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German Pages 514 Year 1993
Stefan Huster • Rechte und Ziele
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 642
Rechte und Ziele Zur Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes
Von
Stefan Huster
Duncker & Humblot * Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Huster, Stefan: Rechte und Ziele : zur Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes / von Stefan Huster. — Berlin : Duncker und Humblot, 1993 (Schriften zum öffentlichen Recht; Bd. 642) Zugl.: Heidelberg, Univ., Diss., 1993 ISBN 3-428-07867-5 NE: GT
D 16 Alle Rechte vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-07867-5
Vorwort Die vorliegende Untersuchung ist die geringfügig überarbeitete Fassung einer Arbeit, die 1993 von der Juristischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg als Dissertation angenommen wurde. Zu danken habe ich in erster Linie Herrn Professor Dr. Görg Haverkate: für die Betreuung der Arbeit, die Anfertigung des Erstgutachtens; vor allem aber dafür, daß er mir während meiner Tätigkeit an seinem Lehrstuhl den Freiraum gewährt hat, der erforderlich ist, um eine solche Arbeit in einer absehbaren Zeit anzufertigen. Herr Professor Dr. Winfried Brugger hat freundlicherweise die Mühe des Zweitgutachtens auf sich genommen. In die Arbeit sind zahlreiche Anregungen von meinen Lehrern der Rechtswissenschaft und der Philosophie, von Freunden und Kollegen eingegangen. Auch bei ihnen - vor allem bei Ursula Wolf - möchte ich mich für ihre Diskussionsbereitschaft bedanken. Dank schulde ich schließlich meinen Eltern - neben allem anderen - für die Unterstützung meines Studiums. Dies gilt auch für die Studienstiftung des deutschen Volkes. Gewidmet ist die Arbeit dem Andenken meines verstorbenen Vaters. Im übrigen ist sie für Anja.
Heidelberg, im November 1993 Stefan Huster
Inhaltsverzeichnis Einleitung
13
1. Kapitel
Die Struktur des Gleichheitsproblems
15
I.
Von der Rechtsanwendungs- zur Rechtsetzungsgleichheit
15
II.
Die Gleichbehandlung
18
1. Der Begriff der Gleichbehandlung
18
2. Die Gleichbehandlung und der Gleichheitssatz
21
3. Gleichheitssatz und faktische Gleichheit
23
4. Terminologische Klärungen
24
III. Der Gleichheitssatz und die Allgemeinheit des Rechts
25
1. Die historische Funktion des Gleichheitssatzes
25
2. Von der persönlichen zur sachlichen Rechtsgleichheit
27
I V . Gleichheit und Gerechtigkeit
29
1. Die wesentliche Gleichheit
29
2. Austeilende und ausgleichende Gerechtigkeit
36
3. Der normative Begriff der Gleichheit
41
2. Kapitel
Die Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes in ihrer Entwicklung I.
45
Die Willkürrechtsprechung
45
1. Umschreibungen der Problemstruktur
45
8
II.
Inhaltsverzeichnis 2. Der Willkürbegriff als Maßstab
47
3. Vom Willkürverbot zum Begründungsgebot
50
Die dogmatische Stniktur des Gleichheitssatzes
53
1. Der Unterschied zwischen dem allgemeinen Gleichheitssatz und den Freiheitsrechten in der bisherigen Dogmatik
53
2. Die Begründung des dogmatischen Unterschieds
55
3. Der Zusammenhang von dogmatischer Struktur und Inhalt des allgemeinen Gleichheitssatzes
57
III. Die Kritik an der Willküitheorie
58
1. Die Labilität der Willküitheorie
58
2. Der dogmatische Neuansatz: Einbau des Verhältnismäßigkeitsprinzips
61
3. Das Problem: Verhältnismäßigkeit ohne Eingriff?
65
3. Kapitel Das Veiiiältnismäßigkeitspriiizip
I.
II.
67
Die liberalen Abwehrrechte: Freiheit und Freiheitsbeschränkung
67
1. Die Freiheitsrechte als liberale Abwehrrechte
67
2. Die Möglichkeit des Konflikts
70
3. Die Formulierung des Konflikts
72
4. Die Eingriffsdogmatik
78
5. Absolute Rechte?
80
6. "Innen-" und " Außentheorie"
85
Der Standort des Veihältnismäßigkeitsprinzips
90
1. Die Staatsgerichtetheit der Grundrechte und die Gegenseitigkeit der Bürger
90
2. Die Funktion von Rechten
94
3. Die Ableitung des Verhältnismäßigkeitsprinzips
96
4. Verhältnismäßigkeit und Freiheit
III. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip und die Präponderanz der Rechte
100
107
1. Der logische Anwendungsbereich des Verhältnismäßigkeitsprinzips
107
2. Der verfassungsrechtliche Anwendungsbereich des Verhältnismäßigkeitsprinzips
109
3. Differenzierungen der VeihältnismäßigkeitskontroUe?
117
Inhaltsverzeichnis 4. Die Präponderanz der Rechte
119
5. Die Verteidigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips
127
IV. Zwecke und Mittel
129
1. Die Terminologie des Verhältnismäßigkeitsprinzips
129
2. Geeignetheit und Erforderlichkeit
131
3. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne
139
4. Die Verwechslung von Verhältnismäßigkeits- und Entsprechungsprüfung
142
5. Die Ambiguität der Zweck-Mittel-Terminologie
147
6. Die Ambiguität des Abwägungsbegriffs
155
4. Kapitel
Rechte und Ziele I.
164
Interne und externe Zwecke von Ungleichbehandlungen
165
1. Die zwei Fallgruppen des Gleichheitssatzes
165
2. Der handlungstheoretische Unterschied
173
3. Das Verhältnis von Gleichheits- und Verhältnismäßigkeitspriifung in der bisherigen Dogmatik a) Der Ausgangspunkt: Abwägung vs. Vergleich
II.
175 176
b) Die Unstimmigkeiten der generellen Verhältnismäßigkeitsprüfiing
181
c) Der Ansatz über den Zweckbegriff
183
d) Die Rechtfertigung "aus dem Bereich der Mittel"
187
e) "Gerechtigkeit" und "sonstige politische Ziele"
191
0 Die "neue Formel"
193
Gerechtigkeit und Rechte
195
1. Zwei Begriffe von Gerechtigkeit
195
2. Gerechtigkeit und Gesamtnutzen
202
3. Die Präponderanz der Rechte vor den Zielen
213
4. Spezifische Gerechtigkeit und Abwägung
220
III. Das Eingriffsmodell des Gleichheitssatzes 1. Der Schutzbereich des Gleichheitssatzes
225 225
2. Der Eingriff in das Gleichheitsrecht
232
3. Die Schranken des Gleichheitsrechts
233
4. Die Schranken-Schranken, insbesondere das Verhältnismäßigkeitsprinzip
239
10
Inhaltsverzeichnis 5. Kapitel
Gleichheitssatz und Typisierung I.
II.
245
Der Begriff der Typisierung
245
1. Der Verzicht auf die vollständige Realisierung des Regelungszwecks
245
2. Die Gründe für Typisierungen
248
3. Abgrenzungen
255
Der Konflikt von Typisierungen mit dem Gleichheitssatz
260
1. Die normative Problematik von Typisierungen
260
2. Typisierungen als Eingriffe in das Grundrecht auf Gleichbehandlung
261
3. Einzelfall- vs. Typengerechtigkeit?
266
III. Verfassungsrechtliche Anforderungen an Typisierungen in der Rechtsprechung des BVerfG und im Schrifttum
273
1. Die Nachteile von Typisierungen
273
2. Die Abwägung der Vor- und Nachteile
279
a) Das "rechte Verhältnis" von Vor- und Nachteilen
279
b) "Typisierungs-ofTene" und "-feindliche" Grundrechte
281
c) Härteklauseln
289
d) Benachteiligende und bevorzugende Typisierungen
291
e) Die Komplexität des Sachverhalts
294
0 Das Argument der Nebenfolge
294
g) Ergebnis
299
3. Die Kritik an der Unentschiedenheit der Typisierungsrechtsprechung
I V . Rechtssicherheit und Gerechtigkeit
299
304
1. Der Konflikt von Rechtssicherheit und Gerechtigkeit
305
2. Die Zurückhaltung der Rechtsprechung
307
3. Die Kritik an der Rechtsprechung
309
6. Kapitel
Die Diskrimimerungsverbote (zugleich zur Quotenfrage) I.
Der Gehalt der Diskriminierungsverbote und seine dogmatische Umsetzung
313 313
Inhaltsverzeichnis 1. Die Diskriminierungs- als Begründungsverbote
313
2. Die Diskriminierungs- als Anknüpfungsverbote
315
3. Die pragmatische Rechtfertigung der Interpretation als Anknüpfungsverbote
321
II. Das Beispiel der Frauenförderung: Der individualistische Ansatz
323
1. Quotenregelungen als Gleichheitsproblem
323
2. Quotenregelungen als Maßnahmen zur Kompensation individueller Nachteile
326
3. Quotenregelungen als Mittel zur Herstellung von individueller Chancengleichheit .... 333
III. Ein Gruppenrecht auf Gleichstellung?
340
1. Die Schwächen des individualistischen Ansatzes
340
2. Gibt es kollektive Rechte?
342
3. Gruppenparität statt Individualgerechtigkeit?
346
7. Kapitel
Die Konsequenzen des EingrifFsmodeUs für die Glekhheitsprüfuiig I.
II.
351
Die fundamentale Gleichheit und die konkreten Gleichheiten
351
1. Die politische Gleichheit
352
2. Die Steuergleichheit
357
3. Die "Relativität" der Gleichheit
361
Die Durchbrechungen der konkreten Gleichheitsnormen
365
1. Die Durchbrechungen der politischen Gleichheit
366
2. Die Durchbrechungen des Leistungsfähigkeitsprinzips
369
3. Der Standort der Verhältnismäßigkeitsprüfung
382
III. Die Funktion der Systemgerechtigkeit in der Gleichheitsdogmatik
386
1. Entwicklung und Kritik des Begriffs der Systemgerechtigkeit
386
2. Systemgerechtigkeit als Gerechtigkeit
390
3. Die dogmatischen Konsequenzen
394
4. Der Gleichheitssatz in "systemlosen" Bereichen
398
IV. Gleichheitssatz und soziale Gerechtigkeit 1. Rechtsgleichheit vs. soziale Gleichheit?
408 409
2. Originäre Teilhaberechte?
419
3. Sozialstaatliche Ziele als externe Zwecke von Ungleichbehandlungen
426
12
Inhaltsverzeichnis 8. Kapitel
Die inhaltliche Struktur der Abwägung I.
II.
Die absolute Priorität des Gesamtnutzens
430 430
1. Die utilitaristische Grundlage
430
2. Vom Pareto- zum Kompensationskriterium
432
3. Die Schwäche des Kompensationskriteriums
433
Die absolute Priorität der Gerechtigkeit
437
1. Das Differenzprinzip von Rawls
437
2. Das Difierenzprinzip und die Unterscheidung von Gerechtigkeit und Gesamtnutzen .. 440 3. Die Probleme des Differenzprinzips
445
4. Die Unvermeidbarkeit der Abwägung und die Eigenschaften normativer Theorien ... 450
III. Die inhaltlichen Aspekte der Abwägung
456
1. Die inhaltliche Struktur des Konflikts
456
2. Die inhaltlichen Aspekte der Abwägung im einzelnen
459
3. Rückblick: Die Funktion des EingrifTsmodellB
462
Zusammenfassende Thesen
466
Literaturverzeichnis
474
Ich folge dem gemeinen Sprachgebrauch, der zwischen dem, was recht, und dem, was nützlich ist, unterscheidet. Montaigne, Essais, III, I.
Einleitung Die Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes befindet sich im Umbruch. Die Willkürtheorie - nie unangefochten, aber lange Zeit ganz herrschend - wird durch andere Ansätze abgelöst oder zumindest ergänzt. Zu diesen Ansätzen gehören die "neue Former des BVerfG, bereichsspezifische Konkretisierungen des Gleichheitssatzes und Versuche, das Verhältnismäßigkeitsprinzip auf die eine oder andere Weise in die Gleichheitsprüfung zu integrieren. Bisher bezieht sich diese Diskussion vor allem auf die inhaltlichen Maßstäbe des Gleichheitssatzes und ihre Stärke: Wie und in welchem Maße soll der Gesetzgeber durch Art. 3 Abs. 1 GG gebunden sein? Die dogmatische Struktur des Gleichheitssatzes gilt dagegen als "noch weitgehend unerforscht**. 1 So schließt vor allem der Rückgriff auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip an eine Figur des Eingriffs- und Schrankendenkens an, das aus der dogmatischen Verarbeitung der Freiheitsrechte bekannt ist. Auf der anderen Seite ist es aber keineswegs klar - und wird sogar vielfach geleugnet -, daß auch der Gleichheitssatz dieser dogmatischen Verarbeitung zugänglich ist, also insoweit die gleiche Struktur wie die Freiheitsrechte besitzt. Es ist daher gefordert worden, "daß die bisher staik vernachlässigten Strukturen auch des Gleichheitssatzes aufgedeckt und mit den Strukturen der Freiheitsrechte verglichen werden müssen. '* Nur so lasse "sich nämlich entscheiden, ob und wie die für die Freiheiten entwickelten allgemeinen Grundsätze, insbesondere hinsichtlich (...) des Verhältnismäßigkeitsprinzips, auch auf den Gleichheitssatz angewendet werden können. " 2 Nun hängen dogmatische Struktur und Inhalt des Gleichheitssatzes zusammen; das dogmatische Modell muß sich den sachlichen Problemen anschmiegen und eine geeignete Methode zu ihrer Lösung bereitstellen. Eine Aufklärung der Struktur des Gleichheitssatzes setzt daher voraus, daß "Gehalt und Funktionen" 3 , aber auch die Grenzen des Gleichheitsbegriffs deutlich werden. 1
Bleckmann, Staatsrecht II, S. 324 f.
2
Bleckmann, Besprechung, S. 175.
3
Vgl. PodlecK Gehalt.
14
Einleitung
Dies läuft zunächst auf eine Herausarbeitung der menschenrechtlichen Struktur des Gleichheitssatzes hinaus; die Interpretation des Gleichheitssatzes fuhrt zu der allgemeinen rechtsphilosophischen, nicht spezifisch verfassungsrechtlichen Frage, in welchem Sinne eine Gleichbehandlung aller Menschen geboten ist. Da dies die traditionelle Frage nach den Maßstäben der Gerechtigkeit ist, die durch den Gleichheitssatz - aber nicht nur durch ihn - in das Verfassungsrecht übertragen wird, enthält eine Theorie des Gleichheitssatzes auch immer eine - ebenfalls bereits eingeforderte - "Verfassungstheorie der Gerechtigkeit." 4 Unter Berücksichtigung rechtsphilosophischer Erkenntnisse über den Gleichheitsbegriff soll daher versucht werden, ein Modell des Gleichheitssatzes zu entwickeln, das den sachlichen Problemen angemessen ist. Dieses Modell schließt - im Gegensatz zur üblichen Auffassung, aber in Übereinstimmung mit einigen Vorarbeiten - 5 eng an die freiheitsrechtliche Eingriffsdogmatik an. Es weist dem Gleichheitssatz ein spezifisches Schutzgut zu, das - ebenso wie das Schutzgut der Freiheitsrechte - beeinträchtigt werden kann, ohne daß diese Beeinträchtigung von vornherein unzulässig wäre. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Unterscheidung zwischen zwei verschieden Arten von Gründen, durch die Ungleichbehandlungen gerechtfertigt werden können; auch dieser Gedanke findet sich bereits vereinzelt in der neueren Literatur. 6 Inhaltlich wird diese Unterscheidung dadurch charakterisiert, daß Ungleichbehandlungen im einen Fall durch unterschiedliche Rechte der Vergleichspersonen gerechtfertigt werden und deshalb mit dem Gleichheitssatz übereinstimmen, i m anderen Fall auf der Verfolgung eines Ziels beruhen, das i n einem bestimmten, näher zu erläuternden Sinne mit den Vergleichspersonen "nichts zu tun hat", so daß die Differenzierung zwischen ihnen mit dem Gleichheitssatz in Konflikt gerät. Eine Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips oder eine Abwägung i m eigentlichen Sinne ist nur in dieser zweiten Fallgruppe des "Eingriffs" in den Gleichheitssatz möglich und geboten; insoweit wird eine differenzierende Lösung vorgeschlagen. Dieses dogmatische Modell soll schließlich zeigen, daß sich auch ein Gleichheitssatz, der den Gesetzgeber an materiale Gerechtigkeitsprinzipien bindet, dogmatisch disziplinieren läßt. Diese Auslegung "verläßt" nicht "die Logik der rechtsstaatlichen Verfassung", 7 sondern verwirklicht sie i n besonderer Weise, indem sie zum Schutz des Einzelnen und seiner Rechte beiträgt.
4 Vgl. Häberle, Besprechung, S. 541: "Eine Verfassungstheorie der Gerechtigkeit (...) ist dringend notwendig." 5
Vgl. insbesondere Kloepfer,
6
Vgl. vor allem Rüjher, in: BK-GG, Alt. 3 Abs. 1 Rz. 89 ff.
7
So aber Forsthoff,
Gleichheit, S. 54 ff.
Situation, S. 188.
/. Kapitel
Die Struktur des Gleichheitsproblems I. Von der Rechtsanwendungs- zur Rechtsetzungsgleichheit Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG lautet: "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich." Dieser Wortlaut legt nahe, daß lediglich die Rechtsanwendungsgleichheit gewährleistet wird; 1 und tatsächlich ist der insoweit gleichlautende Art. 109 Abs. 1 W R V 2 lange Zeit in diesem Sinne verstanden worden. 3 Diese Auffassung bringt zwei Probleme mit sich. 4 Zum einen besagt der allgemeine Gleichheitssatz in dieser Interpretation nur, daß ein Gesetz immer dann und nur dann anzuwenden ist, wenn sein Tatbestand erfüllt ist. Der Gesetzesanwender darf sich also nicht von gesetzes- und daher sachfremden Motiven leiten lassen; dies meint auch die - etwas mißverständliche - Erläuterung der Rechtsanwendungsgleichheit durch die Formulierung, daß die Gesetze "ohne Ansehen der Person" 5 vollzogen werden sollen. Diese Forderung 1 So auch Dürig , in: M/D-GG. Art. 3 Abs. I Rz. 323; ebenso für die ähnlich formulierten Art. 4 Abs. 1 Schweizer BV Häfelin/Haller, Bundesstaatsrecht, S. 446, und Am. 14 Sect. 1 der Verfassung der Vereinigten Staaten Bntgger. Grundrechte, S. 206. Etwas gezwungen wirkt dagegen die Ansicht, der Ausdruck "Gleichheit vor dem Gesetz" lasse sich auch "quasi zeitlich" verstehen und bedeute dann die Gleichheit vor Erlaß eines Gesetzes, nach der sich das Gesetz richten müsse; so aber Böckenßrde, Gleichheitssatz, S. 13; Giacometti/Fleiner, Bundesstaatsrecht, S. 403; Leihholz , Gleichheit, S. 226 f.; Starck , Anwendung, S. 53. Kritisch dazu auch Hill , Gleichheit, S. 109 f.
"Alle Deutschen sind vor dem Gesetz gleich." 3
Vgl. die Nachweise bei Hill, aaO., S. 105 IT.; Ipsen , Gleichheit, S. 118 Fn. 24; Leibholz , aaO., S. 202 Fn. 2. Zu weiteren Belegen aus der Geschichte des Gleichheitssatzes vgl. Berchtold , Gleichheitssatz, S. 327 f.; Schweiger . Geschichte, S. 57 ff. 4 5
Vgl. Alexy , Theorie. S. 357 fT.
So z. B. Leihholz , Grundgesetz, S. 193. Mißverständlich ist diese Formulierung deshalb, weil der Gesetzesanwender natürlich sehr wohl zu prüfen hat. ob eine Person bzw. ihr Verhalten den Tatbestand des Gesetzes erfüllt, und in diesem Sinne alles andere tut, als das Gesetz "ohne Ansehen der Person" anzuwenden. Die Blindheit der justitia erstreckt sich also nur darauf, daß sie "nicht wissen darf", um welche konkrete Person es sich handelt. Daher ist es wenig sinnvoll, wenn Zppelius , Rechtsphilosophie. S. 201. auf die Weise mit der Unklarheit des Begriffs spielt, daß er behauptet, die ausgleichende Gerechtigkeit gelte ohne, die austeilende Gerechtigkeit gelte
16
1. Kap.: Die Struktur des Gleichheitsproblems
bringt aber nur zum Ausdruck, daß der Gesetzesanwender das Gesetz befolgen soll; 6 im staatsrechtlichen Sinne bedeutet dies nichts anderes als das Postulat der Gesetzesbindung. Damit ginge der allgemeine Gleichheitssatz in der rechtsstaatlichen "Selbstverständlichkeit" 7 des Vorrangs und damit der "Herrschaft" des Gesetzes auf und wäre gegenüber Art. 20 Abs. 3 GG eines eigenständigen Gehaltes beraubt. 8 Zum anderen sagt die Rechtsanwendungsgleichheit nichts darüber, welchen Inhalt die Gesetze haben dürfen oder müssen, deren Anwendung sie verlangt. Dies bedeutet, daß der allgemeine Gleichheitssatz keine Bindungskraft für den Gesetzgeber entfalten würde. Diese Konsequenz scheint aus mehreren Gründen nicht akzeptabel zu sein. Zunächst wird allgemein davon ausgegangen, daß Art. 3 Abs. 1 GG schon allein aufgrund seiner systematischen Stellung 9 ein Grundrecht i s t ; 1 0 an die Grundrechte ist aber gemäß Art. 1 Abs. 3 GG auch die Gesetzgebung gebunden. 11 Ferner ist an dem Willen des Verfassungsgebers, auch den Gesetzgeber an den allgemeinen Gleichheitssatz zu binden, angesichts der Entstehungsmaterialien des Grundgesetzes nicht zu zweifeln. 1 2 Aus dem Verfassungswortlaut und der Entstehungsgeschichte scheint sich also bereits zu ergeben, daß der Gesetzgeber an Art. 3 Abs. 1 GG gebunden sein soll und die Reduktion des allgemeinen Gleichheitssatzes auf die Rechtsanwendungsgleichheit schon deshalb nicht zutreffend sein kann, weil sie diese Bindung ausschließt. Hier erfolgt also ein - dogmatisch nicht
mit Ansehen der Person: Im einzig vertretbaren Sinne des Wortes gelten natürlich beide Gerechtigkeitsaiten ohne Ansehen der Person. 6 Alexy, aaO., S. 358. So auch bereits Kaufinann, Gleichheit, S. 6; Kelsen, Rechtslehre, S. 146 und 396; deis ., Gerechtigkeit, S. 26 f.; Leibholz, Gleichheit, S. 216 f. Wetting, Grundlagen, S. 53 (f., zieht daraus sogar die Konsequenz, die inkorrekte Gesetzesanwendung nie als Verletzung des Gleichheitsprinzips zu betrachten. 7
Ossenbühl, Vorrang, S. 316.
8
So auch bereits unter der WRV die entsprechende Kritik von Leibholz, aaO., S. 30 ff.; Rümelin, Gleichheit, S. 21; Triepel, Goldbilanzen-Verordnung, S. 27. 9
Dieses Argument findet sich z. B. bei Etichsen, Grundlage, S. 295.
1 0
Vgl. nur Ipsen, aaO., S. 126. und bereits Leihholz, aaO., S. 115 ff., für Art. 109 Abs. 1 W R V . Bestritten hat dies in neuerer Zeit - soweit ersichtlich - nur Friesenhahn, Wandel, G 20. 1 1
Auf Art. 1 Abs. 3 GG stellen z. B. ab: BVerfGE 1, 14, 52; Arndt/Rudolf, Recht, S. 148; Böckenfi'frde, Gleichheitssatz, S. 12; Hufen, Gleichheitssatz. S. 37; Richter/Schuppen, Verfassungsrecht, S. 105; Schmidt-Bleihtreu/Klein, GG, Art. 3 Rz. 8; Starck, in: vM/K/St, GG, Art. 3 Abs. 1 Rz. 2. 1 2
Vgl. die Materialien bei v. Doeming/Füßlein/Matz,
Entstehungsgeschicht, S. 66 f.
I. Von der Rechtsanwendungs- zur Rechtsetzungsgleichheit
17
uninteressanter - Schluß von der notwendigen Bindungskraft des Grundrechts auf seinen Inhalt. 1 3 Schließlich - und das dürfte der entscheidende Punkt sein - 1 4 lassen sich auch hei der Interpretation des allgemeinen Gleichheitssatzes die Gesichtspunkte verwerten, die erst dazu gefuhrt haben, daß sowohl bereits die Weimarer Staatsrechtslehre überwiegend zur Bindung auch des Gesetzgebers an den Gleichheitssatz gekommen i s t , 1 5 als auch der Verfassungsgeber des Bonner Grundgesetzes sich zu dieser Bindung entschlossen hat: Ungerechtfertigte Ungleichbehandlungen sind nicht nur vom Gesetzesanwender zu befürchten, sondern auch vom Gesetzgeber selbst. Dabei handelt es sich zum einen um das grundsätzliche Mißtrauen auch gegenüber dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber, das allgemein zur Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte geführt hat; 1 6 im Zusammenhang des Gleichheitssatzes spielt insbesondere eine Rolle, daß der starke, gerechtigkeitsverbürgende Begriff der Allgemeinheit des Gesetzes seine Plausibilität verloren hat. 1 7 Wenn aber nicht nur die Anwendung der Gesetze, sondern auch die Gesetze selbst ungerechtfertigte Ungleichbehandlungen enthalten können, muß der Gleichheitssatz auch auf den Inhalt der Gesetze erstreckt werden; er gewährleistet also nicht nur die "Gleichheit vor dem Gesetz", sondern auch die "Gleichheit durch das Gesetz". 18 Diesen Schritt von der Rechtsanwendungszur Rechtsetzungsgleichheit haben das Bundesverfassungsgericht 19 und fast
13 Gegen diesen Schluß Zippelius, Gleichheitssatz, S. 11: Art. 1 Abs. 3 GG setze den Inhalt der "nachfolgenden Grundrechte" voraus, gestalte diesen aber nicht um. Ebenso Doehring, Staatsrecht, S. 137 f.; Thoma, Ungleichheit, S. 458. 1 4
So auch Zippelius, aaO.
