dazu van den Daele, in: Taupitz (Hrsg.), Kommerzialisierung des menschlichen Körpers, 2007, S. 127 (127–129, 132). 169 Vgl. dazu auch Kliemt, in: Taupitz (Hrsg.), Kommerzialisierung des menschlichen Körpers, 2007, S. 95 (100 f.). 170 Siehe zur Zulässigkeit von Prostitution, körperlicher Arbeit und vergüteteter Blut- und Plasmaspende bereits unter C. I. 3. b) cc).

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

Kommerzialisierung der Organspende hat, noch können derartige Gefühle eine Freiheitsbeeinträchtigung gegenüber der gesellschaftlichen Minderheit legitimieren. Mangels direkter Rechtswirkung der Moral171 und im Sinne des Schutzes der gesellschaftlichen Vielfalt sind derartige Argumente als verfassungsrechtlich unerheblich abzulehnen.172 ee) Schutz des Pietätsgefühls der Allgemeinheit Das gilt auch für den Schutz des „Pietätsgefühls der Allgemeinheit“, dem das Organhandelsverbot laut Gesetzentwurf dienen soll.173 Weder ist nachvollziehbar, inwieweit es bei Organhandel zu einer Verletzung dieses „Pietätsgefühls der Allgemeinheit“ kommen soll, noch stellt das „Pietätsgefühl der Allgemeinheit“ ein Rechtsgut dar,174 auf dessen Grundlage ein Grundrechtseingriff gerechtfertigt werden könnte.175 Wie von Hönings und Spranger zudem mit Recht aufgezeigt wurde, genießt die Pietät keinen eigenständigen verfassungsrechtlichen Schutz.176 Sie ist inhaltlich gänzlich unbestimmt und dient als „leere Worthülse“177 zum Ersatz für fundierte Rechtfertigungsansätze.178 Der Einsatz eines derart offenen und moralistisch geprägten Begriffs öffnet der Willkür Tür und Tor und vermag keinen Eingriff in Freiheitsrechte zu rechtfertigen.

171

Zur fehlenden Rechtsgutstauglichkeit von Moral Roxin, Strafrecht AT, Band 1, 4. Aufl. 2006, § 2 Rn. 17–19. Auch die „Freihaltung der Organspende von kommerziellen Erwägungen“ stelle kein strafrechtlich zu schützendes Rechtsgut dar, a. a. O. Rn. 15. 172 Scheinfeld bezeichnet die Kommerzialisierungsvermeidung als „Scheinrechtsgut“ ders., Organtransplantation und Strafrechtspaternalismus, 2016, S. 348. 173 BT-Drs. 13/4355, S. 29. 174 Kritisch zur Einordnung des Pietätsgefühls als Allgemeingut König, Strafbarer Organhandel, 1999, S. 125 f.; auch Scheinfeld geht davon aus, dass entsprechender „Gefühlsschutz“ kein Strafrechtsgut begründen könne, dies., Organtransplantation und Strafrechtspaternalismus, 2016, S. 448. 175 Der BGH stützte seine Verurteilung im Fall des „Kannibalen von Rotenburg“ indes in Teilen genau darauf und ging davon aus, dass geschütztes Rechtsgut des § 168 Abs. 1 StGB (Störung der Totenruhe) auch das Pietätsgefühl der Allgemeinheit sei. Das Einverständnis des Tatopfers in „beschimpfenden Unfug an seiner Leiche“ sei deshalb nicht geeignet, die Strafbarkeit des „Kannibalen von Rotenburg“ entfallen zu lassen, vgl. BGH 22.4.2005 – 2 StR 310/04 – BGHSt 50, 80. 176 Hönings / ​Spranger, in: Preuß / ​Hönings / ​Spranger (Hrsg.), Facetten der Pietät, 2015, S. 335 (373–376). 177 Hönings / ​Spranger, in: Preuß / ​Hönings / ​Spranger (Hrsg.), Facetten der Pietät, 2015, S. 335 (372). 178 So zum Einsatz des Begriffs in der Rechtsprechung Hönings / ​Spranger, in: Preuß / ​Hönings / ​ Spranger (Hrsg.), Facetten der Pietät, 2015, S. 335 (371–373).

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

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ff) Schutz vor einer Verteilung von Organen nach finanziellen Gesichtspunkten Ferner heißt es in der Entwurfsbegründung des Transplantationsgesetzes, es gelte, „die Transplantationsmedizin vor dem Anschein sachfremder Erwägungen zu bewahren, zumal mit einer Kommerzialisierung menschlicher Transplantate die Gefahr erwächst, dass die Verteilung lebenswichtiger Organe ungeachtet therapeutischer Dringlichkeit an die finanzielle Leistungsfähigkeit potentieller Empfänger geknüpft wird“.179 Das Organhandelsverbot soll somit auch einer Benachteiligung weniger wohlhabender potentieller Organempfängerinnen vorbeugen und den gleichen Zugang aller zu heilbringenden Organen schützen. Die Gewährleistung von Behandlungsgleichheit stellt einen legitimen und am Gemeinwohl orientierten Zweck dar. Schon aus dem Sozialstaatsprinzip folgt das Gebot der sozialen Gerechtigkeit,180 das sich auch im Wortlaut des § 1 Abs. 1 S. 1 SGB I widerspiegelt: „Das Recht des Sozialgesetzbuchs soll zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit Sozialleistungen […] gestalten.“

Teilaspekt dieser sozialen Gerechtigkeit ist die Sicherstellung der Versorgung der Versicherten „mit dem medizinisch Notwendigen“.181 In der Tat könnte die Preisentwicklung für Organe auf dem freien Markt zwar dazu führen, dass der Zugang von weniger wohlhabenden Menschen zu einer lebensnotwendigen Behandlung erschwert würde182 – oder zumindest für begüterte Personen deutlich erleichtert. In seiner Absolutheit ist das Organhandelsverbot zum Schutz der sozialen Gerechtigkeit und des Zugangs zu medizinisch notwendiger Behandlung jedoch mangels Gefährdungslage weder geeignet noch erforderlich: Denn eine entsprechende Gefährdung besteht bei nicht spendemotivierenden, reinen Dankbarkeitsgaben ebenso wenig wie in einem System der „kontrollierten Belohnung“, in dem eine finanzielle Entlohnung ohne Anreizfunktion beispielsweise von Seiten der Krankenkassen ausgeschüttet wird.183 Gerade Geldzahlungen, zu denen es erst nach der Spende kommt, begründen keine Gefahr einer gesundheitlichen Schlechterstellung der sozial oder wirtschaftlich Schwächeren, da die Organvergabe dann nicht auf Grundlage dieser nachträglichen Zuwendungen erfolgen kann. Doch auch das Verbot spendemotivierender Zahlungen vermag insoweit keinen Schutz zu gewährleisten, da es nicht zu einer Verbesserung der Behandlung für all 179

BT-Drs. 13/4355, S. 15. Waltermann, in: Knickrehm / ​Kreikebohm / ​Waltermann (Hrsg.), 5. Aufl. 2017, Einleitung zum SGB V Rn. 5. 181 Niedermeyer, in: Rolfs / ​Giesen / ​Kreikebohm / ​Udsching (Hrsg.), 47. Aufl. 2017, § 1 SGB I Rn. 5. 182 Esser, Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 207 f. 183 Als Modell so entworfen von Esser, Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 201. 180

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

diejenigen führt, die auf ein Organ warten und die nicht an dem konkreten Organhandel beteiligt sind: Vielmehr käme die in Frage stehende Spende dem egalitären Verteilungsprozess dann ebenfalls nicht zugute, da das Organ ohne den Geldanreiz gar nicht erst gespendet würde. Der in Folge des Organhandelsverbots unterbliebenen lebenserhaltenden Behandlung einer einzelnen Empfängerin steht keine Besserstellung der Gruppe der Behandlungsbedürftigen gegenüber184  – sondern unter Umständen sogar eine Schlechterstellung, da sich die Gesamtzahl der Patientinnen, die auf ein Organ warten, ohne diese finanziell motivierte Spende an eine Angehörige der Gruppe auch nicht dezimiert. Über die insoweit unerheb­liche, fehlende Besserstellung hinaus kann sich eine tatsächliche Schlechterstellung wirtschaftlich Schwacher allein bei einer Kommerzialisierung der Warteliste selbst ergeben. Darauf zielt das Organhandelsverbot in seiner jetzigen Breite jedoch in keiner Weise ab. gg) Schutz des Transplantationswesens vor dem Anschein sachfremder Erwägungen Laut Gesetzentwurf soll durch die Regelung ferner das Transplantationswesen vor dem Anschein sachfremden Erwägungen geschützt werden.185 In Anbetracht der zentralen Bedeutung des Vertrauens der Allgemeinheit für die auf Organspenden angewiesene medizinische Versorgung Transplantationsbedürftiger186 ist die Rechtfertigung einer Freiheitsbeeinträchtigung unter diesem Aspekt grundsätzlich denkbar:187 Das Vertrauen in die Transplantationsmedizin stellt ein legitimes Gemeinwohlanliegen dar, das durch das insoweit geeignete Organhandelsverbot gefördert werden kann, um eine größere Spendebereitschaft in der Bevölkerung zu generieren.188 Jedenfalls in ihrem Umfang ist die Regelung jedoch zum Schutz des Transplantationswesens vor dem Anschein sachfremder Erwägungen nicht erforderlich:189 So sind viele, derzeitig als strafbar erfasste Konstellationen denkbar, die – wie etwa Dankbarkeitsgaben oder kontrollierte Belohnungszahlungen – überhaupt keinen negativen Einfluss auf das Vertrauen der Allgemeinheit in die Integrität des Transplantationswesens nehmen können. Zudem könnte eine Überwachung der Übertragung gehandelter Organe durch eine staatliche Stelle einem entsprechenden Vertrauensverlust ebenso effektiv, aber weniger einschneidend ent 184

Siehe dazu auch Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 186 f. BT-Drs. 13/4355, S. 15. 186 So auch Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 185. 187 Ausführlich zu den ähnlich gelagerten Argumenten der Qualitätssicherung unter C. VII. 1. und ihrer Anwendung auf das Transplantationswesen unter C. VII. 2. Dagegen unter Anzweifelung der Eignung als strafrechtliches Schutzgut König, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, Vor § 17 Rn. 20; Scheinfeld, Organtransplantation und Strafrechtspaternalismus, 2016, S. 472–478; Schroth, in: FS Roxin, 2001, S. 869 (871). 188 Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 185. 189 König, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, Vor § 17 Rn. 20. 185

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

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gegenwirken.190 In seiner umfassenden Breite lässt sich das Organhandelsverbot unter diesem Aspekt nicht rechtfertigen. hh) Appell- und Präventionsfunktion Ausweislich des Gesetzentwurfs zum Transplantationsgesetz kommt dem Organhandelsverbot ferner eine Appellfunktion zu, die auch präventive Wirkung entfalten soll.191 Mangels eines hierzulande bestehenden Problems mit Organhandel sieht Rixen die Aufgabe der Regelung vornehmlich in einem „Appell an die Rechtsgemeinschaft“.192 In jedem Fall können Appellfunktion und Prävention jedoch nur insoweit verfassungsrechtlich eine Rolle spielen, als das in Frage stehenden Verhalten selbst sich auf verfassungsrechtlich zulässige Weise untersagen lässt. Dies ist, wie bislang dargestellt, beim Organhandelsverbot in seiner gegenwärtigen Fassung nicht der Fall. Auch die Rechtfertigung des Verbots mit einer Präventionswirkung oder einer Appellfunktion muss somit ausscheiden. 4. Resümee: Verfassungswidrigkeit des Organhandelsverbots Eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung der mit dem Organhandelsverbot in seiner gegenwärtigen Gestalt einhergehenden Freiheitseingriffe lässt sich somit nicht darstellen.193 Vielmehr spricht bereits im Rahmen einer allgemeinen Abwägung einiges gegen ein absolutes Verbot der Entlohnung der Spenderin. So profitieren bei einer regulären Transplantation verschiedenste Beteiligte von dieser: Die Organempfängerin gesundet, die behandelnde Ärztin wird entlohnt und die Sozialversicherungssysteme werden nicht nur durch die dann potentiell wieder arbeitsfähige Organempfängerin, sondern insbesondere auch in Folge der Ersparnisse bei ihrer Krankenbehandlung194 entlastet. Allein jeglicher Vorteil für die Spenderin bleibt – obwohl diese für die Transplantation von zentraler Bedeutung ist – strafbewehrt; ein Ansatz, den König zu Recht für „radikal“ befindet.195 190

Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 186 m. w. N. BT-Drs. 13/4355, S. 15. 192 Rixen, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 1. Aufl. 2003, § 18 Rn. 21. 193 So auch Scheinfeld, Organtransplantation und Strafrechtspaternalismus, 2016, S. 480. 194 König, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 501 (514). Die Ersparnis für die Krankenversicherungen beträgt bei der Nierentransplantation einer dialysebedürftigen Patientin unter Aufrechnung der Kosten der Transplantation 150.000 bis 300.000 Euro pro Patientin, a. a. O. Siehe auch Zillgens, Die strafrechtlichen Grenzen der Lebendorganspende, 2004, S. 240; auf 250 000 Euro schätzen Breyer et al. die Ersparnis, dies., Organmangel, 2006, S. 129. 195 König, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 501 (515); siehe auch Spranger, der das Gewinnerzielungsverbot im Biomedizinübereinkommen und dem Zusatzprotokoll über die Transplantation menschlicher Organe und Gewebe des Europarates unter diesem Gesichtspunkt ebenfalls für „ethisch und rechtlich unausgewogen“ hält, 191

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

Dem absoluten Verbot steht die reale Gefahr der Ausbeutung und der Ungleichbehandlung bei einem Organhandel auf dem freien Markt gegenüber: Wo Preise durch Nachfrage bestimmt werden und die Verteilung von Organen anhand dieser Maßstäbe erfolgt, ist es wie dargelegt naheliegend, dass potentielle Spenderinnen und Empfängerinnen in ihren Entscheidungen beeinflusst und wirtschaftlich Schwache hinsichtlich ihres Zugangs zu gesundheitserhaltenden Maßnahmen benachteiligt werden. Bei Pauschalentschädigungen und Dankbarkeitsgaben – so wie sie de lege lata unzulässig sind – bestehen derartige Gefahren jedoch nicht. Selbst bei Organhandel auf dem freien Markt bleibt zu bedenken, dass eine Zulassung und damit einhergehende Regulierung den Betroffenen einen möglicherweise sogar viel wirksameren Gesundheits- und Autonomieschutz bieten könnte als der vollständige Bann der Kommerzialisierung. In Anbetracht der Förderungswürdigkeit der Transplantationsbereitschaft und dem naheliegenden Bedürfnis sowohl der Empfängerin, sich gegenüber der Spenderin erkenntlich zu zeigen, als auch der Spenderin, zumindest in einem gewissen Rahmen ebenfalls einen Nutzen aus der Spende zu ziehen, ist ein absolutes Verbot jedweder Entlohnung nicht verhältnismäßig. Diese Bewertung bleibt davon unberührt, dass gemäß § 18 Abs. 4 TPG sowohl bei Organempfängerinnen als auch bei Organspenderinnen von Strafe abgesehen bzw. diese nach § 49 Abs. 2 StGB gemildert werden kann. Eine solche Ermessensregelung kann der Regelung weder ihren paternalistischen und moralistischen Charakter nehmen, noch die bestehende Strafbewehrung im Sinne der Rechtssicherheit „angemessener“ machen – in der Konsequenz ließe sich sonst vielmehr jegliches Verhalten präventiv unter Strafe stellen, um dann jeweils im Einzelfall doch von Strafe abzusehen.196 Auch wenn die Vorstellung intuitiv Unwohlsein hervorrufen mag, dass Entscheidungen, die die körperliche Integrität oder sogar das eigene Überleben betreffen, durch den „schnöden Mammon“ beeinflusst sein könnten, ist Unbehagen kein rechtliches Argument für eine Freiheitsbeschränkung. In einer liberalen Gesellschaft kann nicht die Moral197 und muss vielmehr der Schutz Einzelner und der Gesellschaft zählen, wenn Freiheitsbeschränkungen in Frage stehen. Eines solchen Schutzes bedarf es bei autonomem Handeln Erwachsener jedoch nicht. Da die Gründe, die für das Organhandelsverbot ins Feld geführt werden, bei näherer Betrachtung nicht zu tragen vermögen und insbesondere die Vorteile, die eine Kommerzialisierung durch eine Vergrößerung der Gesamtzahl an Spenderorganen mit

ders., in: Breyer / ​Engelhard (Hrsg.), Anreize zur Organspende, 2006, S. 111 (115); ders., Recht und Bioethik, 2010, S. 87. 196 Siehe zu der ohnehin bestehenden Kritik an der Regelung König, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 501 (520); Schroth, in: FS Roxin, 2001, S. 869 (881); ders., in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (482 f.). 197 Siehe zu dem mit der Regelung einhergehenden Moralismus Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 164 f. Grundsätzlich Roxin, Strafrecht AT, Band 1, 4. Aufl. 2006, § 2 Rn. 17–19.

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

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sich bringen könnte, nicht aufwiegen können,198 erscheint es vielmehr, als diene das Organhandelsverbot dem Schutz einer Moral und eines Tabus199 – der Unverkäuflichkeit des menschlichen Körpers. Jedenfalls in seiner jetzigen, absoluten und nicht differenzierenden Form200 greift das Organhandelsverbot deshalb auf verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigende Weise, moralistisch und paternalistisch, in das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen ein. 5. Ausblick Als Alternative zu der derzeitigen Regelung wird in der das Organhandelsverbot ebenfalls kritisierenden Literatur201 unter anderem ein strafbewehrter Ausbeutungsschutz in Form eines Wucherverbots,202 ein Zwischenhandelsverbot im Zusammenspiel mit einer Qualifikation der Nötigung, welche die Freiwilligkeit der Entscheidung sicherstellt,203 eine Bezahlung der Spenderinnen durch die Krankenversicherungen204 oder die Zulassung von „Anerkennungszahlungen ohne finanzielle Anreizfunktion“ und von „kontrollierter Belohnung“ vorgeschlagen.205 Eine mit einer Deckelung des Preises einhergehende erneute Festlegung eines Rahmens, in dem eine Zahlung zulässig sein kann, ist jedoch mit den vorliegend angelegten Argumenten abzulehnen: Auch die Wahl eines neuen, engeren Rahmens kann stark paternalistisch wirken. Für eine Beschränkung kann allein die Sicherstellung der Autonomie der Betroffenen entscheidend sein  – dem Ausmaß der Geldzahlung kann insoweit lediglich indizielle Wirkung zukommen. Eine Regelung, die sich allein gegen das Ausmaß der Vorteilsgewährung richtet, weist erneut in eine moralistische Richtung.

198

So auch Breyer et al., Organmangel, 2006, S. 131–139. Siehe dazu auch Radcliffe Richards, Journal of Medicine and Philosophy, 1996, 375–416. Breyer et al. sprechen in diesem Zusammenhang von dem Versuch „der Rationalisierung einer im Grunde emotionalen Abwehr“, dies., Organmangel, 2006, S. 139 m. w. N. 200 Kritisch gegenüber einem „undifferenzierten Vergütungsverbot“ und einem gegen den Unverhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoßenden absoluten Kommerzialisierungsverbot auch Spranger, in: Breyer / ​Engelhard (Hrsg.), Anreize zur Organspende, 2006, S. 111 (114, 124). 201 König bezeichnet es gar als „abschreckendes Produkt moderner (Straf-)Gesetzgebung“, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 501 (528). Siehe auch ders. in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, Vor § 17 Rn. 22; Schroth, in: FS Roxin, 2001, S. 869 (878). 202 König, Strafbarer Organhandel, 1999, S. 240–249; ders., in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, Vor § 17 Rn. 21; Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 177; Schroth, in: FS Roxin, 2001, S. 869 (878). 203 Schroth, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (480). 204 Breyer et al., Organmangel, 2006, S. 127–131. Weitere Modelle a. a. O., S. 127. 205 Esser, Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 201 und 211. 199

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

Um der tatsächlichen Gefahr defizitärer Entscheidungen angemessen und freiheitsschonend zu begegnen, wäre es wesentlich wirkungsvoller, neben der generellen Zulassung reiner Dankbarkeitsgaben eine bindende, positive, kommissionelle Überprüfung der Freiwilligkeit der Spendeentscheidung einzuführen, die sich nicht allein auf eine Empfehlung und das Nichtvorliegen negativer Anhaltspunkte hinsichtlich der fehlenden Freiwilligkeit beschränkt, so wie es § 8 Abs. 3 S. 2 TPG de lege lata vorsieht – und die Überprüfung in Fällen besonderer Gefährlichkeit, etwa in Konstellationen, die einem Organhandel auf dem freien Markt ähneln, zu intensivieren. Ein derartiger Verfahrenspaternalismus lässt sich mit dem Selbst­ bestimmungsrecht der Betroffenen in Einklang bringen.206 Der Schutz von Spenderin und Empfängerin rechtfertigt nach dem vorliegend vertretenen antipaternalistischen Standpunkt kein gänzliches Verbot jedweder Kommerzialisierung. Unter Respektierung des Selbstbestimmungsrechts der Betroffenen kann im Rahmen einer kommissionellen Überprüfung ein zielgerichteter und insofern mindestens gleichwertiger Schutz vor der Gefahr defizitärer Entscheidungen gewährleistet werden.

II. Die Eingrenzung des Lebendspenderkreises (§ 8 Abs. 1 S. 2 i. V. m. § 19 Abs. 1 Nr. 2 TPG) Ein besonders prägnantes Beispiel spenderschützender Gesetzgebung findet sich in der strafbewehrten Eingrenzung des Spenderkreises gemäß § 8 Abs. 1 S. 2 i. V. m. § 19 Abs. 1 Nr. 2 TPG. Demnach darf die Entnahme einer Niere, des Teils einer Leber oder anderer, nicht regenerierungsfähiger Organe207 nur zum Zwecke der Übertragung auf Verwandte ersten oder zweiten Grades, Ehegatten, eingetragene Lebenspartnerinnen, Verlobte oder andere Personen, die der Spenderin in besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig nahestehen, erfolgen.208

206

Siehe dazu bereits im zweiten Kapitel unter B. V.3.b) sowie im Folgenden unter C. V. 1. Dazu gehören zum Beispiel Lungenlappen sowie Bauchspeicheldrüsensegmente, vgl. Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 57; Gutmann / ​Schroth, Organlebendspende in Europa, 2002, S. 3. Die frühere Kritik an der Begrenzung der Vorschrift auf „Organe, die sich nicht wieder bilden können“, die in Anbetracht der hohen Gefährlichkeit der Spende (regenerierbarer) Lebersegmente als ungeeignet betrachtet wurde, so z. B. von Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 31, ist mit der Erweiterung der von der Begrenzung des Spenderkreises erfassten Organe auch auf Spende „des Teils einer Leber“ seit dem 1.8.2007 hinfällig geworden. 208 Der ursprüngliche Gesetzentwurf der Abgeordneten Knoche und Häfner und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN enthielt sogar eine Beschränkung allein auf eine Spende durch Verwandte, BT-Drs. 13/2926, S. 4, 17. Zum Gang des Gesetzgebungsverfahrens und der Entstehung der Regelung im Ganzen, Gutmann / ​Schroth, Organlebendspende in Europa, 2002, S. 2–5. 207

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

237

1. Inhalt der gesetzlichen Regelung Die Auslegung des Begriffs der Verwandtschaft orientiert sich an den Vorschriften des BGB, sodass gemäß § 1589 Abs. 1 S. 3 BGB Eltern, Kindern, Großeltern, Enkel und Geschwister von der Vorschrift erfasst sind. Bei Ehegatten ist eine rechtsgültig bestehende Ehe Voraussetzung;209 die Verlobung bemisst sich im Rahmen des § 8 Abs. 1 S. 2 TPG lediglich an der Ernsthaftigkeit des Eheversprechens und nicht an der Validität nach dem BGB.210 Auslegungsbedürftig bleibt damit, was unter einem „offenkundigen Nahestehen in besonderer persönlicher Verbundenheit“ zu verstehen ist. a) „In besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig nahestehen“ Grundsätzlich bedarf es zur Beurteilung eines „Nahestehens in besonderer persönlicher Verbundenheit“ einer Überprüfung im konkreten Einzelfall.211 In der Entwurfsbegründung zum Transplantationsgesetz wird diesbezüglich zunächst auf eine gemeinsame Lebensplanung mit innerer Bindung abgestellt, die beispielsweise zwischen Partnerinnen in einer auf Dauer angelegten häuslichen Lebens­ gemeinschaft bestehen könne oder wenn die Bindung über einen längeren Zeitraum gewachsen und anhand anderer Tatsachen offenkundig sei.212 Allerdings fehlt es laut Gesetzentwurf dann an einem Nahestehen, wenn die Verbundenheit nicht durch eine sittliche Pflicht, sondern durch vermögenswerte Vorteile bestimmt sei.213 Von der Regelung umfasst sein dürften somit im Gegensatz zu allein ökonomisch oder zweckmäßig motivierten Beziehungen214 wohl insbesondere nichteheliche Lebensgemeinschaften sowie enge Freundschaften.215 Das Näheverhältnis muss nach § 8 Abs. 1 S. 2 TPG ferner offenkundig sein, was daran zu bemessen ist, dass es für 209 Esser, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 1. Aufl. 2003, § 8 Rn. 67–72; Schroth, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (484). 210 Schroth, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (484); allein auf die Gültigkeit nach dem BGB abstellend dagegen Esser, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 1. Aufl. 2003, § 8 Rn. 72. 211 Esser, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 1. Aufl. 2003, § 8 Rn. 74. 212 BT-Drs. 13/4355, S. 20 f. 213 BT-Drs. 13/4355, S. 21; da in diesen Fällen ein solcher Verdacht besonders naheliegt, bedarf insbesondere die Spende des Arbeitnehmers an seinen Arbeitgeber kritischer Betrachtung, Esser, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 1. Aufl. 2003, § 8 Rn. 83. 214 Esser, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 1. Aufl. 2003, § 8 Rn. 77; Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 33. 215 BT-Drs. 13/4355, S. 20 f. Ob diese Freundschaften bereits längerwährend sein müssen, ist in der Literatur umstritten: Esser geht davon aus und nennt als Richtschnur eine mindestens ein halbes Jahr andauernde Verbindung, ders., in: Höfling (Hrsg.), TPG, 1. Aufl. 2003, § 8 Rn. 79; dagegen in der Neuauflage Bernsmann / ​Sickor, die auch eine noch kurze Verbindung für die Bejahung des Merkmals ausreichen lassen, soweit diese von vergleichbarer Intensität ist, Bernsmann / ​Sickor, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 19 Rn. 55; ebenso Schroth, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (484 f.).

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

die entscheidende Ärztin oder Psychologin im Einzelfall klar erkennbar ist.216 Das Näheverhältnis muss zudem unmittelbar zwischen Spenderin und Empfängerin bestehen:217 Nicht ausreichend ist also etwa ein Näheverhältnis der Spenderin zu einer Person, die der Empfängerin nahesteht218 oder allein das indirekte Nahestehen wie im Rahmen einer Überkreuz-Lebendspende.219 Trotz gewisser Unbestimmtheiten des Begriffs sind jedenfalls Spenden, bei denen sich Spenderin und Empfängerin kaum oder gar nicht kennen und damit insbesondere anonyme Spenden an Unbekannte sowie nicht gerichtete Spenden, bei welchen sich die Spenderin ein Organ zugunsten einer noch nicht konkretisierten Empfängerin entnehmen lässt, in jedem Fall begrifflich ausgeschlossen.220 b) Besondere Spendeformen Mangels eines Näheverhältnisses i. S. d. § 8 Abs. 1 S. 2 TPG sind auch jegliche Formen der „Poolspende“, bei denen eine Spende zugunsten einer vorher festgeleg­ ten, spendesolidarisch organisierten Gruppe erfolgt, unzulässig.221 Dies gilt sowohl für die altruistische Poolspende zugunsten all jener, die auf ein postmortal gespendetes Organ warten, für die Poolspende zugunsten einer bestimmten Gruppe mit dem Ziel, die Chancen einer sich in dieser Gruppe befindlichen, nahestehenden Person auf ein kompatibles Organ aus dem Pool zu erhöhen, für die Poolspende im Rahmen eines Ringtausches oder die anonyme Poolspende.222 Auch wenn sich die Spenderin und „ihre“ jeweilige Empfängerin im Rahmen einer durchschnittlichen Überkreuz-Lebendspende im Regelfall wohl nicht besonders gut kennenlernen,223 hält das Bundessozialgericht diese Spendeform für 216

Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 65; Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 34. 217 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 36. 218 Esser, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 1. Aufl. 2003, § 8 Rn. 82 m. w. N. 219 Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 64, 69; Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 36. Siehe dazu bereits unter B. sowie sogleich unter C. II. 1. b). 220 Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 59, 66; Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 260; Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 35; Gutmann / ​Schroth, Organlebendspende in Europa, 2002, S. 16; Zillgens, Die strafrechtlichen Grenzen der Lebendorganspende, 2004, S. 129. In der Schweiz werden nicht gerichtete Lebendspenden entsprechend den Regelungen der Verteilung nicht gerichteter postmortal gespendeter Organe verteilt, a. a O. S. 260. Vor Inkrafttreten des Transplantationsgesetzes ist die anonyme Lebendspende des Chirurgen Jochem Hoyer berühmt geworden, der im Jahr 1996 eine seiner Nieren an eine anonym gebliebene Person auf der Warteliste spendete (s. dazu http://www.zeit.de/1996/32/thema.txt.19960802.xml (zuletzt abgerufen am 1.3.2018). Eine solche Spende wäre nach heutigen Maßstäben strafbares Unrecht. 221 Zillgens, Die strafrechtlichen Grenzen der Lebendorganspende, 2004, S. 130. 222 Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 260 f.; Gutmann  / ​ Schroth, Organlebendspende in Europa, 2002, S. 16. 223 Ebenso Gutmann / ​Schroth, Organlebendspende in Europa, 2002, S. 9; Zillgens, Die strafrechtlichen Grenzen der Lebendorganspende, 2004, S. 155. Siehe dazu bereits unter B.

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

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zulässig.224 Im Rahmen seiner Entscheidung über die Kostenerstattung einer Organtransplantation nach einer Überkreuz-Lebendspende zwischen zwei deutschen Ehepaaren in der Schweiz hatte das Bundessozialgericht – da nach dem Krankenversicherungsrecht (und nach dem im vorliegenden Fall relevanten Bundesversorgungsgesetz) Leistungen für Auslandsbehandlungen, die im Inland verboten sind, nicht erbracht werden dürfen – auch darüber zu entscheiden, ob eine solche Überkreuz-Lebendspende gemäß § 8 Abs. 1 S. 2 TPG zulässig ist.225 In diesem Zusammenhang stellte es zum einen fest, dass eine derartige „mittelbare Spende für die Ehegattin“ jedenfalls keine Übertragung auf die Ehegattin i. S. d. § 8 Abs. 1 S. 2 Alt. 2 TPG sei, da dies zwar vielleicht der subjektiven Wahrnehmung der Betroffenen entspreche, de facto aber das entnommene Organ eben nicht der eigenen Ehegattin übertragen würde, wie der Wortlaut der Norm es eindeutig verlange.226 Zum anderen ging das Bundessozialgericht davon aus, dass es für ein „Nahestehen“ im Sinne der Regelung ausreiche, dass die Beziehung zwischen Spenderin und Empfängerin „hinreichend intensiv und gefestigt ist, um die Gefahr von Organhandel, Unfreiwilligkeit und zwischenmenschlichen Problemen im Falle von Komplikationen zu minimieren“.227 Dann sei die Gefahr der Motivation durch materielle oder immaterielle Vorteile sowie durch psychischen Druck nicht größer als auch im Rahmen von Spenden innerhalb des von § 8 Abs. 1 S. 2 TPG benannten Spenderkreises.228 Irrelevant sei, dass die Paare sich erst anlässlich der Spende kennen gelernt hätten, solange der Kontakt zwischen den Betroffenen grundsätzlich auf unbeschränkte Zeit angelegt sei und sich nicht „einzig auf den Zweck der Durchführung der Organspende“ beschränke:229 Andernfalls wäre die Konstellation einem unzulässigen Ringtausch oder einer unzulässigen anonymen Spende zu ähnlich.230 2. Schutzzweck und Einordnung Die Entwurfsbegründung führt als Regelungszweck der Spenderkreisbeschränkung die Bedeutung des Vorrangs der postmortalen Spende vor der Lebendspende, die Sicherung der Freiwilligkeit der Spendeentscheidung sowie die Eindämmung von Organhandel an.231 Eine verwandtschaftliche oder besondere persönliche Beziehung biete die größte Sicherheit für die Freiwilligkeit der Entscheidung zur 224

BSG 10.12.2003 – B 9 VS 1/01 R – BSGE 92, 19. BSG 10.12.2003 – B 9 VS 1/01 R – BSGE 92, 19 (20, 25). 226 BSG 10.12.2003 – B 9 VS 1/01 R – BSGE 92, 19 (27 f.). Für eine dies zulassende teleologische Reduktion der Regelung Schroth, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (490 f.). 227 BSG 10.12.2003 – B 9 VS 1/01 R – BSGE 92, 19 (29). 228 BSG 10.12.2003 – B 9 VS 1/01 R – BSGE 92, 19 (29). 229 Kritisch Spranger, Recht und Bioethik, 2010, S. 393. 230 BSG 10.12.2003 – B 9 VS 1/01 R – BSGE 92, 19 (30). 231 BT-Drs. 13/4355, S. 20. So auch zusammengefasst von BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399 (3401). 225

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

Lebendspende und wirke der Gefahr von Organhandel entgegen, die durch eine gänzliche Freigabe der Lebendspende unkontrollierbar erhöht würde.232 Dass der Schutz der Spenderin insoweit im Vordergrund steht,233 belegt die Begründung zu § 7 des Entwurfes für das Transplantationsgesetz, der dem heutigen § 8 weitgehend entspricht, und in der es heißt, die Vorschrift lasse „eine Organspende zu Lebzeiten nur in engen Grenzen und unter besonderen Voraussetzungen zu, weil die Organentnahme für den Spender kein Heileingriff ist, sondern ihm grundsätzlich körperlich schadet und ihn gesundheitlich gefährden kann“.234 Das Verbot der Lebendspende außerhalb der benannten Verwandtschafts- und Näheverhältnisse bezweckt damit auch den paternalistischen Schutz der Betroffenen gegen ihren Willen: Denn der Schutz der Freiwilligkeit der Spendeentscheidung kann zwar im Einzelfall schwach paternalistisch wirken – mangels Beschränkung der Regelung auf defizitäre Entscheidungen ist sie jedoch zumindest auch stark paternalistisch ausgerichtet.235 Da die Vorschrift auch nicht der Erforschung der Autonomie dient, verfolgt sie keine verfahrenspaternalistischen Zwecke. Sie dient vielmehr dem Schutz sowohl der autonom als auch der defizitär Handelnden vor der Gefahr der Unfreiwilligkeit einer sie körperlich belastenden Entscheidung, auch im Hinblick auf das Ziel der Verhinderung von Organhandel.236 Die Beschränkung des Spenderkreises wirkt auf Verhaltensebene sowohl direkt als auch indirekt paternalistisch, da die zu schützende Spenderin und die behandelnde Ärztin Adressatinnen des Verbots ist. Anders verhält es sich auf Sanktionsebene: Nach dem Wortlaut des § 19 Abs. 1 Nr. 2 TPG wird bestraft, wer ein Organ entgegen § 8 Abs. 1 S. 2 TPG „entnimmt“ – erfasst ist somit nur die behandelnde Ärztin. Unklar ist jedoch, ob sich auch die Organspenderin und -empfängerin wegen einer Beteiligung an dieser Entnahme strafbar machen können oder ob diese als notwendige Teilnehmerinnen der Tat von einer Strafbarkeit ausgeschlossen sind.237 232 BT-Drs. 13/4355, S. 20. Im ursprünglichen Gesetzentwurf der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN hieß es zudem noch, die Begrenzung des Spenderkreises auf Verwandte diene unter anderem auch der Erhöhung der Erfolgsaussichten der Transplantation (BT-Drs. 13/2926, S. 17); eine Annahme, die jedoch inzwischen wissenschaftlich widerlegt ist, Price, Legal and Ethical Aspects of Organ Transplantation, 2000, S. 323 m. w. N.; Schroth, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (478). 233 Auch Gutmann hält den Schutz des Spenders vor der körperlichen Schädigung durch die Organentnahme für das zentrale Motiv der Regelung, ders., in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 1. 234 BT-Drs. 13/4355, S. 20. 235 In dieser Einordnung grundlegend anders Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 28; im Anschluss auch Oswald: „Dabei soll weicher Paternalismus […] weit verstanden werden und bereits Fälle erfassen, in denen sich staatliche Maßnahmen zum Schutz einer Person auf die Gefahr einer nicht autonomen Entscheidung dieser Person stützen, die über ihre Rechtsgüter verfügt.“, dies., Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 141. 236 Siehe zu den paternalistischen Anteilen des Organhandelsverbots bereits unter C. I. 2. 237 Siehe dazu Zillgens, Die strafrechtlichen Grenzen der Lebendorganspende, 2004, S. 165– 199. Für im Regelfall möglich halten das Bernsmann / ​Sickor, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl.

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

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Während gegen die Annahme einer notwendigen Teilnahme und für die Strafbarkeit sprechen könnte, dass die allein strafbewehrte „Entnahme“ jedenfalls nicht notwendigerweise die Existenz einer Empfängerin voraussetzt238 und die Spenderin den Vorgang regelmäßig anstößt und insoweit das reine Zulassen der Entnahme überschreitet,239 geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass die Strafsanktion des (heutigen, diesbezüglich wortgleichen) § 19 Abs. 1 Nr. 2 TPG nur die behandelnde Ärztin und nicht auch Spenderin und Empfängerin treffen könne.240 Auf Sanktionsebene wirkt die Regelung somit zumindest indirekt paternalistisch. 3. Verfassungsmäßigkeit der Regelung? Das Bundesverfassungsgericht befand die gemäß §§ 8 Abs. 1 S. 2, 19 Abs. 2 TPG strafbewehrte Beschränkung des Spenderkreises in seinem Nichtannahmebeschluss vom 11.8.1999 für verfassungsrechtlich unbedenklich.241 Die zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Verfassungsbeschwerden gegen Regelungen des Transplantationsgesetzes waren von einem an einer terminalen Niereninsuffizienz leidenden Patienten, einem zu einer altruistischen Nierenspende bereiten Gesunden und einem zur Transplantation bereiten Chirurg, der Spender und Empfänger einander allein nach medizinischen Kriterien zugeordnet hatte, erhoben worden.242 a) Formelle Verfassungsmäßigkeit Unabhängig von eventuellen paternalistischen Aspekten wird die Regelung in der Literatur mitunter bereits wegen eines mit ihr einhergehenden, finalen Eingriffs 2013, § 18 Rn. 74; für die Spenderin auch Zillgens, Die strafrechtlichen Grenzen der Lebendorganspende, 2004, S. 192; dagegen Gutmann / ​Schroth, Organlebendspende in Europa, 2002, S. 10; Schroth, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (478). 238 Gutmann / ​Schroth, Organlebendspende in Europa, 2002, S. 10. Im Ergebnis ebenso Zillgens, Die strafrechtlichen Grenzen der Lebendorganspende, 2004, S. 199. Zillgens geht aber davon aus, dass diese in der Regel über § 35 StGB entschuldigt ist, a. a. O., S. 219. 239 Gutmann / ​Schroth, Organlebendspende in Europa, 2002, S. 10. Mitunter wird eine Straflosigkeit auf Grundlage notwendiger Teilnahme für möglich gehalten, Bernsmann / ​Sickor, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 18 Rn. 74; Zillgens, Die strafrechtlichen Grenzen der Lebendorganspende, 2004, S. 192. 240 BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399 (3400). Für eine Rechtfertigung nach § 34 StGB bei einer gegenwärtigen Lebensgefahr des Organbedürftigen Scheinfeld, Organtransplantation und Strafrechtspaternalismus, 2016, S. 171–174. 241 BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399–3403. Trotz eingehender Begründung kommt den Ausführungen über die Verfassungsmäßigkeit der Regelung jedoch, da sie im Rahmen eines Nichtannahmebeschlusses formuliert wurde, keine Bindungswirkung i. S. v. § 31 Abs. 1 BVerfGG zu, siehe etwa Graßhof, in: Maunz et al. (Hrsg.), BVerfGG, 52. Lfg. 2017, § 93b Rn. 17. 242 BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399.

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

in das Recht auf Leben und die körperliche Unversehrtheit der Organempfängerin und des infolgedessen verletzten Zitiergebots aus Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG243 sowie in Folge eines Verstoßes gegen das Bestimmtheitserfordernis aus Art. 103 Abs. 2 GG durch die Begriffe der „Offenkundigkeit“ und der „Besonderheit“ des persönlichen Nahestehens244 für verfassungswidrig befunden. Beide Aspekte wies das Bundesverfassungsgericht jedoch zurück, da die potentielle Empfängerin nicht Adressatin des § 8 Abs. 1 S. 2 TPG sei, sodass die Regelung nicht final in ihre Grundrechte eingreifen könne.245 Ferner sei der Begriff des „offenkundigen Nahestehens in besonderer persönlicher Verbundenheit“ qua Auslegung und mit Hilfe der Gesetzesmaterialien einer Bestimmung zugänglich.246 b) Materielle Verfassungsmäßigkeit Im vorliegenden Zusammenhang ist jedoch vielmehr die materielle Verfassungsmäßigkeit der Regelung unter paternalistischen und nicht-paternalistischen Gesichtspunkten von Interesse. aa) Betroffene Grundrechte (1) Grundrechte der Spenderin Durch die Begrenzung des Spenderkreises wird die Freiheit derjenigen, die ein Organ an jemanden spenden möchten, mit dem sie nicht verwandt sind und dem sie nicht nahestehen, final und unmittelbar verkürzt. Wie bereits dargelegt, wird diese Freiheit der Verfügung über die eigenen Rechtsgüter jedenfalls durch die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG grundrechtlich geschützt.247 Da das Verbot der Organspende außerhalb des in § 8 Abs. 1 S. 2 TPG aufgeführten Spenderkreises zu einer Einschränkung der Verfügung über den eigenen Körper führt, könnte jedoch auch die speziellere Verfügungsfreiheit der Spenderin über ihre körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG berührt sein – jedenfalls soweit Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nicht nur als Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe

243 Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 49; Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 27; ders., NJW 1999, 3387 (3388). 244 Gutmann / ​Schroth, Organlebendspende in Europa, 2002, S. 17; Schroth, JZ 1997, 1149 (1153); ders., in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (486). 245 BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399 (3400). 246 BVerfG 11.8.1999  – 1  BvR 2181/98 u. a.  – NJW 1999, 3399 (3400); anders Schroth, Anm. z. BSG 10.12.2003 – B 9 VS 1/01 R, JZ 2004, 469 (471), der das Bestimmtheitsgebot für verletzt hält. 247 Siehe dazu bereits im zweiten Kapitel unter B. I. 3. und B. II. 3. a).

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

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in die körperliche Unversehrtheit zu verstehen ist, sondern auch die Verfügung über dieselbe schützt. In der Literatur wird in Teilen vertreten, dass die Grundrechte nicht auch die Verfügung über ihre Schutzgüter gewährleisten: Dies gelte insbesondere, da die Grundrechte historisch als Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe ausgestaltet seien248 und es sich beim staatlichen Eingriff in ein Rechtsgut auf der einen und der Freiheit, über dieses Gut zu verfügen, auf der anderen Seite um zwei zentral unterschiedliche Aspekte handele.249 Gegen eine grundsätzlich von den Grundrechten gewährleistete Verfügungsfreiheit über die von ihnen geschützten Rechtsgüter spreche zudem, dass die Grundrechtsschranken Schutzgrenzen seien, die sich nicht ohne weiteres in Verfügungsgrenzen umdeuten ließen.250 Eine Erstreckung des Schutzbereichs auf die Verfügung über das grundrechtliche Schutzgut im Einzelfall251 sei jedoch denkbar und durch Auslegung und Interpretation des konkreten Grundrechts zu ermitteln.252 Ein mit dem Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 S. 1 Var. 2 GG, das die körperliche Unversehrtheit positiv schützt, einhergehender Schutz der Verfügungsfreiheit über den eigenen Körper wird in Teilen abgelehnt.253 Wie seine Entstehungsgeschichte zeige,254 sei Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG als reines Abwehrrecht ohne Verfügungsschutz ausgestaltet, das anders als Handlungsfreiheiten keine negative Komponente grundrechtlicher Freiheiten enthalten könne.255 Das werde bereits durch den Wortlaut eines Rechts „auf“ und nicht „über“ die „körperliche Unversehrtheit“ impliziert.256 Über die eigene Versehrtheit könne demnach nicht verfügt werden. Ähnliches klang auch an, als der Bundesgerichtshof äußerte, die Regelung gewährleiste „zunächst nur den Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit vor staatlichen Eingriffen und begründet die Pflicht staatlicher Organe, sich schützend und fördernd vor diese Rechtsgüter zu stellen“.257 Bisweilen wird auch eine Parallele zum Recht auf Leben aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 Var. 1 GG gezogen, hinsichtlich dessen – anders als

248

Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes, 1981, S. 29. Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 231. 250 Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 231. 251 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 227; Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 231; Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 191. 252 Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes, 1981, S. 28. Amelung bejaht dies etwa für die Verfügung über Eigentum, die durch Art. 14 GG geschützt sei, a. a. O., S. 30 m. w. N.; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 141; Stern, Staatsrecht III/1, 1988, S. 629 f. 253 Siehe etwa Esser, Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 68–74; Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 232. 254 Esser, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 1. Aufl. 2003, § 8 Rn. 37. 255 Schwabe, JZ 1998, 66 (69). 256 Schwabe, JZ 1998, 66 (69). 257 BGH 11.12.1980 – III ZR 38/79 – BGHZ 79, 131 (142). 249

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

im Rahmen des Art. 2 Abs. 1 GG258 – anerkannt sei, dass es die Verfügungsfreiheit über das Leben nicht schütze.259 In anderen Teilen der Jurisprudenz wird hingegen angenommen, dass die Verfügungsfreiheit über ein Rechtsgut, dessen eigenhändige Beeinträchtigung oder dessen einverständliche Beeinträchtigung von Seiten Dritter grundsätzlich immer durch das Grundrecht geschützt werde, welches das in Frage stehende Rechtsgut auch abwehrrechtlich schütze:260 Da Grundrechtsschutz vornehmlich Selbstbestimmungsschutz sei, könnten der Schutz des jeweiligen Rechtsguts und der Schutz der diesbezüglichen Selbstbestimmung nicht aufgespalten werden.261 Dementsprechend wäre die Verfügung über die eigene körperliche Unversehrtheit ebenfalls von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG geschützt.262 Auch Fateh-Moghadam geht davon aus, dass Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG als grundrechtliche Schutznorm hinsichtlich der Verfügung ein „subjektives Freiheitsrecht am eigenen Körper“ statuiere.263 Derartiges klingt im Kontext zum Selbstbestimmungsrecht der Patientin auch im Sondervotum einer Bundesverfassungsgerichtsentscheidung an, in der es hieß: „Das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG […] gewährleistet zuvörderst Freiheitsschutz im Bereich der leiblich-seelischen Integrität des Menschen. […] Die Vorschrift ist eine besondere Verbürgung der in Art. 2 Abs. 1 GG gewährleisteten freien Entfaltung der Person. Die Bestimmung über seine leiblich-seelische Integrität gehört zum ureigensten Bereich der Personalität des Menschen. In diesem Bereich ist er aus der Sicht des Grundgesetzes frei, seine Maßstäbe zu wählen und nach ihnen zu leben und zu entscheiden. Eben diese Freiheit zur Selbstbestimmung wird […] durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG besonders hervorgehoben und verbürgt.“264

Da das gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gewährte Grundrecht die Dispositions­ befugnis seiner Inhaberin über die Schutzgüter der Vorschrift jedenfalls nicht be 258

Siehe dazu im zweiten Kapitel unter B. II. 3. b) bb). Zillgens, Die strafrechtlichen Grenzen der Lebendorganspende, 2004, S. 316 f. Zum fehlenden Schutz der Selbsttötung durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG Di Fabio, in: Maunz / ​Dürig (Hrsg.), GG, 81. Lfg. 2017, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG Rn. 47. 260 Siehe etwa Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 191; für die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines grundrechtlichen Schutzguts so auch Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997, S. 21 f. und 30. 261 Lipp, Freiheit und Fürsorge, S. 128. 262 So dann auch Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 191. Ein solcher Verfügungsschutz durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG wird zum Teil im Zusammenhang mit der Einwilligung in den Heileingriff vertreten (Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes, 1981, S. 30 m. w. N.; Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 78), auch wenn das laut Amelung auf dem Zweck dieser Einwilligung gründet (a. a. O., S. 30), der als Heilung von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG erfasst sei. 263 Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 77, 264. 264 BVerfG 25.7.1979 – 2 BvR 878/74 – BVerfGE 52, 131 (173 f.) [Abweichende Meinung der Richter Hirsch, Niebler und Steinberger]. Das Hauptvotum hatte das Selbstbestimmungsrecht des Patienten aus Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitet, a. a. O., S. 168. 259

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

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schränkt, ist ein (gegebenenfalls subsidiärer) Schutz der Disposition immer über Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet und nicht gesperrt.265 Ob sich zusätzlich auch ein positiver grundrechtlicher Schutz körperlicher Selbstbeeinträchtigung und Verfügung aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ergibt, ist etwa von Hillgruber offen gelassen worden, da dies in Anbetracht des einfachen Gesetzesvorbehalts in Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG unerheblich sei.266 Auch wenn nach einem libertären Grundrechtsverständnis viel dafür spricht, die körperliche Selbstverfügung als von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG geschützt anzusehen, kann dies vorliegend in der Tat dahinstehen: Der grundrechtliche Schutz körperlich selbstschädigenden und selbstverfügenden Verhaltens wird entweder durch Art. 2 Abs. 1 GG267 oder sogar speziell durch eine entsprechende Freiheitsverbürgung aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG geschützt.268 Dasselbe gilt für die Frage, ob ein Verfügungsrecht über den eigenen Körper durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht269 oder durch ein spezielles körperliches Selbstbestimmungsrecht geschützt wird.270 Soweit den nicht von § 8 Abs. 1 S. 2 TPG zugelassenen Personen eine Lebendspende auch in Verbindung mit der Strafbewehrung aus § 19 Abs. 1 Nr. 2 TPG untersagt wird, wird ihre jedenfalls grundrechtlich geschützte Freiheit zur körperlichen Selbstverfügung durch die Regelung final und unmittelbar verkürzt und es kommt insoweit zu einem grundrechtsrelevanten Eingriff.271

265

Siehe dazu im zweiten Kapitel unter B. II. 3. b). Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 142. 267 Einen Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG bejaht in seiner Entscheidung zu den TPG-Regelungen auch das BVerfG, 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399 (3402). Auch der Gesetzentwurf erkennt ein entsprechendes Selbstbestimmungsrecht des Spenders an, BT-Drs. 13/4355, S. 14; einschlägig ist Art. 2 Abs. 1 GG in dieser Konstellation auch nach Gutmann  / ​ Schroth, Organlebendspende in Europa, 2002, S. 24, 128. 268 Den grundrechtlichen Schutz unter Auslassung der normativen Grundlage bejahend auch Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 9 f. 269 Siehe etwa Di Fabio, in: Maunz / ​Dürig (Hrsg.), GG, 81. Lfg. 2017, Art. 2 Rn. 204; Zuck, NJW 1991, 2933. Ebenso ließe sich die Entscheidung zur Lebendspende unter Möllers Verständnis des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als das Recht, das eigene Leben „entsprechend den eigenen ethischen Entscheidungen […] ausrichten zu können“, subsumieren, ders., Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 90. 270 Fateh-Moghadam leitet ein „körperliches Selbstbestimmungsrecht des Organspenders“ aus Art. 2 Abs. 2. S. 1 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG ab, ders., Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 79–85, 263. Im Anschluss daran spricht auch Oswald allgemeiner von einem körperbezogenen Selbstbestimmungsrecht, das sie aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG ableitet und das durch „die eigene Einwirkung auf diese Rechtsgüter oder über die Erteilung einer Einwilligung in Verhaltensweise Dritter, die auf die disponierten Rechtsgüter einwirken, ausgeübt“ werden könne, dies., Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 116 f. 126; dies., in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 94 (96). Siehe auch Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 165. 271 Siehe zum grundrechtlichen Schutz der Entscheidung, sich in Pool- oder Ringtauschkonstellationen „Tauschpartner“ zu suchen Spranger, ders., Recht und Bioethik, 2010, S. 392; i. Ü. Zillgens, Die strafrechtlichen Grenzen der Lebendorganspende, 2004, S. 317. 266

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

(2) Grundrechte der Empfängerin Auch die Grundrechte der potentiellen Empfängerin sind durch die Regelung betroffen. So stellte das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss zur Spenderkreisbeschränkung fest, dass der Schutzbereich des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit der Organempfängerin aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG insoweit durch die Regelung berührt sei, als „staatliche Regelungen dazu führen, dass einem kranken Menschen eine nach dem Stand der medizinischen Forschung prinzipiell zugängliche Therapie, mit der eine Verlängerung des Lebens, mindestens aber eine nicht unwesentliche Minderung des Leidens verbunden ist, versagt bleibt“.272 In diese abwehrrechtliche Verbürgung greife die Spenderkreisbeschränkung mittelbar ein, da der Gesetzgeber durch die Regelung „die Therapiemöglichkeiten dieser Patientengruppe kausal zurechenbar nachhaltig beeinträchtigt“.273 Der vor dem Bundesverfassungsgericht beschwerdeführende (potentielle) Organempfänger rügte ferner eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes, insoweit er durch die Regelung „gegenüber der Patientengruppe, die einen Spender i. S. des § 8 Abs. 1 S. 2 TPG zur Verfügung habe[…], benachteiligt werde“.274 Das Bundesverfassungsgericht stellte bereits die Anwendbarkeit des allgemeinen Gleichheitssatzes mit der Begründung in Frage, dass sich die verschiedenen Patien­ tengruppen nicht in einen abgrenzbaren Kreis einfügen ließen, der allein eine Überprüfung anhand des allgemeinen Gleichheitssatzes ermögliche.275 Ohnehin seien jedoch alle Adressatinnen in gleicher Weise von der Regelung betroffen.276 In der Tat erscheint es fraglich, ob es insoweit überhaupt zu einer Ungleich­ behandlung kommt: Vielmehr werden alle Patientinnen, die einer Lebendorganspende bedürfen, in gleichem Maße von der Regelung betroffen und behandelt. Weder darf diejenige Patientin, der eine Verwandte als Spenderin zur Verfügung steht, eine Organspende von einer Außenstehenden entgegennehmen, noch darf das diejenige Patientin, der keine Verwandte als Spenderin zur Verfügung steht. Dementsprechend ist auch das Bundesverfassungsgericht davon ausgegangen, dass es durch die Regelung allein zu einer faktischen Benachteiligung Organbedürftiger ohne Spenderinnen aus dem zulässigen Spenderkreis komme.277

272

BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399 (3400). BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399 (3401). 274 BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399 (3402). 275 BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399 (3402). 276 BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399 (3402). 277 Diese werde durch die Einschätzung des Gesetzgebers gerechtfertigt, nach welcher ein Verwandtschafts- oder Näheverhältnis die Gewähr für die Erreichung der gesetzgeberisch verfolgten, legitimen Ziele biete, BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399 (3402). Mangels Geeignetheit der Regelung zur Sicherung der Freiwilligkeit und mangels Erforderlichkeit zur Eindämmung von Organhandel geht Esser davon aus, dass mit der Regelung eine Ungleichbehandlung einhergehe, ders., Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 176. 273

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

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(3) Grundrechte der behandelnden Ärztin Die Regelung greift ferner in die Grundrechte der behandelnden Ärztinnen ein. So verkürzt sie zum einen die berufliche Freiheit von Transplantationschirurginnen, Organe auch außerhalb des durch § 8 Abs. 1 S. 2 TPG vorgeschriebenen Spenderkreises zu ex- und zu transplantieren. Auch das Bundesverfassungsgericht hat anerkannt, dass die Beschränkung des Spenderkreises in die über Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit der behandelnden Ärztinnen eingreift.278 Die Spenderkreisbeschränkung kann zum anderen die Glaubens- und Gewissensfreiheit der behandelnden Ärztinnen beschränken. Der vor dem Bundesverfassungsgericht beschwerdeführende Transplantationschirurg hatte in der Vergangenheit selbst bereits altruistisch eine Niere gespendet. Er trug in dem Verfahren vor, dass ihm durch die Regelung untersagt werde, was sein Gewissen und sein ärztliches Ethos von ihm forderten. Zudem gebiete ihm auch sein christliches Selbstverständnis, anderen zu helfen, wann immer es ihm möglich sei. Dass sich sein Gewissensgebot nicht allein auf seine Berufssphäre beschränke, habe er mit seiner eigenen altruistischen Nierenspende unter Beweis gestellt. In Folge der Spenderkreisbeschränkung könne er eine mögliche Lebensrettung oder jedenfalls Schmerzlinderung entgegen seiner Glaubens- und Gewissensgebote nicht bewirken. Dass er demnach entweder das strafbewehrte Verbot des § 8 Abs. 1 S. 2 TPG oder sein sittliches Gebot missachten müsse, sei mit Art. 4 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren.279 In der Tat beschränkt die Eingrenzung des Spenderkreises in einem Fall wie jenem, der dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorlag, auch die Glaubens- und Gewissensfreiheit des behandelnden Transplantationschirurgen. Dies bejahte implizit auch das Bundesverfassungsgericht und bestätigte, dass „das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 GG über die glaubensbezogenen Handlungen im engeren Sinn hinaus […] auch das Recht des Einzelnen [schützt], sein gesamtes Verhalten an den Lehren seiner religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung auszurichten und dieser Überzeugung gemäß zu handeln. Die von der Verfassung gewährte Gewissensfreiheit umfasst nicht nur die Freiheit, ein Gewissen zu haben, sondern grundsätzlich auch die Freiheit, von der öffentlichen Gewalt nicht verpflichtet zu werden, gegen Gebote oder Verbote des Gewissens zu handeln.“280

bb) Verfassungsrechtliche Rechtfertigungsansätze Als mögliche Rechtfertigungsgründe für diese Freiheitsbeeinträchtigungen kommen die Sicherung der Freiwilligkeit der Spendeentscheidung (dazu unter (1)), der Schutz vor Organhandel (dazu unter (2)), der Vorrang der postmortalen Spende und 278

BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399 (3402). BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – juris, Rn. 35. 280 BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399 (3403). 279

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

der Schutz der potentiellen Spenderinnen vor körperlicher Schädigung (dazu unter (3)) sowie weitere Aspekte (dazu unter (4)) in Betracht. (1) Sicherung der Freiwilligkeit der Entscheidung – Schutz defizitär Entscheidender Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht nennen als Rechtfertigungsgrund für die mit der Spenderkreisbeschränkung einhergehende Freiheitseinschränkung zunächst die Sicherung der Freiwilligkeit der Spende.281 Da die Regelung jedoch kein autonomiesicherndes Verfahren zur Verfügung stellt, sondern Spenden außerhalb des Spenderkreises zur Sicherung der Freiwilligkeit vollständig untersagt, ist mit der Sicherung der Freiwilligkeit in diesem Kontext offenkundig vielmehr der Schutz der Spenderinnen vor unfreiwilligen Entscheidungen gemeint, der durch ein Verbot entsprechender Spenden gewährleistet werden soll. (a) Legitimer Zweck Der Schutz der Spenderinnen vor den Folgen defizitärer Entscheidungen stellt ein verfassungsrechtlich kongruentes Gemeinwohlziel und damit einen legitimen Zweck eines Freiheitseingriffs dar.282 Soweit die Spenderkreisbeschränkung eine Schutzwirkung zugunsten jener Spenderinnen entfaltet, die sich nicht autonom zu einer Spende entscheiden, lässt sie sich als schwach paternalistisch verstehen. Da die Regelung tatbestandlich jedoch nicht nur auf defizitäre Entscheidungen beschränkt ist, sondern auch autonomes Handeln erfasst, wirkt sie zudem stark paternalistisch.283 Diese stark paternalistische Wirkung zu Lasten der autonom Handelnden, die in ihrer Freiheit, ein Organ zu spenden, beeinträchtigt werden, kann nicht zum paternalistischen Schutz dieser Spenderinnen selbst,284 sondern allein zum Schutz Dritter – der defizitär Entscheidenden – einer Rechtfertigung zugänglich sein.

281 BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399 (3401); BT-Drs. 13/4355, S. 20. 282 BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399 (3401). Siehe auch FatehMoghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 28; im Anschluss daran auch Oswald, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 94 (98). Siehe auch bereits im zweiten Kapitel unter B. IV. 283 Grundlegend anders Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 28; im Anschluss auch Oswald: „Dabei soll weicher Paternalismus […] weit verstanden werden und bereits Fälle erfassen, in denen sich staatliche Maßnahmen zum Schutz einer Person auf die Gefahr einer nicht autonomen Entscheidung dieser Person stützen, die über ihre Rechtsgüter verfügt.“, dies., Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 141. 284 Siehe dazu im zweiten Kapitel unter B. III.

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

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(b) Geeignetheit Wie bereits ausgeführt ist eine solche Regelung mit stark paternalistischen Nebenwirkungen zum Schutz defizitär Entscheidender nur geeignet, wenn hinsichtlich der Unfreiwilligkeit ein Gefahrenanlass gegeben ist und ein Wirkzusammenhang zwischen dem Schutz und der Freiheitseinschränkung besteht.285 Für die Annahme eines Gefahrenanlasses bedarf es eines durch „Anhaltspunkte untermauerten Risikos“286 defizitärer Entscheidungen;287 die Freiheitsbeschränkung darf nicht in Blaue hinein in einer Konstellation erfolgen, in der die Gefahr defizitärer Entscheidungen ebenso hoch ist wie in jeder anderen, alltäglichen Situation auch. Im vorliegenden Zusammenhang kann die fehlende Zugehörigkeit einer Lebendspenderin zu dem in § 8 Abs. 1 S. 2 TPG vorgeschriebenen Spenderkreis jedoch kein solches Indiz und keinen Anhaltspunkt für eine besondere Gefahr defizitärer Entscheidungen darstellen: Für die von der Regelung erfasste anonyme, nicht gerichtete Spende ergibt sich dies schon daraus, dass eine Gefahr der Beeinflussung im Rahmen von Druck- und Abhängigkeitskonstellationen mangels Kontakts zwischen Spenderin und Empfängerin gar nicht denkbar ist.288 Bei der anonymen Spende an eine Fremde besteht insofern keine besondere Gefahr einer defizitären Entscheidung. Eine gegenüber der Spende im zulässigen Kreis gesteigerte Gefahr der Unfreiwilligkeit kann auch dann nicht bestehen, wenn die Spenderin sich im Rahmen einer Überkreuz- und Poolspende aus den identischen Gründen und derselben Motivation heraus zu einer Spende entschließt wie bei einer direkten Spende im Näheverhältnis.289 Doch auch bei gerichteten Spenden außerhalb der de lege lata zulässigen Verwandtschafts- und Näheverhältnisse erhöht sich die Gefahr defizitärer Entscheidungen nicht: Weitergehend nahm der beschwerdeführende, potentielle Organempfänger in dem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht sogar an, dass die „Risiken der Einflussnahme Dritter auf die Entscheidung des Spenders“ bei „Verwandten und nahen Bekannten […] aufgrund der vielfältigen psychischen und faktischen Abhängigkeiten innerhalb eines familiären und familienähnlichen 285

Siehe dazu im zweiten Kapitel unter B. V. Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 496. 287 Auch Oswald knüpft in diesen Fällen an die Geeignetheit an und daran, „ob für die Gruppe, deren Selbstverfügungsfreiheit beschränkt wird, anhand konkreter Anhaltspunkte eine erhöhte Gefahr defizitärer Entscheidungen besteht und ob das gewählte Mittel dem Schutz hiervor dient.“, dies., in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 94 (99); siehe auch dies., Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 195. 288 Dazu auch Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 52; Cronin / ​Siegler, in: Gruessner / ​Benedetti, Living Donor Organ Transplantation, 2008, S. 16 (20); Esser, Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 187; Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 267; Spranger, Recht und Bioethik, 2010, S. 393. 289 Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 267. 286

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

Beziehungsgeflechts“290 vielmehr größer seien, als dies bei einer Spende durch Fremde der Fall sei. Ganz im Gegenteil „könne die Freiwilligkeit bei keiner Gruppe potentieller Spender in einem so hohen Maß vermutet werden wie bei Personen, die eine altruistische Fremdspende wünschten“.291 Tatsächlich kann es gerade in Nähe- und Verwandtschaftsverhältnissen zu unfreiwilligen und unter innerem und äußerem Druck getroffenen Entscheidungen kommen292 – auch wenn das Vorliegen eines inneren Drucks, der etwa in Zusammenhang mit einer Spende zur Rettung des Lebens des eigenen Kinds oder eines Elternteils entstehen kann, im Zweifel keinen Einfluss auf die Autonomie einer Entscheidung haben wird.293 Emotionale oder wirtschaftliche Abhängigkeiten und Einflussnahmen, die autonomiere­ levanten, äußeren Druck generieren können, liegen jedoch bei Spenden innerhalb des benannten Spenderkreises näher als bei Spenden zugunsten von Fremden.294 Unabhängig davon, ob die Gefahr in den gesetzlich zugelassenen Fällen aber tatsächlich größer ist als in allen gesetzlichen untersagten Fällen, besteht in letzteren im Vergleich zu den gesetzlich zugelassenen Fällen jedenfalls kein per se erhöhtes Risiko defizitärer Entscheidungen. Insofern wurde innerhalb des gesetzgeberischen Beurteilungsspielraums mit den Nähe- und Verwandtschaftsverhältnissen kein adäquates Kriterium gewählt:295 Mangels sachlichen Zusammenhangs verletzt die Regelung laut Fateh-Moghadam vielmehr das Willkürverbot.296 Im Ergebnis ist das Verbleiben innerhalb des de lege lata zulässigen Spenderkreises kein tauglicher Anhaltspunkt, um der Gefahr fehlender Freiwilligkeit der Spendeentscheidung entgegenzuwirken.297 Mangels Gefahrenanlasses und Wirkzusammenhangs vermag die Spenderkreisbeschränkung die Sicherung der Freiwilligkeit der Spendeent 290

BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – juris, Rn. 17. BVerfG 11.8.1999  – 1  BvR 2181/98 u. a.  – juris, Rn. 17. So auch Cronin / ​Siegler, in: ­Gruessner / ​Benedetti, Living Donor Organ Transplantation, 2008, S. 16 (20). 292 Price, Legal and Ethical Aspects of Organ Transplantation, 2000, S. 328. Siehe dazu auch Esser, Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 165, 187 f. 293 Zur Differenzierung zwischen leichten und freiwilligen Entscheidungen und zum „starke[n] Aufforderungscharakter der Situation“ in diesem Zusammenhang auch Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 56; Gutmann / ​Schroth, Organlebendspende in Europa, 2002, S. 114. 294 König, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 501 (517); Schroth, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (487 f.). Siehe dazu auch Breyer et al., Organmangel, 2006, S. 130. 295 Zu der insofern fehlenden Konsequenz und der daraus folgenden Unverhältnismäßigkeit der Einschränkung siehe Spranger, Recht und Bioethik, 2010, S. 392 f. 296 Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 266, 268; ebenso Scheinfeld, der den Verstoß darin sieht, dass der Gesetzgeber die Gefahr der Unfreiwilligkeit im Näheverhältnis für akzeptabel halte, willkürlich und gleichheitssatzwidrig aber nicht außerhalb desselben, ders., Organtransplantation und Strafrechtspaternalismus, 2016, S. 104 f. 297 Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 52; Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 266 f. Auch Gutmann befindet diese Annahme für „offensichtlich verfehlt“, ders., in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 29. Zum Ganzen ebenso Schroth, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (488). 291

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

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scheidung nicht zu fördern;298 sie ist zum Schutz defizitär Entscheidender daher nicht geeignet. (c) Erforderlichkeit Der vor dem Bundesverfassungsgericht beschwerdeführende, potentielle Organempfänger hielt die Eingrenzung des Spenderkreises zur Sicherung der Freiwilligkeit zudem nicht für erforderlich, da auch insoweit die Überprüfung der Freiwilligkeit im Einzelfall im gesetzlich vorgeschriebenen Kommissionsverfahren als milderes, gleich geeignetes Mittel zur Verfügung stünde.299 Dem widersprach das Bundesverfassungsgericht: Die Annahme, dass das Vorliegen von Freiwilligkeit nur begrenzt einer Feststellung zugänglich sei, sei vom gesetzgeberischen Beurteilungsspielraum gedeckt und ließe die Vermutung von Freiwilligkeit in bestimmten Näheverhältnissen zu.300 Es könne zwar freiwillige Fremdspenden geben; bezweifelt werde aber die Möglichkeit der Feststellung der Freiwilligkeit im Rahmen eines Verfahrens.301 Im Übrigen werde im Rahmen des Kommissionsverfahren das Vorliegen von Freiwilligkeit nicht positiv festgestellt, sondern nur das Vorliegen entgegenstehender Anhaltspunkte überprüft.302 Da die Ausgrenzung Fremder und der Empfängerin nicht nahestehender Personen aus dem Kreis möglicher Spenderinnen, wie bereits ausgeführt, jedoch gar nicht geeignet ist, die Freiwilligkeit der Spendeentscheidung sicherzustellen und damit auch nicht geeignet ist, Schutz vor defizitären Entscheidungen zu gewähren, erscheint eine kommissionelle Untersuchung der Freiwilligkeit im Einzelfall zur Sicherung derselben zumindest wirkungsvoller als die Spenderkreisbeschränkung selbst. Jedenfalls einer de lege ferenda positiv und bindend ausgestalteten kommissionellen Überprüfung würde insoweit eine gegenüber der Spenderkreisbeschränkung und der damit einhergehenden Vermutungswirkung deutlich überlegene Wirkkraft zukommen.303 Der dies zurückweisenden Argumentation des Bundesverfassungsgerichts, die sich auf die geringere Eignung des Kommissionsverfahrens bezieht, kann mit Scheinfeld schon deshalb nicht gefolgt werden, weil es sich nicht darauf stützen kann, dass die striktere Regelung immer wirksamer ist, wenn 298

Für fraglich hält das auch Spranger, in: Breyer / ​Engelhard (Hrsg.), Anreize zur Organspende, 2006, S. 111 (122); siehe auch Zillgens: „Ob der Spendeentschluß Ergebnis einer autonomen Entscheidungsfindung ist, kann nicht nach der Nähebeziehung zwischen Spender und Empfänger beurteilt werden.“, dies., Die strafrechtlichen Grenzen der Lebendorganspende, 2004, S. 319. 299 BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – juris, Rn. 18; s. a. Spranger, Recht und Bioethik, 2010, S. 393. 300 BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399 (3402). 301 BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399 (3402). Kritisch Scheinfeld, Organtransplantation und Strafrechtspaternalismus, 2016, S. 110–116. 302 BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399 (3402). 303 Siehe dazu bereits unter C. I. 3. b) aa) (3).