15
So auch die Einschätzung von Leibholz, aaO., S. 202; ders., Grundgesetz, S. 193; Triepeh Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 3 (1927), S. 50. Zu weiteren Nachweisen aus der Weimarer Staatsrechtslehre vgl. Ipsen, aaO., S. 118 Fn. 25. 1 6 Kloepfer, Verfassungsproblem, S. 41. Dies erkennt - trotz kritischer Grundhaltung auch Forsthoff, Situation, S. 189, an. 1 7
Daß die Interpretation des Gleichheitssatzes als Rechtsanwendungsgleichheit durch die vorausgesetzte Allgemeinheit des Gesetzes inhaltlich gehaltvoller war, als es heute scheinen mag, betont Düng, in: M/D-GG, Art. 3 Abs. I Rz. 8. Zur Allgemeinheit des Gesetzes vgl. unten III. Io Der Ausdruck "Gleichheit durch das Gesetz" findet sich z. B. bei Triepel, GoldbilanzenVerordnung, S. 28. Er wird im folgenden vermieden, da er den Eindruck erweckt, der Gleichheitssatz gebiete, faktische Gleichheit herzustellen. Dies ist aber nur eine der möglichen inhaltlichen Positionen zum Verständnis dieser Norm und hat mit ihrer Bindungskraft für den Gesetzgeber nichts zu tun. 1 9
2 Huster
Vgl. die Nachweise bei Leihholz/Rinck/Hesselberger,
GG, Alt. 3 Rz. 59.
18
1. Kap.: Die Struktur des Gleichheitsproblems
die gesamte Staatsrechtslehre 20 unter dem Grundgesetz vollzogen. 21 Da die Diskussion um den Gleichheitssatz durchweg auf dieser Voraussetzung beruht, wird auch hier im folgenden unterstellt, daß Art. 3 Abs. 1 GG zum einen ein Grundrecht ist, zum anderen auch den Gesetzgeber bindet.
II. Die Gleichbehandlung Indem das Bundesverfassungsgericht die inhaltlich relativ einfach - nämlich als Bindung des Rechtsanwenders an das Gesetz - zu präzisierende Rechtsanwendungsgleichheit durch die Rechtsetzungsgleichheit ergänzt hat, hat es die vielleicht schwierigste verfassungsdogmatische Aufgabe überhaupt auf sich genommen: zu sagen, was es bedeutet, daß der Gesetzgeber durch den Gleichheitssatz zur Rechtsetzungsgleichheit verpflichtet ist. Einigkeit besteht zunächst darüber, daß darunter nicht zu verstehen ist, daß der Gesetzgeber ausnahmslos zur Gleichbehandlung verpflichtet ist. Bevor erklärt wird, warum diese Einigkeit besteht, soll zunächst der Begriff der Gleichbehandlung erläutert werden. 1. Der Begriff der Gleichbehandlung Überraschenderweise besteht über den Begriff der Gleichbehandlung keine Klarheit. Dies überrascht deshalb, weil er ein gebräuchlicher Begriff der Umgangssprache ist: Zwei Kinder werden gleich behandelt, wenn sie von ihren Eltern um die gleiche Zeit ins Bett geschickt werden; sie werden ungleich behandelt, wenn eines der beiden früher ins Bett muß, weil es z. B. jünger ist. Gleichbehandlung bedeutet also zunächst identische Behandlung. Übertragen auf Rechtsnormen bedeutet dies: Zwei Personen oder Sachverhalte 2 2 werden gleich behandelt, wenn die auf sie angewendete Rechtsfolge 2 0 Vgl. nur Hesse. Gleichheitssatz, S. 183 f. Gewichtige Stimmen gegen die Rechtsetzungsgleichheit finden sich nach 1945 bei Bettennann, Rechtsgleichheit, S. 90; dersHypertrophie, S. 13; Eyennann, Gleichheitssatz, S. 45 ff.; Ridder, Ordnung, S. 151 ff.; Thoma, Ungleichheit, S. 457 ff.
Zur entsprechenden Entwicklung im österreichischen Verfassungsrecht vgl. Korinek, Gedanken, S. 39 ff. 2 2 Dabei wird unterstellt, daft sich bei der Gleichheitsprüfung alle rechtlichen Regelungen, selbst wenn sie ihrem Wortlaut nach Gegenstände oder Sachverhalte betreffen, als Regelungen über Personen fassen lassen; vgl. ebenso Dechsling, Verhältnismäßigkeitsgebot, S. H l ff.; Dürig, in: M/D-GG, Art. 3 Abs. I Rz. 306; Podlech, Gehalt, S. 100. Dies ist nicht nur geboten, weil Art. 3 Abs. 1 GG ausdrücklich auf die Rechtsgleichheit aller "Menschen" abstellt; vor allem muH es in der Sache letztlich auf die betroffenen Personen ankommen (vgl. Dürig, aaO., Rz. 307), da Grundrechte dem Schutz von Interessen dienen, die - vom Sonderfall der Tiere
II. Die Gleichbehandlung
19
identisch ist; wenn sie also den gleichen Steuerbetrag leisten müssen, die gleichen politischen Rechte haben, ihnen die gleiche Strafe auferlegt wird usw. Eine solche Gleichbehandlung kann sowohl darauf beruhen, daß die Sachverhalte gemeinsam dem Tatbestand einer Norm unterfallen und folglich auch deren Rechtsfolge auf sie Anwendung findet, als auch darauf, daß sie Normen mit unterschiedlichen Tatbeständen unterfallen, die aber die gleiche Rechtsfolge enthalten. Ein Beispiel für den letztgenannten Fall wäre die gleiche Bestrafung des Räubers und des räuberischen Diebes nach §§ 249 und 252 StGB. Probleme entstehen dann, wenn unklar ist, worin die Rechtsfolge einer Norm besteht. So kann eine Norm die Höhe des Steuerbetrags einheitlich als einen bestimmten Prozentsatz des Einkommens bestimmen. Werden Steuerzahler nun gleich behandelt, weil sie alle nach dem gleichen Maßstab behandelt werden, oder ungleich, weil sie aufgrund unterschiedlich hoher Einkommen unterschiedliche Beträge leisten müssen? Dies hängt offensichtlich davon ab, was man als Rechtsfolge der Norm beschreibt: die Anordnung des gleichen Maßstabs oder die ungleichen Auswirkungen 23 seiner Anwendung. Wählt man die erste Möglichkeit, gerät man in die mißliche Lage, daß die Frage, ob eine Gleich- oder Ungleichbehandlung vorliegt, gar nicht mehr zu entscheiden ist, weil dies von der Wahl des jeweiligen Maßstabs abhängt. So läßt sich das beschriebene Steuergesetz als gleichbehandelnd qualifizieren, weil es alle prozentual gleich belastet, aber auch als Ungleichbehandlung, weil nicht alle den gleichen Betrag leisten müssen oder weil es nicht alle gemäß ihrer Leistungsfähigkeit besteuert. Im Ergebnis würde das bedeuten, daß jede Behandlung gleichzeitig gleich und ungleich ist - je nach Wahl des Maßstabes. 24
abgesehen - nur Personen zugeschrieben werden können. Die Redeweise von der Ungleichbehandlung von Sachverhalten usw. kommt dadurch zustande, daß Personen häufig nicht als solche, sondern in bestimmten Rollen von rechtlichen Regelungen erfaßt werden (vgl. dazu Gusy, Gleichheitssatz, S. 2507; Podlech, aaO., S. 151 ff.); sie wird hier beibehalten, soweit sich dadurch Schwerfälligkeiten in der Formulierung vermeiden lassen. Dem widerspricht es weder, daß juristische Personen des Privatrechts gemäß Art. 19 Abs. 3 GG Träger des Gleichheitsrechts sind (vgl. BVerfGE 4, 7, 12, st. Rspr.), noch daß das BVerfG die Gleichbehandlungsforderung allerdings nur objektivrechtlich und z. T . aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet - in den Beziehungen zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts zur Anwendung gebracht hat (vgl. BVerfGE 1, 14, 52 ff.; 23, 12, 24; 35, 263, 71 f.; zuletzt BVerfGE 83, 363, 393; 86, 148, 250 f. mwN.). 2 3 Unter Auswirkungen werden hier nur die unmittelbaren rechtlichen Folgen verstanden, nicht die mittelbaren tatsächlichen Auswirkungen, die dadurch entstehen, daß Personen von ihren gleichen Rechten unterschiedlichen Gebrauch machen, was häufig zu faktischen Ungleichheiten fuhrt; dazu siehe unten 3. 2 4 So tatsächlich Weher-Diirler, Rechtsgleichheit, S. 26 fT., der damit das Verdienst zukommt, diese unvermeidliche Konsequenz des beschriebenen Begriffsgebrauchs deutlich
20
1. Kap.: Die Struktur des Gleichheitsproblems
Diese Herangehensweise hat den Nachteil, daß sich der deskriptive Begriff der Gleich- bzw. Ungleichbehandlung auflöst. Das kann man sich daran klarmachen, daß niemand behaupten würde, es läge eine Gleichbehandlung vor, wenn nach der Körpergröße besteuert würde - obwohl auch hier alle nach dem gleichen Maßstab behandelt würden, nicht anders als z. B. bei einer Besteuerung nach dem Maßstab der Leistungsfähigkeit oder einer Bestrafung nach dem Schuldprinzip. Daran wird deutlich, daß hier der Unterschied zwischen den zwei Fragen, ob eine Ungleichbehandlung vorliegt und ob diese gerechtfertigt ist, zusammenbricht. Der Begriff der Gleichbehandlung selbst wird normativ, weil er von der Legitimität des jeweiligen Maßstabs abhängt: Ist der für alle gleiche Maßstab legitim, liegt trotz der unterschiedlichen Ergebnisse seiner Anwendung eine Gleichbehandlung vor; ist er es nicht, bezeichnet man die Behandlung als ungleich. In der Praxis läuft das darauf hinaus, daß der deskriptive Begriff der Gleichbehandlung völlig willkürlich definiert wird.25 Zwar gibt es auch eine umgangssprachliche Bedeutung von "Gleichb e h a n d l u n g i n der dieser Begriff die Ausrichtung an einem für alle geltenden Maßstab meint. 2 6 Dies hängt zum einen damit zusammen, daß der Begriff der Gleichbehandlung auch in der Alltagssprache bereits normativ durchtränkt ist; zum anderen liegt es daran, daß es in der Tradition auch den Begriff der proportionalen oder geometrischen Gleichheit g i b t . 2 7 Hier ist diese Begriffsverwendung aber aus zwei Gründen zu vermeiden: Zum einen trägt es nicht zur Rationalität der Erörterung des Gleichheitsproblems bei, wenn man alle inhaltlichen Probleme bereits in den Begriff der Gleichbehandlung verlagert, weil das die begriffliche Analyse der maßgebenden Problemstrukturen und Argumente erschwert. Zum anderen wird zur Dogmatik des Gleichheitssatzes häufig die Aufassung vertreten, bei seiner Prüfung sei erst zu fragen, ob
gemacht zu haben, während alle anderen Autoren, die ebenso verfahren, dies gar nicht erst erkennen. 2 5 Letzteres findet sich z. B. bei BVerfGE 8, 51, 68 f.: Ein Gesetz, das jedermann mit dem gleichen Prozentsatz an Einkommensteuer belegen würde, sei eine ungerechtfertigte schematische Gleichbehandlung. Wenn dies aber als - deskriptiv gemeinte, wie der Zusatz "schematische" und die hinzukommende rechtliche Bewertung beweist - Gleichbehandlung bezeichnet wird, was wäre dann die Kopfsteuer? Wäre sie "noch gleicher"? Auf weitere Nachweise wird verzichtet, weil sich bei den meisten Autoren gar nicht entscheiden läßt, ob noch ein deskriptiver oder schon ein normativer BegrifT der Gleichbehandlung gemeint ist. Einen sinnvollen, von normativen Erwägungen freien Begriff der Gleichbehandlung vertreten ganz automatisch diejenigen Autoren, die sich zuvor präzise die Struktur des Gleichheitsproblems klar gemacht haben; vgl. nur Alexy, Theorie, S. 360; Kelsen, Rechtslehre, S. 390 ff.; Perebnan, Gerechtigkeit, S. 29. 2 6
Vgl. Podlech, Gehalt, S. 60 ff.
2 7
Vgl. dazu unten IV. 1. c).
II. Die Gleichbehandlung
21
überhaupt eine Ungleichbehandlung vorliegt, erst dann sei nach einem rechtfertigenden Grund zu suchen; auch wird der Gleichheitssatz gelegentlich einfach als Begründungsgebot für Ungleichbehandlungen aufgefaßt. 28 A l l dies setzt aber voraus, daß man Gleich- und Ungleichbehandlungen überhaupt unterscheiden kann. 2 9 Es empfiehlt sich daher, den Begriff der Gleichbehandlung unabhängig davon zu definieren, ob der Maßstab, anhand dessen die Zuordnung von Rechtsfolgen stattfindet, zulässig ist. Dies gelingt aber nur dann, wenn man die Maßstabsfrage zunächst ignoriert und allein darauf abstellt, ob die auf zwei Sachverhalte angewendeten Rechtsfolgen identisch oder "vertauschbar" 30 sind. 3 1 Dies wird im folgenden allein als Gleichbehandlung bezeichnet; es entspricht weitgehend dem, was sonst "schematische", "mechanische" oder "absolute" Gleichbehandlung genannt w i r d . 3 2 2. Die Gleichbehandlung und der Gleichheitssatz Worauf beruht nun die allgemeine Ansicht, daß der Gleichheitssatz nicht ausnahmslos Gleichbehandlung (im soeben definierten Sinne der schematischen Gleichbehandlung) verlangt? Die Gründe dafür lassen sich zunächst im Wesen des Rechts selbst festmachen. Recht besteht - auch - aus Normen, und jede Norm, die Tatbestand und Rechtsfolge enthält, nimmt eine Differenzierung vor, da sie nur einen bestimmten Tatbestand mit einer Rechtsfolge verbindet und dadurch per se
2 8
Vgl. unten 2. Kap. I. 3. b).
19 Insofern ist es folgerichtig, wenn Podlech, aaO., der den Gleichheitssatz als Begründungsgebot versteht, auf den Begriff der geometrischen Gleichheit verzichtet, da eine "geometrische Gleichbehandlung" in seinem Schema als Ungleichbehandlung zu qualifizieren ist (vgl. aaO, S. 62). 3 0 So die Erläuterung bei Weher-Dürler, aaO., S. 30, für die Gleichbehandlung im hier gemeinten Sinne. "31 Es ist nicht ganz einfach, hier ein abstraktes Kriterium zu formulieren. Vielleicht könnte man sagen, daß immer auf diejenige Rechtsfolgenbeschreibung abzustellen ist, auf deren Grundlage man gar keine oder die wenigsten Zusatzinformationen benötigt, um festzustellen, was zu tun oder zu unterlassen die Norm von den Normadressaten verlangt. So ist die Forderung, einen bestimmten Prozentsatz seines Einkommens als Steuer abzuführen, nicht erfüllbar, solange die Höhe des Einkommens nicht bekannt ist; die Angabe des Steuerbetrages setzt dagegen keine zusätzlichen Kenntnisse voraus, um zu bestimmen, in welcher Höhe der einzelne Steuerzahler leisten muft. 3 2 Zur Terminologie vgl. Podlech, aaO., S. 43 mit Fn. 1; Weber-Dürler, aaO., S. 30; jew. mwN.
22
. Kap.: Die Struktur des Gleichheitsproblems
andere Tatbestände anders behandelt; 33 in diesem Sinne kann man sagen, daß das gesamte Recht aus Differenzierungen besteht. 34 Dies bedeutet aber, daß jede Norm gegen das Gebot der schematischen Gleichbehandlung verstößt; mit aanderen Worten: sich für jede Norm ein Vergleichspaar finden läßt, das sie ungleich behandelt. Anders wäre dies nur bei einer Norm, die eine Rechtsfolge auf "alles" anwendet; 35 eine solche dürfte aber schwer vorstellbar sein. 3 6 Eine gewisse Entschärfung der Lage ergibt sich, wenn man sich von vornherein auf die Behandlung von Personen beschränkt; dann verlangt die Forderung nach schematischer Gleichbehandlung "nur" noch, alle Personen immer gleich zu behandeln. Dies dürfte zwar nicht mehr im begrifflichen Widerspruch zum Begriff des Rechts stehen, ist in der Sache aber innerhalb eines halbwegs ausdifferenzierten Rechtssystems, das z. B. eine Kompetenzordnung kennt, ebenfalls eine absurde Vorstellung. Insofern ist die allgemeine Annahme, daß eine schematische Gleichbehandlung sinnlos, unzweckmäßig und ungerecht wäre, 3 7 gerechtfertigt. 38 Hier ist insbesondere das Argument der Ungerechtigkeit von Bedeutung: Tatsächlich ist es offensichtlich ungerecht, wenn ein Millionär den gleichen Steuerbetrag zahlt wie ein Tagelöhner, der Kaufhausdieb oder sogar der völlig Unschuldige in gleicher Höhe bestraft wird wie ein Mörder usw.
3 3 Vgl. Fikentscher, Methoden. S. 185: "Ob das Recht ein Tatbestandsmerkmal in eine Norm aufnimmt, ist eine Frage des Gleich- und Ungleichbehandelns von Tatbeständen." 3 4 Stein, in: AK-GG, Art. 3 Rz. 34; demStaatsrecht, S. 242. Sehr ähnlich Badura, Staatsrecht. S. 98; Bmgger, Grundrechte, S. 163; Gusy, Gleichheitssatz, S. 2507; Kaufinann, Gleichheit. S. 9; Kloepfer, Verfassungsproblem. S. 36. Dies dürfte letztlich auch der Grund dafür sein, daß Art. 3 Abs. 1 GG im Verfassungsbeschwerdeverfahren das am häufigsten allerdings auch am erfolglosesten - als verletzt gerügte Grundrecht ist (zu diesem Befund vgl. nur Schoch, Gleichheitssatz, S. 864 mwN.): Wenn jede Norm differenziert, ist der Gleichheitssatz zunächst immer "einschlägig". J J
Anders gesagt: bei einer Norm, deren Tatbestand allein aus dem Allquantor besteht.
3 6
Es gibt Normen, auf die dieses Argument nicht zuzutreffen scheint, weil bei ihnen Tatbestand und Rechtsfolge begrifflich verknüpft sind. So ist es z. B. unsinnig, angesichts der Norm "Alles, was lebt, hat ein Recht auf Leben" zu fragen, warum nicht auch das, was nicht lebt, ein Recht auf Leben hat. Das obige Argument ist daher um die Annahme zu ergänzen, daß keine Rechtsordnung denkbar ist, die nur aus solchen "analytischen" Normen besteht. 3 7 Vgl. nur Alexy, Theorie. S. 359 f.; Böckenförde, Gleichheitssatz, S. 46; Heller, Gleichheit, S. 329; Hoerster, Einleitung. S. 145; Kelsen, Rechtslehre, S. 146, 391; Leibholz, Gleichheit, S. 38 ff.; Podlech, Gehalt. S. 44 f.; Rees, Gleichheit, S. 114 ff.; Ross, Law, S. 269; Rimelin, Gerechtigkeit, S. 20 f.; Thottia, Ungleichheit, S. 458 ("flagranter Unsinn"). Zahlreiche weitere Nachweise bei Weber-Diirler, Rechtsgleichheit, S. 32 f. 3 8
Genau der umgekehrte Schluß bei Mainzer, Gleichheit, S. 24 ff.: Da der Gleichheitssatz ein Gebot der Gleichbehandlung im schematischen Sinne enthalte, könne er sich nicht an den Gesetzgeber richten.
II. Die Gleichbehandlung
23
Dies hat zwei wichtige Konsequenzen für Art. 3 Abs. 1 GG: Zum einen stellt Gleichbehandlung (im schematischen Sinne) als solche keinen Wert dar. Ob sie gerecht ist oder nicht, kann sich nur aus anderen Überlegungen im Zusammenhang mit den vorgefundenen faktischen Gleich- oder Ungleichheiten ergeben. Damit schwindet auch die Hoffnung, den Gehalt der Rechtsetzungsgleichheit auf relativ einfache Weise aus dem deskriptiven Begriff der Gleichbehandlung entnehmen zu können. 3 9 Maßgeblich muß ein anderer Gleichheitsbegriff sein. Diese inhaltliche Feststellung hat wiederum eine dogmatische Konsequenz: Wenn sich Art. 3 Abs. 1 GG in irgendeiner Weise wie die Freiheitsrechte - als einschränkbares prima facie-Recht auffassen läßt, kann dieses prima facie-Recht jedenfalls kein Recht auf Gleichbehandlung in diesem Sinne sein. 4 0 3. Gleichheitssatz und faktische Gleichheit Ebensowenig wie der Gleichheitssatz generell eine Gleichbehandlung im schematischen Sinne verlangt, kann er durch den Begriff der faktischen oder Ergebnisgleichheit abschließend erläutert werden. a) Von faktischer oder Ergebnisgleichheit kann man sinnvoll nur dort reden, wo man von der Zuschreibung gleicher Rechte gerade abstrahieren und auf die tatsächlichen Ungleichheiten abstellen kann, die der Gebrauch dieser Rechte mit sich bringt. Dies betrifft primär die wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten, aber auch z. B. die Unterschiede in der Möglichkeit politischer Einflußnahme u. ä. Selbst hier wäre es aber voreilig, allein aus dem Vorkommen des Gleichheitsbegriffs in Art. 3 Abs. 1 GG zu schließen, daß diese tatsächlichen Ungleichheiten eingeebnet werden müssen. Dies ergibt sich schon daraus, daß der Gleichheitssatz traditionellerweise nie so verstanden worden ist, also offensichtlich dem Begriff der Gleichheit ein anderer Gehalt entnommen wurde. Es mag sein, daß sich aus Art. 3 Abs. 1 GG ein Gebot umfassender ökonomischer Egalisierung entnehmen läßt. 4 1 Dies kann aber erst das Ergebnis der Interpretation des Gleichheitssatzes sein; es bedürfte daher weiterer Begründung und kann nicht unmittelbar allein daraus abgeleitet werden, daß in Art. 3 Abs. 1 GG von Gleichheit die Rede i s t . 4 2
19 Mit anderen Worten: Wir kritisieren Gesetze nicht, weil sie überhaupt differenzieren, sondern weil sie die falschen Differenzierungen vornehmen; vgl. Lucas, Equality, S. 301. 4 0 Näher dazu unten 4. Kap. III. 1. c). 4 1 4 2
Zum Problem vgl. unten 7. Kap. I V .
Deshalb sind Sätze wie z. B. "Der allgemeine Gleichheitssatz weist eine besondere Nähe zur sozialen Umverteilung auf, denn Gleichheit ist ein topos der Sozialstaatlichkeit." (Merten/Frey, Umverteilung, S. 75) kurzschlüssig.
24
1. Kap.: Die Struktur des Gleichheitsproblems
b) Schließlich ist hervorzuheben, daß die schematische Gleichbehandlung nichts mit der Herstellung von Ergebnisgleichheit zu tun hat. 4 3 Dies ist eigentlich offensichtlich, weil jene die Art und Weise der Behandlung, diese das Ergebnis einer bestimmten Behandlung bezeichnet. Trotzdem wird beides gelegentlich in Zusammenhang gebracht; 44 dies beruht wohl darauf, daß schematische Gleichbehandlung im Sinne der Zuteilung gleicher Rechte auf den ersten Blick zu einer Art von "Ergebnisgleichheit" führt: 4 5 wenn z. B. jeder die gleichen politischen Rechte besitzt, sind alle in diesem Sinne im Ergebnis gleich. Dies bezeichnet aber nur die Trivialität, daß die Zuteilung gleicher Rechte dazu fuhrt, daß jeder die gleichen Rechte hat; der Begriff der faktischen Gleichheit ist hier überflüssig und führt nur zu Mißverständnissen. Und dort, wo sich Rechts- und Ergebnisgleichheit sinnvoll unterscheiden lassen, spricht nichts dafür, daß ausgerechnet die schematische Gleichbehandlung zur Aufrechterhaltung oder Herstellung faktischer Gleichheit führt; vielmehr wird man es als Zufall bezeichnen müssen, sollte es einmal so ein. Dementsprechend ist häufig festgestellt worden, daß "wir formal ungleiches Recht brauchen, wenn wir Gleichheit herstellen wollen. " 4 6 M i t anderen Worten: Die faktische Gleichheit weist zur - im schematischen Sinne - Gleichbehandlung keine engere Verbindung auf als zur Ungleichbehandlung; der Zusammenhang ist völlig kontingent. 47 4. Terminologische
Klärungen
Die Ergebnisse dieses Abschnitts legen zwei terminologische Klärungen nahe. Zum einen wird im folgenden unterschieden zwischen Gleichbehand4 3
Einen noch unplausibleren Zusammenhang stellt Hufen, Gleichheitssatz, S. 42 mit Fn. 115, her, wenn er behauptet, die unterschiedslose Gleichbehandlung aller in allen Beziehungen "würde Identität bedeuten". Es ist nicht zu sehen, wie von der Art der Behandlung darauf geschlossen werden kann, ob tatsächliche Gleich- oder Ungleichheiten bestehen. 4 4
So z. B. von Pereis, Gleichheitssatz, passim.
4 5
Ähnliche Diagnose bei Dürig, in: M / D - G G , Art. 3 Abs. I Rz. 152 fF.
4 6
So statt vieler Schneider, Diskussionsbeitrag, in: W D S t R L 47 (1989), S. 106. Deutlich gesehen haben dies natürlich die Kritiker der "bürgerlichen Rechtsgleichheitvgl. Marx, Kritik, S. 21: Um zu vermeiden, daß "der eine faktisch mehr als der andre" hat, "müßte das Recht, statt gleich, vielmehr ungleich sein." 4 7 Es mag sein, daß die Gleichheit der politischen Rechte auch zur Aufhebung der faktischen Unterschiede drängt; der Ansatz von Perels, aaO., einen begrifflichen Zusammenhang von schematischer Gleichbehandlung und faktischer Gleichheit herzustellen und deshalb rüde gegen die Formel zu polemisieren, nur wesentlich Gleiches müsse gleichbe handelt werden, ist aber ganz unsinnig und dürfte auf der gerade dargestellten Begriffsverwirrung beruhen. Dies besagt aber weder etwas gegen die ehrenwerte politische Auffassung des Autors, noch dagegen, daß sich aus Art. 3 Abs. 1 GG möglicherweise ein Gebot zur Herstellung faktischer Gleichheit entnehmen läßt; es sagt nur, daß es sich um zwei begrifflich und sachlich zu trennende Fragen handelt.
III. Der Gleichheitssatz und die Allgemeinheit des Rechts
25
lung (auch: schematische oder formale Gleichbehandlung oder deskriptiver Begriff der Gleichbehandlung) als der Zuordnung gleicher Rechtsfolgen und rechtlicher Gleichbehandlung (auch: Gleichbehandlung im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG oder normativer oder materialer Begriff der Gleichbehandlung) als deijenigen Art von Behandlung, die der Gleichheitssatz verlangt. Dies ist geboten, weil eine Verwechslung der Begriffe naheliegt (s. o. 1.) und die rechtliche Gleichbehandlung nicht per se eine schematische Gleichbehandlung verlangt (s. o. 2.). Den Begriffen der deskriptiven und der normativen Gleichbehandlung ist aber gemeinsam, dal) sie sich jeweils auf die Zuordnung von Rechtsfolgen beziehen; daher auch Gleichhehandlung. In diesem Punkt unterscheiden sie sich von dem Begriff der Gleichheit, der einen tatsächlichen Zustand bezeichnet, der besteht oder herzustellen ist (s. o. 3.).
III. Der Gleichheitssatz und die Allgemeinheit des Rechts Wenn Art. 3 Abs. 1 GG per se weder eine schematische Gleichbehandlung noch die Herstellung faktischer Gleichheit verlangt, muß die geforderte Gleichbehandlung im normativen Sinne auf einem anderen Begriff der Gleichheit beruhen. Ein solcher Begriff läßt sich in der Geschichte des Gleichheitssatzes durchaus nachweisen, reicht aber heute kaum mehr aus. 1. Die historische Funktion des Gleichheitssatzes Bei ihrem ersten Auftreten in den Menschen- und Bürgerrechtserklärungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts richtete sich die Formel "Gleichheit vor dem Gesetz" zunächst gegen die Standesprivilegien. 48 Für die Rechtsetzung hat der Gleichheitssatz insoweit die Funktion eines Diskriminierungsverbots. Erstrebt wird die staatsbürgerliche oder Rechtsgleichheit, d. h. die Zuschreibung gleicher Rechte und Pflichten für alle Staatsbürger. 49 In dieser Tradition stehen die Forderungen, auch andere Ungleichbehandlungen nicht mehr zuzulassen, wenn sie auf Erwägungen beruhen, die einen diskriminierenden Charakter haben. Dies gilt insbesondere für das Verbot der Klassengesetzgebung, 4 8 Vgl. dazu und zum folgenden Badura, Staatsrecht, S. 97; Battis/Gusy, Einführung, Rz. 531; Gusy, Gleichheitsschutz, S. 31; Heckel, Aspekte, S. 252 f.; Imboden, Schutz, S. 149 f.; Starck, in: vM/K/St, GG, Art. 3 Abs. 1 Rz. 1; Stettner, Gleichheitssatz, S. 545 f. Darstellung und zahlreiche Nachweise der zeitgenössischen Diskussion bei Dann, Gleichheit, S. 124 ff.; Klippel, Freiheit, S. 160 ff. 4 9 Zu einer analytischen Rekonstruktion dieser Funktion des Gleichheitssatzes vgl. Podlech, Gehalt, S. 179 ff.
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1. Kap.: Die Struktur des Gleichheitsproblems
der unterschiedlichen Behandlung der Geschlechter und der Differenzierung nach Abstammung, Rasse oder Hautfarbe. Mit der Zuschreibung gleicher Rechte und Pflichten war natürlich nicht gemeint, daß der bürgerliche Rechtsstaat kein Recht erlassen durfte, das ungleich im schematischen Sinne behandelt. 50 Der Begriff der Rechtsgleichheit war hier vielmehr darauf beschränkt, daß bestimmte Differenzierungsbegründungen ausgeschlossen sein mußten; sie sollten aber durchaus ersetzt werden durch andere, nur eben gerechte Differenzierungskriterien, wie z. B. persönlichen Verdienst. 51 Und diese Eingrenzung funktionierte nur deshalb, weil zum einen Einigkeit darüber bestand, welche Differenzierungen als diskriminierende in Betracht kommen, 5 2 zum anderen, weil man wenig Bedenken hatte, den restlichen Differenzierungsgehalt der Gesetze dem Gesetzgeber zu überlassen. 53 Die unzulässigen Differenzierungen betrafen nun vor allem personale Eigenschaften, d. h. Merkmale, an denen der Einzelne nichts ändern kann (wie z. B. Herkunft, Rasse, Geschlecht), oder die für seine Identität konstitutiv sind (wie z. B. die Religionszugehörigkeit). Man kann daher hier auch von der personalen oder persönlichen Gleichheit sprechen. 54 Ein Anknüpfen an diese Merkmale hätte dazu geführt, daß das Recht von vornherein für
5 0
Benn/Peters,
Principies, S. 114 ff. Zur Unsinnigkeit dieser Forderung vgl. oben II. 2.
5 1
Kant, Gemeinspruch, S. 147 f.: "Diese durchgängige Gleichheit der Menschen in einem Staat, als Untertanen desselben, besteht aber ganz wohl mit der größten Ungleichheit (...) an Rechten überhaupt (deren es viele geben kann) respektiv auf andere (...). Jedes Glied desselben muß zu jeder Stufe eines Standes in demselben (die einem Untertan zukommen kann) gelangen dürfen, wozu ihn sein Talent, sein Fleiß und sein Glück hinbringen können; und es dürfen ihm seine Mituntertanen durch ein erbliches Prärogativ (als Privilegiaten für einen gewissen Stand) nicht im Wege stehen (...)•" Zum Ausdruck kommt dies auch in Art. 6 der Französischen Verfassung vom 3. September 1791: "Es (das Gesetz) soll für alle das gleiche sein (...). Da alle Bürger vor seinen Augen gleich sind, so können sie gleichmäßig zu allen Würden, Stellen und öffentlichen Ämtern zugelassen werden auf Grund ihrer Fähigkeiten und ohne anderen Unterschied, als den ihrer Tugenden und ihrer Talente." (zit. nach Härtung, Entwicklung, S. 47). 5 2
Ridder,
Männer, S. 226.
5 3
Daraus ergibt sich übrigens auch, daß die fundamentale Unterscheidung für die Interpretation des Gleichheitssatzes nicht die zwischen "nur RechtsanwendungsgleichheitN und "auch Rechtsetzungsgleichheit" ist, also die Frage, ob der Gleichheitssatz überhaupt irgendeine Bindung des Gesetzgebers intendiert. Viel wichtiger ist es, ob man die Gleichheitsforderung inhaltlich auf bestimmte Diskriminierungsverbote begrenzen kann oder ob sie sich zu einem Gerechtigkeitsgebot entgrenzt. Daß erst aufgrund dieser Entwicklung der Gleichheitssatz inhaltlich problematisch wird, betont vor allem Ross, Law, S. 286 f. Daraus wird gelegentlich gefolgert, daß der Gleichheitssatz - angesichts der sonst auftretenden Schwierigkeiten seiner Interpretation - nur im Sinne der Rechtsanwendungsgleichheit verstanden werden kann, soweit er keine speziellen Diskriminierungsverbote enthält (vgl. z. B. Kelsen, Rechtslehre, S. 146). 5 4
Dazu grundlegend Nawiasky, Gleichheit, S. 35 ff.
III. Der Gleichheitssatz und die Allgemeinheit des Rechts
27
bestimmte gesellschaftliche Gruppen nicht gegolten hätte. Indem er dies verhindert, schließt der Begriff der Rechtsgleichheit an den Gehalt der Rechtsanwendungsgleichheit und der Allgemeinheit des Gesetzes an. 2. Von der persönlichen zur sachlichen Rechtsgleichheit Das Gebot der persönlichen Rechtsgleichheit bleibt Bestandteil des Gleichheitssatzes; in Art. 3 Abs. 2 und 3 GG kommt es deutlich zum Ausdruck. Nur reicht es bei weitem nicht mehr aus, den allgemeinen Gleichheitssatz abschließend zu erläutern - ebensowenig, wie dies die formale Allgemeinheit des Gesetzes t u t . 5 5 Dafür gibt es eine Reihe von Gründen, die miteinander zusammenhängen. Zunächst haben die traditionellen Diskriminierungsverbote an Bedeutung verloren; die weltanschaulichen Grundlagen für Differenzierungen aufgrund der Rasse oder des Geschlechts sind weitgehend entfallen. Interessant ist nun, daß diese traditionellen Verbote nicht durch neue Diskriminierungsverbote ergänzt worden sind; 5 6 auf der anderen Seite ist der Gleichheitssatz aber auch nicht überflüssig geworden. Dies deutet darauf hin, daß problematische Ungleichbehandlungen nicht mehr diskriminierend im traditionellen Sinne sind. Mit dem Gleichheitssatz wird nicht mehr geltend gemacht, man werde aufgrund seiner Herkunft oder Rasse benachteiligt; vielmehr beziehen sich Gleichheitsrügen regelmäßig ganz allgemein auf die Ungerechtigkeit einer Differenzierung. Wenn jemand im Vergleich zu seinem Nachbarn zuviel Steuern bezahlt, ist das nicht notwendig ein Problem einer Diskriminierung i m engeren Sinne; zunächst steht dann die Gerechtigkeit der Verteilung von 5 5
Vgl. dazu Alexy, Theorie, S. 361; Dilrig, in: M/D-GG, Art. 3 Abs. I Rz. 19; Hesse, Gleichheitsgrundsatz, S. 175 f.; Huber, Maßnahmegesetz, S. 165 f.; Kauftnann, Gleichheit, S. 9; Menger, in: BK-GG, Art. 19 Abs. 1 Rz. 63; Rupp, Maßstab, S. 369; Starck, Gesetzesbegriff, S. 206 ff.; Weber-Dürler. Rechtsgleichheit, S. 40 f. Die Diskussionslage ist allerdings unübersichtlich, weil der Begriff der formalen Gesetzesallgemeinheit unklar ist; zu dadurch entstehenden Problemen im Rahmen des Gleichheitssatzes vgl. unten 5. Kap. II. Unergiebig für die Interpretation des Gleichheitssatzes ist jedenfalls ein materialer Begriff der Allgemeinheit im Sinne der Vernünftigkeit oder Gerechtigkeit von Gesetzen schlechthin (vgl. dazu nur zuletzt Hofinann, Postulat, S. 33 f.); damit würden die inhaltlichen Probleme nur verschoben. Hinsichtlich der formalen Allgemeinheit ist zu unterscheiden: Ist damit lediglich das Verbot des Einzelpersonen- oder Einzelfallgesetzes gemeint, so reicht dies sicher zur Konkretisierung des Gleichheitssatzes nicht aus; dies ist auch das Bedenken der oben zitierten Autoren. Versteht man dagegen weitergehend unter einem allgemeinen Gesetz ein solches, das die persönliche Rechtsgleichheit achtet, ergeben sich die Einwände aus dem folgenden Text. 5 6 Zumindest haben diese neuen Verbote noch nicht die gleiche Bedeutung erlangt. Diskutiert wird z. B. das Verbot der Diskriminierung behinderter Menschen (vgl. dazu Herdegen, Aufnahme, S. 256 (f.; Jürgens, Gleichstellungsgesetze, S. 130 f.), das in Art. 12 Abs. 2 der Verfassung des Landes Brandenburg bereits enthalten ist.
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1. Kap.: Die Struktur des Gleichheitsproblems
Lasten und Gütern ganz allgemein zur Debattte. 57 Da dies von den herkömmlichen persönlichen Merkmalen unabhängige Probleme sind, spricht man insoweit auch von sachlicher Rechtsgleichheit. 58 Daß der Anwendungsbereich des Gleichheitssatzes sich auf die sachliche Rechtsgleichheit hin ausgedehnt hat, hat zunächst mit der Ausdehnung der Staatstätigkeit und dem Funktionswandel des Gesetzes zu t u n . 5 9 Sobald das Gesetz sich nicht mehr darauf beschränkt, die Freiheitssphären voneinander abzugrenzen, sondern gestaltend in den gesellschaftlichen Prozeß eingreift, werden sehr viel spezifischere Normen erforderlich, deren Gerechtigkeit sich nicht mehr anhand der traditionellen Diskriminierungsverbote beurteilen läßt; 6 0 die Probleme liegen dann auf ganz anderen Gebieten. 61 Der Versuch, den Gleichheitssatz auf die Allgemeinheit des Rechts im Sinne der personalen Rechtsgleichheit zu reduzieren, 62 führt daher nicht mehr weiter. 6 3 Denn ent5 7 Sehr klar - wenn auch in kritischer Absicht - sieht dies Bettennann, Hypertrophie, S. 13: "Die personale Gleichheit wird zur sachlichen Gleichheit erweitert (...). So wurde aus der liberal-demokratischen Bürgergleichheit ein Verbot willkürlicher Egalisierung und willkürlicher Differenzierung. Damit geht die Egalité der französischen Revolution im allgemeinen Willkürverbot als einem Gerechtigkeitspostulat auf." Vgl. auch Battis/Gusy, Einführung, Rz. 534: "Nicht mehr nur staatsbürgerliche Gleichheit, sondern Rechtsgleichheit schlechthin sollte garantieit werden." CO Vgl. nochmals Nawiasky, aaO., S. 35 ff. Sehr ähnlich die Unterscheidung zwischen "bloß falscher Klassifizierung" und "Diskriminierung" bei Salzwedel, Gleichheitsgrundsatz, S. 345 f. 5 9
Dazu grundlegend Neumann, Funktionswandel, S. 31 ff.; vgl. auch Hoftnann, aaO., S. 44 f.; Huber, Maßnahmegesetz, S. 166 f.; Menger, in: BK-GG, Ait. 19 Abs. 1 Rz. 43 ff.; Starck, Gesetzesbegriff, S. 135, 141. 6 0 Deshalb wirken auch die analogen Versuche, den Begriff der Allgemeinheit des Gesetzes zu präzisieren, so hoffnungslos. Wenn z. B. Herzog, in: M/D-GG, Ait. 19 Abs. 1 Rz. 6 f., unter dem Allgemeinheitspostulat das Verbot gruppenbezogener Gesetze versteht, spielt er entweder auf Gruppenbildungen an, die heute niemand mehr vornehmen will, oder er unterstellt - angesichts des Umstandes, daß fast jedes Gesetz eine Gruppenbildung vornimmt und deren Legitimität gerade fraglich ist - einen Konsens in der Gleichheitsfrage, der nicht besteht. Deutlich wird dies auch, wenn die Gesetzesallgemeinheit mit dem Gebot gleichgesetzt wird, nur sachlich gerechtfertigte Unterscheidungen vorzunehmen (so Kriele, Staatslehre, S. 334). 6 1 Auf diesen Zusammenhang weist auch Stettner, Gleichheitssatz, S. 546, hin: "In dem Augenblick, in dem sich Stil und Rahmenbedingungen der Gesetzgebung änderten und diese von der Kodifikation zivilrechtlicher Rechtsbeziehungen in sozial- und Wirtschaftsintervenierende Gleise lenkte, trat an die Stelle der Allgemeinheit des Gesetzes die Regelung von Gruppenbedürfnissen und -belastungen und damit der Zwang, die gesetzgeberischen Produkte selbst am Gleichheitssatz zu messen. Die Rechtsanwendungsgleichheit hat damit ihr komplementäres Pendant im Zwang zur inhaltlichen Gleichheit des Gesetzes, letztendlich zur Gestaltung der Norm nach Gerechtigkeitsgesichtspunkten gefunden." Vgl. auch Rüftter, in: BK-GG, Art. 3 Abs. 1 Rz. 48. L So aber z. B. noch Eyermann, Gleichheitssatz, S. 48: Die Bindung des Gesetzgebers an den Gleichheitsatz gelte "nur für den (...) klar ausgedrückten Gleichheitssatz im ursprünglichen und hergebrachten Sinn, also nur fur die personelle Gleichbehandlung (nicht die Gleichbehand-
TV. Gleichheit und Gerechtigkeit
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weder man greift auf die traditionellen Diskriminierungsverbote zurück; dann verliert der Gleichheitssatz einen großen Teil seines Anwendungsbereichs. 64 Oder man versucht, neue Diskriminierungsverbote zu formulieren; dies ist aber bei der sachlichen Rechtsgleichheit ein untauglicher Versuch, da sich diese nicht durch eine Aufzählung inhaltlich bestimmter Differenzierungsverbote erläutern läßt.
IV. Gleichheit und Gerechtigkeit Wenn der Gleichheitssatz sich einerseits nicht durch Diskriminierungsverbote erläutern läßt, andererseits aber auch nicht schlechthin eine Gleichbehandlung im schematischen Sinne oder die Herstellung faktischer Gleichheit verlangt, wird unklar, was der Gleichheitsbegriff hier bedeutet. 1. Die wesentliche Gleichheit a) Zunächst bestimmt der Begriff der Gleichheit die Perspektive: "Gleich" ist ein dreistelliges Prädikat, das zwei Individuen in einer bestimmten Hinsicht in Beziehung setzt; ein Gleichheitsurteil impliziert daher einen Vergleich. 6 5 Normativ gewendet bedeutet dies, daß Gegenstand der Gleichheitskontrolle nicht die Angemessenheit der Zuordnung von Tatbeständen und Rechtsfolgen als solche ist, sondern daß es um die Frage geht, ob eine bestimmte Zuordnung angemessen ist im Vergleich zu anderen Zuordnungen. Etwas weniger technisch ausgedrückt: Der Gleichheitssatz betrifft das Problem, ob die Behandlung des einen angemessen ist, wenn man sie mit der Behandlung der anderen vergleicht. b) Der Gleichheitssatz besagt aber nun gerade nicht, daß diese Zuordnung nur dann angemessen ist, wenn allen Individuen die gleiche Rechtsfolge zugeordnet, also eine Gleichbehandlung im schematischen Sinne vorgenommen
lung von Sachverhalten)". Mit gleicher Tendenz auch Bettermann, aaO., S. 13, und vor allem Nawiasky. aaO., S. 35 ff. 6 3
Vgl. dazu auch unten 7. Kap. I V . I .
6 4
Dies hat bereits Leibholz. Gleichheit. S. 173 ff., in der Sache sehr deutlich gesehen. Hierin dürfte auch der Grund dafür liegen, daß die Gegenüberstellung von persönlicher und sachlicher Rechtsgleichheit nicht (mehr) ergiebig ist - weniger darin, daß diese Unterscheidung an sich nicht durchzuführen ist (so aber Böckenförde, Gleichheitssatz, S. 46 f.). 6 5 Vgl. insbesondere Podlech. Gehalt, S. 29 ff.; ferner Dann, Gleichheit, S. 16 ff.; Hof, Gleichbehandlung, S. 427 f.; Ipsen, Gleichheit. S. 177.
30
1. Kap.: Die Struktur des Gleichheitsproblems
wird. Daraus haben das BVerfG 6 6 und die Lehre 6 7 die Konsequenz gezogen, dal) der Gleichheitssatz nur verlangt, daß Gleiches gleich behandelt wird, während Ungleiches ungleich behandelt werden kann oder sogar muß. 6 8 Nun ist dies zwar richtig, hilft aber aus zwei Gründen nicht weiter. A u f der einen Seite sind unterschiedliche Sachverhalte nie in allen ihren Eigenschaften gleich, weil es dann eben keine unterschiedlichen Sachverhalte wären; sie wären vielmehr identisch, d. h. nur noch ein Sachverhalt und damit nicht mehr vergleichbar. 69 Sie sind aber auch nicht in allen Eigenschaften ungleich, weil sie sich dann schon nicht mehr gemeinsam als Sachverhalte o. ä. bezeichnen ließen. 7 0 Diese jeweils nur partielle Gleich- und Ungleichheit der Eigenschaften unterschiedlicher Sachverhalte bringt es mit sich, daß entschieden werden muß, ob die Gemeinsamkeiten für eine Gleich- oder die Unterschiede für eine Ungleichbehandlung sprechen, da man zwei Sachverhalte nicht gleichzeitig in einer Hinsicht gleich- und ungleich behandeln kann. 7 1 Auf der anderen Seite kann sich die Gleichheitskontrolle, wenn der Gesetzgeber der Bindung an den Gleichheitssatz nicht gleich wieder entgehen soll, natürlich nicht darauf beschränken, daß alle vom gesetzlichen Tatbestand bereits erfaßten Sachverhalte gleich zu behandeln sind; dies wäre keine Kontrolle, sondern nur eine Bestätigung des Gesetzes. Das Gebot, Gleiches gleich zu behandeln, reduziert sich dann wiederum auf das Erfordernis einer universalistischen Entscheidungspraxis und ist eine logische Konsequenz aus dem Begriff der Norm, soweit darunter eine allgemeine Norm verstanden wird; eine inhaltliche Forderung an den Gesetzesinhalt ergibt sich daraus nicht. 7 2 6 6 6 7
St. Rspr. seit BVerfüE 1, 14. 52. Vgl. nur die umfassenden Nachweise bei Podlech, aaO., S. 53 Fn. 1.
¿Q
Zur Bedeutung des Gebots der Ungleichbehandlung vgl. unten 4. Kap. III. 1. d). 6 9 Dies ist allgemein anerkannt, vgl. nur die grundlegenden Ausführungen bei Nef, Gleichheit, S. 3 fF., und Hesse, Gleichheitsgrundsatz, S. 172 ff.; ferner zuletzt BVerfGE 84, 348, 359, und die bekannte Formulierung von Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 122: "Gleichheit ist immer nur Abstraktion von gegebener Ungleichheit unter einem bestimmten Gesichtspunkte." Deshalb ist z. B. die Aussage, zwei Sachverhalte seien "nur höchst selten völlig gleich" CBettennann, Rechtsgleichheit, S. 88), unpräzise. 7 0 Aus diesem Grunde ist auch der Versuch aussichtslos, bereits auf der begrifflichen Ebene die "Vergleichbarkeit" sehr unterschiedlicher Sachverhalte zu leugnen; so z. B. Nef, Gleichheit, S. 6 ff. Derartige Bemühungen profitieren von der Ungenauigkeit des umgangssprachlichen Begriffs: Wenn gesagt wird, zwei Sachverhalte seien "nicht vergleichbar", so ist damit natürlich nicht gemeint, ein Vergleich sei mangels gemeinsamer Eigenschaften gar nicht möglich, sondern nur, daß die Unterschiede die Gemeinsamkeiten bei weitem überwiegen. 7 1
Alexy, Theorie, S. 362 f.
71 Vgl. Alexy, aaO., S. 361; Weinberger, Gleichheitspostulate, S. 28 f. Auf dieser reduzierten Interpretation beruht der Vorwurf der Inhaltsleere bei Kelsen, Rechtslehre, S. 393 ff., der eine weitergehende Interpretation gar nicht in Betracht zieht.
V . Gleichheit und Gerechtigkeit
31
Die Formel "Gleiches gleich behandeln" muß daher - und kann im Grunde auch nur - 7 3 so verstanden werden, daß die gesetzliche Zuordnung selbst dem Gleichbehandlungsgebot entspricht, also alle gleichen (in einem vor-gesetzlichen, stärkeren Sinne) Sachverhalte mit der gleichen Rechtsfolge belegt. Daher muß eine Auswahl getroffen werden, welche Gleich- und Ungleichheiten relevant sind und welche vernachlässigt werden können. Also verlangt die Rechtsetzungsgleichheit, daß in relevanter Hinsicht Gleiches oder wesentlich Gleiches gleich behandelt wird. Nun ist es offensichtlich nicht sinnvoll, zwei Sachverhalte, die in einer Hinsicht aufgrund ihrer relevanten Gleichheit gleich behandelt werden müssen, auch in allen anderen Hinsichten gleich zu behandeln. Daraus folgt, daß es nicht nur eine Eigenschaft gibt, deren Gleichheit oder Ungleichheit relevant ist, sondern daß das Relevanzurteil davon abhängt, um welche Hinsicht der Behandlung es geht, so daß bei unterschiedlichen Behandlungen unterschiedliche Gleich- und Ungleichheiten relevant sein können. 74 Die Vergleichshinsicht, das "tertium comparationis", ist also an den Inhalt der zu prüfenden Regelung gebunden. 75 Diese Einsicht ist ganz unabhängig davon, daß man auch hinsichtlich einer bestimmten Behandlung verschiedener Meinung über das Relevanzkriterium sein kann; dieser Unterschied ergibt sich dann nicht mehr daraus, daß es um unterschiedliche Behandlungen geht, sondern aus unterschiedlichen normativen Grundeinstellungen. c) Entscheidend ist daher letztlich der Maßstab, der jeweils besagt, welchen Sachverhalten die gleiche und welchen eine andere Rechtsfolge zugewiesen werden muß. Da die zu vergleichenden Sachverhalte unter diesen Maßstab subsumiert werden, bedeutet dies automatisch, daß die tatsächlichen (Ungleichheiten der Sachverhalte, an die der Tatbestand des Maßstabes anknüpft, für die Frage der Gleich- oder Ungleichbehandlung relevant sind. Damit stellt sich grundsätzlich die Frage, in welchem Verhältnis die tatsächlichen (Ungleichheiten zu Fragen der (Un)Gleichbehandlung stehen. In diesem Punkt hat die Gleichheitsformel "wesentlich Gleiches gleich behandeln" zu einer gewissen Unklarheit geführt. Dies liegt zunächst daran, daß der Gleichheitssatz in dieser Fassung gelegentlich als die Gewährleistung einer "abwägenden", "proportionalen" oder "verhältnismäßigen" Gleichheit ver-
73 J
Dies folgt eben daraus, daß jeweils nur partielle faktische Gleichheit vorliegt; vgl. Alexy, aaO., S. 365. 7 4 Alexy , aaO., S. 363; Weinherger , aaO., S. 34. 7 5
Vgl. dazu naher unten 7. Kap. I. 3.