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

es eine prozedurale Überprüfung in anderen Konstellationen – insbesondere bei der Überprüfung einer Spende auf Anhaltspunkte für Organhandel innerhalb des zulässigen Spenderkreises – für hinreichend sicher hält.304 Der kommissionellen Überprüfung kommt zudem wie dargelegt305 eine niedrigere Eingriffswirkung zu, da in ihrem Rahmen nicht vereinheitlichend in das Selbstbestimmungsrecht jeder potentiellen Spenderin eingegriffen wird, die nicht zum Personenkreis des § 8 Abs. 1 S. 2 TPG gehört, sondern es zu einer Einzelfallbetrachtung und damit zu einer Verringerung der Anzahl von Konstellationen kommt, in denen potentiellen Spenderinnen die Spende allein auf Grund mangelnder Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe untersagt wird. Darüber hinaus ist die Spenderkreisbeschränkung ohnehin bereits in ihrem Umfang nicht erforderlich, um den Schutz defizitär Entscheidender zu gewährleisten. Sie ist absolut ausgestaltet, sie wendet sich ohne Ausnahmeregelung an autonom und defizitär entscheidende, potentielle Spenderinnen und enthält keine Möglichkeit, die von ihr ausgehende „Vermutung“ einer defizitären Entscheidung im Einzelfall zu widerlegen,306 obwohl die Statuierung einer solchen Ausnahme im konkreten Zusammenhang durchaus umsetzbar wäre: Denn die einzelne Spendeentscheidung wird in dem der Lebendspende vorausgehenden Prozess – nicht zuletzt im Rahmen des kommissionellen Überprüfungsverfahrens – ohnehin einer Einzelfallbetrachtung unterzogen, sodass auch eine abweichende Behandlung einzelner Fälle außerhalb der Regel möglich und nicht bereits in der Umsetzung undenkbar ist. Denn anders als unter Umständen bei Massengeschäften des täglichen Lebens besteht insofern keine praktische Notwendigkeit einer Generalisierung, in Folge derer die Beurteilung des Einzelfalls zurücktreten müsste. Vielmehr ließe sich der Schutz defizitär Entscheidender ebenso wirksam gewährleisten, wenn Spendekonstellationen tatbestandlich nicht erfasst würden, in denen – wie etwa bei der anonymen, nicht gerichteten Spende – eine Beeinflussung der Autonomie der Spenderinnen bereits qua Natur der Sache ausgeschlossen ist und im Übrigen eine Ausnahmeregelung bestünde, nach welcher Spenden zulässig wären, hinsichtlich derer sich nach entsprechender Evaluation Zweifel an der Autonomie nicht ergeben. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist der von der Spenderkreisbeschränkung hinsichtlich des Schutzes defizitär Entscheidender ausgehende umfassende und absolute Schutz nicht erforderlich.

304

Scheinfeld, Organtransplantation und Strafrechtspaternalismus, 2016, S. 106–117 mit Verweis auf die prozedurale Lösung bei der Kastration. 305 Siehe auch dazu bereits unter C. I. 3. b) aa) (3). 306 Auch das Vorbringen des beschwerdeführenden potentiellen Spenders vor dem Bundesverfassungsgericht beinhaltete die Forderung nach einer solchen „Härtefallregelung“ in Fällen, in denen die Übertragung medizinisch indiziert und die Freiwilligkeit kommissionell festgestellt sei sowie das Vorliegen von Organhandel ausgeschlossen werden könne, BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – juris, Rn. 31.

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

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(d) Verhältnismäßigkeit i. e. S. Hinsichtlich des intendierten Schutzes defizitär Entscheidender ist die Regelung daher auch nicht verhältnismäßig i. e. S. Denn der Schutz des Selbstbestimmungsrechts autonom und rein selbstbezüglich Handelnder, das von der Regelung beeinträchtigt wird, überwiegt gegenüber dem Schutzbedürfnis defizitär Entscheidender mangels besonderer Gefährdung in der gesetzlich erfassten Konstellation deutlich. Die Spenderkreisbeschränkung, die weder einer tatsächlichen Gefährdung wirksam und zielgerichtet begegnet, noch in ihrer selbstbestimmungsfeindlichen und paternalistischen Absolutheit erforderlich ist, kann daher nicht angemessen sein kann. Soweit man sich vor Augen führt, dass auf Grund der Spenderkreisbeschränkung potentielle Empfängerinnen durch ein Verbot der konkreten Organspende der Gefahr des Todes oder schwerer Gesundheitsschädigungen ausgesetzt werden können, um Spenderinnen vor unfreiwilligem Verhalten zu schützen, für das aus generalisierender Perspektive nicht mehr Anhaltspunkte bestehen als in jeder anderen Spendesituation auch, wird die Unverhältnismäßigkeit der Regelung unter dem Gesichtspunkt des Gefährdungsschutzes besonders deutlich.307 (2) Schutz vor Organhandel Als Rechtfertigungsgrund für den von der Regelung ausgehenden Grundrechtseingriff wird im Rahmen des Gesetzentwurfs auch der Schutz vor Organhandel genannt.308 (a) Legitimer Zweck Dass das Ziel der Verhinderung von Organhandel „auf vernünftigen Gründen des Allgemeinwohls [beruht], die den Gesetzgeber grundsätzlich zu einem Grundrechtseingriff berechtigen“ ist aus Perspektive des Bundesverfassungsgerichts unproblematisch.309 Vorliegend wurde jedoch bereits dargelegt, dass Organhandel nicht in jeder Form ein schädigendes und verhinderungswürdiges Übel darstellt,310 so dass bereits die Legitimität dieses Zwecks zweifelhaft erscheint. Legitimer Kern des Organhandelsverbots ist allein der Schutz defizitär Entscheidender311 – eine Ausrichtung, die, wie soeben ausgeführt, die Spenderkreisbeschränkung jedoch nicht zu rechtfertigen vermag.

307

Ähnlich Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 29. BT-Drs. 13/4355, S. 20. So auch genannt im Rahmen von BVerfG 11.8.1999  – 1  BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399 (3401). 309 BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399 (3401). 310 Siehe dazu unter C. I. 311 Siehe dazu unter C. I. 3. b) aa) (1). 308

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

(b) Geeignetheit Selbst soweit man die Verhinderung von Organhandel jedoch als solchen als legitimen Zweck einer Grundrechtsbeschränkung anerkennen würde, erscheint die Geeignetheit der Spenderkreisbeschränkung zur Förderung dieses Ziels zweifelhaft: So ging auch der Beschwerdeführer in dem Verfahren am Bundesverfassungsgericht davon aus, dass „§ 8 Abs. 1 Satz 2 TPG […] nicht geeignet [sei], der Gefahr eines (verdeckten) Organhandels zu begegnen. Die Möglichkeit, sich für sein Organ eine Gegenleistung versprechen oder gewähren zu lassen, sei gerade bei verwandtschaftlichen Verhältnissen stärker als außerhalb solcher Verhältnisse.“312 In der Tat ist eine solche Gefahr in familiären Konstellationen, in denen die finanziellen Strukturen undurchsichtig sind, nicht fernliegend: Insbesondere besteht in der Regel auch ein wirtschaftliches Interesse an der Gesundheit und der damit einhergehenden Arbeitsfähigkeit der anderen Familienmitglieder – zudem können durch genaue Kenntnis der Verhältnisse und der Geschlossenheit eines Familiensystems (finanzielle) Anreize zur Organspende viel pointierter zum Zuge kommen und verdeckt werden.313 Entgegen der Darlegungen des Beschwerdeführers hielt das Bundesverfassungsgericht die Regelung jedoch für geeignet, da es jedenfalls in den Fällen nicht zu Organhandel kommen könne, in denen die Organspende auf Grund der Spenderkreisbeschränkung verboten werde.314 Die Ausführungen zu den besonderen Gefahren im Familienrahmen könnten vielmehr für eine generelle Untersagung der Lebendspende streiten, nicht aber die Geeignetheit der Regelung in Frage stellen.315 Im Ergebnis hat diese Argumentation in der Urteilsrezeption Zustimmung gefunden. Zwar geht Esser davon aus, dass Organhandel auf einem Mangel an Spenderorganen basiere, der wiederum durch eine restriktive Regelung der Lebendspende gefördert werde.316 Allerdings sei eine einschränkende Handhabe, die die Überschaubarkeit des Spenderkreises garantieren würde, zumindest nicht völlig ungeeignet, um verdecktem Organhandel entgegenzutreten und deshalb vom Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers umfasst.317 Auch Fateh-Moghadam hält es nicht für willkürlich, eine Spende außerhalb eines Näheverhältnisses eher für kommerziell motiviert zu halten als eine Spende innerhalb eines Näheverhältnisses, 312

BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – juris, Rn. 17. König, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 501 (517); Schroth, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (487 f.). 314 BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399 (3401); zustimmend Zillgens, Die strafrechtlichen Grenzen der Lebendorganspende, 2004, S. 336. 315 BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399 (3401 f.). 316 Esser, Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 166 f. Zustimmend Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 53. 317 Esser, Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 166 f.; dagegen Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 53. 313

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

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da eine nicht-kommerzielle Motivation in diesem Rahmen zumindest besonders wahrscheinlich sei.318 Daran ändere auch die Tatsache nichts, dass es ebenso unter Fremden und Personen außerhalb des benannten Näheverhältnisses zu nicht-kommerziellen Spenden kommen könne.319 Dem ist insofern zuzustimmen, als die Tatsache, dass es auch unter nahestehenden Personen und Familienangehörigen zu Organhandel kommen kann,320 nicht gegen eine Geeignetheit der Eingrenzung spricht – ebenso wenig wie das mögliche Vorliegen besser geeigneter Maßnahmen. Denn die Geeignetheit erfordert nicht, dass die Regelung das Problem vollständig löst: Vielmehr ist allein von Relevanz, dass die Maßnahme in der Lage ist, den Zweck jedenfalls zu fördern321 und die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass der Erfolg zumindest teilweise eintritt322  – wofür vorliegend das Argument des Bundesverfassungsgerichts sprechen könnte, dass ein Ausschluss bestimmter Konstellationen der Lebendspende, mit dem eine Verringerung der Möglichkeit zur Lebendspende einhergeht, auch zu einer Verringerung der Wahrscheinlichkeit von Organhandel führt.323 Allerdings wird für die Geeignetheit einer Maßnahme trotz gesetzgeberischen Beurteilungs- und Gestaltungsspielraums über eine Zielförderung hinaus auch das Vorliegen eines Wirkzusammenhangs zwischen der Regelung als Mittel und ihrem konkreten Zweck gefordert.324 Unabhängig davon, dass sich Organhandel im Wege der Begrenzung der Spende auf ein Nähe- oder Verwandtschaftsverhältnis sicher nicht vollständig verhindern lässt, erscheint das Bestehen eines Wirkzusammenhangs zwischen einer Eindämmung des Organhandels und dem Ausschluss nicht verwandter oder nahestehender Personen aus dem Spenderkreis mehr als fraglich: Dies gilt jedenfalls, soweit durch die Spenderkreisbeschränkung auch anonyme Lebendspenden untersagt. Denn hinsichtlich der Verhinderung von Organhandel begründet die Regelung einen Gefährdungsschutz, der unabhängig vom tatsächlichen Vorliegen eines kommerziellen Organverkaufs bereits die Handlung unter Strafe stellt, die möglicherweise die Grundlage für diesen darstellen kann. Die strafbare Spende außerhalb des Spenderkreises, bei der es nicht zu einem Organhan 318

Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 269 f. Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 270. Augsberg lehnt die Eignung mit dem Hinweis darauf ab, dass es nicht ersichtlich sei, weshalb die Gefahr des Organhandels außerhalb des Spenderkreises kleiner sein solle als innerhalb, ders., in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 53. 320 Vgl. zu entsprechenden, tatsächlichen Vorkommnissen auch BSG 16.7.1996  – 1 RK 15/95 – BSGE 79, 53, dem ein Fall zugrunde liegt, in welchem ein Organspender 55.000 DM zur Kompensation von erlittenen Nachteilen von seinem Bruder gezahlt bekam, an den er eine Niere gespendet hatte. 321 Grzeszick, in: Maunz / ​Dürig (Hrsg.), GG, 81. Lfg. 2017, Art. 20 Rn. 112. 322 Grzeszick, in: Maunz / ​Dürig (Hrsg.), GG, 81. Lfg. 2017, Art. 20 Rn. 112. 323 BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399 (3401). 324 Kingreen / ​Poscher, Grundrechte, 3. Aufl. 2017, § 6 Rn. 334; Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 108, 195 f. Siehe dazu auch bereits im zweiten Kapitel unter B. V. 2. 319

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

del kommt, entspricht insofern der strafbaren Trunkenheitsfahrt, bei der niemand verletzt oder konkret gefährdet wird. Die Geeignetheit eines solchen abstrakten Gefährdungsverbots zum Schutz eines Rechtsguts ist jedoch abzulehnen, wenn das untersagte Verhalten das in Frage stehende Rechtsgut nicht einmal abstrakt gefährden oder beeinträchtigen kann.325 So verhält es sich mit anonymen Spendekonstellationen: Da ein Organhandel in diesem Rahmen bereits denklogisch nicht möglich ist, kann es nicht einmal einer abstrakten Gefährdung kommen.326 Mangels Gefährdungslage kann ein Wirkzusammenhang somit nicht bestehen; die Regelung muss jedenfalls hinsichtlich anonymer Spenden als nicht geeignet zur Verhinderung von Organhandel angesehen werden. (c) Erforderlichkeit Auch an der Erforderlichkeit der Spenderkreiseinschränkung zur Eindämmung von Organhandel bestehen Zweifel. Vorliegend ist es zunächst das strafbewehrte Verbot des Organhandels durch die §§ 18, 19 TPG selbst, das ein im Verhältnis zur Spenderkreisbeschränkung milderes, gleich geeignetes Mittel zur Eindämmung von Organhandel darstellen könnte.327 Insoweit es nicht mit einer Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts derjenigen einhergeht, die zwar zur unentgeltlichen Lebendspende bereit sind, aber nicht zum Spenderkreis gehören, wirkt das strafbewehrte Organhandelsverbot milder als die Spenderkreisbeschränkung.328 Ob das Organhandelsverbot im Vergleich zu der bereits bei der Gefährdung ansetzenden Spenderkreisbeschränkung allerdings einen ebenso wirksamen Schutz entfaltet, erscheint in Anbetracht des gesetzgeberischen Beurteilungsspielraums zumindest fraglich: Auch wenn die doppelte Vorverlagerung problematisch ist, vermag die Spenderkreisbeschränkung zumindest Fälle zu erreichen, bei denen ein Organhandel gar nicht erst erkannt oder nachgewiesen wird. Da sie insoweit bereits nicht geeignet ist, kann die Regelung jedoch jedenfalls hinsichtlich anonymer Spenden auch nicht erforderlich sein: Mangels denkbaren Organhandels in diesen Konstellationen wäre eine Regelung, die anonyme Spenden zulässt, zur Verhinderung von Organhandel gleich geeignet und würde gegenüber

325 Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 108. 326 Zur fehlenden Berührung der in Frage stehenden Rechtsgüter im Falle der anonymen Lebendspende trug im Verfahren auch der beschwerdeführende Chirurg vor, BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399. 327 Vgl. das Vorbringen des beschwerdeführenden potentiellen Organempfängers, BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – juris, Rn. 18; dazu auch Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 272; Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 29; Spranger, Recht und Bioethik, 2010, S. 392; ders., in: Breyer / ​Engelhard (Hrsg.), Anreize zur Organspende, 2006, S. 111 (123). 328 Esser, Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 172.

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

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dem Selbstbestimmungsrecht der Spenderinnen deutlich milder wirken.329 Doch auch außerhalb anonymer Spenden ist das umfassende Verbot nicht erforderlich. Als milderes Mittel zur Verhinderung von Organhandel kommt insofern wiederum eine verfahrensrechtliche Absicherung in Betracht – etwa in Form der gutachterlichen Untersuchung durch die nach Landesrecht zuständige Kommission gemäß § 8 Abs. 3 S. 2 TPG.330 Ähnliches hat auch das Bundessozialgericht bereits in seinen Ausführungen zur Erforderlichkeit der Anwendung des Organhandelsverbots auf die Überkreuz-Lebendspende angelegt: „Dem Einwand, dass auch hier wirtschaftliche Überlegungen im Hintergrund vorhanden sein könnten, ist der Gesetzgeber – im Übrigen für alle Fälle der Lebendspende – selbst begegnet, in dem er die Prüfung, ob Anhaltspunkte für eine fehlende Freiwilligkeit der Organspende oder für verbotenen Organhandel vorhanden sind, nach § 8 Abs. 3 S. 2 TPG in die Hand einer Ethikkommission gelegt hat.“331

Wie bereits ausgeführt, handelt es sich bei der kommissionellen Überprüfung um ein im Verhältnis zur absoluten Spenderkreisbeschränkung milderes Mittel.332 Zweifel an der gleichen Eignung der Maßnahme könnten zwar insofern bestehen, als auch auf Seiten der Kommission das Vorliegen von verschleiertem Organhandel 329 Für eine Organvergabe über eine Vermittlungsstelle wie Eurotransplant, die die Anonymität der Betroffenen wahrt und die der Gefahr der Kommerzialisierung ebenso wirksam begegnen würde wie die Spenderkreisbeschränkung Gutmann / ​Schroth, Organlebendspende in Europa, 2002, S. 5, 16. Auch das BVerfG stimmte mit dem zur Spende bereiten Beschwerdeführer dahingehend überein, dass die Gefahr von Organhandel bei einer anonymen Vermittlung der lebend gespendeten Organe über Eurotransplant vollständig eingedämmt wäre. Dies sei jedoch unerheblich, da sich aus der als Abwehrrecht konzipierten allgemeinen Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG kein Anspruch gegen den Staat auf Ermöglichung einer anonymen Lebendspende durch entsprechende Einrichtungen ergebe, BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399 (3402). Dies erscheint in einer Konstellation, in der es um Leben und Tod der Betroffenen gehen kann und das in Frage stehende Schutzbedürfnis zudem auf einer Einschränkung durch den Staat selbst beruht, äußerst fraglich. Vielmehr kann zur Ermöglichung einer gleich geeigneten, aber weniger einschneidenden Maßnahme ein zumutbarer und vernünftiger Aufwand erwartet werden, so der Umkehrschluss aus BVerfG 6.10.1987 – 1 BvR 1086/82 u. a. – BVerfGE 77, 84 (110); BVerfG 14.11.1989 – 1 BvL 14/85 u. a. – BVerfGE 81, 70 (91). So verhält es sich vorliegend: Gerade in Anbetracht der besonders bedeutsamen Rechtsgüter, die mit Leben und Gesundheit auf dem Spiel stehen und dem verhältnismäßig geringen Aufwand der Installation einer anonymen Vermittlungsstelle erscheint ein derartiger Aufwand zumutbar und vernünftig. Eine Erweiterung der Kompetenzen von Eurotransplant hin zu einer Vermittlung auch von lebend gespendeten Organen sähe sich dagegen wohl derselben Kritik ausgesetzt, wie bereits derzeit die Delegation der Allokation postmortal gespendeter Organe als grundrechtsrelevante Aufgabe an eine staatsferne Stiftung, vgl. nur etwa Molnár-Gábor, in: Vöneky et al. (Hrsg.), Ethik und Recht, 2013, S. 325–349. 330 Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 55; Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 272; Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 29; Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 175; Scheinfeld, Organtransplantation und Strafrechtspaternalismus, 2016, S. 117. 331 BSG 10.12.2003 – B 9 VS 1/01 R – BSGE 92, 19 (26); siehe dazu auch Spranger, Recht und Bioethik, 2010, S. 388. 332 Siehe dazu soeben unter C. II. 3. b) bb) (1) (c).

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

übersehen werden kann.333 Nach vorliegend vertretener Ansicht ist Organhandel jedoch auch nur dann ein verhinderungswürdiges Übel, wenn die dem Organhandel zugrundeliegende Entscheidung an Autonomie einbüßt bzw. die Gefahr defizitärer Entscheidungen besteht.334 Würden alle Spendeentscheidungen auf ihre Autonomie hin überprüft, bedürfte es dementsprechend weder eines Organhandelsverbots noch einer Spenderkreisbeschränkung. Durch eine bindende Begutachtung aller Entscheidungen – auch innerhalb des de lege lata zulässigen Spenderkreises – würde insoweit ein selbstbestimmungsschonender und damit milderer und ein nicht nur gleich geeigneter, sondern sogar wirksamerer Freiwilligkeitsschutz gewährleistet. Die mit der Spenderkreisbeschränkung einhergehende Freiheitsbeschränkung ist zum Schutz vor dem, was Organhandel zulässigerweise verhindern soll, somit auch nicht erforderlich.335 (d) Verhältnismäßigkeit i. e. S. Dementsprechend ist die Regelung auch unter diesem Gesichtspunkt nicht angemessen.336 Da die Verhinderung von Organhandel wie dargelegt nur legitimer Zweck einer Freiheitsbeschränkung sein kann, wenn damit der Schutz defizitär Entscheidender erreicht wird und dieser von der Spenderkreisbeschränkung nicht bewirkt wird, kann die mit der eingriffsintensiven und zugleich wenig wirksamen Regelung einhergehende umfassende Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts der Beteiligten nicht gerechtfertigt werden. (3) Vorrang der postmortalen Spende und Schutz der potentiellen Spenderinnen vor körperlicher Schädigung Die Begrenzung des Spenderkreises wird ferner mit dem Vorrang der postmortalen Organentnahme begründet, die laut Bundesverfassungsgericht darauf basiert, dass „die Organentnahme für den lebenden Spender kein Heileingriff sei, sondern 333

Scheinfeld hält die Differenzierung dann aber für willkürlich: Wenn die kommissionelle Überprüfung auf Organhandel bei Spenden im Näheverhältnis ausreiche, müsse dies erst recht für Spenden außerhalb desselben gelten, bei denen Organhandel tendenziell sogar schlechter verschleiert werden könne, ders., Organtransplantation und Strafrechtspaternalismus, 2016, S. 106 f. 334 Siehe dazu unter C. I. 3. 335 Ohne diese Einschränkung verneint auch Esser die Erforderlichkeit in Anbetracht der Strafbewehrung des Organhandels, ders., Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 174, 192. Die Erforderlichkeit bejahend, obwohl der Gesetzgeber mit der Spenderkreisbeschränkung „übers Ziel hinausgeschossen sei“, Zillgens, Die strafrechtlichen Grenzen der Lebendorganspende, 2004, S. 338. 336 So unter Hinweis auf die mit der Regelung einhergehende potentielle Lebens- und schwere Gesundheitsgefahr der Betroffenen auch Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 56.

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

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ihm grundsätzlich körperlich schade und ihn gesundheitlich gefährden könne“.337 Insoweit wird die Betroffene auch gegen ihren autonom gebildeten Willen zu ihrem eigenen körperlichen Schutz an der Organspende gehindert. Das Bundesverfassungsgericht hält diesen Ansatz für einen legitimen Zweck: „Zwar bedarf der Schutz des Menschen vor sich selbst als Rechtfertigungsgrund staatlicher Maßnahmen in Ansehung der durch Art. 2 Abs. 1 GG verbürgten allgemeinen Handlungsfreiheit grundsätzlich seinerseits einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Auch selbstgefährdendes Verhalten ist Ausübung grundrechtlicher Freiheit. Das ändert aber nichts daran, daß es ein legitimes Gemeinwohlanliegen ist, Menschen davor zu bewahren, sich selbst einen größeren persönlichen Schaden zuzufügen.“338

Insbesondere sei die Spenderkreisbeschränkung erforderlich, „um das Ziel, potentielle Organspender vor Gesundheitsgefährdungen möglichst weitgehend zu schützen und damit den Vorrang der postmortalen Organentnahme zu verdeutlichen, zu erreichen. Dieses vom Gesetzgeber legitimerweise verfolgte Anliegen wäre nicht zu verwirklichen, wenn die Organentnahme bei einer lebenden Person generell zulässig wäre und nur unter dem Vorbehalt der Prüfung der Freiwilligkeit der Spenderentscheidung durch ein entsprechendes Verfahren stünde.“339 Diese Argumentation, die sowohl zur Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs zu Lasten der potentiellen Organspenderin als auch in Zusammenhang mit dem Grundrechtseingriff zu Lasten der potentiellen Organempfängerin herangezogen wird, ist als stark paternalistisch340 abzulehnen: Der Schutz gegen den eigenen Willen vermag die mit der Regelung einhergehenden Eingriffe aus sich heraus nicht zu rechtfertigen.341 Dies gilt auch, soweit das Bundesverfassungsgericht den Eingriff in die Grundrechte der potentiellen Empfängerin mit dem Schutz einer zweiten Person (hier: der potentiellen Spenderin) gegen deren Willen rechtfertigt  – und ein entsprechendes Tätigwerden mit einer Strafbewehrung für eine dritte Person (hier: die behandelnde Ärztin) versieht. Mit dem Auseinanderfallen der Grundrechtsbeeinträchtigten, der von der Regelung paternalistisch Geschützten und der Adressatin der Strafbewehrung, handelt es sich insoweit um einen indirekten Paternalismus im Drei-Personen-Verhältnis. Unabhängig vom Vorliegen eines Zwei 337

BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399 (3401). BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399 (3401). 339 BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399 (3402). Nach Scheinfeld liegt diesem Ansatz eine Fehlinterpretation des Gesetzentwurfs seitens des BVerfG zugrunde – der Gesetzgeber habe den Schutz der Spendergesundheit als solchen nicht intendiert, ders., Organtransplantation und Strafrechtspaternalismus, 2016, S. 92 f. 340 So ausdrücklich auch das Vorbringen des beschwerdeführenden potentiellen Spenders vor dem Bundesverfassungsgericht: „In einem liberalen Rechtsstaat sei ein solcher Paternalismus gegenüber der freiwilligen, in den Risiken überschaubaren Entscheidung eines einwilligungsfähigen und ärztlich intensiv aufgeklärten Spenders nicht zu rechtfertigen. Die nicht sozialschädliche Entscheidung über die eigene körperliche Integrität, die auch die Inkaufnahme von Risiken und Schäden miteinschließe, genieße den Schutz des Grundgesetzes.“, BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – juris, Rn. 30. 341 Siehe dazu im zweiten Kapitel unter B. III. 6. 338

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

oder Drei-Personen-Verhältnisses darf bei indirekten Paternalismen jedenfalls die Tatsache, dass in dieser Konstellation ein Grundrechtseingriff (gegenüber der Empfängerin) mit dem Schutz einer Dritten (der Spenderin) gerechtfertigt wird, jedoch nicht davon ablenken, dass die Rechtfertigung paternalistischer Natur ist: Zwar erfolgt die Freiheitsbeschränkung nominell zum Schutz einer anderen; da dieser Schutz jedoch von der Geschützten selbst nicht gewollt ist, ergeben sich für die verfassungsrechtliche Bewertung im Vergleich zu direktem Paternalismus keine Unterschiede.342 Der paternalistische Rechtfertigungsansatz des Bundesverfassungsgerichts ist in der Literatur dementsprechend auch auf Kritik gestoßen343 – gerade im Hinblick auf den Umstand, dass durch die Regelung nicht ein unvernünftiges und sinnloses, sondern ein fremdnütziges, rational begründbares und persönlichkeitsrelevantes Verhalten untersagt werde.344 Besonders problematisch sei, dass so nicht nur die Bevormundung der Spenderinnen, sondern sogar ein schwerer Eingriff in die Grundrechte der potentiellen Empfängerinnen345 paternalistisch gerechtfertigt werde.346 Es sei widersprüchlich, „gegen diese abwehrrechtlichen Grundrechtspositionen von Organspendern und Organempfängern aus Art. 2 II 1 GG, eine ebenfalls aus Art. 2 II 1 GG abgeleitete objektive Schutzverpflichtung gegenüber dem Organ[spender] – gegen dessen frei verantwortlich gebildeten Willen – in Stellung zu bringen.“347 Die Regelung wird in ihrer paternalistischen Argumentation zudem mit Recht für inkonsistent befunden: So wird der Schutz der Spenderinnen durch die Spenderkreisbeschränkung gerade nicht durchgängig gewährleistet, da die Gesundheit derjenigen, die dem Spenderkreis angehören, durch die Vorschrift nicht geschützt wird.348 Zudem ist seit der Änderung des Transplantationsgesetzes durch das Gewebegesetz zwar der Handel sowohl mit Organen als auch mit Geweben gemäß § 18 TPG strafbar  – die Begrenzung des Spenderkreises gilt jedoch nur für die Übertragung von Organen, was angesichts der körperlichen Risiken, die mit der Spende von Geweben einhergehen, unschlüssig erscheint.349 Im Ergebnis kann eine Rechtfertigung der Spenderkreisbeschränkung zum Gesundheitsschutz der Spenderinnen gegen ihren autonom gebildeten Willen somit 342

Siehe dazu im zweiten Kapitel unter B. III. 2. e). Esser, Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 165; FatehMoghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 264; Gutmann, NJW 1999, 3387 (3388); Schroth, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (486). 344 Gutmann, NJW 1999, 3387 (3388). 345 Dazu sogleich unter C. II. 3. b) aa) (2). 346 Gutmann, NJW 1999, 3387 (3388). 347 Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 265. 348 Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 265. 349 Schroth, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (487). Inkonsistenzen ergeben sich ferner auch im Hinblick auf die Zulässigkeit von gesundheitsgefährdenden Schönheitsoperationen. 343

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

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nicht nur in Folge ihrer klassisch stark paternalistischen Ausrichtung einer Rechtfertigung nicht zugänglich sein  – sie ist auch inkonsistent und wertungswidersprüchlich. Der Verweis auf den Vorrang der postmortalen Spende erscheint in diesem Zusammenhang in Anbetracht der beträchtlichen Diskrepanz zwischen der Anzahl an Patientinnen, die auf der Warteliste für ein Spenderorgan stehen, und der Anzahl der zur Verfügung stehenden, postmortal gespendeten Organen350 zudem geradezu zynisch. (4) Rechtfertigung aus anderen Gründen Auch andere, denkbare Rechtfertigungsgründe der Spenderkreisbeschränkung vermögen nicht zu überzeugen. Dies gilt etwa für das Argument der Erzielung eines größeren Transplantationserfolgs bei einer genetischen Verwandtschaft von Spenderin und Empfängerin: Zum einen sind durch die in Frage stehende Vorschrift mit Eheleuten und sonstigen persönlich nahestehenden Personen auch Nicht-Blutsverwandte zur Spende zugelassen, sodass die Regelung unter diesem Gesichtspunkt nicht konsistent wäre. Zum anderen hat der Gesetzgeber selbst bei Einführung des Transplantationsgesetzes die Erweiterung des Personenkreises im Vergleich zum früheren Transplantationskodex der Deutschen Transplantationszentren auch damit begründet, dass Spenden durch Nicht-Verwandte keinen medizinischen Bedenken begegneten, da Studien aus den Vereinigten Staaten bewiesen, dass eine Lebend­ übertragung auch bei Nicht-Blutsverwandten regelmäßig erfolgversprechender sei als die Transplantation von postmortal gespendeten Organen.351 Auch würde die mit einer Freigabe des Spenderkreises einhergehende Möglichkeit, an jeden Organe spenden zu können, weder einen allgemeinen gesellschaftlichen Druck zur Spende, noch in der Konsequenz weniger autonome Spendeentscheidungen begründen: Eine solche, in sich bereits unwahrscheinliche Erwartungshaltung führt nicht per se zu einem Autonomiedefizit.352 Die möglichen Folgen sozialen Drucks werden mit der Zulassung der Organspende in Verwandtschafts- und Näheverhältnissen durch den Gesetzgeber zudem offenbar akzeptiert: Dementsprechend vermag die höhere Wahrscheinlichkeit, mit einer solchen Situation konfrontiert zu werden, nichts an der grundsätzlichen Zulässigkeit einer solchen Bedrängnis zu ändern.353 Soweit es nicht konkret zu einer Beeinträchtigung der Autonomie der Betroffenen kommt, kann das mögliche Entstehen einer Drucksituation aus antipaternalistischer Perspektive keinen Einfluss auf die Zulässigkeit der Spende haben. 350 Siehe dazu bereits unter A. Auf diesen Aspekt weist auch Esser hin, ders., Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 194 Fn. 658. 351 BT-Drs. 13/4355, S. 14. Siehe dazu auch Cronin / ​Siegler, in: Gruessner / ​Benedetti, Living Donor Organ Transplantation, 2008, S. 16 (20). 352 Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 268. 353 Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 268.

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

Eine Rechtfertigung unter diesem Aspekt ist damit ebenso abzulehnen wie eine Rechtfertigung unter dem Gesichtspunkt der aus der Selbstgefährdung resultierenden „Lasten für das Gemeinwesen“.354 Abgesehen davon, dass der Schutz der Sozialsysteme, wie bereits dargelegt, selbstgefährdendes Verhalten nicht einschränken kann,355 treten die geringen Gefahren, die für die Spenderin und damit potentiell auch für das Gemeinwesen etwa mit einer Nierenentnahme einhergehen, hinter dem enormen Nutzen der Spende für die Empfängerin und damit insbesondere auch für das Gemeinwesen zurück: Denn die Kosten für Sozial- und Krankenversicherungen werden durch eine Lebendspende und das damit einhergehende Wegfallen etwa von kostenintensiver Dialyse deutlich gesenkt. Die Ersparnis der Krankenversicherungen beträgt etwa bei der Nierentransplantation einer dialyse­ bedürftigen Patientin unter Aufrechnung der Kosten der chirurgischen Eingriffe 150.000 bis 300.000 Euro.356 Der mit der Spenderkreisbeschränkung einhergehende Eingriff in die Grundrechte der beteiligten potentiellen Spenderinnen, Empfängerinnen und Ärztinnen lässt sich im Ergebnis somit verfassungsrechtlich nicht rechtfertigen. cc) Verletzung des Gebots schuldangemessenen Strafens, des Schuldprinzips und des Übermaßverbots Durch die Spenderkreisbeschränkung wird auch das Gebot schuldangemessenen Strafens, das Schuldprinzip357 und das Übermaßverbot verletzt. Dies lehnte das Bundesverfassungsgericht zwar unter Verweis darauf ab, dass ein Verstoß gegen § 8 Abs. 1 S. 2 TPG wichtige Gemeinschaftsbelange gefährde und die Strafsanktion des § 19 Abs. 1 Nr. 2 TPG deshalb im gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Verschulden der Täterinnen stehe. Es sei sachgerecht, entsprechende Verstöße für strafwürdig zu erachten. Da der Gesetzgeber Strafen zum Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter auch unabhängig von einer konkreten Gefährdung oder Verletzung derselben bereits im Fall ihrer abstrakter Gefährdung verhängen dürfe, stehe dieser Annahme auch das Vorbringen der Beschwerdeführer nicht entgegen, nach welchem die strafbare Lebendentnahme von Organen die von § 8 Abs. 1 S. 2 TPG geschützten Rechtsgüter im Einzelfall gar nicht gefährde, sondern vielmehr

354 So Norba, Rechtsfragen der Transplantationsmedizin aus deutscher und europäischer Sicht, 2009, S. 223. 355 Siehe dazu im zweiten Kapitel unter B. III. 2. c). 356 König, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 501 (514); so auch Zillgens, Die strafrechtlichen Grenzen der Lebendorganspende, 2004, S. 240; auf 250.000 Euro schätzen Breyer et al. die Ersparnis, dies., Organmangel, 2006, S. 129. 357 Siehe zum Gebot schuldangemessenen Strafens und zum Schuldprinzip und ihrer Herleitung aus Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip etwa BVerfG 19.3.2013 – 2 BvR 2628/10 u. a. – BVerfGE 133, 168 (197) [„Deal im Strafprozess“]; BVerfG 23.9.2014 – 2 BvR 2545/12 – juris, Rn. 9 f.

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

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von sozialer Nützlichkeit sei.358 Dieses Ergebnis erscheint jedoch in doppelter Hinsicht fraglich. (1) Fehlende Strafwürdigkeit des Tatverhaltens Zunächst ist das von der Regelung erfasste Tatverhalten schon nicht als strafwürdig zu erachten. Denn bereits die Grundkonstruktion des Strafrechts lässt sich mit der paternalistischen Ausrichtung der Spenderkreisbeschränkung nicht in Einklang bringen: Aufgabe des Strafrechts ist Verbrechenskontrolle in Form von Rechtsgüterschutz.359 Soweit der Einsatz von Strafnormen nicht der Ausführung dieser Aufgabe dient, ist er unter dem Grundgesetz, das den Staat in Art. 1 Abs. 2 GG zur Wahrung der Grundrechte seiner Bürgerinnen verpflichtet, grundsätzlich illegitim.360 Die Aufgabe des Strafrechts gibt insoweit die Grenzen seiner Eingriffsbefugnisse vor.361 In Folge seiner Eingriffsintensität kommt dem Strafrecht im Rahmen des Rechtsgüterschutzes ferner eine subsidiäre Rolle zu:362 Sein Einsatz ist als ultima ratio nur zulässig und gerechtfertigt, soweit der Rechtsgüterschutz nicht auch mit weniger eingriffsintensiven Mitteln erzielt werden kann.363 Zudem soll das Strafrecht staatliche Reaktion auf besonders sozialschädliches, für das geordnete Zusammenleben der Menschen unerträgliches Verhalten sein364 und nicht der Durchsetzung sittlicher Wertvorstellungen dienen.365 Auf Zweckebene dient Strafrecht der Vergeltung, dem Schuldausgleich und der Prävention.366 Den genannten Aspekten und Anforderungen genügt die paternalistische Spenderkreisbeschränkung jedoch nicht: So begründet die autonome Verfügung oder 358

Zum Ganzen BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399 (3403). Böllinger, KritJ 1991, 393 (398); Hektor, Die Relevanz ethischer Konzeptionen im Strafrecht, 1995, S. 197 f.; Kühl, in: Lackner / ​Kühl, StGB, 28. Aufl. 2014, Vor § 13 Rn. 3; MüKo / ​ Radtke, StGB, 3. Aufl. 2016, Vor § 38 Rn. 1; Schroth, in: FS Roxin, 2001, S. 869 (875). Ausführlich Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 58–92. 360 MüKo / ​Radtke, StGB, 3. Aufl. 2016, Vor § 38 Rn. 1. 361 Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 73; Roxin, Strafrecht AT, Band 1, 4. Aufl. 2006, § 2 Rn. 7. 362 Kühl, in: Lackner / ​Kühl, StGB, 28. Aufl. 2014, Vor § 13 Rn. 3; MüKo / ​Radtke, StGB, 3. Aufl. 2016, Vor § 38 Rn. 2; Roxin, Strafrecht AT, Band 1, 4. Aufl. 2006, § 2 Rn. 1. 363 Hohmann / ​Matt, JuS 1993, 370 (372); MüKo / ​Radtke, StGB, 3. Aufl. 2016, Vor § 38 Rn. 2. Siehe auch BVerfG 28.5.1993 – 2 BvF 2/90 u. a. – BVerfGE 88, 203 (258) [„Schwangerschaftsabbruch II“]. 364 BVerfG 28.5.1993 – 2 BvF 2/90 u. a. – BVerfGE 88, 203 (258) [„Schwangerschaftsabbruch II“]. Neben vielen auch Böllinger, KritJ 1991, 393 (398); Schroth, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (486). 365 Hektor, Die Relevanz ethischer Konzeptionen im Strafrecht, 1995, S. 197–199. 366 Dies steht im Zentrum der vorherrschenden absoluten und relativen Straf(zweck)theorien, MüKo / ​Joecks, StGB, 3. Aufl. 2017, Einleitung Rn. 52–81; MüKo / ​Radtke, StGB, 3. Aufl. 2016, Vor § 38 Rn. 33–50; Kempfer, in: Dölling / ​Duttge / ​König / ​Rössner (Hrsg.), 4. Aufl. 2017, § 46 StGB Rn. 2. 359

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

Beeinträchtigung über eigene Rechtsgüter bereits keine Verletzung derselben,367 die einen Rechtsgüterschutz erforderlich machen könnte. Die autonome Entscheidung der Rechtsgutsträgerin, ihre eigenen Rechtsgüter zu verletzen, begründet für diese kein Unrecht368 – alles andere würde zu einer abzulehnenden „Abspaltung der Güter von ihrem Träger“369 führen. Zwar sah sich das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss zum Inzestverbot370 nicht an die Rechtsgutslehre gebunden371 und ging vielmehr davon aus, dass die Festlegung des Bereichs strafbaren Handelns dem weiten Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers unterfiele und Strafnormen deshalb keinen „strengeren Anforderungen hinsichtlich der mit ihnen verfolgten Zwecke“ unterlägen.372 Selbst soweit man mit dem Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung jedoch lediglich überprüft, ob „die Strafvorschrift materiell in Einklang mit den Bestimmungen der Verfassung steht und den ungeschriebenen Verfassungsgrundsätzen sowie Grundentscheidungen des Grundgesetzes entspricht“,373 muss dies im Rahmen paternalistischer Sanktionsnormen abzulehnen sein: Der Schutz der Einzelnen gegen ihren Willen steht wie dargelegt374 materiell nicht in Einklang mit den Bestimmungen der Verfassung und widerspricht dem von Selbstbestimmung geprägten Menschenbild des Grundgesetzes und damit den Grundentscheidungen des Grundgesetzes. Auch der vom Bundesverfassungsgericht angeführte Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter, dem die Spenderkreisbeschränkung dienen soll, lässt sich so wenig begründen wie die Sozialschädlichkeit des in Frage stehenden Verhaltens:375 Die potentiell lebensrettende Übertragung eines Organs auf eine Kranke, die eine Transplantation benötigt, stellt sich  – wie auch die Beschwerdeführer vor dem Bundesverfassungsgericht geltend machten  – vielmehr als sozialnützlich dar.376 Ferner erscheinen ein möglicher Ausgleich von Schuld sowie die Verhütung von 367

Roxin, Strafrecht AT, Band 1, 4. Aufl. 2006, § 2 Rn. 32. Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 115–117; Schroth, in: FS Roxin, 2001, S. 869 (876). So auch Renzikowski, der davon ausgeht, dass Prostitution straffrei sein muss, da sie keine rechtlich geschützten Interessen Dritter verletze und der Verstoß gegen eigene Interessen strafrechtlich irrelevant sei, MüKo / ​Renzikowski, StGB, 3. Aufl. 2017, Vor §§ 174 ff. Rn. 45. 369 Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 115. 370 BVerfG 26.2.2008 – 2 BvR 392/07 – BVerfGE 120, 224. 371 Vgl. dazu Lagodny, in: Beck (Hrsg.), Gehört mein Körper noch mir?, 2012, S. 271 (273 f.). 372 BVerfG 26.2.2008 – 2 BvR 392/07 – BVerfGE 120, 224 (241) [„Inzestverbot“]. 373 BVerfG 26.2.2008 – 2 BvR 392/07 – BVerfGE 120, 224 (241) [„Inzestverbot“]. 374 Siehe dazu im zweiten Kapitel unter B. III. 6. 375 Schroth geht ebenfalls davon aus, dass die Norm den Grundsatz verletze, „dass strafrechtliche Normen nur sozialschädliches Verhalten unter Strafe stellen dürfen“ und den er aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 S. 1 i. V. m. Art. 2 Abs. 2 GG ableitet, ders., in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (486). Anders Zillgens, die Gemeinschaftsgüter durch die „konkrete Gefahr für die Vertrauenswürdigkeit und Funktionsfähigkeit der Transplantationsmedizin“ gefährdet sieht, dies., Die strafrechtlichen Grenzen der Lebendorganspende, 2004, S. 350. 376 BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – juris, Rn. 22; so auch Gutmann / ​Schroth, Organlebendspende in Europa, 2002, S. 17; Schroth, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Me 368

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

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Ver­brechen bei einer Organspende außerhalb des zulässigen Spenderkreises fernliegend: Die Bestrafung einer Ärztin, die einer erwachsenen, einwilligungsfähigen und umfassend aufgeklärten Spenderin ein Organ zur Lebens- oder Gesundheitserhaltung einer anderen entnimmt, lässt sich laut Gutmann weder mit dem klassischem Verständnis von Schuld noch mit dem von Verhältnismäßigkeit in Einklang bringen.377 Das durch die Regelung unter Strafe gestellte Verhalten stellt sich somit nicht als strafwürdig dar.378 Wo wie im Rahmen der Spenderkreisbeschränkung bereits das Verhaltensverbot unverhältnismäßig und mit paternalistischen Argumenten nicht zu rechtfertigen ist, kann dies auf Ebene der strafrechtlichen Sanktionsnorm erst recht nicht der Fall sein.379 (2) Vorverlagerung vor eine abstrakte Gefährdung Darüber hinaus stellt sich die Frage nach der Zulässigkeit der in der Spenderkreisbeschränkung liegenden Strafbewehrung einer abstrakten Gefährdung, so wie sie das Bundesverfassungsgericht beschreibt.380 Dieser abstrakte Gefährdungsschutz ist insbesondere insoweit problematisch, als er möglichen Organhandel verhindern soll: Denn das Verbot des Organhandels selbst stellt bereits ein abstraktes Gefährdungsdelikt dar, dessen Strafgrund die nachgelagerte Gefahr der Ausbeutung defizitär Entscheidender ist. In der Literatur wird deshalb kritisiert, dass die Begrenzung des Spenderkreises eine doppelte Vorverlagerung und einen Schutz vor der „Gefahr der Gefährdung“ darstelle und damit weder der Dogmatik der Gefährdungsdelikte entspreche noch in Anbetracht der vorbeugenden kommissionellen Überprüfung von Kommerzialisierung und Unfreiwilligkeit benötigt werde.381 Insgesamt stelle die Norm somit ein Verhalten unter Strafe, das sich sogar noch vor einer abstrakten Gefährdung von Rechtsgütern abspiele.382 Zudem bestrafe die Regelung die Täterin für vergangenes „vermutetes Fehlverhalten

dizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (486). Siehe auch Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 30. 377 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 30; Gutmann / ​Schroth, Organlebendspende in Europa, 2002, S. 17, 123. 378 Siehe auch Gutmann, NJW 1999, 3387 (3389). 379 Siehe zur Gesamtbetrachtung von Verhaltens- und Sanktionsnorm Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 96 f. 380 BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399 (3403). 381 Zum Ganzen Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 271; Gutmann / ​Schroth, Organlebendspende in Europa, 2002, S. 18; Schroth, in: Roxin / ​ Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (487); ders. Anm. z. BSG 10.12.2003 – B 9 VS 1/01 R, JZ 2004, 469 (472). 382 Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 270 f.; Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 30; Gutmann / ​Schroth, Organlebendspende in Europa, 2002, S. 18.

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

Dritter“,383 der Organhändlerin. Allein auf Grund der Gefahr von Organhandel werde die behandelnde Ärztin bei einer Überschreitung des Spenderkreises auch dann bestraft, wenn sie alles getan habe, um sicherzugehen, dass das Organ kein Objekt verbotenen Handeltreibens war oder wenn sogar erwiesenermaßen kein Organhandel vorlag.384 Die Weite der Vorverlagerung ist laut Fateh-Moghadam „bedenklich, da der Rechtsgutsbezug der verbotenen Handlung kaum noch hergestellt werden“ könne.385 In der Tat ist nicht nur die Sozialschädlichkeit und Strafwürdigkeit des eigentlichen Tatverhaltens nicht gegeben – auch der Gefährdungsaspekt vermag gerade im Hinblick auf den Schutz vor Organhandel nicht zu überzeugen: Die Bestrafung für die potentiell von Dritten ausgehende Gefahr der Gefahr von Ausbeutung ist personell wie inhaltlich so weit von der Tathandlung entfernt, dass eine Strafbarkeit weder einen direkten Rechtsgutsbezug aufweist noch mit dem Schuldprinzip und dem Übermaßverbot in Einklang zu bringen ist. 4. Resümee: Verfassungswidrigkeit der Spenderkreisbeschränkung Im Ergebnis kann die strafbewehrte Beschränkung des Spenderkreises in § 8 Abs. 1 S. 2 i. V. m. § 19 Abs. 1 Nr. 2 TPG unter dem Grundgesetz somit nicht bestehen.386 Während die mit der Regelung einhergehenden Grundrechtseingriffe zu Lasten der potentiellen Spenderinnen und Empfängerinnen sowie der behandelnden Ärztinnen weder durch den Schutz der Freiwilligkeit noch durch die Verhinderung von Organhandel gerechtfertigt werden können, stützt sich die Regelung ausschließlich auf das stark paternalistische Motiv des Schutzes der Spenderin gegen ihren auch autonom gebildeten Willen, was verfassungsrechtlich nicht zu 383 Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 271; Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 30; Gutmann / ​Schroth, Organlebendspende in Europa, 2002, S. 18. S. auch Gutmann, der in der NJW 1999, 3387 (3389) betont, dass das Ziel der Unterbindung von Organhandel dazu führen würde, dass der Betroffene nicht für ein eigenes, sondern für ein befürchtetes Verhalten Dritter bestraft werde, a. a. O. Anders Zillgens, die davon ausgeht, dass sich die Strafbarkeit darauf gründet, dass dem Arzt eine zentrale funktionale Position zukommt, da er „möglichen kommerziellen Bestrebungen erst zur erfolgreichen Durchführung verhilft.“, dies., Die strafrechtlichen Grenzen der Lebendorganspende, 2004, S. 350 f. 384 Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 271. 385 Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 271. 386 So auch Schroth, der die Regelung als „willkürliche Strafrechtsnorm“ und „gesetzgeberische Fehlleistung“ bezeichnet, ders., in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (491); siehe auch Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013 § 8 Rn. 47; Scheinfeld, Organtransplantation und Strafrechtspaternalismus, 2016, S. 91; Spranger, in: Breyer / ​Engelhard (Hrsg.), Anreize zur Organspende, 2006, S. 111 (123). Esser hält die Freigabe des Spenderkreises und insbesondere die Freigabe der anonymen Fremdspende trotz des weiten Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers für verfassungsrechtlich geboten, ders., Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 194; Deutsch und Spickhoff halten die Regelung für „verfassungsrechtlich bedenklich“, dies., Medizinrecht, 7. Aufl. 2014, Rn. 1260.

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

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tragen vermag. Dies wiegt vorliegend nicht nur deshalb besonders schwer, weil die Regelung mit einer Strafbewehrung versehen ist, die gegen das Gebot schuldangemessenen Strafens, das Schuldprinzip und das Übermaßverbot verstößt  – sondern insbesondere wegen der mit der Regelung einhergehenden, folgenreichen Beschränkung der Heilungschancen all jener, die einer Organspende bedürfen.387 5. Ausblick Unter Überprüfung der Spendeentscheidung auf ihre Freiwilligkeit hin streitet im Ergebnis der positive wie negative Selbstbestimmungsschutz für eine vollständige Freigabe der Lebendspende.388 Nur am Rande sei insoweit etwa auf die Regelung der Lebendspende im Zusatzprotokoll über die Transplantation menschlicher Organe und Gewebe zum Biomedizinübereinkommen des Europarates hingewiesen. Nach Art. 10 des Zusatzprotokolls darf einer Lebendspenderin ein Organ für eine Empfängerin entnommen werden, zu der die Spenderin eine enge persönliche Beziehung hat. Besteht keine solche Beziehung, ist die Fremdspende dennoch zulässig, wenn eine kompetente unabhängige Stelle, die unter anderem die Freiwilligkeit der Spendeentscheidung überprüft, die Spende genehmigt.389 Die einzelnen Erscheinungsformen der Lebendspende, so wie sie derzeit durch das TPG untersagt werden, begegnen auch in Deutschland keinen verfassungsrechtlichen Bedenken: Im Rahmen der indirekten Überkreuz-Lebendspende entspricht die Motivation der Spenderin regelmäßig der Motivation bei einer direkten Lebendspende an eine nahestehende Person. Zwar besteht nach erfolgter erster Transplantation keine Verpflichtung zur Durchführung der zweiten Transplantation, sodass die Vereinbarung der Überkreuz-Lebendspende immer mit einer gewissen Unsicherheit belastet sein dürfte.390 Um dieses Risiko zu minimieren, könnte jedoch auch die Ernsthaftigkeit der jeweiligen Spendeentscheidungen zum Untersuchungsgegenstand der Lebendspendekommissionen gemacht und beispielsweise über eine späte Festlegung der Reihenfolge der Spenden einem denkbaren Missbrauch entgegen gewirkt werden. Sind die Betroffenen bereit, sich dem verbleibenden „Vereinbarungsrisiko“ auszusetzen, spricht nichts gegen die Zulassung der indirekten Spende an eine nahestehende Person. Mangels erhöhter Gefahr der Beeinflussung der Spende­ 387

Zu den „schwersten gesundheitlichen Beeinträchtigungen“, denen er durch die Regelung ausgesetzt werde, im Prozess vor dem BVerfG auch der beschwerdeführende potentielle Organempfänger BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – juris, Rn. 19. 388 Für eine Streichung der Spenderkreisbeschränkung auch Gutmann / ​Schroth, Organlebendspende in Europa, 2002, S. 131; siehe auch die konkreten Novellierungsvorschläge für das Reglement der Lebendorganspende, a. a. O., S. 123–125. 389 Siehe dazu etwa Radau, Die Biomedizinkonvention des Europarates, 2006, S. 109 f. 390 Schroth, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (492); ders. Anm. z. BSG 10.12.2003 – B 9 VS 1/01 R, JZ 2004, 469 (472).

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entscheidung gilt dasselbe für Spenden im Rahmen verschiedenster Ringtauschund Poolkonstellationen.391 Gerade in Fällen, in denen Betroffene zugunsten eigener, zukünftiger Interessen bereit sind, eine Poolspende zu entrichten, muss eine entsprechende Spende zulässig sein. Ebenso verhält es sich mit Poolspenden zugunsten einer nahestehenden Person: Die Gründe, die für eine Zulassung und gegen ein Verbot der Überkreuz-Lebendspende streiten, sind insoweit übertragbar. Auch hinsichtlich einer Anerkennung der nicht gerichteten Fremdspende bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Dies gilt insbesondere soweit die Organe – wie in der Literatur angeregt – als vermittlungspflichtig i. S. d. § 9 Abs. 2 TPG eingeordnet würden.392 Gerade bei einer anonymisierten Verteilung der Spenden sind – mangels Möglichkeit der Ermittlung der Spenderin oder einer Person mit Interesse an der Spende, welche die Entscheidung beeinflussen könnte – Freiwilligkeitsmängel im Rahmen der Spendeentscheidung fernliegend und ausbeuterischer Organhandel ausgeschlossen. Bei entsprechender Überprüfung und bei umfassender Freiwilligkeit der Entscheidung streitet das Selbstbestimmungsrecht schließlich auch für die Zulassung der de lege lata untersagten direkten Spende an eine der Spenderin bekannte, aber nicht nahestehende Person.393

III. Das Verbot der Organ- oder Gewebeentnahme bei nicht volljährigen Spenderinnen (§ 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 a) Alt. 1 i. V. m. § 19 Abs. 1 Nr. 1 TPG) Gemäß § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 a) Alt. 1 i. V. m. § 19 Abs. 1 Nr. 1 TPG steht die Organ- oder Gewebeentnahme bei nicht volljährigen Spenderinnen unter Strafe. Der klare Wortlaut der Regelung lässt eine stellvertretende Einwilligung von Seiten der Sorgeberechtigten nicht zu.394 Da die Regelung in § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 a) Alt. 2 TPG zusätzlich die Einwilligungsfähigkeit der Spenderinnen fordert, kann nach geltendem Recht auch eine im Einzelfall einwilligungsfähige Minderjährige nicht als Lebendspenderin fungieren.395 Der Gesetzentwurf verweist hinsichtlich der 391 Vgl. die Darstellung der verschiedenen Poolmodelle bei Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 260 f. Im Hinblick auf die „Verwirklichung autonomer Entscheidungen zum größtmöglichen Nutzen aller Beteiligten“ fragt auch Spranger nach sachlichen Gründen für das Ziel der Verhinderung dieser Modelle, ders., Recht und Bioethik, 2010, S. 392. 392 So fordern es für die damalige Fassung des § 9 TPG Gutmann und Schroth, dies., Organlebendspende in Europa, 2002, S. 125. 393 Im Sinne der Freiheitsvermutung des Grundgesetzes und der Autonomie für eine teleologische Reduktion des Merkmals der „besonderen persönlichen Verbundenheit“, die nach entsprechender Aufklärung auch altruistische Spenden an Bekannte zulassen soll auch Spranger, Recht und Bioethik, 2010, S. 397. 394 Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 241. 395 Auch Esser geht davon aus, dass der Gesetzgeber durch seine Wortwahl die grundsätzliche Unabhängigkeit dieser beiden Eigenschaften voneinander zum Ausdruck gebracht habe, ders., Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 119.

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

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Regelung nur auf die entsprechenden Transplantationsleitsätze der Weltgesundheitsorganisation.396 Im Hintergrund der Regelung steht deshalb offenkundig der Schutz Minderjähriger vor körperlicher Schädigung. Zwar wird in der Literatur erkannt und kritisiert, dass eine im Einzelfall einwilligungsfähige Minderjährige de lege lata keine zulässige Spenderin sein kann – und eine Überprüfung und Ausnahmeregelung im Einzelfall im Sinne der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts für vorzugswürdig gehalten.397 So plädiert etwa Esser dafür, bei rechtsgeschäftlichem Handeln auf die Regeln zur Geschäftsfähigkeit zurückzugreifen;398 bei natürlichem Handeln wie im Fall der Lebendspende jedoch im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht der Minderjährigen auf starre Altersgrenzen zu verzichten, da die Regelungen des allgemeinen Rechtsverkehrs in diesem Bereich weniger passend und vielmehr das „konkret-individuelle Urteilsvermögen“ und die Fähigkeit, Bedeutung und Tragweite der Explantationsentscheidung zu erfassen, von Relevanz seien.399 Trotz der insoweit erkannten Verbesserungsfähigkeit der Vorschrift, ist die mit der Regelung einhergehende Pauschalierung in der Literatur auf Grund der drohenden Gefahren für Minderjährige, im Sinne der Rechtssicherheit, in Folge des weiten gesetzgeberischen Beurteilungsspielraums und mangels gleicher Schutzeignung einer Überprüfung im Einzelfall400 für verhältnismäßig und zulässig befunden worden.401 Wie bereits dargelegt ist die Anknüpfung an die Minderjährigkeit zur Begegnung der naheliegenden Gefahr defizitärer Entscheidungen und zum Schutz ihrer körperlichen Integrität grundsätzlich zulässig.402 Die sich vorliegend im Einzelfall der vollumfänglich autonom handelnden Minderjährigen ergebende stark paternalistische Auswirkung der grundsätzlich – im Gegensatz zur Spenderkreisbeschränkung – an einem sachgerechten Kriterium403 und schwach paternalistisch orientierten Regelung muss im Sinne des Schutzes der de facto defizitär Entscheidenden und einer notwendigen Generalisierung im Ergebnis hingenommen werden. Zwar handelt es sich, um den Vergleich Essers aufzugreifen, bei Lebendspendefällen 396

BT-Drs. 13/4355, S. 14, 20. Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 20; Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 7; Gutmann / ​Schroth, Organlebendspende in Europa, 2002, S. 59 f., 129. 398 Esser, Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 106. 399 Esser, Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 107, 119. 400 Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 242. 401 Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 20; Esser, Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 120; Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 242; Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 7; Gutmann / ​Schroth, Organlebendspende in Europa, 2002, S. 59 f., 129. Anders Scheinfeld, Organtransplantation und Strafrechtspaternalismus, 2016, S. 495, der die Regelung für gleichheitssatz- und verfassungswidrig hält. 402 Siehe dazu bereits im zweiten Kapitel unter B. V. 6. 403 Zur Erforderlichkeit eines solchen Kriteriums in Zusammenhang mit einem entsprechenden Gefahrenanlass siehe im zweiten Kapitel unter B. V. 2. 397

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

unter Beteiligung Minderjähriger anders als bei etwa den Alltag regulierenden Vorschriften zur Geschäftsfähigkeit zum einen um äußerst seltene Vorgänge, sodass Aspekte der Praktikabilität zurückstehen müssen. Zum anderen erfasst die Regelung Konstellationen, in denen die Entscheidung über die Zulässigkeit der Lebendspende einer Entscheidung über Leben und Tod Dritter gleichkommen kann. Ferner führt die Überprüfung durch die nach Landesrecht zuständige Kommission gemäß § 8 Abs. 3 S. 2 TPG zu einer ohnehin erfolgenden Auseinandersetzung mit der Autonomie der Spenderinnen. Zudem stellen etwaige Grenzfälle, in denen eine dringend benötigte Spende einer kurz vor ihrem 18. Geburtstag stehenden, einsichtsfähigen Spenderin nicht möglich ist,404 die im Übrigen zwangsläufige und notwendige Konsequenz entsprechender Stichtagsregelungen in diesem spezifischen Zusammenhang in Frage. Dennoch kann die Regelung nicht per se als ungeeignet angesehen werden: Zwar wäre eine Einzelfallbetrachtung in Folge der Überschaubarkeit der Fälle durchaus praktikabel und vorstellbar405 und würde das Selbstbestimmungsrecht der von der Regelung Betroffenen weitgehender schonen. Wegen der besonderen Gefährdungslage für die Autonomie und Integrität der Bevormundenden, die auf der Kombination aus der Minderjährigkeit der Betroffenen und der großen Bedeutung ihrer in Frage stehenden Rechtsgüter wie Leben und körperlicher Integrität beruht, ist die schützende Regelung jedoch vom weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers erfasst und einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung zugänglich.

IV. Das Verbot der Organ- oder Gewebeentnahme bei nicht einwilligungsfähigen Spenderinnen (§ 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 a) Alt. 2 i. V. m. § 19 Abs. 1 Nr. 1 TPG) Strafbewehrt ist gemäß § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 a) Alt. 2 i. V. m. § 19 Abs. 1 Nr. 1 TPG zudem die Organ- oder Gewebeentnahme bei nicht einwilligungsfähigen Spenderinnen. Die Einwilligungsfähigkeit umfasst die natürliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit und setzt voraus, dass die Betroffene in der Lage ist, die Bedeutung und Tragweite ihrer Explantationsentscheidung für die Zukunft richtig einzuschätzen.406 Ungeachtet der Tatsache, dass die Einwilligungsfähigkeit in ärztlichen Behandlungsszenarien ohnehin vorausgesetzt wird,407 handelt es sich bei der 404 Das Szenario eines entsprechenden Dilemmas entwirft Scheinfeld, Organtransplantation und Strafrechtspaternalismus, 2016, S. 248. 405 Für eine prozedurale Lösung Scheinfeld, Organtransplantation und Strafrechtspaternalismus, 2016, S. 495. 406 Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 22; Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 8. 407 Siehe dazu Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 22. Fateh-Moghadam hält die Regelung dennoch für mehr als deklaratorischer Natur, da sie klarstelle, dass eine Stellvertretung in Fällen der Einwilligungsunfähigkeit ausgeschlossen sei, ders., Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 243.

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

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Regelung, die dem Schutz derjenigen dient, die nicht in der Lage sind, die Folgen ihrer Entscheidung abzusehen und autonom zu handeln, um einen klassischen schwachen Paternalismus. In Folge der mit Leben und körperliche Unversehrtheit schwergewichtigen, in Frage stehenden Rechtsgüter der Betroffenen, erscheint eine Bevormundung derjenigen, die nicht in der Lage sind, die Konsequenzen einer Explantation zu erfassen, zulässig und geboten.408 Dies gilt insbesondere in Anbetracht der differenzierten Betrachtung Betreuter sowie von Menschen mit psychischen und geistigen Behinderungen, die laut Gesetzentwurf nicht prinzipiell von einer Organspende ausgeschlossen werden sollen, soweit sie im Einzelfall einwilligungsfähig sind.409

V. Das Verbot der Organ- oder Gewebeentnahme bei nicht hinreichender Aufklärung (§ 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b) Alt. 1 i. V. m. § 19 Abs. 1 Nr. 1 TPG) Als weitere strafbewehrte Voraussetzung einer Explantation fordert § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b) Alt.  1 i. V. m. § 19 Abs. 1 Nr. 1 TPG eine hinreichende Aufklärung. Gemäß § 8 Abs. 2 S. 1 TPG ist die Spenderin durch eine Ärztin in verständlicher Form über den Zweck und die Art des Eingriffs, die Untersuchungen sowie das Recht, über die Ergebnisse der Untersuchungen unterrichtet zu werden, die Maßnahmen, die dem Schutz der Spenderin dienen sowie den Umfang und mögliche, auch mittelbare Folgen und Spätfolgen der beabsichtigten Organ- oder Gewebeentnahme für ihre Gesundheit, die ärztliche Schweigepflicht, die zu erwartende Erfolgsaussicht der Organ- oder Gewebeübertragung und  – auf diesem Gebiet geradezu einmalig410 – über die Folgen der Transplantation für die Empfängerin sowie sonstige Umstände, denen sie erkennbar eine Bedeutung für die Spende beimisst und über die Erhebung und Verwendung personenbezogener Daten aufzuklären.411 Gemäß § 8 Abs. 2. S. 2 TPG muss die Aufklärung in Anwesenheit einer weiteren Ärztin erfolgen.

408 Siehe zu der grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von schwachem Paternalismus bereits im zweiten Kapitel unter B.IV. Für legitim hält die Regelung auch Scheinfeld, Organtransplantation und Strafrechtspaternalismus, 2016, S. 223. Zu einer Notstandsrechtfertigung in dem Ausnahmefall, dass das Nichtspenden dem Einwilligungsunfähigen stärker schaden würde als die Spende a. a. O., S. 245 f. 409 BT-Drs. 13/4355, S. 20; Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 23; Esser, Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 120; Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 8. 410 Vgl. zur Besonderheit dieser „reziproken Aufklärungspflicht“ Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 250. 411 Detaillierte Darstellung der inhaltlichen und formalen Anforderungen an die Aufklärung bei Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 75–90 und Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 249–252.