32
1. Kap.: Die S t k t u r des Gleichheitsproblems
standen w i r d . 7 6 Dies deshalb, weil eben keine schematische, sondern nur eine Gleichbehandlung all der Sachverhalte gefordert ist, die in der relevanten Hinsicht gleich sind. Nun scheint es aber Bereiche zu geben, in denen die gleiche Zuteilung von Rechten in einem bestimmten Sinne unabhängig von den tatsächlichen Gleichoder Ungleichheiten ist. Dies soll insbesondere für die Wahlrechtsgleichheit gelten: Das Wahlrecht besitze jeder Staatsbürger als solcher, unabhängig von allen Ungleichheiten in Leistung, Verdienst usw., die zwischen ihm und seinen Mitbürgern bestehen mögen. Die Wahlrechtsgleichheit habe daher strikten, formalen oder schematischen Charakter. 77 Es stellt sich die Frage, ob das aber bedeutet, daß die Wahlrechtsgleichheit sich nicht durch die herkömmliche Gleichheitsformel erfassen läßt. Dagegen spricht zweierlei: Zum einen ist die Wahlrechtsgleichheit nicht so schematisch, wie in dem Argument unterstellt wird; denn auch hier wird danach differenziert, wie alt der Staatsbürger ist und ob er im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte ist. Es ist aber zumindest auf den ersten Blick nicht zu sehen, warum sich diese Einschränkungen nicht mit der Gleichheitsfomel erfassen lassen oder wodurch sie sich sonst erfassen ließen. Zum anderen läßt sich die Behauptung, die Wahlrechtsgleichheit zeichne sich dadurch aus, daß alle möglichen Unterschiede hier bedeutungslos seien, ohne Probleme in die Gleichheitsformel übersetzen; man muß dann nur sagen, daß diese Unterschiede eben irrelevant sind. Die Gleichheitsformel ist in diesem Sinne formal, daß sie offen für jegliche Relevanzurteile ist. Es kommt hier nicht auf das konkrete Beispiel an; und schon gar nicht soll bestritten werden, daß die Wahlrechtsgleichheit sich tatsächlich von anderen Gleichheitsurteilen unterscheidet. 78 Die Frage ist hier allein deshalb von Bedeutung, weil das Verhältnis von tatsächlicher und normativer Gleichheit generell unklar ist. Ebenso wie in verfassungsrechtlichen Zusammenhängen für die Wahlrechtsgleichheit wird andernorts z. B. für die Zuschreibung der Menschenrechte behauptet, diese sei von den tatsächlichen Ungleichheiten völlig unabhängig, sie hänge allein von dem "Mensch-Sein" als solchem ab. Gelegentlich wird dies sogar durch die Formulierung ausgedrückt, derartige
7 6 So z. B. BVerfüE 8, 51, 68 f.; 37, 38, 52 mwN.; Böckenförde, Gleichheitssatz, S. 48 f.; Hufen, Gleichheitssatz, S. 42; Leibholz, Gleichheit, S. 45; Rüfher, in: BK-GG, Art. 3 Abs. 1 Rz. 5. 7 7
Zu Nachweisen und inhaltlicher Diskussion vgl. unten 7. Kap. I. 1.
78 Vgl. dazu unten 7. Kap. I. 1. und II. 1. Hier soll nur bereits daraufhingewiesen werden, daß der einzige sinnvolle Unterschied darin besteht, daß Ausnahmen von der Wahlrechtsgleichheit nur unter erschwerten Bedingungen zulässig sind. Dies hat aber zunächst noch keine Differenzierung in der begrifflichen Fassung des Gleichheitsproblems zur Folge.
V. Gleichheit und Gerechtigkeit
33
Rechte würden kontrafaktisch gewährt: "Es ist das wesentliche an der Forderung nach Gleichheit vor dem Gesetz, daß die Menschen gleich behandelt werden sollen, obwohl sie ungleich sind." 7 9 Man wird derartige Formulierungen nicht wörtlich nehmen können. Tatsächlich haben alle Positionen, die bei der Zuschreibung von Rechten an Eigenschaften anknüpfen, über die die Menschen in unterschiedlichem Ausmaß verfügen, das Problem, erklären zu müssen, warum dann alle Menschen gleichermaßen diese Rechte haben sollen. 8 0 W i l l man dies vermeiden, kann die Konsequenz nur darin bestehen, an empirische Eigenschaften anzuknüpfen, die jeder hat, 8 1 oder auf nicht-empirische Daten, wie z. B. die Gottesebenbildlichkeit, zurückzugreifen, von denen man kaum noch sagen kann, daß sie die Eigenschaft von jemandem darstellen. Die Redeweise von der kontrafaktischen Gewährung von Rechten meint regelmäßig das letztere, und in diesem Sinne ist sie auch ganz unverdächtig: Ähnlich wie die traditionelle Redeweise von der Allgemeinheit des Gesetzes ist auch dieser Sprachgebrauch nur deshalb sinnvoll, weil seine Bedeutung von vornherein normativ eingeschränkt ist. Es ist nur wichtig zu sehen, daß die Gleichheitsformel gegenüber derartigen Differenzierungen völlig indifferent ist. Sie fragt nur, ob die gleich oder ungleich behandelten Sachverhalte wesentlich gleich sind; ob es sich um absolute oder graduelle, um empirische oder nicht-empirische Eigenschaften handelt, ist zunächst egal. Das heißt aber auch, daß diese Formel so weit ist, daß zunächst nichts dagegen spricht, jede Gleichheitsfrage in ihrem Rahmen abzuhandeln. 82
7 9 v. Hayek , Verfassung, S. 106; ebenso Sartori, Demokratietheorie, S. 328 f. Vgl. z. B. auch die bekannte Gegenüberstellung von natürlicher Ungleichheit und rechtlicher Gleichheit bei Rousseau, Gesellschaftsvertrag, S. 26. 80 Vgl. dazu - am Beispiel Kants - Wolf\ Tier, S. 34, und allgemein Feinberg, Philosophy, S. 91. Gegen die Gleichheit der Rechte wird dies jetzt geltend gemacht von Pojman, Rights, S. 621 f. 81 Dies ist z. B. die Position von Singer, Ethik, S. 26 ff., wo sich auch ansonsten kluge Bemerkungen über das Verhältnis von normativer und tatsächlicher Gleichheit finden. Singer hält die Eigenschaft, Interessen zu haben, für den entscheidenden Anknüpfungspunkt für moralische Berücksichtigung. Er betont zu Recht, daß auf dieser Grundlage die überschätzten empirischen Gleichheitsfragen, ob z. B. eine bestimmte Rasse oder ein Geschlecht intelligenter ist, relativ uninteressant werden. 82 Ebenso Engisch, Suche, S. 160. In der Sache entspricht dem die Erkenntnis, daß es weder vermeidbar noch in irgendeinem Sinne fehlerhaft ist, bei der Begründung von Differenzierungen auf die Eigenschaften der zu vergleichenden Personen und Sachverhalte abzustellen (vgl. auch Rawls, Theorie, S. 183 f., 551). Verfehlt ist es, dagegen den Vorwurf vorzubringen, es handele sich um einen Sein-SollensFehlschluß (so aber Hruschka, Lebensrecht, S. 507 f.; gegen ihn zu Recht Hoerster, Fötus, S. 1128): Denn hier wird nicht ein moralisches Urteil aus einer Tatsachenaussage abgeleitet; die tatsächlichen (Un)Gleichheiten werden vielmehr als Gründe für eine Differenzierung geltend
3 Huster
34
1. Kap.: Die Struktur des Gleichheitsproblems
d) Bei den bisherigen Erläuterungen handelt es sich lediglich um Vorklärungen der Problemstruktur, die vielleicht nicht in der Terminologie, wohl aber in der Sache von dem ganz überwiegenden Teil der Staatsrechtslehre ebenso gesehen werden. Sie ergeben sich bis hierhin wohl auch zwangsläufig aus dem Zusammenspiel von verfassungsrechtlichen Argumenten und Erkenntnissen über den Gleichheitsbegriff. Zusammengefaßt: Wenn Art. 3 Abs. 1 GG auch den Gesetzgeber bindet, gewährleistet er die Rechtsetzungsgleichheit. Diese kann zunächst erläutert werden als das Gebot, in relevanter oder wesentlicher Hinsicht Gleiches gleich zu behandeln. Die entscheidende und schwierige Frage lautet nun natürlich, welche (Un)Gleichheiten jeweils wesentlich sind; 8 3 solange dies nicht geklärt ist, macht der Gleichheitssatz überhaupt keine Aussagen über den Gesetzesinhalt. An dieser Stelle gibt es nun eine seltsame Kreisbewegung der Argumentation. Auf der einen Seite ist - zu Recht - festgestellt worden, daß der Begriff der Gleichbehandlung im schematischen Sinne zur Beantwortung dieser Wesentlichkeitsfrage nichts mehr beiträgt, weil ja hier gerade erst entschieden werden soll, wann gleich und wann ungleich behandelt werden muß. 8 4 Daraus ist dann gefolgert worden, der Gleichheitssatz gerate, da der Begriff der Gleichheit zur Bestimmung der Wesentlichkeit nichts mehr beitragen könne, "zu einem Gebot gerechter und eben nicht mehr gleicher Behandlung." 85 Die
gemacht. Die entscheidende Frage ist dann, ob es jeweils gute Gründe sind; an diesem Problem geht aber die - in ihrer Bedeutung für die Lösung konkreter Probleme häufig geradezu grotesk überschätzte - Diskussion um den Sein-Sollens- oder naturalistischen Fehlschluß völlig vorbei (vgl. dazu Singer, Triviality, S. 54, und zur Gesamtproblematik grundlegend Frankena, Fehlschluß, S. 83 ff.). 8 3 Böckenförde, Gleichheitssatz, S. 71; Hufen, Gleichheitssatz, S. 32; Leibholz, Gleichheit, S. 48; Ott, Equity-Theorie, S. 370; Starck, Gesetzesbegriff, S. 224. 8 4 So sehr deutlich Imboden, Schutz, S. 149 f.: "Kann weder die Ungleichheit noch die Gleichheit fiir sich allein der praktischen Rechtsgestaltung als Maßstab dienen, bedarf es vielmehr (...) beider Prinzipien, so bleibt die entscheidende Frage die, wo das eine und wo das andere seine Berechtigung finde (...)." Vgl. auch Kelsen, Gerechtigkeit, S. 25; Kriele, Kriterien, S. 93; Ross, Law, S. 273; Tammelo, Philosophie, S. 68 f. 8 5 Gusy, Gleichheitssatz, S. 2506; Robbers, Gerechtigkeit, S. 90. Vgl. auch Imboden, aaO., S. 150 (Da sich die Wesentlichkeitsfrage "weder aus dem Begriff der Gleichheit noch aus dem der Ungleichheit beantworten" lasse, habe man sich mit dieser Frage "vom Gleichheitsbegriffe gelöst und sich an einem weiteren Maßstab, an dem der Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit der zu überprüfenden Anordnung orientiert."); Thoma, Ungleichheit, S. 458 (Binde jemand auch den Gesetzgeber an den Gleichheitssatz, so sei - da damit nicht der "flagrante Unsinn" einer Pflicht zur schematischen Gleichbehandlung gemeint sein könne - "klar, daß er zwar Gleichheit sagt, aber Gerechtigkeit meint."); Henke, Systematik, S. 5 ("Der Anspruch auf Gleichbehandlung richtet sich (...) auf proportionale Gleichheit, also auf Berücksichtigung der sachlichen und persönlichen Besonderheiten bei der Zuteilung von Rechten und Pflichten, eigentlich also auf Gerechtigkeit (suum cuique).").
V . Gleichheit und Gerechtigkeit
35
Diskussionen über Gleichheit seien zu ersetzen durch Argumente, die detaillierte Wesentlichkeitskriterien entwickeln. 86 An diesem Argument ist richtig, daß der Gleichheitssatz, wenn er allgemein verlangt, wesentlich Gleiches gleich zu behandeln, zu einem Gerechtigkeitsgebot wird. Denn die Frage, ob die Behandlung mehrerer Vergleichspersonen im Verhältnis zueinander angemessen ist, ist per definitionem eine Gerechtigkeitsfrage; man wüßte kaum, was noch ein Problem der Gerechtigkeit sein sollte, wenn nicht dieses. 87 Insofern ist es folgerichtig, daß das BVerfG den Gleichheitssatz frühzeitig in zahlreichen Formulierungsvarianten mit dem Begriff der Gerechtigkeit in Zusammenhang gebracht hat. 8 8 Auch die dagegen vorgebrachte K r i t i k 8 9 kann sinnvollerweise nur den inhaltlichen Rückgriff auf Gerechtigkeitsprinzipien betreffen, nicht aber den Gerechtigkeitscharakter der Fragen bestreiten, die durch den Gleichheitssatz erfaßt werden. Nun darf die Verfassung gewiß nicht durch allgemeine Gerechtigkeitsüberlegungen "wegtheoretisiert" werden. 9 0 Auf der anderen Seite ist es aber auch unplausibel zu behaupten, der Gleichheitssatz sei "semantisch gehaltlos", 91 inhaltlich leer 9 2 oder lediglich eine "Generalklausel" 93 , weshalb er nur eine Art von Durchlauferhitzer für anderweitig gewonnene Maßstäbe darstelle. 94 Daß das nicht die ganze Wahrheit sein kann, wird schon an einem einfachen Gedankenexperiment deutlich: Es würde wohl niemand behaupten, daß es
8 6
Lucas, Equality, S. 301.
8 7
Sehr deutlich so zuletzt Böckenförde , Diskussionsbeitrag, in: W D S t R L 47 (1989), S. 95: "Wenn der Gleichheitssatz nicht nur Rechtsanwendungsgleichheit, sondern auch Rechtssetzungsgleichheit (...) ist, dann enthält er m. E. unausweichlich einen Gerechtigkeitsauftrag und damit auch eine Gerechtigkeitsfunktion." 8 8
Vgl. die Nachweise bei Robbers, aaO., S. 87 ff.
8 9
Starck, Anwendung, S. 62 f.
9 0
Vgl. Starck , Diskussionsbeitrag, in: Link (Hg.), Gleichheit, S. 111. Die "Offenheit" der Grundrechtsnormen - auch und insbesondere des Gleichheitssatzes - gegenüber der Moral und "allgemeinen Gerechtigkeitswertungen" betonen dagegen Alexy, Theorie, S. 494; Kirchhof, Gleichheitssatz, S. 845 f. 9 1
Q2
Podtech, Gehalt, S. 84 f.
Starck, Anwendung, S. 60 f. Gleiches wird für den Begriff der Gerechtigkeit behauptet, soweit er durch das Gleichheitsgebot erläutert wird; vgl. z. B. Kelsen, Rechtslehre, S. 390 ff.; Ross, Law, S. 274. 9 3 Müller , Rechtslehre, S. 404. Q4 Die These, daß die Wesentlichkeitskriterien außerhalb des Gleichheitssatzes zu gewinnen sind, hatte bereits Heller , Staatslehre, S. 291, vertreten. Heute wird dabei im wesentlichen auf die übrigen Normen und Wertungen der Verfassung verwiesen; vgl. Starck , aaO., S. 64, und zuletzt ausfuhrlich Huber, Konkurrenzschutz, S. 520 ff.
36
1. Kap.: Die Struktur des Gleichheitsproblems
keinen Unterschied machen würde, wenn das GG statt Art. 3 Abs. 1 GG ein Gebot der Ungleichbehandlung enthielte. Wenn dies aber so ist, muß der Gleichheitsbegriff irgendeine inhaltliche Bedeutung haben. Alle Autoren, die dies bestreiten, bleiben einen Schritt zu früh stehen: Sie reduzieren den Gleichheitssatz auf die formale Forderung, wesentlich Gleiches gleich zu behandeln, und stellen nicht die wirklich entscheidende Frage, welche Bedeutung der Gleichheitshegriff für die Bestimmung der Wesentlichkeit hat. Daß dies nicht der Begriff der schematischen Gleichbehandlung sein kann, ist natürlich richtig; nur ist dies nicht das Ende, sondern in gewisser Weise erst der Anfang der Diskussion. 95 Führt man diese Diskussion erst gar nicht, so besteht der dringende Verdacht, daß Gerechtigkeitsvorstellungen unreflektiert und unausgewiesen in der Gleichheitsprüfung zum Tragen kommen. Insbesondere ist es fragwürdig, den Gleichheitsbegriff gegen die Gerechtigkeit auszuspielen;96 dies schon allein deshalb, weil der Gleichheitsbegriff traditionell eine zentrale Rolle bei der Definition der Gerechtigkeit spielt. 9 7 Man gelangt daher vom Gleichheitssatz zur Gerechtigkeit und von der Gerechtigkeit wieder zurück zum Gleichheitsbegriff. Damit lautet die entscheidende Frage, welche Bedeutung der Gleichheitsbegriff für die Gerechtigkeit hat. Und da der Gleichheitssatz Gerechtigkeitsfragen betrifft, ist dies wiederum gleichbedeutend mit der Frage, welcher Gleichheitsbegriff bei der Interpretation des Gleichheitssatzes zentral ist. 2. Austeilende und ausgleichende Gerechtigkeit a) Der historisch prominenteste und bis heute paradigmatische Versuch, die Gerechtigkeit durch die Gleichheit zu erläutern, stammt von Aristoteles. 98 Aristoteles unterscheidet die ausgleichende (kommutative) Gerechtigkeit, die den - freiwilligen und unfreiwilligen - vertraglichen Verkehr ordnet, und die 9 5 Vgl. Williams, Gleichheitsgedanke, S. 367 f.: "Die Gleichheitsmaxime (...) kann nicht darauf abzielen, alle Menschen sollten unter allen Umständen gleich behandelt werden oder auch nur so gleich wie möglich. Unter dieser Voraussetzung gibt es jedoch keinen einleuchtenden Haltepunkt, bis man die Maxime so deutet, daß sie nur noch behauptet, man solle die Menschen unter ähnlichen Umständen gleich behandeln." Es sei zu versuchen, "den politischen Gleichheitsbegriff vor diesen Extremen des Aberwitzes und der Trivialität zu bewahren." 9 6 9 7
Vgl. die Nachweise oben in Fn. 85.
Vgl. statt vieler Radbruch, Vorschule, S. 142: "Kern der Gerechtigkeit ist der Gedanke der Gleichheit." Zwar bleibt häufig unklar, welcher Gleichheitsbegriff für die Erläuterung der Gerechtigkeit zentral ist. Daß irgendein Gleichheitsbegriff eine Rolle spielen muß, wird jedoch selten bestritten; vgl. aber Kriele, Kriterien, S. 90 ff.; Tammelo, Theorie, S. 76; Weinberger, Präsumtion, S. 487 f. QO Zur Verbindung von Gerechtigkeit und Gleichheit vgl. Aristoteles, Ethik, S. 159; ders., Politik, S. 116, 122.
V . Gleichheit und Gerechtigkeit
37
austeilende (verteilende, distributive) Gerechtigkeit, die die Zuteilung von Gütern und Lasten betrifft." Beide Gerechtigkeitsarten beruhen auf der Gleichheit, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Die ausgleichende Gerechtigkeit läßt sich als arithmetische Gleichheit erläutern, weil z. B. der Schädiger Ersatz in Höhe des Schadens leisten muß, so daß insoweit die Gleichheit zwischen ihm und dem Geschädigten wiederhergestellt wird. Die austeilende Gerechtigkeit orientiert sich dagegen am Verhältnis des zu verteilenden Guts zur Würdigkeit der Empfänger: Das Verhältnis der zugeteilten Güter muß das gleiche sein wie das Verhältnis der jeweiligen Würdigkeiten bzw. die Verteilung des Guts muß in jedem einzelnen Fall im gleichen Verhältnis zur Würdigkeit stehen. Deshalb geht es hier um eine geometrische Proportionalität oder Gleichheit. Die Unterscheidung dieser beiden Gerechtigkeitsarten und die Beschreibung ihrer inneren Strukturen sind überzeugend. Fraglich ist aber, ob dies auch eine zutreffende Erläuterung des für die Gerechtigkeit fundamentalen Gleichheitsbegriffs ist. b) Dabei ist zunächst ein Mißverständnis auszuräumen, das häufig anzutreffen ist bei dem Versuch, die Unterscheidung von ausgleichender und austeilender Gerechtigkeit bzw. von arithmetischer und geometrischer Gleichheit für das verfassungsrechtliche Gleichbehandlungsgebot fruchtbar zu machen. In der Staatsrechtslehre ist häufig versucht worden, jeweils eine der beiden Gerechtigkeitsarten mit dem zu identifizieren, was oben als Gleich- und Ungleichbehandlungen im schematischen Sinne bezeichnet wurde. Verantwortlich dafür dürften die Ausführungen von Hans Nef s e i n . 1 0 0 Nef sieht, daß der Gleichheitssatz keineswegs per se eine Gleichbehandlung im schematischen Sinne verlangt, sondern dies nur dann tut, wenn die Vergleichspersonen in der relevanten Hinsicht gleich sind. Der Gleichheitssatz verlangt also manchmal eine Gleich-, manchmal eine Ungleichbehandlung im schematischen Sinne. Nef setzt nun die Gleichbehandlung mit der arithmetischen, die 9 9 1(K)
Vgl. Aristoteles , Ethik. S. 158 ff.
V g l . Nef, Gleichheit. S. 87 ff. Ihm wird inbesondere in der Schweizer Rechtslehre in diesem Punkt gefolgt; vgl. Giacometti/Fleiner, Bundesstaatsrecht, S. 407 f.; Müller , Grundrechte, S. 221; Ott , Equity-Theorie, S. 364 und passim; Weber-Dürler , Rechtsgleichheit, S. 30 mit Fn. 32. Sonst auch in diesem Sinne z. B. Bnmner , Gerechtigkeit, S. 32 ff.; Zeidler , Maßnahmegesetz, S. 148 ff., beide ebenfalls unter Berufung auf Nef. Ähnlich auch Hesse, Gleichheitsgrundsatz, S. 198; Rinck , Rechtsprechung, S. 292; Spaeinann , Grundbegriffe, S. 58 f. Das gleiche Mißverständnis kommt auch in der Formulierung von Schneider , Diskussionsbeitrag, in: Link (Hg.), Gleichheitssatz, S. 87, zum Ausdruck: "(...) daß der Gleichheitssatz nach unserer, auf Aristoteles zurückgehenden abendländischen Tradition nicht nur "Jedem das Seine" (justitia distributiva), sondern stets auch tendenziell "Jedem das Gleiche" (justititia commutativa) bedeutet hat (...)."
38
1. Kap.: Die Struktur des Gleichheitsproblems
Ungleichbehandlung mit der geometrischen Gleichheit gleich. Da diese Gleichheitsbegriffe bei Aristoteles aber an die beiden Arten der Gerechtigkeit gekoppelt sind, sieht es nun so aus, als habe man es bei Gleichbehandlungen immer mit der ausgleichenden und bei Ungleichbehandlungen immer mit austeilenden Gerechtigkeit zu tun. Es wird hier also folgende Gleichsetzung vorgenommen: schematische Gleichbehandlung = arithmetische Gleichheit = ausgleichende Gerechtigkeit; schematische Ungleichbehandlung = geometrische oder proportionale Gleichheit = austeilende Gerechtigkeit. Dies führt dann dazu, daß die Frage, ob im konkreten Fall zwei Personen im schematischen Sinne gleich oder ungleich behandelt werden sollen, reformuliert wird als das Problem, welches der Gerechtigkeitsprinzipien einschlägig ist. Konsequent kommt Nef dann dazu, daß auf fast alle Gleichheitsfragen beide Gerechtigkeitsarten Anwendung finden, weil überall manchmal gleich, manchmal ungleich behandelt werden müsse. Folglich wird z. B. das Steuerrecht, das gemeinhin als Paradebeispiel für ein Problem der austeilenden Gerechtigkeit gilt, der ausgleichenden Gerechtigkeit zugeordnet, soweit absolut identische Steuerbeträge erhoben werden. 1 0 1 Diese Begriffsbildung beruht offensichtlich auf einem groben Mißverständnis der aristotelischen Unterscheidung. Diese setzt nämlich voraus, dal] es zwei unterschiedliche Bereiche von Gerechtigkeitsproblemen gibt, wobei jeder dieser Bereiche exklusiv einer Gerechtigkeitsart zugeordnet werden kann. Ob dann aus den jeweiligen Gerechtigkeitsprinzipien im konkreten Fall eine Gleich- oder Ungleichbehandlung folgt, kann deren Zuordnung zur ausgleichenden oder austeilenden Gerechtigkeit nicht in Frage stellen. Wenn also aufgrund gleicher Würdigkeit zweier Personen eine identische Verteilung eines Guts und damit eine Gleichbehandlung vorzunehmen ist, so ändert das nichts daran, daß es sich um eine Problem der austeilenden Gerechtigkeit handelt; auch die geometrische Gleichheit i m Sinne des Aristoteles kann im Einzelfall eine identische Behandlung verlangen. Noch deutlicher ist der Fehler bei der ausgleichenden Gerechtigkeit: Identifiziert man diese bzw. die arithmetische Gleichheit mit der Gleichbehandlung, so wird übersehen, daß es hier zunächst gar nicht um eine "Behandlung" durch einen Dritten geht. Die ausgleichende Gerechtigkeit verlangt nicht die Gleichbehandlung von zwei Personen, sondern von zwei Zuständen. 102 Ein Dritter, der über den an dem Verkehrsvorgang Beteiligten steht und sie "behandelt", ist nicht notwendigerweise vorhanden; deshalb läßt sich auch im
1 0 1
Vgl. Nef; aaO., S. 96. Hoerster, Gerechtigkeit, S. 117.
V . Gleichheit und Gerechtigkeit
39
Naturzustand, wo ein solcher Dritter per definitionem fehlt, nicht von austeilender, wohl aber von ausgleichender Gerechtigkeit sprechen. 103 Falsch ist also nicht der Ansatz von Aristoteles, die beiden Gerechtigkeitsarten mit bestimmten Sachfragen zu parallelisieren. 104 Der Fehler liegt vielmehr darin, daß Nef und andere übersehen haben, daß der Begriff der Gleichbehandlung mit den Begriffen der arithmetischen bzw. geometrischen Gleichheit gar nicht auf einer Ebene l i e g t . 1 0 5 Es ist eher so, daß diese beiden Gleichheitsbegriffe eine Rolle bei der Frage spielen, wann gleich und wann ungleich behandelt werden muß; sie haben daher mehr Ähnlichkeit mit dem normativen Gerechtigkeitsbegriff als mit dem deskriptiven Begriff der Gleichbehandlung. 106 c) Trotzdem muß der Versuch scheitern, mit dem Gleichheitsbegriff des Aristoteles die Gerechtigkeit zu erläutern. Das liegt daran, daß sein Gleichheitsbegriff letztlich formal oder abgeleitet bleibt; er beantwortet nicht die Fragen, auf welche Gleichheiten es ankommt oder warum es auf diese ankommt. So läßt Aristoteles mit dem Begriff der arithmetischen Gleichheit im Rahmen der ausgleichenden Gerechtigkeit klar erkennen, auf welche Gleichheit es jeweils ankommt. Dieser Gleichheitsbegriff kann aber aus zwei Gründen nicht zentral für die Erläuterung der Gerechtigkeit sein: Zum einen gibt es für Aristoteles noch andere Gerechtigkeitsprobleme, die sich nicht nach der arithme1 0 3
Vgl. Taylor , Wesen, S. 146.
1 0 4
So aber konsequent Nef\ Gleichheit, S. 93 ff.
1 0 5
Ähnlicher Einwand gegen Nef auch bei Engisch , Suche, S. 159 f. Die wohl größte Verwirrung in dieser Frage produzieren die Ausführungen von Karpen , Recht, S. 564 ff. Karpen parallelisiert nicht nur - ebenso wie Nef - die aristotelische Unterscheidung mit der Unterscheidung von Gleich- und Ungleichbehandlungen im schematischen Sinne. Zusätzlich erläutert er beide Gerechtigkeitsarten falsch und bringt sie zudem auch noch auf ganz unplausible Weise mit politischen Positionen in Zusammenhang (aaO., S. 564 f.): So wird plötzlich die "justitia commutativa" als "relative Gleichheit" bezeichnet, die jeden "entsprechend seiner Leistung, Begabung, seinen objektiven Fähigkeiten" behandle und deshalb zu einer Verstärkung von Ungleichheiten führe; sie sei die rechtsstaatliche Rechtsgleichheit. Die "ausgleichende, die distributive (sie!) Gleichheit" beruhe dagegen auf dem Gedanken der "arithmetischen Gleichheit" und des Prinzips "jedem das Gleiche"; sie führe daher zur Chancengleichheit und sei die sozialstaatliche Gleichheit. Hier ist nun offensichtlich alles durcheinandergebracht. 106 Dies wird besonders dann deutlich, wenn zwei Personen zwar von einem Dritten "behandelt" werden, dies aber aufgrund eines Maßstabs der ausgleichenden Gerechtigkeit erfolgt. So entspricht die Verurteilung eines Schädigers zur Ersatzleistung in Höhe des verursachten Schadens der arithmetischen Gleichheit zwischen Schädiger und Geschädigtem im Sinne des Aristoteles. Aber dies hat nichts damit zu tun, daß der Richter im schematischen Sinne gleichbehandelt: Während der Schädiger die Pflicht zum Ausgleich hat, hat der Geschädigte nicht etwa die gleiche Pflicht, sondern im Gegenteil den entsprechenden Anspruch.
40
1. Kap.: Die Struktur des Gleichheitsproblems
tischen Gleichheit lösen lassen. Zum anderen sagt der Gleichheitsbegriff selbst nicht, auf welche Gleichheit es ankommt bzw. warum es gerade auf die Gleichheiten ankommen soll, auf die Aristoteles abstellt. Noch deutlicher ist dies bei der austeilenden Gerechtigkeit. Hier gesteht Aristoteles selbst zu, daß es letztlich auf die Frage ankomme, welches Moment der Würdigkeit relevant ist, dies aber gerade zwischen unterschiedlichen politischen Auffassungen heftig umstritten s e i . 1 0 7 Auch Aristoteles selbst beantwortet diese Frage zunächst nicht; er betont nur, daß ein solches Würdigkeitsurteil unverzichtbar sei, weil die Gleichheit nur unter Ebenbürtigen - d. h. gleich Würdigen - gerecht s e i . 1 0 8 Das aber heißt, daß die Gerechtigkeit sowohl eine Gleich- als auch eine Ungleichbehandlung verlangen kann. Damit schrumpft die Aussagekraft des Begriffs der geometrischen Gleichheit auf die zunächst leere Formel des "Gleiches gleich, Ungleiches ungleich behandeln." Daraus, daß auch eine Ungleichbehandlung gefordert sein kann, haben sowohl die Gegner als auch die Befürworter eines stärkeren Gleichheitsbegriffs unzutreffende Konsequenzen gezogen. So hat Nietzsche daraus gefolgert: "'Den Gleichen Gleiches, den Ungleichen Ungleiches' - das wäre die wahre Rede der Gerechtigkeit: und, was daraus folgt, 'Ungleiches niemals gleich machen.'" 1 0 9 Mit kritischer Tendenz, aber in der Sache ganz ähnlich haben andere Autoren geschlossen, Aristoteles - wie vor ihm Piaton - 1 1 0 habe den Begriff der geometrischen Gleichheit nur ins Spiel gebracht, um seine politisch inegalitäre, elitäre Haltung zu verschleiern. 111 Diese Autoren überschätzen den sachlichen Gehalt des Begriffs der geometrischen Gleichheit und der Formel "Gleiches gleich, Ungleiches ungleich behandeln". Zwar mögen Piaton und Aristoteles keine Verfechter des Egalitarismus oder der demokratischen Gleichheit gewesen sein; nur ist dies nicht dem Begriff der geometrischen Gleichheit anzulasten. Denn daß die Gerechtigkeit tatsächlich manchmal eine Gleich-, manchmal aber eben auch eine Ungleichbehandlung verlangt, ist schwerlich zu bestreiten. Die Uneinigkeit besteht nur darüber, was wann der Fall ist; deshalb hängt eben alles davon ab, was wesentlich gleich ist. Da der Begriff der geometrischen Gleichheit darüber aber nichts mehr sagt, ist "sein sozial konservierender Sinn" keineswegs
1 0 7 Aristoteles, Ethik, S. 159. Vgl. auch ders., Politik, S. 122: "Worin aber Gleichheit und Ungleichheit zu bestehen haben, muß man auch wissen." m
Aristoteles,
Politik, S. 116.
1 0 9
Nietzsche, Götzen-Dämmerung, S. 1024.
1 1 0
Vgl. die Lehre von den zwei Gleichheiten bei Piaton, Nomoi, S. 131 f.
1 1 1
Vgl. Dann, Gleichheit, S. 40 IT.; Podlech, Gehalt, S. 53 ff. Vgl. auch Popper, Gesellschaft, S. 137 ff.
V . Gleichheit und Gerechtigkeit
41
"offenkundig". 1 1 2 Vielmehr hat er überhaupt keinen inhaltlichen Sinn und ist deshalb sowohl für einen radikalen Egalitarismus als auch für die nationalsozialistische "Artgleichheit" 1 1 3 offen. Aristoteles' Gleichheitsbegriffe sind zunächst rein deskriptive Begriffe, die die Struktur von - inhaltlich ganz unterschiedlichen - Gerechtigkeitsproblemen erhellen, aber keine normative Festlegung enthalten. 114 Ihre Schwäche ist nicht, daß sie ein falsches Gleichheitsurteil implizieren, sondern daß sie überhaupt keines enthalten. 3. Der normative Begriff der Gleichheit a) Die bisher erläuterten Gleichheitsbegriffe können weder für den Gleichheitssatz noch für die Gerechtigkeit zentral sein: die schematische Gleichbehandlung nicht, weil sie absurd ist; die Formel "Gleiches gleich behandeln nicht", weil sie trivial i s t ; 1 1 5 irgendeine der konkreten Gleichheiten - des Ergebnisses, der Chancen, des Verhältnisses von Gewinn und Schaden usw. nicht, weil sie jeweils nicht fundamental sein kann. Trotzdem ist der Gleichheitsbegriff so faszinierend, daß alle Positionen, selbst wenn sie hinsichtlich der tatsächlich vorzunehmenden Gleichbehandlung ganz unterschiedlicher Ansicht sind, sich auf ihn berufen - und zwar auch dann, wenn sie sich gegen "Gleichmacherei" o. ä. wenden. 1 1 6 Diese Faszination kann man nicht erklären, wenn man bei den erwähnten "simplen" Gleichheitsbegriffen stehen bleibt: "Die Anziehungskraft, die von der Idee der Gleichheit ausgeht, läßt sich nicht aus der wörtlichen Bedeutung des Begriffs erklären." 1 1 7 b) Der Gleichheitsbegriff, der dem allgemeinen Gleichheitssatz und auch der Gerechtigkeit zugrundeliegt, kann daher nur ein normativer Begriff sein: Gefordert ist nicht, daß alle im schematischen Sinne gleich, sondern daß sie -
1 1 2
So aber Dann, aaO., S. 41.
1 1 3
Vgl. dazu Hill, Gleichheit, S. 205 ff.
114
O d e r in den Worten von Rees, Gleichheit, S. 113: "eine Art logischer Gußform, in die sich materielle Kriterien jeder Art gießen lassen." 1 1 5 Daß diese Formel nicht zentral sein kann, hätte man auch schon daran sehen können, daß sie häufig als formales Prinzip der Gerechtigkeit bezeichnet wird; vgl. z. B. Pereltnan , Gerechtigkeit, S. 28. Entweder muß es also noch ein anderes Prinzip geben, oder es gibt gar keine materiale Gerechtigkeit. 1 1 6
Zu diesem Befund vgl. Vlastos , Justice, S. 41 ff., und die historischen Belege bei Dann, Gleichheit, z. B. S. 177 ("revolutionäre" vs. "wahre Gleichheit"). 1 1 7
Walzer, Sphären, S. 15. Etwas Ähnliches scheint auch Diirig , in: M/D-GG, Art. 3 Abs. I Rz. 4, mit der Bemerkung zu meinen, der Gleichheitssatz sei kein mathematischer oder logischer, sondern ein Rechtssatz.
42
1. Kap.: Die Struktur des Gleichheitsproblems
wie Ronald Dworkin es genannt hat - "als Gleiche" ("as equals") behandelt werden, d. h. daß jeder auf dieselbe Weise mit Achtung und Rücksicht ("with equal concern and respect") zu behandeln i s t . 1 1 8 Dieses Recht auf Behandlung "als Gleicher" ist fundamental: Aus ihm kann sich ein Recht auf schematische Gleichbehandlung ergeben; ebenso ist es aber denkbar, dal] gleiche Rücksichtnahme gerade in einer Ungleichbehandlung bestehen kann. 1 1 9 Es kann aber aufgrund seiner Fundamentalität nicht mit einem radikaleren Begriff von Gleichheit kollidieren, weil es auf dieser Ebene gar keinen anderen Gleichheitsbegriff g i b t . 1 2 0 Dieses zentrale Gleichheitsgebot liegt - ausdrücklich oder implizit - zahlreichen Ansätzen in der Interpretation des Gleichheitssatzes und in der Theo* rie der Gerechtigkeit zugrunde. Ihm entspricht z. B. die Forderung, die Interessen aller gleichermaßen zu berücksichtigen. 121 Auch die - in zahlreichen Varianten vertretenen - Universal isierungsprinzipien stellen, solange sie nicht rein formal verstanden werden, 1 2 2 dieses Ideal der Gleichheit dar. Gleiches gilt für die Vertrags- und Verfahrenstheorien, die das Gleichheitsgebot auf unterschiedliche Weise prozeduralisieren: bei Hobbes als die Unterstellung gleicher körperlicher und geistiger Kräfte und daraus resultierender Bedrohung; 1 2 3 in den klassischen Vertragstheorien durch die Gleichheit aller als Vertragspartner, d. h. durch das Erfordernis der allgemeinen Zustimmungsfähigkeit; 1 2 4 bei Rawls durch den Schleier des Nichtwissens, der gewährleistet, daß bei der Festlegung der Gerechtigkeitsgrundsätze "niemand durch die Zufälligkeiten der Natur oder der gesellschaftlichen Umstände bevorzugt oder benachteiligt w i r d " ; 1 2 5 in der Diskursethik durch die Festlegung von Bedingungen einer idealen Sprechsituation, die "in besonderer Weise gegen Repression und Ungleichheit immunisiert i s t " . 1 2 6 Und es ist auch dieses allgemeine Recht auf eine Behandlung "als Gleicher", das sich sinnvoll auf eine 118 D w ? / * m , Bürgerrechte. S. 298 ff., 370, 439 ff., 587; ders., Liberais, S. 205 f f Ebenso oder ähnlich Bydlinsld, Rechtsgrundsätze, S. 171; Griffin, Well-Being, S. 163 ff. 1 1 9 Vgl. Bydlinski, aaO.; Dworkin, Bürgerrechte, S. 370, 440; Rawls, Theorie, S. 555; Singer. Ethik, S. 35 ff.; Wolf\ Problem, S. 115; dies., Marktwirtschaft, S. 13. 1 2 0
Vgl. Dworkin, aaO., S. 301.
1 2 1
Vgl. dazu Benn, Egalitarianism, S. 67 ff.; Dahl, Democracy, S. 85 f.; Singer, aaO.,
S. 32 ff. 1 2 2
Zu den "Stufen der Universalisierung" vgl. Mackie, Ethik, S. 104 if.
^ Hobbes, Leviathan, S. 112 ff. Zum normativen Gleichheitsgehalt dieser Annahme vgl. Höffe. Gerechtigkeit. S. 319 ff. 1 2 4
Zu diesem Erfordernis in einer Vertragstheorie der Moral vgl. nur Nagel, Gleichheit, S. 138 ff.; Tugendhat, Probleme, S. 59 ff. 1 2 5
Rawls, aaO., S. 29.
1 2 6
Habermas, Diskursethik, S. 98.
V. Gleichheit und Gerechtigkeit
43
allgemeine "Gleichheit des Menschseins" 127 zurückfuhren läßt: auf die Gleichheit vor G o t t ; 1 2 8 auf die Gleichheit der Menschenwürde; 129 auf die Gleichheit der Menschen als Mitglieder des Reichs der Zwecke; 1 3 0 auf die Gleichheit in Tod und Leiden; 1 3 1 auf die Gleichheit i m Besitz fundamentaler Interessen. 132 Auch die besonderen Gleichheitssätze oder Diskriminierungsverbote lassen sich auf diese Gleichheitsforderung zurückführen: Denn Benachteiligungen aus den dort genannten Gründen bedeuten j a gerade, daß man jemandem nicht die gleiche Würde, den gleichen Personenstatus zuerkennt. 133 Im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes muß man nun direkt auf dieses Prinzip zurückgreifen, weil hier nicht von vornherein klar ist, auf welchen Gründen eine ungerechtfertigte Benachteiligung beruhen kann. c) Das Ideal der Gleichheit hat in seiner Geschichte darunter gelitten, daß es oft in einer Form vertreten oder (miß)verstanden worden ist, die es wenig attraktiv erscheinen läßt: nämlich entweder als Gebot schematischer Gleichbehandlung oder Herstellung faktischer Gleichheit, dessen Konsequenzen "zu Zweifeln Anlaß geben, ob es sich dabei um irgendeinen folgerichtigen Gedanken handelt"; 1 3 4 oder als formales und deshalb leeres Prinzip, das keine Differenzierung ausschließt. 135 W i l l man den wirklich grundlegenden Gleichheitsgedanken, die Behandlung aller "als Gleicher", vor diesen - naheliegen-
1 2 7
Wiltiatns , Gleichheitsgedanke, S. 369 ff.
1 2 8
Vgl. Arndt , Gedanken, S. 179; Brunner , Gerechtigkeit, S. 51 ff.; Hesse, Gleichheitsgrundsatz, S. 198 ff.; Kirchhof \ Gleichheitssatz, S. 857 ff. 1 2 9 Düng, in: M/D-GG, Art. 3 Abs. I Rz. 1 ff. Vgl. ferner Bielefeldt , Ethos, S. 20 ff. und S. 32 f.; Giacometti/Fleiner, Bundesstaatsrecht. S. 402; Kirchhof \ aaO., S. 855 ff.; Sartori , Demokratietheorie, S. 332. 1 3 0
Kant, Vernunft, S. 209 ff.
1 3 1
Vgl. Wolf ; Problem, S. 181 f.
1 Vgl. Singer , aaO., S. 32 ff. Zum Problem, diesen grundlegenden Egalitarismus ohne Rückgriff auf religiöse oder metaphysische Annahmen zu begründen, vgl. jetzt Pojman , Rights, S. 605 ff. 133 Vgl. Arndt , Gedanken, S. 183: n So ist der allgemeine Gleichheitssatz das Urverbot, von Staats wegen zu beurteilen, wer Mensch ist, und davon abgeleitet, welchem Menschen mehr an Weit zukommt als einem anderen. Von hier aus wird der allgemeine Gleichheitssatz zum Verbot der Herabsetzung (Diskriminierung)." 1 3 4 Rees, Gleichheit, S. 115. Diese bewußte Überinteipretation stellt einen bekannten Zug der konservativen Kritik des Gleichheitsprinzips dar; vgl. dazu Bielefeldt , aaO., S. 20 f.; Darm , Gleichheit, S. 147 mwN.; Suhr, Freiheit, S. 6 f. 1 3 5
Vgl. nochmals Kelsen , Gerechtigkeit, S. 25 ff.; ders ., Rechtslehre, S. 390 ff.
44
1. Kap.: Die Struktur des Gleichheitsproblems
den - 1 3 6 Mißverständnissen schützen, so kann man dies ausdrücken, indem man nicht von Gleichheit, sondern von Gleichberechtigung spricht. 1 3 7 Dieses Recht auf eine Behandlung "als Gleicher" ist nicht notwendigerweise rein formal - 1 3 8 obwohl es natürlich so aufgefaßt werden k a n n . 1 3 9 Es ist allerdings sehr abstrakt. 1 4 0 Deshalb gibt es einen Sinn, in dem man es als leer bezeichnen k a n n ; 1 4 1 nämlich in dem Sinn, daß es keine konkreten Handlungsanweisungen enthält bzw. diese sich nicht mechanisch aus ihm ableiten lassen. Welche Verteilung von Gütern und Lasten, welche Strafe und welche soziale Hilfe gerecht ist, läßt sich dem grundlegenden Gleichheitsprinzip nicht unmittelbar entnehmen. Es "enthält kein Entscheidungsverfahren, es definiert lediglich eine Perspektive, von der aus zu urteilen i s t . " 1 4 2 Wenn dies auch zunächst kein Einwand ist, da dies in jeder nicht-autoritären Moral so i s t , 1 4 3 stellt es den Verfassungsinterpreten doch vor ein gewaltiges Problem: Es wird damit seine Aufgabe, mit Hilfe dieses allgemeinen Urteilsprinzips zu ermitteln, was in den einzelnen Problembereichen Gerechtigkeit oder die Behandlung aller als Gleicher bedeutet. Denn daß sich die Einheitlichkeit der grundlegenden Gleichheitsidee in den einzelnen Bereichen fortsetzt, ist eher unwahrscheinlich; es war ja gerade die Uneinheitlichkeit der relevanten Gleichheiten, die das Gleichheitsprinzip auf dieses Abstraktionsniveau hochgetrieben hatte. Es ist daher eher damit zu rechnen, daß es jeweils auf ganz unterschiedliche Gleich- und Ungleichheiten ankommt, daß diese also kontextrelativ s i n d . 1 4 4 Das Problem der Interpretation des Gleichheitssatzes besteht dann darin, auf der Grundlage der normativen Gleichheitsidee festzustellen, auf welche (Ungleichheiten es jeweils ankommt.
1 3 6 Vgl. Griffin, aaO., S. 298: "(...) it is easy to slip from that relatively uncontroversial basic-level egalitarianism to more contentious forms of egalitarianism at higher levels." 1 3 7 Zu historischen Parallelen vgl. Dann, aaO., S. 211: "Anstatt von Gleichheit wurde jetzt zunehmend von "Gleichberechtigung" gesprochen. Damit war an- die Stelle eines vieldeutigen Schlagworts ein konkreter RechtsbegrifF getreten." 1 3 8
Vgl. Bydünski, aaO., S. 174 fF.
1 3 9
Wie z. B. von Hare , Thinking, S. 154 fF., in seiner Dworkin-Interpretation.
1 4 0
Vgl. Dahl, Democracy, S. 87 f.; Dworkin, Bürgerrechte, S. 298 f.
1 4 1
So Raz, Theory, S. 129 f.
1 4 2
Tugendhat, Probleme, S. 101. Vgl. dazu jetzt auch Sitter-Uver,
1 4 3
Vgl. Tugendhat, aaO., S. 101 f.
1 4 4
Vgl. dazu unten 7. Kap. I. 3.
Klugheit, S. 1324 fF.
2. Kapitel
Die Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes in ihrer Entwicklung Wenn die zuvor gegebene Erläuterung des allgemeinen Gleichheitssatzes zutrifft, so steht der Interpret des Art. 3 Abs. 1 GG vor der schwierigen Aufgabe, aus dem allgemeinen Gesichtspunkt, daß alle Normunterworfenen gleichermaßen zu berücksichtigen sind, konkrete Gerechtigkeitsmaßstäbe zu entwickeln, die dieser Anforderung entsprechen. In diesem Kapitel soll dargestellt werden, wie die Verfassungsrechtsprechung diese Konkretisierung der abstrakten Gleichheitsidee vorzunehmen versucht hat, und welche Einwände gegen ihren Ansatz erhoben worden sind.
I. Die Willkürrechtsprechung 1. Umschreibungen der Problemstruktur Das BVerfG mußte zur Konkretisierung der Formel, daß "Gleiches gleich" bzw. "wesentlich Gleiches gleich" zu behandeln ist, das Kriterium der Relevanz oder Wesentlichkeit erläutern; dazu hat es zahlreiche umschreibende Formulierungen entwickelt. Einige von ihnen stellen lediglich Umformulierungen des Problems dar; andere lassen dagegen zumindest tendenziell die Vorstellung des Gerichts erkennen, wie eine Lösung des Problems auszusehen hat und wie man zu ihr gelangt. a) So hat das Gericht formuliert, es müsse "ein innerer Zusammenhang zwischen den vorgefundenen Verschiedenheiten und der differenzierenden Regelung bestehen."1 Ferner sei ""Gleiches gleich, Ungleiches seiner Eigenart entsprechend verschieden" zu behandeln. " 2 In unterschiedlichen Formulierungszusammenhängen wurde auch auf die "Natur der Sache" abgestellt, aus der sich der Grund für die gesetzliche Differenzierung ergeben könne 3 und 1
BVerfGE 71, 39, 58.
2
BVerfGE 3, 58, 135.
3
Vgl. BVerfGE 1, 14,52.
46
2. Kap.: Die Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes
deren Gesetzlichkeiten zu berücksichtigen seien.4 Ähnlich heißt es, die in der Sache selbst liegenden Gesetzlichkeiten seien zu beachten;5 generell wird betont, daß die Differenzierung "nicht sachfremd" 6 sein dürfe und diese Sachlichkeit sich "stets nur in bezug auf die Eigenart des konkreten Sachverhalts" 7 feststellen lasse. Sehr ähnlich hatte bereits Leibholz formuliert, nach dem Gleichheitssatz "haben die Menschen, die einander wesentlich gleich sind, insoweit auch Anspruch auf gleiche rechtliche Behandlung durch den Gesetzgeber. Begründet dagegen ihre individuelle Eigenart eine Verschiedenheit, so müssen auch diese im Wesen der Sache begründeten Ungleichheiten bei der gesetzlichen Regelung der fraglichen Materie berücksichtigt werden." 8 b) Diese Formulierungen legen natürlich nicht abschließend fest, worin die Relevanz einer (Un)Gleichheit besteht und wie sie festzustellen ist. Sie voreilig als "leere Formeln" 9 zu verspotten, versperrt aber den Blick dafür, daß in ihnen doch eine - wenn auch vage - Vorstellung des BVerfG über die zugrundeliegende Problemstruktur zum Ausdruck kommt: 1 0 Zum einen bringt das Abstellen auf die "Eigenart" oder die "Natur" der Sache zum Ausdruck, daß die jeweils geforderte Gleichheit eine bereichsspezifische i s t . 1 1 Zum anderen und vor allem hat das Gericht offensichtlich Konstellationen vor Augen, in denen die Ungleichheit bestimmter Eigenschaften von Personen oder Sachverhalten den Grund für die Ungleichbehandlung bildet. U m ein einfaches Beispiel zu geben: Dafür, daß A höhere Steuern zu leisten hat als B, ist relevant, daß A leistungsfähiger ist als B, nicht aber, daß A ein Mann und B eine Frau ist. Hier soll nicht weiter interessieren, welche Leistungen die oben zitierten Formeln für die Relevanzfrage erbringen; interessant ist aber, daß diese Formeln allesamt auf eine Verbindung der Ungleichbehandlung mit solchen Gründen abstellen, die sich noch sinnvollerweise als Eigenschaften der 4
Vgl. BVerfGE 71, 39, 58; 76, 256, 329; 80, 109, 118.