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

Die besonders hohen Anforderungen an die ärztliche Aufklärungspflicht gründen auf der fehlenden medizinischen Indikation und der gesundheitlichen Schlechterstellung für die Spenderin durch die Organentnahme.412 Im Ergebnis beinhaltet die Regelung die „strafrechtliche Absicherung des informed consent“.413 Dieses im Deutschen auch als „informierte Einwilligung“ bezeichnete Konzept ist in der Medizinethik von zentraler Bedeutung. Hauptkomponenten des informed consent sind zum einen die umfassende Aufklärung über das in Frage stehende Geschehen sowie das darauf basierende Verständnis der Aufgeklärten und zum anderen die wirksame Einwilligung, die auf mentaler Kompetenz und Freiwilligkeit beruhen sowie eine Entscheidung und Ermächtigung zur Vornahme der in Frage stehenden Handlung(en) enthalten muss. Ohne informed consent gelten medizinische Eingriffe grundsätzlich als ethisch nicht vertretbar.414 Auch die Aufklärungspflicht in § 8 Abs. 2 S. 1 TPG dient der umfassenden Informierung der Betroffenen sowie dem Schutz vor einer übereilten Entscheidung415 und der Förderung der Entstehung eines selbstbestimmten Willens.416 Da eine Spende ohne vorherige Aufklärung strafbewehrt untersagt ist, stellt die Regelung gegenüber der Spenderin eine auch-paternalistische Bevormundung zum eigenen Wohl dar.417 Mitunter wird zwar davon ausgegangen, dass die Aufklärung Ausdruck größter Anerkennung für das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen sei:418 Trotz der mir ihr einhergehenden Förderung der Selbstbestimmung wohnt der zwangsweisen Aufklärung jedoch ein Schutz inne, zugunsten dessen sich auch über den autonom gebildeten Willen der Betroffenen hinwegsetzt wird. Derartige Aufklärungs-, Beratungs- oder Überprüfungspflichten wurden in der Literatur als „Erforschungseingriffe“419 und vorliegend als Verfahrenspaternalismus420 beschrieben.

412 Esser, Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 136; Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 42. Die Idee, dass medizinische Indikation und Umfang der Aufklärung zusammenhängen und eine entsprechend weniger umfassende Aufklärung nötig sei, wenn der Eingriff medizinisch indiziert ist, als wenn er nicht medizinisch indiziert ist, wurde von Fateh-Moghadam als „kollektivistisch-paternalistisch“ und nicht am Selbstbestimmungsrecht des Patienten orientiert beschrieben, ders., in: Fateh-Moghadam / ​ Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 21 (32). 413 Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 249. 414 Siehe zum Ganzen etwa Beauchamp / ​Faden, in: Encyclopedia of Bioethics, 2004, S. ­1277–1280; Heinrichs, in: Sturma / ​Heinrichs (Hrsg.), Handbuch Bioethik, 2015, S. 58–65. 415 Esser, Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 135. 416 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 42. 417 Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 249. 418 Esser, Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 135. 419 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (261). 420 Siehe dazu bereits im ersten Kapitel unter A. V. 8. und im zweiten Kapitel unter B. V. 3. b).

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1. Rechtfertigung verfahrenspaternalistischer Eingriffe zum Schutz defizitär Entscheidender Die verfassungsrechtliche Beurteilung eines derartigen Verfahrenspaternalismus unterscheidet sich in der Rechtfertigung nicht dadurch von anderen Paternalismen, dass der verfahrenspaternalistische Eingriff zur Sicherstellung der Autonomie in Form der Informierung und Aufklärung oder der Eingriff zur Erforschung in Form der Überprüfung der Autonomie der endgültigen Entscheidung nur vorgelagert ist und im Sinne des Autonomieschutzes lediglich vorübergehend in den Willen der Betroffenen eingreift: Denn allein die mit der zeitlichen Begrenzung auf die Sicherstellung oder Erforschung der Autonomie einhergehende Kurzfristigkeit der Beeinträchtigung kann einer entsprechenden Überprüfung nicht ihren Eingriffscharakter nehmen. Ist die Überprüfung der Freiwilligkeit nicht gewollt, bleibt das Hinwegsetzen über den aktuellen Willen der Betroffenen eine Autonomiebeeinträchtigung, die sich nicht durch das verhältnismäßig willkürliche Ziehen einer „Unerheblichkeitsgrenze“ relativieren lässt. Ein solcher, am Schutz der Betroffenen ausgerichteter Eingriff behält auch trotz seiner Orientierung an der Selbstbestimmung seine stark paternalistische Wirkung. In Rechtsprechung und Literatur wird die grundsätzliche Zulässigkeit einer solchen Absicherung oder Überprüfung der Autonomie mitunter aus einer „verfahrensorientierten Grundrechtsinterpretation“, die darauf basiert, dass Grundrechte „Maßstäbe für eine den Grundrechtsschutz effektuierende Organisationsgestaltung und Verfahrensgestaltung“ setzen421 oder aus einer Schutzpflicht des Staates hinsichtlich der Feststellung einer auf einer uninformierten, irrationalen oder erzwungenen Entscheidung basierenden körperlichen Schädigung422 abgeleitet. Unabhängig von der konkreten Ableitung ist sowohl ein Eingriff zur Sicherstellung als auch ein Eingriff zur Erforschung der Autonomie jedoch in jedem Fall auf die Verhinderung defizitärer Entscheidungen ausgerichtet. Die Rechtfertigung entsprechender Eingriffe orientiert sich somit an den bereits entwickelten Kriterien für Regelungen, die zum Schutz defizitär Entscheidender auch die Freiheit autonom Entscheidender beeinträchtigen.423 2. Verfassungsmäßigkeit der Aufklärungspflicht Diese Anforderungen werden von der Aufklärungspflicht in § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b) Alt. 1 i. V. m. § 19 Abs. 1 Nr. 1 TPG erfüllt. Sie dient der Sicherstellung der Autonomie und damit auch dem Schutz defizitär Entscheidender. Die zunächst für die Geeignetheit des Eingriffs erforderliche Gefährdungslage ergibt sich vorliegend so 421

BVerfG 14.5.1985 – 1 BvR 233/81 – BVerfGE 69, 325 (355). Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (259). 423 Siehe dazu im zweiten Kapitel unter B. V. 422

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

wohl aus dem Risiko mangelnder Freiwilligkeit als auch insbesondere aus der autonomiebedrohenden Gefahr unzureichender Umstandskenntnis. Denn die Regelung setzt in einer Entscheidungssituation an, die mit der irreversiblen Verfügung über Rechtsgüter von besonderem Wert und mit einer hohen Sachverhaltskomplexität einhergeht. Zwischen Gefahr und Regelung besteht ferner ein Wirkzusammenhang, da im Wege der Aufklärung autonomiebedrohende Wissenslücken hinsichtlich der Risiken und Folgen der Organspende geschlossen werden können. Der relativ milde Eingriff in das gegebenenfalls autonome Handeln der Betroffenen, der sich lediglich vorübergehend in Gestalt von Information im Vorstadium der Hauptentscheidung zur Spende abspielt, welche grundsätzlich selbst bei der Betroffenen verbleibt,424 ist zum Schutz defizitär Handelnder auch erforderlich. Der Zwang allein zur Aufklärung ist besonders autonomieschonend und kann daher in weitem Umfang bereits dann zulässig sein, wenn komplexe, aber folgenreiche Situationen selbstbestimmte Entscheidungen erschweren  – oder besonders bedeutsam machen. Eine entsprechende Einschränkung muss kraft Natur der Sache dann zumindest vorübergehend auch stark paternalistisch diejenigen treffen, die de facto keinerlei Autonomiedefizite aufweisen und kein Aufklärungsbedürfnis haben. Zum Schutz defizitär Entscheidender ist ein alle gleichermaßen treffendes Aufklärungserfordernis daher gerade in Anbetracht seiner besonderen Niedrigschwelligkeit verhältnismäßig.

VI. Das Verbot der Organ- oder Gewebeentnahme bei fehlender Einwilligung (§ 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b) Alt. 2 i. V. m. § 19 Abs. 1 Nr. 1 TPG) Weitere, strafbewehrte Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Lebendorganentnahme ist nach § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b) Alt. 2 i. V. m. § 19 Abs. 1 Nr. 1 TPG die wirksame Einwilligung der Organspenderin.425 Die Zulässigkeit von Lebend­ explantationen ist in Folge der sonst mit der Entnahme einhergehenden Körperverletzung426 ohne die Einwilligung der Betroffenen nicht denkbar. Insbesondere aber gibt es keinerlei Berührungspunkte zu einer paternalistischen Problematik, da das Verbot der Entnahme in Fällen fehlender Einwilligung mangels entgegenstehenden Willens keinen Schutz der Betroffenen gegen ihren Willen darstellen kann. Voraussetzung für die Zulässigkeit der Lebendspende ist jedoch nicht nur die aus-

424

Auch dazu bereits unter B. V. Siehe zur Abgrenzung von prozeduralem Paternalismus und objektiven Verfügungsverboten auch Fateh-Moghadam, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 21 (39–41). 425 Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 252. 426 Esser geht davon aus, dass es bei fehlender Einwilligung zur Explantation zu einer Objektifizierung des Menschen und damit sogar zu einer Menschenwürdeverletzung komme, ders., Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 47.

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

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drückliche Einwilligung der Betroffenen, sondern auch deren Wirksamkeit.427 Die Entscheidung muss demnach von einer einwilligungsfähigen Person in Kenntnis aller Umstände, nach vollständiger Aufklärung und freiwillig getroffen werden und ohne Irrtum, Täuschung, Drohung oder Zwang zustande kommen.428 Dieses, mit der Unzulässigkeit einer auf einer unwirksamen Einwilligung basierenden Organentnahme einhergehende schwach paternalistische Verbot der Entnahme zum Schutz der Spenderin lässt sich gerade in Anbetracht der hohen in Frage stehenden Rechtsgüter in Form von Autonomie, Leben und körperlicher Unversehrtheit, unproblematisch verfassungsrechtlich rechtfertigen.

VII. Der Vorbehalt ärztlicher Behandlung (§ 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 i. V. m. § 19 Abs. 1 Nr. 1 TPG) Die Organentnahme muss gemäß § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 TPG von einer Ärztin vorgenommen werden. Die Vorschrift soll sowohl die Spenderin vor einer unsachgemäßen Behandlung schützen, als auch die Empfängerin davor bewahren, dass das Organ, welches sie erhalten soll, im Rahmen einer unsachgemäßen Explantation beschädigt wird.429 Da die Regelung somit dem Schutz von Spenderin und Empfängerin dient und auch dann eingreift, wenn die Betroffenen sich von einer Person behandeln lassen möchten, die keine Ärztin ist, ist der Vorbehalt ärztlicher Behandlung auch stark paternalistischer Natur.430 Außerhalb dieser paternalistischen Bevormundung könnte die Regelung jedoch durch die übergeordnete Sicherung von Qualitätsstandards gerechtfertigt sein, soweit diese eine gemeinschaftsschützende Wirkung entfaltet. 1. Gemeinwohlinteresse an der Einhaltung von Qualitätsstandards Die Sicherung der Einhaltung von Qualitätsstandards begründet ein legitimes Gemeinwohlinteresse, das Grundrechtseingriffe – und damit auch solche, die paternalistisch wirken – rechtfertigen kann. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn der Gemeinschaftsschutz, der durch eine Regelung bezweckt wird, auch im Einzelfall nur Wirkung entfalten kann, wenn ein Verhalten allen verboten wird. 427

Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 252. Esser, Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 121; Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 252–256. 429 BT-Drs. 13/4355, S. 20; s. auch Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 45; Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 25. 430 So auch Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 273. Zillgens hält den Arztvorbehalt gerade deshalb für verfassungsrechtlich geboten, da er „unmittelbar dem Schutz der körperlichen Unversehrtheit des Lebendspenders“ diene, dies., Die strafrechtlichen Grenzen der Lebendorganspende, 2004, S. 313 Fn. 6; siehe auch Scheinfeld, Organtransplantation und Strafrechtspaternalismus, 2016, S. 274. 428

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

In diesen Fällen dient die paternalistisch wirkende Bevormundung der Einzelnen, die den Schutz nicht möchte, auch dem Schutz derjenigen, die diesen Schutz wünschen.431 Die notwendige Generalisierung, mit der gesetzliche Regelungen einhergehen, kann zu einer entsprechend unterschiedlichen Wirkweise im Einzelfall führen: Wenn die Regelung unabhängig vom Willen der Betroffenen und einer möglichen Ablehnung des Schutzes Geltung beansprucht, kann sie paternalistisch wirken432  – und wie etwa die Gurtpflicht sowohl diejenigen treffen, die einen Schutz wünschen, als auch diejenigen, die ihn ablehnen.433 Unterschiedlich wirkende Einschränkungen können sich dann mit dem Schutz derjenigen rechtfertigen lassen, die diesen Schutz wünschen. Dementsprechend können derartige Regelungen – wie etwa Befähigungsnachweise für das Handwerk434 oder Marktzugangsbeschränkungen für Nicht-Qualifizierte zur Wahrung der Qualität einer Zunft435 – mit der Sicherung von Qualitätsstandards gerechtfertigt werden, auch wenn diese im Einzelfall die Betroffenen paternalistisch gegen ihren Willen schützen; so etwa diejenige, die besondere handwerkliche Arbeiten durch eine minderqualifizierte Handwerkerin erbracht sehen möchte und bereit ist, die Gefahr eines schlechteren Ergebnisses in Kauf zu nehmen. Auch das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, dass etwa die „Erhaltung und Pflege eines hohen Leistungsstandes des Handwerks ein besonders wichtiges Gemeinschaftsgut“436 sei: „Der Gesetzgeber darf daher auf die Zustimmung der öffentlichen Meinung rechnen, wenn er auf die Erhaltung und Förderung des Ansehens dieses Berufsstandes bedacht ist und Maßnahmen ergreift, die nach seiner Überzeugung geeignet sind, das Vertrauen der Bevölkerung in die Qualität handwerklicher Arbeit zu rechtfertigen.“437 431 Feinberg, Harm to Self, 1986, S. 19 f. Siehe dazu auch bereits die Voraussetzungen für einen Schutz vor der Gefahr unfreiwilliger Entscheidungen mit ähnlicher Wirkung, unter B. V. 1. Während mögliche Ausweichmöglichkeiten und Ausnahmeregelungen, für diejenigen, die den Schutz nicht wünschen oder benötigen im Rahmen dieser Arbeit für die Rechtfertigung einer entsprechenden Regelung von Bedeutung werden, stellt laut Feinberg beispielsweise deren Nichtexistenz trotz Zumutbarkeit und Zugänglichkeit einen entscheidenden Hinweis auf den möglicherweise doch paternalistischen Beweggrund einer Regelung dar, a. a. O., S. 21. 432 Anders Feinberg, der als Beispiel für eine entsprechende Regelung das Duellier-Verbot nennt: Dies erscheine paternalistisch, diene aber eigentlich dem Schutz aller davor, in eine Situation zu kommen, in der sich aus traditionellen Gründen duelliert werden müsse. Soweit der Zweck des Gesetzes aber ist, der Mehrheit die Erreichung eines kollektiven Wohls zu ermöglichen und nicht ein umsichtiges Verhalten der Minderheit zu erzwingen, hält Feinberg eine entsprechende Regelung nicht für paternalistisch, ders., Harm to Self, 1986, S. 19 f. 433 Siehe dazu bereits im ersten Kapitel unter B. II. 1. Allerdings belastet in diesen Fällen die konkrete Beschränkung, im Beispiel etwa in Form des Ordnungsgeldes, regelmäßig paternalistisch diejenigen, die den Schutz nicht wünschen. 434 Zur Verfassungsmäßigkeit des Befähigungsnachweises für das Handwerk BVerfG 17.7.1961 – 1 BvL 44/55 – BVerfGE 13, 97; Schwabe, JZ 1998, 66 (74). 435 Schwabe, JZ 1998, 66 (74). 436 BVerfG 17.7.1961 – 1 BvL 44/55 – BVerfGE 13, 97 (113). Siehe dazu Schwabe, JZ 1998, 66 (74). 437 BVerfG 17.7.1961 – 1 BvL 44/55 – BVerfGE 13, 97 (112).

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

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Eine umfassende Beschränkung zugunsten der Sicherung von Qualitätsstandards kann jedoch nur erforderlich sein, wenn sie zwangsläufig für alle Geltung entfalten muss: Soweit im Einzelfall der Schutz nicht gewünscht ist und sich die Statuierung einer Ausnahme in das bestehende System der Qualitätswahrung einfügen lässt, ohne dass durch die Aushöhlung des Standards dessen Wirkung für und auf die Allgemeinheit ausgehebelt wird, so muss der Einzelnen die Einhaltung eines geringeren Schutzniveaus im Sinne des Respekts vor ihrem Selbstbestimmungsrecht erlaubt sein.438 2. Verfassungsmäßigkeit des Vorbehalts ärztlicher Behandlung (§ 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 i. V. m. § 19 Abs. 1 Nr. 1 TPG) Dementsprechend kann auch das Vertrauen in die Qualität der Transplantationsmedizin als Rechtfertigungsgrund für den Eingriff dienen, der mit dem Vorbehalt ärztlicher Behandlung einhergeht.439 Zwar hält Fateh-Moghadam einen derartigen Ansatz weder für wirksam, da der Vorbehalt ärztlicher Behandlung keine Expertise auf dem Gebiet der Transplantationsmedizin verlange, noch könne ein entsprechendes Schutzgut zur Rechtfertigung einer Strafvorschrift dienen.440 Er plädiert vielmehr dafür, die Problematik „der allgemeinen Dogmatik des ärztliches Behandlungsfehlers“ zu überlassen.441 Da sich die Transplantationsmedizin jedoch in einem zentralen Punkt von anderen ärztlichen Behandlungsfeldern unterscheidet, ist dem nicht zuzustimmen: Sie ist auf die freiwillige Mitwirkung der Bevölkerung angewiesen. Ohne eine allgemeine Spendebereitschaft kann es – anders als auf anderen medizinischen Gebieten – zu keiner Heilbehandlung kommen. Da das Vertrauen der Bevölkerung in das Transplantationswesen insofern von besonderer Bedeutung ist, besteht ein zentrales Interesse der Zunft an einer Wahrung gewisser 438 Vgl. entsprechend das Erfordernis einer Ausnahmeregelung, soweit diese sachgerecht umgesetzt werden kann, bei Regelungen zum Schutz defizitär Entscheidender, dazu im zweiten Kapitel unter B. V. 3. Allein relevant kann dann der Wunsch der Konsumentin oder Leistungsempfängerin sein; die Adressaten der qualitätswahrenden Regelungen müssen ihre insofern bestehenden Pflichten gegenüber der Allgemeinheit, soweit diese verhältnismäßig sind, wahren. Auch Schwabe erkennt ein „Gemeinwohlinteresse an der hohen Qualität“ an, das dem Vertrauen in diese Dienstleistungen und Produkte sowie ihrem Ansehen diene und das in der Gesamtschau als nicht-paternalistischer Zweck die sich im Einzelfall paternalistisch auswirkenden Regelungen zu rechtfertigen vermöge. Auch er betont jedoch die Bedeutung von Einzelfallgerechtigkeit und geht davon aus, dass „bei Irrelevanz dieser Interessen oder deutlichem Überwiegen der Belange dessen, der einem Verbot zu seinem Schutz unterliegt, eine Ausnahmegenehmigung erteilt werden“ müsse, ders., JZ 1998, 66 (74 f.). 439 Zillgens stellt insoweit auf die Sicherstellung einer „fachgerechte[n] medizinische[n] Durchführung der Transplantation“ ab, dies., Die strafrechtlichen Grenzen der Lebendorganspende, 2004, S. 318. Dagegen Scheinfeld, Organtransplantation und Strafrechtspaternalismus, 2016, S. 274, 494, der die Regelung für gleichheitssatzwidrig hält, weil entsprechende Gesundheitsgefahren in anderen Konstellationen nicht für strafwürdig erachtet würden. 440 Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 273. 441 Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 273.

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

Qualitätsstandards, die dieses Vertrauen sicherstellen. Die Fragilität und Schutzwürdigkeit des Systems wird durch die in Folge des Organspendeskandals im Jahr 2012 signifikant zurückgegangene Spendebereitschaft auf drastische Weise verdeutlicht.442 Da die gegenwärtigen und zukünftigen Organempfängerinnen auf ein spendengenerierendes Vertrauen in die Transplantationsmedizin angewiesen sind, wirkt dieses direkt drittschützend und stellt insoweit ein taugliches Schutzgut für eine Beschränkung von Grundrechten dar. Der dem Vertrauen in die Transplantationsmedizin dienende Vorbehalt ärztlicher Behandlung muss zudem ausnahmslos gelten, weil eine Einzelfallausnahme zugunsten des Selbstbestimmungsrechts der Einzelnen eine aushöhlende Wirkung gegenüber der gesamten Zunft entfalten würde. Da eine lege artis durchgeführte Transplantation auch geeignet ist, das Vertrauen in die Transplantationsmedizin zu fördern und zu erhalten, ist der Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht von Spenderin und Empfängerin, der mit dem Vorbehalt ärztlicher Behandlung einhergeht, einer Rechtfertigung auf dieser Ebene zugänglich.

VIII. Resümee: Strafrechtlicher Paternalismus im Transplantationsgesetz Im Ergebnis lassen sich somit einige strafbewehrte, paternalistisch wirkende Regelungen im Transplantationsgesetz auf Grundlage des Schutzes defizitär Entscheidender und zur Einhaltung von Qualitätsstandards verfassungsrechtlich rechtfertigen. Soweit dies wie bei dem stark paternalistischen Organhandelsverbot und der stark paternalistischen Spenderkreisbeschränkung nicht der Fall ist, ist es wie dargestellt zusätzlich auch die zum Schutz der Betroffenen eingreifende Strafbewehrung von auf autonomen Entscheidungen basierendem Verhalten, die verfassungsrechtlich nicht überzeugen kann: Der Einsatz von Strafbewehrungen zur Absicherung paternalistischer Verhaltensverbote kollidiert zentral mit den grundlegenden Aufgaben des Strafrechts, das dem individuellen Rechtsgüterschutz dienen und sozialschädlichem Verhalten begegnen soll. Die von direktem strafrechtlichem Paternalismus ausgehende Bestrafung der Rechtsgutsträgerin selbst ist zudem widersprüchlich: Denn insoweit stellt die Bestrafung einen Schutz durch Schädigung dar, die – außerhalb eines Abschreckungseffekts – nicht im Interesse der Betroffenen liegen kann.443 Die Illegitimität rein stark paternalistischer Verhaltensregelungen wird durch die Sanktionierung derselben mit den Mitteln des

442 Vgl. die Pressemitteilung der Deutschen Stiftung Organtransplantation vom 7.1.2013, abrufbar unter https://www.dso.de/dso-pressemitteilungen/einzelansicht/article/zahl-der-organ​ spenden-in-2012-dramatisch-gesunken.html (zuletzt abgerufen am 1.3.2018). 443 von Hirsch, in: von Hirsch / ​Neumann / ​Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 57 (62). Zu diesem strafrechtsutilitaristischen Einwand auch Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 123–125.

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

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Strafrechts zusätzlich vertieft:444 Die Pönalisierung der Selbstschädigung steht im Widerspruch zu den Grundsätzen eines liberalen Rechtsstaats.445 Auf dem Gebiet der Lebendorganspende ist der Legitimitätsmangel dieser restriktiven Regelungen gerade im Hinblick auf die zentrale Bedeutung der Lebendspende für die zahlreichen, auf Spenderorgane wartenden Patientinnen besonders zu bedauern. Dementsprechend wäre eine generelle Freigabe der Lebendspende bei einer Überprüfung der Autonomie der Beteiligten446 im Sinne des körperlichen Wohls potentieller Empfängerinnen und des Respekts vor der Selbstbestimmung potentieller Spenderinnen sowohl ethisch wünschenswert als auch verfassungsrechtlich geboten.

D. Paternalistische Regelungen im Transplantationsgesetz ohne Strafbewehrung I. Subsidiarität der Lebendspende (§ 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 TPG) § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 TPG nennt als weitere Voraussetzung einer Lebendspende die Subsidiarität derselben im Verhältnis zur Postmortalspende: Die Spende ist demnach nur zulässig, soweit im Zeitpunkt der Organentnahme kein geeignetes postmortal gespendetes Organ zur Verfügung steht.447 Die Vorschrift ist in der Praxis in Anbetracht des eklatanten Mangels an postmortal gespendeten Organen von geringer Relevanz.448 Sie läuft – in Folge immens hoher Wartezeiten auf postmortal 444 Zu den insoweit noch größeren Problemen, als sie etwa bei paternalistischen Regelungen auf dem Gebiet des Zivil- oder Verwaltungsrechts bestehen auch von Hirsch, in: von Hirsch / ​ Neumann / ​Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 57 (61). Zu den zusätzlichen präventionsstrafrechtlichen und strafrechtsethischen Einwänden siehe Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 125–130. 445 Schmitt, in: FS Maurach, 1972, S. 113; Schroth, in: FS Roxin, 2001, S. 869 (881). Siehe zu der Straflosigkeit derjenigen, die durch eine Strafandrohung geschützt wird Herzberg, Täterschaft und Teilnahme, 1977, S. 135; LK / ​Schünemann, StGB, 12. Aufl. 2007, Vor § 26 Rn. 26. 446 In diesem Zusammenhang sei auf die Section 61A des New Zealand Criminal Code (Crimes Act 1961) verwiesen, nach welcher niemand strafrechtlich belangt werden kann, soweit ein chirurgischer Eingriff lege artis, mit Einwilligung des Betroffenen und zu einem rechtmäßigen Zweck vorgenommen wird: „Everyone is protected from criminal responsibility for performing with reasonable care and skill any surgical operation upon a person if the operation is performed with the consent of that person, or of any person lawfully entitled to consent to the operation, and for a lawful purpose.“, siehe Price, Legal and Ethical Aspects of Organ Transplantation, 2000, S. 243. 447 Auch das Biomedizinübereinkommen (Art. 19) und das Zusatzprotokoll über die Transplantation menschlicher Organe und Gewebe des Europarates (Art. 9) kennen entsprechende Subsidiaritätsregeln. Da die Lebendspende danach zusätzlich auch subsidiär zu geeigneten Behandlungsalternativen sein muss, sind die Regeln sogar strenger als jene des TPG, vgl. dazu Radau, Die Biomedizinkonvention des Europarates, 2006, S. 106–108. 448 Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 42.

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

gespendete Organe, der Fragwürdigkeit der gleichen Geeignetheit solcher Organe im Einzelfall, der Beschränkung der Subsidiarität auf den „Zeitpunkt der Organentnahme“ sowie der Möglichkeit, sich als Betroffene gar nicht erst auf die Liste setzen zu lassen oder sich wieder von dieser streichen zu lassen – im Regelfall leer.449 Laut Gesetzentwurf soll die Subsidiarität der Lebendspende und der damit einhergehende Vorrang der Postmortalspende450 den Interessen der potentiellen Lebendspenderin dienen,451 deren körperliche Integrität nicht beeinträchtigt werden soll, soweit stattdessen ein postmortal gespendetes Organ zur Verfügung steht. Die Möglichkeit der Lebendspende soll nicht zu einer Vernachlässigung der Bemühungen um eine Postmortalspende führen.452 Unabhängig von der in Anbetracht des massiven Organmangels fragwürdigen Sinnhaftigkeit der Regelung453 ist die Verfassungsmäßigkeit der Subsidiarität der Lebendspende – gerade im Angesicht ihrer paternalistischen Anteile – zweifelhaft. 1. Betroffene Grundrechte In der Literatur wird im Kontext der Subsidiaritätsanordnung mit Recht kritisiert, dass die potentiellen Empfängerinnen durch die Regelung auf die medizinisch eindeutig weniger erfolgversprechende Methode und damit auf eine verhältnismäßig schlechtere Behandlung verwiesen werden, was sie in ihrem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG beeinträchtigt.454 Soweit die potentielle Empfängerin ein postmortal gespendetes Organ aus persönlichen, ethischen oder religiösen Aspekten ablehnt, wird durch die Regelung zudem in ihr allgemeines Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG und möglicherweise sogar in ihre Religions- und Weltanschauungsfreiheit aus Art. 4 449 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 22 f.; Gutmann / ​Schroth, Organlebendspende in Europa, 2002, S. 29. 450 Siehe dazu bereits unter C. II. 3. b) bb) (3). 451 BT-Drs. 13/4355, S. 20. 452 BT-Drs. 13/4355, S. 20. Diese Zweckausrichtung, die dazu führt, dass die konkrete Entscheidung zur Lebendspende hinter dem Ziel der Erhöhung postmortaler Spenden zurückstehen muss, nennen Gutmann und Schroth eine „staatlich angeordnete Instrumentalisierung der Betroffenen zugunsten eines politischen Ziels, das in dieser Form den Bezug zu den Rechtsgütern, denen es dienen soll, offensichtlich verloren hat“, dies., Organlebendspende in Europa, 2002, S. 28. 453 Für die grundsätzliche Sinnhaftigkeit der Regelung allerdings Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 237; Gutmann / ​Schroth, Organlebendspende in Europa, 2002, S. 25. 454 Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 43; Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 22; Gutmann / ​Schroth, Organlebendspende in Europa, 2002, S. 27; Hellweg, Subsidiarität der Lebendorganspende, 2017, S. 131; Schroth, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 466 (476). Gutmann geht davon aus, dass durch die Regelung auch in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des potentiellen Empfängers aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1  GG eingegriffen wird, ders., in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 22.

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

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Abs. 1 GG eingegriffen.455 Mitunter wird sogar angenommen, die Regelung mache Lebendspenden für Betroffene mit terminaler Niereninsuffizienz, die eine präven­ tive Transplantation benötigten,456 sowie für eilige Notfälle, in denen die Aufklärungs- und Einholungspflicht eines Kommissionsgutachtens nicht eingehalten werden könne, unmöglich.457 Ein solcher Ausschluss besonders schwer erkrankter Patientinnen von einer möglichen Lebendspende führt ebenfalls zu einer direkten Grundrechtsbeeinträchtigung. Durch die Einschränkung der Wahlfreiheit der potentiellen Empfängerinnen werden diese jedenfalls in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit beeinträchtigt, Art. 2 Abs. 1 GG.458 Auch die Grundrechte der Spenderin werden durch die Regelung berührt:459 Soweit dieser eine Spende unter Verweis auf die Subsidiarität der Lebendspende gesetzlich untersagt wird, wird sie ebenfalls zumindest in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit betroffen.460 Gutmann geht sogar weitergehend davon aus, dass die Regelung indirekt Dritte schädige: So würde durch die Subsidiaritätsanordnung einer Person, die die Möglichkeit hätte, eine Lebendspende zu erhalten, ein postmortal gespendetes Organ aufgezwungen und dieses in der Folge indirekt derjenigen versagt, die jenes Organ als nächste auf der Warteliste erhalten hätte.461 Inwieweit sich konkret belegen ließe, dass jemand durch die Übertragung eines postmortal gespendeten Organs auf eine andere Person, die potentiell eigentlich eine Lebendspende zur Hand hätte, etwa in Folge einer sich verlängernden Wartezeit geschädigt wird, erscheint jedoch zumindest fraglich.462

455 Esser, Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 196; Gutmann / ​Schroth, Organlebendspende in Europa, 2002, S. 27 f.; Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 22; Hellweg, Subsidiarität der Lebendorganspende, 2017, S. 143 f., der den Eingriff in Art. 4 GG jedoch unter paternalistischen Gesichtspunkten für gerechtfertigt hält. Grundsätzlich bejaht auch Augsberg eine Grundrechtsbetroffenheit, ders., in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 43. 456 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 22. 457 Henne-Bruns / ​Kaatsch, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 1. Aufl. 2003, Anhang 1 zu § 8 Rn. 19. 458 Eine sich aus der Regelung ergebende Pflicht der potentiellen Empfänger, sich auf die Warteliste für ein postmortal gespendetes Organ setzen zu lassen – was ihre Handlungsfreiheit ebenfalls beeinträchtigen würde – wird unter Hinweis auf § 13 Abs. 3 S. 1 TPG und die verfassungsrechtlichen Implikationen der Subsidiaritätsregel jedoch weitgehend abgelehnt, siehe Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 237; Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 24; Gutmann / ​Schroth, Organlebendspende in Europa, 2002, S. 30. 459 Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 43. 460 So auch Esser, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 1. Aufl. 2003, § 8 Rn. 58. 461 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 22; Gutmann / ​Schroth, Organlebendspende in Europa, 2002, S. 29. 462 Siehe zu dem vergleichbaren Kausalitätsproblem in Zusammenhang mit der indirekten Manipulation der Warteliste durch Verfälschung der Krankenakten im Rahmen des sog. Göttinger Organspendeskandals BGH 28.6.2017 – 5 StR 20/16 – NJW 2017, 3249–3255.

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

2. Rechtfertigung durch den „Schutz der Postmortalspende“ Diese Eingriffe lassen sich zunächst nicht durch den Schutz der Bemühungen um postmortal gespendete Organe vor Vernachlässigung rechtfertigen. Unabhängig von der bereits fragwürdigen Bedeutung einer entsprechenden Zielsetzung erscheint die Subsidiaritätsregelung insoweit bereits nicht wirksam: Wie durch die Regelung Bemühungen um postmortal gespendete Organe vor Vernachlässigung geschützt werden sollen, erschließt sich nicht. Maßnahmen, die die Postmortalspende fördern, werden durch einen möglichen Anstieg von Lebendspenden nicht beeinträchtigt.463 Eine Rechtfertigung der Grundrechtseingriffe auf dieser Grundlage kommt mangels kausalen Zusammenhangs zwischen Zweck und Maßnahme nicht in Betracht. Im Übrigen kann es ohnehin nicht im Interesse des Gesetzgebers sein, den Bedarf an Postmortalspenden noch weiter zu steigern, als es der gegenwärtige Organmangel bereits bewirkt und so möglicherweise einen zusätzlichen Anreiz für vorschnelle Hirntodfeststellungen zu schaffen. 3. Paternalistischer Schutz der potentiellen Spenderin Zwar wird mitunter vertreten, der Schutz der Lebendspenderin rechtfertige den mit dem Subsidiaritätserfordernis einhergehenden Grundrechtseingriff, da dieser Schutz ebenso hoch anzusiedeln sei wie das Interesse der potentiellen Empfängerin an einer Therapie, sodass die mit einer Lebendentnahme einhergehende Gefährdung nur dann zu legitimieren sei, wenn kein anderes Organ zur Verfügung stehe.464 Nach der vorliegend vertretenen Auffassung kommt eine Rechtfertigung mit dem Schutz der Spenderin vor den mit einer Lebendspende einhergehenden Risiken jedoch nicht in Betracht: Eine solche Schutzausrichtung, die sich auch über eine autonome Spendeentscheidung hinwegsetzt, ist als stark paternalistisch465 abzulehnen. Dies gilt auch in der Konstellation, die der Gesetzgeber bei Schaffung der Subsidiaritätsanordnung offenbar vor Augen hatte und in der die Möglichkeit 463

Siehe auch Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 43. Kritisch gegenüber dem gesamten Argumentationsstrang auch Hellweg, Subsidiarität der Lebendorganspende, 2017, S. 155–158. 464 So etwa Norba, Rechtsfragen der Transplantationsmedizin aus deutscher und europäischer Sicht, 2009, S. 213 f. Vgl. dazu auch Esser, Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 197 f. 465 So auch Gutmann, der davon ausgeht, dass es Ziel der Regelung sei, „mündige, ärztlich umfassend (§ 8 II) aufgeklärte Erwachsene gegen ihren erklärten Willen von einem rational begründbaren und in seinen Risiken überschaubaren Eingriff in die eigene körperliche Integrität zugunsten eines nahe stehenden Menschen abzuhalten. Gesetzgeberischer Paternalismus dieser Art sieht sich in einem liberalen Rechtsstaat jedoch einem prinzipiellen Legitimationsdefizit ausgesetzt […].“, ders., in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 22. Siehe zu der parallelen Argumentation im Rahmen der Rechtfertigung des Spenderkreisbeschränkung unter C. II. 3. b) bb) (3). Auch Hellweg hält die Regelung für paternalistisch, ders., Subsidiarität der Lebendorganspende, 2017, S. 114.

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

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einer Transplantation ohne körperliche Schädigung eines anderen, lebenden Menschen besteht. Der Empfängerin trotz möglicher Lebendspende lediglich die Wahl zwischen einem postmortal gespendeten Organ oder einem Ausfall der Transplantation zu lassen, ist verfassungsrechtlich nicht haltbar.466 Die mangels anderer ersichtlicher Rechtfertigungsgründe deshalb bestehende Verfassungswidrigkeit der Regel467 korrespondiert insofern mit ihrer rechtspolitischen Fehlausrichtung im Hinblick auf den derzeitigen Organmangel.

II. Eignung, keine Gefährdung oder schwere Beeinträchtigung der Spenderin (§ 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 c) TPG) Gemäß § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 c) TPG ist eine Lebendorganspende nur zulässig, wenn die Betroffene nach ärztlicher Beurteilung als Spenderin geeignet ist und voraussichtlich nicht über das Operationsrisiko hinaus gefährdet oder über die unmittelbaren Folgen der Entnahme hinaus gesundheitlich schwer beeinträchtigt wird. Da die Spenderin wohl dann als geeignet zu gelten hat, wenn sie durch den Eingriff nicht über das von § 8 TPG erlaubte Risiko hinaus gefährdet wird,468 kommt der Eignung in Abgrenzung zur fehlenden Gefährdung und gesundheitlichen Beeinträchtigung kein eigenständiger Regelungsgehalt zu.469 Die Beurteilung der voraussichtlichen Gefährdung (und damit auch der Eignung) erfolgt ex ante auf Basis einer prognostischen Entscheidung der behandelnden Ärztin.470 Da die Transplantation verschiedener Organe unterschiedlich gefährlich ist, bezieht sich die Gefährdung nicht auf das allgemeine Operationsrisiko, sondern auf das jeweils individuelle Risiko der Spenderin im Hinblick auf die konkrete Operation.471 Für die Beurteilung der „Schwere der Beeinträchtigung“ sind allein die unmittelbar beeinträchtigenden Folgen der Entnahme von Bedeutung.472 Soweit eine Transplantation in Folge einer negativen ärztlichen Prognose auf Grundlage der Vorschrift untersagt ist, werden durch die Regelung wiederum jeden 466

Esser, Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 199; Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 22. Fateh-Moghadam geht jedoch davon aus, dass sich die Regelung verfassungskonform und als Pflicht zu Aufklärung und Hinweis auf die Postmortalspende auslegen lässt, ders., Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 237 f. Siehe dazu auch Sortiriadis, in: Beck (Hrsg.), Gehört mein Körper noch mir?, 2012, S. 489 (507–510). 467 Anders Hellweg, Subsidiarität der Lebendorganspende, 2017, S. 150, der die Regelung insbesondere auf Grundlage paternalistischer Rechtfertigungsgründe für verfassungsmäßig hält. 468 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 13. 469 Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 29. 470 BT-Drs. 13/4355, S. 20; Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 12, 15. 471 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 14; Gutmann / ​Schroth, Organ­ lebendspende in Europa, 2002, S. 31. Im Ergebnis so auch Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 32; Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 236. 472 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 15.

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

falls die allgemeine Handlungsfreiheit der potentiellen Spenderin sowie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit der potentiellen Empfängerin betroffen. Eine stark paternalistische Rechtfertigung zum Schutz der ungeeigneten Spenderin, auch gegen ihren autonomen Willen, ist nach den vorliegend entwickelten Grundsätzen abzulehnen.473 Der Gesetzgeber ersetzt sonst die persönliche Einschätzung der Sinnhaftigkeit des Eingriffs seitens der Betroffenen durch eine fremdbestimmte Wertung. Mitunter wird zur Rechtfertigung der Regelung jedoch auch auf den Schutz des „beteiligten Fachpersonals“ und der Transplantationsmedizin als Gesamtheit vor den Nachteilen der Realisierung eines besonders hohen Risikos bei einer Transplantation rekurriert.474 Während die Interessen des beteiligten Fachpersonals diffus verbleiben, ist die Versagung außerordentlich gefährlicher Explantationen durchaus geeignet, das Vertrauen der Bevölkerung in die Integrität der Transplantationsmedizin zu schützen – oder es vielmehr, soweit es derzeit durch die Organspendeskandale bereits beeinträchtigt ist, nicht noch weiter zu beschädigen. Auch wenn es grundsätzlich der autonomen Entscheidung der Spenderinnen überlassen bleiben muss, festzulegen, bis zu welchem Grad ein Risiko für sie hinnehmbar ist,475 vermag die Sicherung der Spendebereitschaft der Bevölkerung, die auch durch das Verhindern besonders gefährlicher Explantationen unterstützt werden kann, einen insoweit mit der Regelung einhergehenden, paternalistisch wirkenden Eingriff zu rechtfertigen.

III. Eignung zur Lebenserhaltung oder Krankheitsheilung (§ 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 TPG) Gemäß § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 TPG muss die Organübertragung nach ärztlicher Beurteilung zudem geeignet sein, das Leben der Empfängerin zu erhalten oder eine schwerwiegende Krankheit bei ihr zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Beschwerden zu lindern. Dies setzt namentlich die Gesundheit und fehlende Beschädigung sowie die Gewebeverträglichkeit und die anatomische Passform des Organs oder Gewebes voraus.476 Die Eignung ist wiederum nach medizini-

473

Siehe dazu bereits im zweiten Kapitel unter B. III. 6. Anders Klimpel, der eine entsprechende Bevormundung im Rahmen seines autonomieorientieren Paternalismus (siehe dazu im zweiten Kapitel unter B. III. 1. e)) für gerechtfertigt hält, da die Organspende „eine große Gefahr der irreversiblen Beeinträchtigung des eigenen, selbstbestimmten Lebens beinhaltet“, ders., Bevormundung oder Freiheitsschutz?, 2003, S. 167. 474 Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 35. 475 Auch Fateh-Moghadam geht davon aus, dass das Ziehen einer absoluten Grenze für ein zulässiges Risiko außerhalb der Grenzen der §§ 228, 216 StGB nicht sinnvoll sein kann, ders., Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 236. 476 BT-Drs. 13/4355, S. 20; Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 38; Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 20.

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

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schen Vorgaben ex ante prognostisch durch die behandelnde Ärztin festzu­stellen.477 Die Regelung soll lediglich eine Spende ohne jede Erfolgsaussicht verhindern; die Durchführung einer Transplantation mit verminderten Erfolgsaussichten lässt sie zu.478 Soweit die Regelung den Schutz von Spenderin und Empfängerin vor einer medizinisch sinnlosen Entnahme auch gegen ihren autonom gebildeten Willen bezweckt, wirkt sie stark paternalistisch. Auch wenn die Regelung keine „Mindesterfolgsdauer“ für Lebendspenden vorschreibt oder die Bestimmung des richtigen Verhältnisses zwischen Erfolgsaussicht und Rechtfertigung des Eingriffs vollständig übernimmt,479 greift sie selbst im Äußersten  – der Unzulässigkeit einer sinnlosen Spende – bevormundend in das Selbstbestimmungsrecht von Spenderin und Empfängerin ein. Der Eingriff lässt sich jedoch ebenfalls mit dem Schutz der Integrität der Transplantationsmedizin rechtfertigen: Dieser legitimiert die Beschränkung der Freiheit der Betroffenen in Konstellationen, in denen die Spende ohnehin völlig aussichtslos ist und dies zu einem Ansehensschaden der Zunft und damit zu einem Nachteil für all jene führen könnte, die auf Organspenden und die Spendebereitschaft der Bevölkerung angewiesen sind.

IV. Bereiterklärung zur Nachbetreuung (§ 8 Abs. 3 S. 1 TPG) Gemäß § 8 Abs. 3 S. 1 TPG darf eine Lebendorganspende nur erfolgen, nachdem sich Spenderin und Empfängerin zur Teilnahme an einer ärztlich empfohlenen Nachbetreuung bereit erklärt haben. Die Regelung dient der Sicherstellung einer umfassenden Betreuung von Spenderin und Empfängerin und der damit einhergehenden Sicherung des Transplantationserfolgs über einen längeren Zeitraum hinweg.480 Die paternalistische Ausrichtung der Vorschrift ergibt sich direkt aus dem Gesetzentwurf zu dem die Regelung ergänzenden Gewebegesetz, das eine entsprechende Bereiterklärung der Empfängerin bei einer Gewebespende ausdrücklich nicht verlangt:481 „Bei der Lebendorganspende soll mit der Bereitschaft des Empfängers, an einer ärztlich empfohlenen Nachbetreuung teilzunehmen, im Hinblick auf die spendebedingten Risiken des Lebendspenders die Funktionstüchtigkeit des Organs beim Empfänger gewährleistet werden. Da bei der Gewebespende bei einer lebenden Person keine solchen erheblichen Risiken bestehen, kann hier von dem genannten Erfordernis abgesehen werden.“482

477

Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 12, 20. Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 40; Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 236; Gutmann / ​Schroth, Organlebendspende in Europa, 2002, S. 34. 479 Dies jedenfalls ablehnend Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 21; Gutmann / ​Schroth, Organlebendspende in Europa, 2002, S. 34. 480 BT-Drs. 13/4355, S. 21. 481 Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 101. 482 BT-Drs. 16/3146, S. 48. 478

286

2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

Die Regelung dient somit dem Schutz der Spenderin vor weiteren Risiken. Auch das Verbot der Organspende im Falle einer von der Betroffenen nicht gewollten Nachbetreuung hat insoweit eine stark paternalistische Ausrichtung. Die Regelung lässt sich jedoch ebenfalls durch den Schutz der Integrität der Transplantationsmedizin rechtfertigen, deren Ansehen auf einen möglichst erfolgreichen Ausgang der Transplantation angewiesen ist.

V. Gutachtliche Stellungnahme durch die nach Landesrecht zuständige Kommission (§ 8 Abs. 3 S. 2 TPG) Gemäß § 8 Abs. 3 S. 2 TPG ist weitere zwingende Voraussetzung483 für die Zulässigkeit der Lebendorganentnahme, dass die nach Landesrecht zuständige Kommission484 gutachtlich dazu Stellung genommen hat, ob begründete, tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Einwilligung in die Organspende nicht freiwillig erfolgt ist oder das Organ Gegenstand verbotenen Handeltreibens nach § 17 TPG war. 1. Inhalt der gesetzlichen Regelung Im Rahmen der Einzelüberprüfung wird wie bereits dargestellt nicht positiv die Freiwilligkeit der Entscheidung untersucht, sondern negativ das Nichtvorliegen von Anhaltspunkten, die darauf hindeuten, dass die Entscheidung nicht freiwillig oder in Zusammenhang mit einer Gegenleistung für die Spende getroffen wurde.485 Die letztendliche Beurteilung der Frage, ob die Einwilligung freiwillig erfolgt ist oder nicht, bleibt der behandelnden Ärztin vorbehalten, sodass die Stellungnahme der Kommission allein empfehlender Natur ist und eine zusätzliche Verfahrenssicherung gewährt.486 Der Inhalt der Stellungnahme hat deshalb zumindest keinen direkten Einfluss auf die materielle Beurteilung der Zulässigkeit der Spende.487 Gegenstand der Untersuchung sind trotz des diesbezüglich unergiebigen Wortlauts der Regelung wohl die Einwilligung der Spenderin und die Einwilligung der Empfängerin:488 Im Zentrum der Überprüfung stehen Anhaltspunkte, die gegen die Freiwilligkeit der Transplantationsentscheidung und die Einwilligungsfähigkeit der 483 Dies gilt zumindest dem Wortlaut entsprechend auch in äußersten Notfällen, Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 107. 484 Die Zusammensetzung der Kommission ergibt sich aus § 8 Abs. 3 S. 3 TPG. 485 Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 112. 486 Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 108; Deutsch / ​Spickhoff, Medizinrecht, 7. Aufl. 2014, Rn. 1262; Esser, Verfassungsrechtliche Aspekte der Lebendspende von Organen, 2000, S. 126; Gutmann / ​Schroth, Organlebendspende in Europa, 2002, S. 35. 487 Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 109; Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 240. 488 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 57.

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

287

Beteiligten sprechen ebenso wie das Fehlen von äußerem Zwang, von Täuschung und Irrtum bei der Entscheidungsbildung, die detaillierte Aufklärung sowie die Konstanz und Stabilität der getroffenen Entscheidung.489 Laut Gutmann soll das Verfahren ferner mögliche Behinderungen oder Verzerrungen im Rahmen des Entscheidungsprozesses der Betroffenen ausmerzen, Schutz vor Übereilung bieten und der potentiellen Spenderin die jederzeitige Möglichkeit offen halten, das Verfahren würdevoll wieder zu beenden und sich doch gegen die Spende zu entscheiden.490 Umstritten ist, ob die Kommission auch das Vorliegen einer besonderen persönlichen Verbundenheit zu untersuchen hat.491 2. Rechtfertigung des Erfordernisses einer kommissionellen Stellungnahme mit dem verfahrenspaternalistischen Schutz defizitär Entscheidender Zwar urteilen die Kommissionen nicht über Zulässigkeit und Unzulässigkeit der Lebendspende – durch den gesetzlich vorgeschriebenen Überprüfungsmechanismus wird jedoch insoweit in die allgemeine Handlungsfreiheit der Betroffenen eingegriffen, als es für die Zulässigkeit der Spende jedenfalls ihrer Teilnahme an dem Verfahren bedarf. Entsprechende Eingriffe zur Erforschung und Sicherung der Validität einer Entscheidung, die erfolgen, soweit geistige Kapazität, Informiertheit oder Freiwilligkeit der Betroffenen in Frage stehen, werden mitunter als schwach bzw. „autonomieorientiert“ paternalistisch eingeordnet.492 Dies ist in einer Konstellation wie der vorliegenden jedoch abzulehnen: Dort erfolgt der Eingriff nicht durch Hinwegsetzen über eine (defizitäre)  Spendeentscheidung, sondern durch Hinwegsetzen über einen der Untersuchung der Spendeentscheidung potentiell entgegenstehenden, autonomen Willen. Ob die Spendeentscheidung selbst autonom getroffen wurde, ist erst Gegenstand der in Frage stehenden Untersuchung und hat keinen Einfluss auf die Beurteilung des möglichen, der Untersuchung entgegenstehenden Willens. Da die Regelung somit dem Schutz der Autonomie der Betroffenen auch gegen ihren möglicherweise autonom gebildeten Willen dient, kommt ihr eine stark paternalistische Wirkung zu.493 489

Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 56 f.; Gutmann / ​Schroth, Organlebendspende in Europa, 2002, S. 37. 490 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 56. 491 Als Annexkompetenz bejahend, Fateh-Moghadam et al., MedR 2004, 82 (88 f.); in Folge des eindeutigen Wortlauts der Regelung dagegen Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 114; Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 59. 492 Siehe etwa Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 239; Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (259). 493 Einen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des Spenders und unter Umständen auch in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit des Empfängers ebenfalls bejahend, Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 60 m. w. N.; siehe auch Fateh-Moghadam, MedR 2003, 245 (254), der für den Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG darauf abstellt, dass das Verfahren die Beteiligten faktisch zur Offenlegung der persönlichen Verhältnisse u. ä. zwingt.

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

Derartige, der Erforschung der Autonomie dienende Verfahrenspaternalismen sind jedoch auch in ihren stark paternalistischen Wirkungen wie bereits dargelegt durch den Schutz defizitär Entscheidender rechtfertigbar.494 Entsprechende Regelungen sind geeignet, wenn in Folge von Kompetenzzweifeln, der Komplexität des Entscheidungssachverhalts oder der zentralen Bedeutung der in Frage stehenden Rechtsgüter Anhaltspunkte für eine potentiell angeschlagene Autonomie vorliegen und ein Wirkzusammenhang zwischen der Gefahr und der Regelung, die ihr begegnen soll, besteht. Das Erfordernis einer kommissionellen Begutachtung knüpft zunächst an eine tatsächlich bestehende Gefährdungslage an: Denn die zu untersuchende Spendeentscheidung ist in Anbetracht ihrer Irreversibilität und der zentralen Bedeutung der mit Leben und körperlicher Unversehrtheit in ihrem Rahmen in Frage stehenden Rechtsgüter von weitreichender Bedeutung – sowie in ihren Voraussetzungen, Folgen und Auswirkungen besonders komplex. Diesen Gefahren für die Freiwilligkeit der Entscheidung begegnet das Erfordernis einer kommissionellen Begutachtung auch wirkungsvoll, in dem in seinem Rahmen überprüft wird, ob tatsächlich konkrete Anhaltspunkte für eine fehlende Freiwilligkeit vorliegen. Die Regelung ist zum Schutz defizitär Entscheidender auch erforderlich. Zwar geht das Erfordernis einer kommissionellen Begutachtung im Vergleich zum Schutz der Autonomie durch Informierung und Aufklärung, so wie sie 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b) Alt. 1 TPG vorschreibt, einen Schritt weiter: Denn die Regelung schreibt eine Erforschung der Autonomie der Entscheidung in Form einer konkreten Überprüfung vor. Auch dieser verfahrenspaternalistische Schritt kann jedoch relativ weitgehend zulässig sein, wenn eine originär und vollumfänglich autonome Entscheidung in komplexen Konstellationen nur schwer zu erreichen ist und der Gesetzgeber insofern guten Grund hat, am Vorliegen derselben zu zweifeln und sie einer Überprüfung zu unterziehen. Ein gleich geeignetes, milderes Mittel ist insoweit nicht ersichtlich: In Anbetracht der Gefahrenlage ist insbesondere die mildere Aufklärung im Verhältnis zur konkreten Überprüfung nicht gleich geeignet. Die relativ geringe Eingriffsintensität der Regelung ergibt sich auch daraus, dass sich die Überprüfung wie auch die Aufklärung lediglich in einem Vor-Entscheidungsstadium abspielt und die Hauptentscheidung über den eigentlich bedeutsamen Sachverhalt, die Spende, bei der Betroffenen selbst verbleibt: Denn die Beurteilung der Kommission hat in den in Frage stehenden Fällen lediglich empfehlenden Charakter; ein negatives Votum steht der Zulässigkeit der Organspende nicht entgegen. Zwar kommt dem Ergebnis der gutachtlichen Überprüfung eine erhebliche faktische und verhaltenssteuernde Wirkung zu,495 da die Betroffenen für die Durchführung der Organspende auf die Mitwirkung der behandelnden Ärztin angewiesen sind, die bei einem Negativvotum nicht mehr auf die Freiwilligkeit der Entscheidung der Betroffenen bzw. auf das Nichtvorliegen von Organhandel ver 494

Siehe dazu unter C. V. 1. Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 109; Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 240; ders., MedR 2003, 245 (246, 254). 495

3. Kap.: Die Regelung der Lebendorganspende im Transplantationsgesetz

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trauen kann. Fateh-Moghadam spricht einem Negativvotum deshalb „eine faktische Ausschlusswirkung für die Durchführung der geplanten Lebendspende“ zu.496 Die rechtliche Zulässigkeit der Spende und das Verbleiben der Letztentscheidung bei den Betroffenen selbst ist jedoch streng von den faktischen Wirkungen der Stellungnahme zu trennen: Denn eine Besonderheit der Lebendspende liegt darin, dass sie nicht allein durchgeführt werden kann und der Mitwirkung Dritter – etwa der behandelnden Ärztinnen – bedarf. Allein die Entscheidung der Betroffenen selbst zur Spende kann deshalb auch im Hinblick auf viele andere, nicht rechtliche, sondern faktische Aspekte nicht zwangsläufig mit der Durchführung einer Lebendspende gleichgesetzt werden, sondern vielmehr möglicherwiese wirkungslos bleiben. Das vermag an der Tatsache, dass die Freiwilligkeit der Spendeentscheidung – unabhängig vom Ergebnis der kommissionellen Beurteilung – die Spende grundsätzlich de iure zulässig macht, jedoch nichts zu ändern. Alle weiteren, mit der Stellungnahme der Kommission einhergehenden Wirkungen mögen zwar die Möglichkeit der Realisierung der Letztentscheidung der Beteiligten faktisch beeinträchtigen – sie stellen aber die Entscheidungsgewalt der Einzelnen nicht in Frage. Die deshalb verhältnismäßig geringe, mit der Überprüfung einhergehende Eingriffsintensität führt dazu, dass die Regelung in Anbetracht der Bedeutung der bei einer unfreiwilligen Spende gefährdeten Rechtsgüter auch angemessen ist. Hinsichtlich der kommissionellen Überprüfung des Nicht-Vorliegens von Anzeichen für Organhandel sei auf die Ausführungen zum Organhandelsverbot verwiesen: Soweit ein nach den im Rahmen dieser Arbeit entwickelten Maßstäben relevanter Fall von Organhandel vorliegt, der die Autonomie der zugrundeliegenden Entscheidungen beeinträchtigt,497 erfolgt eine entsprechende Überprüfung ohnehin bereits im Rahmen der Untersuchung der Freiwilligkeit. Im Ergebnis lässt sich das verhältnismäßige Erfordernis der kommissionellen Begutachtung aus § 8 Abs. 3 S. 2 TPG verfahrenspaternalistisch mit dem Schutz defizitär Entscheidender rechtfertigen.

496 Fateh-Moghadam, MedR 2003, 245 (254). Hinsichtlich der hohen faktischen Wirkung der Kommissionsentscheidung wird in der Literatur jedoch problematisiert, dass es keinen Rechtsschutz gegen die kommissionellen Stellungnahmen gibt, siehe etwa Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 137; Fateh-Moghadam, MedR 2003, 245 (256); Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 52, 65; ders., in: Schroth et al. (Hrsg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, S. 189 (260). Zwar sind die Entscheidungen weder rechtsverbindlich noch handelt es sich bei ihnen um Verwaltungsakte; sie stellen laut Fateh-Moghadam jedoch „schlicht-hoheitliches Handeln mit grundrechtsrelevanter Außenwirkung“ dar, ders., a. a. O., S. 256. Wegen ihrer mittelbar-faktischen Wirkung soll bei Beeinträchtigungen subjektiver Rechte, wie sie etwa durch fehlendes Tätigwerden der Kommission oder durch willkürliche Entscheidungen denkbar sind, Grundrechtsschutz gewährleistet werden, Fateh-Moghadam, a. a. O., S. 256; Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 65. 497 Siehe dazu unter C. I. 3. b) aa) (1).

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

E. Resümee: Paternalismen im Transplantationsgesetz Das Reglement der Lebendspende im Transplantationsgesetz ist, wie die vorliegende Untersuchung ergeben hat, durchsetzt von schwachen wie starken Paternalismen. Zwar können auch letztere – so wie die verfahrenspaternalistischen Aufklärungs- und Überprüfungsregelungen, der Vorbehalt ärztlicher Behandlung, das Nachbetreuungserfordernis und die Eignungsvorschriften – im Einzelfall zum Schutz defizitär Entscheidender oder zum Schutz des Gemeinwohlinteresses an der Integrität der Transplantationsmedizin gerechtfertigt werden. Soweit diese Rechtfertigungsansätze jedoch nicht eingreifen, können Entscheidungen für eine Lebendspende seitens einer informierten und autonom handelnden Spenderin nicht zulässigerweise zu ihrem eigenen Schutz beschränkt werden:498 Die Kombination aus der Beschneidung der Behandlungsmöglichkeiten terminal Kranker und der Beeinträchtigung des Selbstbestimmungsrechts autonom handelnder Wunschspenderinnen führt dazu, dass die paternalistischen Regelungen des Organhandelsverbots, der Spenderkreisbeschränkung und der Subsidiarität der Lebendspende in ihrer derzeitigen Form unter verfassungsrechtlichen wie ethischen Gesichtspunkten abzulehnen sind.

498 „Refusing to use a kidney from a competent living donor is unduly paternalistic where a donor is well informed, understands, and is willing to accept the risks of kidney donation.“, Report of the Task Force on Organ Transplantation: Issues and Recommendations, US Department of Health and Human Services, Washington D. C., 1986, at 37, zitiert nach Price, Legal and Ethical Aspects of Organ Transplantation, 2000, S. 260.

Viertes Kapitel

Die Regelung der klinischen Prüfung im Arzneimittelgesetz Auch die Vorschriften zu klinischen Prüfungen von Arzneimitteln, Medizin­ produkten und medizinischen Verfahren bei Menschen enthalten paternalistische Anteile. Geregelt sind klinische Prüfungen im Arzneimittelgesetz (AMG), der Verordnung über die Anwendung der Guten Klinischen Praxis bei der Durchführung von klinischen Prüfungen mit Arzneimitteln zur Anwendung am Menschen (GCP-V), dem Medizinproduktegesetz (MPG) sowie dem Strahlenschutzgesetz (StrlSchG), der Strahlenschutzverordnung (StrlSchV) und der Röntgenverordnung (RöV). Von zentraler Bedeutung für den Schutz von Menschen bei der klinischen Prüfung von Arzneimitteln sind die Regelungen der §§ 40–42b AMG. Da die Zulässigkeitsvoraussetzungen für die klinische Prüfung von Medizinprodukten seit der Novellierung des Medizinproduktegesetzes im Jahr 2009 an die Voraussetzungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln im Arzneimittelgesetz und in der GCP-Verordnung angeglichen wurden,1 soll sich im Folgenden ausschließlich auf die §§ 40–42b AMG konzentriert werden. Durch die VO (EU) 536/20142 über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln wird die Genehmigung, Durchführung und Überwachung von klinischen Prüfungen europaweit einheitlich neu geregelt. Die VO sieht unter anderem die Einrichtung eines Portals und einer Datenbank vor, im Rahmen derer Informationen zu klinischen Prüfungen in der EU erfasst und übermittelt werden. Die VO gilt gemäß ihres Art. 82 erst, wenn die Kommission sich vergewissert hat, dass die Datenbank und das Portal funktionsfähig sind und eine diesbezügliche Mitteilung im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht. Dies ist bislang nicht erfolgt.3 Mit dem Vierten Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom 20.12.20164 wurden die im Folgenden zu prüfenden Regelungen im AMG 1 Listl, in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, 2. Aufl. 2014, § 20 MPG Rn. 1. Die Prüfung ist jedoch anders als im AMG grundsätzlich nicht verpflichtend, a. a. O. Zu den eng an die §§ 40 ff. AMG angelehnten Voraussetzungen Deutsch / ​Spickhoff, Medizinrecht, 7. Aufl. 2014, Rn. 2072–2076. Unterschiede bestehen allerdings in der Behandlung nicht einwilligungsfähiger Studienteilnehmer, dazu Beyerbach / ​Müller-Terpitz, WissR 48 (2015), 229 (249). 2 Verordnung (EU) Nr. 536/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/20/EG, ABl. (EU) vom 27.5.2014 L 158, S. 1. 3 Stand 1.2.2018. 4 BGBl. 2016 I S. 3048–3065.

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

angepasst, soweit dies durch die VO (EU) 536/2014 erforderlich geworden ist. In den abgeänderten Vorschriften des AMG werden insbesondere die nationalen Zuständigkeiten und Verfahren für die Genehmigung klinischer Prüfungen geregelt.5 Die im Folgenden beschriebenen Regelungen bleiben jedoch bis zur Veröffentlichung der Mitteilung der Kommission (vgl. Art. 82 VO (EU) 536/2014) noch auf unbestimmte Zeit in Kraft.

A. Ausgangspunkt Im Hintergrund der individualschützenden Regelungen in Zusammenhang mit klinischen Prüfungen von Arzneimitteln steht neben dem aller Forschung mit Menschen zugrundeliegenden Konflikt zwischen der möglichen Schädigung des Einzelnen auf der einen und der Bedeutung der Forschung für die Gemeinschaft auf der anderen Seite, die belastete Geschichte der Forschung am Menschen.

I. Historie der Forschung an Menschen Von zentral bedeutsamem Einfluss ist insoweit die menschenverachtende und verbrecherische „Forschung“ an Menschen seitens des nationalsozialistischen Regimes in den Konzentrationslagern, auf die unter anderem mit dem Nürnberger Kodex des Amerikanischen Militärgerichtshofes aus dem Jahr 1947 reagiert wurde, der erstmals Grundregeln für die Zulässigkeit medizinischer Versuche an Menschen statuierte.6 Weitere ethische Leitlinien für Ärzte und andere, an der Forschung mit Menschen Beteiligte wurden in der Folge im Jahr 1964 in der Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes aufgestellt,7 die in einer der Revision von Fortaleza entsprechenden Fassung aus dem Jahr 2013 bis heute fortbesteht.8 Im Laufe des 20. Jahrhunderts verdeutlichten noch weitere Experimente die Verletzlichkeit der Probanden und die Missbrauchsgefahr, die mit der Forschung an Menschen einhergeht – so etwa die Tuskegee-Syphilis-Studie der amerikanischen Regierung, in deren Rahmen von 1932 bis 1972 einem Teil der schwarzen Bevölkerung in Alabama grundsätzlich zur Verfügung stehende Behandlungsmöglichkeiten vorenthalten wurden, um den natürlichen Verlauf von Syphilis zu studieren.9 In den Vereinigten Staaten erarbeitete daraufhin die vom Kongress eingesetzte National Commission for the Protection of Human Subjects in Biomedical and Behavioral Research im 5

Vgl. Gesetzentwurf, BT-Drs. 18/8034. Siehe dazu umfassend etwa Annas / ​Grodin, The Nazi Doctors and the Nuremberg Code, 1992. 7 Schimikowski, Experiment am Menschen, 1980, S. 3. 8 Eine deutsche Fassung des Textes ist bei der Bundesärztekammer abrufbar unter http:// www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/Deklaration_von_Helsinki_2013_DE.​ pdf (zuletzt abgerufen am 1.3.2018). 9 S. dazu etwa Gamble, AJOH 1997 (87), 1773. 6

4. Kap.: Die Regelung der klinischen Prüfung im Arzneimittelgesetz

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sogenannten Belmont Report von 1978 bis heute bedeutsame Richtlinien für die Forschung an Menschen und etablierte die Prinzipien von Autonomie, Fürsorge und Gerechtigkeit.10 Wie groß die mit Menschenforschung einhergehenden Gefahren nach wie vor sind, bewies auch in jüngerer Zeit eindrücklich die TeGenero-Studie in London, in deren Rahmen im Jahr 2006 sechs Männer lebensgefährliche Nebenwirkungen erlitten, die unter anderem in Lungen- und Nierenversagen, Amputationen und der Entwicklung eines Krebsleidens endeten.11

II. Das Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln Nachdem die besondere Wichtigkeit umfassender Testung vor der Zulassung von Arzneimitteln durch die verheerenden Folgen des Wirkstoffs Thalidomid (Contergan) eindrücklich demonstriert wurde, wurden im Rahmen einer Novellierung des aus dem Jahr 1961 stammenden Arzneimittelgesetzes im Jahr 1976 erstmals Regelungen für die klinische Prüfung von Arzneimitteln aufgestellt.12 Das Arzneimittelgesetz dient grundsätzlich der Arzneimittelsicherheit und schreibt deshalb eine als Verbot mit Erlaubnisvorbehalt ausgestaltete Zulassungspflicht von Arzneimitteln vor, § 21 Abs. 2 AMG.13 Die strenge Regulierung der klinischen Prüfung von Arzneimitteln in den §§ 40–42b AMG basiert auf den mit entsprechenden Prüfungen einhergehenden gesundheitlichen Gefahren für die Probanden und der Gefahr der Instrumentalisierung derselben für Forschungszwecke.14 Das Arzneimittelgesetz ist Sonderpolizeirecht, Verbraucherschutzgesetz15 und Nebenstrafrecht.