5
Vgl. BVerfGE 9, 338, 349.
6
BVerfGE 17, 122, 131.
7
BVerfGE 13, 122, 130.
8
Leibholz, Gleichheit, S .45.
9
So z. B. Gubelt, in: vM-GG, Art. 3 Rz. 18; Schoch, Gleichheitssatz, S. 875; Scholler, Interpretation, S. 33. Sehr kritisch auch Podlech, Gehalt, S. 77 ff.; Stein, in: AK-GG, Art. 3 Rz. 30. 1 0
Eine gewisse Präzisierungsfunktion wird diesen Formulierungen auch von Wendt, Gleichheitssatz, S. 780 f., zugesprochen. 1 1
Dazu näher unten 7. Kap. I. 3.
I. Die Willkürrechtsprechung
47
ungleich behandelten Personen oder Sachverhalte bezeichnen lassen. Der Begriff der "relevanten Ungleichheit" scheint also den Blick auf die ungleich behandelten Personen und Sachverhalte selbst zu lenken und dadurch Gründe auszuschließen, die nicht mehr an deren Eigenschaften anknüpfen können. Daraus entsteht die Frage, ob es nicht Gründe für Ungleichbehandlungen gibt, von denen sich nicht mehr sinnvoll sagen läßt, daß sie an relevante Eigenschaften der ungleich behandelten Sachverhalte anknüpfen, sondern die "von außen" kommen, so daß die Ungleichbehandlung nichts mehr mit der "Natur der Sache", die Regelungsgegenstand ist, zu tun hat. Wenn es solche Gründe gibt, wäre die nächste Frage, wie sie von Art. 3 Abs. 1 GG dogmatisch verarbeitet werden. Die Frage, ob die Formulierungen des BVerfG nicht eine Eingrenzung der auf ihre Wesentlichkeit zu untersuchenden Gründe suggerieren, kann hier zunächst offen bleiben; sie wird später wieder aufgenommen. 12 2. Der Willkürbegriff
als Maßstab
a) Wenn die Gleichheitsforderung des Art. 3 Abs. 1 GG sich gar nicht anders als ein Gerechtigkeitsgebot verstehen läßt, so ist dies für die Justitiabilität des Gleichheitssatzes mißlich. Denn auch wenn die Idee der gleichen Berücksichtigung aller eine Perspektive auf Gerechtigkeitsprobleme eröffnet, legt sie doch keineswegs definitive Lösungen fest; vielmehr gelten gerade Fragen der Gerechtigkeit als außerordentlich umstritten. Dies gilt vor allem für Fragen der distributiven Gerechtigkeit; unterschiedliche politische Ideologien lassen sich zu einem guten Teil gerade über ihre Position zum Problem der Güterverteilungs- und sozialen Gerechtigkeit definieren. 1-3 Entsprechend viele und miteinander unvereinbare Gerechtigkeitsformeln lassen sich dann auch finden: "Jedem das Seine"; "Jedem nach seiner Leistung"; "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen"; das Talionsprinzip; usw. 1 4 Zudem lassen sich nicht nur in der Moralphilosophie und in den politischen Theorien unterschiedliche Auffassungen zum Problem der Gerechtigkeit feststellen, sondern auch in der Realgeschichte: So eindeutig es uns heute
1 2
Vgl. unten 4. Kap. I. 1. b).
13
Vgl. dazu nur die bereits von Aristoteles, Ethik, S. 159, vorgenommene Zuordnung von unterschiedlichen Maßstäben der Würdigkeit, an denen sich die Verteilung zu orientieren hat, zu verschiedenen politischen Theorien. 1 4
Eine Zusammenstellung derartiger Formeln bei Perebnan, Gerechtigkeit, S. 29 ff. Daß sie z. T . nicht als konkurrierende, sondern als sich ergänzende Maßstäbe aufgefaßt werden sollten, wird unten (7. Kap. I. 3. c) begründet.
48
2. Kap.: Die Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes
erscheint, daß nur ein allgemeines und gleiches Wahlrecht gerecht ist, so umstritten war diese Frage noch im letzten Jahrhundert. 15 Aus diesen Gründen der sachlichen und historischen Relativität der Gerechtigkeitsvorstellungen scheint es also auf der einen Seite unwahrscheinlich zu ein, daß ein unmodifiziertes Gerechtigkeitsgebot einen sinnvollen Verfassungssatz darstellt. Auf der anderen Seite vermag selbst das abstrakte Prinzip der Behandlung aller als Gleicher bestimmte Gerechtigkeitsmaßstäbe wenn auch nicht auszuwählen, so doch auszuschließen, wenn sie offensichtlich ungerecht sind. Einerseits ist es also schwierig zu sagen, welche Merkmale der zu vergleichenden Personen relevant sind; andererseits ist es aber offensichtlich, daß bestimmte Merkmale jedenfalls nicht relevant sind. Diese Argumentationssituation hat sich die Willkürtheorie von Leibholz zunutze gemacht, die das BVerfG weitestgehend übernommen hat. 1 6 Danach verbietet der Gleichheitssatz nur Differenzierungen, für die "ein vernünftiger, aus der Natur der Sache sich ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund sich nicht finden läßt, wenn also für eine am Gerechtigkeitsgedanken orientierte Betrachtungsweise die Regelung als willkürlich bezeichnet werden muß." 1 7 Die Gerechtigkeitsforderung des Gleichheitssatzes wird also via negativa bestimmt; der Willkürbegriff sei "der gegensätzliche Korrelatbegriff von Gerechtigkeit" und bedeute "seine radikale, absolute Verneinung". 18 Diese "Gerechtigkeitsgewähr in der Negation hat ihren Grund logisch in der erschwerten Erkennbarkeit einer allgemeinen Gerechtigkeit." 19 Der Gleichheitssatz erfaßt also nur Fälle eindeutiger Irrelevanz der Merkmale, an die die jeweilige Unterscheidung anknüpft. b) Diese Konsequenz soll sich allerdings nicht allein aus der inhaltlichen Schwierigkeit ergeben, den Gleichheitssatz zu konkretisieren. So wird ganz überwiegend angenommen, daß die Willkürlehre nicht behaupten will, daß der materielle Gleichheits- und der insoweit inhaltsgleiche Gerechtigkeitsbegriff an sich auf ein Willkürverbot reduziert werden können. So soll Art. 3 15 Die historische Entwicklung des Wahlrechts wird z. B. von Leibholz, Gleichheit, S. 26 ff., als Argument für die Relativität der Gleichheitsvorstellungen geltend gemacht. 1 6 Hesse, Gleichheitssatz, S. 186, spricht von einer "unter dem Aspekt ihrer Tragweite wohl einzigartige(n) Rezeption einer wissenschaftlichen Lehrmeinung durch die Rechtsprechung"; dort auch der Hinweis, daß Leibholz als Richter am im folgenden zitierten Südweststaatsurteil, in dem der Willkürbegriff in die Rechtsprechung eingeführt wurde, beteiligt war. 1 7 So die klassische Formulierung in BVerfGE 1, 14, 52. Seitdem war dies lange Zeit die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung, vgl. nur die Nachweise bei Leibholz/Rinck/Hesselberger, GG, Art. 3 Rz. 21. Zur neueren Entwicklung siehe unten III. 2. b). 18
Leibholz,, Gleichheit, S. 72.
1 9
Kirchhof,\
Objektivität, S. 90. Vgl. auch ders., Gleichheitssatz, S. 936 f.
I. Die Willkürrechtsprechung
49
Abs. 1 GG auch unter der Willkürtheorie nach wie vor dem Gesetzgeber die Aufgabe stellen, Gesetze zu schaffen, die "in jeder Hinsicht sachgemäß und gerecht sind". 2 0 Allein als Maßstab richterlicher Kontrolle erleidet er die Beschränkung auf das Willkürverbot. Nicht der Verfassungssatz als solcher, sondern die Kognitionsbefugnis des Gerichts wird eingeschränkt. 21 Daß gerade diese Einschränkung vorgenommen werden muß, wird mit dem Argument begründet, daß der Richter sich an die Stelle des Gesetzgebers setzen würde, wollte er selbst entscheiden, welche Unterschiede jeweils wesentlich sind und wann eine Ungleichbehandlung folglich gerecht i s t . 2 2 Dabei handelt es sich um ein inhaltlich aus dem Gewaltenteilungsprinzip abgeleitetes kompentenzrechtliches Argument, 23 aus dessen - im einzelnen nicht unproblematischen - 2 4 Zusammenspiel mit dem Argument der inhaltlichen Unbestimmtheit des Gleichheitssatzes sich die Willkürtheorie ergibt. Das BVerfG hat dies nie eindeutig formuliert; 25 daß es aber ebenfalls nur von einer Einschränkung seiner Kompetenzen und nicht von einer sachlichen Reduktion des Gerechtigkeitsbegriffs an sich ausgeht, ergibt sich aus seiner ständigen Rechtsprechung, daß von ihm nicht nachzuprüfen sei, ob der Gesetzgeber die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste und gerechteste Lösung gefunden habe. 26 Daraus folgt ohne weiteres, daß auch innerhalb der nichtwillkürlichen Lösungen sich gerechtere und weniger gerechte unterscheiden lassen, der Gerechtigkeitsbegriff also nicht im Willkürbegriff aufgeht. 27 Ein
2 0
Hesse, Grundzüge, Rz. 439.
Grundlegend zur Unterscheidung von Funktions- und Kontrollnorm vgl. Forsthoff, Maßnahme-Gesetze, S. 232 f. Zu Art. 3 Abs. 1 GG vgl. Dürig, in: M/D-GG, Art. 3 Abs. I Rz. 297 ff.; Schneider, In dubio. S. 282; Hesse, aaO.; Robbers, Gleichheitssatz, S. 755; Schoch, Gleichheitssatz. S. 876. A. A. aber Podlech, Gehalt, S. 88 f. mit der Begründung, es sei ein Widerspruch, Art. 3 Abs. 1 GG einen Gehalt beizulegen, gegen den z. T . ohne verfassungsgerichtliche Sanktion verstoßen werden könne. Ähnlich auch bereits RümeUn, Gleichheit, S.49; Wahl, Vorrang, S. 501 f.; und Peine, Systemgerechtigkeit, S. 237: Ein Zurückbleiben der Priifungskompetenz des Gerichts hinter der inhaltlichen Aussage könne vom allgemeinen Rechtsbewußtsein nicht nachvollzogen werden,da das BVerfG dann ein Gesetz als ungerecht, aber mit der Verfassung vereinbar bezeichnen müßte. 2 2
Vgl. Hesse, aaO.
2 3
Leibholz, Gleichheit, S. 77, bezeichnet dies etwas sehr ungenau als "Zweckmäßigkeitserwägung". 2 4
Vgl. unten 3. Kap. IU. 4. b).
2 5
Relativ deutlich jetzt aber BVerfG NJW 1993, S. 1517.
2 6
Vgl. nur BVerfGE 26, 302, 310; 59, 287, 300; 83, 395, 401; 84, 348, 359.
2 7
Auch Leibholz, Gleichheit. S. 76, unterscheidet zwischen "Unrichtigkeit" und "Willkür" und erläutert dies damit, daß es sich "um einen rein quantitativen Begriff, um Grade der Fehlerhaftigkeit" handle. 4 Huster
50
2. Kap.: Die Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes
weiteres Indiz für diese Position ist die vom Gericht vorgenommene Erläuterung des Willkürbegriffs mit dem auf den Aspekt der Erkenntnisschwierigkeit abzielenden Begriff der Evidenz: 2 8 Wenn nur evident unsachliche Differenzierungen beanstandet werden, muß es auch Differenzierungen geben, die zwar nicht evident, aber doch noch unsachlich und insoweit ungerecht sind. Damit wird die Erweiterung des Gleichheitssatzes zum Gebot der Rechtsetzungsgleichheit, die aus funktionellrechtlichen Gründen erfolgte, 29 aus den gleichen Gründen wiederum eingeschränkt: Ebenso wie die ausdehnende Interpretation des Gleichheitssatzes darauf beruhte, daß das BVerfG den Gesetzgeber überhaupt kontrollieren können muß, ergibt sich auch diese Einschränkung wiederum aus Erwägungen der Kompetenzverteilung zwischen Gesetzgeber und Verfassungsgericht. 3. Vom Willkürverbot
zum Begründungsgebot
Es kann zunächst offen bleiben, ob die fiinktionellrechtliche Begründung der Interpretation des Gleichheitssatzes als Willkürverbot überzeugt. 30 Hier soll es um die Gefahr einer spezifischen Verschiebung der sachlichen Problematik des Gleichheitssatzes gehen, die - zumindest tendenziell - aus der Willkürtheorie entsteht. a) Der als Gebot der Rechtsetzungsgleichheit verstandene Gleichheitssatz fordert die materiell gleiche Behandlung unterschiedlicher Personen. Dieses Gerechtigkeitsgebot ist erfüllt, wenn Ungleichbehandlungen nur an solche faktischen Unterschiede anknüpfen, die für die jeweilige Regelung relevant sind und die sich in diesem Sinne aus der "Natur der Sache" oder der "Eigenart" der betroffenen Personen ergeben. Da die Kriterien der gerechten Behandlung jedoch umstritten sind, ist diese Anforderung aus funktionellrechtlichen Gründen darauf reduziert worden, daß die Anknüpfung zumindest nicht willkürlich sein darf. Wichtig ist nun, daß auch bei dieser Reduktion des Gleichheitssatzes auf ein Willkürverbot die sachliche Problemstruktur - zumindest terminologisch beibehalten bleibt: Es geht um einen Vergleich mehrerer Personen, die ungleich behandelt werden, und der Willkürbegriff bezieht sich auf das Verhältnis der faktischen Ungleichheiten dieser Personen zur Ungleichbehandlung. Willkürlich ist die Ungleichbehandlung dann, wenn die unterschiedli-
2 8
Vgl. BVerfGE 12, 326, 333.
2 9
Vgl. ohen 1. Kap. I.
3 0
Allgemein dazu unten 3. Kap. III. 4. b).
I. Die Willkürrechtprechung
51
chen Eigenschaften der Personen keinen Grund für die Ungleichbehandlung abgeben können. b) Das BVerfG hat den Gleichheitssatz in zweierlei Hinsicht über diese Problemstruktur hinaus ausgedehnt. Zunächst hat es das Willkürverbot von der Methode des Vergleichs unterschiedlicher Personen gelöst und zum Verbot willkürlicher Behandlung schlechthin gemacht. 31 Das Motiv dafür dürfte darin liegen, daß das BVerfG sich in den Fällen einer Rechtsanwendung, die "nicht mehr verständlich" 32 ist, eine Art von "Notbremse" vorbehalten w i l l . 3 3 Dies mag in Einzelfallen zu einem vernünftigen Ergebnis führen, 3 4 ist aber dogmatisch unbefriedigend. 35 Das zeigt sich schon daran, daß der Willkürbegriff zur Erläuterung der Rechtsetzungsgleichheit eingeführt worden ist, hier aber allein auf die Rechtsanwendung zielt. Dies führt zu einer Loslösung des Willkürbegriffs von der Dogmatik des Art. 3 Abs. 1 GG, die gegen alle methodischen Regeln der Verfassungsinterpretation verstößt. Sie ist aber auch zur Erreichung befriedigender Ergebnisse nicht notwendig, da das Auffanggrundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG Fälle willkürlicher Rechtsanwendung weitestgehend erfassen dürfte. 36 Es sollte daher daran festgehalten werden, daß Art. 3 Abs. 1 GG nicht eine Willkürkontrolle in jeglicher Hinsicht vornimmt, sondern nur die Willkür gerade beim Vergleichen erfaßt. 37 Wichtiger ist hier eine andere Entwicklung: Die Fallkonstellationen, die das BVerfG bei der Anwendung des Art. 3 Abs. 1 GG ursprünglich vor Augen hatte, zeichneten sich dadurch aus, daß Unterschiede in den Eigenschaften der ungleich behandelten Personen einen Grund für die Ungleichbehandlung darstellen mußten und insoweit wesentlich waren. Die funktionellrechtliche Reduktion der verfassungsgerichtlichen Kompetenz im Sinne der 3 1 Vgl. BVerfGE 42, 64, 74 ff.; 55, 114, 125 f.; 57, 39, 41 f.; 58, 163, 167 f.; 59, 98, 101; 62, 189, 192; 62. 338, 343; 66, 129, 205 ff.; 66, 324, 330; 69, 248, 254 f.; 71, 122, 131 f.; BVerfG NJW 1991, S. 3023; NJW 1992, S. 1675; NJW 1993, S. 996 f.; NJW 1993, S. 1189; NJW 1993. S. 1380, 1381. Sehr ähnlich auch das Schweizer Bundesgericht; vgl. Häfelin/Haller, Bundesstaatsrecht, S. 458 f. 3 2
BVerfGE 70. 93, 97.
3 3
Vgl. Kromer, Willkür, S. 602.
3 4
Wohl vornehmlich aus diesem Grund vorsichtig zustimmend Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 3 Rz. 4. 3 5 Vgl. zur Kritik Dörr, Verfahren, S. 124 IT.; Höfling, Verbot, S. 957 ff.; Kirchberg, Willkürschutz, S. 1988 ff.; Stein, in: AK-GG, Art. 3 Rz. 31 f.; und vor allem daB Sondervotum des Richters Geiger in BVerfGE 42. 64, 79 ff. 3 6
Alexy, Theorie, S. 364 f.
3 7
Vgl. Düng, in: M/D-GG, Art. 3 Abs. I Rz. 305 und 337.
52
2. Kap.: Die Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes
Willkürtheorie führte nun dazu, dal) die Anforderungen auf das Vorliegen eines lediglich nicht-willkürlichen Grundes abgeschwächt wurden. In abkürzender Formulierung verlangte das Gericht bald nur noch einen "sachlichen", "zureichenden" oder "vernünftigen" Grund für die Differenzierung. 38 Regelmäßig wird formuliert, eine bestimmte Ungleichbehandlung sei "nicht willkürlich, da hierfür sachliche Gründe vorliegen. " 3 9 Während der Begriff der Willkür noch einen - zumindest assoziativen - Zusammenhang zur Frage behält, ob die unterschiedlichen Eigenschaften der ungleich behandelten Personen relevant sind, geht dieser Zusammenhang verloren, wenn man nur noch das Vorliegen irgendeines Grundes verlangt: Dann können Ungleichbehandlungen auch durch solche Gründe gerechtfertigt werden, die sich in keiner sinnvollen Weise mehr auf die "Eigenart" der Personen oder auf die "Natur der Sache" zurückführen lassen. Diese Verselbständigung der Terminologie von der "Natur der Sache" oder "Gerechtigkeit" über die "Willkür" zum schlichten "Grund" 4 0 hat mitgeholfen zu verdecken, daß - wie unten zu zeigen ist - Art. 3 Abs. 1 GG strukturell ganz unterschiedliche Fallkonstellationen erfaßt. 41 c) Auf den ersten Blick könnte man einwenden, daß selbst die Kurzformeln des BVerfG noch eine gewisse Eingrenzung des erforderlichen Grundes vornehmen, da dieser immerhin noch "sachlich", "zureichend" oder "vernünftig" sein müssen. Diese Anforderungen betreffen aber allein die inhaltliche Qualität, sie schließen nicht eine bestimmte Art von Gründen aus. Vielmehr dürften sie darauf abzielen, daß der Gesetzgeber auch ungerechtfertigte Ungleichbehandlungen i n der Regel nicht "grundlos" vornehmen wird in dem Sinne, daß er Rechtsfolgen beliebig und ohne Konzept zuordnet. Ungerechtfertigte Ungleichbehandlungen beruhen meistens nicht auf Gedankenlosigkeit, sondern darauf, daß sie an Merkmale anknüpfen, die zu Unrecht mit Eigenschaften für verknüpft gehalten werden, die zumindest den Anspruch auf Relevanz erheben können. 4 2 Auch derjenige, der Menschen einer anderen Hautfarbe diskriminiert, tut dies nicht aus Spaß oder Gleichgültigkeit, sondern weil er glaubt, daß diese Menschen in irgendeinem relevanten Sinne anders - z. B.
3 8
Vgl. z. B. BVerfGE 33, 44, 51; 71, 39, 58; 75, 108, 157. Zu den einzelnen Formulierungsvarianten vgl. die Nachweise bei LeibhoIz/Rinck/HesseIberger, GG, Art. 3 Rz. 27. 3 9
So z. B. BVerwG NJW 1991, S. 1842, 1843.
4 0
In der Literatur so insbesondere Podlech, Gehalt, S. 77 ff. Für Nachweise zur entsprechenden Entwicklung im österreichischen Verfassungsrecht vgl. Berchtold, Gleichheitssatz, S. 337. 4 1
Vgl. unten 4. Kap. I. 1.
4 2
Dazu und zum Folgenden sehr treffend Williams,
Gleichheitsgedanke, S. 370 f.
II. Die dogmatische Struktur des Gleichheitssatzes
53
weniger intelligent, moralisch schlechter o. ä. - sind. Insofern besitzt er einen Grund, nur keinen "sachlichen" oder "vernünftigen" Grund. Die Umformulierung des Willkürverbots zu dem Gebot des "sachlichen" oder "vernünftigen" Grundes vermag zumindest dem Wortlaut nach, sachfremde Gründe auszuschließen. Da dies auch erforderlich ist, hat es wenig Sinn, den Gleichheitssatz noch weitergehend auf ein reines - d. h. inhaltlich überhaupt nicht qualifiziertes - Begründungsgebot zu reduzieren. 43 Wenn der Gesetzgeber an den Gleichheitssatz gebunden sein soll, müssen sich auf irgendeine Weise inhaltliche Maßstäbe finden lassen. Über diese Maßstäbe zu schweigen und lediglich auf den "pragmatischen Gehalt" 4 4 des Gleichheitssatzes zu verweisen, hilft dem Rechtsanwender nicht weiter, da er aufgrund des pragmatischen Gehalts keinen Rechtsfall lösen kann: Er weil] dann zwar, daß ein "zureichender Grund" gefunden werden muß, hat aber keinen Anhaltspunkt, wann ein Grund zureichend i s t . 4 5 Dabei soll es zunächst noch gar nicht interessieren, ob die Zerfaserung der Willkürtheorie unter dem Aspekt bedenklich ist, daß die verfassungsrechtlichen Vorgaben für den Gesetzgeber zu schwach werden; hier soll nur darauf hingewiesen werden, daß sie die Struktur des Gleichheitsproblems entdifferenziert hat und dadurch dazu beigetragen haben dürfte, die Dogmatik des Art. 3 Abs. 1 GG zu verwirren.
II. Die dogmatische Struktur des Gleichheitssatzes i. Der Unterschied zwischen dem allgemeinen Gleichheitssatz und den Freiheitsrechten in der bisherigen Dogmatik Die sachliche und terminologische Entwicklung vom Gerechtigkeitsgebot über den Willkürbegriff bis zur Anforderung des "sachlichen Grundes" betrifft die inhaltliche Seite des allgemeinen Gleichheitssatzes. Hier soll es nun darum gehen, welche Auswirkungen diese Entwicklung auf die formale dogmatische Struktur des Art. 3 Abs. 1 GG gehabt hat. Der Begriff der dogmatischen Struktur soll dabei die Art und Weise bezeichnen, in der eine Ungleichbehandlung an Art. 3 Abs. 1 GG geprüft wird. In der bisherigen Dogmatik werden dazu zahlreiche Prüftingsschemata angeboten, die sich z. T. nicht unerheblich unterscheiden. In dem hier zunächst allein interessierenden 4 3 So aber tendenziell Luhmann, Grundrechte, S. 169; Podlech, Gehalt, S. 77 ff.; ähnlich Battis/Gusy, Einführung, Rz. 554. 4 4 4 5
Podlcch, aaO., S. 86.
Gleiches gilt für den Verweis auf rein prozedurale Gerechtigkeitstheorien an dieser Stelle, vgl. unten 8. Kap. II. 4. b).
54
2. Kap.: Die Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes
Punkt stimmen sie jedoch überein: Es soll ein grundsätzlicher Unterschied bestehen zwischen der Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes und der Dogmatik der Freiheits- als Abwehrrechte. a) Die Freiheitsrechte in ihrer klassischen Funktion als subjektive Abwehrrechte gegen den Staat 46 folgen dogmatisch dem Eingriffs-Schema: 47 Sie gewährleisten grundsätzlich die in ihrem Tatbestand genannten Freiheiten, in die aber eingegriffen werden darf, soweit dies zum Schutz der Freiheitsrechte anderer oder zur Verfolgung kollektiver Ziele erforderlich 48 ist. Diese Struktur läßt sich als Unterscheidung von Schutzbereich oder Grundrechtstatbestand und effektivem Garantiebereich - d. h. dem Bereich, in dem ein Eingriff rechtwidrig und daher eine Verletzung des Grundrechts ist - formulieren; in diesem Sinne sind die Freiheitsrechte lediglich prima facie-Rechte. Für die Fallbearbeitung bedeutet dies, daß zuerst geprüft werden muß, ob ein Eingriff in den Schutzbereich des jeweiligen Grundrechts vorliegt; erst danach stellt sich die Frage, ob dieser Eingriff gerechtfertigt ist. Letzteres richtet sich zunächst nach der Schrankenregelung des Grundrechts. Da aber die Gewährleistung eines Rechts sinnlos wäre, das aufgrund dieser Schrankenregelung schrankenlos eingeschränkt werden könnte, sind schließlich die sog. Schranken-Schranken zu beachten, deren praktisch wichtigste das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist. b) Grundsätzlich anders soll sich nach der herkömmlichen Auffassung die dogmatische Struktur des allgemeinen Gleichheitssatzes darstellen: 49 Dieser soll von vornherein nur gegen unsachliche Differenzierungen schützen, dann aber keine weiteren Einschränkungen hinnehmen, so daß hier die Möglichkeit einer technischen Beschränkung entfallt, es keinen unabhängig von der Sach4 6
Vgl. BVerfGE 7, 198, 204 f.
4 7
Das Folgende orientiert sich vor allem an Lübbe-Wolff, Grundrechte, S. 13 ff., 258 ff.; vgl. auch Isensee, Abwehrrecht, S. 163 ff. Eine ausfuhrliche Darstellung des üblichen Prüfungsschemas z. B. bei Katz, Staatsrecht. Rz. 626 ff. Naher zum Ganzen unten 3. Kap. I. 4 8
Der Begriff der Erforderlichkeit ist hier natürlich im umgangssprachlichen Sinne zu verstehen, d. h. er bezieht sich auch - anders als in seiner technischen Bedeutung innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung - auf die Wertigkeit der konfligierenden Rechtsgüter. 4 9
Vgl. Geddert-Steinacher, Menschenwürde, S. 26; GubeU, in: vM/K-GG, Art. 3 Rz. 14 aE.; Herzog, in: M/D-GG, Alt. 19 Abs. 1 Rz. 16, 23; Huber, Konkurrenzschutz, S. 520; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, vor Alt. 1 Rz. 14; Kirchhof, Gleichheitssatz, S. 965 f.; Lübbe-Wolff, Grundrechte, S. 17 f., 258 ff.; Pieroth/SchUnk, Gnindrechte, Rz. 495; Rohloff, Zusammenwirken, S. 231 ff.; Rüfher, in: BK-GG, Art. 3 Abs. 1 Rz. 96 aE.; Schmidt, Freiheit, S. 70. In der Sache sehr ähnlich auch bereits Fuß, Gleichheitssatz, S. 338 f. Zum Teil kommt diese Auffassung nur mittelbar zum Ausdruck; so z. B. in der These von Bleckmann, Staatsrecht II, S. 324 f., die freiheitsrechtliche Eingriffsdogmatik sei gesichert, während die Struktur des Gleichheitssatzes "noch weitgehend unerforscht" sei.
II. Die dogmatische Struktur des Gleichheitssatzes
55
lichkeit des Differenzierungsgrundes zu definierenden Schutzbereich gibt. Immer dann, wenn ein "sachlicher Grund" für eine Ungleichbehandlung geltend gemacht werden kann, soll bereits keine Ungleichbehandlung im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG vorliegen. Anders ausgedrückt: Das Recht auf Gleichbehandlung trägt seine Schranken in sich selbst und ist daher - anders als die Freiheitsrechte in ihrer klassischen Funktion als Abwehrrechte- kein prima facie-Recht im technischen Sinne. 5 0 Für die Prüfung des Gleichheitssatzes bedeutet dies, dal) lediglich eine Ungleichbehandlung festzustellen und nach einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung - also nach einem "sachlichen Grund" - für diese zu suchen ist. 5 1 2. Die Begründung des dogmatischen Unterschieds So einhellig die herkömmliche Grundrechtsdogmatik von dem soeben dargestellten Unterschied zwischen den Freiheitsrechten und dem allgemeinen Gleichheitssatz ausgeht, so unklar ist die Begründung dafür geblieben, warum nicht auch Art. 3 Abs. 1 GG dem Eingriffs-Schema folgt. Dies läßt sich anhand der Reaktionen auf die Thesen von Michael Kloepfer zeigen, der soweit ersichtlich - als bisher einziger vorgeschlagen hat, auch Art. 3 Abs. 1 GG nach dem Eingriffs-Schema zu behandeln. a) Kloepfer 52 unterscheidet zwischen der Gleichbehandlung wesentlich gleicher bzw. der Ungleichbehandlung wesentlich ungleicher Sachverhalte als Grundrechtstatbestand, der Ungleichbehandlung wesentlich gleicher bzw. der Gleichbehandlung wesentlich ungleicher Sachverhalte als Eingriff, der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit als Schranke und dem Willkürverbot und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip als Schranken-Schranke. Indem er eine Differenzierung von Schutzbereich und effektivem Garantiebereich einführt, die für das Eingriffs-Schema konstitutiv i s t , 5 3 kann Kloepfer insbesondere auf das Herzstück der Eingriffsdogmatik, das Verhältnismäßigkeitsprinzip, zurückgreifen. Dieser letzte Punkt hat auch sofort zu Bedenken geführt: Das Verhältnismäßigkeitsprinzip sei im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes ein zu 5 0
Vgl. Jarass, aaO.: "Bei Gleichheitsgrundrechten entfallt (...) die Unterscheidung von Schutzbereich und Beeinträchtigung." 5 1
Vgl. Pieroth/Schlink, aaO., Rz. 495. Warum die zwei Fragen: 1) Liegt eine Ungleichbehandlung vor? 2) Ist sie gerechtfertigt? sich grundsätzlich von den zwei Fragen des EingriffsSchemas: 1) Liegt ein Eingriff in das Grundrecht vor? 2) Ist dieser Eingriff gerechtfertigt? unterscheiden, wird unten 4. Kap. III. 1. c) begründet. 5 2
Vgl. Kloepfer.
5 3
Vgl. Lübbe-Wolff,
Gleichheit, S. 54 ff.; ders.. Verfassungsproblem, S. 49 ff. aaO., S. 14.
56
2. Kap.: Die Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes
strenger Maßstab, da es die Kompetenzen unangemessen vom Gesetzgeber zum Verfassungsgericht verschiebe; daher sei schon aus fiinktionellrechtlichen Gründen an der Willkürtheorie und der herkömmlichen Dogmatik festzuhalten. 5 4 Allerdings läuft dieses Argument ständig Gefahr, einem Zirkelschluß zu erliegen. Denn daß der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG besonders weit ist, soll j a gerade daran liegen, daß der Gleichheitssatz inhaltlich unbestimmt ist und sich der bewährten Eingriffsdogmatik - insbesondere also der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips - nicht fügt; sonst wäre auch gar nicht zu erklären, warum die gleichen kompetenzrechtlichen Erwägungen nicht auch auf die Freiheitsrechte zutreffen. Das bedeutet aber auch, daß das Argument leerläuft, wenn sich zeigen läßt, daß auf den Gleichheitssatz sehr wohl - zumindest z. T. - ebenso wie auf die Freiheitsrechte das Eingriffs-Schema anwendbar ist. Sinnvoller sind daher die Einwände, die sich direkt gegen das Eingriffsmodell des Gleichheitssatzes wenden. b) Dabei ist eine Unterscheidung von Schutzbereich und Schranken sicherlich nicht bereits dadurch ausgeschlossen, daß Art. 3 Abs. 1 GG keine ausdrückliche Schrankenregelung enthält. 55 Diese ist bei anderen Grundrechten (z. B. Kunst- und Wissenschaftsfreiheit, Art. 5 Abs. 3 GG; Gewissensfreiheit, Art. 4 Abs. 1 GG) ebenso, ohne daß hier entsprechende Konsequenzen gezogen worden wären; vielmehr wird das Schrankenproblem durch das Fehlen von Schrankenregelungen in noch erhöhten Maße aufgeworfen. 56 Auch die Zugehörigkeit des allgemeinen Gleichheitssatzes zur Kategorie des Abwehrrechts, auf die die Anwendung der Eingriffsdogmatik häufig beschränkt wird, ist im Grunde nicht streitig, da regelmäßig mittels der Figur des modalen Abwehrrechts 57 begründet wird, auf welche Weise der Gleichheitssatz abwehrend wirkt: nämlich als Abwehr von "in ungleicher Weise" vorgenommener Staatstätigkeit. 58
5 4 Hesse, Gleichheitssatz, S. 190 Fn. 57 zu Kloepfer, allgemein aaO., S. 191 f. Ähnlich Kirchhof Gleichmaß, S. 144. 5 5 Der Gleichheitssatz wird deshalb z. B. von Kriele, Grundrechte, S. 629, zu den vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten gezählt - allerdings ohne Erörterung der Frage, inwieweit hier die Unterscheidung zwischen Schutzbereich und Schranken überhaupt möglich ist. 5 6
So zu Recht Sachs, Grenzen, S. 23.
5 7
Grundlegend zu dieser Figur Schwabe, Probleme, S. 23.
5 8
Vgl. dazu Sachs, Struktur, S. 412 ff.; ders., Grenzen, S. 25 ff. Zustimmend Müller, Gleichheitssatz, S. 40, und Schoch, Gleichheitssatz, S. 867 f. (letzterer allerdings nur hinsichtlich der Rechtsetzungsgleichheit). Näher dazu unten 7. Kap. I V . 2. d).
II. Die dogmatische Struktur des Gleichheitssatzes
57
Argumente gegen die Übertragung des Eingriffs-Schemas auf den allgemeinen Gleichheitssatz ergeben sich also nicht bereits aus der positiv-rechtlichen Ausgestaltung dieses Grundrechts. Sie müssen daher mit seinem Inhalt zusammenhängen, wie er sich i n der Willkürtheorie darstellt. Sehr deutlich wird dies bereits in einer Äußerung von Fuß: Die Frage nach den Schranken des Gleichheitsrechts brauche nicht aufgeworfen zu werden, weil "das Grundrecht auf Gleichbehandlung nicht das Wesen der (einschränkungsbedürftigen) Freiheitsrechte teilt. (...) Der Verfassungsgeber hat daher in durchaus konsequenter Weise darauf verzichtet, i n den Art. 3 GG und die anderen Gleichheitsbestimmungen einen Gesetzesvorbehalt aufzunehmen. Die Möglichkeit einer gewissen formalen Ungleichbehandlung (zugunsten überwiegender anderer Interessen) ist dem Begriff der Gleichheit bereits sachlich immanent. (...) Muß das Vorliegen von Willkür nämlich immer dann verneint werden, wenn sich überhaupt ein vernünftiger, sachlicher Grund für die überprüfte Norm findet, so wird das gesetzgeberische Motiv des Gemeinschaftsschutzes zumeist einen hinreichenden Grund für eine entsprechend differenzierte Regelung abgeben. " 5 9 3. Der Zusammenhang von dogmatischer Struktur und Inhalt des allgemeinen Gleichheitssatzes Etwas anders formuliert lautet der Einwand also, daß eine Unterscheidung von Schutz- und effektivem Garantiebereich im Rahmen des Gleichheitssatzes sinnlos sei, weil das Verbot willkürlicher Ungleichbehandlung einerseits jeden erdenklichen Grund für eine Ungleichbehandlung in sich aufnimmt, es andererseits aber die Forderung, wesentlich Gleiches gleich zu behandeln, abschließend konkretisiert. I m Ergebnis bedeutet dies für die herkömmliche Dogmatik, daß jede sachliche Erwägung für eine Ungleichbehandlung dazu führt, daß nicht mehr wesentlich Gleiches und folglich auch gar keine Ungleichbehandlung im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG vorliegt. 6 0 Damit besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem inhaltlichen Kriterium des "sachlichen Grundes" und der formalen dogmatischen Struktur des Gleichheitssatzes: Nur wenn man mit der herkömmlichen Dogmatik davon ^ Fuß, Gleichheitssatz, S. 339. In der Sache ebenso die Argumente gegen Kloepfer bei Alexy, Theorie, S. 391 Fn. 91; Liibbe-Wolff, Grundrechte, S. 259 f.; Müller, Gleichheitssatz, S. 39 ff. Nicht auf diese strukturelle Eigenart von Gleichheitsrechten, sondern auf die inhaltliche Offenheit gerade des allgemeinen Gleichheitssatzes bzw. des Willkürbegriffs stellt Sachs, Grenzen, S. 32 ff., ab. Dies führt hier zum gleichen Ergebnis, ist aber sonst nicht unproblematisch; vgl. unten 4. Kap. UI. 3. a). 6 0
So deutlich Podlech, Gehalt, S. 48: "Werden Personen ungleich behandelt, so bedeutet das verfassungsrechtliche Ungleichheit nur, wenn die Differenzierung ohne ausreichenden Grund erfolgt."
58
2. Kap.: Die Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes
ausgeht, dal) alle Arten von Gründen, die zur Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen geltend gemacht werden können, dieser dogmatischen Verarbeitung zugänglich sind, ist es von vornherein plausibel, auf eine Aufspaltung der Gleichheitsprüfung nach dem Eingriffs-Schema zu verzichten. 61 Die Möglichkeit, diese Prämisse überhaupt zu thematisieren, hat sich die herkömmliche Dogmatik dadurch genommen, daß sie die noch begrenzt sachhaltigen Formulierungen von der "Natur der Sache", des "inneren Zusammenhangs" und der "Eigenart" der zu vergleichenden Personen unter dem Einfluß der Willkürtheorie unreflektiert über Bord geworfen und durch das alles einebnende Kriterium des "sachlichen Grundes" ersetzt hat.
III. Die Kritik an der Willkürtheorie 1. Die Labilität der Willkurtheorie a) Die Willkürtheorie versucht, in der Gemengelage aus inhaltlichen Erkenntnissen über den Gleichheitssatz und funktionellrechtlichen Aspekten einen Mittelweg zu finden: den Gesetzgeber einerseits an den Gleichheitssatz zu binden, ihm andererseits aber einen weitgehenden Gestaltungsspielraum zu belassen. Sie erreicht dies, indem sie den Gleichheitssatz, soweit er Maßstab der verfassungsgerichtlichen Gesetzeskontrolle ist, nicht als Gebot der gerechtesten, sondern nur als Verbot einer evident ungerechten Lösung interpretiert. Damit setzt sich die Willkürtheorie Angriffen von zwei Seiten aus. Der einen Seite gilt selbst die Willkürtheorie noch als Gefahr für die Gewaltenteilung insbesondere, soweit das inhaltliche Kriterium der Willkür oder des "sachlichen Grundes" noch einen Bezug zu seinem Ursprung, dem Gedanken der Gerechtigkeit, behält, da damit einem methodisch nicht mehr kontrollierbaren verfassungsrichterlichen Dezisionismus Tür und Tor geöffnet sei. Diese - nicht nur, aber vor allem - in den ersten Jahren nach Entstehung des Grundgesetzes vertretene Ansicht 6 2 steht noch stark unter dem Eindruck der älteren Lehre, daß der Gesetzgeber überhaupt nicht an den Gleichheitssatz gebunden ist, und möchte im Ergebnis wohl auch dorthin zurück. 63
Dieser Zusammenhang klingt auch - in kritischer Absicht - bei v. Arnim, Staatslehre, S. 158, an. 6 2 Vgl. z. B. die bekannte Formulierung bei Ipsen, Gleichheit, S. 137, die "blendende Gleichsetzung von Gleichheit und Willkürverbot" entkleide das Gleichheitsgebot seiner Praktikabilität und wirke im Sinne seiner Denaturierung und Aufblähung. Vgl. außerdem noch Apelt, Gleichheit, S. 357 ff.; Eyermann, Gleichheitssatz. S. 45 fT.; Fuß, Gleichheitssatz, S. 335 ff.: Thoma, Ungleichheit, S. 457 ff.; Schweiger, Geschichte, S. 67 ff. 6 3 Vgl. ipsen. aaü., S. 156 f.: Da Gleichheit auch im Sinne der Willkürtheorie keine justitiable Kategorie darstelle, äußere Art. 3 Abs. 1 GG - trotz Art. 1 Abs. 3 GG - keine Bindung des
III. Die Kritik an der Willkürtheorie
59
Auf der anderen Seite wird beklagt, daß der Willkürbegriff als Kontrollmaßstab zu schwach sei und ihn insbesondere in gesellschaftspolitischer Hinsicht eine gewisse Richtungslosigkeit auszeichne. 64 Diese - vor allem in den 60er und 70er Jahren entwickelte - Auffassung interpretiert den Gleichheitssatz als Gebot der Herstellung von Chancengleichheit65 oder gar von faktischer oder Ergebnisgleichheit 66 und gibt ihm dadurch deutlichere inhaltliche Konturen. b) Die Willkürtheorie steht daher nicht nur im Spannungsfeld der Auseinandersetzung um die richtige Kompetenzverteilung zwischen Gesetzgeber und Verfassungsgericht; sie gerät auch zwischen die politischen Fronten, die ihre politischen Vorstellungen mit Hilfe des Gleichheitssatzes verfassungsrechtlich verankern wollen. Dabei dürfte eine klare Zuordnung von formal-restiktiver Interpretation zu konservativen und inhaltlich-extensiver Interpretation des Gleichheitssatzes zu progressiven politischen Positionen schon allein deshalb nicht möglich sein, weil die Wahl der jeweiligen Methode von einem Werturteil über den politischen status quo abhängt; dieser ist aber veränderlich. 67 Diese Erkenntnis gilt natürlich nicht nur für den Gleichheitssatz, sondern für die gesamte Verfassungsinterpretation. Die Willkürtheorie ist aber in besonderer Weise hilflos in der Zwickmühle, in die sie die Kritik aus zwei ganz unterschiedlichen Richtungen bringt. Das liegt nicht nur daran, daß beide Seiten der Kritik durchaus berechtigte Anliegen haben, so daß hier ein echter Zielkonflikt besteht; es ergibt sich auch aus einer inhaltlichen Besonderheit der Willkürtheorie: So einleuchtend die Idee ist, mit Hilfe des Willkürbegriffs
Gesetzgebers. Forsthoff\ Staat, S. 136, stimmt Anschütz darin zu, daß eine Bindung des Gesetzgebers an den Gleichheitssatz abzulehnen sei, da diese aufgrund dessen Unbestimmtheit zur Rechtsunsichheit führe; im übrigen stehen bei Forsthoff eindeutig Gewaltenteilungsargumente im Vordergund (vgl. aaO., S. 134 ff.). Kritisch dazu Dürig, in: M/D-GG, Art. 3 Abs. I Rz. 300. 6 4 Inzwischen ebenso bekannt wie die erwähnte These IpBens ist die - inhaltlich genau entgegengesetzte - Formulierung von Zacher, Gleichheit, S. 357, vom "Minimalismus und QuietiBmus der GleichheitskontrolleN durch das Bundesverfassungsgericht. Ähnlich auch Häberle, Grundrechte, S. 139 LS 42, der von einer "Verharmlosung des Gleichheitssatzes zum Willküiverbot" spricht, und Suhr, Freiheit, S. 7 und passim. 6 5
Vgl. dazu insbesondere Schotter, Interpretation.
6 6
Vgl. Pereis, Gleichheitssatz, S. 79 ff.
6 7
Allgemein zu diesen Zusammenhängen vgl. Kriele, Gestaltungsspielraum, S. 104; Grimm, Reformalisierung, S. 706 f.; ders. y Methode, S. 347 ff. (dort insbesondere S. 366 ff. zur Interpretation des Gleichheitssatzes). Daher verbietet es sich auch, aus dem - vermeintlich oder tatsächlich - bürgerlich-konservativen Hintergrund der Aufladung des Gleichheitssatzes unter der WRV zu schließen, daß jede Position, die für eine Verstärkung der Gleichheitskontrolle plädiert, aus diesem politischen Lager stammt (vgl. die Darstellung der damaligen Diskussion bei Hill, Gleichheit, S. 105 ff.). Zur Differenzierung in diesem Punkt mahnt auch Heun, Positivismus, S. 390 (f.
60
2. Kap.: Die Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes
nur die eindeutig ("evident") ungerechten Gesetze auszuscheiden und dadurch den Streit um die gerechteste Lösung an die Politik zurückzugeben, so schwierig ist aber andererseits die Grenze zwischen "bloß ungerechten" und "schon willkürlichen" Gesetzen zu ziehen. 68 Eben dieses "Ausfransen" des Willkürbegriffs zu den Rändern hin eröffnet der im konkreten Fall unterlegenen Partei die Möglichkeit einer - zumindest prima facie - plausiblen Kritik. In diesem Sinne befindet sich die Willkürtheorie immer auf einer Gratwanderung zwischen gesetzgeberischer Freiheit einerseits und verfassungsgerichtlicher Gerechtigkeitsgarantie andererseits, die sich dogmatisch in der Schwierigkeit ausdrückt, eine Unterscheidung zwischen den Gehalten der Rechtsetzungsgleichheit "an sich" und als Kontrollmaßstab zu treffen. Fraglich ist aber, ob diese Labilität eine Grundsatzkritik an der Willkürtheorie rechtfertigt. Nun mag man der Unterscheidung zwischen dem Funktions- und dem Kontrollgehalt einer Norm kritisch gegenüberstehen, weil dies dazu führt, daß die Verfassung mit Gehalten aufgefüllt wird, die verfassungsgerichtlich nicht kontrollierbar sind. Dieser Kunstgriff ist im Grundrechtsbereich schon wegen der Bindungsklausel des Art. 1 Abs. 3 GG problematisch. 6 9 Darauf kommt es hier aber auch gar nicht an. Denn unumstritten dürfte sein, daß zumindest für den Gleichheitssatz als Kontrollnorm keine der denkbaren Radikalpositionen vertreten werden kann: Das BVerfG kann weder die "gerechteste" Lösung einfordern, weil es damit seine Gerechtigkeitsvorstellungen an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzen würde, ohne entsprechende verfassungsrechtliche Maßstäbe zu besitzen; es kann aber auch den Gesetzgeber nicht völlig aus seiner Bindung an den Gleichheitssatz entlassen. Daraus folgt automatisch, daß etwas der Willkürtheorie zumindest sehr Ahnliches - d. h. eine Bindung des Gesetzgebers in schwacher oder zumindest abgestuft intensiver Form - bei der Interpretation des Gleichheitssatzes eine Rolle spielen muß. Die Frage, ob Art. 3 Ab. 1 GG darüber hinaus "als Funktionsnorm" noch weitere Gehalte zukommen, ist demgegenüber müßig und wird im folgenden nicht weiter behandelt. c) Dies besagt aber zweierlei nicht: Zum einen ist nicht gesagt, daß die Willkürtheorie diese Unterscheidung richtig vorgenommen hat, der "goldenene Mittelweg" zwischen den Radikalpositionen also bereits gefunden ist. Da sich - zumindest in der Terminologie - ein schwächeres Kriterium als das des "sachlichen Grundes" kaum denken läßt, hat sich die Kritik der Willkürtheorie darauf konzentriert, differenziertere und gemäßigt schärfere Prüfungsmaßstäbe zu entwickeln. Zum anderen ist nicht gesagt, daß die Willkür-
6 8
Kirchhof,
6 9
Vgl. Böckenförde,
Objektivität, S. 106. Grundrechte, S. 193.
III. Die Kritik an der Willkürtheorie
61
theorie den gesamten Bereich der Fragen abdeckt, die sich im Zusammenhang mit dem Gleichheitssatz stellen, daß also alle "sachlichen Gründe" für Ungleichbehandlungen der gleichen dogmatischen Verarbeitung folgen. Die Kritik setzt hier an Fällen an, für die sich die Willkürtheorie - obwohl grundsätzlich angemessen - als ungeeignet, weil zu schwach erwiesen hat. Z. T. wird deshalb für eine grundsätzliche, z. T. auch nur für eine bereichsspezifische Verschärfung der Willkürtheorie plädiert. 2. Der dogmatische Neuansatz: Einhau des Verhältnismäßigkeitsprinzips a) Es ist deutlich, daß die neuere Kritik an der Willkürtheorie eine mehr oder weniger weitgehende Verschärfung des Gleichheitssatzes als Kontrollmaßstab anstrebt. Es wird zunehmend als unbefriedigend empfunden, daß sich unter dem als Willkürverbot verstandenen Gleichheitssatz "gegenüber dem Gesetzgeber kaum jemals hätte wirklich feststellen lassen können, seine Maßnahmen seien unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt vertretbar gewesen. " 7 0 Überlegt man nun, welche dogmatische Figur eine sinnvolle Verstärkung des Gleichheitssatzes leisten könnte, so liegt es auf den ersten Bück nahe, den Blick auf die "andere Art" von Grundrechten, die Freiheitsrechte zu richten, da dort - zumindest in der Intensität - vergleichbare Probleme nicht auftreten. Der praktisch wichtigste Maßstab für die Beurteilung von Gesetzen, die in Freiheitsrechte eingreifen, ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Auch dieses steht zwar im Ruf, ein "Weichmacher der Verfassungsmaßstäbe" 7* zu sein, gewährleistet aber nach ganz überwiegender Meinung eine kontrollierbare und vorhersehbare Grundrechtsinterpretation. 72 Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, daß man sich von der Anwendung des Prinzips auf bisher von ihm noch nicht erschlossene Bereiche - insbesondere der staatlichen Leistungen - einen Rationalitätsgewinn verspricht. 73 Es scheint sich daher anzubieten, auch den Gleichheitssatz durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip dogmatisch zu disziplinieren. Diesen Schritt hat auch tatsächlich ein so großer Teil der Exegeten des Gleichheitssatzes getan, daß man wohl bereits von einer zwar noch nicht
7 0 Zuck, Willkür. S. 724. Daß ein Willkürverbot oder Begründungsgebot darauf hinauslauft, hatte schon TriepeU Diskussionsbeitrag, in: W D S t R L 3 (1927), S. 52, geahnt: "In der Sache kommt es immer darauf an, ob man für eine (...) Differenzierung einen vernünftigen Grund angeben kann. Nur in sehr seltenen Fällen wird es möglich sein, die Differenzierung als völlig grundlos zu erklären. Wir haben es in der Gesetzgebung doch nicht mit Toren, sondern mit vernünftig abwägenden Leuten zu tun." 7 1
Ossenbühl, Diskussionsbeitrag, in: W D S t R L 39 (1981), S. 189. Vgl. jetzt auch dcrs., Maßhalten, S. 18. 7 2
Vgl. z. B. Marlens, Grundrechte, S. 18.
7 3
Vgl. nur Haverkate,
Rechtsfragen, S. 11 ff.; Hsu, Schranken, S. 77 ff.