III. Grundlegendes zum Schutz des Menschen im Rahmen der klinischen Prüfung Im Gegensatz zu Heileingriffen bedürfen Forschungseingriffe in Folge der mit ihnen einhergehenden Instrumentalisierungsgefahr einer besonderen, dem Schutz der Betroffenen dienenden Legitimation.16 Diese besonderen Anforderungen ergeben sich für die klinische Prüfung von Arzneimitteln aus den §§ 40–42b AMG. Nach der Legaldefinition des § 4 Abs. 23 S. 1 AMG ist klinische Prüfung „jede am Menschen durchgeführte Untersuchung, die dazu bestimmt ist, klinische oder pharmakologische Wirkungen von Arzneimitteln zu erforschen oder nachzuwei 10

Maio, Mittelpunkt Mensch: Ethik in der Medizin, 2012, S. 130 f. Dazu Godt / ​Engelke, WissR 43 (2010), 2 (3–5). 12 Oswald, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 667 (700). 13 Achtmann, Der Schutz des Probanden, 2013, S. 11; Heßhaus, in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, 2. Aufl. 2014, § 21 AMG Rn. 1. 14 Achtmann, Der Schutz des Probanden, 2013, S. 12. 15 Koyuncu, in: Deutsch / ​Lippert (Hrsg.), AMG, 3. Aufl. 2010, § 1 Rn. 6. 16 Achtmann, Der Schutz des Probanden, 2013, S. 15. 11

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

sen oder Nebenwirkungen festzustellen oder die Resorption, die Verteilung, den Stoffwechsel oder die Ausscheidung zu untersuchen, mit dem Ziel, sich von der Unbedenklichkeit oder Wirksamkeit der Arzneimittel zu überzeugen.“17 Von der Definition erfasst sind Experimente mit Arzneimitteln, bei denen das Forschungsinteresse im Zentrum des Vorgehens steht.18 Wie die Formulierung „die dazu bestimmt ist“ zum Ausdruck bringt, kommt es für die Einordnung entscheidend darauf an, dass das Ziel der Untersuchung die wissenschaftliche Erkenntnis ist.19 Ausgenommen von der Definition sind gemäß § 4 Abs. 23 S. 2 AMG „nichtinterventionelle Prüfungen“, d. h. Anwendungsbeobachtungen, in deren Rahmen Erkenntnisse aus der Behandlung von Personen mit Arzneimitteln anhand epidemiologischer Methoden analysiert werden, § 4 Abs. 23 S. 3 AMG. Da sie nicht primär der wissenschaftlichen Erkenntnis dienen, sind auch Heilbehandlungen bereits begrifflich nicht erfasst: Dazu gehören sowohl Standardbehandlungen im Rahmen des „anerkannten Standards der medizinischen Wissenschaft“20 als auch Heilversuche gegenüber dem eigentlich austherapierten Patienten mit dem Ziel der Besserung des Betroffenen.21 Die Abgrenzung zwischen Heilbehandlung und Forschung erfolgt an Hand des objektiven Zwecks der Maßnahme.22 So wird regelmäßig probandenschutzauslösende Forschung anzunehmen sein, wenn der Behandlung eine „systematische Vorgehensweise anhand eines Prüfplans“ zugrunde liegt.23 Soweit neben dem Ziel des Erkenntnisgewinns über den Einzelfall hinaus zudem ein potentiell therapeutischer Nutzen für den Probanden selbst beabsichtigt ist, kann es sich um ein sog. heilkundliches oder therapeutisches Experiment handeln.24 Auch außerhalb spezifischer Regelungen wie im Arzneimittelgesetz gelten für Experimente und Versuche dann grundsätzlich die strafrechtlichen Einwilligungs- und die allgemeinen therapeutischen Regelungen.25 17

Die Legaldefinition „klinische Studie“ in der Neuregelung in Art. 2 Abs. 2 Nr. 1 VO (EU) 536/2014 ist nahezu wortgleich. 18 Oswald, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 667 (705); dies., Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 163. 19 Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 160. 20 Oswald, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 667 (678) m. w. N. 21 Achtmann, Der Schutz des Probanden, 2013, S. 15 f.; Jary, Medizinische Forschung an Strafgefangenen, 2010, S. 41; Listl, in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, 2. Aufl. 2014, § 40 AMG Rn  5; Oswald, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 667 (679). Für einen Ausschluss des Heilversuchs aus dem Anwendungsbereich des AMG auch Spranger, Sozialrecht und Praxis 2006, 751 (752). Siehe zum Heilversuch auch Deutsch / ​Spickhoff, Medizinrecht, 7. Aufl. 2014, Rn. 1332–1334. 22 Achtmann, Der Schutz des Probanden, 2013, S. 20. 23 Achtmann, Der Schutz des Probanden, 2013, S. 21. 24 Achtmann, Der Schutz des Probanden, 2013, S. 19; Oswald, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 667 (680, 684 f.). 25 Deutsch / ​Spickhoff, Medizinrecht, 7. Aufl. 2014, Rn. 1306; Oswald, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 667 (695).

4. Kap.: Die Regelung der klinischen Prüfung im Arzneimittelgesetz

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Die klinische Arzneimittelprüfung wird in der Praxis in vier Phasen unterteilt.26 Während in Phase I die erstmalige Anwendung des Arzneimittels am Menschen erfolgt und die Verträglichkeit in der Regel bei wenigen, nicht einschlägig erkrankten Teilnehmern erforscht wird, wird im Rahmen der therapeutisch-exploratorischen Phase II die Wirkung an Kranken im Bereich der geplanten Indikation sowie Nebenwirkungen, Dosierung und Sicherheit untersucht.27 In der therapeutisch-konfirmatorischen Phase III soll der eindeutige Nachweis der Wirksamkeit und Unbedenklichkeit bei einer noch größeren Anzahl von Teilnehmern erbracht werden, bevor nach Zulassung des Arzneimittels im Rahmen der Phase IV durch breite Anwendung Unbedenklichkeit, Brauchbarkeit, Langzeitverträglichkeit und Nebenwirkungen überprüft und überwacht werden.28 Während das Arzneimittelgesetz gemäß seines § 1 die Arzneimittelsicherheit bezweckt, dienen die Regelungen der §§ 40 ff. AMG primär dem Schutz der Prüfungsteilnehmer vor forschungsbedingten Gefahren in den Prüfungsphasen I bis III.29 Jedenfalls soweit weiterhin der Erkenntnisgewinn im Vordergrund der Maßnahme steht, wird die Prüfung auch in Phase IV noch durch die §§ 40 ff. AMG reguliert.30 Weicht ihre Behandlung vom medizinischen Standard ab, wird grundsätzlich zudem die Kontrollgruppe bei kontrollierten Studien von den Vorschriften erfasst.31 Auch eine der Phase I vorgelagerte Pilotstudie kann wegen der besonderen Schutzbedürftigkeit der Teilnehmer den §§ 40 ff. AMG unterfallen.32 Grundsätzlich ist die klinische Prüfung eines Arzneimittels am Menschen nach § 40 Abs. 1 AMG zulässig, wenn der Sponsor, der Prüfer und alle weiteren an der klinischen Prüfung beteiligten Personen bei der Durchführung die Anforderungen der guten klinischen Praxis einhalten (S. 1), wenn die zuständige Ethik-Kommission die Prüfung zustimmend bewertet und die zuständige Bundesoberbehörde 26 Ausführlich Gierschik, in: Lenk / ​Duttge / ​Fangerau (Hrsg.), Handbuch Ethik und Recht der Forschung am Menschen, 2014, S. 71–82. 27 Achtmann, Der Schutz des Probanden, 2013, S. 25; Deutsch / ​Spickhoff, Medizinrecht, 7. Aufl. 2014, Rn. 1693 f.; Oswald, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 667 (709 f.); Wachenhausen, in: Kügel / ​Müller / ​Hofmann (Hrsg.), AMG, 2. Aufl. 2016, § 40 Rn. 20. 28 Achtmann, Der Schutz des Probanden, 2013, S. 25 f.; Deutsch / ​Spickhoff, Medizinrecht, 7. Aufl. 2014, Rn. 1696; Oswald, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 667 (710); Wachenhausen, in: Kügel / ​Müller / ​Hofmann (Hrsg.), AMG, 2.  Aufl. 2016, § 40 Rn. 20. 29 Achtmann, Der Schutz des Probanden, 2013, S. 75 f.; Wachenhausen, in: Kügel / ​Müller / ​ Hofmann (Hrsg.), AMG, 2. Aufl. 2016, § 40 Rn. 7. 30 Oswald, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 667 (712); dies., Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 172. 31 Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 175. Im Rahmen des § 41 AMG gilt dies lediglich soweit es tatsächlich zu einer Anwendung des Arzneimittels kommt, a. a. O., S. 177 f. 32 Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 179.

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diese genehmigt hat (S.  2)33 und nach S. 3 ein Sponsor oder ein Vertreter des Sponsors vorhanden ist, der seinen Sitz in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einem anderen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum hat (Nr. 1), die vorhersehbaren Risiken und Nachteile der Prüfung gegenüber dem Nutzen für die Person, bei der sie durchgeführt werden soll (betroffene Person), und der voraussichtlichen Bedeutung des Arzneimittels für die Heilkunde ärztlich vertretbar sind (Nr. 2),34 wenn nach dem Stand der Wissenschaft im Verhältnis zum Zweck der klinischen Prüfung eines Arzneimittels, das aus einem gentechnisch veränderten Organismus oder einer Kombination von gentechnisch veränderten Organismen besteht oder solche enthält, keine unvertretbaren schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit Dritter (Nr. 2a)) und auf die Umwelt (Nr. 2b)) zu erwarten sind, die betroffene Person volljährig und in der Lage ist, Wesen, Bedeutung und Tragweite der klinischen Prüfung zu erkennen und ihren Willen hiernach auszurichten (Nr. 3a)), sie nach Abs. 2 S. 1 aufgeklärt worden ist und schriftlich eingewilligt hat (Nr. 3b)),35 sie nach Abs. 2a S. 1 und 2 informiert worden ist und schriftlich eingewilligt hat und die Einwilligung sich ausdrücklich auch auf die Erhebung und Verarbeitung von Angaben über die Gesundheit bezieht (Nr. 3c)) und die betroffene Person nicht auf gerichtliche oder behördliche Anordnung in einer Anstalt untergebracht ist (Nr. 4).36 Zudem müssen Anforderungen an Prüfer und Prüfeinrichtung eingehalten (Nr. 5) und eine pharmakologisch-toxikologische Prüfung des Arzneimittels durchgeführt worden sein (Nr. 6), über deren Ergebnis jeder Prüfer ebenso informiert werden muss wie über die voraussichtlich mit der klinischen Prüfung verbundenen Risiken (Nr. 7). Ferner muss eine Probandenversicherung abgeschlossen worden sein (Nr. 8) und ein Arzt oder Zahnarzt für die medizinische Versorgung verantwortlich sein (Nr. 9).37 § 40 AMG statuiert insoweit die allgemeinen Anforderungen an eine klinische Prüfung, die für die Prüfung mit Minderjährigen durch § 40 Abs. 4 AMG modifiziert werden.38 § 41 AMG enthält Sonderregeln für einschlägig Kranke,39 die die Voraussetzungen des § 40 AMG –  zu dem sie in einem Regel-AusnahmeVerhältnis stehen – zum Teil abändern.40 Gemäß § 96 AMG wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wer vorsätzlich entgegen der Anforderungen der § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 2, 2a a), 3–6 und 8, jeweils auch in Verbindung mit Abs. 4 oder § 41 AMG, die klinische Prüfung eines Arzneimittels durchführt 33

Siehe dazu ausführlich unter I. Siehe dazu ausführlich unter B. 35 Siehe dazu ausführlich unter C. 36 Vgl. ausführlich zu letzterem unter D. 37 Siehe zu letzteren Anforderungen unter E. 38 Siehe dazu ausführlich unter H. 39 Siehe dazu ausführlich unter F und G. 40 Oswald, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 667 (705); dies., Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 164; Wachenhausen, in: Kügel / ​Müller / ​Hofmann (Hrsg.), AMG, 2. Aufl. 2016, § 40 Rn. 8, § 41 Rn. 1. 34

4. Kap.: Die Regelung der klinischen Prüfung im Arzneimittelgesetz

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(§ 96 Nr. 10 AMG) oder entgegen § 40 Abs. 1 S. 2 AMG die klinische Prüfung eines Arzneimittels beginnt (§ 96 Nr. 11 AMG). Die fahrlässige Begehung entsprechender Taten wird gemäß § 97 Abs. 1 Nr. 1 AMG als Ordnungswidrigkeit geahndet. Bei den Regelungen handelt es sich um abstrakte Gefährdungsdelikte zum Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit der Teilnehmer.41 Adressaten sind der Sponsor einer Prüfung, Prüfer und Mitglieder der Prüfgruppe; der (potentielle) Proband macht sich als notwendige Teilnehmerin nicht strafbar.42

B. Medizinische Vertretbarkeit der Prüfung nach Risiko-Nutzen-Abwägung (§ 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 i. V. m. § 96 Nr. 10 AMG) Gemäß § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 AMG darf eine klinische Prüfung beim Menschen nur durchgeführt werden, wenn die vorhersehbaren Risiken und Nachteile gegenüber dem Nutzen für die Person, bei der sie durchgeführt werden soll, und der voraussichtlichen Bedeutung des Arzneimittels für die Heilkunde ärztlich vertretbar sind.43 Die Durchführung der klinischen Prüfung eines Arzneimittels unter Verstoß gegen diese Vorschrift ist gemäß § 96 Nr. 10 AMG strafbewehrt. Die Regelung statuiert insofern eine von der Einwilligung des Betroffenen unabhängige Zulässigkeitsvoraussetzung für die wissenschaftliche und nicht behandlungsbezogene, klinische Prüfung an einwilligungsfähigen, nicht einschlägig kranken Erwachsenen.44 Entsprechende Abwägungserfordernisse finden sich in vielen internationalen Regelwerken in Zusammenhang mit der Forschung an Menschen.45 Die ärztliche Vertretbarkeit muss während des gesamten Prüfungszeitraums46 im Hinblick auf den konkreten Probanden vorliegen.47 Da auch allein fremdnützige Forschungsaspekte – wie etwa bei Versuchen mit Kontrollgruppen – mitberücksichtigt werden müssen, wird in der Literatur darauf hingewiesen, dass 41

Oswald, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 667 (722); dies., Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 102. 42 Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 184, 186. 43 Ein ähnliches Erfordernis findet sich im Rahmen der Neuregelung in Art. 28 Abs. 1 lit. a VO (EU) 536/2014. 44 Achtmann, Der Schutz des Probanden, 2013, S. 60; Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 253. 45 So stellt etwa auch die Deklaration von Helsinki die ärztliche Vertretbarkeit des Risikos in den Vordergrund, s. dazu Deutsch / ​Spickhoff, Medizinrecht, 7. Aufl. 2014, Rn. 1314. Zum Ganzen van Spyk, Das Recht auf Selbstbestimmung in der Humanforschung, 2011, S. 295 f. mit ausführlicher Darstellung. 46 Wachenhausen, in: Kügel / ​Müller / ​Hofmann (Hrsg.), AMG, 2. Aufl. 2016, § 40 Rn. 43. 47 Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 254.

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das „und“ im Gesetzeswortlaut als „oder“ zu verstehen ist.48 Die mit der Prüfung einhergehenden Risiken und Nachteile müssen somit entweder im Hinblick auf den Nutzen für den konkreten Probanden oder im Hinblick auf die voraussichtliche Bedeutung des Arzneimittels für die Heilkunde ärztlich vertretbar sein.49 Die ärztlich vorzunehmende Wertung ist einer strafrechtlichen Richtigkeitskontrolle zugänglich, die jedenfalls bei nicht hinnehmbaren Abwägungsergebnissen eingreifen kann.50 Das Erfordernis einer Risiko-Nutzen-Abwägung dient auch dem Schutz der Probanden.51 Soweit einem Probanden die Teilnahme an einer klinischen Prüfung wegen ärztlicher Unvertretbarkeit derselben unmöglich gemacht wird, entfaltet die Regelung eine freiheitsbeschränkende Wirkung zum Schutz des Betroffenen und ist als paternalistisch zu verstehen.52 Da der paternalistisch geschützte Proband und die von der Regelung adressierten Sponsoren und Prüfer auseinanderfallen, handelt es sich um eine indirekt paternalistische Vorschrift,53 die intentionsgemäß auch gegenüber autonom handelnden potentiellen Probanden Geltung beansprucht und deshalb stark paternalistisch wirkt.54

I. Betroffene Grundrechte Gerade diese paternalistische Ausrichtung stellt die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift. Durch ihre indirekte Ausrichtung berührt die Regelung die Grundrechte von mindestens zwei an der Forschung beteiligten Gruppen.

48

Siehe nur etwa Achtmann, Der Schutz des Probanden, 2013, S. 62; Deutsch / ​Spickhoff, Medizinrecht, 7. Aufl. 2014, Rn. 1706. Ausdrücklich „oder“ heißt es bereits in Art. 28 Abs. 1 lit. a VO (EU) 536/2014. 49 Ausführlich zur Abwägung und den Kriterien und ihrer Bewertung, Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 265–276. 50 Raum, in: Kügel / ​Müller / ​Hofmann (Hrsg.), AMG, 2. Aufl. 2016, § 96 Rn. 25. 51 Jary, Medizinische Forschung an Strafgefangenen, 2010, S. 44. Ganz allgemein zu Risiko-Nutzen-Abwägungen in der Humanforschung so auch van Spyk, Das Recht auf Selbstbestimmung in der Humanforschung, 2011, S. 291. 52 So auch Eberbach, Die zivilrechtliche Beurteilung der Humanforschung, 1982, S. 117. Außerhalb des direkten Regelungszusammenhangs zu der Konstruktion so auch Beauchamp, Monist 1977, 62 (78). Zur Missachtung der individuellen Präferenzen des Probanden im Falle eines festgestellten unverhältnismäßigen Risikos, Gkountis, Autonomie und strafrechtlicher Paternalismus, 2011, S. 41. 53 So auch Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 255. 54 Anders Oswald, die die Regelung unter einem in ihrer Terminologie weich paternalistischen Aspekt auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin überprüft, dies., Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 257. Zu der Wirkung einer allgemeinen Risiko-Nutzen-Abwägung auch gegenüber Urteilsfähigen van Spyk, Das Recht auf Selbstbestimmung in der Humanforschung, 2011, S. 291.

4. Kap.: Die Regelung der klinischen Prüfung im Arzneimittelgesetz

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1. Wissenschafts- und Berufsfreiheit der Prüfer und Sponsoren Als Adressaten der Vorschrift sind das zunächst die Prüfer und Sponsoren klinischer Forschung. Durch die einschränkende Regelung des § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 AMG sind jedenfalls die beteiligten Prüfer in ihrer verfassungsrechtlich in Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG garantierten Wissenschaftsfreiheit berührt.55 Wissenschaft i. S. d. Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG ist laut Bundesverfassungsgericht „alles, was nach Inhalt und Form als ernsthafter planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzusehen ist“56 und umfasst Forschung und Lehre.57 Von Forschung als „Arbeitsmethode der Wissenschaft“58 ist insbesondere „die geistige Tätigkeit mit dem Ziel, in methodischer, systematischer und nachprüfbarer Weise neue Erkenntnisse zu gewinnen“59 erfasst. Da klinische Prüfungen neuer Arzneimittel der methodischen und systematischen Untersuchung ihrer Wirksamkeit und Sicherheit dienen, bewegen sie sich grundsätzlich in diesem Rahmen. Daran ändert auch eine mit der Forschung möglicherweise einhergehende Einwirkung auf Rechte Dritter nichts: Eine solche ist in Folge der grundsätzlich umfassenden Freiheitsvermutung erst auf Seiten der Grenzen der Wissenschaftsfreiheit von Belang.60 Durch die Strafbewehrung und das Verbot der Durchführung einer klinischen Prüfung bei fehlender ärztlicher Vertretbarkeit kommt es gegenüber den Prüfern zu einer Regulierung und Einschränkung von Forschung, die einen verfassungsrechtlich relevanten Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit darstellt.61 Soweit der Sponsor nicht auch selbst das Ziel verfolgt, methodisch neue Erkenntnisse zu gewinnen, wird sein Tätigwerden jedoch nicht vom Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG erfasst.62 Gehört die Forschung – so wie es regelmäßig der Fall sein wird – zur beruflichen Tätigkeit der Handelnden, greift die Forschungsregulierung jedenfalls als Berufsausübungsregelung auch in die Berufsfreiheit der betroffenen Prüfer und Sponsoren ein.63 55 Taupitz, Biomedizinische Forschung zwischen Freiheit und Verantwortung, 2002, S. 23. Zur Freiheit der Forschung als Bestandteil der Wissenschaftsfreiheit Scholz, in: Maunz / ​Dürig (Hrsg.), GG, 81. Lfg. 2017, Art. 5 Abs. 3 Rn. 9. Für die in der Schweizer BV geschützte Wissenschaftsfreiheit so auch van Spyk, Das Recht auf Selbstbestimmung in der Humanforschung, 2011, S. 312. 56 BVerfG 29.5.1973 – 1 BvR 424/71 u. a. – BVerfGE 35, 79 (113). 57 BVerfG 29.5.1973 – 1 BvR 424/71 u. a. – BVerfGE 35, 79 (113). 58 Taupitz, Biomedizinische Forschung zwischen Freiheit und Verantwortung, 2002, S. 24. 59 BVerfG 29.5.1973 – 1 BvR 424/71 u. a. – BVerfGE 35, 79 (113). 60 Taupitz, Biomedizinische Forschung zwischen Freiheit und Verantwortung, 2002, S. 23. Wölk hingegen sieht nur konsentierte Forschung am Menschen als verfassungsrechtlich geschützt an, ders., Risikovorsorge und Autonomieschutz, 2004, S. 458. 61 Kandler, Rechtliche Rahmenbedingungen biomedizinischer Forschung, 2008, S. 20; Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 132. 62 Kandler, Rechtliche Rahmenbedingungen biomedizinischer Forschung, 2008, S. 19 f. 63 Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 132; so auch Taupitz zum Entwurf eines Zusatzprotokolls über biomedizinische Forschung zum Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin des Europarates mit ähnlichem Reglement, ders., Biomedizinische Forschung zwischen Freiheit und Verantwortung, 2002, S. 31 f.

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

Ob dieser Eingriff subsidiär zu dem Eingriff in die speziellere und stärker geschützte Wissenschaftsfreiheit ist64 oder ob er zu diesem in Idealkonkurrenz steht,65 kann an dieser Stelle offen bleiben: Soweit nicht einmal ein Eingriff in die vorbehaltlos gewährleistete Wissenschaftsfreiheit einer Rechtfertigung zugänglich ist, gilt dies jedenfalls auch für die lediglich mit einem einfachen Gesetzesvorbehalt ausgestattete Berufsfreiheit: Ein gegebenenfalls auf Sponsorenseite nur durch dieses Grundrecht geschütztes Vorgehen wäre einer Rechtfertigung dann ebenfalls nicht zugänglich. Jedenfalls subsidiär beeinträchtigt die mit § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 AMG einhergehende Beschränkung zudem auch die allgemeine Handlungsfreiheit der Forscher und Sponsoren.66 In der Praxis sind regelmäßig Unternehmen der pharmazeutischen Industrie Sponsoren von klinischen Prüfungen. Soweit es sich bei diesen um inländische juristische Personen handelt, kommt es durch die Regelung in § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 AMG ebenfalls zu den vorgenannten Grundrechtseingriffen. Denn die Wissenschafts- und die Berufsfreiheit sind gemäß Art. 19 Abs. 3 GG ihrem Wesen nach auch auf juristische Personen anwendbar.67 2. Verfügungsrecht des Probanden über seinen eigenen Körper aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG bzw. aus Art. 2 Abs. 1 GG Durch die Regelung wird zudem auch in Grundrechte der Probanden eingegriffen. Soweit dem Einzelnen die Teilnahme an einer klinischen Prüfung in Folge einer ärztlichen Unvertretbarkeit gegen seinen Willen verwehrt bleibt, wird er durch die Untersagung einer „selbstbestimmten körperbezogenen Preisgabeentscheidung“68 entweder in seinem „körperbezogenen Selbstbestimmungsrecht“ aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 (ggfs. i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG)69 oder jedenfalls in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit, Art. 2 Abs. 1 GG betroffen.70 Taupitz erwägt darüber hinaus eine

64

Taupitz, Biomedizinische Forschung zwischen Freiheit und Verantwortung, 2002, S. 23. Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 133. 66 Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 133; Taupitz, Biomedizinische Forschung zwischen Freiheit und Verantwortung, 2002, S. 23. 67 Remmert, in: Maunz / ​Dürig (Hrsg.), GG, 81. Lfg. 2017, Art. 19 Abs. 3 Rn. 102. Dies gilt wohl auch für die allgemeine Handlungsfreiheit, a. a. O. 68 Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 118. 69 Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 118, 127, 255; Wölk, Risikovorsorge und Autonomieschutz, 2004, S. 459. Siehe zu dem positiven Verfügungsschutz durch spezielle Grundrechte auch bereits im dritten Kapitel unter C. II. 3. b) aa) (1). 70 Kandler, Rechtliche Rahmenbedingungen biomedizinischer Forschung, 2008, S. 29; Taupitz, Biomedizinische Forschung zwischen Freiheit und Verantwortung, 2002, S. 37. Ohne 65

4. Kap.: Die Regelung der klinischen Prüfung im Arzneimittelgesetz

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grundrechtliche Betroffenheit „derjenigen, denen die Forschung zugutekommen soll“.71 Die gesundheitlichen Interessen der potentiellen Profiteure klinischer Prüfungen seien im Rahmen des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG von Bedeutung „selbst wenn kein Grundrechtsträger als konkreter Anspruchsteller vorhanden ist“.72

II. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Im Ergebnis sind diese mit der Regelung einhergehenden Eingriffe zwar weder mit dem Schutz der Menschenwürde (dazu unter 1.) noch mit dem Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit (dazu unter 2.) oder dem Schutz der Autonomie und dem Schutz defizitär Entscheidender (dazu unter 3.) verfassungsrechtlich zu rechtfertigen – wohl aber mit dem Gemeinwohlinteresse am Schutz des Vertrauens in die Arzneimittelforschung (dazu unter 4.). 1. Menschenwürde der Probanden Der Schutz der Menschenwürde stellt eine absolute Grenze der Wissenschaftsfreiheit dar,73 die regelmäßig in Zusammenhang mit Forschung an Menschen diskutiert wird, da diese naturgemäß mit einer gewissen „Verdinglichung“ der Versuchsperson74 und einer „Verwendung von Menschen“75 einhergeht. Insbesondere wenn kein direkter Eigennutzen des Probanden besteht,76 ist der Mensch in der Forschung regelmäßig auch Mittel zum Zweck. Denn im Rahmen der empirischen Wissenschaften erfordert bereits die Methodik eine weitgehende „Versach­lichung“ Bezug zum deutschen Grundgesetz allgemein zur einer Begrenzung der Dispositionsbefugnis und des Selbstbestimmungsrechts so auch van Spyk, Das Recht auf Selbstbestimmung in der Humanforschung, 2011, S. 307, 310, 313. Oswald hält die allgemeine Handlungsfreiheit jedenfalls für einschlägig, soweit nicht die Teilnahme an körperbezogener Forschung in Frage steht, dies., Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 127. 71 Taupitz, Biomedizinische Forschung zwischen Freiheit und Verantwortung, 2002, S. 37. 72 Taupitz, Biomedizinische Forschung zwischen Freiheit und Verantwortung, 2002, S. 37 f. In Ausnahmekonstellationen hält auch van Spyk dies im Rahmen der Schweizer BV für möglich, ders., Das Recht auf Selbstbestimmung in der Humanforschung, 2011, S. 314. 73 Taupitz, Biomedizinische Forschung zwischen Freiheit und Verantwortung, 2002, S. 27. 74 Jonas, Technik, Medizin und Ethik, 1985, S. 111; dazu Böckle, in: Lexikon Medizin Ethik Recht, 1989, S. 497; Elzer, MedR 1998, 122 (125); Kandler, Rechtliche Rahmenbedingungen biomedizinischer Forschung, 2008, S. 31. 75 Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 121. 76 Böckle, in: Lexikon Medizin Ethik Recht, 1989, S. 498; Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 121; zur Menschenwürdebetroffenheit bei fremdnütziger Forschung mit Einwilligungsunfähigen Spranger, Recht und Bioethik, 2010, S. 279; ders., MedR 2001, 238 (242 f.); kritisch Reimer, Die Forschungsverfügung, 2017, S. 168 f.

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

des Untersuchungsgegenstands.77 Aus dieser Gefahr der Objektivierung der Probanden ergeben sich Befürchtungen hinsichtlich der Berührung der von jedermann zu achtenden Menschenwürde.78 Stellt sich der Proband selbstbestimmt und autonom zur Teilnahme an einer klinischen Prüfung zur Verfügung, kommt eine Menschenwürdeverletzung nach dem vorliegend vertretenen, subjektivistischen Menschenwürdeverständnis79 jedoch nicht in Betracht.80 Dies gilt insbesondere, soweit entsprechende Schutzvorkehrungen bestehen81 – so etwa in Form der jederzeitigen Widerrufsmöglichkeit der Einwilligung nach § 40 Abs. 2 S. 3 AMG. Die auf einer autonomen Entscheidung beruhende Teilnahme an klinischen Prüfungen zum Schutz der Menschenwürde dennoch zu verbieten, widerspricht nicht nur einem subjektivistischen Menschenwürdeverständnis, sondern konstituiert auch einen verfassungsrechtlich nicht begründbaren82 Schutz gegen den eigenen Willen. Eine Rechtfertigung der mit der Regelung einhergehenden Grundrechtseingriffe ist auf dieser Grundlage deshalb abzulehnen. 2. Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit der Probanden Auch der Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit gegen den autonom gebildeten Willen der Probanden, die nach umfassender Aufklärung (vgl. § 40 Abs. 2 AMG) in die Teilnahme an der Prüfung eingewilligt haben, kann keine Rechtfertigung einer Freiheitsbeschränkung, sondern lediglich einen verfassungsrechtlich unzulässigen starken Paternalismus83 begründen.84 Bei wirksamer Einwilligung des Probanden besteht bereits keine schutzpflichtenauslösende Dreieckskonstellation zwischen Staat, Forscher und Probanden.85 Die autonome Entscheidung des Betroffenen darf nicht durch eine objektivierte Risiko-Nutzen-Abwägung zu seinem

77

Böckle, in: Lexikon Medizin Ethik Recht, 1989, S. 498. Dazu auch Taupitz, Biomedizinische Forschung zwischen Freiheit und Verantwortung, 2002, S. 27. 79 Siehe dazu im zweiten Kapitel unter B. II. 3. b) aa) (2). 80 So auch Kandler, Rechtliche Rahmenbedingungen biomedizinischer Forschung, 2008, S. 31. Siehe auch Spranger, der in diesem Kontext ebenfalls davon ausgeht, dass „der Schutz der Menschenwürde nicht gegen den Grundrechtsträger gekehrt und dieser so der Autonomie beraubt werden darf, die Art. 1 Abs. 1 S. 1 gerade sicherstellen will“, ders., MedR 2001, 238 (242). Zu einer entsprechenden Legitimationswirkung der Einwilligung auch Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 257. 81 Kandler, Rechtliche Rahmenbedingungen biomedizinischer Forschung, 2008, S. 31. 82 Siehe dazu im zweiten Kapitel unter B. III. 83 So auch von Freier, Recht und Pflicht in der medizinischen Humanforschung, 2009, S. 426. Siehe zur Verfassungswidrigkeit stark paternalistischer Argumentationen im Allgemeinen im zweiten Kapitel unter B. III. 6. 84 Ablehnend auch Eberbach, Die zivilrechtliche Beurteilung der Humanforschung, 1982, S. 117, 121. 85 Wölk, Risikovorsorge und Autonomieschutz, 2004, S. 462. Siehe zu den grundrechtlichen Schutzpflichten auch im zweiten Kapitel bereits unter B. III. 3. b). 78

4. Kap.: Die Regelung der klinischen Prüfung im Arzneimittelgesetz

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eigenen Schutz übergangen werden.86 Welchen gesundheitlichen Risiken sich der Einzelne auch außerhalb eines verhältnismäßigen Nutzens für sich oder für die Wissenschaft aussetzen möchte, muss ihm grundsätzlich selbst überlassen bleiben.87 3. Schutz der Autonomie und Schutz defizitär entscheidender Probanden Deshalb kommt laut Oswald als legitimer Zweck der Regelung die „Sicherung der Autonomie der Entscheidung des Rechtsgutsträgers als Ausdruck des Schutzes von Leben und körperlicher Unversehrtheit“ in Betracht.88 Zweifellos stellt die Sicherung der Autonomie und der Schutz defizitär entscheidender Probanden per se einen legitimen Zweck für eine Grundrechtsbeeinträchtigung dar. Wie bereits ausgeführt kann mit Regelungen zur Sicherung der Autonomie und zum Schutz defizitär Entscheidender auch die im Einzelfall stark paternalistische Wirkung einer generalisierenden Vorschrift gerechtfertigt werden.89 Unter diesem Gesichtspunkt ist die Regelung des § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 AMG jedoch nicht geeignet. Die Geeignetheit erfordert eine Gefährdungslage für das in Frage stehende Schutzgut und einen Wirkzusammenhang zwischen der Regelung und der Erreichung ihres Zwecks.90 Laut Oswald besteht die Zweckgefährdung vorliegend in der drohenden Überforderung des Einzelnen in Anbetracht der vielschichtigen, risikobehafteten Entscheidung sowie der durch Drittinteressen erhöhten Gefahr von Entscheidungsdefiziten und der Instrumentalisierung des Probanden.91 Ein negatives Abwägungsergebnis stelle daher ein Indiz für eine defizitäre Entscheidung dar.92 Während in derart komplexen und prognoseabhängigen Risikokonstellationen, bei denen zudem gewichtige Rechtsgüter auf dem Spiel stehen, gewiss eine Gefährdungslage für autonome Entscheidungen besteht, ist indes nicht ersichtlich, wie die heteronome Evaluierung der Risiken und Nutzen die Sicherung der Autonomie der Entscheidung fördern oder den Schutz defizitär Entscheidender gewährleisten soll: Denn Ergebnis einer derartigen Abwägung ist nicht die subjektive Entscheidungskraft, sondern vielmehr die Feststellung der (fehlenden) objektiven Vernünftigkeit oder externen Nachvollziehbarkeit der Entscheidung. 86

van Spyk, Das Recht auf Selbstbestimmung in der Humanforschung, 2011, S. 332. Eberbach, Die zivilrechtliche Beurteilung der Humanforschung, 1982, S. 121. 88 Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 257. 89 Siehe dazu im zweiten Kapitel unter B. V. 90 Siehe auch dazu bereits im zweiten Kapitel unter B. V. 2.; im konkreten Zusammenhang mit dem von der Regelung ausgehenden Autonomieschutz Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 258. 91 Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 258. 92 Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 259. 87

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

Der Freiwilligkeit der Entscheidung wird sich im Rahmen der Abwägung des § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 AMG jedoch weder gewidmet noch vermag die Feststellung der ärztlichen Vertretbarkeit eine Aussage darüber zu treffen, ob der Betroffene sich autonom zur Teilnahme an der klinischen Prüfung entschieden hat oder nicht.93 Inwieweit etwa die fachlich zu bestimmende Bedeutung eines Experiments für die Heilkunde Rückschlüsse auf das Vorliegen oder Nicht-Vorliegen einer autonomen Entscheidung zur Teilnahme an der Prüfung zulassen soll, ist nicht erkennbar – ein Wirkzusammenhang lässt sich insoweit nicht herstellen. Das Fehlen eines vertretbaren Risiko-Nutzen-Verhältnisses ist kein Indikator für eine defizitäre Entscheidung. Eine solche Herangehensweise wäre nicht nur inhaltlich nicht in der Lage, den Schutz der Autonomie und der defizitär Entscheidenden zu gewährleisten, sondern gefährdet in ihrem Ansatz insbesondere auch die grundrechtlich gesicherte Freiheit zu unvernünftigen Entscheidungen. Dementsprechend kann die Regelung zur Erreichung der Autonomiesicherung auch nicht erforderlich sein. Die Autonomie der Probanden wird durch viele mildere Mittel rund um die klinische Prüfung zielgerichteter und wirkungsvoller geschützt – etwa durch die ausführliche Aufklärung (§ 40 Abs. 2 AMG), die Schriftlichkeit der Einwilligung (§ 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 3 b) AMG), die Überprüfung der Voraussetzungen durch die Ethik-Kommission (§ 42 Abs. 1 AMG) sowie die Strafbewehrung der Nichteinhaltung dieser Vorgaben (§ 96 Nr. 10 und 11 AMG). Die umfassende Autonomie der Teilnahmeentscheidung wird im Rahmen des AMG bereits normativ vorausgesetzt.94 Auch die zumindest theoretisch denkbare Durchführung einer psychiatrischen Evaluation im Fall von Zweifeln an der Autonomie des potentiellen Probanden stellt im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht ein signifikant milderes und effektiveres Mittel dar:95 Der Beteiligung an einer solchen Untersuchung könnte mit Blick auf den Teilnahmewunsch freiwillig zugestimmt werden, was im Verhältnis zu einem apodiktischen Teilnahmeverbot bei fehlender, extern festgelegter ärztlicher Vertretbarkeit der klinischen Prüfung und im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht der Beteiligten deutlich weniger eingriffsintensiv wäre. Dem Teilnahmeverbot stünde dann keine psychiatrische Zwangsuntersuchung, sondern die Ermöglichung der Teilnahme an der Prüfung nach einer freiwilligen psychiatrischen Evaluation gegenüber.

93 So auch van Spyk: „Das Risiko-Nutzen-Verhältnis ist […] kein verlässlicher Massstab [sic] für die Bemessung der für eine selbstbestimmte Entscheidung erforderlichen Einsichtsfähigkeit.“, ders., Das Recht auf Selbstbestimmung in der Humanforschung, 2011, S. 310. Siehe auch Wölk: „Der bewertende Charakter der Nutzen-Risiko-Abwägung erlaubt keinen Schluß auf die Bedingungen der aufgeklärten Einwilligung, die eine subjektive Bewertung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses durch den betroffenen Probanden ermöglichen soll.“, ders., Risikovorsorge und Autonomieschutz, 2004, S. 471. 94 So auch von Freier, Recht und Pflicht in der medizinischen Humanforschung, 2009, S. 426. 95 Anders Oswald, die die psychiatrische Untersuchung nicht für ein milderes Mittel hält, dies., Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 259.

4. Kap.: Die Regelung der klinischen Prüfung im Arzneimittelgesetz

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Vor diesem Hintergrund kann die Regelung auch nicht verhältnismäßig i. e. S. sein. Zweifellos liegen der Beurteilung der Autonomie von Teilnahmeentscheidungen an klinischen Prüfungen unsichere, risikoreiche und auf Prognosen basierende Umstände zugrunde.96 Zudem wird die Autonomie der Teilnahmeentscheidung auch bei Einhaltung aller Sicherungsvorkehrungen und nach gründlichster Überprüfung nie mit letzter Sicherheit festgestellt werden können. Das vermag jedoch nichts daran zu ändern, dass der massiven Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts durch die Bindung an eine objektivierte Risiko-Nutzen-Abwägung kein Gewinn auf Seiten der Autonomiesicherung gegenübersteht. Auch die Vernünftigkeit einer Entscheidung macht diese nicht „autonomer“. Zwar beschränkt sich Oswalds autonomieschützendes Verständnis der Regelung im Sinne der Verhältnismäßigkeit auf Fälle „subjektiver Widersprüchlichkeit der Entscheidung“97 bei denen Lebensgefahr besteht und persönlich irrationale Entscheidungen getroffen werden.98 Dies sprengt jedoch nicht nur den Wortlaut der Regelung, sondern auch das vorliegend vertretene Autonomieverständnis. So lässt grundsätzlich weder die fehlende Authentizität einer Entscheidung noch ihre Widersprüchlichkeit, die gerade im Hinblick auf das Eingehen einer Lebensgefahr zudem nicht zwingend gegeben sein muss, die Autonomie einer Entscheidung entfallen. Da die Beurteilung der Freiwilligkeit und der Vernunft einer Entscheidung grundlegend voneinander zu trennen sind, ist ein derartiges Normverständnis abzulehnen. 4. Schutz des Vertrauens in die Integrität der Humanforschung Das Erfordernis der medizinischen Vertretbarkeit klinischer Prüfungen lässt sich jedoch auf den Schutz des Vertrauens in die Forschung an Menschen stützen. Wie bereits dargelegt, können der Schutz des Vertrauens der Allgemeinheit, etwa in die Transplantationsmedizin, und ein damit einhergehendes Gemeinwohlinteresse an der Einhaltung von Standards die paternalistischen Nebenwirkungen individualschützender Regelungen rechtfertigen.99 In Zusammenhang mit der Forschung an Menschen kann eine für ihre Teilnehmer unverhältnismäßig gefährliche Ausführung von Studien unmittelbar zu einer Gefährdung der „gesellschaftlichen, gesetzlichen und finanziellen Rahmenbedingungen künftiger Forschungen“100 führen. Mit dem Vertrauen in die Forschung sind auch die ökonomische Ermöglichung von Forschungsvorhaben sowie die 96 Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 260 f. 97 Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 262. 98 Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 263. 99 Siehe dazu im dritten Kapitel unter C. VII. 1. 100 van Spyk, Das Recht auf Selbstbestimmung in der Humanforschung, 2011, S. 315.

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Sicherung der Bereitschaft zur freiwilligen Teilnahme der Bevölkerung an Studienvorhaben verbunden.101 Ein Wegfall der Vertrauensgrundlage in die Humanforschung könnte deshalb auch den Verlust der notwendigen wirtschaftlichen und personellen Unterstützung von Forschung nach sich ziehen, was eine direkte, negative Auswirkung auf die Fortentwicklung der Heilkunde und damit auf die Behandlungsperspektiven Kranker oder zukünftig Kranker102 hätte. Jede einzelne Forscher / ​Probanden-Beziehung besteht somit nicht nur aus einem individuellen Verhältnis, sondern kann auch unmittelbare Auswirkungen auf die Forschung und damit auf die Fortentwicklung der Heilkunde als solche haben, der eine „gesellschaftliche Garantenpflicht“103 zukommt. Das Vertrauen in die Arzneimittelforschung konstituiert damit ein dritt- und potentiell gesellschaftsschützendes, legitimes Gemeinwohlanliegen. Die Strafbewehrung der Durchführung von Experimenten mit einem ärztlich unvertretbaren Risiko-Nutzen-Verhältnis ist auch geeignet, den für die „Zunft“ der Humanforschung und damit für die Allgemeinheit mit gesundheitsgefährdenden Experimenten einhergehenden Gefahren zu begegnen: Eine staatliche Kontrolle über die ärztliche Vertretbarkeit der Teilnahme des einzelnen Probanden an einer klinischen Arzneimittelprüfung kann das Vertrauen der Wirtschaft und das Ansehen in der Bevölkerung und damit die Sicherstellung entsprechender ökonomischer und personeller Beteiligung an Forschung direkt fördern. Gerade weil Laien die mit einer Studie einhergehenden Risiken regelmäßig nur bedingt einschätzen und einordnen können, wird die Bereitschaft zur Unterstützung von Humanforschung unmittelbar begünstigt, soweit darauf vertraut werden kann, dass die verhältnis­ mäßige Ungefährlichkeit der geförderten Studie oder der eigenen Teilnahme gesetzlich abgesichert und einem entsprechenden Verstoß mit den Mitteln des Strafrechts begegnet wird.104 Auch gleich geeignete, mildere Mittel sind nicht ersichtlich: So kann etwa ein alleiniger Hinweis auf die ärztliche Unvertretbarkeit keine vergleichbare Wirkung entfalten. Denn allein die Existenz und Durchführung unvertretbar probandengefährdender Forschung ist geeignet, das Vertrauen in die Integrität der Forschung 101

Siehe dazu auch van Spyk, Das Recht auf Selbstbestimmung in der Humanforschung, 2011, S. 317. 102 Unter einem etwas anderen Gesichtspunkt lässt sich die Risiko-Nutzen-Abwägung laut Wölk auch durch den Schutz der allgemeinen Gesundheit rechtfertigen, da diese bei Etablierung von Verfahren mit unvertretbarem Risiko-Nutzen-Verhältnis gefährdet würde. Die Risiko-Nutzen-Abwägung diene deshalb auch der „Qualitätskontrolle medizinischer Verfahren“, ders., Risikovorsorge und Autonomieschutz, 2004, S. 464 f. 103 von Freier, Recht und Pflicht in der medizinischen Humanforschung, 2009, S. 426. 104 Siehe auch van Spyk: „Der Schutz der wissenschaftlichen Integrität durch staatliche Forschungsvorgaben dient demnach auch dem Schutz der Bedingungen der Möglichkeiten einer freien Forschungstätigkeit selbst.“, ders., Das Recht auf Selbstbestimmung in der Humanforschung, 2011, S. 317. Siehe zur Förderung des Ansehens der Forschung und der Teilnahmebereitschaft auch von Freier, Recht und Pflicht in der medizinischen Humanforschung, 2009, S. 426.

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zu beeinträchtigen. Selbst wenn der einzelne Proband der Teilnahme an einem Experiment im vollem Bewusstsein der Gefährlichkeit und der ärztlichen Unvertretbarkeit zugestimmt hat, kann die Durchführung unverhältnismäßig gefährlicher Experimente zu einer Ansehensschädigung der Forschung selbst führen. Eine derartige Beschränkung der Ausübung von und der Teilnahme an Forschung ist auch angemessen: Hinter der zentralen Bedeutung der Humanforschung für die Gesundheit aller und der Tatsache, dass jeder derzeit und zukünftig Kranke auf die auf Experimenten basierende Fortentwicklung der Behandlung von Krankheiten angewiesen ist, muss die Freiheit zur Selbstschädigung des Einzelnen zurück­treten. Das Interesse aller am Schutz des – auch aus historischen Gründen – fragilen Vertrauens der Gesellschaft in die Humanforschung überwiegt deutlich gegenüber dem Recht des Einzelnen zur Teilnahme an im Einzelfall ärztlich unvertretbarer Forschung. Da die Schädigung für die Humanforschung als „Zunft“ zu einer unmittelbaren Benachteiligung Dritter führt, muss das Vertrauen in die Integrität der Humanforschung als notwendige Bedingung des Fortbestehens erfolgreicher experimenteller Wissenschaft auch gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht des im Einzelfall eine besonders gefährliche Teilnahme begehrenden Probanden geschützt werden. Der von der Regelung ausgehende paternalistische Reflex gegenüber dem Einzelnen, der durch die Regelung auch gegen seinen Willen geschützt wird, wird insoweit durch ein übergeordnetes gesellschaftliches Interesse gerechtfertigt.105

III. Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG)? In Anbetracht der Unklarheit der Festlegung, Bewertung und Gewichtung der Risiken und Nutzen und ihrer Verrechnung wird auch über einen möglicherweise mit der Formulierung einhergehenden Verstoß gegen das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 Abs. 2  GG debattiert.106 Das Verständnis sowohl der unbestimmten Rechtsbegriffe in § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 AMG selbst, als auch ihres Verhältnisses 105 van Spyk geht auf Basis des Schweizer Rechts sogar noch weitergehend von einer gesetzgeberischen Pflicht zur Verhinderung von Forschungsvorhaben mit fehlender wissenschaftlicher Integrität aus, um „dadurch die künftige Ausübung der Forschungsfreiheit zu gewährleisten“, ders., Das Recht auf Selbstbestimmung in der Humanforschung, 2011, S. 315. Oswalds Einwand, die Rechtfertigung des Eingriffs mit dem Schutz der Integrität der Forschung führe zu einer Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit zugunsten der Wissenschaftsfreiheit (dies., Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 124), geht insoweit an der Sache vorbei, als der Schutz der Forschung nicht als paternalistischer Zweck gegenüber der Forschung selbst wirken soll, sondern einen direkten Schutz der Allgemeinheit darstellt, die auf die Fortentwicklung der Wissenschaft angewiesen ist. Deshalb muss dieser Aspekt auch gegenüber der Selbstbestimmung des Einzelnen eine Rolle spielen können, anders Oswald, a. a. O., S. 125. 106 Eberbach, Die zivilrechtliche Beurteilung der Humanforschung, 1982, S. 115, 118; Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 256 f.; van Spyk, Das Recht auf Selbstbestimmung in der Humanforschung, 2011, S. 304–307.

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

zueinander ist zwar zweifelsohne schwierig, aber nicht unmöglich. Soweit die Erkenntnisse der Wissenschaft als Maßstab genommen werden können, schließt auch das Erfordernis einer Abwägung die Bestimmbarkeit einer Regelung nicht aus.107

IV. Resümee: Verfassungsmäßigkeit des Erfordernisses einer medizinischen Vertretbarkeit nach Risiko-Nutzen-Abwägung Auch wenn eine legislatorische Konkretisierung des Erfordernisses108 einer medizinischen Vertretbarkeit nach Risiko-Nutzen-Abwägung gemäß § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 AMG der Förderung von Rechtssicherheit dienen könnte, begegnen der Regelung aus verfassungsrechtlicher wie antipaternalistischer Perspektive keine Bedenken: Zwar führen die Beschränkung des Selbstbestimmungsrechts und das Übergehen der informierten Einwilligung des einzelnen Probanden bei ärztlicher Unvertretbarkeit nach Risiko-Nutzen-Abwägung auch zu einem paternalistischen Schutz gegen seinen Willen.109 Dieser paternalistisch wirkende Eingriff wird jedoch durch das überwiegende Interesse der Allgemeinheit am Vertrauen in die Humanforschung gerechtfertigt, das Grundlage für den Fortbestand wirkungsvoller und zielführender Forschung ist. Durch die Absicherung der ärztlichen Vertretbarkeit von Erprobungshandlungen gegenüber dem einzelnen Probanden nach einer Risiko-Nutzen-Abwägung wird dieses Vertrauen und die darauf basierende Unterstützung von Forschung wirksam geschützt.

C. Einwilligung nach Aufklärung (§ 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 3b), Abs. 2 S. 1 i. V. m. § 96 Nr. 10 AMG) Verfassungsgemäß gestaltet sich auch das nach § 96 Nr. 10 i. V. m. § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 3b), Abs. 2 S. 1 AMG strafbewehrte Erfordernis der schriftlichen Einwilligung nach Aufklärung (informed consent)110 in die Teilnahme an einer klinischen Prüfung.111 Das Verbot der Teilnahme bei fehlender Einwilligung schützt die Integrität und das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen mangels entgegenstehenden Willens unmittelbar, während das Aufklärungserfordernis als Verfahrenspater 107 Siehe dazu Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 256 f. 108 Dies fordert außerhalb des Arzneimittelgesetzes allgemein auch van Spyk, Das Recht auf Selbstbestimmung in der Humanforschung, 2011, S. 337. 109 Die Stellung der Regelung noch vor den Erfordernissen der Aufklärung und Einwilligung ist auch für Osieka „Ausdruck einer paternalistisch geprägten Grundhaltung“, ders., Das Recht der Humanforschung, 2006, S. 169. 110 Das Erfordernis findet sich im Rahmen der Neuregelung in Art. 28 Abs. 1 lit. b, c, 29 VO (EU) 536/2014. Siehe zum informed consent bereits im dritten Kapitel unter C. V. 111 Näher dazu Achtmann, Der Schutz des Probanden, 2013, S. 62–71; Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 203–217.

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nalismus durch den Schutz defizitär Entscheidender legitimiert werden kann. Die Anforderungen an die Rechtfertigung eines derartigen Verfahrenspaternalimus sind erfüllt:112 Der mit der Regelung einhergehende, vorübergehende Aufklärungseingriff dient auf verhältnismäßige Art und Weise der Erforschung und Sicherstellung der Autonomie.113 Auch bei der Einwilligung zur Teilnahme an einer klinischen Prüfung liegen in Anbetracht der besonderen Bedeutung der in Frage stehenden Rechtsgüter und der Komplexität des Entscheidungssachverhalts Anhaltspunkte für eine bedeutsame Gefährdung der Autonomie der Beteiligten vor, der mit einer umfassenden Aufklärung begegnet werden kann. Zudem spielt sich der mit dem Aufklärungserfordernis einhergehende Eingriff selbstbestimmungsschonend lediglich in einem Vorstadium der Hauptentscheidung – der Einwilligung in die Teilnahme an der Prüfung – ab, die dem Betroffenen selbst verbleibt.

D. Verbot der Teilnahme untergebrachter Personen an klinischen Prüfungen (§ 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 i. V. m. § 96 Nr. 10 AMG) Gemäß § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 AMG dürfen klinische Prüfungen unter der Strafbewehrung des § 96 Nr. 10 AMG nicht durchgeführt werden, wenn der Proband auf gerichtliche oder behördliche Anordnung in einer Anstalt untergebracht ist.114 Damit sind insbesondere Strafgefangene und nach Landesrecht wegen einer psychischen Erkrankung Untergebrachte von der klinischen Prüfung ausgeschlossen;115 die Regelung gilt jedoch für jegliche zwangsweise staatliche Unterbringung.116 Mangels Statuierung einer Rückausnahme in § 41 Abs. 1 AMG gilt das Verbot auch für einschlägig kranke Untergebrachte.117 Diese können zulässigerweise allein an 112

Siehe dazu im zweiten Kapitel unter B. V. 3. b). So auch Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 194, die allerdings davon ausgeht, dass es sich um eine in ihrer Terminologie weich paternalistische Regelung handelt, da die Schutzbefugnis für Leben und körperliche Unversehrtheit sich auch auf Sicherung der „Voraussetzungen einer eigenverantwortlichen Entscheidung“ erstrecke, a. a. O., S. 195. 114 Die noch nicht in Kraft getretene Novellierung des AMG verortet das Verbot in § 40a S. 1 Nr. 2 i. V. m. § 96 Nr. 11 AMG n. F. 115 Listl, in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, 2. Aufl. 2014, § 40 AMG Rn. 16. 116 Erfasst sind etwa auch Unterbringungen im Rahmen von Maßregeln der Besserung und Sicherung nach dem StGB, Untersuchungshaft gemäß § 112 StPO, Jugendarrest und Jugendstrafe gemäß §§ 16, 17 JGG, Abschiebehaft gemäß § 62 AufenthG, militärischer Strafarrest gemäß § 9 WStG u. v. m. Eine Aufzählung der einzelnen Unterbringungsformen findet sich bei Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 249; siehe auch Jary, Medizinische Forschung an Strafgefangenen, 2010, S. 57; Kandler, Rechtliche Rahmenbedingungen biomedizinischer Forschung, 2008, S. 219; Rehmann, AMG, 4. Aufl. 2014, § 40 Rn. 6. 117 Jary, Medizinische Forschung an Strafgefangenen, 2010, S. 80, 120; Oswald, in: FatehMoghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 94 (95). 113

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

einzelnen Heilversuchen außerhalb klinischer Prüfungen teilnehmen.118 Im Hintergrund der Regelung stehen insbesondere die Gräueltaten, die von den National­ sozialisten an Gefangenen im Namen der „Forschung“ verübt wurden.119

I. Betroffene Grundrechte Durch die Regelung wird sowohl gesunden als auch einschlägig und nicht einschlägig kranken untergebrachten Personen die Teilnahme an klinischen Prüfungen untersagt und damit möglicherweise in ihr Recht auf Disposition über den eigenen Körper aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (ggfs. i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG)120 oder jedenfalls in ihre allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG eingegriffen121. Dass Grundrechte auch zugunsten von Strafgefangenen ihre volle Wirkung entfalten, steht inzwischen außer Frage.122 Da nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Betroffenen im Rahmen eines individuellen Heilversuchs Zugang zu nicht zugelassenen Arzneimitteln erhalten, weil Ärzte in diesem Rahmen deutlich verschärfte Sorgfaltspflichten treffen,123 besteht zudem die Möglichkeit, dass einschlägig Kranken durch das Teilnahmeverbot an klinischen Prüfungen der Zugang zu einer potentiellen Therapie untersagt und so Heilungschancen genommen werden.124 Dann wird durch die Regelung auch in den abwehrrechtlichen Gehalt ihres Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG eingegriffen.125

118

Jary, Medizinische Forschung an Strafgefangenen, 2010, S. 80. Trotz Fehlens eines entsprechenden, ausdrücklichen Hinweises in den Gesetzgebungs­ materialien so auch Jary, Medizinische Forschung an Strafgefangenen, 2010, S. 71, 76 f. m. w. N. 120 Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 127, 247; dies., in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 94 (96). 121 Amelung, ZStW 95 (1983), 1 (23); Oswald, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 94 (95); jedenfalls für das Recht auf Teilnahme an klinischen Prüfungen ohne Eigennutzen so auch Jary, Medizinische Forschung an Straf­ gefangenen, 2010, S. 181. 122 BVerfG 14. 31972 – 2 BvR 41/71 – BVerfGE 33, 1; zur Grundrechtsgeltung in Sonderstatusverhältnissen siehe ferner nur etwa Herdegen, in: Maunz / ​Dürig (Hrsg.), GG, 81. Lfg. 2017, Art. 1 Abs. 3 Rn. 47. 123 Vgl. dazu BGH 27.3.2007 – VI ZR 55/05 – BGHZ 172, 1 (11). 124 Amelung, ZStW 95 (1983), 1 (29); Jary, Medizinische Forschung an Strafgefangenen, 2010, S. 34 und 119; Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 129 und 247. 125 So auch Amelung, ZStW 95 (1983), 1 (29); Jary, Medizinische Forschung an Strafgefangenen, 2010, S. 119; Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 247. Für die Anerkennung eines „Rechtes auf Zugang zu tatsächlich vorhandenen Behandlungsmethoden“ aus Art. 2 Abs. 2 GG auch Wölk, Risikovorsorge und Autonomieschutz, 2004, S. 460; siehe dazu auch bereits im dritten Kapitel unter C. I. 3. a) aa) und C. II. 3. b) aa) (2). 119

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Durch die mit der Vorschrift einhergehenden Beschränkungen wird ferner die Wissenschafts- und Berufsfreiheit der beteiligten Prüfer beeinträchtigt.126

II. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Laut der Gesetzgebungsmaterialien ist die in Folge des Gewaltverhältnisses bestehende Unmöglichkeit einer freien Willensentscheidung Anlass des Teilnahmeverbots untergebrachter Personen an klinischen Prüfungen.127 Auch in der Literatur werden der Schutz der Gefangenen und der Freiwilligkeit ihrer Teilnahmeentscheidung sowie der Schutz vor Missbrauch als zentrale Regelungszwecke genannt.128 1. Kein schwacher Paternalismus Die Regelung lässt sich zunächst jedoch nicht schwach paternalistisch rechtfertigen: Denn sie adressiert nicht allein defizitär Entscheidende – anders als es der Gesetzgeber ausweislich der Entwurfsbegründung annahm,129 verbleiben vielmehr auch in der Unterbringungssituation autonome Entscheidungen zur Teilnahme an klinischer Forschung grundsätzlich möglich.130 Da die Unterbringung regelmäßig mit intensiven psychischen Auswirkungen einhergeht131 und weil die Regelung auch solchen Menschen die Teilnahme an klinischen Prüfung untersagt, die wegen einer psychischen Erkrankung zwangsweise untergebracht sind, besteht in den von der Regelung erfassten Konstellationen zwar unzweifelhaft eine gewisse Bedrohung der Autonomie der Betroffenen. Neben der insoweit möglicherweise berührten Einwilligungsfähigkeit kann die Unterbringung zudem auch negativen Einfluss auf die Freiwilligkeit der konkreten Entscheidung nehmen132  – sei es auf Grund von Abhängigkeitsverhältnissen zum Anstaltspersonal,133 der mit der Unterbringung einhergehenden Reizarmut und Eintönigkeit,134 der allein situations­ 126

Jary, Medizinische Forschung an Strafgefangenen, 2010, S. 162, 165, 194. BT-Drs. 7/3060, S. 54. 128 Jary, Medizinische Forschung an Strafgefangenen, 2010, S. 79; Listl, in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, 2. Aufl. 2014, § 40 AMG Rn. 16; Rehmann, AMG, 4. Aufl. 2014, § 40 Rn. 6; Wachenhausen, in: Kügel / ​Müller / ​Hofmann (Hrsg.), AMG, 2. Aufl. 2016, § 40 Rn. 55. 129 BT-Drs. 7/3060, S. 54. 130 Gegen die Annahme der Unmöglichkeit einer freiwilligen Entscheidung in einer Unterbringungssituation auch Oswald, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 94 (99 f., 112). 131 Amelung, ZStW 95 (1983), 1 (7, 9); Jary, Medizinische Forschung an Strafgefangenen, 2010, S. 24, 28; Oswald, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 94 (102). 132 Schimikowski, Experiment am Menschen, 1980, S. 34. 133 Amelung, ZStW 95 (1983), 1 (5). 134 Jary, Medizinische Forschung an Strafgefangenen, 2010, S. 25; Oswald, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 94 (102) m. w. N. 127

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

bedingten Überordnung von Kurzzeit- gegenüber Langzeitpräferenzen135 oder fälschlichen Vorstellungen von Begünstigungen, die mit der Entscheidung zur Teilnahme einhergehen.136 Autonome Entscheidungen bleiben aber dennoch möglich: Insbesondere die soeben genannten unterbringungsbedingten Umstände, die wie Langeweile oder falsche Vorstellungen über vermeintliche, mit der Beteiligung einhergehende Vorteile die Entscheidung zur Teilnahme an der Forschung sicher beeinflussen können, sind – so wie eine Vielzahl von Motiven in anderen Lebenssituationen auch – nicht grundsätzlich geeignet, Entscheidungen ihre Autonomie im rechtlichen Sinn zu nehmen.137 Soweit im Rahmen dieser Arbeit der rein selbstbezüglichen, autonomen Entscheidung grundsätzlich umfänglicher Schutz zugeschrieben wurde, gilt es, denkbare äußere und innere Einflüsse, Motivationen und Beweggründe, die in direktem Zusammenhang mit dem Inhalt der Entscheidung stehen können, von ihrer Freiwilligkeit zu trennen. So können etwa Haftumstände zentraler Motivator einer Entscheidung sein, ohne dass dies jedoch zwingend ihre Autonomie in Zweifel zieht. Dementsprechend setzen im Übrigen auch andere gesetzliche Regelungen die Möglichkeit wirksamer Einwilligungen Untergebrachter voraus, so etwa das Strafvollzugsgesetz, die Unterbringungsgesetze der Länder, das Strafgesetzbuch und die Strafprozessordnung.138 In Zusammenhang mit der Einwilligung in körperliche Beeinträchtigungen ist insbesondere erwähnenswert, dass der Gesetz­ geber sogar die wirksame Einwilligung in eine Kastration durch Untergebrachte für möglich halt, vgl. § 3 Abs. 2 KastrG.139 Zudem schließen auch schwere psychische Erkrankungen eine autonome Teilnahmeentscheidung nicht per se aus.140 2. Schutz defizitär Entscheidender Auch wenn die zwangsweise Unterbringungssituation deshalb nicht zwingend zu einer Beeinträchtigung der freien Willensbildung führt, ist eine solche jedoch zumindest denkbar oder sogar naheliegend: Eine gewisse Gefährdung141 der Auto 135 Oswald, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 94 (104). 136 Amelung, ZStW 95 (1983), 1 (9); Oswald, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 94 (102). 137 Siehe dazu auch Oswald, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 94 (107–111). 138 Mit Darstellung der Regelungen Amelung, ZStW 95 (1983), 1 (1–3). 139 Als Grund dafür nennt Amelung die – autonomieferne – gesetzgeberische Annahme, dass die Kastration den Zielen des Freiheitsentzugs in Form des Schutzes der Gesellschaft und der Wiedereingliederung entsprechen könne, ders., ZStW 95 (1983), 1 (17). 140 Auch Oswald geht davon aus, dass nicht jede psychisch Kranke notwendig einwilligungsunfähig ist, dies., in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 94 (112). 141 Das Vorliegen einer Gefährdungssituation verlangt auch Oswald, in: Fateh-Moghadam / ​ Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 94 (115).

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nomie lässt sich gerade auch im Hinblick auf die gewichtigen, in Frage stehenden Rechtsgüter und die nicht unkomplizierte Situation in der Unterbringung durchaus begründen. Der mit der Regelung einhergehende, paternalistische Eingriff auch zum Schutz der autonom entscheidenden Untergebrachten könnte deshalb unter dem Aspekt eines generalisierenden Schutzes defizitär Entscheidender einer Rechtfertigung zugänglich sein. Soweit auf die bestehende Autonomiegefährdung mit einem Ausschluss untergebrachter Personen von der Teilnahme an klinischen Prüfungen reagiert wird, besteht auch ein Wirkzusammenhang zwischen dem Teilnahmeverbot und dem Schutz defizitär Entscheidender – und damit eine gewisse Geeignetheit der Regelung.142 Die pauschale Erfassung aller untergebrachten Personen weckt jedoch Zweifel an der Erforderlichkeit der Regelung. Zwar ist der von der Vorschrift ausgehende umfassende Teilnahmeausschluss ein äußerst effektives Mittel zur Verhinderung der Verwirklichung defizitärer Entscheidungen. Dies gilt insbesondere angesichts der schwierigen Erkennbarkeit und Überprüfbarkeit der Freiwilligkeit gerade in abgeschlossenen Unterbringungssituationen.143 Selbstbestimmungsrechtsschonender, insoweit milder und defizitär Entscheidende dennoch gleichwertig schützend wäre jedoch eine prozedurale Überprüfung der Autonomie der Betroffenen durch eine unabhängige Kommission, die neben einer spezifischen Aufklärung stattfinden könnte144 und die allein diesen autonom entscheidenden Untergebrachten die Teilnahme an einer klinischen Prüfung ermöglichen würde; ebenso wie auch die sonstigen, bereits bestehenden Schutzmechanismen hinsichtlich der Autonomie der Probanden im Rahmen des Arzneimittelgesetzes.145 3. Schutz des Vertrauens in die Integrität der Humanforschung Unabhängig von der möglicherweise gleichen Eignung einer entsprechend differenzierenden Regelung spricht jedoch erneut der Schutz des Vertrauens in die Integrität der Humanforschung gegen eine Teilnahme untergebrachter Personen an 142

Jary geht insoweit davon aus, dass jedenfalls diejenigen Untergebrachten, die in Folge eines Verbots nicht an einer klinischen Prüfung teilnehmen, auch nicht unzureichend freiwillig handeln können, dies., Medizinische Forschung an Strafgefangenen, 2010, S. 135. Vgl. das parallele Argument des BVerfG hinsichtlich der Begrenzung des Kreises der Lebendspender im Rahmen des § 8 TPG im dritten Kapitel unter C. II. 3. b) bb) (2) (b). 143 Dieser Aspekt wird mitunter als Grund für den vollständigen Ausschluss angeführt, vgl. Beauchamp, JWE 2009, 77 (91); Jary, Medizinische Forschung an Strafgefangenen, 2010, S. 77 m. w. N. 144 Amelung, ZStW 95 (1983), 1 (29 f.); Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 247; dies., in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 94 (116 f.); zweifelnd Jary, Medizinische Forschung an Strafgefangenen, 2010, S. 136. 145 So Oswald, in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 94 (118).

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klinischen Prüfungen. Insbesondere in Anbetracht des besonderen Schutzverhältnisses zwischen dem Staat und den ihm anvertrauten untergebrachten Personen146 und der entsetzlichen Geschichte der „Forschung“ mit Gefangenen im Nationalsozialismus147 ist jedwede Forschung mit Untergebrachten grundsätzlich geeignet, das Ansehen der klinischen Forschung zu beeinträchtigen. Da diesem Vertrauensschutz für die Fortentwicklung der Forschung und damit auch für die Heilung Kranker eine zentrale Bedeutung zukommt, kann er sich auch gegen die Selbstbestimmungsinteressen autonom handelnder, untergebrachter Personen durchsetzen. Dieses Ergebnis erscheint jedoch allein insoweit fragwürdig, als durch die Regelung auch einschlägig kranke, untergebrachte Personen von der Teilnahme an klinischer Forschung ausgeschlossen worden: Denn in diesen Fällen stehen dem Schutz des Vertrauens in die Integrität der Humanforschung mögliche Heilungschancen einschlägig kranker untergebrachter Personen gegenüber. Der Ansehensschutz der Zunft mag zwar gegenüber dem bei nicht einschlägig kranken Untergebrachten durch die Regelung beeinträchtigten Selbstbestimmungs- und Selbstverfügungsrecht überwiegen und die diesbezügliche Ungleichbehandlung zwischen untergebrachten und nicht untergebrachten Personen hinsichtlich ihrer Möglichkeit der Teilnahme an klinischer Forschung rechtfertigen148 – in Bezug auf eine Beteiligung an möglicherweise heilender Forschung ist das aber nicht der Fall: Gegenüber dem bedeutsamen Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit sowie der Gewährung möglicher Behandlungsaussichten muss der Integritätsschutz der Humanforschung zurücktreten. Der Schutz der Institution mag naturwissenschaftlich dominierte Forschungssettings beschränken können – die individuelle Heilung muss sich diesem Konzept jedoch nicht unterordnen. Hinsichtlich der Erfassung einschlägig Kranker ist die Regelung des § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 AMG daher nicht verhältnismäßig.149

146

Vgl. zu den besonderen Schutzpflichten in Sonderrechtsverhältnissen, im Fall gegenüber Schülern VerfGH Rheinland-Pfalz – VGH B 2/04 – NJW 2005, 410 (412). 147 Zu einer fehlenden Legitimationswirkung dieses Arguments gegenüber Grundrechtseingriffen Jary, Medizinische Forschung an Strafgefangenen, 2010, S. 81–85, 189. 148 Jary geht weitergehend davon aus, dass die Regelung insgesamt das Äquivalenzprinzip aus Art. 3 Abs. 1 GG i. V. m. § 3 StVollzG verletze, das – soweit möglich – die Angleichung der Lebensverhältnisse innerhalb des Strafvollzugs an die Situation Nicht-Gefangener fordert, siehe dies., Medizinische Forschung an Strafgefangenen, 2010, S. 32 f. und 151. 149 Amelung, ZStW 95 (1983), 1 (29); Jary, Medizinische Forschung an Strafgefangenen, 2010, S. 140 f., 145; Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 247; dies., in: Fateh-Moghadam / ​Sellmaier / ​Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 94 (119); Reimer, Die Forschungsverfügung, 2017, S. 124; Wachenhausen, in: Kügel / ​Müller / ​Hofmann (Hrsg.), AMG, 2. Aufl. 2016, § 40 Rn. 55. So im Ergebnis auch für nicht einschlägig Kranke Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 247; Reimer, a. a. O., S. 126; differenzierend Jary, a. a. O., S. 196.

4. Kap.: Die Regelung der klinischen Prüfung im Arzneimittelgesetz

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III. Resümee: Teilweise Verfassungswidrigkeit des Verbots der Teilnahme untergebrachter Personen an klinischen Prüfungen Dem auch dem Probandenschutz dienenden Verbot der Durchführung klinischer Prüfungen mit Personen, die auf gerichtliche oder behördliche Anordnung in einer Anstalt untergebracht sind, kommt eine stark paternalistische Wirkung zu, die nur teilweise einer Rechtfertigung zugänglich ist. Da autonome Entscheidungen auch in einer Unterbringungssituation grundsätzlich möglich bleiben, lässt sich die Regelung zunächst nicht schwach paternalistisch rechtfertigen. Trotz einer gewissen Gefährdung der Autonomie in Unterbringungssituationen lässt sich die Regelung auch nicht mit dem Schutz defizitär Entscheidender rechtfertigen, da insoweit eine prozedurale Überprüfung der Autonomie der Betroffenen als milderes Mittel zur Verfügung stünde. In Teilen ist das Verbot aber einer Rechtfertigung zugunsten des Schutzes des Vertrauens in die Integrität der Humanforschung zugänglich. Allein gegenüber der Gewährung möglicher Behandlungsaussichten muss der Integritätsschutz der Humanforschung jedoch zurücktreten, so dass die Regelung hinsichtlich des Verbots der Teilnahme einschlägig kranker Untergebrachter einer Rechtfertigung nicht zugänglich ist. Das Teilnahmeverbot untergebrachter Personen ist in seiner jetzigen, absoluten Fassung, die auch einschlägig Kranke von der Teilnahme an klinischer Forschung ausschließt, daher als verfassungswidrig abzulehnen.

E. Sicherheits- und Qualitätsanforderungen (§ 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 5–9 i. V. m. § 96 Nr. 10 AMG) Paternalistische Wirkung entfalten auch einige der weiteren in § 96 Nr. 10 AMG strafbewehrten, einschränkenden Voraussetzungen einer klinischen Prüfung aus § 40 Abs. 1 S. 3 AMG. So dienen etwa die Anforderungen an Prüfeinrichtungen und Prüfer in § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 5 AMG sowie die zwingende pharmakologisch-toxikologische Prüfung des Arzneimittels in Nr. 6, die Informierung der Prüfer über das Ergebnis derselben und über die voraussichtlich mit der klinischen Prüfung verbundenen Risiken nach Nr. 7, die nach Nr. 8 erforderliche Probandenversicherung und der Arztvorbehalt für die medizinische Versorgung in Nr. 9 – unabhängig von deren Willen  – auch dem Schutz der Prüfungsteilnehmer.150 Gerade bei diesen „prozeduralen Sicherungsvorschriften“151 steht jedoch die Sicherung von Standards in der Forschung im Vordergrund der Maßnahme. Derartige Sicherheits- und Qualitätsanforderungen sind deshalb zum Schutz des Vertrauens in die Arzneimittelforschung und der Teilnahmebereitschaft potentieller Probanden geeignet und 150 Jary, Medizinische Forschung an Strafgefangenen, 2010, S. 48; Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 188 f.; Rehmann, AMG, 4. Aufl. 2014, § 40 Rn. 7, 9. 151 Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 188.

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

unerlässlich152 und vermögen die von der Regelung ausgehenden, verhältnismäßig niedrigschwelligen Freiheitsbeschränkungen zu rechtfertigen.153

F. Direkter Individual- oder Gruppennutzen von Forschung mit einschlägig Kranken (§§ 40, 41 Abs. 1 S. 1 i. V. m. § 96 Nr. 10 AMG) Das Arzneimittelgesetz stellt ferner Sonderregeln für die Forschung mit einschlägig kranken154 Probanden auf. So setzt die Zulässigkeit einer klinischen Prüfung bei einer volljährigen Person, die an einer Krankheit leidet, zu deren Behandlung das zu prüfende Arzneimittel angewendet werden soll, gemäß § 41 Abs. 1 S. 1 AMG voraus, dass § 40 Abs. 1 bis 3 AMG mit der Maßgabe angewendet wird, dass die Anwendung des zu prüfenden Arzneimittels entweder nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft angezeigt ist, um das Leben dieser Person zu retten, ihre Gesundheit wiederherzustellen oder ihr Leiden zu erleichtern (Individualnutzen, § 41 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AMG) oder dass die Anwendung für die Gruppe der Patienten, die an der gleichen Krankheit leiden wie diese Person, mit einem direkten Nutzen verbunden ist (Gruppennutzen, § 41 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AMG). Die Regelung grenzt das heilkundliche von dem rein wissenschaftlichen Experiment ab.155 Der von § 41 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AMG geforderte Individualnutzen besteht, wenn die Gabe des zu prüfenden Arzneimittels nach dem Stand wissenschaftlicher Erkenntnis für den Probanden medizinisch indiziert ist.156 Die Regelung enthält mithin eine verobjektivierte Risiko-Nutzen-Abwägung,157 die positiv ausfällt, wenn die Anwendung für den kranken Probanden mehr positive als negative Effekte aufweist.158 Als Vergleichsmaßstab dient insofern die Standardbehandlung oder, bei fehlender Existenz einer solchen, die Nichtbehandlung.159 Im Rahmen des gemäß § 41 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AMG erforderlichen Gruppennutzens ist auch rein fremdnützige Forschung an einschlägig Kranken zulässig, soweit ein Erkenntnisgewinn

152

In diesem Sinne zur Probandenversicherung auch Godt / ​Engelke, WissR 43 (2010), 2 (9). Siehe dazu bereits unter B. II. 4. 154 Der BGH definiert Krankheit als „jede, also auch eine nur unerhebliche oder vorüber­ gehende Störung der normalen Beschaffenheit oder der normalen Tätigkeit des Körpers, die geheilt werden kann“, BGH 10.1.1958 – VIII ZR 412/56 – NJW 1958, 916 (918). 155 Oswald, in: Roxin / ​Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 667 (708). 156 Achtmann, Der Schutz des Probanden, 2013, S. 74. 157 Achtmann, Der Schutz des Probanden, 2013, S. 74; in Abgrenzung zu der subjektivierten Auslegung der Risiko-Nutzen-Abwägung, die durch § 41 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AMG verdrängt wird Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 279 f. 158 Achtmann, Der Schutz des Probanden, 2013, S. 74. 159 Achtmann, Der Schutz des Probanden, 2013, S. 75. 153

4. Kap.: Die Regelung der klinischen Prüfung im Arzneimittelgesetz

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für die Gruppe der an derselben Krankheit leidenden Patienten zu erwarten ist.160 Dabei handelt es sich – anders als bei der abstrakten, im Rahmen des § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 AMG erforderlichen „Bedeutung für die Heilkunde“ – um eine dieses Merkmal konkretisierende, „qualifizierte Form des Fremdnutzens“ für Experimente mit einschlägig Kranken.161 In dem vorliegend interessierenden Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die gegebenenfalls paternalistischen Anteile der Regelung mit der Verfassung in Einklang zu bringen sind.

I. Betroffene Grundrechte Neben den bereits dargelegten, mit forschungsbegrenzenden Regelungen einhergehenden Eingriffen in die Wissenschafts- und Berufsfreiheit der Prüfer und Sponsoren sowie jedenfalls in die allgemeine Handlungsfreiheit der potentiellen Probanden162 werden durch die Beschränkung der Teilnahme einschlägig Kranker an medizinischer Forschung auch die abwehrrechtlichen Gehalte des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG berührt, soweit durch die Regelung im Einzelfall verfügbare „Therapiemöglichkeiten […] kausal zurechenbar nachhaltig beeinträchtigt“163 werden.

II. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Für die zusätzliche Einschränkung der Forschung mit einschlägig Kranken wird vielfach die krankheitsbedingte Bedrängnis der potentiellen Probanden und die damit einhergehende Gefährdung der Autonomie ihrer Entscheidungen angeführt.164 Befürchtet wird insbesondere, dass es zu einer leichtfertigen Einwilligung in die Forschungsteilnahme kommen könnte, die ohne ausreichende Rücksicht auf die mit dem Experiment einhergehenden Risiken und nicht selbstbestimmt erfolgt, sondern allein durch die Hoffnung auf Heilung motiviert wird.165 Die Erkrankung diene 160

Achtmann, Der Schutz des Probanden, 2013, S. 77. Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 280, 282. 162 Siehe dazu bereits unter B. I. 163 So zur Lebendorganspende BVerfG 11.8.1999 – 1 BvR 2181/98 u. a. – NJW 1999, 3399 (3401). Siehe im vorliegenden Kontext auch Kandler, Rechtliche Rahmenbedingungen biomedizinischer Forschung, 2008, S. 28; Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 128 f.; van Spyk, Das Recht auf Selbstbestimmung in der Humanforschung, 2011, S. 314. 164 Achtmann, Der Schutz des Probanden, 2013, S. 77; Jary, Medizinische Forschung an Strafgefangenen, 2010, S. 52; Kandler, Rechtliche Rahmenbedingungen biomedizinischer Forschung, 2008, S. 33; Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 282. 165 Achtmann, Der Schutz des Probanden, 2013, S. 77; Kandler, Rechtliche Rahmenbedingungen biomedizinischer Forschung, 2008, S. 33. 161

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

deshalb als Indiz für eine Autonomiegefährdung, vor der die insoweit geeignete und erforderliche Regelung die Kranken schützen könne.166 Wenn sich das Erfordernis an der subjektiven Irrationalität der Entscheidung orientiere und die Teilnahme etwa versage, wenn das Risiko im Einzelfall erheblich, die Besserungschancen schlecht und der Gruppennutzen für die Betroffene unbedeutend seien, lasse sich die mit der Vorschrift einhergehende Einschränkung auch als angemessen auslegen.167 Ein solcher Ansatz ist jedoch aus verschiedenen Gründen abzulehnen. Zunächst erfasst die Regelung nicht nur defizitäre Entscheidungen, so dass eine schwach paternalistische Rechtfertigung des mit der Vorschrift einhergehenden Eingriffs in Grundrechte ausscheiden muss: Zwar stellen einschlägig Kranke in Forschungszusammenhängen zweifelsohne eine vulnerable und besonders schutzwürdige Gruppe dar, deren mit ihrer Erkrankung einhergehende Bedrängnis Einfluss auf die Autonomie ihrer Entscheidungen nehmen kann. Dies muss aber bei einem möglicherweise mit der Erkrankung einhergehenden Motivationsdruck nicht zwangsläufig der Fall sein: So bedarf es für die Annahme einer selbstbestimmten Entscheidung im Rahmen des vorliegend vertretenen Konzepts ausschließlich der Überschreitung einer gewissen „Autonomieschwelle“, die durch persönliche Gründe, die eine bestimmte Entscheidung vielleicht besonders nahelegen oder sogar subjektiv zwingend erscheinen lassen, nicht notwendigerweise beeinträchtigt wird.168 Selbst bei Annahme einer gewissen Gefährdungslage für die Autonomie in den von der Regelung erfassten Fällen ist aber weder das Vorliegen eines Eigen- noch das eines Gruppennutzens zur Sicherung der Autonomie der Entscheidungen oder zum Schutz defizitär Entscheidender geeignet oder erforderlich: Die Festlegung einer äußeren Grenze in Gestalt des Eigen- oder Gruppennutzens führt allein zu einer externen Evaluation der Frage, welche Entscheidungen in Folge ihrer Vernünftigkeit und Sinnhaftigkeit wirksam sein sollen und welche nicht. Mangels Wirkzusammenhangs zwischen dem Schutz der Autonomie und der mit der Regelung einhergehenden Einschränkung kann die paternalistische Wirkung der Vorschrift deshalb auch nicht durch den Schutz defizitär Entscheidender gerechtfertigt werden. Dies gilt gleichfalls für den Ausschluss allein subjektiv irrationaler Entscheidungen, etwa wegen eines erheblichen Risikos und geringer Heilungschancen: Auch insoweit kommt es zu einer Verwechslung von vernünftigen mit selbstbestimmten Entscheidungen – und allein erstere werden durch die Regelung unmittelbar gefördert. Selbstbestimmungsschonender und förderlicher wären vielmehr konkret auf den Autonomieschutz ausgerichtete Maßnahmen, wie etwa eine intensivierte Aufklärung oder eine anlassbezogene, psychiatrische Begutachtung.

166 Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 282 f. 167 So Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 283. 168 Siehe dazu bereits im ersten Kapitel unter A. I. 2. a) aa) (3) und im dritten Kapitel unter C. I. 3. b) aa) (1) (a).

4. Kap.: Die Regelung der klinischen Prüfung im Arzneimittelgesetz

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Insbesondere in Fällen, in denen es durch die mit der Vorschrift einhergehenden Beschränkungen nicht nur zu einer Verkürzung der Freiheiten von Forschern und Sponsoren oder der allgemeinen Handlungsfreiheit der Probanden kommt, sondern auch zu einem Eingriff in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit einschlägig Kranker, ist eine Rechtfertigung mit einer in letzter Konsequenz auf den Gesundheitsschutz derselben abzielenden Fremdbestimmung nicht vertretbar. Auch wenn die Regelung eigennützige Forschung grundsätzlich zulässt, kann die Freiheit einschlägig Kranker, die über ihren Körper verfügen wollen, unter dem Aspekt eines Vernunft- und Gesundheitsschutzes gegen ihren Willen nicht beschränkt werden.169 Dies erkannte in anderem Zusammenhang auch der Bundesgerichtshof an: „Niemand darf sich zum Richter in der Frage aufwerfen, unter welchen Umständen ein anderer vernünftigerweise bereit sein sollte, seine körperliche Unversehrtheit zu opfern, um dadurch wieder gesund zu werden.“170

Dem Schutz des Vertrauens in die Humanforschung wird bereits durch die Existenz der allgemeinen Risiko-Nutzen-Abwägung hinreichend genüge getan, sodass die mit der Regelung einhergehende paternalistische Bevormundung auch unter diesem Gesichtspunkt einer Rechtfertigung nicht zugänglich ist. Zudem muss auch in dieser Konstellation eine individuelle Heilungsaussicht nicht hinter dem Schutz eines abstrakten Institutionskonzepts zurücktreten.171 Der mit dem Erfordernis eines Individual- oder Gruppennutzens einhergehende Schutz einschlägig Kranker auch gegen ihren Willen ist im Ergebnis als paternalistisch und verfassungswidrig abzulehnen.

G. Forschung mit nicht einwilligungsfähigen Volljährigen (§§ 40, 41 Abs. 3 i. V. m. § 96 Nr. 10 AMG) Gemäß § 41 Abs. 3 Nr. 1 AMG dürfen einschlägig kranke, nicht einwilligungsfähige Volljährige nur an eigennütziger, nicht an fremdnütziger Forschung teilnehmen.172 Die Regelung schreibt vor, dass die Anwendung des zu prüfenden Arznei 169 Siehe auch Kandler: „So ließe sich nicht begründen, warum ein schwer kranker Mensch die Freiheit zum Sterben haben soll, nicht aber die Freiheit, über Forschung an seinem Körper sein Leben zu retten und in diesem Sinne darüber zu disponieren.“, ders., Rechtliche Rahmenbedingungen biomedizinischer Forschung, 2008, S. 33. 170 BGH 28.11.1957 – 4 StR 525/57 – BGHSt 11, 111 (114). 171 Siehe dazu bereits soeben unter D. II. 3. 172 Dazu Achtmann, Der Schutz des Probanden, 2013, S. 90. Dies ändert sich mit der Neuregelung in Art. 31 VO (EU) 536/2014 und dem noch nicht in Kraft getretenen § 40b Abs. 4 AMG n. F. Danach können auch Einwilligungsunfähige nunmehr an gruppennütziger Forschung teilnehmen, wenn sie in der Vergangenheit als einwilligungsfähige Volljährige für den Fall ihrer Einwilligungsunfähigkeit schriftlich nach ärztlicher Aufklärung festgelegt haben, dass sie in bestimmte gruppennützige klinische Prüfungen einwilligen, § 40b Abs. 4 S. 3 n. F. i. V. m. Art. 31 Abs. 1 lit. g ii), Abs. 2 VO (EU) 536/2014.

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

mittels angezeigt sein muss, um das Leben der betroffenen Person zu retten, ihre Gesundheit wiederherzustellen oder ihr Leiden zu erleichtern. Ferner muss ein unmittelbarer Bezug zu einem lebensbedrohlichen oder klinisch geschwächten Zustand der Person vorliegen, die Erprobung mit möglichst wenig Belastungen und vorhersehbaren Risiken einhergehen und die begründete Erwartung bestehen, dass der Nutzen der Anwendung des Prüfpräparates für die betroffene Person gegenüber den Risiken überwiegt oder keine Risiken mit sich bringt. Gerechtfertigt wird die Regelung durch die mit der Forschung an nicht Einwilligungsfähigen einhergehende Missbrauchsgefahr und den Schutz ihrer Menschenwürde,173 die in diesen Konstellationen im Angesicht einer möglichen Instrumentalisierung des Einzelnen zugunsten Dritter und einer Degradierung zum Forschungsobjekt besonders gefährdet sei.174 Insoweit sich die Beschreibung der Einwilligungsunfähigkeit in § 41 Abs. 3 AMG („Person, die nicht in der Lage ist, Wesen, Bedeutung und Tragweite der klinischen Prüfung zu erkennen und ihren Willen hiernach auszurichten“175) weitgehend mit den im Rahmen dieser Arbeit aufgeworfenen Autonomieanforderungen176 deckt, folgt der mit der Regelung einhergehende Schutz nicht Einwilligungsfähiger einer zulässigen, rein schwach paternalistischen Zielsetzung.177 Diesem Schutz, der auch gegen den Willen der Betroffenen eingreift, steht in Folge der fehlenden Autonomiefähigkeit der Probanden die freiheitssichernde Wirkung ihres Selbstbestimmungsrechts nicht entgegen. Die Vorschrift ist deshalb wegen der drohenden Objektifizierung und körperlichen Gefährdung der Betroffenen im Sinne des notwendigen Schutzes ihrer Menschenwürde und ihrer körperlichen Unversehrtheit zulässig und gerechtfertigt.178 Da mit einem schwach paternalistischen Argument Nicht-Einwilligungsfähige sogar vollständig von klinischer Forschung hätten ausgeschlossen werden können, stärkt die differenzierende Regelung weitergehend sogar das Recht einschlägig Kranker auf Ausschöpfung aller Behandlungsmöglichkeiten – trotz fehlender Einwilligungsfähigkeit. Hinter der teilweisen Zulassung entsprechender Forschung steht auch der faktische Bedarf an solchen Experimenten,179 ohne die Forschungsfortschritte im Hinblick auf Erkrankungen, 173

Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 292. 174 Spranger, MedR 2001, 238 (242 f.); Taupitz, MedR 2012, 583 (585). 175 Siehe dazu Taupitz, MedR 2012, 583 (584). 176 Siehe dazu im ersten Kapitel unter A. I. 2. a). 177 Siehe zur Zulässigkeit rein schwach paternalistischer Zielsetzungen im zweiten Kapitel unter B. IV. 178 So im Ergebnis auch Kandler, Rechtliche Rahmenbedingungen biomedizinischer Forschung, 2008, S. 32; Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 292. Spranger hält fremdnützige Forschung an Einwilligungsunfähigen wegen der damit einhergehenden Objektivierung der Betroffenen dementsprechend für mit der Menschenwürde unvereinbar, siehe ders., Recht und Bioethik, 2010, S. 279; ders., Sozialrecht und Praxis 2000, 71 (74), ders., MedR 2001, 238 (243, 246). 179 Spranger, Recht und Bioethik, 2010, S. 279 f.

4. Kap.: Die Regelung der klinischen Prüfung im Arzneimittelgesetz

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die regelmäßig mit einem Verlust der Einwilligungsfähigkeit einhergehen, nicht zu erzielen wären. Auch der mit der Regelung einhergehende, vollständige Ausschluss nicht einschlägig kranker Einwilligungsunfähiger von der Forschungsteilnahme ist als schwach paternalistisch zulässig zu erachten – ebenso wie die weiteren Voraussetzungen der Regelung: So dient die nach Nr. 2 erforderliche Einwilligung durch den gesetzlichen Vertreter ebenfalls dem Schutz der körperlichen Unversehrtheit der Nicht-Einwilligungsfähigen;180 genau wie die von Nr. 3 vorausgesetzte unbedingte Erforderlichkeit der Forschung mit Einwilligungsunfähigen sowie die nach Nr. 4 verbotene Gewährung von Vorteilen außerhalb einer angemessenen Entschädigung.181

H. Forschung mit Minderjährigen Auch für die klinische Forschung mit minderjährigen Probanden182 stellt das Arzneimittelgesetz besondere Anforderungen auf, die sich in der Behandlung von nicht einschlägig kranken und einschlägig kranken Minderjährigen voneinander unterscheiden. Hintergrund der teilweisen Zulassung entsprechender Forschung ist – wie auch bei der Forschung mit Nicht-Einwilligungsfähigen – ihre Notwendigkeit: Nur durch Versuche mit Minderjährigen kann die spezifische Arzneimittelsicherheit für Kinder vergrößert werden.183

180 Ausführlich zu Legitimation und Regelungsinhalt Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 233–245. 181 Mitunter wird gefordert, im Sinne der Gemeinschaftsgebundenheit der Einzelnen und des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit der Einwilligungsunfähigen, die auf eine Erforschung ihrer Erkrankungen angewiesen sind, auch gruppennützige Forschung zuzulassen, soweit die Forschung mit Einwilligungsfähigen im Einzelfall nicht möglich ist und lediglich ein minimales Risiko und eine geringfügige Belastung für den Betroffenen bestehen, siehe etwa Taupitz, MedR 2012, 583 (585 f.), dazu auch Beyerbach / ​Müller-Terpitz, WissR 48 (2015), 229 (236–238). In Zusammenhang mit Art. 15 FP ähnlich auch Kandler, Rechtliche Rahmenbedingungen biomedizinischer Forschung, 2008, S. 186–188. Gegen eine Relativierung der Menschenwürde durch eine dem Grundgesetz fremde „Sozialpflichtigkeit“ und „Aufopferungspflicht“ Spranger, in: Boos / ​Spranger / ​Heinrichs, Forschung mit Minderjährigen, 2010, S. 59 (78 f.). 182 Die Neuregelungen zur Teilnahme Minderjähriger an klinischen Prüfungen finden sich in Art. 32 VO (EU) 536/2014 und dem noch in Kraft getretenen § 40b Abs. 3 AMG n. F. 183 Taupitz, in: Marckmann / ​Niethammer, Ethische Aspekte der pädiatrischen Forschung, 2009, S. 59.

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

I. Forschung mit nicht einschlägig kranken Minderjährigen (§ 40 Abs. 4 i. V. m. § 96 Nr. 10 AMG) § 40 Abs. 4 AMG regelt die Zulässigkeit klinischer Prüfungen mit nicht einschlägig erkrankten Minderjährigen und fordert, dass diese zum Erkennen oder zum Verhüten von Krankheiten bei Minderjährigen bestimmt sind und die Anwendung zum Schutz oder zur Erkennung von Krankheiten bei Minderjährigen angezeigt ist (Nr. 1), sie gegenüber der Prüfung mit Erwachsenen subsidiär sind (Nr. 2), in die Prüfung seitens des gesetzlichen Vertreters eingewilligt wurde (Nr. 3), die Prüfung mit möglichst wenig Belastungen und anderen vorhersehbaren Risiken verbunden ist (Nr. 4) und Vorteile mit Ausnahme einer angemessenen Entschädigung nicht gewährt werden (Nr. 5). Die Regelung in Nr. 1 schließt reine Verträglichkeitstests aus und setzt einen Eigennutzen für den konkreten Minderjährigen voraus:184 Die Formulierung „bei dem Minderjährigen“ impliziert die Unzulässigkeit eines Gruppennutzens,185 so dass fremdnützige Forschung mit gesunden Minderjährigen untersagt ist.186

II. Forschung mit einschlägig kranken Minderjährigen (§§ 41 Abs. 2, 40 Abs. 1–4 i. V. m. § 96 Nr. 10 AMG) § 41 Abs. 2 AMG stellt Sonderregelungen für die Forschung mit einschlägig kranken Minderjährigen auf. Nach § 41 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AMG ist die Anwendung eines zu prüfenden Arzneimittels bei einschlägig kranken Minderjährigen zum einen zulässig, wenn sie nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft angezeigt ist, um das Leben der betroffenen Person zu retten, ihre Gesundheit wiederherzustellen oder ihr Leiden zu erleichtern. Anders als bei der klinischen Prüfung mit nicht einschlägig kranken Minderjährigen ist nach § 41 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 a) AMG auch eine Prüfung mit direktem Nutzen für die Gruppe der Patienten, die an der gleichen Krankheit leiden wie die betroffene Person zulässig, wenn sie gemäß Nr. 2 b) unbedingt erforderlich ist, sich gemäß Nr. 2 c) auf einen klinischen Zustand bezieht, unter dem die betroffene Minderjährige leidet und gemäß Nr. 2 d) nur mit einem minimalen Risiko und einer minimalen Belastung187 ver 184

Achtmann, Der Schutz des Probanden, 2013, S. 83; Spranger, in: Boos / ​Spranger / ​Heinrichs, Forschung mit Minderjährigen, 2010, S. 59 (81 f.). 185 Spranger, in: Boos / ​Spranger / ​Heinrichs, Forschung mit Minderjährigen, 2010, S. 59 (82); ders., Recht und Bioethik, 2010, S. 280. 186 Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 286. Deutsch und Spickhoff halten eine Forschung mit Gruppennutzen jedoch dann für zulässig, wenn die Forschung einen Bezug zu der klinischen Problematik des Kindes aufweist und die Forschung mit nur minimalem Risiko und minimaler Belastung einhergeht, dies., Medizinrecht, 7. Aufl. 2014, Rn. 1318. 187 Von dem Begriff „minimales Risiko“ sind lediglich sehr geringfügige und nur vorübergehende Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes der Minderjährigen erfasst; eine „minimale

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bunden ist. Das Erfordernis eines direkten, unmittelbaren Nutzens schließt Grundlagenforschung aus, gestattet aber die Erforschung von Diagnostika und Therapeutika.188 Die Zulassung von gruppen- und damit fremdnütziger Forschung mit einschlägig kranken Minderjährigen erstreckt sich gemäß § 41 Abs. 2 S. 2 AMG in Einklang mit § 41 Abs. 3 AMG jedoch nicht auf „in der Willensbildung beeinträchtigte Minderjährige“189, für die nach Erreichen der Volljährigkeit § 41 Abs. 3 AMG Anwendung finden würde.

III. Verfassungsrechtliche Betrachtung Durch die dargestellten Regelungen wird in die Freiheit der Minderjährigen zur Teilnahme an Arzneimittelprüfungen und damit jedenfalls in ihre allgemeine Handlungsfreiheit190 eingegriffen. Für die schwach paternalistische Legitimierung der freiheitseinschränkenden Regelungen gegenüber altersbedingt vorübergehend oder dauerhaft in ihrer Willensbildung beeinträchtigten Minderjährigen sei auf die Ausführungen zu nicht einwilligungsfähigen Volljährigen verwiesen:191 Sie lassen sich mit dem Schutz der Menschenwürde der einwilligungsunfähigen Minderjährigen bei fremdnütziger Forschung192 sowie mit dem Schutz vor Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit rechtfertigen, die auf defizitären Entscheidungen gründen. Konträr zu der Perspektivwahl dieser Arbeit stellt sich im Hinblick auf die Zulässigkeit gruppennütziger Forschung mit altersbedingt nicht einwilligungsfähigen, einschlägig kranken Minderjährigen, auf die § 41 Abs. 2 S. 2 AMG keine Anwendung findet, indes vielmehr weitergehend die Frage, ob die Regelung überhaupt einen hinreichenden Schutz vor einer menschenwürdeverletzenden Objektivierung dieser Probanden gewährleistet193 – oder ob dieser nicht vielmehr durch ein Verbot von Forschung in solchen Konstellationen umfassend sichergestellt werden müsste. Einer darüber hinausgehenden Rechtfertigung bedarf der mit den Regelungen einhergehende Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht einwilligungsfähiger Minderjähriger. Insofern kommt zu einem stark paternalistischen Hinwegsetzen auch

Belastung“ umfasst ebenfalls vorübergehende, geringfügige Unannehmlichkeiten, vgl. dazu Rehmann, AMG, 4. Aufl. 2014, § 41 Rn. 2. 188 Achtmann, Der Schutz des Probanden, 2013, S. 84; Deutsch / ​Spickhoff, Medizinrecht, 7. Aufl. 2014, Rn. 1716; Spranger, in: Boos / ​Spranger / ​Heinrichs, Forschung mit Minderjährigen, 2010, S. 59 (84, 86). 189 Spranger, in: Boos / ​Spranger / ​Heinrichs, Forschung mit Minderjährigen, 2010, S. 59 (87). 190 Siehe zum umfassenden Schutz im zweiten Kapitel unter B. I. 3. und B. IV. 1. Die Regelungen berühren zudem die von Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG gewährleistete Forschungsfreiheit der beteiligten Wissenschaftler, Spranger, in: Boos / ​Spranger / ​Heinrichs, Forschung mit Minderjährigen, 2010, S. 59 (80 f.). 191 Siehe dazu unter G. 192 Spranger, in: Boos / ​Spranger / ​Heinrichs, Forschung mit Minderjährigen, 2010, S. 59 (78). 193 Kritisch Spranger, Sozialrecht und Praxis 2006, 751 (759).

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

über den autonom gebildeten Willen der Betroffenen.194 Auch das Erfordernis der „Doppeleinwilligung“ durch den einwilligungsfähigen Minderjährigen und den gesetzlichen Vertreter gemäß § 40 Abs. 4 Nr. 3 S. 4 AMG hat stark paternalistischen Charakter.195 Hinsichtlich der Rechtfertigung dieser Vorschriften sei jedoch auf die Ausführungen zum Ausschluss Minderjähriger von der Lebendorganspende verwiesen:196 Der Schutz der Autonomie auch von Minderjährigen wird zwar im Rahmen der Regelungen zur Teilnahme an Arzneimittelprüfungen durch das Erfordernis der „Einwilligungsfähigkeit“ sichergestellt. Die Tatsache, dass neben der Einwilligungsfähigkeit auch die Volljährigkeit der Probanden erforderlich ist, erscheint aus autonomieschützender Perspektive deshalb zumindest zweifelhaft. Die Regelung ist jedoch einer Rechtfertigung zum umfassenden Schutz vor der Gefahr defizitärer Entscheidungen197 zugänglich.198 Wegen der insoweit bestehenden Gefährdungslage für die Autonomie der Entscheidungen erscheint jedenfalls eine Anknüpfung an die Minderjährigkeit zulässig, denn dieser Gefahr kann durch den Ausschluss Minderjähriger von klinischer Forschung wirksam begegnet werden. Die Schwierigkeit der Feststellbarkeit der Autonomie kann dann im Rahmen der zwangsläufig mit einer entsprechenden Regelung einhergehenden Generalisierung auch die stark paternalistische Wirkung derselben im Einzelfall rechtfertigen. Zwar ist eine Überprüfung der Selbstbestimmungsfähigkeit der Minderjährigen, die an klinischer Forschung teilnehmen, als selbstbestimmungsschonenderer Eingriff praktisch eher denkbar als dies im Rahmen von Geschäften des alltäglichen Lebens der Fall ist – auch bei klinischer Forschung ist ein ausnahmsloser Ausschluss Minderjähriger jedoch zulässig: In Anbetracht der Bedeutung der in Frage stehenden Rechtsgüter und des insoweit bestehenden Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers, insbesondere aber wegen der – etwa im Vergleich zu untergebrachten Personen – signifikant größeren Wahrscheinlichkeit einer (altersbedingten) Beeinträchtigung der Fähigkeit, in einem derart sensiblen Bereich umfassend autonome Entscheidungen zu treffen, ist eine absolute wirkende Einschränkung zum Schutz defizitär Entscheidender schutzintensiver als eine differenzierende Regelung und 194

Siehe auch Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 288. 195 Oswald geht davon aus, dass sich diese paternalistische Regelung zur Sicherung der Autonomie als verhältnismäßig auslegen lasse, soweit der gesetzliche Vertreter die Entscheidungen des Minderjährigen zu respektieren und bei dessen Zustimmung ebenfalls zuzustimmen habe, dies., Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 231 f. Ein derartiges Verständnis ergibt sich aus dem Wortlaut der Norm jedoch nicht. 196 Siehe dazu im dritten Kapitel unter C. III. 197 Oswald hält die Begrenzung auf Eigen- und Gruppennutzen ebenfalls zum Schutz vor defizitären Entscheidungen, damit einhergehenden körperlichen Gefahren, wegen der „ungestörten Entwicklung der Jugend“ und in Folge von Manipulationsgefahren bei Minderjährigen und ihren Vertretern gerade in Anbetracht des geringen Ausmaßes der Beschränkungen, die ausschließlich solidarische Forschung und diese lediglich für die kurze Zeit ab Einwilligungsfähigkeit bis Volljährigkeit ausschließen, für gerechtfertigt, dies., Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 288–290. 198 Siehe dazu bereits im zweiten Kapitel unter B. V. 6.

4. Kap.: Die Regelung der klinischen Prüfung im Arzneimittelgesetz

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kann deshalb verhältnismäßig sein.199 Dies gilt insbesondere auch unter dem Aspekt des Schutzes des Vertrauens in die Humanforschung, das durch risikoreiche Studien mit Kindern beeinträchtigt werden könnte. Eine Anpassung der Vorschriften durch Gewährung von Überprüfungs- und Ausnahmemöglichkeiten erscheint in Anbetracht der bereits durch die Regelung gewährten Sicherungsmechanismen im Sinne der Respektierung auch des Selbstbestimmungsrechts Minderjähriger dennoch vorzugswürdig.

I. Zustimmende Bewertung der Ethik-Kommission (§§ 40 Abs. 1 S. 2, 42 Abs. 1 S. 7 Nr. 3 i. V. m. § 96 Nr. 11 AMG) Jede klinische Prüfung eines Arzneimittels bei Menschen bedarf zudem der Zustimmung einer Ethik-Kommission nach § 96 Nr. 11 i. V. m. §§ 40 Abs. 1 S. 2, 42 Abs. 1 S. 7 Nr. 3 AMG.200

I. Inhalt und Ausrichtung der gesetzlichen Regelung Mit der klinischen Prüfung darf demnach erst begonnen werden, wenn die zuständige Ethik-Kommission diese zustimmend bewertet hat, § 40 Abs. 1 S. 2 AMG. Die Zustimmung darf gemäß § 42 Abs. 1 S. 7 Nr. 3 AMG nur versagt werden, wenn die in § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 bis 9, Abs. 4 AMG und § 41 AMG geregelten Anforderungen nicht erfüllt sind. Damit sind insbesondere die bereits dargestellten Voraussetzungen der ärztlichen Vertretbarkeit nach Risiko-Nutzen-Abwägung, die Volljährigkeit der Probanden, die Einwilligung nach Aufklärung, die fehlende zwangsweise Unterbringung der Beteiligten, die Eignung von Prüfer und Prüfeinrichtung, die Durchführung und Informierung über die pharmakologisch-toxikologische Untersuchung des Arzneimittels, die Probandenversicherung, die Versorgung durch einen Arzt oder Zahnarzt (§ 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 2–9 AMG), der Minderjährigenschutz (§ 40 Abs. 4 AMG) und der Schutz einschlägig Kranker (§ 41 AMG) Gegenstand der Beurteilung durch die Ethik-Kommission. Ferner darf die Ethik-Kommission die Zustimmung nach § 42 Abs. 1 S. 7 AMG versagen, wenn die vorgelegten Unterlagen unvollständig (Nr. 1) oder ungeeignet sind, den Nachweis der Unbedenklichkeit oder Wirksamkeit eines Arzneimittels einschließlich einer unterschiedlichen Wirkungsweise bei Frauen und Männern zu erbringen (Nr. 2). 199 Für ein Entscheidungsrecht und die Stärkung des Selbstbestimmungsrechts einwilligungsfähiger Minderjähriger auch Heinrichs, in: Boos / ​Spranger / ​Heinrichs, Forschung mit Minderjährigen, 2010, S. 97 (142, 149); Staak / ​Weiser, Klinische Prüfung von Arzneimitteln, 1978, S. 50. So zu der entsprechenden Lebendorganspende-Regelung Augsberg, in: Höfling (Hrsg.), TPG, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 20; Gutmann / ​Schroth, Organlebendspende in Europa, 2002, S. 59 f., 129; Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8 Rn. 7. 200 Vgl. im Rahmen der Novellierung des AMG die noch nicht in Kraft getretenen §§ 40 Abs. 4 S. 2, 41 AMG n. F.

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

Eine Ethik-Kommission ist laut der Definition in § 3 Abs. 2c GCP-V „ein unabhängiges Gremium aus im Gesundheitswesen und in nichtmedizinischen Bereichen tätigen Personen, dessen Aufgabe es ist, den Schutz der Rechte, die Sicherheit und das Wohlergehen von betroffenen Personen […] zu sichern und diesbezüglich Vertrauen der Öffentlichkeit zu schaffen […].“ Die Bewertung der Ethik-Kommission erfolgt abstrakt für die klinische Prüfung als solche und nicht konkret für den Einzelfall des jeweiligen Probanden.201 Ihre Zustimmung als Behörde202 erfolgt in Form eines Verwaltungsaktes,203 auf dessen Erlass die Beteiligten als gebundene Entscheidung bei Nichtvorliegen der Versagungsgründe einen Anspruch haben.204 Eine „eigenständige (rein) ethische Bewertung“ erfolgt somit nicht.205 Im Unterschied zu den Lebendspende-Kommissionen im Rahmen des Transplantationsgesetzes handelt es sich bei den Ethik-Kommissionen im Rahmen der klinischen Prüfung um gesetzesvollziehende Kommissionen,206 deren Regelung als „prozedurale Strafnorm“ ausgestaltet ist.207 Die Überprüfung durch die Ethik-Kommission dient dem Probandenschutz;208 laut § 3 Abs. 2c GCP-V ist es ausdrücklich ihre Aufgabe, den „Schutz der Rechte, die Sicherheit und das Wohlergehen von betroffenen Personen […] zu sichern und diesbezüglich Vertrauen der Öffentlichkeit zu schaffen“. Im Vordergrund der Regelung stehen somit der Schutz der Probanden209 und der Schutz der Humanforschung als Institution.210

II. Verfassungsrechtliche Betrachtung Durch die Bindung an die Beurteilung der Ethik-Kommission wird in die Wissenschaftsfreiheit der beteiligten Forscher eingegriffen.211 Wird dem Einzelnen durch eine ablehnende Beurteilung der Ethik-Kommission zudem seine Teilnahme 201 Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 187. 202 BT-Drs. 15/2109, S. 32. 203 Achtmann, Der Schutz des Probanden, 2013, S. 45 f.; Paus, in: Bergmann / ​Pauge / ​Steinmeyer (Hrsg.), Gesamtes Medizinrecht, 3. Aufl. 2018, § 42 AMG Rn. 2; Spranger, Sozialrecht und Praxis 2006, 751 (758). 204 Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 188. 205 Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 188. 206 Dederer, in: Vöneky et al. (Hrsg.), Ethik und Recht, 2013, S. 443 (444). 207 Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 240 Fn. 1180. 208 Der Gesetzentwurf zur zwölften AMG-Novelle spricht von „Patientenschutz“, vgl. BT-Drs. 15/2109, S. 32. 209 Achtmann, Der Schutz des Probanden, 2013, S. 44; Jary, Medizinische Forschung an Strafgefangenen, 2010, S. 49; Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 25. 210 Achtmann, Der Schutz des Probanden, 2013, S. 44; Gkountis, Autonomie und strafrecht­ licher Paternalismus, 2011, S. 40; Jary, Medizinische Forschung an Strafgefangenen, 2010, S. 50. 211 Kandler, Rechtliche Rahmenbedingungen biomedizinischer Forschung, 2008, S. 20.

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an einer klinischen Prüfung unmöglich gemacht, wird jedenfalls auch in seine allgemeine Handlungsfreiheit eingegriffen. Soweit dies zum Schutz des Betroffenen auch gegen seinen Willen erfolgt, entfaltet die Vorschrift damit eine paternalistische Wirkung in demselben Maße, in dem das die Regelungen tun, deren Untersuchung der Einhaltung sie vorschreibt. In Folge der klaren Bindung der Zustimmung an die bestehenden Regelungen, des fehlenden Spielraums und der Absenz einer eigenständigen ethischen Beurteilung,212 entscheiden die Ethik-Kommissionen im Rahmen der klinischen Prüfung – anders als beratende Kommissionen213 – wie ein Gericht über das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen. Dieser, in Anbetracht der bereits bestehenden, einschränkenden Regelungen des Arzneimittelgesetzes zusätzliche Schutz214 kann durch den Schutz des Vertrauens in die Integrität der Arzneimittelforschung gerechtfertigt werden. Die Einschaltung einer weiteren Instanz, die die Wissenschaftlichkeit des Vorgehens und den Schutz aller Beteiligten sicherstellt, ist geeignet dieses zu fördern und als  – lediglich vollziehendes Organ bereits bestehender Regelungen – auch erforderlich. Das Vertrauen in die Arzneimittelforschung wird durch die Zwischenschaltung einer neutralen, der Strafgerichtsbarkeit vorgelagerten Überprüfungsinstanz und der insoweit zwingenden Kontrolle der klinischen Prüfung und der Rechenschaftsablegung durch die Forscher wirksam gefördert und überwiegt in seiner Bedeutung erheblich gegenüber der – in Anbetracht der ohnehin bestehenden Einschränkungen des Selbstbestimmungsrechts der Betroffenen durch die paternalistischen Regelungen des Arzneimittelgesetzes selbst und der Möglichkeit des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes gegen die Entscheidungen der Kommission – geringen eigenen Eingriffstiefe der zusätzlichen Überprüfung.

J. Resümee: Paternalismen im Arzneimittelgesetz Im Ergebnis lassen sich im Rahmen der Zulässigkeitsvoraussetzungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln die stark paternalistischen Wirkungen des Erfordernisses der medizinischen Vertretbarkeit nach Risiko-Nutzen-Abwägung, des Verbots der Teilnahme nicht einschlägig kranker, untergebrachter Personen, verschiedener Sicherheits- und Qualitätsanforderungen und der notwendigen Zustim 212 Siehe dazu Oswald, Die strafrechtlichen Beschränkungen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, 2014, S. 188. 213 Vgl. zur Abgrenzung Dederer, in: Vöneky et al. (Hrsg.), Ethik und Recht, 2013, S. 443 (444). 214 Kandler geht davon aus, dass der von der Regelung ausgehende Eingriff zugunsten nicht einwilligungsfähiger Probanden durch eine staatliche Schutzpflicht gegenüber der Menschenwürde oder gegenüber dem Leben und der körperlichen Unversehrtheit gerechtfertigt werden könne, ders., Rechtliche Rahmenbedingungen biomedizinischer Forschung, 2008, S. 23. Er geht zudem davon aus, dass durch die Kommissionsüberprüfung in § 40 Abs. 1 S. 2 AMG den mit den wirtschaftlichen Interessen des Sponsors einhergehenden Gefahren vorgebeugt werden soll, a. a. O., S. 94 Fn. 558.

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

mung einer Ethik-Kommission durch das für die Allgemeinheit zentral bedeutsame Vertrauen in die Integrität der Arzneimittelforschung rechtfertigen. Da der Fortschritt der Wissenschaft und damit der Schutz der Bevölkerung darauf angewiesen und da das Ansehen der Humanforschung bereits historisch fragil ist, vermag dieser Aspekt bevormundende Einschnitte in die Freiheit zur Forschungsteilnahme in viel umfangreicherem Ausmaß zu rechtfertigen, als dies in anderen Bereichen der Fall ist. Der ebenfalls im Arzneimittelgesetz angelegte Schutz Einwilligungsunfähiger und Minderjähriger lässt sich unter schwach paternalistischen Gesichtspunkten und zum Schutz defizitär Entscheidender rechtfertigen. Stark paternalistisch und damit nach der im Rahmen dieser Arbeit vertretenen Auffassung verfassungswidrig stellen sich jedoch das Erfordernis eines Eigen- oder Gruppennutzens bei der Teilnahme einschlägig Kranker sowie das Verbot der Teilnahme einschlägig kranker, untergebrachter Personen an klinischen Prüfungen dar. Diese Teilnahmeverbote lassen sich in ihrem Umfang, der auch das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit berührt, nicht mit dem Schutz defizitär Entscheidender oder dem Schutz des Vertrauens in die Humanforschung rechtfertigen und sind deshalb in ihrer zugleich schädigenden wie bevormundenden Wirkung gegenüber autonom entscheidenden Menschen mit dem auf Selbstbestimmung und Selbstverantwortung basierenden Menschenbild des Grundgesetzes nicht vereinbar.

Fünftes Kapitel

Reproduktionsmedizinische Regelungen im Embryonenschutzgesetz Paternalistische Regelungen finden sich auch im Embryonenschutzgesetz (ESchG). Bei dem Embryonenschutzgesetz handelt es sich um ein strafrechtliches Nebengesetz, welches Regelungen zu Embryonenforschung und Reproduktionsmedizin vereint und das vornehmlich auf dem Bericht der auch als „Benda“-Kommission bezeichneten Arbeitsgruppe „In-vitro-Fertilisation, Genomanalyse und Gentherapie“ des Bundesministeriums für Forschung und Technologie beruht.1 Die Regulierung reproduktionsmedizinischer Sachverhalte in einem eigenen, von den Forschungssachverhalten abgetrennten Fortpflanzungsmedizingesetz2, dessen Erlass seit 1994 mit Schaffung der Kompetenznorm des Art. 74 Nr. 26 GG3 ermöglicht wurde und das in der Literatur immer wieder gefordert wird,4 ist bislang nicht erfolgt. Während die zentralen Regelungen des Embryonenschutzgesetzes, die sich mit Embryonenforschung befassen und die – dem Namen des Gesetzes entsprechend – dem Lebensschutz von Embryonen dienen, mangels denkbaren entgegenstehenden Willens derselben für die vorliegende Untersuchung paternalistischer Regelungen nicht von Interesse sind, finden sich im Embryonenschutzgesetz auch Regelungen und Verbote, die den Schutz der Frauen beabsichtigen, die an reproduktionsmedizinischen Maßnahmen beteiligt sind. Da ein solcher Schutz auch gegen den Willen dieser Frauen erfolgen kann, kommt ihnen zumindest paternalistisches Potential zu. In diesem Zusammenhang stechen insbesondere die Regelungen zur Eizellspende (dazu unter A.) und zur Leihmutterschaft (dazu unter B.) hervor, die beide gemäß § 1 ESchG unter Strafandrohung untersagt sind und denen sich im Folgenden gewidmet werden soll. 1

Bundesminister für Forschung und Technologie (Hrsg.), Bericht der Arbeitsgruppe „In-­ vitro-Fertilisation, Genomanalyse und Gentherapie“, 1985; dazu Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​ Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel B. Rn. 3. Zu den Einzelheiten des „Benda“-Berichts siehe im Folgenden etwa unter A. III. 2. a) aa). 2 Siehe dazu etwa Rosenau, Ein zeitgemäßes Fortpflanzungsmedizingesetz für Deutschland, 2012. 3 Diese gewährt die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes unter anderem für „medizinisch unterstützte Erzeugung menschlichen Lebens“. 4 Dethloff, Gleichgeschlechtliche Paare und Familiengründung durch Reproduktionsmedizin, 2016, S. 18; Reinke, Fortpflanzungsfreiheit und das Verbot der Fremdeizellspende, 2008, S. 47. Siehe dazu auch Müller-Terpitz / ​Ruf, in: Spranger (Hrsg.), Aktuelle Herausforderungen der Life Sciences, 2010, S. 33 (34).

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

Die beiden Verbote sind im internationalen Vergleich als restriktiv einzustufen. Dies führt trotz steigender Nachfrage nach Kinderwunschbehandlungen, die insbesondere mit der zunehmenden Verschiebung der Fortpflanzung in spätere Lebensphasen zusammenhängt, dazu, dass auch die Anzahl reproduktionsmedizinischer Maßnahmen in Deutschland unterdurchschnittlich niedrig ist.5 Die folgende, verfassungsrechtliche Betrachtung der Regelungen ist streng zu trennen von weiteren, mit den Praktiken einhergehenden rechtlichen Problemen – so etwa den familienrechtlichen Zuordnungsaspekten der Eizellspende6 und den zivilrecht­ lichen, insbesondere familien-, vertrags- und deliktsrechtlichen Implikationen der Leihmutterschaft.7 Nicht näher behandeln wird diese Arbeit die verbotene Geschlechtswahl bei In-Vitro-Fertilisation (IVF) gemäß § 3 S. 1 ESchG, die Beschränkung der Prä­ implantationsdiagnostik gemäß § 3 ESchG i. V. m. der Präimplantationsdiagnostikverordnung und das Verbot postmortaler Befruchtung gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 3 ESchG. Auch wenn diese Regelungen Freiheitsbeschränkungen beinhalten, haben sie keine per se paternalistische Ausrichtung. So basieren das Verbot der Geschlechtswahl und das Verbot der Präimplantationsdiagnostik auf einem Schutz der Kinder gegen den Willen der Eltern – nicht aber auf einem paternalistischen Schutz der Kinder gegen ihren eigenen Willen oder der Eltern gegen ihren eigenen Willen. Das Verbot postmortaler Befruchtung zielt primär auf das Kindswohl und den Schutz des postmortalen Persönlichkeitsrechts des Samenspenders ab.8 Entsprechende Rechtfertigungsansätze mögen zwar aus anderen Gründen problematisch sein,9 paternalistisch sind sie jedoch per se nicht: Denn das zu schützende Kind und der zu schützende Samenspender können zum Zeitpunkt der postmortalen Befruchtung selbst entweder noch keinen dem Schutz entgegenstehenden Willen oder keinen dem Schutz entgegenstehenden Willen mehr bilden.

5 Vgl. den Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zur Fortpflanzungsmedizin  – Rahmenbedingungen, wissenschaftlich-technischen Entwicklungen und Folgen der 17. Wahlperiode, BT-Drs. 17/3759, in dem es ausdrücklich heißt, „dass die unterdurchschnittlichen Behandlungszahlen in Deutschland nicht auf mangelndes medizinisches Know-how oder fehlende gesellschaftliche Akzeptanz zurückzuführen sind, sondern hauptsächlich auf die gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen.“, a. a. O., S. 6, siehe auch a. a. O., S. 12. 6 Coester-Waltjen, Gutachten 56. DJT, Band I, 1986, B 111–115. 7 Dazu ausführlich Coester-Waltjen, Gutachten 56. DJT, Band I, 1986, B 83–102. 8 Vgl. hierzu Velte, Die postmortale Befruchtung im deutschen und spanischen Recht, 2015, S. 27–29. 9 Zum Ganzen Velte, Die postmortale Befruchtung im deutschen und spanischen Recht, 2015.

5. Kap.: Reproduktionsmedizinische Regelungen

331

A. Das Verbot der Eizellspende zu reproduktiven Zwecken (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 und 2, Abs. 2 Nr. 1 und 2 ESchG) Das Verbot der (heterologen) Eizellspende ergibt sich aus vier Unterregelungen des § 1 ESchG, nach denen es unter Strafbewehrung verboten ist, auf eine Frau eine fremde unbefruchtete Eizelle zu übertragen (Abs. 1 Nr. 1), es zu unternehmen, eine Eizelle zu einem anderen Zweck künstlich zu befruchten, als eine Schwangerschaft der Frau herbeizuführen, von der die Eizelle stammt (Abs. 1 Nr. 2), künstlich zu bewirken, dass eine menschliche Samenzelle in eine menschliche Eizelle eindringt oder eine menschliche Samenzelle in eine menschliche Eizelle künstlich zu verbringen, ohne eine Schwangerschaft der Frau herbeiführen zu wollen, von der die Eizelle stammt (Abs. 2 Nr. 1 und 2).

I. Medizinischer Ausgangspunkt Für eine heterologe Eizellspende unterziehen sich die Spenderinnen zunächst – wie auch im Rahmen einer homologen IVF – einer ovariellen Stimulation und einer anschließenden Follikelpunktion oder Laparoskopie zur Eizellentnahme. Eizellen für eine Spende können dementsprechend auch bei einer eigenen IVF-Behandlung der Spenderin gewonnen werden, soweit in deren Rahmen überzählige Eizellen abgegeben werden. Die gespendeten Eizellen werden dann in vitro entweder mit den Samen des Wunschvaters oder mit Spendersamen befruchtet und anschließend auf die Wunschmutter übertragen. Die Empfängerin trägt dann ein Kind aus, das genetisch nicht von ihr abstammt. Die Eizellspende kommt insbesondere für infertile oder subfertile Frauen in Betracht, die von Geburt an keine Eierstöcke haben oder diese in Folge eines Unfalls oder einer Krebsbehandlung verloren haben, sowie für Frauen, die zwar Eierstöcke haben, aber zum Beispiel in Folge des sog. Turner-Syndroms keine Eizellen produzieren können, nach der Menopause altersbedingt infertil sind oder nur vermindert auf ovarielle Stimulation ansprechen.10 Bei mitochondrialen Erbkrankheiten besteht zudem die Möglichkeit eines Mito­ chondrien- oder eines Zellkerntransfers in eine entkernte Spendereizelle. Da ein kleiner Teil des Erbguts auch in den Mitochondrien angelegt ist, haben die derart entstehenden Kinder zwei genetische Mütter.11 Die „klassische“ Eizellspende wurde 1984 das erste Mal erfolgreich durchgeführt.12 Die Schwangerschaftsrate der heute sehr effektiven heterologen Eizell 10 Siehe zum Ganzen etwa Depenbusch / ​Schultze-Mosgau, in: Diedrich / ​Ludwig / ​Griesinger (Hrsg.), Reproduktionsmedizin, 2013, S. 287 (288); Hieb, Die gespaltene Mutterschaft im Spiegel des deutschen Verfassungsrechts, 2005, S. 8 f. 11 Jofer, Regulierung der Reproduktionsmedizin, 2014, S. 292 f. Vgl. zu dem ersten, im Jahr 2016 auf diesem Weg geborenen Kind Zhang et al., Fertility & Sterility, 2016, e375 f. 12 Depenbusch / ​Schultze-Mosgau, in: Diedrich / ​Ludwig / ​Griesinger (Hrsg), Reproduktionsmedizin, 2013, S. 287 (288); Reinke, Fortpflanzungsfreiheit und das Verbot der Fremdeizell-

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

spende liegt bei etwa 30–48 % pro Transfer.13 Sie ist heute in den meisten Ländern Europas rechtlich zugelassen.14 Auch in Deutschland erscheint die Technik trotz der umfassenden Strafbewehrung gesellschaftlich nicht stigmatisiert – so sprach sich im Rahmen einer repräsentativen Umfrage des Bundesverbands Reproduktionsmedizinischer Zentren Deutschland e. V. im Jahr 2001 eine Mehrheit der befragten Reproduktionsmedizinerinnen und -wissenschaftlerinnen für die Zulassung der Eizellspende aus; ein generelles Verbot wurde überwiegend abgelehnt.15

II. Inhalt und Ausrichtung der gesetzlichen Regelung Die Teilregelungen des § 1 ESchG, die ein umfassendes Verbot der Eizellspende begründen, untersagen unterschiedliche Aspekte und Anteile derselben Prozedur, so dass in der Gesamtschau alle Formen der Eizellspende im Rahmen von medizinisch assistierter Fortpflanzung verboten sind.16 Abs. 1 Nr. 1 erfasst die Übertragung einer fremden unbefruchteten Eizelle oder von Eierstöcken in vivo für reproduktive Zwecke.17 Mit Abs. 1 Nr. 2, wonach bestraft wird, wer es unternimmt, eine Eizelle künstlich zu befruchten, ohne dass eine Schwangerschaft bei der Frau herbeigeführt werden soll, von der die Eizelle stammt, hat der Gesetzgeber ein Unternehmensdelikt geschaffen,18 das den intratubaren Gametentransfer, den intrauterinen Gametentransfer, die IVF und die intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI) mit Spendereizellen sowie die Kultivierung einer kryokonservierten befruchteten Spendereizelle erfasst.19 Indem die Regelung entscheidend darauf abstellt, dass eine Befruchtung stattfindet, ohne dass der befruchtete Embryo auf die Frau übertragen wird, von der die Eizelle stammt, wird im Rahmen von Abs. 1 Nr. 2 die Erzeugung von Embryonen zu Forschungszwecken mit der Erzeugung zur Austragung durch eine Frau gleichgesetzt, die nicht genetische Mutter des heranwachsenden Lebens ist.20 Die Regelungen in Abs. 2 verlagern die Strafbarkeit spende, 2008, S. 20. Zu Geschichte und Entwicklung der Eizellspende Bernard, Kinder machen, 2014, S. 335–353. 13 Depenbusch / ​Schultze-Mosgau, in: Diedrich / ​Ludwig / ​Griesinger (Hrsg), Reproduktionsmedizin, 2013, S. 287 (288). 14 Jofer, Regulierung der Reproduktionsmedizin, 2014, S. 301; Schewe, FamRZ 2014, 90 (92); Schumann, MedR 2014, 736 (737). 15 Katzorke / ​Kolodziej, in: Kettner (Hrsg.), Biomedizin und Menschenwürde, 2004, S. 103 (113). 16 Vgl. Spranger / ​Wegmann, BRJ 2010, 138 (144). 17 Vgl. Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Rn. 2 f.; Spranger / ​Wegmann, BRJ 2010, 138 (144). 18 Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 2 Rn. 22. 19 Höfling / ​Engels, in: Prütting (Hrsg.), Medizinrecht, 4. Aufl. 2016, § 1 ESchG Rn. 14. 20 Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 2 Rn. 6. Eizellen sind gemäß § 1a Nr. 4 TPG auch als Gewebe vom TPG erfasst; das Schutzniveau des ESchG bleibt davon jedoch unangetastet, siehe BT-Drs. 16/3146, S. 23; siehe auch Hörnle, in: von Hirsch / ​Neumann / ​Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 111 Fn. 2; dazu auch Müller-Terpitz / ​Ruf, in: Spranger (Hrsg.), Aktuelle Herausforderungen der Life Sciences, 2010, S. 33 (38).

5. Kap.: Reproduktionsmedizinische Regelungen

333

bereits auf die Befruchtung der Eizelle im Wege der IVF im Allgemeinen (Nr. 1) und der ICSI im Speziellen (Nr. 2) vor, soweit diese ohne direkte Absicht einer Schwangerschaftsherbeiführung bei der Spenderin der Eizelle erfolgt.21 Ohne dass durch die Imprägnation bereits Leben entstanden sein muss, wirkt Abs. 2 als konkretes Gefährdungsdelikt.22 Die heterologe Samenspende, bei der die Spermien im Rahmen einer medizinisch unterstützten Fortpflanzung nicht von dem zukünftigen sozialen Vaters des Kindes, sondern von einem Spender stammen, untersagt das Embryonenschutzgesetz hingegen nicht. Die Strafbewehrung des Verbots der Eizellspende richtet sich an die Ärztinnen und Wissenschaftlerinnen, welche die fortpflanzungsmedizinischen Maßnahmen vornehmen.23 Nach § 1 Abs. 3 Nr. 1 ESchG sind die Frau, von der die Eizelle stammt, sowie die Frau, auf die die Eizelle übertragen wird, von der Strafe ausgenommen. Laut Gesetzentwurf besteht kein Bedürfnis der Bestrafung der – im Fall der Spenderinnen häufig altruistisch handelnden – Frauen, da es im Interesse des Rechtsgüterschutzes genüge, diejenigen strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, die als Fachleute die negativen Folgen der Fortpflanzungstechniken zu erkennen vermögen.24 Auch familiäre Teilnahmehandlungen sollen wegen des Schutzes der Familie in Art. 6 GG strafrechtlich nicht erfasst sein.25 Inhaltlich stützt sich das Verbot der Eizellspende vornehmlich auf drei Argumentationsstränge: den Schutz des auf Grundlage der Spende entstehenden Kindes,26 den Schutz der Gesellschaft27 und den Schutz der Spenderin.28 Soweit die Regelung auch autonom entscheidenden Frauen eine Spende zu ihrem eigenen Schutz untersagt, kommt letzterem Aspekt eine stark paternalistische Ausrichtung zu. Auf Verhaltensebene wirkt die Regelung damit direkt paternalistisch; da die Strafbewehrung der Regelung sich – auch zum Schutz der Spenderin gegen ihren Willen – an die behandelnden Ärztinnen und Wissenschaftlerinnen richtet, wirkt sie auf Sanktionsebene indirekt paternalistisch. Für die im Folgenden zu untersuchende Verfassungsmäßigkeit der Regelung kommt es entscheidend darauf an, ob das Verbot die Freiheitsrechte der an der Prozedur Beteiligten verletzt (dazu unter III.) und ob es – im Hinblick auf die rechtliche Zulässigkeit der Samenspende – darüber hinaus auch mögliche Gleichheitsrechte verletzt (dazu unter IV.).

21

Müller-Terpitz, in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, 2. Aufl. 2014, § 1 ESchG, Rn. 22. Müller-Terpitz, in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, 2. Aufl. 2014, § 1 ESchG, Rn. 22. 23 Vgl. Günther, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. Vor § 1 Rn. 21. 24 BT-Drs. 11/5460, S. 9. 25 Günther, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. Vor  § 1 Rn. 29. 26 Siehe dazu im Folgenden unter A. III. 2. a). 27 Siehe dazu im Folgenden unter A. III. 2. b). 28 Siehe dazu im Folgenden unter A. III. 2. c). 22

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

III. Verletzung von Freiheitsrechten Als verletzte Freiheitsrechte kommen zunächst solche der Spenderin, der sozialen Wunscheltern und der beteiligten Reproduktionsmedizinerinnen und Wissenschaftlerinnen in Betracht. 1. Beeinträchtigte Freiheitsrechte Insoweit es die Regelung Frauen verbietet, Eizellen zu spenden, beschränkt sie ihre diesbezügliche Freiheit. Wenn auch nicht in Form einer Strafandrohung gegenüber ihnen selbst, so wird durch das mit der Regelung einhergehende Verbot des Vorgangs und der Bestrafung der notwendig beteiligten Medizinerinnen jedenfalls die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Handlungsfreiheit der potentiellen Spenderinnen beeinträchtigt.29 Neben diesem mit der Regelung einhergehenden Eingriff in die Grundrechte der Spenderin werden in der Literatur auch Einschränkungen der Grundrechte der Wunscheltern diskutiert – insbesondere unter dem Aspekt eines Eingriffs in ihre „reproduktive Autonomie“.30 Die „reproduktive Autonomie“ umfasst die Freiheit, ob und wann die Einzelne sich fortpflanzen möchte und insbesondere auch mit wem und mit welchen Mitteln.31 Ein Grundrecht auf Fortpflanzung oder reproduktive Autonomie wird in der Literatur zum Teil aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht abgeleitet, Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG, das die Entscheidung für ein

29

So auch Hieb, die sich gegen die Anwendung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ausspricht, dies., Die gespaltene Mutterschaft im Spiegel des deutschen Verfassungsrechts, 2005, S. 35. Siehe auch Taupitz, der von einer „Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts der Eizell­spenderin“ spricht, ders., in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Rn. 7. 30 Grundsätzlich sind auch die Grundrechte der Wunscheltern als „Dritte“ für eine paternalismuskritische Betrachtung der Regelung von Bedeutung, da der Schutz der Spenderinnen gegen ihren Willen auch als Rechtfertigungsgrund für den Eingriff in die Grundrechte der Wunscheltern herangezogen wird. Wie bereits ausgeführt, liegt bei einem Auseinanderfallen des Grundrechtsbeeinträchtigten, des von der Regelung paternalistisch Geschützten und des Adressaten der Strafbewehrung ein indirekter Paternalismus im Drei-Personen-Verhältnis vor; siehe dazu bereits in Zusammenhang mit der Eingrenzung des Lebendspenderkreises im Transplantationsgesetz im dritten Kapitel unter C. II. 3. b) bb) (3). In Zusammenhang mit der Rechtfertigung indirekter Paternalismen darf jedenfalls die Tatsache, dass in dieser Konstellation ein Grundrechtseingriff (gegenüber den Wunscheltern) mit dem Schutz einer Dritten (der Spenderin) gerechtfertigt wird, nicht davon ablenken, dass die Rechtfertigung paternalistischer Natur ist: Zwar erfolgt die Freiheitsbeschränkung nominell zum Schutz einer anderen; da dieser Schutz jedoch von der Geschützten selbst nicht gewollt ist, ergeben sich für die verfassungsrechtliche Bewertung keine Unterschiede zu direktem Paternalismus, siehe dazu bereits im ersten Kapitel unter A. V. 6. und im zweiten Kapitel unter B. III. 2. e). 31 Heyder, in: Beck (Hrsg.), Gehört mein Körper noch mir?, 2012, S. 291 (298).

5. Kap.: Reproduktionsmedizinische Regelungen

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Kind ebenso wie die Wahl geeigneter Hilfsmittel schütze32 und die Erfüllung des Kinderwunschs als wesentlichen Aspekt der Selbstverwirklichung erfasse.33 Wegen der mit der Fortpflanzung einhergehenden Familiengründung werde das allgemeine Persönlichkeitsrecht in diesem Bereich durch den Schutz der Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG verstärkt.34 Auch die reproduktionsmedizinisch unterstützte Fortpflanzung unter Beteiligung Dritter sei von dem grundrechtlichen Schutz erfasst.35 Mitunter wird der Schutz der Fortpflanzungsfreiheit auch allein aus Art. 6 Abs. 1 GG hergeleitet,36 da dieser nicht nur bestehende Familien, sondern auch die Familiengründung schütze.37 Dementsprechend erfasse der Schutz der Familie ein Recht auf Fortpflanzung und die Wahl der – auch reproduktionsmedizinischen – Mittel der Fortpflanzung.38 Gegen Argumentationen, Art. 6 Abs. 1 GG gewähre keinen verfassungsrechtlichen Leistungsanspruch dahingehend, „mit Hilfe Dritter Eltern zu werden und eine Familie zu gründen“,39 wird zu Recht eingewandt, dass vorliegend eine freiheitsbeschränkende Regelung in Frage steht und die Grundrechte deshalb als Abwehr- und nicht als Leistungsrechte angesprochen sind.40 Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist davon ausgegangen, dass das „Recht eines Paars, ein Kind zu empfangen und dazu die medizinisch unterstützte Fortpflanzung zu nutzen“ in den Schutzbereich des von Art. 8 EMRK geschützten Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens falle.41 Jedenfalls ist das Recht auf Fortpflanzung – auch im Rahmen reproduktions­ medizinischer Maßnahmen  – als von der allgemeinen Handlungsfreiheit der Wunscheltern gemäß Art. 2 Abs. 1 GG geschützt anzusehen.42 Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass der Schutz keine leistungs-, sondern lediglich eine abwehrrechtliche Komponente beinhaltet: Vorliegend steht kein grundrechtlicher Anspruch auf Fortpflanzung in Frage, sondern vielmehr ein grundrechtlicher

32 Diefenbach, Leihmutterschaft, 1990, S. 123 m. w. N.; Goeldel, Leihmutterschaft, 1994, S. 160 m. w. N. 33 Hieb, Die gespaltene Mutterschaft im Spiegel des deutschen Verfassungsrechts, 2005, S. 34. 34 Hieb, Die gespaltene Mutterschaft im Spiegel des deutschen Verfassungsrechts, 2005, S. 34 f. 35 Hieb, Die gespaltene Mutterschaft im Spiegel des deutschen Verfassungsrechts, 2005, S. 34. 36 Müller-Terpitz, in: Frister / ​Olzen (Hrsg.), Reproduktionsmedizin, 2010, S. 9 (11 f.) m. w. N. 37 Müller-Terpitz, in: Frister / ​Olzen (Hrsg.), Reproduktionsmedizin, 2010, S. 9 (12). 38 Müller-Terpitz, in: Frister / ​Olzen (Hrsg.), Reproduktionsmedizin, 2010, S. 9 (14); Reinke, Fortpflanzungsfreiheit und das Verbot der Fremdeizellspende, 2008, S. 136, 138. 39 Hillgruber, in: FS Link, 2003, S. 637 (641). 40 Siehe dazu auch Müller-Terpitz, in: Frister / ​Olzen (Hrsg.), Reproduktionsmedizin, 2010, S. 9 (13); Reinke, Fortpflanzungsfreiheit und das Verbot der Fremdeizellspende, 2008, S. 135. 41 EGMR 3.11.2011 (GK) – 57813/00 – NJW 2012, 207 (209) [„S. H. et al. gegen Österreich“]. 42 So auch Diefenbach, Leihmutterschaft, 1990, S. 124; Ramm, JZ 1989, 861 (874); Starck, Gutachten 56. DJT, Band I, 1986, A 17; Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Rn. 7.

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

Schutz vor staatlicher Beeinträchtigungen des Rechts auf Fortpflanzung.43 Auch wenn die Empfängerin gemäß § 1 Abs. 3 Nr. 1 ESchG bei der Eizellspende straffrei bleibt, begründet das Verbot der Eizellspende wegen der für die Beteiligten erforderlichen Mitwirkung der Medizinerinnen, gegen die sich die Strafbewehrung richtet, einen mittelbaren Eingriff in die Fortpflanzungsfreiheit beider Wunscheltern.44 Diese wird durch die Regelung zurechenbar verkürzt. Mit der Regelung geht zudem ein Eingriff in die von Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit der beteiligten Reproduktionsmedizinerinnen und Wissenschaftlerinnen sowie in die von Art. 5 Abs. 3 GG geschützte Wissenschaftsfreiheit einher.45 2. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Zugunsten der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung der mit der Regelung einhergehenden Grundrechtseingriffe wurden im Gesetzgebungsverfahren sowie in der rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Vorschrift verschiedene Gründe angeführt, die sich in drei Hauptargumentationsstränge unterteilen lassen. Vorliegend soll sich zunächst den außerpaternalistischen Aspekten des Schutzes des Kindes (dazu unter a)) und der Gesellschaft (dazu unter b)) zugewandt werden. Sollten sich diese als nicht tragfähig erweisen, wird zu untersuchen bleiben, ob das Verbot – soweit es dem Schutz der Spenderin dient (dazu unter c)) – auf einer paternalistischen Grundlage steht. a) Der Schutz des Kindes Zur Rechtfertigung der Vorschrift werden zunächst regelmäßig Argumente angeführt, die sich mit dem Schutz des im Wege der Eizellspende entstehenden Kindes befassen.46 aa) Schutz vor „gespaltener Mutterschaft“ Im Gesetzentwurf zum Embryonenschutzgesetz wird zugunsten des Kindeswohls zentral die mit der Regelung bezweckte Verhinderung „gespaltener Mutter 43 Siehe dazu auch Hieb, Die gespaltene Mutterschaft im Spiegel des deutschen Verfassungsrechts, 2005, S. 35. 44 Reinke, Fortpflanzungsfreiheit und das Verbot der Fremdeizellspende, 2008, S. 150. 45 Siehe zu beidem Hieb, Die gespaltene Mutterschaft im Spiegel des deutschen Verfassungsrechts, 2005, S. 35 f. 46 Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Rn. 5.

5. Kap.: Reproduktionsmedizinische Regelungen

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schaft“ genannt, zu der es bei der Eizellspende kommt, da die genetische Mutter (die Eizellspenderin) und die austragende oder biologische Mutter (die Empfängerin der Spende) nicht identisch sind.47 Die Gefahren, die mit gespaltener Mutterschaft für das Kindeswohl einhergehen sollen, werden insbesondere unter zwei Aspekten diskutiert: dem Schutz der Identitätsfindung und der Psyche des Kindes sowie dem Schutz vor drohenden Konflikten. So führt der Gesetzentwurf zunächst aus, dass die gespaltene Mutterschaft Probleme bei der Identitätsfindung des Kindes nach sich ziehe, dessen Entwicklung gefährde und insofern dem Kindeswohl widerspreche.48 Es gebe keinerlei Erkenntnisse darüber, wie es sich psychisch auf Kinder auswirke, wenn austragende und genetische Mutter auseinanderfielen, da Kinder auch durch die bei der Schwangerschaft eintretende Bindung geprägt würden.49 Eine Erschwerung der Identitätsbildung sei bei drei Elternteilen deshalb naheliegend.50 Auch der dem Embryonenschutzgesetz zugrunde liegende „Benda“-Bericht ging davon aus, dass durch „gespaltene Mutterschaft“ die Selbstfindung und seelische Entwicklung des Kindes gefährdet und erschwert werde, weil sowohl die austragende als auch die genetische Mutter Anteil an der Existenz desselben hätten.51 Psychische Konflikte seien zudem naheliegend, wenn die Eizellspende es älteren Frauen ermög­liche, Kinder zu bekommen52 oder wenn das Kind in Folge der Befruchtung einer Spendereizelle post mortem von einer toten Frau abstamme.53 Über diese inneren Schwierigkeiten hinaus wird zudem vielfach argumentiert, dass die psychische Gesundheit des Kindes bei gespaltener Mutterschaft auch durch äußere Konflikte zwischen genetischer und austragender Mutter gefährdet sei.54 Solche könnten sich entweder ergeben, wenn ein Kind nicht gesund geboren und dann von der Wunschmutter nicht angenommen werde – oder wenn die Spenderin im Übrigen Einfluss auf die Entwicklung des ihr genetisch zugehörigen Kindes nehmen wolle.55 Derartige Gefahren bestünden bei der Eizellspende in 47 BT-Drs. 11/5460, S. 7. Diesen Aspekt führt zentral auch der Österreichische Verfassungsgerichtshof in seinem Urteil zum österreichischen Fortpflanzungsmedizingesetz an, Österreichischer VerfGH 14.10.1999 – G 91/98 u. a. – VfSlg. 15632/1999, 414 (437). 48 BT-Drs. 11/5460, S. 7. 49 BT-Drs. 11/5460, S. 7. 50 BT-Drs. 11/5460, S. 7. 51 Bundesminister für Forschung und Technologie (Hrsg.), Bericht der Arbeitsgruppe „In-vitro-Fertilisation, Genomanalyse und Gentherapie“, 1985, S. 18; siehe aber etwa auch Hillgruber, in: FS Link, 2003, S. 637 (640 f.). 52 Hörnle, in: von Hirsch / ​Neumann / ​Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 111 (113). 53 BT-Drs. 11/5460, S. 7; s. a. Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Rn. 6. 54 Siehe dazu auch der EGMR in seinem Urteil zum österreichischen Fortpflanzungsmedizingesetz EGMR 3.11.2011 (GK) – 57813/00 – NJW 2012, 207 (211) [„S. H. et al. gegen Österreich“]. 55 BT-Drs. 11/5460, S. 7; Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Rn. 6 m. w. N.

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

erhöhtem Maße, da in Folge der medizinisch aufwendigen Prozedur häufig altruistische Gründe die Spende motivierten, die das Interesse an der Weiterentwicklung des Kindes vergrößerten und schließlich auch für das Kind zu Spannungen führen könnten.56 Eine konfliktreiche Ein- und Vermischung liege auch dann nahe, wenn die Eizelle von einer Frau stamme, die diese im Rahmen einer eigenen künstlichen Befruchtung gespendet habe, und die dann letztlich doch selbst keine Kinder bekommen könne.57 Das Risiko negativer Auswirkungen gebiete es deshalb, der Entstehung gespaltener Mutterschaft entgegenzuwirken.58 Insgesamt erscheint die Argumentation hinsichtlich der mit der gespaltenen Mutterschaft einhergehenden Kindeswohlgefährdung jedoch fragil.59 (1) Kein empirischer Nachweis einer Kindeswohlgefährdung Zentral kritisiert wird in diesem Zusammenhang, dass eine Gefährdung des Kindeswohls durch eine „gespaltene Mutterschaft“ empirisch nicht belegt sei.60 Die Annahme negativer Auswirkungen von gespaltener Mutterschaft beruhe nicht auf gesicherten Erkenntnissen61 – vielmehr sei im Gegenteil davon auszugehen, dass das Auseinanderfallen von biologischer, genetischer oder sozialer Mutterschaft als solches nicht schädlich sei.62 Studien legten nahe, dass die Ausgestaltung des Familienlebens wesentlich bedeutsameren Einfluss auf eine positive psychische Entwicklung des Kindes habe als dessen Zeugungsart.63 Auch die Auswahl und die Beratung der Wunscheltern im Umgang mit der Situation sei für das Kindeswohl viel wichtiger als die Ausgangskonstellation selbst.64 Dementsprechend wies auch der Bericht des „Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgen­ abschätzung“ zur Fortpflanzungsmedizin in der 17. Bundestagswahlperiode auf eine Langzeituntersuchung hin, die unter anderem Kindern nach Leihmutterschaft 56

Bundesminister für Forschung und Technologie (Hrsg.), Bericht der Arbeitsgruppe „Invitro-Fertilisation, Genomanalyse und Gentherapie“, 1985, S. 18. 57 BT-Drs. 11/5460, S. 7. 58 BT-Drs. 11/5460, S. 7. Siehe zu dem Gedanken des Schutzes vor gespaltener Mutterschaft auch Kemper, in: Schulze et al., BGB, 9. Aufl. 2017, § 1591 Rn. 1. 59 Taupitz bezeichnet sie als „dürftig“, ders., in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Rn. 7. 60 Heyder, in: Beck (Hrsg.), Gehört mein Körper noch mir?, 2012, S. 291 (308) m. w. N.; ders., in: Maio / ​Eichinger / ​Bozzaro (Hrsg.), Kinderwunsch und Reproduktionsmedizin, 2013, S. 214 (215); Spranger, Recht und Bioethik, 2010, S. 351 f.; ders., in: Menzel / ​Pierlings / ​Hoffmann (Hrsg.), Völkerrechtsprechung, 2005, S. 211 (215). 61 Heyder, in: Maio / ​Eichinger / ​Bozzaro (Hrsg.), Kinderwunsch und Reproduktionsmedizin, 2013, S. 214 (215). 62 Nitschmann / ​Petersdorf, in: FS Jung, 2007, S. 669 (679); Spranger, Recht und Bioethik, 2010, S. 351 f. m. w. N. 63 Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser, ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Rn. 7 m. w. N. 64 Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Rn. 7.

5. Kap.: Reproduktionsmedizinische Regelungen

339

und Eizellspende eine unauffällige Entwicklung attestierte und die nahelegt, dass das Fehlen einer genetischen Verbindung zwischen Mutter und Kind wie bei der Eizellspende (ebenso wie das Austragen eines Kindes durch eine Leihmutter) keinen negativen Einfluss auf die kindliche Entwicklung habe. Vielmehr herrschten in diesen Konstellationen sogar mehr elterliche Wärme und intensivere Beziehungen vor.65 Der fehlende wissenschaftliche Nachweis einer Beeinträchtigung des Kindeswohls durch gespaltene Mutterschaft erscheint besonders problematisch, da der Gesetzgeber das Verbot der Eizellspende selbst ausdrücklich darauf stützt, dass Erkenntnisse über die Auswirkungen auf das Kind fehlten und diesbezüglich Zweifel bestünden.66 Ein derart scharfes, da strafrechtlich sanktioniertes Verbot, das höchstpersönliche Bereiche wie die Fortpflanzung der Beteiligten betrifft, kann jedoch nicht auf reine Vermutungen gestützt werden, die nicht einmal naheliegen, sondern vielmehr wissenschaftlich widerlegt erscheinen.67 Ebenso wenig können potentiell auftretende Konflikte zwischen Kind, sozialer Mutter und Spenderin als Argument für das Verbot der Eizellspende verfangen: Weder erscheint ein solcher Verlauf wahrscheinlich oder gar zwingend, noch ist es Aufgabe des Gesetzgebers, alle Voraussetzungen eines harmonischen Umfelds für ein Kind gesetzlich zu regulieren.68 Auch die von Seiten des Gesetzgebers geltend gemachten Bedenken hinsichtlich des potentiell hohen Alters der sozialen Mütter können ein umfassendes Verbot der Eizellspende nicht stützen – so beschränkt sich die Methode weder auf Frauen nach der Menopause,69 noch könnte einem derartigen „Problem“ nicht etwa mit einer Höchstaltersgrenze für den Empfang einer Eizellspende als milderem Mittel entgegengewirkt werden.70 Insbesondere jedoch begründet eine solche Argumentation eine nicht hinzunehmende Diskriminierung älterer Frauen gegenüber älteren Männern, die vom Gesetzgeber nicht an der Zeugung eines Kindes gehindert werden.

65

BT-Drs. 17/3759, S. 91 m. w. N. Siehe auch Schroeder, in: FS Miyazawa, 1995, S. 533 (535). 67 So auch Schroeder, in: FS Miyazawa, 1995, S. 533 (535); Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​ Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Rn. 7; anders Höfling / ​Engels, die davon ausgehen, dass dem Gesetzgeber hinsichtlich des Kindeswohls trotz Bedenken gegen die Validität des Arguments ein gewisser Beurteilungsspielraum zukomme, dies, in: Prütting (Hrsg.), Medizinrecht, 4. Aufl. 2016, § 1 ESchG Rn. 9. 68 Hörnle, in: von Hirsch / ​Neumann / ​Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 111 (114 f.). 69 Hörnle, in: von Hirsch / ​Neumann / ​Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 111 (113). 70 Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Rn. 7. 66

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

(2) Inkongruenz zu Samenspende und Adoption Die Schwäche des auf eine Kindeswohlgefährdung durch gespaltene Mutterschaft abzielenden Argumentationsstrangs offenbart sich ferner in der insoweit inkongruenten Behandlung von Eizellspende auf der einen und Samenspende und Adoption auf der anderen Seite.71 Obwohl der „Benda“-Bericht auch bei der Samenspende Gefahren für die seelische Entwicklung des Kindes befürchtete,72 wird diese durch das Embryonenschutzgesetz nicht untersagt. Dass demnach eine Kindeswohlgefährdung durch gespaltene Vaterschaft im Rahmen der zulässigen Samenspende aus gesetzgeberischer Perspektive offenkundig kein relevantes Risiko darstellt, bringt die diesbezügliche Unverhältnismäßigkeit des Verbots der Eizellspende zum Ausdruck:73 Inwieweit sich die gespaltene Mutterschaft anders auswirken sollte als die gespaltene Vaterschaft, ist nicht ersichtlich. Die fehlende Tragfähigkeit des Arguments kommt auch im Hinblick auf die Regelung der Adoption zum Ausdruck: Wäre die zu befürchtende Kindeswohlgefährdung derart bedeutsam, müssten jedenfalls hinsichtlich geplanter Abgaben des Kindes nach der Geburt schützende Vorkehrungen getroffen werden.74 Auch im Übrigen verlangt das deutsche Rechtssystem zudem nicht, dass soziale und genetische Herkunft übereinstimmen müssen – so kennt auch das Familienrecht etwa die Fiktion des § 1592 Nr. 2 BGB, nach der Vater des Kindes der Ehemann der Mutter ist, auch wenn das Kind genetisch von einem anderen Mann abstammt.75 Die Aufspaltung von sozialer und genetischer Familie ist vielmehr sowohl in der Realität von Trennungen und Patchworkfamilien76 als auch auf rechtlicher Ebene im Rahmen von Samenspenden, Adoptionen und entsprechenden, familienrechtlichen Fiktionen akzeptiert und vorgesehen.77 Wieso sich allein hinsichtlich der Eizellspende eine andere Bewertung ergeben sollte, erschließt sich nicht. 71 Siehe zu einer entsprechenden Verletzung grundgesetzlicher Gleichheitsrechten sogleich unter A. IV. 72 Bundesminister für Forschung und Technologie (Hrsg.), Bericht der Arbeitsgruppe „Invitro-Fertilisation, Genomanalyse und Gentherapie“, 1985, S. 12 f. 73 Müller-Terpitz, in: Frister / ​Olzen (Hrsg.), Reproduktionsmedizin, 2010, S. 9 (21); Schroeder, in: FS Miyazawa, 1995, S. 533 (535). 74 Hinsichtlich der Adoption wird auch vorgebracht, dass ihre Zulässigkeit belege, dass die Spaltung der Mutterschaft offenbar nicht per se beeinträchtigend für das Kindeswohl sei  – wegen der mit ihr einhergehenden Identität von biologischer und sozialer Mutterschaft sei die Eizellspende gegenüber der Adoption sogar das mildere Mittel, Reinke, Fortpflanzungsfreiheit und das Verbot der Fremdeizellspende, 2008, S. 118. Auch Schroeder geht davon aus, dass die Identitätsprobleme bei einer Adoption schwerwiegender seien als bei einer Eizellspende, bei der Kind und Wunschmutter ja bereits die Schwangerschaft gemeinsam erleben, ders., in: FS Miyazawa, 1995, S. 533 (535). 75 Hörnle, in: von Hirsch / ​Neumann / ​Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 111 (113). 76 Darauf verweist auch Spranger, in: Menzel / ​Pierlings / ​Hoffmann (Hrsg.), Völkerrechtsprechung, 2005, S. 211 (216). 77 Hörnle, in: von Hirsch / ​Neumann / ​Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 111 (114).

5. Kap.: Reproduktionsmedizinische Regelungen

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(3) Widersprüchlichkeit des Arguments „Schutz vor Leben“ Abgesehen von der fehlenden inhaltlichen Überzeugungskraft des Arguments wird in der Jurisprudenz zudem auch vielfach auf die grundsätzliche Widersprüchlichkeit der Annahme einer Kindeswohlgefährdung in diesen Konstellationen hingewiesen: Denn eine derartige Ausrichtung der Regelung führt dazu, dass das Wohl des Kindes dadurch geschützt wird, dass es nicht zur Welt kommen kann. Die „Verhinderung seiner Erzeugung“78 zur Schadensvermeidung könne jedoch nicht im tatsächlichen Interesse des Kindes liegen79 und das Kindeswohl in Folge dieser Widersprüchlichkeit nicht als Rechtfertigungsgrund einer Freiheitsbeschränkung dienen.80 Demgegenüber wird in Teilen der Literatur jedoch angenommen, dass staatliche Schutzpflichten bereits vor Existenz eines Rechtssubjekts eingreifen könnten, soweit dessen Entstehung vorhersehbar sei.81 Die Pflicht zum vorsorglichen Eingreifen ergebe sich aus der objektiven Wertordnung der Grundrechte, wenn durch den Eingriff eine Grundrechtsverletzung nach der Zeugung vermieden würde.82 Zwar gebe es kein „Recht auf Nichtexistenz“, wohl aber ein „Recht auf ein Leben unter Beachtung der Grundrechte“, für dessen Gewährleistung der Gesetzgeber auch abwenden dürfe, dass ein solches entsteht.83 In einer ähnlichen Argumentation ging auch der Österreichische Verfassungsgerichtshof im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit dem Verbot der Samen- und Eizellspende im Rahmen von IVF-Behandlungen im österreichischen Fortpflanzungsmedizingesetz davon aus, dass es vor der Befruchtung kein Kind und damit auch kein Interesse an seiner Existenz gebe, wohl aber das Wohl des zukünftigen Kindes bei der Gesetzgebung zu berücksichtigen sei.84 Auch eine solche Betrachtung wurde jedoch in der Urteilsrezeption als widersprüchlich abgelehnt: So könne eine Einschränkung der Fortpflanzungsmöglichkeiten nicht auf Aspekte des Wohls des zukünftigen Kindes gestützt werden, wenn dieses zugleich vor der Befruchtung keine Interessen – etwa an seiner Existenz – haben könne.85 Vielmehr gebe es vor der Zeugung kein Kind und damit auch keinerlei Rechte und Interessen, die Teil 78

Müller-Terpitz, in: Frister / ​Olzen (Hrsg.), Reproduktionsmedizin, 2010, S. 9 (20). So Heyder, der davon ausgeht, dass insoweit nur ein zukünftiges Interesse antizipiert werden könne, das als solches mangels Existenz noch nicht bestehe und deshalb keine Rechtfertigung bieten könne, ders., in: Beck (Hrsg.), Gehört mein Körper noch mir?, 2012, S. 291 (303). 80 Coester-Waltjen, Gutachten 56. DJT, Band I, 1986, B 111; Heyder, in: Beck (Hrsg.), Gehört mein Körper noch mir?, 2012, S. 291 (313); Hörnle, in: von Hirsch / ​Neumann / ​Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 111 (113, 115); Müller-Terpitz, in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, 2. Aufl. 2014, § 1 ESchG, Rn. 7. 81 So etwa Lehmann, Die In-vitro-Fertilisation und ihre Folgen, 2007, S. 61 f. 82 Lehmann, Die In-vitro-Fertilisation und ihre Folgen, 2007, S. 62. 83 Lehmann, Die In-vitro-Fertilisation und ihre Folgen, 2007, S. 169. 84 Österreichischer VerfGH 14.10.1999 – G 91/98 u. a. – VfSlg. 15632/1999, 414 (438). 85 Spranger, Recht und Bioethik, 2010, S. 351; ders., in: Menzel / ​Pierlings / ​Hoffmann (Hrsg.), Völkerrechtsprechung, 2005, S. 211 (215). 79

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

einer entsprechenden Abwägung werden könnten.86 Ohne Existenz eines Schutzguts könne auch ein Verbot nicht auf dieses gestützt werden – insbesondere, wenn es durch die in Frage stehende Handlung erst zur Entstehung gebracht werden soll.87 Demgegenüber geht Taupitz zwar davon aus, dass es vor der Befruchtung noch keine Rechte, wohl aber eine gewisse „Vorwirkung der Rechte der entsprechenden Subjekte“ gebe, soweit eine Handlung das zukünftige Subjekt direkt betreffe. Dann müssten die Folgen der Handlungen zugunsten dieses zukünftigen Subjekts beachtet werden.88 Alles andere würde dazu führen, dass künstliche Befruchtung gar nicht reguliert werden dürfte und zwar auch dann nicht, wenn gezielt geklont oder schwer kranke Embryonen gezeugt würden:89 „Der medizinisch unterstützten Fortpflanzung dürfen richtigerweise durchaus Grenzen gesetzt werden, soweit sie objektiv begründet und nicht lediglich auf unsichere Annahmen gestützt sind.“90

Die Unterscheidung zwischen dem Anerkenntnis eigener Interessen bereits vor der Zeugung und einer Vorwirkung von Rechten erscheint jedoch schwierig – denn auch die Vorwirkung von Rechten kann sich nur auf bestehende und zukünftige Interessen gründen. Gleichwohl würde die Anwendung von Taupitz’ Ansatz auf den Fall der Eizellspende ohnehin keine Vorwirkung von Rechten begründen, da die drohenden Gefahren für das Kindeswohl – wie bereits dargelegt – weder objektiv begründet noch auf empirische Annahmen gestützt sind. Im Ergebnis verbleibt die Idee des Verbots einer Zeugungsart zum Schutz des Kindes, welches dann in Folge des Verbots gar nicht erst gezeugt wird, widersprüchlich: Da ein vorwirkender Schutz des Kindes lediglich deshalb von Bedeutung sein kann, weil es im Verlauf des regulierten Vorgangs auch zur Entstehung eines Embryos und Kindes kommt, kann der Schutz der Entstehung eines Kindes nicht entgegenstehen, ohne dass dieser seinen Anknüpfungspunkt verlöre.91 Der 86 Spranger, Recht und Bioethik, 2010, S. 351. Gegen die Annahme entsprechender Rechte nicht existierender Personen auch Koppernock, Das Grundrecht auf bioethische Selbstbestimmung, 1997, S. 154. 87 Dazu auch Starck, der aber – vor Inkrafttreten des ESchG – davon ausging, dass der Gesetzgeber in Folge einer aus dem Sittengesetz erwachsenden Verantwortung für das so zu zeugende Leben dessen Zeugung untersagen könne, wenn die Zeugung nur mit Hilfe Dritter stattfinden könne und mit dem Verbot negative Folgen einer Praktik verhindert werden sollen, ders., Gutachten 56. DJT, Band I, 1986, A 43–57. 88 Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Rn. 8; siehe dazu auch Hieb, Die gespaltene Mutterschaft im Spiegel des deutschen Verfassungsrechts, 2005, S. 106. 89 Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Rn. 8. 90 Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Rn. 8. 91 Ebenso Hieb, die in diesem Zusammenhang konkret an das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Kindes anknüpft, dies., Die gespaltene Mutterschaft im Spiegel des deutschen Verfassungsrechts, 2005, S. 150.

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Schutz des Kindes kann die Verhinderung seiner Entstehung deshalb nicht legitimieren. Alles andere würde zu einer unzulässig anmaßenden Beurteilung der Frage führen, welches Leben lebenswert ist und welches – in Folge welcher Probleme und Konflikte auch immer – nicht: Dieses Werturteil steht dem Gesetzgeber jedoch nicht zu. Unabhängig davon, dass eine mit der Eizellspende einhergehende Gefährdung des Kindeswohls sogar bereits sachlich in Zweifel steht, kann diese der Zeugung des Kindes daher nicht widerspruchsfrei entgegenstehen. bb) Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung Folglich kann auch der Schutz des durch Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG gewährleisteten Rechts auf Kenntnis der eigenen Abstammung92 im Sinne des Kindeswohls nicht für ein umfassendes Verbot der Eizellspende streiten: Es wird wohl kaum zu begründen sein, dass es für das Kind besser wäre, nicht geboren zu sein, als nicht zu wissen, von wem es genetisch abstammt. Dass die Verhinderung der Entstehung des Kindes keinen adäquaten Schutz desselben begründen kann, bedeutet aber gleichwohl nicht, dass dem Schutz des zukünftigen Kindes bei der Regulierung der Fortpflanzungsmedizin keine Bedeutung zukäme:93 Vielmehr lässt sich der Schutz des Rechts auf Kenntnis der eigenen Abstammung des Kindes etwa über zwingende Aufbewahrungs- und Auskunftsregelungen bei Zulassung der Eizellspende ebenso gesetzlich absichern, wie zugunsten von Kindern von Samenspendern mit Wirkung zum 1.1.2018 im Rahmen des „Gesetzes zur Errichtung eines Samenspenderregisters und zur Regelung der Auskunftserteilung über den Spender nach heterologer Verwendung von Samen“ geschehen.94 Ein umfassendes Verbot der Eizellspende erfordert auch der Schutz des Rechts auf Kenntnis der eigenen Abstammung nicht. cc) Menschenwürde des Kindes Dementsprechend kommt auch eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Verbots der Eizellspende auf Grundlage einer Menschenwürdeverletzung des Kin 92

BVerfG 31.1.1989 – 1 BvL 17/87 – BVerfGE 79, 256. Siehe dazu auch Hieb, Die gespaltene Mutterschaft im Spiegel des deutschen Verfassungsrechts, 2005, S. 175. 94 Danach werden die Daten von Samenspendern in einem sog. Samenspenderregister gespeichert, gegenüber dem Menschen, die vermuten, durch heterologe Verwendung von Samen gezeugt worden zu sein, ein Auskunftsrecht haben. Auch aus dem Transplantationsgesetz ergeben sich Informations- und Aufbewahrungsvorschriften bei Samenspende, vgl. § 8d Abs. 1 S. 2 Nr. 1, II TPG, §§ 5, 6 TPG-GewV und § 13a TPG i. V. m. § 7 TPG-GewV. Die vorsätzliche und fahrlässige Zuwiderhandlung stellt gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 3 bzw. Nr. 9 TPG eine Ordnungswidrigkeit dar. Siehe dazu auch Möller, in: Diedrich / ​Ludwig / ​Griesinger (Hrsg.), Reproduktionsmedizin, 2013, S. 583 (593 f.). 93

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

des nicht in Betracht:95 Bereits materiell berührt die Eizellspende die Menschenwürde des derart gezeugten Kindes nicht – weder durch die Art und Weise seiner Zeugung noch durch die Aufspaltung der Mutterschaft oder eine damit einhergehende „Widernatürlichkeit“.96 Die Idee einer Menschenwürdeverletzung qua „Widernatürlichkeit“ der Zeugung oder Abstammung basiert auf tief moralistischen Erwägungen, die Grundrechtsbeeinträchtigungen nicht rechtfertigen können.97 Bei der Eizellspende kommt es auch zu keiner menschenwürdeverletzenden Objektivierung des so entstehenden Kindes  – dies ist vielmehr ebenso fernliegend wie bei einer Zeugung mittels Samenspende. Darüber hinaus kann der Schutz der Menschenwürde des Kindes ohnehin nicht gegen seine Zeugung und Entstehung angeführt werden.98 dd) Resümee: Keine verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Verbots der Eizellspende mit dem Kindeswohl Im Ergebnis kann das Wohl des Kindes nicht für die Verfassungsmäßigkeit des Verbots der Eizellspende streiten,99 da es durch die Regelung nicht geschützt wird. So erweist sich die Idee einer Schädigung des Kindes durch „gespaltene Mutterschaft“ bereits als sachlich nicht tragfähig und der Schutz des konkreten Kindes mittels einer Untersagung der Eizellspende und der damit einhergehenden Verhinderung seiner Entstehung darüber hinaus als widersprüchlich. Dass das Argument des Kindeswohls dennoch wiederholt in Zusammenhang mit der Eizellspende vorgebracht wird, legt die Annahme nahe, dass das Verbot vielmehr ein Tabu und traditionelle Ideen von Mutterschaft schützen soll.100 Der Schutz solch moralischer Konstrukte kann einen Grundrechtseingriff jedoch nicht legitimieren.101

95 Eine Menschenwürdeverletzung des Kindes lehnt auch Lehmann ab, dies., Die In-vitroFertilisation und ihre Folgen, 2007, S. 192. 96 Jofer, Regulierung der Reproduktionsmedizin, 2014, S. 309; Starck, Gutachten 56. DJT, Band I, 1986, A 37. 97 Siehe dazu sogleich noch ausführlich unter A. III. 2. b) bb). 98 Hieb, Die gespaltene Mutterschaft im Spiegel des deutschen Verfassungsrechts, 2005, S. 106. Dies gilt unabhängig von der Frage, ob überhaupt ein Grundrechtsschutz vor der Entstehung oder Einnistung des Embryos besteht oder ob man von einer vorwirkenden Ausstrahlungswirkung des Würdeschutzes des zukünftigen Kindes auf die Umstände seiner Erzeugung ausgeht – letzteres bejaht Hieb, a. a. O., S. 106. 99 Dagegen auch Heyder, in: Schramme (Hrsg.), New Perspectives on Paternalism and Health Care, 2015, S. 277 (292). 100 Schroeder, in: FS Miyazawa, 1995, S. 533 (537); Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Rn. 7. 101 Zur fehlenden Rechtsgutstauglichkeit von Moral und Tabu Roxin, Strafrecht AT, Band 1, 4. Aufl. 2006, § 2 Rn. 17–19, 43–45. Der Österreichische Verfassungsgerichthof sieht den Schutz der Moral in seinem Urteil zum österreichischen Fortpflanzungsmedizingesetz indes als zulässigen Rechtfertigungsgrund an, Österreichischer VerfGH 14.10.1999 – G 91/98 u. a. – VfSlg. 15632/1999, 414 (433). Dementsprechend rekurriert er zugunsten des Verbots der Ei-

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Das Wohl des Kindes streitet konsequenterweise vielmehr sogar für die Zulassung der Eizellspende in einem gesetzlich vorgegeben Rahmen: Denn eine Regulierung der Eizellspende und eine damit einhergehende Absicherung der Dokumentation der Spenderinnendaten könnte den bereits existierenden Eizellspendentourismus ins Ausland verringern oder sogar beenden und das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner eigenen Abstammung schützen.102 Im Vergleich zu den unregulierten Eizellspenden, zu denen es im Rahmen von Spendetourismus kommen kann und derzeit auch kommt, könnte eine Zulassung auch in Kombination mit einer gesetzlich vorgeschriebenen, institutionalisierten Beratung der Wunscheltern dem Wohl des Kindes erheblich wirkungsvoller zugutekommen. b) Gesellschaftsschutz und Gemeinwohlgefährdung Für die Rechtfertigung des Verbots der Eizellspende werden neben dem Kindeswohl auch gesellschafts- und gemeinwohlschützende Aspekte angeführt. aa) Gespaltene Mutterschaft: Verletzung von Ehe und Familie als Institution So beeinträchtige die mit der Eizellspende einhergehende Spaltung der Mutterschaft nicht nur das Kindeswohl, sondern verletze auch die Institution von Ehe und Familie und zerstöre die natürliche Einheit von Mutter und Kind.103 Als Rechtfertigungsgrund einer Freiheitsrechtsbeeinträchtigung vermag dies jedoch nicht zu verfangen:104 So sieht sich die Institution der Familie durch die Eizellspende überhaupt keiner Bedrohung ausgesetzt105 – vielmehr sind verschiedenste Patchworkfamilien-Konzepte mit genetischer und sozialer Durchmischung längst verfassungsrechtlich als Familien geschützte Realität geworden.106 Dementsprechend kann das Verbot einer Fortpflanzungstechnik nicht auf ein überkommenes, in der Konsequenz auch Homosexuelle, Geschiedene und alleinerziehende Eltern diskriminierendes Familienbild gestützt werden kann. Mit der Eizellspende werden

zellspende auch darauf, dass es gelte, „ungewöhnliche Beziehungen“ wie bei einem Kind mit zwei Müttern zu vermeiden, a. a. O., S. 437. Kritisch Spranger, in: Menzel / ​Pierlings / ​Hoffmann (Hrsg.), Völkerrechtsprechung, 2005, S. 211 (215). 102 Schewe, FamRZ 2014, 90 (93); s. auch BT-Drs. 17/3759, S. 10, in der auf die Gefahren hinsichtlich des Rechts auf Kenntnis der eigenen Abstammung bei Spendetourismus hingewiesen wird. 103 Siehe dazu Hektor, Die Relevanz ethischer Konzeptionen im Strafrecht, 1995, S. 64. 104 So auch Diefenbach, Leihmutterschaft, 1990, S. 127–129. 105 Auch Starck ist in seinem Gutachten zum 56. Deutschen Juristentag zu dem Ergebnis gekommen, dass die Eizellspende als solche keinen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2 GG begründe, ders., Gutachten 56. DJT, Band I, 1986, A 56. 106 Spranger, Recht und Bioethik, 2010, S. 352 f.

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Familien begründet und nicht verletzt – der Schutz eines rein moralischen „Bildes“ von Familie kann nicht zu Lasten der Freiheit der Einzelnen angeführt werden. bb) „Widernatürlichkeit“ und Moralbeeinträchtigungen Ebenso können auch die „Unnatürlichkeit“ der Fortpflanzung im Wege der Eizellspende, die „Widernatürlichkeit“ der so entstehenden Familienverhältnisse und die „Unantastbarkeit der menschlichen Natur“107 nicht als Argumente zugunsten eines Verbots der Eizellspende dienen: So ist in der Medizin gerade in Zusammenhang mit der Heilung von Krankheiten beinahe alles „widernatürlich“ – ein Umstand, der in anderen Zusammenhängen jedoch niemals zu einem Verbot entsprechender Praktiken führen würde.108 Insbesondere aber liegt einer Rechtfertigung wegen „Widernatürlichkeit“ eine moralistische Argumentation zugrunde, die ein Verhalten auf Basis einer zwangsläufig subjektiven Zuordnung dessen, was „natürlich“ und was „unnatürlich“ ist, allgemein verbieten würde. Wenn aus der moralisch angezweifelten Praxis keine Gefährdung Dritter erwächst, kann eine derartige Fremdbeurteilung eine Freiheitsbeschränkung in einem weltanschaulich neutralen Rechtssystem jedoch nicht rechtfertigen.109 Rein moralistische Argumente können Grundrechtseingriffe in einer pluralistischen Gesellschaft nicht legitimieren.110 Dementsprechend hat auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Entscheidung zum Verbot heterologer IVF-Techniken im österreichischen Fortpflanzungsmedizingesetz ausgeführt, dass „die Sorge um Moral und gesellschaftliche Zustimmung“ allein keine Rechtfertigung eines vollständigen Verbots reproduktionsmedizinischer Maßnahmen wie der Eizellspende begründen könne.111

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Kritisch zu diesem Argumentationsstrang Hektor, Die Relevanz ethischer Konzeptionen im Strafrecht, 1995, S. 179; Heyder, in: Maio / ​Eichinger / ​Bozzaro (Hrsg.), Kinderwunsch und Reproduktionsmedizin, 2013, S. 214 (216); Spranger, Recht und Bioethik, 2010, S. 352; ders., in: Menzel / ​Pierlings / ​Hoffmann (Hrsg.), Völkerrechtsprechung, 2005, S. 211 (216). 108 Heyder, in: Maio / ​Eichinger / ​Bozzaro (Hrsg.), Kinderwunsch und Reproduktionsmedizin, 2013, S. 214 (216 f.); Spranger, Recht und Bioethik, 2010, S. 352. 109 Spranger, Recht und Bioethik, 2010, S. 352. 110 Siehe in diesem Zusammenhang auch Heyder, in: Beck (Hrsg.), Gehört mein Körper noch mir?, 2012, S. 291 (310). 111 EGMR 3.11.2011 (GK) – 57813/00 – NJW 2012, 207 (211) [„S. H. et al. gegen Österreich“]. Die Große Kammer des EGMR hatte in ihrer Entscheidung eine von den Regelungen ausgehende Verletzung der EMRK unter Verweis auf den weiten Beurteilungsspielraum der Staaten dennoch abgelehnt. Anders noch die Kammerentscheidung des EGMR in ihrem Urteil vom 1.4.2010 – 57813/00 – FamRZ 2010, 957 f., gegen das Österreich Rechtsmittel eingelegt hatte. Siehe zu den beiden Entscheidungen Radatz, Die Eizellspende im deutschen und dänischen Recht, 2014, S. 1–3.

5. Kap.: Reproduktionsmedizinische Regelungen

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cc) Aspekte familienrechtlicher Zuordnung Auch familienrechtliche Unklarheiten können nicht für ein Verbot der Eizellspende streiten.112 Denn § 1591 BGB,113 der den Grundsatz „mater semper certa est“ kodifiziert, regelt die soziale Zuordnung des nach einer Eizellspende geborenen Kindes zu der gebärenden Wunschmutter klar und eindeutig, indem er die Mutterschaft unabhängig von der genetischen Herkunft des Kindes immer der gebärenden Frau zuschreibt.114 Unklarheiten hinsichtlich der genetischen Zuordnung lässt der Gesetzgeber zudem auch bei Männern zu – nicht nur bei einer Zeugung mittels Samenspende, sondern bereits im Rahmen des § 1592 BGB,115 der die Vaterschaft völlig außerhalb biologischer Anknüpfungspunkte dem Ehemann der Mutter des Kindes oder dem Mann zuschreibt, der die Vaterschaft anerkannt hat. Auch ­Coester-Waltjen ging in ihrem Gutachten zum 56. Deutschen Juristentag davon aus, dass es kein „Unwerturteil“ begründe, dass sich die genetische Mutter-Kind-Zuordnung in diesen Fällen nicht aus dem Gesetz ergebe.116 dd) Gefahr der „Zuchtwahl“ und der Selektion Ebenso kann die Gefahr einer „Zuchtwahl“ qua Eizellselektion117 nicht der Rechtfertigung der mit dem Verbot der Eizellspende einhergehenden Grundrechtseingriffe dienen. Ein drohender Missbrauch ist als Argument für das umfassende Verbot eines Verhaltens auch hinsichtlich seiner ungefährlichen Anteile naturgemäß einer gewissen Schwäche ausgesetzt118 – vorliegend gilt dies insbesondere, da einer Gefahr des Missbrauchs der Eizellspende mittels einer spezifischen Regelung, die die Problematik der Selektion konkret erfasst, deutlich wirksamer begegnet werden könnte.119 Die Gefahr von Zuchtwahl vermag das umfassende Verbot der Eizellspende, das als solches nicht auf Selektion abzielt, in seiner Breite daher nicht zu rechtfertigen.

112

Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Rn. 11. 113 „Mutter eines Kindes ist die Frau, die es geboren hat.“, § 1591 BGB. 114 Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Rn. 11. 115 „Vater eines Kindes ist der Mann, 1. der zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter des Kindes verheiratet ist, 2. der die Vaterschaft anerkannt hat oder 3. dessen Vaterschaft nach § 1600d oder § 182 Abs. 1 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit gerichtlich festgestellt ist.“, § 1592 BGB. 116 Coester-Waltjen, Gutachten 56. DJT, Band I, 1986, B 111. 117 So der Österreichische VerfGH 14.10.1999 – G 91/98 u. a. – VfSlg. 15632/1999, 414 (433). 118 Siehe dazu auch Spranger, in: Menzel / ​Pierlings / ​Hoffmann (Hrsg.), Völkerrechtsprechung, 2005, S. 211 (216). 119 Spranger, Recht und Bioethik, 2010, S. 347.

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

ee) Resümee: Keine Gefährdung der Gesellschaft und des Gemeinwohls Im Ergebnis begründet die Eizellspende keine Gefährdung der Gesellschaft und des Gemeinwohls, so dass das Verbot im Embryonenschutzgesetz einer Rechtfertigung unter diesem Aspekt nicht zugänglich ist. Unabhängig von ihren ohnehin auch im Einzelfall nicht grundrechtsrelevanten Auswirkungen,120 spricht bereits die geringe Prävalenz der Eizellspende, zu der es allein in überschaubaren Konstellationen einer spezifischen, medizinischen Notwendigkeit kommt, gegen von ihr ausgehende, negative Folgen für die gesamte Gesellschaft.121 Außerhalb moralistischer Vorstellungen, die in einer pluralistischen Gesellschaft nicht im Wege der Strafgesetzgebung geschützt werden können, begründet die Eizellspende keine Gefahren für Gesellschaft und Gemeinwohl, zu deren Gunsten sich ein Verbot derselben rechtfertigen ließe. c) Der Schutz der Eizellspenderin Zwei der drei Hauptargumentationsstränge, auf welche das Verbot der Eizellspende in Gesetzgebung und Jurisprudenz gestützt wird, erweisen sich somit bei genauerer Betrachtung als verfassungsrechtlich nicht tragfähig. Weder der Schutz des durch die Eizellspende entstehenden Kindes noch ein wie auch immer gearteter Gesellschaftsschutz vermögen den mit der Regelung einhergehenden Grundrechtseingriff zu rechtfertigen. Zugunsten der Verfassungsmäßigkeit der Regelung gilt es sich daher nun mit der dritten zentralen Argumentationslinie auseinanderzusetzen, die in Zusammenhang mit der Rechtfertigung des Verbots der Eizellspende diskutiert wird und die unmittelbar paternalistisch anmutet – dem Schutz der (auch autonom handelnden) Spenderinnen vor den mit einer Spende einhergehenden Gefahren. Dieser soll im Folgenden unter verschiedenen Gesichtspunkten beleuchtet werden: dem Schutz der Menschenwürde der Spenderinnen (dazu unter aa)), ihrem Gesundheitsschutz (dazu unter bb)), dem Schutz der Spenderinnen von Kommerzialisierung und Ausbeutung (dazu unter cc)) sowie dem Schutz defizitär entscheidender Spenderinnen (dazu unter dd)). aa) Schutz der Menschenwürde der Spenderin Da das Verbot der Eizellspende in seiner gegenwärtigen Fassung allgemein gefasst ist und auch Frauen erfasst, die sich autonom zu einer Spende entschließen, kommt ein Schutz der Menschenwürde der Spenderinnen122 nach dem vorliegend 120

Siehe dazu unter A. III. 2. a). Siehe dazu auch Heyder, in: Beck (Hrsg.), Gehört mein Körper noch mir?, 2012, S. 291 (309). 122 So etwa von der österreichischen Regierung vorgetragen und vom EGMR aufgegriffen in dem Verfahren zur Konventionsmäßigkeit des österreichischen Fortpflanzungsmedizingesetzes, EGMR 3.11.2011 (GK) – 57813/00 – NJW 2012, 207 (211 f.) [„S. H. et al. gegen Österreich“]. 121

5. Kap.: Reproduktionsmedizinische Regelungen

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vertretenen subjektivistischen Würdeverständnis123 als Rechtfertigungsgrundlage für die Regelung nicht in Betracht. Soweit in der Debatte eine Verletzung der Menschenwürde der Spenderinnen unter Stichworten wie „Produktionsstätte von Eizellen“, „Selbsterniedrigung“ und „Instrumentalisierung der weiblichen Fruchtbarkeit“124 thematisiert wird, ist weder ersichtlich weshalb die Abgabe eigener Eizellen – anders als etwa bei einer Organspende unter Verwandten – zwangsläufig zu einer Instrumentalisierung oder Objektifizierung führen soll,125 noch kann es auf Basis einer autonomen Entscheidung zur Spende überhaupt zu einer Menschenwürdebetroffenheit kommen. Wenn sich die Spenderin freiwillig zur Abgabe entschließt, begegnet dieser Vorgang ebenso wie die zulässige Samenoder Organspende hinsichtlich der Menschenwürde der Spenderin keinen Bedenken.126 Ein aufgedrängter Menschenwürdeschutz würde die Spenderinnen auf weitaus problematischere Weise instrumentalisieren als eine Zulassung autonomer Eizellspenden. bb) Gesundheitsschutz der Spenderinnen In Zusammenhang mit dem Schutz der Eizellspenderinnen wird insbesondere auch auf ihren Gesundheitsschutz rekurriert.127 Denn die Spende geht durch die im Vorfeld notwendige hormonelle Stimulation sowie die zur operativen Entnahme der Eizellen erforderliche Follikelpunktion128 mit gesundheitlichen Gefahren für die Spenderinnen einher.129 Der Gesundheitsschutz der Spenderinnen begründet ein klassisches, stark paternalistisches Argument, insoweit es den Schutz der betroffenen Frauen auch bei Freiwilligkeit der Spendeentscheidung als Argument für ihre Freiheitsbeeinträchtigung anführt. In der Literatur wird bereits die Schwere der in Frage stehenden Gesundheitsbeeinträchtigung in Frage gestellt130 oder eine umfängliche Aufklärung der Spen 123

Siehe dazu im zweiten Kapitel unter B. II. 3. b) aa) (2). Siehe dazu Hieb, Die gespaltene Mutterschaft im Spiegel des deutschen Verfassungsrechts, 2005, S. 153, 159. 125 So Hörnle, in: von Hirsch / ​Neumann / ​Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 111 (120 f.). 126 So auch Hieb, Die gespaltene Mutterschaft im Spiegel des deutschen Verfassungsrechts, 2005, S. 158; Hörnle, in: von Hirsch / ​Neumann / ​Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 111 (124); Lehmann, Die In-vitro-Fertilisation und ihre Folgen, 2007, S. 192. Den Schutz der Menschenwürde bei unfreiwilligen Eizellspenden gewährleisten bereits die allgemeinen Körperverletzungsdelikte. 127 EGMR 3.11.2011 (GK) – 57813/00 – NJW 2012, 207 (212) [„S. H. et al. gegen Österreich“]. 128 Siehe dazu bereits unter A. I. 129 Siehe zu den Risiken Ludwig / ​Ludwig, in: Diedrich / ​Ludwig / ​Griesinger (Hrsg.), Reproduktionsmedizin, 2013, S. 305 (306–312). 130 Hörnle, in: von Hirsch / ​Neumann / ​Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 111 (119 f.). 124

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

derinnen über die Folgen der Eizellspende für ausreichend gesundheitsschützend erachtend.131 Unabhängig davon, dass nach vorliegend vertretener Auffassung Grundrechtsbeeinträchtigungen ohnehin nicht durch stark paternalistische Argumentationen gerechtfertigt werden können,132 müsste sich das Verbot der Eizellspende in seiner derzeitigen Form zudem jedenfalls den Vorwurf der Widersprüchlichkeit gefallen lassen, soweit es sich auf den Gesundheitsschutz der Spenderinnen stützt: Denn die gesundheitlichen Gefährdungen bestehen bei der zulässigen Entnahme von Eizellen im Rahmen einer homologen Befruchtung in gleichem Maße wie bei der unzulässigen Entnahme im Rahmen einer heterologen Spende.133 Soweit abzulehnende moralistische Aspekte ausgeklammert werden, kann es jedoch nicht Aufgabe des Gesetzgebers sein, festzulegen, zu welchem Zweck sich eine Frau zulässigerweise einer gesundheitlichen Belastung aussetzen sollte (Fortpflanzung) und zu welchem nicht (Spende). Das Verbot der Eizellspende ist daher auch unter dem Gesichtspunkt dieser massiven, mit dem Gesundheitsschutz der Spenderinnen einhergehenden paternalistischen Bevormundung abzulehnen.134 cc) Schutz vor Kommerzialisierung und Ausbeutung Auch wenn die Gesetzesbegründung das Argument selbst nicht aufgreift, wird in Zusammenhang mit einem Verbot der Eizellspende regelmäßig auch der mit der Regelung intendierte Schutz der Spenderinnen vor Kommerzialisierung und Ausbeutung genannt.135 Die Kommerzialisierung als solche taugt zur Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs jedoch nicht  – sie kann aus sich heraus, wie bereits im Rahmen der Organspende festgestellt, zudem weder eine Menschenwürdeverletzung noch ein zwingendes Autonomiedefizit begründen. Allein die Zahlung von Geld für eine körperliche Tätigkeit führt nach dem vorliegend vertretenen subjektiven Menschenwürdeverständnis weder generell zu einer unzulässigen Objektifizierung der Betroffenen,136 noch nimmt sie Entscheidungen grundsätzlich ihre Freiwilligkeit.137 Unabhängig vom Fehlen von mit ihr einhergehenden, grundrechtsrelevanten Auswirkungen würde vorliegend jedoch ohnehin das Verbot 131

Müller-Terpitz, in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, 2. Aufl. 2014, § 1 ESchG, Rn. 7. Siehe dazu im zweiten Kapitel unter B. III. 6. 133 Müller-Terpitz, in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, 2. Aufl. 2014, § 1 ESchG, Rn. 7. 134 Für einen Vorrang der Entscheidungsfreiheit auch Hieb, Die gespaltene Mutterschaft im Spiegel des deutschen Verfassungsrechts, 2005, S. 160. 135 So etwa vorgetragen von der österreichischen Regierung in dem Verfahren vor dem EGMR, EGMR 3.11.2011 (GK) – 57813/00 – NJW 2012, 207 (101) [„S. H. et al. gegen Österreich“]; siehe auch Österreichischer VerfGH 14.10.1999  – G 91/98 u. a.  – VfSlg. 15632/1999, 414 (434). 136 Siehe dazu bereits im dritten Kapitel unter C. I. 3. b) cc). 137 Siehe dazu bereits im dritten Kapitel unter C. I. 3. b) aa). Auch Hörnle lehnt im Hinblick auf die Eizellspende ab, dass durch eine mögliche Entgeltlichkeit die Autonomie generell in Frage gestellt sein soll, dies., in: von Hirsch / ​Neumann / ​Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 111 (125). 132

5. Kap.: Reproduktionsmedizinische Regelungen

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entgeltlicher Eizellspenden eine insoweit mildere, gleichermaßen wirksame Maßnahme darstellen.138 Hinter der Idee der „Ausbeutung“ steht als grundrechtliches Schutzgut wie bereits dargelegt regelmäßig der Autonomieschutz der Betroffenen.139 Wie schon das Organhandelsverbot erfasst jedoch auch das Verbot der Eizellspende nicht allein defizitäre Entscheidungen und ist daher einer ausschließlich schwach paternalistischen Rechtfertigung nicht zugänglich. Eine Legitimierung der mit dem Verbot der Eizellspende einhergehenden, auch stark paternalistischen Eingriffe ist dann grundsätzlich nur im Rahmen eines generalisierenden Schutzes defizitär Entscheidender denkbar. dd) Schutz defizitär Entscheidender Für eine Rechtfertigung unter diesem Aspekt kommt es auf die Erfüllung der Kriterien an, die auch bei den Regelungen zur Lebendorganspende und zur Teilnahme an der Humanforschung zum Schutz defizitär Entscheidender von entscheidender Bedeutung waren: Demnach kann eine Regelung, die wie das Verbot der Eizellspende nicht allein defizitären Entscheidungen, sondern prophylaktisch allen Entscheidungen in dem regulierten Zusammenhang die Wirksamkeit versagt, unter diesem Gesichtspunkt nur dann verhältnismäßige Schranke einer grundrechtlich geschützten Freiheit sein, wenn ein besonderer Gefahrenanlass in Form einer hohen Wahrscheinlichkeit defizitärer Entscheidungen in der geregelten Ausgangssituation besteht, die Regelung dieser Gefahr wirkungsvoll begegnet und die zu Lasten der autonom Entscheidenden stattfindende Generalisierung zum wirksamen Schutz der defizitär Entscheidenden erforderlich ist.140 Das absolute und umfassende Verbot der Eizellspende ist bei Anlegung dieses Maßstabs jedoch unverhältnismäßig. Bereits die Annahme eines Gefahrenanlasses erscheint fragwürdig: Auch wenn sich aus der Spende kein unmittelbarer medizinischer Nutzen für die Spenderin selbst ergibt, ist hinsichtlich der Gefährdung der Freiwilligkeit im Übrigen kein Unterschied zu jedem anderen medizinischen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit der Betroffenen ersichtlich.141 Bei Entscheidungen in Zusammenhang mit medizinisch indizierten Eingriffen stellt der Gesetzgeber die Autonomie der Betroffenen jedoch nicht grundsätzlich in Frage.

138

Müller-Terpitz, in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, 2. Aufl. 2014, § 1 ESchG, Rn. 7; Taupitz schlägt ein Reglement vor, wie es dem zur Lebendorganspende entspricht, vor, ders., in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Rn. 7. 139 Siehe dazu bereits im dritten Kapitel unter C. I. 3. b) aa). 140 Siehe dazu im zweiten Kapitel unter B. V. 141 Eine Verbindung zwischen fehlendem Nutzen und fehlender Freiwilligkeit eröffnet hingegen Beitz, in: Terbille / ​Clausen / ​Schroeder-Printzen (Hrsg.), Münchener Anwaltshandbuch Medizinrecht, 2. Aufl. 2013, § 13 Rn. 191.

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

Abgesehen davon, dass der Gesetzgeber sich nicht zum Richter über die subjektive Frage aufschwingen sollte, in welcher Konstellation ein körperlicher Eingriff persönlich sinnvoll ist und in welcher Konstellation nicht, stehen bei der Eizellspende auch keine Rechtsgüter in Frage, die in der Wertigkeit denen entsprechen, die bei einer Organspende oder der Teilnahme an Humanforschung gefährdet sind – insbesondere geht die Eizellspende nicht mit dem irreversiblen Verlust eines Körperteils einher. Selbst bei Annahme einer Gefährdungslage wäre das Verbot der Eizellspende in seiner Absolutheit jedoch nicht erforderlich. Wie bei der Organspende kommt es bei der Eizellspende auch zu einer überschaubaren Anzahl einzelner, medizinischer Behandlungen, in deren Rahmen eine gründliche Aufklärung und Freiwilligkeitsevaluation nicht nur praktisch umsetzbar, sondern auch deutlich selbst­ bestimmungsschonender wäre. Ein generalisierendes Verbot aller Eizellspenden zum Schutz defizitär Entscheidender würde daher selbst bei Annahme einer gewissen Gefährdungslage über das Ziel hinausschießen. Im Ergebnis kommt eine Rechtfertigung des Verbots der Eizellspende somit auch unter diesem Gesichtspunkt nicht in Betracht. Es vermag nicht zu überzeugen, weshalb etwa einer Frau, die ihrer infertilen Schwester oder Freundin eine Eizelle spenden möchte, eine solche Gabe zum Schutz vor der fernliegenden Gefahr defizitärer Entscheidungen seitens anderer Frauen verboten werden sollte. Die Autonomie der Spendeentscheidungen könnte durch ein gesetzlich ausgestaltetes Verfahren der Kontrolle von Aufklärung und Einwilligung milder und zugleich zielgerichteter geschützt werden.142 ee) Resümee: Keine verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Verbots der Eizellspende mit dem Schutz der Spenderinnen Da der Schutz der Spenderinnen die mit der Vorschrift einhergehenden Grundrechtseingriffe angesichts der ebenfalls von der Regelung erfassten, autonomen Spendeentscheidungen unter antipaternalistischen Gesichtspunkten nicht zu rechtfertigen vermag, kann auch dieser Begründungsstrang die Regelung nicht tragen.143

142

Siehe auch Müller-Terpitz, in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, 2. Aufl. 2014, § 1 ESchG, Rn. 7. 143 Gerade unter dem Aspekt der Fremdnützigkeit des Eingriffs halten Höfling / ​Engels die Regelung hingegen für legitim, dies., in: Prütting (Hrsg.), Medizinrecht, 4. Aufl. 2016, § 1 ESchG Rn. 10.

5. Kap.: Reproduktionsmedizinische Regelungen

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3. Resümee: Keine verfassungsrechtliche Rechtfertigung der freiheitsrechtlichen Beschränkungen Die mit dem Verbot der Eizellspende einhergehenden Eingriffe in Freiheitsrechte lassen sich im Ergebnis daher verfassungsrechtlich nicht rechtfertigen.144 Dies wiegt im Hinblick auf die Strafbewehrung des Verbots in § 1 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2, Abs. 2 ESchG besonders schwer.145 Weil drittschützende Aspekte wie die Bewahrung des Kindeswohls nicht durchzugreifen vermögen, scheint sich die Verbotsregelung vornehmlich auf den Schutz traditioneller Familienbilder und die Bevormundung der potentiellen Spenderinnen zu stützen. Derart moralistische und paternalistische Argumentationen sind in einem Rechtssystem, das auf gesellschaftlicher Pluralität146 und der zugunsten der Einzelnen geltenden Freiheitsvermutung basiert, jedoch ebenso abzulehnen147 wie in der Folge auch das strafbewehrte Verbot der Eizellspende.

IV. Verletzung von Gleichheitsrechten In Zusammenhang mit dem Verbot der Eizellspende wird neben den verletzten Freiheitsrechten der Spenderinnen, der Wunscheltern und der beteiligten Reproduktionsmedizinerinnen auch eine mit der Regelung einhergehende Verletzung von Gleichheitsrechten diskutiert. Da die heterologe Samenspende im Gegensatz zu der heterologen Eizellspende nach dem Embryonenschutzgesetz zulässig ist,148 liegt eine Verletzung des Verbots geschlechtsbezogener Diskriminierung (dazu unter 1.) nahe, ebenso wie – im Hinblick auf Adoption und die Spende anderen humanbiologischen Materials – eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes (dazu unter 2.).

144 Kritisch auch Hörnle, in: von Hirsch / ​Neumann / ​Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 111 (126 f.); Spranger, Recht und Bioethik, 2010, S. 355, 357 zu dem das Verbot heterologer Techniken betreffenden Urteil des österreichischen Verfassungsgerichtshofs. Taupitz hält die Regelung für verfassungsrechtlich „bedenklich“, ders., in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Rn. 7. Für die Verfassungskonformität der Regelung hingegen Höfling / ​Engels, in: Prütting (Hrsg.), Medizinrecht, 4. Aufl. 2016, § 1 ESchG Rn. 10; Lehmann, Die In-vitro-Fertilisation und ihre Folgen, 2007, S. 192. 145 Dazu auch Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Rn. 7. 146 Siehe auch Spranger, Recht und Bioethik, 2010, S. 355. 147 Auch Dethloff geht davon aus, dass ein Verbot reproduktionsmedizinischer Techniken nur auf legitime Interessen der Allgemeinheit oder Rechte Dritter gestützt werden könne, dies., Gleichgeschlechtliche Paare und Familiengründung durch Reproduktionsmedizin, 2016, S. 18. 148 Interessant ist insoweit auch, dass es eine Differenzierung zwischen den beiden heterologen Spendeformen lediglich in Deutschland und in Dänemark gibt, siehe Reinke, Fortpflanzungsfreiheit und das Verbot der Fremdeizellspende, 2008, S. 102 – in anderen Ländern sind beide Praktiken entweder zulässig oder untersagt.

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

1. Verletzung des Verbots geschlechtsbezogener Diskriminierung (Art. 3 Abs. 2 S. 1, Abs. 3 S. 1 Alt. 1 GG) Mit der Zulässigkeit der Samenspende und dem Verbot der Eizellspende steht eine Differenzierung in Frage, die Frauen und Männer unterschiedlich trifft, sodass eine geschlechtsbezogene Diskriminierung denkbar ist, vor der – positiv und negativ – Art. 3 Abs. 2 S. 1  GG bzw. Art. 3 Abs. 3 S. 1 Alt. 1  GG schützt. Die Regelungsgehalte von Art. 3 Abs. 2 S. 1 GG und Art. 3 Abs. 3 S. 1 Alt. 1 GG überschneiden sich.149 Sie sind leges speciales gegenüber dem allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG.150 a) Geschlechtsbezogene Ungleichbehandlung Für die Annahme einer geschlechtsbezogenen Diskriminierung bedarf es zunächst einer geschlechtsbezogenen Ungleichbehandlung. In der Literatur wird davon ausgegangen, dass es sich bei der Samen- und der Eizellspende um grundsätzlich vergleichbare Sachverhalte handelt, da bei einer Fortpflanzung mittels dieser Methoden jeweils ein genetischer Elternteil auch als sozialer Elternteil des Kindes fungiert, während der andere ein familienfremder Spender ist.151 Beide Konstel­ lationen betreffen die Spende von Keimzellen zur Überwindung von Sterilität152 und zur Familiengründung durch Alleinstehende oder homosexuelle Paare.153 Durch 149

Siehe dazu etwa Langenfeld, in: Maunz / ​Dürig (Hrsg.), GG, 81. Lfg. 2017, Art. 3 Abs. 2 Rn. 16 m. w. N. 150 Langenfeld, in: Maunz / ​Dürig (Hrsg.), GG, 81. Lfg. 2017, Art. 3 Abs. 2 Rn. 14; Art. 3 Abs. 3 Rn. 14. 151 Hieb, Die gespaltene Mutterschaft im Spiegel des deutschen Verfassungsrechts, 2005, S. 197; Lehmann, Die In-vitro-Fertilisation und ihre Folgen, 2007, S. 190. 152 Jofer, Regulierung der Reproduktionsmedizin, 2014, S. 306. 153 Zwar schließt die (Muster-)Richtlinie zur Durchführung der assistierten Reproduktion der Bundesärztekammer eine Samenspende zugunsten von Frauen, die alleinstehend sind oder in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft leben, ausdrücklich aus (DÄBl. 2006, A 1392 (A 1400)) und nennt als Indikation für die Samenspende allein männliche Fertilitätsstörungen und das Risiko schwerer Erberkrankungen (a. a. O., S. A 1394). Die heterologe Insemination von Frauen, die alleinstehend sind oder in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft leben, ist in Deutschland gesetzlich aber nicht untersagt (NRW LT-Drs. 15/4143, S. 1; siehe auch Dethloff, Gleichgeschlechtliche Paare und Familiengründung durch Reproduktionsmedizin, 2016, S. 17; Frommel et al., Journal für Reproduktionsmedizin und Endokrinologie 2010, 96): Weder das ESchG noch der insoweit einschlägige § 6 TPG-GewV eröffnen eine entsprechende Differenzierung. Die (Muster-)Richtlinie selbst stellt lediglich eine Empfehlung an die Landesärztekammern dar und entfaltet keine rechtliche Außenwirkung (NRW LT-Drs. 15/4143, S. 3; siehe zu den dennoch grundrechtsrelevanten Aspekten des mit der Richtlinie einhergehenden indirekten Ausschlusses Scholz / ​Pethke, in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, 2. Aufl. 2014, § 13 MBO Rn. 7). Soweit die (Muster-)Richtlinie allerdings in den Richtlinien der (meisten) Landesärztekammern umgesetzt ist, ist ihre berufsrechtliche Wirkung streitig. Problematisch bleibt zudem, dass § 6 Abs. 1 S. 1 TPG-GewV eine Samenspende allein bei „medizinischer Indikation“ vorsieht – und die Richtlinie des Bundesausschusses über ärztliche Maßnahmen zur künstlichen

5. Kap.: Reproduktionsmedizinische Regelungen

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die Strafbewehrung der Eizellspende werden Männer und Frauen deshalb sowohl hinsichtlich der Möglichkeit zur Spende als auch hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Fortpflanzungsmodalitäten ungleich behandelt.154 Diese Ungleichbehandlung knüpft kraft Natur der Sache auch an das Geschlecht der Betroffenen an. b) Rechtfertigung der Ungleichbehandlung Geschlechtsspezifische Differenzierungen sind zwar grundsätzlich unzulässig, lassen sich jedoch im Einzelfall rechtfertigen, „soweit sie zur Lösung von Problemen, die ihrer Natur nach nur entweder bei Männern oder bei Frauen auftreten können, zwingend erforderlich sind“.155 Fehlt es an derartigen Gründen, lässt sich die geschlechtsspezifische Differenzierung im Wege einer Abwägung mit kollidierendem Verfassungsrecht legitimieren.156 Zwingende Gründe für eine Ungleichbehandlung könnten sich vorliegend aus einer biologischen Unterschiedlichkeit der Keimzellen (dazu unter aa)), der unterschiedlichen Schwierigkeit der Keimzellgewinnung (dazu unter bb)), dem Unterschied zwischen gespaltener Mutterschaft und gespaltener Vaterschaft (dazu unter cc)) sowie aus rechtlichen Zuordnungsschwierigkeiten (dazu unter dd)) und weiteren Aspekten (dazu unter ee)) ergeben. aa) Biologische Unterschiedlichkeit der Keimzellen Die ungleiche Behandlung kann zunächst jedenfalls nicht auf einen naturbedingten Unterschied zwischen Samen- und Eizellen gestützt werden. Die Keimzellen sind biologisch vielmehr gleichwertig und -bedeutend.157 Auch sogenannte Quantitäts- oder Sichtbarkeitsargumente, die für die Zulässigkeit der Samenspende angeführt werden, können schon mangels biologischer Richtigkeit oder Relevanz nicht verfangen.158

Befruchtung von 2010 die Maßnahmen eindeutig auf verheiratete, heterosexuelle Personen beschränkt (https://www.g-ba.de/downloads/62-492-933/KB-RL_2014-08-21.pdf, zuletzt abgerufen am 1.3.2018). Die unklare Rechtslage führt zu einer Unsicherheit in der Praxis, in der lesbische Paare unter Umständen keinen Zugang zu Samenspenden erhalten, siehe dazu Dethloff, Gleichgeschlechtliche Paare und Familiengründung durch Reproduktionsmedizin, 2016, S. 17. 154 Jofer, Regulierung der Reproduktionsmedizin, 2014, S. 306; Reinke, Fortpflanzungsfreiheit und das Verbot der Fremdeizellspende, 2008, S. 105. 155 BVerfG 28.1.1992 – 1 BvR 1025/82 u. a. – BVerfGE 85, 191; siehe dazu im konkreten Zusammenhang auch Jofer, Regulierung der Reproduktionsmedizin, 2014, S. 307; Reinke, Fortpflanzungsfreiheit und das Verbot der Fremdeizellspende, 2008, S. 108. 156 BVerfG 24.1.1995 – 1 BvL 18/93 u. a. – BVerfGE 92, 91 (109). 157 Hieb, Die gespaltene Mutterschaft im Spiegel des deutschen Verfassungsrechts, 2005, S. 199; Jofer, Regulierung der Reproduktionsmedizin, 2014, S. 307. 158 Reinke, Fortpflanzungsfreiheit und das Verbot der Fremdeizellspende, 2008, S. 108 f.

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

bb) Unterschiedliche Schwierigkeit der Keimzellgewinnung Paternalismusnah wird die Diskussion um die Ungleichbehandlung von Eizellund Samenspende, soweit die unterschiedliche Eingriffstiefe der Behandlung, die für die Keimzellgewinnung erforderlich ist, als zwingender Rechtfertigungsgrund der Ungleichbehandlung angeführt wird: Während Samenzellen risikofrei durch Masturbation erlangt werden können, bedarf es für die Entnahme von Eizellen einer hormonellen Behandlung und eines chirurgischen Eingriffs, die beide mit gewissen körperlichen Risiken behaftet sind.159 Die hormonelle Behandlung kann zu einem sogenannten Überstimulationssyndrom und zu Eierstockkrebs führen; die invasive Entnahme begründet das Risiko von Verletzungen und Entzündungen.160 Die abweichende Risikobelastung der Keimzellgewinnung vermag die Ungleichbehandlung von Eizell- und Samenspende aber dennoch nicht zu rechtfertigen; ein solcher Ansatz ist vielmehr als paternalistisch abzulehnen: Denn die Regelungen der § 1 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2, Abs. 2 ESchG untersagen und pönalisieren auch die freiwillige Eizellspende. Soweit die mit dem Verbot einhergehende Ungleichbehandlung also darauf gründet, dass Frauen auch gegen ihren Willen vor den mit der Eizellentnahme einhergehenden Gefahren geschützt werden sollen, ist ein entsprechendes Argument im Namen der Selbstbestimmung der Frauen, die sich autonom zu einer Eizellspende entschließen, zurückzuweisen.161 Eine Rechtfertigung der Ungleichbehandlung unter diesem Aspekt wird in der Literatur auch aus weiteren Gründen abgelehnt: Insbesondere sei die mit der Keimzellgewinnung einhergehende Gefährdung nicht vom Schutzzweck der hetero­logen Eizellspende erfasst162 und stehe im Widerspruch zu der Zulässigkeit sowohl der homologen Eizellspende als auch der zur Samengewinnung erfolgenden Hodenpunktion im Rahmen einer ICSI-Behandlung, die mit vergleichbaren Risiken behaftet seien.163 Nur bei einer einheitlichen Regelung könne die Ungleichbehandlung 159 Beitz, in: Terbille / ​Clausen / ​Schroeder-Printzen (Hrsg.), Münchener Anwaltshandbuch Medizinrecht, 2. Aufl. 2013, § 13 Rn. 191; Höfling / ​Engels, in: Prütting (Hrsg.), Medizinrecht, 4. Aufl. 2016, § 1 ESchG Rn. 10; Reinke, Fortpflanzungsfreiheit und das Verbot der Fremd­ eizellspende, 2008, S. 109; Starck, Gutachten 56. DJT, Band I, 1986, A 37. 160 Beitz, in: Terbille / ​Clausen / ​Schroeder-Printzen (Hrsg.), Münchener Anwaltshandbuch Medizinrecht, 2. Aufl. 2013, § 13 Rn. 191; Reinke, Fortpflanzungsfreiheit und das Verbot der Fremdeizellspende, 2008, S. 109. Zu den Risiken einer Eizellentnahme, bei homologer wie heterologer IVF Ludwig / ​Ludwig, in: Diedrich / ​Ludwig / ​Griesinger (Hrsg.), Reproduktionsmedizin, 2013, S. 305 (306–312). 161 Zu dem Nichtdurchgreifen einer entsprechenden Argumentation wegen des selbstbestimmten Handelns der Frauen Hieb, Die gespaltene Mutterschaft im Spiegel des deutschen Verfassungsrechts, 2005, S. 200; Jofer, Regulierung der Reproduktionsmedizin, 2014, S. 307; bei entsprechender Aufklärung ebenso Dethloff, Gleichgeschlechtliche Paare und Familiengründung durch Reproduktionsmedizin, 2016, S. 19. Dagegen Reinke, der davon ausgeht, dass der Eigennutz der Frauen ein freiheits- und kein gleichheitsrechtlicher Aspekt sei, ders., Fortpflanzungsfreiheit und das Verbot der Fremdeizellspende, 2008, S. 110. 162 Reinke, Fortpflanzungsfreiheit und das Verbot der Fremdeizellspende, 2008, S. 109. 163 Reinke, Fortpflanzungsfreiheit und das Verbot der Fremdeizellspende, 2008, S. 110.

5. Kap.: Reproduktionsmedizinische Regelungen

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auf biologisch-funktionale Unterschiede gestützt werden.164 Eine Ungleichbehandlung auf Basis der divergierenden Schwierigkeiten bei der Keimzellgewinnung muss damit nicht nur aus antipaternalistischen, sondern bereits aus sachlichen Gründen ausscheiden. cc) Biologischer Unterschied zwischen gespaltener Mutterschaft und gespaltener Vaterschaft Das Argument der gespaltenen Mutterschaft wird auch als Rechtfertigung der Ungleichbehandlung von Samen- und Eizellspende herangezogen.165 So bestehe ein biologisch-funktionaler Unterschied zwischen gespaltener Vaterschaft und gespaltener Mutterschaft, da die Vaterschaft nur genetisch und sozial verschieden sein könne, während die Mutterschaft nach Eizellspende auch zwischen der austragenden und der genetischen Mutter gespalten werde.166 Dieser Umstand könne im Vergleich zur Samenspende zu weitgehenderen Identifikationsproblemen führen167 – zumal die Samenspende auch in der Natur vorkomme und anders als die Eizellspende nicht zwangsläufig der reproduktionsmedizinischen Unterstützung bedürfe:168 Schon immer sei der Ehemann oder Partner der gebärenden Frau nicht zwingend auch genetischer Vater des Kindes.169 Ferner sei die Mutter durch die Schwangerschaft körperlich intensiver an der Entstehung des Kindes beteiligt.170 Das Verbot der Eizellspende begründe deshalb keine Diskriminierung von Frauen, sondern berücksichtige lediglich die „symbiotische Mutter-Kind-Beziehung“.171 Gegen derartige Argumentationen wird jedoch vorgebracht, dass die Rückverweisung auf einen „Naturzustand“ in der heutigen, gerade auch im medizinischen Bereich durchtechnisierten Welt, nicht verfange.172 Zudem sei es willkürlich, eine 164

Reinke, Fortpflanzungsfreiheit und das Verbot der Fremdeizellspende, 2008, S. 111. So im Hinblick auf die zulässige heterologe Insemination und die verbotene Eizellspende auch der Österreichische VerfGH 14.10.1999 – G 91/98 u. a. – VfSlg. 15632/1999, 414 (437). 166 Höfling / ​Engels, in: Prütting (Hrsg.), Medizinrecht, 4. Aufl. 2016, § 1 ESchG Rn. 10; Reinke, Fortpflanzungsfreiheit und das Verbot der Fremdeizellspende, 2008, S. 111. Allerdings geht Reinke auch davon aus, dass dieser Unterschied – auch wenn es eine Vermutung dahingehend gebe, dass eine Spaltung zwischen genetischer und biologischer Mutterschaft dem Kindeswohl schade – nicht zwingend eine unterschiedliche Behandlung der beiden Spendeformen erfordere, a. a. O. Siehe auch Bundesminister für Forschung und Technologie (Hrsg.), Bericht der Arbeitsgruppe „In-vitro-Fertilisation, Genomanalyse und Gentherapie“, 1985, S. 18; Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Rn. 12. 167 Dazu auch der „Benda-Bericht“ Bundesminister für Forschung und Technologie (Hrsg.), Bericht der Arbeitsgruppe „In-vitro-Fertilisation, Genomanalyse und Gentherapie“, 1985, S. 18. 168 Lehmann, Die In-vitro-Fertilisation und ihre Folgen, 2007, S. 190. 169 Günther, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel B. Rn. 90. 170 Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Rn. 12. 171 Günther, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel B. Rn. 90. 172 Hieb, Die gespaltene Mutterschaft im Spiegel des deutschen Verfassungsrechts, 2005, S. 200 f. 165

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

Ungleichbehandlung an die Unnatürlichkeit der Spaltung anzuknüpfen: Denn es gebe keinen einleuchtenden Grund dafür, dass zwar der biologische und der soziale Vater voneinander abweichen dürften, nicht aber die genetische und die biologische Mutter.173 Die körperliche Beteiligung der sozialen Mutter an der Entstehung des Kindes durch die Schwangerschaft nach einer Eizellspende begründe zwar einen Unterschied, nicht aber einen Differenzierungsgrund:174 Denn diese körperliche Verbindung könne ebenso dafür streiten, dass die Eizellspende sogar weniger konfliktbehaftet ist als die Samenspende.175 Die unterschiedliche Handhabe sei vielmehr Ausdruck eines „Muttermythos“ und gründe darauf, dass die Unterscheidung zwischen genetischem und sozialem Vater naturgemäß gesellschaftlich viel etablierter sei.176 Im Ergebnis kann ein Unterschied zwischen gespaltener Mutterschaft und gespaltener Vaterschaft eine Ungleichbehandlung von Eizell- und Samenspende in der Tat nicht rechtfertigen. In beiden Fällen weichen die genetische und die soziale Elternschaft auf identische Art und Weise voneinander ab.177 Zwar besteht bei der Eizellspende anders als bei der Samenspende eine Spaltung zwischen austragender und genetischer Mutter. Dieser Unterschied stellt jedoch keinen sachlichen Grund für eine Ungleichbehandlung dar: Aspekte eines traditionellen Mutterbildes oder einer gesellschaftlichen Etablierung der gespaltenen Vaterschaft sind aus antimoralistischer Perspektive als Argument für eine Freiheitseinschränkung abzulehnen. Allein die Tatsache, dass Samenspenden auch auf natürlichem Wege erfolgen können und insofern eine größere gesellschaftliche Gewöhnung an das Konzept der Samenspende besteht, führt nicht zur Notwendigkeit einer Ungleichbehandlung der beiden technisierten Spendeverfahren, so wie sie vom Embryonenschutz­gesetz derzeit ausgeht: Es ist willkürlich, die Zulässigkeit der jeweiligen, künstlichen Befruchtungsmethode von der Möglichkeit einer Umsetzung der Spende auch auf natürlichem Wege abhängig zu machen. Auch die Annahme besonderer Gefahren für das Kind bei gespaltener Mutterschaft ist, wie bereits dargelegt,178 abzulehnen: Unabhängig von der Widersprüchlichkeit des Arguments im Hinblick auf einen Schutz des Kindes durch Verhinderung seiner Entstehung, gibt keinen Beleg einer Kindeswohlgefährdung oder einer erhöhten Gefahr von Identifikationsschwierigkeiten bei gespaltener Mutterschaft im Verhältnis zu gespaltener Vaterschaft.179 Vielmehr teilen Wunschmutter und 173

Spranger, Recht und Bioethik, 2010, S. 353. So auch Coester-Waltjen, Gutachten 56. DJT, Band I, 1986, B 110 f. 175 Hieb, Die gespaltene Mutterschaft im Spiegel des deutschen Verfassungsrechts, 2005, S. 200. 176 Schumann, MedR 2014, 736 (739). 177 Siehe dazu auch Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Rn. 12. 178 Siehe dazu soeben unter A. III. 2. a) aa). 179 Siehe etwa Jofer, Regulierung der Reproduktionsmedizin, 2014, S. 308; Müller-Terpitz, in: Frister / ​Olzen (Hrsg.), Reproduktionsmedizin, 2010, S. 9 (21); Schumann, MedR 2014, 736 174

5. Kap.: Reproduktionsmedizinische Regelungen

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Kind bei der Eizellspende bereits das gemeinsame Erlebnis der Schwangerschaft, so dass schon vor der Geburt eine Bindung aufgebaut werden kann.180 Ein Unterschied zwischen gespaltener Vaterschaft und gespaltener Mutterschaft kann daher nicht legitimieren, dass Frauen, die infertil sind, alleinstehend oder in einer homosexuellen Partnerschaft leben, eine medizinisch unproblematisch mögliche Fortpflanzungstechnik vorenthalten wird. Die Ungleichbehandlung von Eizell- und Samenspende kann unter diesem Gesichtspunkt nicht gerechtfertigt werden.181 dd) Rechtliche Zuordnungsschwierigkeiten Auch auf rechtliche Zuordnungsschwierigkeiten kann sich eine Differenzierung nicht stützen: Denn wie bei der Samenspende ist auch bei der Eizellspende die gebärende Wunschmutter rechtlich gemäß § 1591 BGB Mutter des derart gezeugten Kindes.182 Die mit der Eizellspende einhergehende Abweichung zwischen genetischer und familienrechtlicher Elternschaft ist dem deutschen Recht alles andere fremd; vielmehr knüpft das BGB Elternschaft – nicht nur bei der zulässigen Samenspende, sondern grundsätzlich – nicht an Genetik an, wie die Regelung des § 1592 BGB eindrucksvoll demonstriert.183 ee) Weitere Argumente Auch andere, mitunter angeführte Differenzierungsargumente vermögen nicht zu verfangen. So wird zur Begründung der Ungleichbehandlung von Eizell- und Samenspende etwa auch vorgebracht, dass die Samenspende auch durch jeden Laien durchgeführt werden könne, so dass sie sich praktisch nicht einschränken und kontrollieren ließe.184 Dieser Argumentation wurde jedoch mit Recht entgegengehalten, dass in ihrer konsequenten Fortführung jedes Delikt mit einer gewissen Dunkelziffer straffrei gestellt werden müsste.185 Allein die faktische Prävalenz eines (738); Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Rn. 12. 180 Jofer, Regulierung der Reproduktionsmedizin, 2014, S. 308. 181 Im Ergebnis so auch Schewe, FamRZ 2014, 90 (92 f.); einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz in Folge des identischen genetischen Hintergrunds wie bei der Samenspende bejaht auch Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Rn. 12. 182 Hieb, Die gespaltene Mutterschaft im Spiegel des deutschen Verfassungsrechts, 2005, S. 199. 183 Siehe dazu bereits unter A. III. 2. b) cc). 184 Günther, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel B. Rn. 90. Ebenso spricht laut dem Österreichischen Verfassungsgerichtshof für eine Zulassung der heterologen Insemination bei gleichzeitigem Verbot der Durchführung einer heterologen IVF, dass erstere „seit längerer Zeit schon praktiziert“ werde und „der natürlichen Methode am nächsten“ komme, Österreichischer VerfGH 14.10.1999 – G 91/98 u. a. – VfSlg. 15632/1999, 414 (436). 185 Spranger, Recht und Bioethik, 2010, S. 354.

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

Vorgehens kann seine Zulässigkeit aber nicht begründen. Ein derartiges Argument könnte zudem ohnehin allein für die Zulässigkeit der Samenspende streiten und nicht für die Unzulässigkeit der Eizellspende.186 Selbst bei einer unterstellten Gefahr der Kommerzialisierung der Eizellspende im Falle ihrer Zulassung187 beruht auch diese nicht auf einem objektiv-biologischen Unterschied zur Samenspende und vermag inhaltlich nicht zu überzeugen: Weder ist ein Zusammenhang zwischen Kommerzialisierung und Eizellspende besonders naheliegend, noch könnte einer solchen Gefahr nicht mit einem Kommerzialisierungsverbot unproblematisch und zielführender entgegengewirkt werden. c) Resümee: Verletzung des Verbots geschlechtsbezogener Diskriminierung Das Verbot der Eizellspende ist im Ergebnis daher nicht, wie es das Bundesverfassungsgericht fordert, „zur Lösung von Problemen, die ihrer Natur nach nur entweder bei Männern oder bei Frauen auftreten können, zwingend erforderlich“.188 Auch eine Rechtfertigung der Ungleichbehandlung durch kollidierendes Verfassungsrecht kommt nicht in Betracht – wie bereits dargelegt können weder der Schutz des Kindes noch der Schutz der Gesellschaft oder der spendenden Frau die mit dem Verbot der Eizellspende einhergehenden Freiheitsbeeinträchtigungen rechtfertigen.189 Da Männer ihre Infertilität durch eine Samenspende überwinden oder selbst als Samenspender fungieren können, während Frauen beides durch die Regelungen in § 1 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2, Abs. 2 ESchG unmöglich gemacht wird, ohne dass diese geschlechtsspezifische Ungleichbehandlung durch zwingende Gründe zu rechtfertigen ist, begründet die Regelung einen Verstoß gegen das Verbot geschlechtsbezogener Diskriminierung aus Art. 3 Abs. 2 S. 1 bzw. Abs. 3 S. 1 Alt.  1 GG.190 Auch wenn zur Fortpflanzung in diesen Fällen neben der Eizell­ spende zusätzlich eine austragende Frau erforderlich ist, trifft die von dem Verbot 186

So im Ergebnis in der Folge auch Günther, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel B. Rn. 90. 187 So Beitz, in: Terbille / ​Clausen / ​Schroeder-Printzen (Hrsg.), Münchener Anwaltshandbuch Medizinrecht, 2. Aufl. 2013, § 13 Rn. 191. 188 BVerfG 28.1.1992 – 1 BvR 1025/82 u. a. – BVerfGE 85, 191; siehe dazu im konkreten Zusammenhang auch Jofer, Regulierung der Reproduktionsmedizin, 2014, S. 307; Reinke, Fortpflanzungsfreiheit und das Verbot der Fremdeizellspende, 2008, S. 108. 189 Siehe dazu bereits unter A. III. 2. 190 So unter anderem ausdrücklich auch Jofer, Regulierung der Reproduktionsmedizin, 2014, S. 308; Schewe, FamRZ 2014, 90 (93); kritisch auch Müller-Terpitz, Das Recht der Biomedizin, 2006, S. 49; ders., in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, 2. Aufl. 2014, § 1 ESchG Rn. 7. Auch Wellenhofer geht in abstammungsrechtlichem Zusammenhang davon aus, dass die gesetzliche Ungleichbehandlung von Mutterschaft und Vaterschaft nicht zu rechtfertigen ist, MüKo / ​Wellenhofer, BGB, 7. Aufl. 2017, § 1591 Rn. 43. Gegen die Annahme eines gleichheitsgrundrechtlichen Verstoßes hingegen Höfling / ​Engels, in: Prütting (Hrsg.), Medizinrecht, 4. Aufl. 2016, § 1 ESchG Rn. 10.

5. Kap.: Reproduktionsmedizinische Regelungen

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der Eizell­spende ausgehende Diskriminierung auch Männer, die in homosexuellen Beziehungen leben oder alleinstehend sind und die von einer Gametenspende anders als Frauen, die in homosexuellen Beziehungen leben oder alleinstehend sind und eine Samenspende begehren,191 bereits gesetzlich ausgeschlossen werden. In seinem Urteil zum österreichischen Fortpflanzungsmedizingesetz, das Samen- und Eizellspenden im Rahmen einer IVF untersagt, betonte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass zumindest „die Regelung einer solchen Behandlung in sich kohärent sein“ müsse.192 Genau dies ist nach dem Dargelegten im Hinblick auf die verbotene Eizellspende und die zulässige Samenspende im Embryonenschutzgesetz nicht der Fall.193 2. Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) Hinsichtlich der Zulässigkeit der Samenspende wird ein Rückgriff auf den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht durch die soeben diskutierte, mit dem Verbot der Eizellspende einhergehende geschlechtsbezogene Differenzierung gesperrt.194 Eine von dem Verbot der Eizellspende ausgehende Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes wird jedoch hinsichtlich der Zulässigkeit der Adoption diskutiert, da beide Verfahren eine gespaltene Mutterschaft begründen. Insofern kann jedenfalls die „Natürlichkeit“ der Fortpflanzung im Vorfeld der Adoption – anders als mitunter in der Literatur angenommen195 – kein Anknüpfungspunkt einer unterschiedlichen Behandlung sein: Eine unter antimoralistischen Gesichtspunkten zweifelhafte Zuordnung zu „Natürlichkeit“ und „Unnatürlichkeit“ kann ein strafbewehrtes Verbot nicht begründen. Das gilt auch für den Umstand, dass an einer Eizellspende – anders als bei einer natürlichen Zeugung – naturgemäß Dritte, insbesondere Ärztinnen, beteiligt sein müssen und sich das Verbot der Eizellspende nur an diese Dritten richtet.196 Denn nach vorliegend vertretener Auffassung kann die rechtliche und ethische Bewertung eines Verhal 191

Siehe zu der insoweit schwierigen Rechtslage bereits in Fn. 153. EGMR 3.11.2011 (GK) – 57813/00 – NJW 2012, 207 [„S. H. et al. gegen Österreich“]. 193 Auch der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestags ist in einer Auseinandersetzung mit dem Urteil des EGMR davon ausgegangen, dass „[v]ergleichbare Widersprüche, die im Wesentlichen auf moralischem Dissens […] beruhen […], auch dem deutschen ESchG inhärent [sind].“, BT-Drs. 17/3759, S. 128. 194 Zum Vorrang der speziellen Gleichheitssätze BVerfG 22.1.1959 – 1 BvR 154/55 – BVerfGE 9, 124 (128); siehe auch etwa Langenfeld, in: Maunz / ​Dürig (Hrsg.), GG, 81. Lfg. 2017, Art. 3 Abs. 2 Rn. 14; Art. 3 Abs. 3 Rn. 14. 195 Jofer, Regulierung der Reproduktionsmedizin, 2014, S. 312; in anderem Zusammenhang ähnlich auch Lehmann, die davon ausgeht, dass ein vorsorglicher Eingriff des Gesetzgebers in die künstliche Fortpflanzung anders als bei natürlicher Zeugung zulässig ist, da der Intimbereich des Paares in diesem Rahmen verlassen wird, dies., Die In-vitro-Fertilisation und ihre Folgen, 2007, S. 169. 196 Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Rn. 9. 192

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

tens nicht danach unterschieden werden, ob die Betroffene selbst handelt oder ob sich – gar weil es kraft Natur der Sache erforderlich ist – nach Einwilligung Dritte an dem jeweiligen Verhalten beteiligen.197 Die Intimität und Schutzwürdigkeit der Fortpflanzung wird durch die (notwendige) Hinzuziehung Dritter bei Infertilität nicht berührt. Die Annahme einer Vergleichbarkeit von Adoption und Eizellspende ist indes tatsächlich zweifelhaft: Zwar werden beide Praktiken (auch) zur Überwindung von Kinderlosigkeit angewandt198 – bei der Adoption wird jedoch im Unterschied zur Eizellspende die Versorgung eines Kindes übernommen, das bereits am Leben ist und kein „neues“ Kind gezeugt.199 Ferner steht bei der Zeugung eines später adoptierten Kindes nicht zwangsläufig von vornherein fest, dass das Kind nicht von seinen genetischen Eltern großgezogen wird.200 Zudem unterscheiden sich die Folgen unterbleibender Adoption deutlich von denen einer unterbleibenden Eizellspende: Während im ersten Fall ein Kind keine elterliche Versorgung erfährt, kommt es im zweiten Fall gar nicht erst zur Entstehung eines Kindes.201 Auch der Österreichische Verfassungsgerichthof hat hervorgehoben, dass durch die Adoption im Unterschied zur Keimzellspende keine „ungewöhnlichen biologischen Verhältnisse“, sondern allein neue rechtliche Verhältnisse auf Grundlage faktischer sozialer Umstände geschaffen würden.202 Unabhängig von der moralischen Bewertung der verschiedenen Modelle („ungewöhnliche Verhältnisse“)203 basiert die Regulierung der Adoption in der Tat auf völlig anderen Aspekten als die der Eizellspende: Während erstere durch die Notwendigkeit einer Versorgung von bereits lebenden Kindern motiviert ist, die ihre Eltern nicht gewährleisten können oder wollen, liegt der Eizellspende der Wunsch eigener, zukünftiger Fortpflanzung zugrunde. Auch wenn gewisse Auswirkungen, wie etwa die Spaltung sozialer und genetischer Elternschaft, parallel verlaufen, handelt es sich bei den zugrundliegenden Ausgangskonstellationen nicht um vergleichbare Sachverhalte im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG. Anders stellt sich dies jedoch im Verhältnis zu Blut und Organen dar, die im Unterschied zu Eizellen grundsätzlich gespendet werden dürfen: Insofern wird die Verfügung über eigenes humanbiologisches Material ungleich behandelt.204 Die für eine Eizellspende erforderliche invasive Prozedur kann diese Ungleichbe 197

Siehe dazu bereits im zweiten Kapitel unter B. III. 2. e). Schumann, MedR 2014, 736 (739). 199 Schumann, MedR 2014, 736 (739); Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Rn. 9. 200 Jofer, Regulierung der Reproduktionsmedizin, 2014, S. 312. 201 Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Rn. 9. 202 Österreichischer VerfGH 14.10.1999 – G 91/98 u. a. – VfSlg. 15632/1999, 414 (438). 203 Kritisch zu diesem Aspekt des Urteils Spranger, in: Menzel / ​Pierlings / ​Hoffmann (Hrsg.), Völkerrechtsprechung, 2005, S. 211 (216). 204 Reinke, Fortpflanzungsfreiheit und das Verbot der Fremdeizellspende, 2008, S. 129. 198

5. Kap.: Reproduktionsmedizinische Regelungen

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handlung – unabhängig von antipaternalistischen Aspekten – bereits sachlich nicht rechtfertigen: Denn gerade die Lebendorganspende ist deutlich eingriffsintensiver und risikobehafteter als die Eizellspende.205 Da es zudem keinen in diesem Zusammenhang bedeutsamen zellbiologischen Unterschied zwischen den Materialien gibt und die Behandlungen in allen Fällen dem Ausgleich körperlicher Erkrankungen dienen – etwa in Form von mangelnden Organfunktionen oder von Infertilität –, kommt eine Rechtfertigung der Ungleichbehandlung auch unter diesen Gesichtspunkten nicht in Betracht.206 Insbesondere jedoch soll nach vorliegend vertretener Auffassung jeder Mensch auf Basis einer aufgeklärten Einwilligung frei über seine körperliche Integrität verfügen können. Ein sachlicher Grund für die im Hinblick auf Eizellen bestehende Eingrenzung dieser Verfügungsbefugnis ist nicht ersichtlich; eine entsprechende Ungleichbehandlung verletzt somit auch den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG.

V. Resümee: Verfassungswidrigkeit des Verbots der Eizellspende Das Verbot der Eizellspende begründet – sowohl im Hinblick auf die zulässige Samenspende als auch im Hinblick auf die Verfügungsbefugnis über andere Zellen und Organe – nicht nur eine nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung. Es greift durch die mit ihm einhergehende Verkürzung der bestehenden Fortpflanzungs- und Handlungsmöglichkeiten auch in die Freiheitsrechte der betroffenen Wunscheltern, der beteiligten Reproduktionsmedizinerinnen und der potentiellen Spenderinnen ein. Die Gründe, auf die diese Eingriffe regelmäßig gestützt werden, vermögen bei näherer Betrachtung – so wie der Schutz des Kindeswohls – in der Sache nicht zu tragen oder sind – so wie der Schutz vor gespaltener Mutterschaft oder der Schutz des Gemeinwohls  – moralistischer Natur. Auch der paternalistische Schutz der Spenderinnen vor körperlichen Beeinträchtigungen kann als Rechtfertigung des mit der Regelung einhergehenden Grundrechtseingriffs in Anbetracht des notwendigen Respekts vor der Selbstbestimmung der Frauen keine legitimierende Wirkung entfalten. Da die Beeinträchtigung grundrechtlich geschützter Freiheiten weder auf Grundlage moralistischer Vorstellungen von Mutterschaft und Natürlichkeit noch durch den paternalistischen Schutz der Spenderinnen gegen ihren Willen gerechtfertigt werden kann, ist das sich aus § 1 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2, Abs. 2 ESchG ergebende Verbot der Eizellspende als verfassungswidrig abzulehnen.207 205

Reinke, Fortpflanzungsfreiheit und das Verbot der Fremdeizellspende, 2008, S. 130. Reinke, Fortpflanzungsfreiheit und das Verbot der Fremdeizellspende, 2008, S. 132. 207 Müller-Terpitz geht davon aus, dass das Verbot der Eizellspende auf „verfassungsrechtlich dünnem Eis“ steht, ders., in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, 2. Aufl. 2014, § 1 ESchG, Rn. 7. Zur Verfassungswidrigkeit in Anbetracht der Verletzung des Verbots geschlechtsbezogener Diskriminierung auch Reinke, Fortpflanzungsfreiheit und das Verbot der Fremdeizellspende, 2008, S. 114. 206

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

Mögliche grundrechtsrelevante Konflikte, die sich bei einer Zulassung von Eizellspenden  – insbesondere im Hinblick auf den Schutz des Rechts der Kinder auf Kenntnis ihrer eigenen Abstammung oder eine Kommerzialisierung der Spenden208 – ergeben können, stehen diesem Ergebnis nicht entgegen. Vielmehr streiten die im Rahmen der Rechtfertigung des Verbots diskutierten Aspekte wie der Schutz der Kinder und der Spenderinnen für eine Zulassung der Eizellspende: Nur eine Regulierung kann eine hinreichende Aufklärung und Information sowie Dokumentation im Sinne des Wohls der Beteiligten und der Kinder gewährleisten.

B. Das Verbot der Leihmutterschaft (§ 1 Abs. 1 Nr. 7 ESchG) Gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 7 ESchG wird bestraft, wer es unternimmt, bei einer Frau, welche bereit ist, ihr Kind nach der Geburt Dritten auf Dauer zu überlassen, eine künstliche Befruchtung durchzuführen oder auf sie einen menschlichen Embryo zu übertragen. Die Regelung begründet das Verbot der reproduktionsmedizinischen Herbeiführung einer sog. Leihmutterschaft, bei der ein Kind durch eine Frau ausgetragen wird, die sich bereits vor dem Beginn ihrer Schwangerschaft dazu verpflichtet, das Kind nach der Geburt an Dritte zu übergeben und es von ihnen großziehen zu lassen.209

I. Medizinischer Ausgangspunkt und Terminologie Eine Leihmutterschaft kommt grundsätzlich in Betracht, wenn ein Kinderwunsch besteht, die Wunschmutter aber entweder eine Schwangerschaft nicht austragen möchte oder aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage dazu ist210 – etwa nach einer operativen Entfernung der Gebärmutter im Rahmen einer Krebsbehandlung oder wegen einer anderen Erkrankung, in Folge derer eine Schwangerschaft eine schwere Gesundheitsgefährdung begründen würde211 – oder aber zur Verwirklichung des Kinderwunsches eines männlichen, homosexuellen Paars oder eines alleinstehenden Mannes. Der Terminus „Leihmutterschaft“ wird im Folgenden als Oberbegriff für all jene Konstellationen verwendet, in denen Frauen Kinder austragen, denen sie nach der Geburt sozial nicht als Mütter zugeordnet werden 208

So geht etwa Coester-Waltjen davon aus, dass die Eizellspende grundsätzlich zulässig, nicht jedoch anonym und kommerzialisiert stattfinden können sollte, dies., Gutachten 56. DJT, Band I, 1986, B 111, 126; für ein Anonymitätsverbot auch Starck, Gutachten 56. DJT, Band I, 1986, A 38, 56. 209 So  – mit anderer Terminologie  – die Definition des Gesetzentwurfs zum ESchG, BTDrs. 11/5460 S. 15. 210 Jofer, Regulierung der Reproduktionsmedizin, 2014, S. 293. 211 Siehe dazu Depenbusch / ​Schultze-Mosgau, in: Diedrich / ​Ludwig / ​Griesinger (Hrsg.), Reproduktionsmedizin, 2013, S. 297 (298).

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sollen.212 Eine einheitliche Verwendung der Begriffe gibt es in diesem Bereich zwar nicht:213 Der Ausdruck „Leihmutterschaft“ taucht in der öffentlichen Debatte jedoch am häufigsten auf und deckt – anders als die ebenfalls verwendeten, spezifischeren Begriffe „Tragemutterschaft“ und „Ersatzmutterschaft“ – seiner wörtlichen Bedeutung nach alle Formen der Übernahme einer Schwangerschaft für eine andere Frau ab. Zwar verwenden das Embryonenschutzgesetz und das Adoptionsvermittlungsgesetz (AdVermiG) selbst den Begriff der „Ersatzmutterschaft“ als Oberbegriff214 – mangels Einheitlichkeit und genauer Passform soll sich vorliegend gleichwohl von dieser Terminologie gelöst werden. Leihmutterschaft findet in verschiedenen Varianten statt: In der klassischen Erscheinungsform, die bereits seit Jahrtausenden praktiziert wird und etwa bereits im Alten Testament Erwähnung findet,215 ist die austragende Leihmutter auch die genetische Mutter des Kindes. Da in diesen Fällen die Leihmutter sowohl die biologische als auch die genetische Mutter des entstehenden Kindes vollständig „ersetzt“, soll diese Form der Leihmutterschaft im Folgenden als „Ersatzmutterschaft“ bezeichnet werden, soweit eine Abgrenzung erforderlich ist.216 Ein Kind, das im Wege der Ersatzmutterschaft ausgetragen wird, kann auf natürliche Weise sowie in vivo oder in vitro mit reproduktionsmedizinischer Unterstützung gezeugt werden. Regelmäßig praktiziert wird ferner jene Form der Leihmutterschaft, bei der beide Wunscheltern auch die genetischen Eltern des entstehenden Kindes sind. Dabei kommt es in vivo oder in vitro zu der Befruchtung einer Eizelle der Wunschmutter mit dem Samen des Wunschvaters und einer Implantation des Embryos in den Uterus der Leihmutter, die in dieser Konstellation im Folgenden als „Tragemutter“ bezeichnet werden soll, soweit eine Unterscheidung von Bedeutung ist.217 Anders als bei der Ersatzmutterschaft besteht die einzige Aufgabe der Tragemutter im Austragen des Kindes.

212 So etwa auch Bleisch, JWE 2012 (17), S. 5 (7); Depenbusch / ​Schultze-Mosgau, in: Diedrich / ​Ludwig / ​Griesinger (Hrsg.), Reproduktionsmedizin, 2013, S.  297–301; Dethloff, JZ 2014, 922 (923); Diefenbach, Leihmutterschaft, 1990, S. 16 f. 213 Zu den völlig uneinheitlich verwendeten, verschiedenen Begriffen und der Kritik an ihnen Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 7 Rn. 6. 214 Die Verwendung erfolgt jedoch auch insoweit nicht einheitlich, als das AdVermiG den Begriff anders definiert als das ESchG, vgl. Jofer, Regulierung der Reproduktionsmedizin, 2014, S. 294, die den Begriff „Ersatzmutter“ auch selbst als Oberbegriff verwendet, a. a. O., S. 294 f. 215 Abraham und Sarah bekommen ein Kind durch die Magd Hagar (1. Mose 16, 1–4); Jakob und Rahel durch die Magd Bilha (1. Mose 30, 1–8). 216 Diese Terminologie verwendet auch der 56. DJT, vgl. 56. Deutscher Juristentag: Die Beschlüsse, NJW 1986, 3069 (3070) sowie Dethloff, JZ 2014, 922 (923). 217 Dieselbe Terminologie verwendet auch der 56, DJT, vgl. 56. Deutscher Juristentag: Die Beschlüsse, NJW 1986, 3069 (3070) sowie Diefenbach, Leihmutterschaft, 1990, S. 16 f. Die Gesetzesbegründung spricht in diesen Fällen von „Ammenmutterschaft“, BT-Drs.  11/5460, S. 15.

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

Die Leihmutterschaft kann bei Infertilität eines Wunschelternteils mit einer Samenspende oder einer Eizellspende kombiniert werden. Bei beidseitiger Infertilität kann das Kind auch durch zwei gespendete Keimzellen gezeugt werden und sodann einer Leihmutter zum Austragen eingesetzt werden. Mit einer 37-prozentigen Geburtenrate je Transfer und einer Fehlbildungsrate, die der bei der homologen IVF entspricht, ist die Leihmutterschaft eine sichere und effektive reproduktionsmedizinische Methode.218

II. Inhalt und Ausrichtung der gesetzlichen Regelung § 1 Abs. 1 Nr. 7 ESchG verbietet die Herbeiführung einer Schwangerschaft bei einer Frau, die bereit ist, ihr Kind nach der Geburt Dritten auf Dauer zu überlassen und richtet sich damit vornehmlich an Ärztinnen und Wissenschaftlerinnen, die die entsprechenden fortpflanzungsmedizinischen Maßnahmen durchführen.219 Von der Regelung erfasst sind sowohl die künstliche Befruchtung der Leihmutter (Alt. 1), die nach der vorliegend verwendeten Terminologie dann als Ersatzmutter zu bezeichnen wäre, als auch die Übertragung eines Embryos auf die Leihmutter (Alt. 2), die nach der vorliegend verwendeten Terminologie zu einer Tragemutterschaft führen würde.220 Nach der Vorschrift bestraft wird, wer es unternimmt, alle genannten Varianten der Leihmutterschaft herbeizuführen – in vitro oder in vivo, heterolog oder homolog.221 Die reproduktionsmedizinische Herbeiführung einer Tragemutterschaft wird im Vorfeld auch bereits durch die Regelungen der § 1 Abs. 1 Nr. 1, 2 und Abs. 2 ESchG erfasst, nach denen die Befruchtung und Übertragung von Eizellen strafbewehrt ist, soweit mit diesen keine Schwangerschaft bei der Frau herbeigeführt werden soll, von der die Eizelle stammt.222 Ferner kann das Verbot der Embryospende in § 1 Abs. 1 Nr. 6 ESchG, nach welchem ein Embryo nicht entnommen werden darf, um ihn auf eine andere Frau zu übertragen, eine Teilhandlung der Herbeiführung einer Tragemutterschaft erfassen, die somit in allen Stadien strafbewehrt untersagt ist. Wie auch bei der Eizellspende sind nach § 1 Abs. 3 Nr. 1 und 2 ESchG die Leihmütter und die Wunscheltern von der Bestrafung ausgenommen. Die Strafausschließung beruht laut Gesetzentwurf darauf, dass die Leihmütter selbst im Voraus häufig nicht vorhersehen könnten, in welche 218 Depenbusch / ​Schultze-Mosgau, in: Diedrich / ​Ludwig / ​Griesinger (Hrsg.), Reproduktionsmedizin, 2013, S. 297 (298). 219 Vgl. Günther, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. Vor § 1 Rn. 21. 220 Zu den Varianten in anderer Terminologie auch BT-Drs. 11/5460 S. 9; Taupitz, in: Günther / ​ Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 7 Rn. 1. 221 BT-Drs. 11/5460, S. 16. 222 Ausweislich der Gesetzesbegründung soll die Regelung des § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG, nach dem eine Eizelle nicht zu einem anderen Zweck künstlich befruchtet werden darf, als eine Schwangerschaft der Frau herbeizuführen, von der die Eizelle stammt, explizit die Übertragung eines fremden Embryos im Rahmen einer Tragemutterschaft erfassen. Der Gesetzentwurf selbst bezeichnet diese Konstellation als Ammenmutterschaft, BT-Drs. 11/5460 S. 8.

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Konfliktsituationen sie die Übernahme der Schwangerschaft bringen könnte, wenn sie eine starke Bindung zu dem Kind aufbauen.223 Die behandelnden Ärztinnen und Wissenschaftlicherinnen seien als Fachleute hingegen dazu in der Lage, die Folgen zu überblicken.224 Inhaltlich stützt sich das vom Embryonenschutzgesetz ausgehende Verbot der Leihmutterschaft in einem Gleichlauf zum Verbot der Eizellspende auf den Schutz des von einer Leihmutter auf die Welt gebrachten Kindes,225 den Schutz der Gesellschaft226 und den Schutz der Leihmutter.227 Insofern die Vorschrift auch freiwillig handelnden Frauen die Übernahme einer Leihmutterschaft zu ihrem eigenen Schutz untersagt, verleiht der Schutz der Leihmutter der Regelung eine stark paternalistische Komponente. Wie auch die Eizellspende wirkt das Verbot der Leihmutterschaft daher auf Verhaltensebene direkt paternalistisch – und auf Sanktionsebene, die sich ausschließlich an die behandelnden Reproduktionsmedizinerinnen richtet, indirekt paternalistisch. Die Leihmutterschaft als solche bleibt somit zwar straflos228  – dies gilt auch umfassend, soweit sie ohne Beteiligung Dritter erfolgt.229 In jedem Fall begegnet die Beteiligung an einer Leihmutterschaftsvereinbarung jedoch auf anderen Ebenen rechtlichen Problemen:230 So sind Leihmutterschaftsverträge wohl sittenwidrig und damit gemäß § 138 Abs. 1 BGB nichtig;231 ferner entwickeln auch Vereinbarungen zur Adoptionsfreigabe vor der Geburt keine Bindungswirkung.232 Insbesondere sieht zudem das Adoptionsvermittlungsgesetz restriktive Regelungen vor, die die Leihmutterschaft direkt betreffen:233 So ist das Zusammenführen von „Bestelleltern“, die das aus einer Ersatzmutterschaft entstandene Kind annehmen 223

BT-Drs. 11/5460, S. 9. BT-Drs. 11/5460, S. 9. 225 Siehe dazu im Folgenden unter B. IV. 1. 226 Siehe dazu im Folgenden unter B. IV. 2. 227 Siehe dazu im Folgenden unter B. IV. 3. 228 Außerhalb der Strafbarkeit der Ärzte und Wissenschaftler geht Günther davon aus, dass auch eine Beihilfe möglich ist – etwa durch eine Freundin, die der Ersatzmutter Beistand während der Schwangerschaft zusagt, ders., in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. Vor § 1 Rn. 28. 229 Hörnle, in: Joerden / ​Hilgendorf / ​Thiele (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, 2013, S. 743; Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 7 Rn. 3. 230 Kritisch zu der „Zersplitterung der strafrechtlichen Sanktionsnormen“ Günther, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel B. Rn. 63. 231 Vor dem Inkrafttreten des ESchG wurden Leihmutterschaftsvereinbarungen etwa durch das OLG Hamm und das LG Freiburg für sittenwidrig befunden, vgl. OLG Hamm 2.12.1985 – 11 W 18/85 – NJW 1986, 781–784 und LG Freiburg (Breisgau) 25.3.1987 – 8 O 556/86 – NJW 1987, 1486 (1488). Siehe dazu auch Deutsch / ​Spickhoff, Medizinrecht, 7. Aufl. 2014, Rn. 1101; Hörnle, in: Joerden / ​Hilgendorf / ​Thiele (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, 2013, S. 743 (743 f.). 232 Deutsch / ​Spickhoff, Medizinrecht, 7. Aufl. 2014, Rn. 1101. 233 Siehe dazu Hörnle, in: Joerden / ​Hilgendorf / ​Thiele (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, 2013, S. 743 (743 f.). 224

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

oder in sonstiger Weise auf Dauer bei sich aufnehmen wollen, mit einer Frau, die zur Übernahme einer Ersatzmutterschaft bereit ist (§ 13b AdVermiG) – die sog. Ersatzmuttervermittlung  – gemäß § 13c i. V. m. § 14b Abs. 1 AdVermiG strafbewehrt untersagt. Die die Leihmutterschaft betreffenden Regelungsansätze in anderen Ländern könnten unterschiedlicher nicht sein: Das Spektrum reicht von vollständig fehlender Regulierung über die Unwirksamkeit leihmutterschaftlicher Verträge oder die Bindung an gesetzliche Vorgaben bis hin zu umfassenden Verboten wie in Deutschland.234 Insgesamt wächst die Zahl der Länder, die Leihmutterschaft zulassen.235 In Europa ist die Leihmutterschaft etwa in Großbritannien und in Griechenland zulässig – so wie rund um die Welt unter verschiedenen Voraussetzungen auch in einzelnen Staaten der USA, in Israel, Indien und in Russland.236

III. Betroffene Grundrechte Durch das Verbot der Leihmutterschaft wird in Freiheitsrechte der Leihmütter, der Wunscheltern sowie der beteiligten Reproduktionsmedizinerinnen eingegriffen. Als Leihmutter tätig zu werden ist zunächst jedenfalls durch die von Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistete allgemeine Handlungsfreiheit geschützt.237 Da den betroffenen Frauen durch die Verbotsregelung im Embryonenschutzgesetz die Übernahme einer Leihmutterschaft mit reproduktionsmedizinischer Unterstützung unmöglich gemacht wird,238 kommt es durch die Regelung auch zu einem grundrechtsrelevanten Eingriff in ihre Freiheiten. Unerheblich ist insoweit, dass sie selbst nicht Adressatinnen der Strafbewehrung sind – ihre Handlungsfreiheit wird durch das umfassende Beteiligungsverbot an der Leihmutterschaft dennoch verkürzt. Eine mitunter in der Literatur angenommene Betroffenheit des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der potentiellen Leihmütter239 ist hingegen abzulehnen: So liegt eine besondere Persönlichkeitsrelevanz der Übernahme einer Leihmutterschaft nicht besonders nahe – dies gilt insbesondere, da insoweit kein eigener Kinderwunsch verwirklicht wird.240 234 Siehe zu den verschiedenen Regelungsmodellen Bleisch, JWE 2012 (17), S. 5 (9); Depenbusch / ​Schultze-Mosgau, in: Diedrich / ​Ludwig / ​Griesinger (Hrsg.), Reproduktionsmedizin, 2013, S. 297 (299); Nitschmann / ​Petersdorf, in: FS Jung, 2007, S. 669 (674–678). 235 Dethloff, JZ 2014, 922 (923). 236 Dethloff, JZ 2014, 922 (923 f.); Jofer, Regulierung der Reproduktionsmedizin, 2014, S. 303. 237 So auch Hieb, Die gespaltene Mutterschaft im Spiegel des deutschen Verfassungsrechts, 2005, S. 35; Starck, Gutachten 56. DJT, Band I, 1986, A 17. 238 So auch der Gesetzentwurf, BT-Drs. 11/5460, S. 16. 239 Lehmann, Die In-vitro-Fertilisation und ihre Folgen, 2007, S. 168, 176. 240 Hieb, Die gespaltene Mutterschaft im Spiegel des deutschen Verfassungsrechts, 2005, S. 35. Unter Bezugnahme auf das „pekuniäre Interesse“ der Leihmütter lehnt auch Koppernock eine Berührung des Grundrechts auf bioethische Selbstbestimmung durch das Verbot ab, ders., Das Grundrecht auf bioethische Selbstbestimmung, 1997, S. 157.

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Durch das Verbot der Leihmutterschaft wird ferner in Grundrechte der Wunscheltern eingegriffen. Soweit die Leihmutterschaft für sie die einzige Möglichkeit der Fortpflanzung und Familiengründung darstellt, kommt es durch die Regelung zu einer Verkürzung ihres Recht auf reproduktive Autonomie241 – unabhängig davon, ob man diese Freiheit als vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht, vom Grundrecht auf den Schutz der Familie oder von der allgemeinen Handlungsfreiheit geschützt ansieht.242 Auch von dem Verbot der Leihmutterschaft geht zudem ein Eingriff in die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit der beteiligten Reproduktionsmedizinerinnen sowie in die von Art. 5 Abs. 3 GG geschützte Wissenschaftsfreiheit aus.

IV. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Für eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung der mit dem Verbot der Leihmutterschaft einhergehenden grundrechtlichen Eingriffe sind eventuelle statusrechtliche Unklarheiten hinsichtlich der an der Leihmutterschaft Beteiligten unerheblich – ebenso wie Fragen der Wirksamkeit vertraglicher Vereinbarungen mit möglichen Pflichten zur Abgabe oder Annahme eines Kindes, denkbare Schadensersatzansprüche sowie familien- und erbrechtliche Folgen.243 Zwar stellen sich in diesem Zusammenhang zweifelsohne viele Schwierigkeiten: Wer sind die Eltern eines Kindes? Kann eine Leihmutter dazu gezwungen werden, das Kind, das sie geboren hat, an seine genetischen Eltern herauszugeben? Was passiert, wenn keiner der an der Leihmutterschaft Beteiligten das Kind annehmen will – etwa, weil es mit einer Behinderung zur Welt kommt? All diese Aspekte sind gleichwohl allein Fragen der konkreten Ausgestaltung leihmutterschaftlicher Arrangements. Vorliegend soll hingegen die verfassungsrechtliche Zulässigkeit des Grundkonzepts untersucht und die Frage beantwortet werden, ob das Verbot der Leihmutterschaft gegen das Grundgesetz verstößt. Aspekte der Ausgestaltung, die als solche ebenfalls eine hohe Grundrechtsrelevanz entwickeln können, müssen insoweit außen vor bleiben. Wie das Verbot der Eizellspende wird auch das Verbot der Leihmutterschaft nicht nur auf den paternalistischen Schutz der potentiellen Leihmütter (dazu unter 3.), sondern auch auf den per se paternalismus-unverdächtigen Schutz des von einer Leihmutter ausgetragenen Kindes (dazu unter 1.) und den Schutz der Gesellschaft 241

Lehmann, Die In-vitro-Fertilisation und ihre Folgen, 2007, S. 168; Taupitz, in: Günther / ​ Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 7 Rn. 18. Gegen die Annahme der Betroffenheit des Rechts auf Familiengründung, da die so geborenen Kinder nominell den Leihmüttern zuzuordnen seien, Koppernock, Das Grundrecht auf bioethische Selbstbestimmung, 1997, S. 159. 242 Siehe dazu bereits unter A. III. 1. 243 Siehe dazu etwa Frucht, Ersatzmutterschaft, 1996, S. 194–215; Goeldel, Leihmutterschaft, 1994, S. 147–202; vor Erlass des ESchG Coester-Waltjen, NJW 1982, 2528–2534; Diefenbach, Leihmutterschaft, 1990, S. 65–234.

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

(dazu unter 2.) gestützt. Um die Bedeutung der paternalistischen Anteile der Regelung hervorzuheben, soll sich zunächst der Tragfähigkeit dieser drittschützenden Argumente zugewandt werden. 1. Der Schutz des Kindes Im Rahmen des Gesetzentwurfs zum Embryonenschutzgesetz wurde zugunsten des Verbots der Leihmutterschaft angeführt, dass diese dem Kindeswohl widerspreche.244 Dieser Aspekt wird im Hinblick auf den Schutz der Kinder vor gespaltener Mutterschaft diskutiert (dazu unter a)), den Schutz ihrer Menschenwürde (dazu unter b)), den Schutz der psychischen und physischen Entwicklung des von einer Leihmutter ausgetragenen Kindes (dazu unter c)) sowie im Hinblick auf den Schutz der leiblichen Kinder der Leihmutter (dazu unter d)). a) Schutz vor „gespaltener Mutterschaft“ Wie auch im Rahmen der Eizellspende soll das Kind durch das Verbot der Leihmutterschaft zunächst vor gespaltener Mutterschaft geschützt werden, da das Auseinanderfallen von genetischer bzw. austragender und sozialer Mutter die Identitätsfindung erschwere.245 Zwar unterscheidet sich die Leihmutterschaft insofern von der Eizellspende, als bei der Eizellspende austragende und soziale Mutter identisch sind. Bei der Tragemutterschaft sind die genetische und die soziale Mutter identisch, wenn die der Leihmutterschaft vorangegangene reproduktionsmedizinisch unterstützte Befruchtung mit den Eizellen der Wunschmutter durchgeführt wurde. In Kombination mit der Eizellspende oder bei Durchführung eines Zellkerntransfers zur Verhinderung der Vererbung mitochondrialer Krankheiten ist bei der Leihmutterschaft grundsätzlich auch eine Aufspaltung zwischen drei bzw. vier genetischen, austragenden und sozialen Müttern denkbar. Zwar lässt sich nicht von der Hand weisen, dass in Folge der engen Beziehung zwischen der schwangeren Frau und dem in ihr heranwachsenden Kind246 die Qualität der Spaltung eine andere ist, wenn austragende und soziale Mutter wie bei der Eizellspende identisch sind – oder wie bei der Leihmutterschaft auseinanderfallen. Das Argument der gespaltenen Mutterschaft ist gleichwohl wie bereits dargelegt

244 BT-Drs. 11/5460, S. 15; siehe dazu auch den Kabinettsbericht zur künstlichen Befruchtung beim Menschen, BT-Drs. 11/1856, S. 8 f. 245 BT-Drs. 11/5460, S. 15. Dazu auch Bundesminister für Forschung und Technologie (Hrsg.), Bericht der Arbeitsgruppe „In-vitro-Fertilisation, Genomanalyse und Gentherapie“, 1985, S. 22 f.; Lehmann, Die In-vitro-Fertilisation und ihre Folgen, 2007, S. 169. 246 Diese emotionale Beziehung soll laut Kemper nicht im Wege gespaltener Mutterschaft zerstört werden, ders., in: Schulze et al., BGB, 9. Aufl. 2017, § 1591 Rn. 1.

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schon in der Sache zurückzuweisen.247 Weder gibt es empirische Belege für eine Beeinträchtigung des Kindeswohls durch gespaltene Mutterschaft  – auch nicht nach Leihmutterschaft248 –, noch kann dieses Argument in Anbetracht seiner Widersprüchlichkeit bestehen: Denn wie bei dem Verbot der Eizellspende würde ein entsprechender Ansatz zu einem Schutz des Kindes qua Verbot seiner Entstehung führen. Auch der mit dem Verbot der Leihmutterschaft einhergehende Eingriff kann deshalb nicht mit dem Schutz vor gespaltener Mutterschaft gerechtfertigt werden. b) Menschenwürde des Kindes Anders als im Rahmen der Diskussion um die Eizellspende wird in Zusammenhang mit der Leihmutterschaft eine mögliche Verletzung der Menschenwürde des Kindes besonders intensiv thematisiert.249 Allein die Vereinbarung der Durchführung einer Leihmutterschaft betrifft die Menschenwürde des so entstehenden Kindes jedoch nicht. Dies ergibt sich bereits daraus, dass die Menschenwürde – unabhängig davon, ab welchem embryonalen Entwicklungsstadium sie genau zugeschrieben werden soll – jedenfalls vor der Zeugung keine subjektivrechtliche Wirkung entfalten kann.250 Mitunter wird jedoch davon ausgegangen, dass die Menschenwürde des sich in der Entwicklung befindlichen Kindes verletzt werde, soweit im Rahmen der Leihmutterschaft das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung gefährdet werde.251 Während diese Verbindung bereits in der Sache fragwürdig erscheint, sei hinsichtlich des Rechts auf Kenntnis der eigenen Abstammung auf bereits Dargelegtes verwiesen:252 Die Gefährdung und der Schutz dieses Rechts sind Fragen der konkreten Ausgestaltung der Leihmutterschaft, die über deren grundsätzliche Zulässigkeit keine Aussage zu treffen vermögen. Einer diesbezüglichen Gefahr ließe sich mit einer Zulassung und Regulierung der Leihmutterschaft, die etwa eine um 247

Siehe dazu unter A. III. 2. a) aa). Diesbezüglich sei noch einmal auf den Bericht des „Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung“ zur Fortpflanzungsmedizin in der 17. Bundestagswahlperiode hingewiesen, der diese Einschätzung teilt und eine Langzeituntersuchung nennt, die unter anderem Kindern nach Leihmutterschaft eine unauffällige Entwicklung attestierte und die nahelegt, dass das Austragen eines Kindes durch eine Leihmutter keinen negativen Einfluss auf die Entwicklung habe. Vielmehr herrschten in Familienkonstellationen nach Leihmutterschaft und Eizellspende im Gegenteil sogar mehr elterliche Wärme und intensivere Beziehungen vor, BT-Drs. 17/3759, S. 91 m. w. N. 249 Siehe nur Bundesminister für Forschung und Technologie (Hrsg.), Bericht der Arbeitsgruppe „In-vitro-Fertilisation, Genomanalyse und Gentherapie“, 1985, S. 24 f. Eine Menschenwürdeverletzung des Kindes wurde vom 56. DJT für die Tragemutterschaft angenommen, nicht aber für die Ersatzmutterschaft, 56. Deutscher Juristentag: Die Beschlüsse, NJW 1986, 3069 (3070). 250 Starck, Gutachten 56. DJT, Band I, 1986, A 54. 251 Diefenbach, Leihmutterschaft, 1990, S. 145. 252 Siehe dazu bereits A. III. 2. a) bb). 248

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

fassende Dokumentationspflicht vorschreibt, effizienter und im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht der Beteiligten milder begegnen. In einer gewissen Nähe zur Problematisierung gespaltener Mutterschaft finden sich Ansätze, nach denen eine Leihmutterschaftsvereinbarung bereits deshalb die Menschenwürde des Kindes verletze, weil sie die vorgeburtliche Entwicklung als wichtigen Anteil der Persönlichkeitsentwicklung ebenso missachte wie die Be­ deutung der Beziehung des Kindes zu der austragenden Frau, die durch eine Leihmutterschaft erheblich gestört werde.253 Gegen eine solche Annahme wird jedoch zu Recht angeführt, dass es in „normalen“ Schwangerschaften ebenfalls zu Entwicklungsstörungen und -problemen kommen könne.254 Zudem begründeten allein die Gefahr einer schwierigen Entwicklung oder die Möglichkeit, in eine konfliktreiche Konstellation hineingeboren zu werden, keine Menschenwürdeverletzung.255 In der Tat erscheint ein solches Verständnis – insbesondere im erneuten Hinblick auf die Tatsache, dass das Kind allein auf Grund des leihmutterschaftlichen Arrangements am Leben ist256 – als viel zu weitgehend. Im Zusammenhang mit einer möglichen Menschenwürdeverletzung des Kindes zentral diskutiert wird indes die Idee, dass das Kind durch die Übergabe von der Leihzur Wunschmutter zum Objekt einer Verfügung gemacht und als Ware behandelt werde.257 Eine darauf gründende Menschenwürdeverletzung des Kindes wird insbesondere bei entgeltlichen Leihmutterschaftsvereinbarungen angenommen, in deren Rahmen das Kind kommerzialisiert, zur Handelsware und zum „Erfolg eines Vertrages“258 gemacht werde.259 Durch den Handel komme es zu einer Objektifizierung des Kindes; seine Subjektstellung werde bei einer solchen Behandlung negiert.260 Eine weitere Objektifizierung könne sich zudem bei möglichen Konflikten im Nachgang der Leihmutterschaft ergeben, wenn sich die Beteiligten „um das Kind wie um einen Gegenstand streiten“.261

253

Bundesminister für Forschung und Technologie (Hrsg.), Bericht der Arbeitsgruppe „Invitro-Fertilisation, Genomanalyse und Gentherapie“, 1985, S. 23. 254 Diefenbach, Leihmutterschaft, 1990, S. 137. 255 Diefenbach, Leihmutterschaft, 1990, S. 139; Nitschmann / ​Petersdorf, in: FS Jung, 2007, S. 669 (680). 256 Starck, Gutachten 56. DJT, Band I, 1986, A 42. 257 Anderson, Health care analysis 2000, 19–26. Siehe dazu auch etwa Taupitz, in: Günther / ​ Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 7 Rn. 14 m. w. N. 258 Lehmann, Die In-vitro-Fertilisation und ihre Folgen, 2007, S. 176. 259 Diefenbach, Leihmutterschaft, 1990, S. 138; Frucht, Ersatzmutterschaft, 1996, S. 183 m. w. N.; Goeldel, Leihmutterschaft, 1994, S. 159; Lehmann, Die In-vitro-Fertilisation und ihre Folgen, 2007, S. 176. Von einer „Degradierung zur Handelsware“ sprach in diesem Zusammenhang auch das OLG Hamm 2.12.1985 – 11 W 18/85 – NJW 1986, 781. Der „Benda“-Bericht sah entsprechende Gefahr insbesondere bei einer entgeltlichen, aber auch bei einer altruistischen Vereinbarung, Bundesminister für Forschung und Technologie (Hrsg.), Bericht der Arbeitsgruppe „In-vitro-Fertilisation, Genomanalyse und Gentherapie“, 1985, S. 23 f. 260 Lehmann, Die In-vitro-Fertilisation und ihre Folgen, 2007, S. 175. 261 Lehmann, Die In-vitro-Fertilisation und ihre Folgen, 2007, S. 175.

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Gegen ein solches Verständnis wird vorgebracht, dass jedenfalls allein die Zeugung eines Kindes in der Absicht, eine Schwangerschaft bei der Leihmutter herbeizuführen, eine Menschenwürdeverletzung nicht begründen könne, da das Kind zu diesem Zeitpunkt weder objektifiziert werde, noch überhaupt Träger von Menschenwürde sei.262 Gerade auch die ebenfalls von der Verbotsregelung erfasste Übertragung eines bereits gezeugten Embryos auf eine Leihmutter in Konstellationen, in denen die genetische Mutter des Kindes die Schwangerschaft nicht ausführen könne, sei nicht als Menschenwürdeverletzung zu qualifizieren.263 Selbst die „Zeugung eines Kindes mit Transferabsicht“264 und anschließender Übergabe an die Wunscheltern begründe keine menschenwürdeverletzende Entwertung zur Handelsware:265 Denn das Kind werde weder von den sozialen Eltern, die sich sehnlich ein Kind wünschen, noch von der Leihmutter per se zum Objekt degradiert.266 Auch eine mögliche Entgeltlichkeit entsprechender Arrangements begründe keine andere Betrachtung, da das Kind dadurch nicht zwangsläufig einer erniedrigenden Behandlung ausgesetzt werde.267 Werde das Kind hingegen etwa im Rahmen einer Prämienzahlung tatsächlich zum Verkaufsobjekt gemacht, komme eine Menschenwürdeverletzung tatsächlich in Betracht.268 Im Ergebnis begründet die Leihmutterschaft als solche auch nach vorliegend vertretener Auffassung keine Menschenwürdeverletzung des Kindes, das auf diesem Wege zur Welt kommt:269 Insoweit ist wiederum zu bedenken, dass das konkrete Kind auf Grundlage des leihmutterschaftlichen Arrangements überhaupt am Leben ist. Die sich an die Leihmutterschaft anschließende Übergabe und Annahme des Kindes erfolgt lediglich in Folge des Kinderwunsches der zukünftigen sozialen Eltern, die sich um das Kind kümmern wollen, weshalb die Konstruktion einer Menschenwürdeverletzung auch auf dieser Basis fernliegend ist. Selbst die Weggabe des Kindes nach der Geburt seitens der austragenden Frau – die zudem ebenso 262 Hörnle, in: Joerden / ​Hilgendorf / ​Thiele (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, 2013, S. 743 (746). 263 Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 7 Rn. 14. 264 Jofer, Regulierung der Reproduktionsmedizin, 2014, S. 309. 265 Hieb, Die gespaltene Mutterschaft im Spiegel des deutschen Verfassungsrechts, 2005, S. 107; Hörnle, in: Joerden / ​Hilgendorf / ​Thiele (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, 2013, S. 743 (747); Jofer, Regulierung der Reproduktionsmedizin, 2014, S. 309. 266 Hörnle, in: Joerden / ​Hilgendorf / ​Thiele (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, 2013, S. 743 (746 f.). 267 Hörnle, in: Joerden / ​Hilgendorf / ​Thiele (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, 2013, S. 743 (747). 268 Hörnle, in: Joerden / ​Hilgendorf / ​Thiele (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, 2013, S. 743 (751); Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 7 Rn. 14. 269 Ebenso Herdegen, in: Maunz / ​Dürig (Hrsg.), GG, 81. Lfg. 2017, Art. 1 Abs. 1 Rn. 104; Starck, Gutachten 56. DJT, Band I, 1986, A 42; ders., in: von Mangoldt / ​Klein / ​Starck (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2010, Art. 1 Abs. 1 Rn. 97. Allein für die Ersatzmutterschaft wurde dies auch von Seiten des 56. DJT abgelehnt, 56. Deutscher Juristentag: Die Beschlüsse, NJW 1986, 3069 (3070).

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

bei einer von vornherein geplanten Adoption stattfindet270 – dient allein der Zuführung des Kindes in den Lebensraum, in dem es geschützt und erwünscht wird. Auch insoweit kommt es nicht zu einer „Objektifizierung“ des Kindes. Ebenso führt die Entgeltlichkeit eines entsprechenden Arrangements nicht zwangsläufig dazu, dass das Kind zur Handelsware degradiert wird. Jedenfalls die monetäre Kompensation der Leihmutter führt insofern zu keiner anderen Bewertung: Dem sehnlich erwünschten Kind, das auf Grund der Leihmutterschaft auf der Welt ist, wird seine Subjektqualität weder durch den Vorgang als solchen abgesprochen, noch durch eine Bezahlung der Leihmutter. Unabhängig von Fragen, die spezielle Ausgestaltungen mit sich bringen, begründet die Leihmutterschaft per se keine Verletzung der Menschenwürde der auf diesem Wege entstehenden Kinder. c) Schutz der psychischen und physischen Entwicklung des Kindes Für ein Verbot der Leihmutterschaft wird ferner der Schutz der physischen und psychischen Entwicklung des Kindes angeführt. Der Gesetzentwurf geht davon aus, dass es dem Kindeswohl widerspreche, wenn die psychosoziale Beziehung zwischen der austragenden Frau und dem Kind unberücksichtigt bleibe.271 Auch in der Literatur wird angenommen, dass sich eine Gefahr für das Wohl und die Entwicklung des Kindes zum einen daraus ergeben könne, dass die Leihmutter sich während der Schwangerschaft aus Gleichgültigkeit nicht genügend um das Wohlergehen des Kindes bemühe und eine ausreichende Rücksichtnahme vermissen lasse, da sie nicht ihr eigenes, sondern ein fremdes Kind austrage.272 Zum anderen könne es auch dann zu einer Gefährdung der Entwicklung des Kindes kommen, wenn sich die Leihmutter zu eng an das Kind binde und es dadurch zu vor- oder nachgeburtlichen Konflikten zwischen der Leihmutter und den Wunscheltern komme, die ebenfalls mit entwicklungsschädlichem Stress für das Kind als Konfliktobjekt einhergehen könnten.273 Jedenfalls sei eine ungestörte Mutter-Kind-Beziehung 270

Siehe ohne direkten Bezug zur Menschenwürde des Kindes, aber doch ähnlich CoesterWaltjen: „Daß [sic] eine Mutter ihr Kind nach der Geburt weggibt, wird von der Rechtsordnung grundsätzlich akzeptiert. Hierin liegt keine Verfügung über das Kind, sondern ein Verzicht auf die Ausübung der Elternrechte, der keinen Sittenverstoß darstellt.“, dies., NJW 1982, 2528 (2532). 271 BT-Drs. 11/5460, S. 15. Auch der 56. DJT ging davon aus, dass bei der Tragemutterschaft die für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes wichtige Entwicklung im Mutterleib nicht ausreichend berücksichtigt werde, 56. Deutscher Juristentag: Die Beschlüsse, NJW 1986, 3069 (3070). Im Rahmen der Ersatzmutterschaft bestünden jedoch keine Risiken für das Kind, a. a. O. 272 Bundesminister für Forschung und Technologie (Hrsg.), Bericht der Arbeitsgruppe „In-­ vitro-Fertilisation, Genomanalyse und Gentherapie“, 1985, S. 22 f.; Diefenbach, Leihmutterschaft, 1990, S. 37; Lehmann, Die In-vitro-Fertilisation und ihre Folgen, 2007, S. 172; Starck, Gutachten 56. DJT, Band I, 1986, A 41; Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 7 Rn. 11 m. w. N. 273 Bundesminister für Forschung und Technologie (Hrsg.), Bericht der Arbeitsgruppe „In-­ vitro-Fertilisation, Genomanalyse und Gentherapie“, 1985, S. 22 f.; Diefenbach, Leihmutter-

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nicht denkbar, so dass „in jedem Fall mit schwerwiegenden psychischen und psychosomatischen sowie mit organischen Fehlentwicklungen des Kindes gerechnet werden“ müsse.274 Neben den vorgeburtlichen Risiken für die Entwicklung thematisiert der Gesetzentwurf auch die nachgeburtlichen Gefährdungen des Kindes, die sich aus der Trennung von der austragenden Mutter ergeben könnten.275 Ebenso wird in der Literatur davon ausgegangen, dass eine psychische Gefährdung des Kindes durch die Abgabe nach der Geburt und durch einen erschwerten Beziehungsaufbau insbesondere zu der Wunschmutter begründet würde.276 Gefahren für die psychische Gesundheit des Kindes ergäben sich zudem – in entgeltlichen wie in unentgeltlichen Arrangements277 – aus möglichen Konflikten zwischen allen Beteiligten,278 die bei der Abgabe des Kindes aus einer zu engen Bindung der Leihmutter oder aus einer fehlenden Bindung der Wunschmutter an das Kind folgen könnten.279 Denkbar sei dann, dass weder die Wunscheltern noch die Leihmutter das Kind etwa aufgrund einer Behinderung oder Krankheit behalten wollen280 – oder sowohl die Wunscheltern als auch die Leihmutter das Kind großziehen möchten.281 Zunächst begründet jedenfalls die rein körperliche Komponente der Leihmutterschaft keine größere Gefahr für die Entwicklung des Kindes als es auch bei einer zulässigen Schwangerschaft nach einer „traditionellen“, homologen IVF-Behandlung der Fall ist.282 Auch zu Störungen der vorgeburtlichen Entwicklung kann es grundsätzlich ebenso im Rahmen einer sonstigen Schwangerschaft kommen.283 Ferner findet eine Weggabe nach der Geburt auch bei rechtlich zugelassenen Adoptionen statt.284 Die Aufspaltung von biologischen und sozialen Eltern ist im Rahmen von

schaft, 1990, S. 37; Lehmann, Die In-vitro-Fertilisation und ihre Folgen, 2007, S. 172, 174; Starck, Gutachten 56. DJT, Band I, 1986, A 41. 274 Diefenbach, Leihmutterschaft, 1990, S. 37. 275 BT-Drs. 11/5460, S. 15. Zu letzterem auch Jofer, Regulierung der Reproduktionsmedizin, 2014, S. 309. 276 Lehmann, Die In-vitro-Fertilisation und ihre Folgen, 2007, S. 170–173. 277 BT-Drs. 11/5460, S. 15. 278 So der Gesetzentwurf zum ESchG, BT-Drs. 11/5460, S. 15. 279 Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 7 Rn. 11. 280 Diefenbach, Leihmutterschaft, 1990, S. 164; Jofer, Regulierung der Reproduktionsmedizin, 2014, S. 320. Siehe dazu auch BT-Drs. 11/5460, S. 9. 281 Bundesminister für Forschung und Technologie (Hrsg.), Bericht der Arbeitsgruppe „Invitro-Fertilisation, Genomanalyse und Gentherapie“, 1985, S. 22 f. 282 Depenbusch / ​Schultze-Mosgau, in: Diedrich / ​Ludwig / ​Griesinger (Hrsg.), Reproduktionsmedizin, 2013, S. 297 (298); Felberbaum, Der Gynäkologe 2009, 625. 283 Diefenbach, Leihmutterschaft, 1990, S. 162. 284 Zu letzterem Aspekt auch Diefenbach, Leihmutterschaft, 1990, S. 162 f. Siehe zu dem auch sonst in der Rechtsordnung zugelassenen „Wechsel der Bezugspersonen“ auch Coester-Waltjen, in: Lexikon Medizin Ethik Recht, 1989, S. 578. Gegen einen Vergleich mit der „Notlösung“ Adoption Jofer, Regulierung der Reproduktionsmedizin, 2014, S. 319.

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

Samenspende und Adoption zudem bereits verbreitete gesellschaftliche Realität.285 Schädigende Konflikte  – gerade auch solche, in denen Kinder zum Objekt von Streitigkeiten werden – finden rund um, während und nach Schwangerschaften im Übrigen auch außerhalb leihmutterschaftlicher Vereinbarungen statt.286 Allerdings ist es in der Vergangenheit tatsächlich auch bereits zu öffentlichkeitswirksamen, leihmutterschafts-spezifischen Konflikten gekommen: So holte etwa im Jahr 2014 ein australisches Ehepaar, nachdem es Zwillinge von einer thailändischen Leihmutter hatte austragen lassen, das Gesunde der beiden Kinder zu sich und ließ das andere Kind, das unter dem Down-Syndrom litt, bei der thailän­dischen Leihmutter zurück, die nicht in der Lage war, für eine teure, aber notwendige Herzoperation an dem Baby aufzukommen.287 Der umgekehrte Konflikt lag den berühmt gewordenen Prozessen um das „Baby M“ in New Jersey, USA, zugrunde, vor welchen sich die Leihmutter nach der Geburt geweigert hatte, das Kind heraus­zugeben und Gerichte in zwei Instanzen über die Wirksamkeit des leihmutterschaftlichen Vertrags und das Sorgerecht entscheiden mussten.288 Konflikte in Zusammenhang mit dem Arrangement sind, gerade in Folge einer zu intensiven Bindung der Leihmütter oder einer zu geringen Bindung der Wunscheltern an die Kinder, dementsprechend durchaus nicht fernliegend. Im Ergebnis kann dies die mit dem Verbot der Leihmutterschaft einhergehende Freiheitsbeschränkung aber dennoch nicht rechtfertigen: Zum einen bleibt die konkret-kausale Annahme von Gefährdungen des Kindes im Rahmen einer Leihmutterschaft außerhalb dieser Einzelfälle zweifelhaft.289 So gibt es keine empirische Grundlage für die Annahme einer signifikant erhöhten Wahrscheinlichkeit negativer psychischer oder physischer Konsequenzen für Kinder, die von Leihmüttern zur Welt gebracht werden.290 Da sie im Gegensatz zu vielen anderen Kindern vielmehr

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BT-Drs. 17/3759, S. 91 m. w. N.; Hörnle, in: Joerden / ​Hilgendorf / ​Thiele (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, 2013, S. 743 (749). 286 Hektor, Die Relevanz ethischer Konzeptionen im Strafrecht, 1995, S. 66 f.; Hörnle, in: Joerden / ​Hilgendorf / ​Thiele (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, 2013, S. 743 (749); Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 7 Rn. 12. 287 Siehe zu dem Fall etwa bei http://www.sueddeutsche.de/panorama/australien-eltern-lassenbehindertes-baby-bei-leihmutter-zurueck-1.2074343 (zuletzt abgerufen am 1.3.2018). 288 Siehe zum Ganzen etwa Bernard, Kinder machen, 2014, S. 257–265. 289 Hektor, Die Relevanz ethischer Konzeptionen im Strafrecht, 1995, S. 179; Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 7 Rn. 12. Siehe aus medizinischer Perspektive auch Depenbusch / ​Schultze-Mosgau, die davon ausgehen, dass die Auswirkungen einer Leihmutterschaft noch nicht hinreichend wissenschaftlich untersucht seien, dies., in: Diedrich / ​Ludwig / ​Griesinger (Hrsg.), Reproduktionsmedizin, 2013, S. 297 (300). Taupitz kann im Ergebnis im Rahmen der Leihmutterschaft aber zumindest mehr Anhaltspunkte für eine entsprechende Gefährdung finden als im Rahmen der Eizellspende, ders., in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 7 Rn. 19. 290 Hörnle, in: Joerden / ​Hilgendorf / ​Thiele (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, 2013, S. 743 (749).

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besonders erwünscht sind, legen Studien sogar das Gegenteil nahe.291 Der Eintritt der beschriebenen Negativ-Szenarien ist daher für sich genommen weder wahrscheinlicher als ein konfliktfreier Verlauf noch als ein konfliktbeladener Verlauf in einer Schwangerschaft, die nicht durch eine Leihmutter ausgetragen wird. Gerade im Vergleich zu ungewollten Schwangerschaften kann das Argument nicht verfangen.292 Würde der Gesetzgeber die Gefahr, der das Kind durch die Leihmutterschaft ausgesetzt ist, zudem als derart erheblich einschätzen, bleibt widersprüchlich, weshalb sich die Regelung dann auf die Bestrafung derjenigen begrenzt, die eine reproduktionsmedizinisch unterstützte Leihmutterschaft ermöglichen und nicht jede Vereinbarung der Überlassung eines Kindes strafbewehrt untersagt ist.293 Zum anderen kann auch in diesem Kontext der Schutz des Kindes nicht widerspruchsfrei als Argument für eine Regelung dienen, die seine Entstehung verhindert.294 Es dient nicht dem Kindeswohl, dass ein Kind nicht gezeugt wird, sich nicht entwickeln oder bei seinen – möglicherweise genetisch verwandten – Wunscheltern leben kann.295 Dies gilt insbesondere, insoweit das Verbot der Leihmutterschaft nicht nur die Zeugung zur späteren Einsetzung bei einer Leihmutter unter Strafe stellt, sondern eine Einsetzung auch dann strafbewehrt erfasst, wenn das Kind bereits gezeugt worden ist. Eine Regelung, auf deren Grundlage der Embryo in diesen Fällen verworfen werden muss, kann nicht mit dem Kindeswohl begründet werden. Im Übrigen stünden zum Schutz der Kinder deutlich geeignetere und wenig eingriffsintensive Mittel zur Verfügung – etwa in Form umfassender Informierung und Aufklärung, der eingehenden Beschäftigung mit der Auswahl einer auch psychisch geeigneten Leihmutter und der intensiven Vorbereitung aller Beteiligten auf die Leihmutterschaft und die mit ihr einhergehenden körperlichen und seelischen Herausforderungen.296

291 Hörnle, in: Joerden / ​Hilgendorf / ​Thiele (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, 2013, S. 743 (749) m. w. N. 292 Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 7 Rn. 12. Zur Kompensation der Trennung von der austragenden Mutter durch Aufnahme in der Wunschfamilie Hieb, Die gespaltene Mutterschaft im Spiegel des deutschen Verfassungsrechts, 2005, S. 151. 293 Dazu Schroeder, der die Beschränkung insoweit für „willkürlich“ und „selektiv“ befindet, ders., in: FS Miyazawa, 1995, S. 533 (536 f.). 294 Siehe dazu bereits unter A. III. 2. a) aa) (3). 295 Dagegen auch Coester-Waltjen, Gutachten 56. DJT, Band I, 1986, B 82, 127; Hektor, Die Relevanz ethischer Konzeptionen im Strafrecht, 1995, S. 175, 183. Anders Lehmann, nach welcher die Leihmutterschaft „aufgrund der beabsichtigen Abgabe des Kindes nach der Geburt in allen Formen dem Kindeswohl“ widerspricht, dies., Die In-vitro-Fertilisation und ihre Folgen, 2007, S. 180; ebenso Jofer, Regulierung der Reproduktionsmedizin, 2014, S. 315–319. 296 Zu einem Schutz der Kinder durch Regulierung von Leihmutterschaft auch Hieb, Die gespaltene Mutterschaft im Spiegel des deutschen Verfassungsrechts, 2005, S. 150 f.; Hörnle, in: Joerden / ​Hilgendorf / ​Thiele (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, 2013, S. 743 (751); Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 7 Rn. 13.

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d) Schutz der leiblichen Kinder und der Familie Auch auf den Schutz der (weiteren) leiblichen Kinder der Leihmutter kann das Verbot nicht gestützt werden: Anders als mitunter angenommen kommt es durch die Leihmutterschaft nicht zu einer „Beschädigung des Bilds der eigenen Familie“ oder zur „Wegnahme eines der Geschwister“.297 Zwar können entsprechende Arrangements ebenso wie viele andere typische und atypische familiäre Konstellationen mit psychischen Belastungen für die direkt oder indirekt daran Beteiligten einhergehen – diese erreichen jedoch weder ein solches Ausmaß noch eine solche Gewissheit, als dass sie eine Beeinträchtigung grundrechtlich geschützter Freiheiten rechtfertigen könnten.298 2. Gesellschaftsschutz und Gemeinwohlgefährdung Auch Aspekte des Schutzes der Gesellschaft und des Gemeinwohls werden zugunsten des Verbots der Leihmutterschaft angeführt. a) Schutz vor sozialer Ungleichheit Soweit in ihrem Rahmen sozial schlechter gestellte Frauen körperliche Dienstleistungen für ökonomisch besser ausgestattete Familien erbrächten, begünstige Leihmutterschaft zunächst soziale Ungerechtigkeit.299 Mittels intensiver Regulierung und Kontrolle entsprechender Arrangements könnte entsprechenden Gefahren jedoch deutlich milder und wirksamer begegnet werden als mittels eines vollumfängliches Verbots.300 Dies gilt insbesondere in Anbetracht der Tatsache, dass das bestehende Verbot auch unentgeltliche Vereinbarungen pönalisiert. Ganz abgesehen von paternalistischen Anteilen, die solchen Argumentationen gegenüber wirtschaftlich bedürftigen, aber gegebenenfalls autonom handelnden Frauen innewohnen, kann ein absolut-umfassendes Verbot jedenfalls nicht durch eine (mög­ licherweise) problematische Variante einer für sich genommen nicht gefährdenden Handlung gerechtfertigt werden, soweit diesem Auswuchs auch mit einer differenzierenden Regelung oder anderen Mitteln der Kontrolle begegnet werden kann.

297

So aber Lehmann, Die In-vitro-Fertilisation und ihre Folgen, 2007, S. 179. Coester-Waltjen, Gutachten 56. DJT, Band I, 1986, B 82. 299 Dazu Hörnle, in: Joerden / ​Hilgendorf / ​Thiele (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, 2013, S. 743 (750). 300 Hörnle, in: Joerden / ​Hilgendorf / ​Thiele (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, 2013, S. 743 (750 f.). 298

5. Kap.: Reproduktionsmedizinische Regelungen

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b) Schutz der Familie Ebenso kommt auch eine Gefährdung von Ehe und Familie wie bereits im Rahmen der Eizellspende als Rechtfertigungsgrund für das Verbot der Leihmutterschaft nicht in Betracht. Denn die Leihmutterschaft „sprengt schließlich nicht einen dem Art. 6 GG angeblich zugrunde liegenden Zusammenhang zwischen Geschlechtsgemeinschaft, biologischer Abstammung und sozialer Zuordnung“.301 Vielmehr sehen zahlreiche andere rechtliche Konstruktionen, wie etwa die Adoption, die Samenspende oder die Vaterschaftsfiktion des Ehemanns der Mutter in § 1592 Nr. 1 BGB, familiäre Verhältnisse außerhalb dieses vorgeblichen Zusammenhangs vor.302 Wie bereits dargelegt,303 vermag ein wie auch immer geartetes „traditionel­les Familienbild“ eine Beschränkung von grundrechtlich geschützten Freiheitsrechten jedenfalls nicht zu rechtfertigen. c) Schutz von Moral, Sitte und Gattungswürde Dasselbe muss für einen Schutz der Moral oder der Menschenwürde „als objektivem Wert“304 mittels des Verbots der Leihmutterschaft gelten. Insbesondere im Hinblick auf die „Benutzung“ des weiblichen Körpers bei der Leihmutterschaft wird immer wieder auf eine mögliche Sittenwidrigkeit entsprechender Verein­barungen305 oder auf eine Vergleichbarkeit mit „reproduktionsmedizinischer Prostitution“306 hingewiesen. Soziale Normen, Sittenwidrigkeit und Tabus können einen Eingriff in grundrechtlich gewährleistete Freiheiten in einer antimoralistischen Rechtsordnung und pluralistischen Gesellschaft jedoch nicht legitimieren.307 Außerhalb der Betroffenheit von Rechten Dritter kann die mit der Leihmutterschaft einhergehende Beeinträchtigung von Freiheitsrechten daher nicht mit Aspekten der Gattungswürde, Moral und Sitte gerechtfertigt werden.308

301 Coester-Waltjen, Gutachten 56. DJT, Band I, 1986, B 82; gegen eine Beeinträchtigung der Ehe durch Leihmutterschaft auch Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 7 Rn. 18. 302 Coester-Waltjen, Gutachten 56. DJT, Band I, 1986, B 82; Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​ Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 7 Rn. 18. 303 Siehe bereits unter A. III. 2. b) aa). 304 Hörnle, in: Joerden / ​Hilgendorf / ​Thiele (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, 2013, S. 743 (745). 305 Dazu Coester-Waltjen, in: Lexikon Medizin Ethik Recht, 1989, S. 578. 306 Felberbaum, Der Gynäkologe 2009, 625. 307 Dazu ausführlich Hörnle, in: Joerden / ​Hilgendorf / ​Thiele (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, 2013, S. 743 (745 f.) m. w. N. Grundsätzlich in Zusammenhang mit strafrechtlichem Rechtsgüterschutz Roxin, Strafrecht AT, Band 1, 4. Aufl. 2006, § 2 Rn. 17–19, 43–45. 308 Hörnle, in: Joerden / ​Hilgendorf / ​Thiele (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, 2013, S. 743 (746).

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3. Der Schutz der Leihmutter Da weder ein Schutz des Kindes noch der Schutz von Gemeinwohl oder Sitte den mit dem Verbot der Leihmutterschaft einhergehenden Eingriff in die Freiheitsrechte der Beteiligten zu legitimieren vermögen, verbleibt wie auch bereits in Zusammenhang mit der Eizellspende allein der Blick auf eine potentiell paternalistische Orientierung der Regelung am Schutz der Leihmütter selbst. Dieser wird unter den Gesichtspunkten eines Schutzes ihrer Menschenwürde (dazu unter a)), des Gesundheitsschutzes der Leihmütter (dazu unter b)), ihrem Schutz vor negativen psychischen Auswirkungen der Leihmutterschaft (dazu unter c)), einem Ausbeutungsschutz und dem Schutz defizitär entscheidender Frauen (dazu unter d)) sowie eines Schutzes ihres Elternrechts (dazu unter e)) diskutiert. a) Schutz der Menschenwürde der Leihmütter Zugunsten des Verbots der Leihmutterschaft wird zentral angeführt, dass sie die Menschenwürde der Leihmutter verletze. Dies ergebe sich zum einen aus dem Aspekt der Kommerzialisierung des Körpers und der Gebärfähigkeit der Leihmutter:309 Soweit der Körper der Leihmutter zum wirtschaftlichen Handelsobjekt gemacht werde, hinter dem ihre Persönlichkeit zurücktrete,310 begründe die entgeltliche Veräußerung und Kommerzialisierung der Gebärfähigkeit eine Menschenwürdeverletzung.311 Dies gelte insbesondere, wenn die Leihmutter allein aus finanzieller Not handele.312 Zum anderen könne es auch außerhalb entgeltlicher Vereinbarungen zu einer mit der Leihmutterschaft einhergehenden Menschenwürdeverletzung kommen – etwa in Folge sozialer Zwänge, denen sich die Leihmutter ausgesetzt sieht.313 Grundsätzlich begründe zudem auch eine altruistische Leihmutterschaft eine menschenwürdeverletzende Instrumentalisierung des weiblichen Körpers.314 Denn die Leihmutter fungiere allein als „Gebärmaschine“315 und als „lebender Brutkasten“316 und würde damit nicht als Subjekt und Individuum,

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Lehmann, Die In-vitro-Fertilisation und ihre Folgen, 2007, S. 177; dazu auch Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 7 Rn. 15 m. w. N. 310 Für die entgeltliche Ersatzmutterschaft so Diefenbach, Leihmutterschaft, 1990, S. 149. 311 Goeldel, Leihmutterschaft, 1994, S. 156; für die entgeltliche Ersatzmutterschaft Diefenbach, Leihmutterschaft, 1990, S. 149. 312 Bleisch, JWE 2012 (17), S. 5 (16). 313 Lehmann, Die In-vitro-Fertilisation und ihre Folgen, 2007, S. 177. 314 Nitschmann / ​Petersdorf, in: FS Jung, 2007, S. 669 (682); für die Tragemutterschaft Diefenbach, Leihmutterschaft, 1990, S. 150. Bleisch hält eine Leihmutterschaft für illegitim, soweit es zu einer Instrumentalisierung kommt, ders., JWE 2012 (17), S. 5 (17). 315 Dazu Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 7 Rn. 15 m. w. N. 316 Für die Tragemutterschaft Diefenbach, Leihmutterschaft, 1990, S. 150.

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sondern als „bloßes Mittel fremder Zwecke“317 behandelt und auf ihre Fähigkeit, ein Kind austragen zu können, reduziert.318 Zudem könne bereits die Missachtung der besonderen natürlichen Beziehung zwischen Mutter und Kind zu einer Menschenwürdebetroffenheit führen.319 Wegen der Indisponibilität der Menschenwürde habe auch die Einwilligung der Leihmutter keinen Einfluss auf diese Beurteilung.320 Der Annahme einer mit der Leihmutterschaft zwangsläufig einhergehenden Menschenwürdeverletzung ist in der Literatur jedoch ebenso entgegengetreten worden:321 Jedenfalls im Rahmen unentgeltlicher Vereinbarungen,322 bei Bezahlung einer reinen Aufwandsentschädigung323 oder soweit keine ökonomische Notlage der Leihmutter ausgebeutet werde,324 komme es nicht zu einer Berührung der Menschenwürde. Insbesondere jedoch wird gegen die Annahme einer Menschenwürdeverletzung in diesem Zusammenhang grundsätzlich und antipaternalistisch angeführt, dass Grundrechte Freiheitsrechte seien und die Menschenwürde auch die Autonomie der Betroffenen erfasse.325 Eine selbstbestimmte Entscheidung könnte deshalb keine Menschenwürdeverletzung der Leihmutter begründen:326 „Die Frau muss nicht vor sich selbst geschützt werden.“327

Denn die Leihmutterschaft gehe als solche nicht mit Zwang einher328 – da weder die Einwilligung in eine Adoption vor oder kurz nach der Geburt möglich (vgl. 317

Dazu Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 7 Rn. 15 m. w. N. 318 Lehmann, Die In-vitro-Fertilisation und ihre Folgen, 2007, S. 177 f. 319 Lehmann, Die In-vitro-Fertilisation und ihre Folgen, 2007, S. 178. 320 Diefenbach, Leihmutterschaft, 1990, S. 153. 321 Siehe etwa Coester-Waltjen, Gutachten 56.  DJT, Band  I, 1986, B  80 f.; Herdegen, in: Maunz / ​Dürig (Hrsg.), GG, 81. Lfg. 2017, Art. 1 Abs. 1 Rn. 104; Jofer, Regulierung der Reproduktionsmedizin, 2014, S. 314. Differenzierend der 56. DJT, der zu dem Ergebnis kam, dass die Tragemutterschaft gegen die Menschenwürde verstoße, nicht aber die Ersatzmutterschaft, 56. Deutscher Juristentag: Die Beschlüsse, NJW 1986, 3069 (3070). 322 Coester-Waltjen, Gutachten 56. DJT, Band I, 1986, B 81; Diefenbach, Leihmutterschaft, 1990, S. 148; Macklin, in: Gostin (Hrsg.), Surrogate Motherhood, 1990, S. 136 (149). Gegen eine Abgrenzung an Hand der Entgeltlichkeit Jofer, die davon ausgeht, dass die entsprechende Motivation nicht generalisierbar und Unentgeltlichkeit nicht mit Freiwilligkeit und Freiheit von Druck gleichzusetzen sei, dies., Regulierung der Reproduktionsmedizin, 2014, S. 314. 323 Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 7 Rn. 15. 324 Hieb, Die gespaltene Mutterschaft im Spiegel des deutschen Verfassungsrechts, 2005, S. 159. 325 Jofer, Regulierung der Reproduktionsmedizin, 2014, S. 313; Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​ Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 7 Rn. 15. 326 Hörnle, in: Joerden / ​Hilgendorf / ​Thiele (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, 2013, S. 743 (748); Jofer, Regulierung der Reproduktionsmedizin, 2014, S. 313; Starck, Gutachten 56. DJT, Band I, 1986, A 42; Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 7 Rn. 15. 327 Coester-Waltjen, Gutachten 56. DJT, Band I, 1986, B 80. 328 Hieb, Die gespaltene Mutterschaft im Spiegel des deutschen Verfassungsrechts, 2005, S. 158 f.

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

die Acht-Wochen-Frist des § 1747 Abs. 2 S. 1 BGB) noch ein entsprechender Vertrag wirksam sei, gelte dies gerade auch hinsichtlich der Freigabe des Kindes zur ­Adoption.329 Soweit eine freiwillige Entscheidung zur Übernahme einer Leihmutterschaft also möglich sei, dürfte den potentiellen Leihmüttern ihre Autonomie nicht auf Basis gesellschaftlicher Normen aberkannt werden.330 Auch nach dem vorliegend vertretenen, autonomiezentrierten Menschenwürdeverständnis331 kann die selbstbestimmte Entscheidung zur Übernahme einer Leihmutterschaft eine Menschenwürdeverletzung der Leihmutter nicht begründen – weder in kommerziellen noch in altruistischen Arrangements. Wie bereits ausgeführt, beeinträchtigt zunächst die Kommerzialisierung oder Kommodifizierung des eigenen Körpers die Menschenwürde per se nicht.332 Die Verbindung von körperlicher Aufopferung und finanzieller Gegenleistung ist – wie etwa im Rahmen der leiblichen Kommerzialisierung bei Prostitution333 oder körperlicher Arbeit – rechtlich vielmehr grundsätzlich akzeptiert und vorgesehen, sodass ein Verbot der Leihmutterschaft nicht widerspruchsfrei auf diesen Aspekt gestützt werden kann. Dementsprechend kommt eine Menschenwürdeverletzung auch in altruistischen Leihmutterschaftsarrangements grundsätzlich nicht in Betracht: Die freiwillige Entscheidung zur Übernahme einer Leihmutterschaft, so wie sie die Regelung ebenfalls untersagt, schließt die Annahme einer objektifizierenden Menschenwürdeverletzung vielmehr aus. Insoweit gilt es sich zugunsten des Schutzes der Frauen wiederum auf das Vorliegen einer aufgeklärten Einwilligung zu fokussieren.334 Liegt eine solche vor, kann die Menschenwürde der autonom handelnden Frau bereits nicht betroffen sein. Ein paternalistischer, aufgedrängter Menschenwürdeschutz ist grundsätzlich abzulehnen – die eigene Menschenwürde kann darum schon begrifflich nicht gegen die Freiheit der Leihmütter ins Feld geführt werden. b) Gesundheitsschutz der Leihmütter Der Gesetzentwurf begründet die Regelung zudem unter anderem mit den gesundheitlichen Risiken der Leihmütter.335 Zwar besteht kein Zweifel an den kör 329 Hieb, Die gespaltene Mutterschaft im Spiegel des deutschen Verfassungsrechts, 2005, S. 158. 330 Hörnle, in: Joerden / ​Hilgendorf / ​Thiele (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, 2013, S. 743 (748 f.). 331 Siehe dazu im zweiten Kapitel unter B. II. 3. b) aa) (2). 332 Siehe dazu bereits im dritten Kapitel unter C. I. 3. b) cc). 333 Bleisch, JWE 2012 (17), S. 5 (15). Auch Taupitz geht davon aus, dass etwa eine Degradierung der Frauen bei Prostitution viel naheliegender sei, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 7 Rn. 15. 334 Auch Coester-Waltjen geht davon aus, dass für die Beurteilung einer Menschenwürdeverletzung vielmehr die konkrete Ausgestaltung der Rechtsposition der Leihmutter entscheidend sei, dies., Gutachten 56. DJT, Band I, 1986, B 82. 335 BT-Drs. 11/5460, S. 15.

5. Kap.: Reproduktionsmedizinische Regelungen

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perlichen Gefahren, die eine Schwangerschaft grundsätzlich birgt. Soweit sich eine Frau jedoch autonom zur Ausführung einer Leihmutterschaft entschließt, wird sie durch die Regelung unter diesem Gesichtspunkt gegen ihren eigenen Willen geschützt.336 Da die betroffenen Frauen zwar nicht Adressatinnen der Strafbewehrung sind, aber ihre Handlungsfreiheit durch das Verbot dennoch unmittelbar verkürzt wird, wirkt die Regelung paternalistisch und kann unter diesem Aspekt im Sinne des Autonomieschutzes der Frauen einer Legitimation nicht zugänglich sein.337 c) Schutz der Leihmütter vor negativen psychischen Auswirkungen Dasselbe muss gelten, soweit die Regelung Frauen vor negativen psychischen Auswirkungen der Leihmutterschaft schützen will – so wie es der Gesetzentwurf ausdrücklich vorsieht, insofern er hinsichtlich des Verbots auf die Gefahr psychischer Konflikte für alle Beteiligten verweist.338 Wie etwa die „Baby M“-Prozesse deutlich vor Augen führten, ist es zunächst natürlich möglich, dass eine Leihmutter das Kind nach der Geburt nicht mehr abgeben möchte und sich insofern psychischen Konflikten ausgesetzt sieht. Das Ausmaß dieser Gefahr lässt sich zwar anzweifeln – gerade da etwa eine Studie, die Leihmütter sechs Monate nach der Niederkunft psychologisch begutachtete und in deren Rahmen keine psychologischen Auffälligkeiten festgestellt werden konnten, nahelegte, dass nicht generell von negativen Auswirkungen der Leihmutterschaft auf die austragenden Frauen ausgegangen werden könne.339 Zudem könnte entsprechenden Konflikten auch mit einer Regulierung der Leihmutterschaft begegnet werden, in deren Rahmen die austragende Frau umfassend und gerade auch vor einer Wegnahme des Kindes geschützt wird, wenn sie ihre Meinung hinsichtlich der Abgabe an die Wunscheltern nachträglich ändert. Jedenfalls aber kommt es für einen entsprechenden Rechtfertigungsansatz wiederum allein auf eine umfassende Informierung und ein aufgeklärtes Einverständnis der zukünftigen Leihmutter an: Soweit sie weiß, worauf sie sich einlässt und sich autonom dafür entscheidet, ein Kind für jemand anderen auszutragen, soll sie nach vorliegend vertretener Auffassung autonomieschonend auf andere Art und Weise vor der Gefahr psychischer Konflikte geschützt werden als mittels einer bevormundenden Freiheitseinschränkung gegen ihren Willen, so wie sie von der gegenwärtigen Regelung ausgeht.

336 Lehmann geht davon aus, dass das Recht auf körperliche Unversehrtheit durch eine Schwangerschaft zwar berührt, in Folge des Einverständnisses jedoch nicht verletzt werde, dies., Die In-vitro-Fertilisation und ihre Folgen, 2007, S. 178. 337 Siehe zur Unzulässigkeit paternalistischer Regelungszwecke im zweiten Kapitel unter B. III. 6. 338 BT-Drs. 11/5460 S. 15. 339 Depenbusch / ​Schultze-Mosgau, in: Diedrich / ​Ludwig / ​Griesinger (Hrsg.), Reproduktionsmedizin, 2013, S. 297 (300).

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

d) Schutz vor Ausbeutung und Schutz defizitär Entscheidender Auch in Zusammenhang mit dem Verbot der Leihmutterschaft wird regelmäßig angeführt, dass die Entscheidung zur Übernahme einer Schwangerschaft für eine andere Frau etwa durch finanzielle Erwägungen sachfremd beeinflusst werden könne.340 Sowohl in Folge wirtschaftlicher als auch in Folge sozialer Zwänge könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Frauen sich per se autonom zur Übernahme einer Leihmutterschaft entscheiden.341 Vielmehr bestehe die Gefahr der Ausbeutung342 und Ausnutzung der austragenden Frauen.343 Abgesehen davon, dass sachfremde Erwägungen, wirtschaftliche Zwänge und Ausbeutung nicht jedem vom Embryonenschutzgesetz untersagten Konstrukt der Leihmutterschaft als solchem zwangsläufig innewohnen344 – man denke etwa an die freiwillige Übernahme einer Schwangerschaft durch eine Frau für ihre Schwester, die nach einer Hysterektomie kein Kind mehr austragen kann –, besteht wie bereits dargelegt kein zwangsläufiger Zusammenhang zwischen einer Ausbeutungssituation und einer defizitären Entscheidung der beteiligten Frauen.345 Vielmehr bleiben auch in psychischen Drucksituationen autonome Entscheidungen grundsätzlich möglich, sodass eine Schutzregelung unter diesem Gesichtspunkt im Einzelfall unzulässig paternalistisch wirken könnte. Dieser Effekt gegenüber autonom handelnden Leihmüttern könnte jedoch einer Rechtfertigung zugänglich sein, wenn er zum Schutz der anderen, defizitär entscheidenden Leihmütter erforderlich wäre. Wie bereits dargelegt kommt dies in Betracht, wenn eine besondere Gefahrenlage für die Freiwilligkeit der Entscheidungen besteht und der Schutz der defizitär Entscheidenden nicht anders ebenso wirksam erreicht werden kann.346 Bereits die Annahme einer grundsätzlichen Gefährdungslage erscheint im Fall der Übernahme einer Leihmutterschaft zweifelhaft – auch wenn zu konzedieren ist, dass es sich bei einer Schwangerschaft um ein deutlich gesundheitsgefährdenderes Unterfangen handelt als etwa bei einer Eizellspende, sodass gewichtige Rechtsgüter auf dem Spiel stehen. Wie bei Organ- und Eizellspende auch handelt es sich jedoch bei Durchführungen einer Leihmutterschaft indes insbesondere nicht um Massengeschäfte, sondern um einzelne, aufwendige Behandlungen, die individuell 340

Diefenbach, Leihmutterschaft, 1990, S. 157. Lehmann, Die In-vitro-Fertilisation und ihre Folgen, 2007, S. 177. 342 Nitschmann / ​Petersdorf, in: FS Jung, 2007, S. 669 (682); dazu auch Hörnle, in: Joerden / ​ Hilgendorf / ​Thiele (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, 2013, S. 743 (748) m. w. N. 343 So ausdrücklich der Kabinettsbericht zur künstlichen Befruchtung beim Menschen, BTDrs. 11/1856, S. 8. 344 Bleisch, JWE 2012 (17), S. 5 (9); Hörnle, in: Joerden / ​Hilgendorf / ​Thiele (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, 2013, S. 743 (750). Gegen das Ausbeutungsargument in diesem Zusammenhang auch Macklin, in: Gostin (Hrsg.), Surrogate Motherhood, 1990, S. 136 (149). Bleisch geht allerdings davon aus, dass es bei finanzieller Not der Leihmutter zu Ausbeutung kommen kann, a. a. O., S. 16. 345 Siehe dazu bereits im dritten Kapitel unter C. I. 3. b) aa). 346 Siehe dazu im zweiten Kapitel unter B. V. 341

5. Kap.: Reproduktionsmedizinische Regelungen

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medizinisch betreut werden. In diesem Rahmen ist eine ausführliche Aufklärung und Informierung sowie Auseinandersetzung mit der Freiwilligkeit der handelnden Frauen unproblematisch umsetzbar. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es daher nicht verhältnismäßig, der grundsätzlich durchschnittlich großen Gefahr unfreiwilliger Entscheidungen mit einem umfassenden Verbot aller Behandlungen zu begegnen: Eine generalisierende Untersagung ist insoweit zum Schutz der defizitär Entscheidenden nicht erforderlich; in den in Frage stehenden Einzelsituationen kann dieser vielmehr deutlich selbstbestimmungsschonender ermöglicht werden. e) Schutz des Elternrechts (Art. 6 Abs. 2 GG) Aus antipaternalistischen Gründen ist auch eine Verletzung des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 GG durch die Verpflichtung zur Abgabe des Kindes nach der Geburt347 zu verneinen: Nicht nur könnte (und sollte) eine solche Verpflichtung nach geltendem Recht überhaupt keine Wirksamkeit entfalten348 – insbesondere kann ein autonom entschiedener Verzicht eine Rechtsgutsbeeinträchtigung nicht begründen. Ein demnach allein gegen den Willen der Frauen erfolgender Schutz kann die mit dem Verbot einhergehende Freiheitsverkürzung nicht rechtfertigen.

V. Resümee: Verfassungswidrigkeit des Verbots der Leihmutterschaft Im Ergebnis sind die grundrechtlichen Freiheitsbeeinträchtigungen, die mit dem umfassenden Verbot der reproduktionsmedizinisch unterstützten Leihmutterschaft, so wie es sich aus § 1 Abs. 1 Nr. 1, 2, 6 und insbesondere Nr. 7 sowie § 1 Abs. 2 ESchG ergibt, einhergehen, verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen.349 Das Verbot ist in seiner derzeitigen Ausgestaltung vielmehr verfassungswidrig. Insoweit Aspekte des Kindeswohls bereits sachlich nicht verfangen, stützt sich das Verbot – wie auch das Verbot der Eizellspende – zentral auf traditionelle Familienbilder und paternalistische Bevormundung zugunsten und zulasten der potentiellen Leihmütter. Da weder der Schutz sittlicher Vorstellungen von Familie noch ein Schutz der Frauen gegen ihren Willen eine Verkürzung von Freiheitsgrundrechten rechtfertigen kann, begründet die Regelung aus Perspektive des im Rahmen dieser Arbeit vertretenen Antimoralismus und Antipaternalismus einen Verstoß gegen das Grundgesetz. 347

Siehe Lehmann, Die In-vitro-Fertilisation und ihre Folgen, 2007, S. 179. Siehe dazu auch Hieb, Die gespaltene Mutterschaft im Spiegel des deutschen Verfassungsrechts, 2005, S. 158. 349 So auch Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 7 Rn. 19; ablehnend auch Hektor, Die Relevanz ethischer Konzeptionen im Strafrecht, 1995, S. 182; Jofer, Regulierung der Reproduktionsmedizin, 2014, S. 321, 586. 348

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

In diesem Licht wirkt insbesondere die Strafbewehrung des Verbots unverhältnismäßig.350 Denn schon ein strafrechtlich relevantes Rechtsgut, das von der Regelung geschützt würde, ist nicht auffindbar351 – die Strafbewehrung scheint vielmehr tabuschützender und symbolischer Natur zu sein.352 Eine solche Ausrichtung ist in einer freiheitlichen Rechtsordnung jedoch abzulehnen: Der Gesetzgeber soll nicht mit Strafbewehrung belegen dürfen, was er selbst oder Teile der Gesellschaft möglicherweise für unmoralisch oder unnatürlich halten. Ein wirkungsvollerer und freiheitsschonenderer Schutz aller Beteiligten ließe sich vielmehr dadurch erreichen, dass die Leihmutterschaft einem kontrollierenden Regelwerk unterworfen würde,353 das insbesondere die umfassende Information und Aufklärung der Wunscheltern und der Leihmutter vorsieht. Soweit über die rechtlichen und tatsächlichen Probleme aufgeklärt und die Beteiligung aller hinreichend dokumentiert würde, so dass sich das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner eigenen Abstammung keiner zusätzlichen Gefahr ausgesetzt sieht,354 kann eine leihmutterschaftliche Vereinbarung verfassungsrechtlichen Bedenken nicht begegnen. Eine umfassende Informierung und Aufklärung würde Konflikten vorbeugen, Freiwilligkeit gewährleisten und damit in letzter Konsequenz insbesondere auch das auf diesem Weg auf die Welt kommende Kind schützen. Soweit der Schutz der Beteiligten gewährleistet ist, kann auch eine kompensierte und entgeltliche Leihmutterschaft nicht per se ausscheiden.

C. Resümee: Paternalismen im Embryonenschutzgesetz Wenn sich zwei autonom handelnde Menschen dazu entschließen, ihre Infertilität mittels der Beteiligung einer ebenfalls autonom handelnden Frau und der Durchführung einer Eizellspende oder Leihmutterschaft unter fairen Bedingungen zu überwinden, kann sich der Gesetzgeber nicht moralisierend einschalten: „Die Entscheidung über die Fortpflanzung ist, selbst wenn dem Zeugungsakt die Intimität fehlt, eine höchstpersönliche Entscheidung, in die der Staat nicht eingreifen sollte.“355 350 Taupitz, in: Günther / ​Taupitz / ​Kaiser (Hrsg.), ESchG, 2. Aufl. 2014, Kapitel C. § 1 Abs. 1 Nr. 7 Rn. 19. Auch Hektor hält die Regelung für zu weitgehend, dies., Die Relevanz ethischer Konzeptionen im Strafrecht, 1995, S. 194. 351 Hektor, Die Relevanz ethischer Konzeptionen im Strafrecht, 1995, S. 182; Nitschmann  / ​ Petersdorf, in: FS Jung, 2007, S. 669 (678). 352 Nitschmann / ​Petersdorf, in: FS Jung, 2007, S. 669 (680, 683). 353 Ramm plädiert dafür, dass eine rechtswirksame Einwilligung zur Adoptionsabgabe der Leihmutter möglich sein soll, soweit diese mit einem Widerrufsvorbehalt bei Bindung an das Kind während der Schwangerschaft ausgestattet ist, ders., JZ 1989, 861 (872); Bleisch sieht den Schutz aller bei Ausgestaltung der Leihmutterschaft als „persönliche triadische Beziehung“ unter Einbindung aller Beteiligten am besten gewährleistet, dies., JWE 2012 (17), S. 5 (17–24). 354 Dazu auch Coester-Waltjen, Gutachten 56. DJT, Band I, 1986, B 120. 355 Coester-Waltjen, Gutachten 56. DJT, Band I, 1986, B 119.

5. Kap.: Reproduktionsmedizinische Regelungen

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In Zeiten, in denen so viele „natürliche“ Vorgänge medizinisch unterstützt werden, kann die rechtliche Beurteilung technisch möglicher Praktiken nicht davon abhängig gemacht werden, dass mit der behandelnden Ärztin eine „Dritte“ in diesen nach wie vor denkbar privatesten Prozess eingeschaltet oder von einem „klassischen“ Frauen- und Familienbild, das auf den Moralvorstellungen einzelner gesellschaftlicher Gruppen beruht, abgewichen wird: „Bei der Beurteilung der Zulässigkeit des Vorgehens ist weiterhin zu beachten, daß das Recht nicht eine Hochethik für alle verbindlich erklären kann. Vielmehr hat hier das Prinzip Tole­ ranz zu gelten.“356

Dieser Aspekt muss in besonderem Maße beachtet werden, wenn sich strafbewehrte Regelungen im Übrigen allein auf paternalistische Bevormundungen der beteiligten Frauen stützen. Die zugunsten aller Beteiligten vollzogene Fortpflanzung in Drei- oder Vierpersonenverhältnissen, die keine negativen gesellschaftlichen Auswirkungen mit sich bringt, kann dann nicht auf Basis unspezifischer Ängste vor fernliegenden Gefahren mit einer Strafbewehrung versehen werden.357 Mit der Statuierung eines umfassenden Verbots der Praktiken verletzt der Gesetzgeber nicht nur die grundsätzlich geltende Freiheitsvermutung, die nur auf Basis tragfähiger Gründe eingeschränkt werden darf; außerhalb paternalistischer Einschränkungen kommt er auch seiner fürsorgerischen Aufgaben nicht nach: Denn eine protektive Regulierung würde zugunsten der Autonomie der handelnden Frauen, im Sinne des Rechts der so auf die Welt kommenden Kinder auf Kenntnis ihrer eigenen Abstammung und insbesondere auch zugunsten der Wunscheltern wirken, die ihre Infertilität, die eine schwere psychische Belastung begründen kann,358 nach dem Stand der Wissenschaft überwinden könnten. Gerade in einer globalisierten Welt, in der Fertilitätstourismus an der Tagesordnung ist, trifft den Gesetzgeber eine entsprechende Schutzpflicht: Denn tatsächlichen Gefahren sind alle an einer Eizellspende oder Leihmutterschaft Beteiligten derzeit allein im Rahmen unregulierter, fertilitätstouristischer Arrangements – gerade auch im globalen Süden – ausgesetzt. Daher gilt es, überkommene Moralvorstellungen außen vor zu lassen und die aufgezeigten Praktiken im Sinne des Wohls aller Beteiligten zuzulassen und zu regulieren.

356

Coester-Waltjen, Gutachten 56. DJT, Band I, 1986, B 119. Insoweit kritisch auch Spranger, nach dem in Bereichen des Technikrechts mitunter statt einer Freiheitsvermutung eine „Gefahrenvermutung“ bestünde, die „dem Grundrechtsberechtigten die Beweislast der Unbedenklichkeit des betreffenden Verfahrens“ auferlege, ders., Recht und Bioethik, 2010, S. 363. 358 Die psychischen Folgen, die Infertilität nach sich ziehen kann, können denen des Verlusts eines nahestehenden Angehörigen oder der Diagnostizierung einer lebensbedrohlichen Erkrankung entsprechen, Dorn / ​Wischmann, in: Diedrich / ​Ludwig / ​Griesinger (Hrsg.), Reproduktionsmedizin, 2013, S. 483 (487). Siehe auch BT-Drs. 17/3759, S. 7. 357

Sechstes Kapitel

Thesenartige Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse 1. Rechtspaternalismus liegt vor, wenn sich der Staat mit den Mitteln des Rechts im Sinne des Schutzes oder des Wohls der Betroffenen unter Einschränkung ihrer Freiheit über ihren autonom oder defizitär gebildeten Willen hinwegsetzt. Das Übergehen von autonomem Willen ist als stark paternalistisch zu verstehen, das Übergehen von defizitär gebildetem Willen als schwach paternalistisch.1 2. Auch außerhalb des Biomedizinrechts sind es insbesondere Regelungen, die den körperlichen Schutz der Beteiligten bezwecken, die stark paternalistische Anteile enthalten – so etwa die Regelungen zum Umgang mit Betäubungsmitteln, die Strafbewehrung der Tötung auf Verlangen und die einer Körperverletzung trotz Einwilligung in Folge eines Verstoßes gegen die guten Sitten sowie die Sicherheitsgurtund Schutzhelmpflicht. Gerichtliche Entscheidungen mit selbständiger paternalistischer Wirkung behandeln regelmäßig die Menschenwürde der Betroffenen, so etwa im Rahmen der Entscheidungen zur Peep-Show und zum Zwergenweitwurf.2 3. Nach Kants deontologischem Rechtsverständnis ist Paternalismus unzulässig, da kein Zwang ausgeübt werden darf, wo keine Rechte, Rechtsgüter oder Freiheiten Dritter betroffen sind und nur das Wohl der Betroffenen selbst gefördert werden soll. Kant erkennt allein ethische, aber keine rechtlichen Pflichten gegen die eigene Person an. Demgegenüber können konsequentialistische Ansätze einen absoluten Selbstbestimmungsschutz nicht gewährleisten, da ihnen eine Abwägung mit Folgen und Nutzen einzelner Handlungen zugrunde liegt, die jederzeit auch anderen Werten den Vorrang vor der Autonomie einräumen kann und mit einer naturgemäßen Relativierung jedes einzelnen Werts einhergeht.3 4. Selbstschädigendes Verhalten wird als solches weder durch die Menschenwürde noch durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht geschützt. Da aber jedes menschliche Verhalten in den Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit fällt, gilt dies auch für alle Freiheiten, die durch paternalistische Regelungen beschränkt werden. Grundrechtlicher Schutz vor paternalistischen Regelungen besteht somit zumindest subsidiär durch die von Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistete allgemeine Handlungsfreiheit. Dieser grundrechtliche Schutz selbstschädigenden 1

Siehe dazu 1. Kapitel, A. Siehe dazu 1. Kapitel, B. 3 Siehe dazu 2. Kapitel, A. 2

6. Kap.: Thesenartige Zusammenfassung

389

Verhaltens wird nicht bereits auf Schutzbereichsebene beschränkt und insbesondere durch kein grundrechtliches Verfügungsverbot gesperrt. Aus einem der Freiheit der Einzelnen verpflichteten Grundgesetz können weder „Grundpflichten“ noch Beschränkungen der Verfügung über eigene Rechtsgüter abgeleitet werden. Insbesondere konstituiert die Menschenwürde insofern keine Schutzgrenze, da diese subjektiv bestimmt wird und die Freiheit der Einzelnen daher nicht durch einen Menschenwürdeschutz gegen den eigenen Willen eingeschränkt werden kann.4 5. Der mit stark paternalistischen Regelungen einhergehende Eingriff in die Grundrechte der autonom Entscheidenden, deren Freiheit zur Selbstschädigung jedenfalls durch die allgemeine Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG geschützt wird, lässt sich grundsätzlich nicht mit ihrem eigenen Schutz rechtfertigen. Den Individualschutz der Betroffenen gegen ihren eigenen Willen als legitimen Zweck einer Grundrechtsbeschränkung anzusehen, würde den von den Grundrechten intendierten Freiheitsschutz in sein Gegenteil verkehren. Vielmehr nimmt bereits das auf der Menschenwürde basierende, selbstbestimmungs-orientierte Menschenbild des Grundgesetzes eine antipaternalistische Haltung ein. Freiheitsrechtliche Beschränkungen sind allein zum Schutz der Rechte, Rechtsgüter und Interessen Dritter und der Allgemeinheit denkbar. Die Selbstschädigung begründet grundsätzlich aber weder eine Beeinträchtigung der Rechte Außenstehender noch von Belangen der Gemeinschaft. Paternalistische Freiheitseingriffe können ferner nicht mit objektiven Grundrechtsgehalten, zum Schutz des Sittengesetzes oder des Wesensgehalts der Grundrechte gerechtfertigt werden.5 6. Auch selbstverfügendes Verhalten, das auf defizitären Entscheidungen beruht, genießt grundrechtlichen Schutz durch die allgemeine Handlungsfreiheit. Diese Freiheit kann jedoch auch gegen ihren Willen durch den Schutz der Betroffenen beschränkt werden, da die selbstbestimmungsorientierte Ausrichtung des Grundgesetzes diesem schwach paternalistischen Schutz in Folge allgemeiner oder konkreter Autonomiedefizite der Betroffenen nicht entgegensteht.6 7. Der Schutz defizitär Entscheidender kann nicht nur Regelungen rechtfertigen, die gegenüber defizitär Entscheidenden wirken, sondern auch solche, die gegenüber autonom Entscheidenden Wirkung entfalten. Für die Geeignetheit derartiger Regelungen ist bedeutsam, dass eine Gefahr defizitärer Entscheidungen und ein Wirkzusammenhang zwischen Gefahr und Regelung besteht. Eine verallgemeinernde Regelung kann dann auch erforderlich sein, wenn mildere Mittel in Form einer differenzierenden Regelung oder einer verfahrenspaternalistischen Überprüfung der Autonomie der zugrundeliegenden Entscheidung im Verhältnis zur umfassenden Verbotsnorm keinen gleich wirksamen Schutz der defizitär Entscheidenden bieten können. Überwiegt die Bedeutung der zu schützenden Integrität der defizitär Entscheidenden gegenüber dem beeinträchtigten Selbstbestimmungsrecht der 4

Siehe dazu 2. Kapitel, B. I., II. Siehe dazu 2. Kapitel, B. III. 6 Siehe dazu 2. Kapitel, B. IV. 5

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

autonom Entscheidenden, kann eine solche Regelung auch verhältnismäßig i. e. S. sein. Die stark paternalistischen Auswirkungen müssen unter den genannten Voraussetzungen im Rahmen eines zwangsläufig abstrakt-generellen Regelungssystems hingenommen werden.7 8. Das gemäß §§ 17, 18 TPG strafbewehrte Verbot des Organ- und Gewebehandels ist verfassungswidrig. Der mit der Regelung einhergehende Eingriff in die Grundrechte der potentiellen Organspenderinnen, Organempfängerinnen sowie anderer Beteiligter am Organhandel, insbesondere der Ärztinnen, lässt sich in seiner derzeitigen Gestalt weder auf Grundlage des Schutzes vor der Gefahr von Ausbeutung der Empfängerin und der Spenderin, des Schutzes der körperlichen Unversehrtheit der Spenderin, des Schutzes der Menschenwürde im Rahmen der Kommerzialisierung des menschlichen Körpers, des Moralschutzes im Rahmen einer Kommerzialisierung, des Schutzes vor einer Verteilung von Organen nach finanziellen Gesichtspunkten, des Schutzes des Transplantationswesens vor dem Anschein sachfremder Erwägungen noch auf Grund einer Appell- und Präventionsfunktion des Tatbestandes rechtfertigen. Da Ausbeutung nicht zwangsläufig ein Autonomiedefizit der Handelnden begründet, bevormundet das Organhandelsverbot auch autonom Entscheidende. Soweit es sich auch gegen ihren Willen am Schutz der Spenderinnen und Empfängerinnen orientiert, wirkt es stark paternalistisch. Mangels Gefährdung der Autonomie bei pauschalierten Anerkennungszahlungen und reinen Dankbarkeitsgaben und in Anbetracht der Möglichkeit einer kommissionellen Überprüfung der Freiwilligkeit, lässt sich die stark paternalistische Wirkung des Organhandelsverbots in seiner Breite auch nicht mit dem Schutz defizitär Entscheidender rechtfertigen.8 9. Auch die gemäß § 8 Abs. 1 S. 2 i. V. m. § 19 Abs. 1 Nr. 2 TPG strafrechtlich abgesicherte Begrenzung des Kreises potentieller Lebendorganspenderinnen auf Personen, die zu der Organempfängerin in einem bestimmten Verwandtschaftsoder besonderen Näheverhältnis stehen, ist verfassungswidrig. Der mit der Regelung einhergehende Eingriff in die Grundrechte der potentiellen Spenderinnen, behandelnden Ärztinnen und insbesondere in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit der potentiellen Empfängerinnen lässt sich weder mit dem Schutz der Freiwilligkeit der Spendeentscheidung, dem Schutz vor Organhandel, dem Vorrang der postmortalen Spende noch mit dem stark paternalistischen Schutz der potentiellen Spenderinnen vor körperlicher Schädigung rechtfertigen. Zum Schutz defizitär Entscheidender ist die Beschränkung auf Spenden in Nähe- und Verwandtschaftsverhältnissen mangels besonderer Gefährdung und Wirkzusammenhangs bereits nicht geeignet.9 10. Die stark paternalistische Wirkung des in § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b) Alt. 1 i. V. m. § 19 Abs. 1 Nr. 1 TPG strafrechtlich abgesicherten Erfordernisses einer hinreichen 7

Siehe dazu 2. Kapitel, B. V. Siehe dazu 3. Kapitel, C. I. 9 Siehe dazu 3. Kapitel, C. II. 8

6. Kap.: Thesenartige Zusammenfassung

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den Aufklärung der Lebendorganspenderin kann verfahrenspaternalistisch mit dem Schutz defizitär Entscheidender gerechtfertigt werden, ebenso wie die stark paternalistische Wirkung des § 8 Abs. 3 S. 2 TPG, der für die Zulässigkeit der Lebend­ organentnahme fordert, dass die nach Landesrecht zuständige Kommission gutachtlich dazu Stellung genommen hat, ob begründete, tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Einwilligung in die Organspende nicht freiwillig erfolgt ist oder das Organ Gegenstand verbotenen Handeltreibens nach § 17 TPG war.10 11. Auch das gemäß § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 a) Alt. 1 i. V. m. § 19 Abs. 1 Nr. 1 TPG strafbewehrte Verbot der Organ- oder Gewebeentnahme bei nicht volljährigen Spenderinnen wirkt stark paternalistisch, ist aber zum Schutz defizitär Entscheidender einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung zugänglich.11 12. Das gemäß § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 a) Alt. 2 i. V. m. § 19 Abs. 1 Nr. 1 TPG strafbewehrte Verbot der Organ- oder Gewebeentnahme bei nicht einwilligungsfähigen Spenderinnen ist schwach paternalistisch zum Schutz der Betroffenen verfassungsrechtlich rechtfertigbar; ebenso das gemäß § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b) Alt. 2 i. V. m. § 19 Abs. 1 Nr. 1 TPG strafbewehrte Verbot der Organ- oder Gewebeentnahme bei fehlender Einwilligung.12 13. Die stark paternalistische Wirkung des in § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 i. V. m. § 19 Abs. 1 Nr. 1 TPG strafrechtlich abgesicherten Vorbehalts ärztlicher Behandlung bei der Durchführung einer Lebendorganspende kann mit dem als Gemeinwohlbelang zu qualifizierenden Vertrauen in die Qualität der Transplantationsmedizin und der damit einhergehenden Sicherung der Spendebereitschaft gerechtfertigt werden. Dies gilt auch für die Erfordernisse der Eignung, fehlenden Gefährdung oder schweren Beeinträchtigung der Spenderin aus § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 c) TPG, der Eignung der Organübertragung zur Lebenserhaltung oder Krankheitsheilung gemäß § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 TPG sowie der Bereiterklärung der Spenderin zur Nachbetreuung gemäß § 8 Abs. 3 S. 1 TPG.13 14. Die in § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 TPG vorgeschriebene Subsidiarität der Lebendorganspende gegenüber zur Postmortalspende ist stark paternalistisch motiviert und als verfassungswidrig abzulehnen.14 15. Das gemäß § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 i. V. m. § 96 Nr. 10 AMG strafrechtlich abgesicherte Erfordernis der medizinischen Vertretbarkeit der klinischen Prüfung von Arzneimitteln nach Risiko-Nutzen-Abwägung begründet einen stark paternalistisch wirkenden Schutz gegen den Willen der einzelnen Probandin. Der mit der Regelung verbundene Eingriff kann jedoch durch das Gemeinwohlinteresse am Schutz des Vertrauens in die Humanforschung gerechtfertigt werden; ebenso wie die für 10

Siehe dazu 3. Kapitel, C. V., D. V. Siehe dazu 3. Kapitel, C. III. 12 Siehe dazu 3. Kapitel, C. IV., VI. 13 Siehe dazu 3. Kapitel, C. VII., D. II, III., IV. 14 Siehe dazu 3. Kapitel, D. I. 11

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2. Teil: Paternalismus im Biomedizinrecht

die Durchführung einer klinischen Prüfung von Arzneimitteln gemäß § 96 Nr. 11 i. V. m. §§ 40 Abs. 1 S. 2, 42 Abs. 1 S. 7 Nr. 3 AMG erforderliche Zustimmung einer Ethik-Kommission. Dies gilt auch für die paternalistisch wirkenden, einschränkenden Sicherheits- und Qualitätsanforderungen an eine klinische Prüfung gemäß § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 5–9 i. V. m. § 96 Nr. 10 AMG.15 16. Das nach § 96 Nr. 10 i. V. m. § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 3b), Abs. 2 S. 1 AMG strafbewehrte Erfordernis der schriftlichen Einwilligung nach Aufklärung in die Teilnahme an einer klinischen Prüfung von Arzneimitteln lässt sich hinsichtlich der Einwilligung schwach paternalistisch und hinsichtlich des Aufklärungserfordernisses, das im Einzelfall stark paternalistisch wirken kann, verfahrenspaternalistisch durch den Schutz defizitär Entscheidender rechtfertigen.16 17. Die gemäß § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 i. V. m. § 96 Nr. 10 AMG strafbewehrt untersagte Durchführung einer klinischen Prüfung von Arzneimitteln mit Probandinnen, die auf gerichtliche oder behördliche Anordnung in einer Anstalt untergebracht sind und deren Schutz die Regelung unter anderem dient, entfaltet eine stark paternalistische Wirkung. Da auch in einer Unterbringungssituation grundsätzlich autonome Entscheidungen zur Teilnahme an klinischer Forschung getroffen werden können, erfasst die Regelung nicht allein defizitäre Entscheidungen und lässt sich somit nicht schwach paternalistisch rechtfertigen. Trotz einer gewissen Gefährdung der Autonomie unter diesen Umständen lässt sich die Regelung auch nicht mit dem Schutz defizitär Entscheidender rechtfertigen, da insoweit eine prozedurale Überprüfung der Autonomie der Betroffenen als milderes Mittel zur Verfügung stünde. Die Regelung lässt sich grundsätzlich aber ebenfalls mit dem Schutz des Vertrauens in die Integrität der Humanforschung rechtfertigen. Allein gegenüber dem bedeutsamen Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit sowie der Gewährung möglicher Behandlungsaussichten muss der Integritätsschutz der Humanforschung zurücktreten, sodass die Regelung hinsichtlich des Verbots der Teilnahme einschlägig kranker Untergebrachter einer Rechtfertigung unter diesem Gesichtspunkt nicht zugänglich ist.17 18. Das Erfordernis eines direkten Individual- oder Gruppennutzen bei klinischer Forschung mit einschlägig Kranken gemäß §§ 40, 41 Abs. 1 S. 1 i. V. m. § 96 Nr. 10 AMG ist verfassungswidrig. Die Regelung lässt sich nicht schwach paternalistisch mit dem Schutz der einschlägig Kranken rechtfertigen, da auch diese autonom handeln können und die Regelung dementsprechend nicht ausschließlich defizitäre Entscheidungen erfasst. Die stark paternalistische Wirkung der Vorschriften lässt sich auch nicht zugunsten eines generalisierenden Schutzes defizitär Entscheidender legitimieren, da kein Wirkzusammenhang zwischen dem Schutz der Autonomie und der mit der Regelung einhergehenden Einschränkung besteht. Auch eine Rechtfertigung mit dem Schutz des Vertrauens in die Humanforschung 15

Siehe dazu 4. Kapitel, B. I., E. Siehe dazu 4. Kapitel, C. 17 Siehe dazu 4. Kapitel, D. 16

6. Kap.: Thesenartige Zusammenfassung

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kommt nicht in Betracht, da diesem bereits durch die Existenz der allgemeinen Risiko-Nutzen-Abwägung hinreichend Genüge getan wird.18 19. Die Einschränkungen der Forschung mit einschlägig kranken, nicht einwilligungsfähigen Volljährigen aus §§ 40, 41 Abs. 3 i. V. m. § 96 Nr. 10 AMG sind mangels wirksamen entgegenstehenden Willens ebenso wie der mit der Regelung einhergehende Ausschluss nicht einschlägig kranker Einwilligungsunfähiger schwach paternalistisch mit dem Schutz der Forschungsteilnehmerinnen zu rechtfertigen.19 20. Die Einschränkungen der Forschung mit einschlägig kranken und nicht einschlägig kranken Minderjährigen, so wie sie sich aus §§ 41 Abs. 2, 40 Abs. 1–4 i. V. m. § 96 Nr. 10 AMG und § 40 Abs. 4 i. V. m. § 96 Nr. 10 AMG ergeben sind trotz ihrer stark paternalistischen Wirkung gegenüber einsichtsfähigen Minderjährigen einer Rechtfertigung mit dem generalisierenden Schutz defizitär Entscheidender zugänglich.20 21. Das strafbewehrte Verbot der Eizellspende zu reproduktiven Zwecken aus § 1 Abs. 1 Nr. 1 und 2, Abs. 2 Nr. 1 und 2 ESchG ist stark paternalistisch, moralistisch und verfassungswidrig. Der mit der Regelung einhergehende Eingriff in die Grundrechte der Spenderinnen, Wunscheltern und behandelnden Reproduktionsmedizinerinnen ist einer Rechtfertigung nicht zugänglich. Die Vorschrift kann nicht durch den Schutz des Kindeswohls gerechtfertigt werden, da sich dieses keiner Bedrohung ausgesetzt sieht und ein Schutz durch Verhinderung der eigenen Zeugung bereits in sich widersprüchlich ist. In diesem Zusammenhang angeführte Gefährdungen des Gemeinwohls und Aspekte gespaltener Mutterschaft stehen auf moralistischer Grundlage und vermögen eine Freiheitseinschränkung nicht zu rechtfertigen. Auch der stark paternalistische Schutz der Spenderinnen gegen ihren Willen kann keine legitimierende Wirkung entfalten.21 22. Auch das strafbewehrte Verbot der Leihmutterschaft aus § 1 Abs. 1 Nr. 7 ESchG ist stark paternalistisch, moralistisch und verfassungswidrig. Eine Rechtfertigung der mit dem Verbot der Leihmutterschaft einhergehenden Freiheitseingriffe kann weder auf Aspekte des Kindeswohls gestützt werden noch auf moralistische Begründungen einer Gemeinwohlgefährdung oder den paternalistischen Schutz der Leihmütter gegen ihren Willen.22

18

Siehe dazu 4. Kapitel, F. Siehe dazu 4. Kapitel, G. 20 Siehe dazu 4. Kapitel, H. 21 Siehe dazu 5. Kapitel, A. 22 Siehe dazu 5. Kapitel, B. 19

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Sachwortverzeichnis Allgemeine Handlungsfreiheit  134 ff. Allgemeines Persönlichkeitsrecht  130 ff. Arbeitsschutzregelungen   78 f. Arzneimittelgesetz  291 ff. Arztvorbehalt  275 ff. Ausbeutungsschutz  216 ff., 350 f, 384 f. Authentizität  38 f., 123 f. Autonomie  31 ff. Betäubungsmittelgesetz  52 ff. Biomedizinrecht  199 ff. Disponibilität  141 ff. –– der Menschenwürde   141 ff. –– der Selbstbestimmung  149 f. –– des Rechtsguts Leben  147 ff. Dispositionsfreiheit  140 ff. Doping  69 ff. Dworkin, Ronald  121 ff. Eizellspende  331 ff. Embryonenschutzgesetz  329 ff. Ersatzmutterschaft 365 Ethikkommission  325 ff. Freiheitsermöglichung  51 f., 162 f. Freiheitserweiterung  50, 107 ff., 162 f. Freiheitssicherung   51 f., 162 f. Gattungswürde  172 f., 379 Gefangene –– Teilnahme an klinischer Prüfung  309 ff. –– Zwangsbehandlung  76 f. –– Zwangsernährung  76 f. Gemeinwohlschutz 164 ff., 275 ff., 345 ff., 378 ff. Gendiagnostik 72 Geschlechtsbezogene Diskriminierung  354 ff. Gleichheitsrechte  353 ff. Grundpflichten  136 f. Grundrechte  128 ff., 214 ff., 241 ff., 273 f.,

277 f., 280 ff., 298 ff., 310 ff., 317 ff., 323 ff., 326 f., 334 ff., 368 ff. Grundrechtliche Schutzpflichten  179 ff. Grundrechtsverzicht  138 f. Gurtpflicht  73 ff. Handlungsfreiheit siehe allgemeine Handlungsfreiheit Helmpflicht  73 ff. informed consent  308 f., 271 ff., 274 f. Irreversibilität  124 ff., 163 f. Kant, Immanuel   94 ff. Kastration 71 Kenntnis der eigenen Abstammung siehe Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung Kindeswohl –– bei Eizellspende  336 ff. –– bei Leihmutterschaft  370 ff. Klinische Prüfung von Arzneimitteln  291 ff. –– Einwilligung nach Aufklärung  308 f. –– Ethikkommission  325 ff. –– medizinische Vertretbarkeit  297 ff. –– mit einschlägig Kranken  316 ff., 322 ff. –– mit Minderjährigen  321 ff. –– mit nicht einwilligungsfähigen Volljährigen  319 ff. –– Risiko-Nutzen-Abwägung  297 ff. –– Sicherheits- und Qualitätsanforderungen  315 f. –– Verbot der Teilnahme untergebrachter Personen  309 ff. Kommerzialisierung des menschlichen Körpers  225 ff., 350 f., 380 ff. Konsequentialismus  101 ff. Laserdrome 87 Lebendorganspende  200 ff. –– Arztvorbehalt  275 ff. –– Aufklärung  271 ff.

416

Sachwortverzeichnis

–– bei Minderjährigen  268 ff. –– bei nicht Einwilligungsfähigen  270 f. –– Eignung der Spender  283 –– Einwilligung  274 f. –– Kommissionsstellungnahme 286 ff. –– Nachbetreuung  285 f. –– Spenderkreis  236 ff. –– Subsidiarität  279 ff. –– Überkreuz-Lebendspende  238 f. Lebendspenderkreis  236 ff. Leihmutterschaft  364 ff.

–– –– –– –– –– –– –– –– ––

Menschenwürde  129 f., 141 ff., 172 f., 225 ff., 301 f., 343 f., 348 f., 371 ff. Mill, John Stuart  102 ff. Minderjährigenschutz 85, 195 ff., 268 ff., 321 ff. Moralismus  45, 57 f., 62, 67, 69, 183, 221, 229 f., 344, 346, 379

Rechtspaternalismus  24 ff., 41 ff., 52 ff. reiner 47 schwacher  27, 126 f., 186 ff., 270 f., 274 f. starker   27 unechter 48 unreiner 47 verdeckter 48 Verfahrenspaternalismus  51 f., 194, 273 verfassungsrechtliche Rechtfertigung von  151 ff. –– weicher 47 Patientenverfügung  77 f. Peep-Show  85 f. Perfektionismus  44 ff. Persönlichkeitsrecht  siehe allgemeines Persönlichkeitsrecht Polygraph  88 f. PsychKG  83 f.

objektive Dimension der Grundrechte  177 ff. Organhandel  206 ff., 253 ff.

Qualitätsstandards als Gemeinwohlinteresse  275 ff.

Paternalismus –– aktiver 46 –– autonomieorientierte Rechtfertigungsansätze  118 ff. –– Begriffsbestimmung  24 ff. –– Charakteristika   25 –– Definition 41 –– direkter  48 ff. –– echter 48 –– ethische Auseinandersetzungen mit   94 ff. –– freiheitserweiternder  50, 107 ff., 162 f. –– Grundrechtseingriffe durch  128 ff. –– harter 47 –– im Arzneimittelgesetz  297 ff. –– im Embryonenschutzgesetz  329 ff. –– im Strafrecht  52 ff. –– im Transplantationsgesetz  205 ff. –– in der Rechtsprechung  85 ff. –– indirekter  48 ff., 174 ff. –– interpersoneller 46 –– libertarian paternalism  20 f. –– moralischer Rechtspaternalismus   44 ff. –– negativer 26 –– Odysseus-Paternalismus  118 ff. –– passiver 46 –– positiver 26

Rawls, John  100 f. Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung  343 Rechtsmoralismus  44 ff. Rechtspaternalismus  24 ff., 41 ff., 52 ff. Rechtspflichten gegen sich selbst  160 f. Schuldprinzip  262 ff. Schutzpflichten siehe grundrechtliche Schutzpflichten Schwangerschaftsabbruch 72 Selbsttötung  58 ff. Sittengesetz 183 Sittenwidrige Körperverletzung  67 ff. Sozialstaatsprinzip  169 ff. Sozialversicherungspflicht  79 f. Spenderkreis siehe Lebendspenderkreis Sterbehilfe  65 ff. Straßenverkehrsordnung  73 ff. Suizid  58 ff. Tötung auf Verlangen  60 ff. Tragemutterschaft 365 Transplantationsgesetz  200 ff. Überkreuz-Lebendspende  238 f.

Sachwortverzeichnis Unterbringung nach PsychKG  83 f. Utilitarismus  101 ff.

Verfügungsfreiheit  140, 242 ff., 300 f. Volksgesundheit  55 ff., 167 ff.

Verfahrenspaternalismus  51 f., 194, 273 Verfassungsrecht  128 ff., 214 ff., 241 ff., 273 f., 277 f., 280 ff., 298 ff., 310 ff., 317 ff., 323 ff., 326 f., 334 ff., 368 ff.

Wesensgehaltsgarantie 184 Zwangsbehandlung 84

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