62
2. Kap.: Die Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes
gefestigten, aber schon überwiegenden Ansicht sprechen kann, daß das Verhältnismäßigkeitsprinzip im Rahmen der Gleichheitsprüfting zur Anwendung kommt. b) Ein wichtiger Schritt in diese Richtung war die Entwicklung der "neuen Formel" des BVerfG, nach der eine ungleiche Behandlung mehrerer Gruppen von Normadressaten mit Art. 3 Abs. 1 GG nur vereinbar ist, wenn zwischen ihnen "Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen können." 7 4 Dies stellt eine Verschärfung gegenüber dem Willkürverbot bzw. dem Gebot des "sachlichen Grundes" und damit eine Einschränkung der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit dar. 7 5 Im einzelnen ist aber vieles streitig: ob diese Änderung sich bereits endgültig durchgesetzt hat; 7 6 ob der Zweite Senat dieser vom Ersten Senat entwickelten Rechtsprechung folgt oder ob insoweit Differenzen bestehen; 77 ob die Anwendung der "neuen Formel" auf Fälle beschränkt ist, in denen es um die Ungleichbehandlung verschiedener Personengruppen und nicht nur verschiedener Sachverhalte geht, 7 8 oder ob sie die herkömmlichen Maßstäbe generell ersetzen s o l l . 7 9 Im hiesigen Zusammenhang kommt es aber nur dar7 4 Zuerst in BVerfGE 55, 72. 88, 91, zuletzt in BVerfGE 82, 126, 146; 83, 395, 401; 83, 238, 338; 84, 348, 359; 85, 191, 210; 85 , 238, 244; 85, 360, 383; BVerfG NJW 1993, S. 1517; NJW 1993, S. 1636. Weitere Nachweise bei Maaß, Rechtsprechung, S. 14 Fn. 8. 7 5
BVerfGE 74, 9, 30 (abw. Meinung Katzenstein); Bethge, Zulassungsberufung, S. 2397 mwN.; Hesse, Grundzüge, Rz. 439; ders., Gleichheitssatz, S. 191. 7 6 So Maaß, Anmerkung, S. 176; ders./Müller-Christmann, Vergleichsgruppen, S. 67 f.; Robbers, Besprechung, S. 63. A. A. Schock, Gleichheitssatz, S. 876. In BVerfG NJW 1993, S. 1636, bezeichnet sie die 3. Kammer des Ersten Senats jetzt als "ständige Rechtsprechung". 7 7
Vgl. dazu Hesse, Grundzüge, Rz. 439 mit Fn. 88; Schock, Gleichheitssatz, S. 875 f.; Stettner, Gleichheitssatz, S. 550; Böckenförde, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 47 (1989), S. 96 f. 7 8 So wohl jetzt BVerfGE 83, 1, 23; BVerfG NJW 1993, S. 1636. Vgl. auch Jarass, in: JaraB8/Pieroth, GG, Art. 3 Rz. 18, der dies damit zu erläutern versucht, daß es um Unterschiede gehe, die die Benachteiligten in ihrer Person nicht oder nur schwer erfüllen können. Für eine entsprechende Beschränkung der "neuen Formel" ebenfalls Bethge, Zulassungsberufung, S. 2397; Hesse, Gleichheitssatz, S. 188 f.; ders., Grundzüge, Rz. 439; Kirchhof, Objektivität, S. 105 ff.; ders., Vereinheitlichung, S. 45 ff.; ders., Gleichheitssatz, S. 934; Vogel, Verlust, S. 139. BVerfG NJW 1993, S. 1517, will eine strengere Kontrolle, die mit der "neuen Formel" identifiziert wird, bei unmittelbaren und mittelbaren Ungleichbehandlungen von Personengruppen und dann vornehmen, wenn sich eine Differenzierung nachteilig auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheit auswirken kann. 7 9
Dafür spricht sich z. B. Müller, Gleichheitssatz, S. 44 f., aus. Auch Schock, Gleichheitssatz, S. 875 spricht von einem "entscheidenden Durchbruch zur partiellen Verabschiedung der bloßen "Willkür"-Rechtsprechung". Ähnlich Maaß, Anmerkung, S. 176; Schulin, Sozialrecht, Rz. 17; Vogel, Diskussionsbeitrag, in: W D S t R L 47 (1989), S. 64; Wendt, Gleichheitssatz, S. 781.
III. Die Kritik an der Willkürtheorie
63
auf an, daß die "neue Formel" als "die Ausdehnung verfassungsgerichtlicher Kontrolle auf die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes" 80 interpretiert w i r d . 8 1 c) Eine ausdrückliche Bezugnahme auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit innerhalb der Prüfung von Gleichheitsrechten Findet sich auch in der Rechtsprechung des EGMR. So hat der EGMR festgestellt, daß eine Ungleichbehandlung nur dann gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 14 MRK verstößt, "wenn die Unterscheidung keinen objektiven und angemessenen Rechtfertigungsgrund h a t . " 8 2 Dies sei dann der Fall, "wenn eindeutig feststeht, daß zwischen den eingesetzten Mitteln und dem angestrebten Ziel kein angemessenes Verhältnis besteht. " 8 3 Dieses Kriterium wird explizit als Prüfung der Verhältnismäßigkeit bezeichnet. 84 Die Kommentatoren dieser Rechtsprechung begreifen dies ebenfalls als eine Integration des Verhältnismäßigkeitsprinzips in die Gleichheitsprüfung, ohne dieses Verfahren zu problematisieren. 85 Eine ähnliche Interpretation des - als Grundprinzip des Gemeinschaftsrechts anerkannten - 8 6 allgemeinen Gleichheitssatzes nimmt der EuGH nach Ansicht 8 0 BVerfGE 74, 9, 30 (abw. Meinung Katzenstein). BVerfG NJW 1993, S. 1517, entnimmt der "neuen Former eine "strenge Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse". 8 1 So Bethge, Zulassungsberufung, S. 2397; Bieback, Gleichbehandlung, S. 225; Frieges, Gleichheitssatz, S. 35 f.; Gubelt, in: vM/K-GG, Art. 3 Rz. 14; Hesse, Gleichheitssatz, S. 189; ders., Rechtsprechung, S. 122 und passim; Hill, Gewährleistungen, S. 1317; Höfling, Verfassungsfragen, S. 248 mit Fn. 78; Huber, Konkurrenzschutz, S. 527; Hufen, Gesetzesgestaltung, S. 160; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 3 Rz. 15; Katzenstein, Sozialrecht, S. 180; Krebs, Ausbildungsstiftung, S. 749 mit Fn. 41; Richter/Schuppen, Verfassungsrecht, S. 117; Robbers, Gleichheitssatz, S. 751 f.; Schmidt, Wirtschaftsrecht, S. 168 mit Fn. 577; Zuck, Willkür, S. 724 mit Fn. 26. Vgl. auch Schneider. Gleichstellung, S. 32; und die Diskussionsbeiträge von Badura und Schuppen, in: VVDStRL 47 (1989), S. 94, 98. Vorsichtiger Bender, Befugnis, S. 400, und Hesse, Grundzüge, Rz. 439 mit Fn. 88: "Elemente" der Verhältnismäßigkeit. 8 2
EGMR EuGRZ 1975, S. 298, 301. Art. 14 M R K verbietet daher - trotz seines strengen Wortlauts - nicht jede, sondern nur eine unbegründete Ungleichbehandlung; vgl. EGMR, aaO. Insoweit entspricht er inhaltlich der Anforderung des Art. 3 Abs. 1 GG, Gleiches gleich zu behandeln; vgl. Oppennann, Europarecht, Rz. 79. 8 3 EGMR EuGRZ 1975, S. 298, 301. Vgl. auch EGMR EuGRZ 1979, S. 454, 456; NJW 1991, S. 1404. 8 4 EGMR EuGRZ 1975, S. 298, 306; S. 562, 568. Ebenso verfahrt die Europäische Kommission für Menschenrechte bei der Prüfung von Art. 14 MRK; vgl. Ress, Grundsatz, S. 43.
Vgl. Ganshof van der Meersch, Fragen, S. 40; Matscher, Betrachtungen, S. 631 und 637 f.; Peuken, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 14 Rz. 22 ff.; Ress, aaO., S. 44 ff. (S. 46: "Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (...) als unabdingbares Element im Rahmen der Anwendung des Diskriminierungsverbots"); jew. mwN. Kritik dagegen bei Herdegen, Relation, S. 692 ff. 8 6
Vgl. nur Oppermann, Europarecht, Rz. 412 ff.
64
2. Kap.: Die Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes
einiger Autoren v o r . 8 7 Auch dazu verhält man sich weitgehend affirmativ und verweist auf die entsprechende Rechtsprechung des E G M R . 8 8 Eine genauere Betrachtung des Verhältnisses von Gleichheits- und Verhältnismäßigkeitsprüfung unterbleibt; 89 stattdessen behilft man sich mit allgemeinen Formeln wie z. B., daß der "Grundsatz der verteilenden Gerechtigkeit" eine "Klammer von Willkür- und Übermaßverbot" 90 darstellt oder daß "Willkürverbot (...) und Verhältnismäßigkeitsprinzip hinsichtlich der Proportionalität (...) eine Einheit" 9 1 bilden. d) Auch in der neueren Literatur wird vielfach ausdrücklich die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips bei der Gleichheitsprüfung gefordert. So verlangen Pieroth und Schlink, daß nicht nur ein sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung vorliegen müsse, sondern daß die Ungleichbehandlung einen legitimen Zweck verfolgen, zur Erreichung dieses Zwecks geeignet und notwendig sein und auch sonst in angemessenem Verhältnis zum Wert des Zwecks stehen müsse; die Parallele zum Verhältnismäßigkeitsprinzip wird ausdrücklich gezogen. 92 Ebenso w i l l Wendt eine "mehrstufige Gleichheitsprüfung" 9 3 vornehmen, in der die Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit der Differenzierung geprüft werden soll, wobei die Angemessenheit mit der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne gleichgesetzt w i r d . 9 4 Generell wird verlangt, das Verhältnismäßigkeitsprinzip auch für die Gleichheitsdogmatik fruchtbar zu machen, da es grundlegende Leitregel staatlichen Handelns sei und umfassende Geltung beanspruchen könne; daher könne ihm der Bereich des Gleichheitssatzes nicht verschlossen bleiben. 95 Auch Zippelius verlangt, die Ungleichbehandlung müsse einem legitimen Regelungszweck 8 7
Vgl. Mohn, Gleichheitssatz, S. 112 ff.; Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 205 ff.
8 8
Peinice, aaO., S. 206 f.
OQ 9 0 9 1
Ausnahme ist insoweit wiederum Herdegen, aaO., S. 683 ff. Pemice, aaO., S. 208. Mohn, aaO., S. 115.
9 2
Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rz. 506; vgl. ferner Riifiier, in: BK-GG, Art. 3 Abs. 1 Rz. 97, und - wenn auch auf bestimmte Fallgruppen begrenzt - Hesse, Rechtsprechung, S. 131. Sehr ähnlich auch v. Arnim, Staatslehre, S. 158, der allerdings den Begriff der Ungleichbehandlung durch den des Gerechtigkeitsverstoßes ersetzt; warum dies i. E. richtig ist, wird unten 4. Kap. III. 4. b) erläutert. 9 3
Wendt, Gleichheitssatz, S. 781. Wohl ähnlich Hufen, Gesetzesgestaltung, S. 160.
9 4
Wendt, aaO., S. 784 ff.
9 5 Wendt, aaO., S. 785. Alexy, Theorie, S. 390 f. Fn. 91, meint, sein Ansatz, der grundsätzlich an die Willkürrechtsprechung anschließt, lasse sich in die Verhältnismäßigkeitsterminologie übersetzen. Für eine Verhältnismäßigkeitsprüfung wohl auch Hsu, Schranken, S. 66 mit Fn. 111; Sass, Entschädigungserfordernis, S. 132.
III. Die Kritik an der Willkütheorie
65
dienen und "hierbei den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbotes genügen, und das heißt: durch den Normzweck aufgewogen werden und ein geeignetes und erforderliches Mittel sein, um diesen zu erreichen." 9 6 Ferner ist ein Prüfungsschema für Art. 3 Abs. 1 GG vorgeschlagen worden, in dem zwischen den Kriterien und den Zielen einer Differenzierung unterschieden wird; dabei wird neben der Zulässigkeit der Kriterien und der Ziele als solcher als dritter Prüfungspunkt genannt, daß Kriterien und Ziele in einem "angemessenen Verhältnis" zueinander stehen müssen. 97 Auch dies wird gelegentlich als Verhältnismäßigkeitsprüfung begriffen. 98 3. Das Problem: Verhältnismäßigkeit
ohne Eingriff?
Man steht nun vor der etwas kuriosen Situation, daß z. T. gleichzeitig die Anwendbarkeit des Eingriffs-Schemas auf Art. 3 Abs. 1 GG bestritten wird, das Verhältnismäßigkeitsprinzip als Herzstück der Eingriffsdogmatik aber bei der Gleichheitsprüfling herangezogen werden soll. 9 9 Wenn man unterstellt, daß die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips im Sinne der Eingriffsdogmatik einen Eingriff voraussetzt, so besteht folgendes Dilemma: Entweder ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip bei der Gleichheitsprüfung anwendbar; dann muß aber die These aufgegeben werden, daß Art. 3 Abs. 1 GG sich der Eingriffsdogmatik nicht fügt. Oder man behält letztere These bei; dann ist aber ganz unklar, was die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bedeuten soll. Im zweiten Horn des Dilemmas bestände auch noch die Möglichkeit, unter Verhältnismäßigkeit hier etwas ganz anderes als in der Eingriffsdogmatik zu verstehen; dann sollte man aber zur Vermeidung von Mißverständnissen diesen Ausdruck durch einen anderen ersetzen.
9 6 Zippelius, Gleichheitssatz, S. 23; ders., Rechtsphilosophie, S. 111; ders., Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 47 (1989), S. 68; Matmz/Sppelius, Staatsrecht, S. 215. Sehr deutlich auch Höfling, Verfassungsfragen, S. 248 f. 9 7 Dieses Prüfungsschema vertreten insbesondere Arndt, Grundzüge, S. 69 f.; ders./Rudolf, Recht, S. 150; Gubelt, in: vM-GG, Alt. 3 Rz. 12 ff.; ders., in: vM/K-GG, Art. 3 Rz. 18 ff.; Gusy, Gleichheitsschutz, S. 34; ders., Gleichheitssatz, S. 2507 f.; Kreussler, Gleichheitssatz, S. 36 f.; Richter/Schuppert, Verfassungsrecht, S. 107 ff.; Schock, Gleichheitssatz, S. 874; Stein, Staatsrecht, S. 243 ff.; ders., in: AK-GG, Art. 3 Rz. 48 ff. Ähnlich Gallwas, Grundrechte, S. 39 ff.; Katz, Staatsrecht, Rz. 712. 9 8 So z. B. bei Arndt/Rudolf aaO.; Gubelt, in: vM/K-GG, Art. 3 Rz. 29; Kreussler, aaO., S. 37, 88 ff.; Robbers, Gleichheitssatz, S. 750 f. Wohl auch Hesse, Gleichheitssatz, S. 189 mit Fn. 57; Katz, aaO.: Schoch, Gleichheitssatz, S. 874. Auch Galhvas, aaO., S. 44, spricht in der Gleichheitsprüfung von Erforderlichkeit und UnVerhältnismäßigkeit. 9 9
5 Huster
Vgl. Pieroth/Schlink,
Grundrechte, Rz. 495 aE. einerseits, Rz. 506 andererseits.
66
2. Kap.: Die Dogmatik des allgemeinen Gleichheitatzes
Die Darstellung des Dilemmas ist bis hierhin in dem Sinne formal, daß auf den äußerlichen Zusammenhang von Eingriffsdogmatik und Verhältnismäßigkeitsprüfung abgehoben und dieser unterstellt wird. Es ist daher im folgenden zu untersuchen, welche Rolle das Verhältnismäßigkeitsprinzip in der Eingriffsdogmatik spielt und inwieweit es von dem Eingriffsbegriff abhängt (Kap. 3). Erst dann kann geklärt werden, ob es in die Gleichheitsprüfiing integriert werden kann (Kap. 4).
3. Kapitel
Das Verhältnismäßigkeitsprinzip Die neuere Entwicklung in der Interpretation des allgemeinen Gleichheitssatzes versucht, das Willkürverhot bzw. das Erfordernis des "sachlichen Grundes" durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu ersetzen, um so der Gleichheitsprüfung deutlichere Konturen zu geben. Um beurteilen zu können, ob und inwieweit das Verhältnismäßigkeitsprinzip innerhalb der Gleichheitsprüfung zur Anwendung kommen kann, muß zunächst geklärt werden, welchen Gehalt es in seiner traditionellen Funktion bei der Überprüfung von Freiheitseinschränkungen hat. Im folgenden soll daher eine abstrakte Rekonstruktion der Problemlage entwickelt werden, auf die das Prinzip der Verhältnismäßigkeit in der Dogmatik der Freiheitsrechte reagiert.
I. Die liberalen Abwehrrechte: Freiheit und Freiheitsbeschränkung 1. Die Freiheitsrechte
als liberale Abwehrrechte
Die Grundrechte sind in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat; sie dienen dazu, die Freiheitssphäre des einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern. 1 Dieser negative oder status libertatis 2 des Bürgers begründet einen Unterlassungsanspruch gegen den Staat. a) Es reicht zunächst aus, diese These in zweierlei Hinsicht in einem minimalistischen Sinne zu verstehen: Zum einen soll damit nicht gesagt sein, daß dies die grundlegende, 3 wichtigste oder einzige 4 Grundrechtsfunktion ist; und 1
BVerfGE 7, 198, 204.
2
Dies ist die herkömmliche, von Jellinek , System, S. 94 ff., eingeführte Terminologie.
3
Dies wird in historischer Hinsicht mit dem Argument angezweifelt, daß die Grundrechte zunächst primär Handlungsaufträge an den Gesetzgeber waren, Standesschranken und Privilegien abzubauen; vgl. Grimm , Rückkehr, S. 224 fT.; Lübhe-Wolff, Grundrechte, S. 35 ff. Der grundlegende Status der Abwehrfunktion in sachlicher Hinsicht wird damit aber eher bestätigt, da diese objektivrechtliche Funktion als Durchgangsstadium zur Entfaltung des negatorischen Gehalts gemeint war; vgl. nochmals Grimm , aaO., S. 227. 4
So aber z. B. Klein , Grundrechte, S. 64 f.
68
3. Kap.: Das Verhältnismäigkeitsprinzip
tatsächlich werden den Grundrechten auch zahlreiche weitere "Bedeutungsschichten" zugeschrieben. 5 Es ist allerdings vorausgesetzt, daß diese liberale oder bürgerlich-rechtsstaatliche 6 Auffassung der Grundrechte nicht vollständig durch andere Ansätze ersetzt werden kann. Diese A n n a h m e ist relativ unproblematisch, da auch die Protagonisten weitergehender Grundrechtsgehalte dies nicht wollen 7 und ein gewisser Konsens besteht, daß eine Grundrechtstheorie, die auf den liberalen Gehalt der Grundrechte gänzlich verzichtet, mit dem Grundgesetz nicht mehr vereinbar wäre. 8 Zum anderen soll aber nicht nur der Status, sondern auch der Inhalt dieser liberalen Grundrechtstheorie zunächst restriktiv gefaßt werden. So wird nicht vorausgesetzt, daß die liberalen Freiheitsrechte naturrechtlich begründet und in diesem Sinne vorstaatlich sind; 9 entscheidend ist allein, daß sie verfassungsrechtlich gewährleistet sind, worauf auch immer diese Gewährleistung gegründet sein mag. 1 0 Daß ferner in vielen Bereichen die Freiheit zunehmend von rechtlicher Ausgestaltung durch den Staat abhängig ist und die Grundrechte Direktiven für diese Ausgestaltung darstellen mögen, ändert nichts daran, daß, wenn diese Ausgestaltung geschehen ist, Rechte des Einzelnen entstehen, die grundrechtlich geschützt sind. 1 1 Auch ist nicht gesagt, daß die durch die Grundrechte geschützte Freiheit die natürliche Willkür(freiheit) des
Zu diesen vgl. nur die Zusammenstellungen bei Bleckmann, Staatsrecht II, S. 197 ff.; Hesse, Bestand, S. 92 ff. Weitere Nachweise zur These von der "Multifunktionalität", "Mehrdimensionalität" oder "Mehrschichtigkeit" der Grundrechte bei Stern, Staatsrecht I I I / l , S. 204. 6
Böckenförde,
Grundrechtstheorie, S. 119.
7
Dazu, daß der liberale Gnindrechtsgehalt durch andere Funktionen nicht verdrängt wird, vgl. mit Böckenförde, Grundrechte, S. 175; Grimm, Grundrechte, S. 56. o Dazu und allgemein zum Problem der verfassungsgemäßen Gnindrechtstheorie vgl. Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 140 ff.; Brugger, Elemente, S. 633 ff. 9 Dies legt Art. 1 Abs. 2 GG zwar durchaus nahe (vgl. nur Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 1 Rz. 12a; Stern, aaO., S. 37); letztlich kann aber die Frage, ob und iit welchem Sinne es natürliche Rechte gibt, kaum von der Verfassung abschließend beantwortet werden - was nicht heißt, daß sie sich nicht eine bestimmte Sichtweise zu eigen machen kann. ^ Vgl. Isensee, Abwehrrecht, S. 169: ""Vorstaatlich" bedeutet hier - unphilosophisch und unemphatisch - die tatbestandlich umschriebene Rechtsposition vor der Veränderung durch den aktuellen staatlichen Eingriff." 1 1 Vgl. Schlink, Freiheit, S. 466 f. Daß derartige "konstituierte Freiheit" für das Verständnis der Grundrechte als Abwehrrechte keine besonderen Schwierigkeiten mit sich bringt, beweist schon das Recht auf Eigentum: Will man sich nicht der Lockeschen Theorie anschließen, daß die Aneignung von Eigentum bereits im Naturzustand möglich sei (vgl. Locke, Abhandlungen, S. 215 ff.), so ist Eigentum gewiß staatlich konstituiert, weil von der Existenz einer Rechtsordnung abhängig und in diesem Sinne ein "Institut"; trotzdem ändert dies nichta an dem abwehrrechtlichen Charakter des Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG. Vgl. dazu Isensee, aaO., S. 169; LübbeWolff, Grundrechte, S. 80 f.; und - in anderem Zusammenhang - Conans, Verstöße, S. 995.
I. Die liberalen Abwehrrechte
69
Menschen als Naturwesen und nicht bereits eine naturrechtlich präformierte Freiheit ist, aus der eine Grundrechtsausübung, die die Rechte Dritter oder der Gemeinschaft grob mißachtet, von vornherein ausgeschlossen i s t . 1 2 Das liberale Modell ist mit der Vorstellung "immanenter Grundrechtsschranken" durchaus verträglich. 13 b) Allerdings - und dies ist der unverzichtbare inhaltliche Kern der liberalen Auffassung - darf diese immanente Beschränkung nicht so weit gehen, daß dem Grundrechtsträger keinerlei Entscheidung mehr darüber zusteht, auf welche Weise er von seiner Freiheit Gebrauch machen darf. Das liberale Modell impliziert also einen negativen Freiheitsbegriff in dem Sinne, daß die grundrechtlich gewährleistete Freiheit zumindest auch bedeutet, tun und lassen zu können, was man w i l l . 1 4 Gäbe man diesen Kerngehalt auf, verlöre die Vorstellung des liberalen Abwehrrechts ihren Sinn: Es ginge dann nicht mehr um den Schutz von Freiheit, 15 sondern um die Verwirklichung anderweitig vorgeschriebener "Freiheits"inhalte, i m Extremfall um "Befreiung". 16 Daß dies nicht sein kann, folgt automatisch aus der Theorie des liberalen Abwehrrechts, weil sie sonst von anderen Grundrechtsauffassungen nicht mehr unterscheidbar wäre. 1 7 Wenn Rechte "Beeinträchtigungen" 18 abwehren, bleibt einfach nichts anderes übrig als das subjektive Belieben. 1 2
So z. B. Kiiele, Gnindrechte, S. 630; Starck, Grundrechte, S. 245 f.
11 Damit soll hier zunächst nur diejenige Position gemeint sein, die lediglich "einige wenige tatbestandliche Einengungen" vornehmen will, "die vermeiden sollen, daß z. B. das Töten und Stehlen unter den Schutzbereich eines Grundrechts fällt" (Starck, Auslegung, S. 13 Fn. 13). Grundsätzlich zum Begriff der "immanenten Schranken" vgl. unten 6. 1 4 Zur Definition der negativen Freiheit in diesem Sinne vgl. aus der verfassungsrechtlichen Literatur Blechnann, Staatsrecht II, S. 202; Haverkate, Rechtsfragen, S. 73; Klein, Grundrechte, S. 35, 54 und öfter; Schwabe, Probleme, S. 14; Suhr, Geselligkeit, S. 532; Steiger, Institutionalisierung, S. 111; Stern, Staatsrecht III/1, S. 628. 1 5
Vgl. Suhr, aaO.
1 6
Vgl. Murswiek. Grundrechte, S. 259 f. Davon zu unterscheiden ist die philosophische Diskussion um den Freiheitsbegriff: Die wohl durchschlagenden Bedenken von Taylor, Irrtum, S. 118 ff., gegen eine rein negative Definition der - inhaltlich nicht weiter konkretisierten Freiheit als Abwesenheit von Hindernissen fuhrt nur dann zu- den von Berlin, Concepts, S. 145 ff. (vgl. auch Bydlinski, Rechtsgrundsätze, S. 190; Forschner, Mensch, S. 113 ff.) beschriebenen totalitären Konsequenzen, wenn man zusätzlich ausgerechnet dem Staat die Aufgabe zu schreibt, diesen Inhalt festzulegen. Da der philosophische positive Freiheitsbegriff diese politische Konsequenz aber keineswegs impliziert, ist es ganz unangmessen, ihn aus politischer "Vorsicht" zu bekämpfen; vgl. dazu auch Alexy, Theorie, S. 198 Fn. 121; Haverkate, Rechtsfragen, S. 102 f. 1 7 Dies ist kein Zirkelschluß, weil hier nicht begründet werden soll, daß die liberale Grundrechtstheorie mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Vielmehr wird dies vorausgesetzt und lediglich expliziert, welcher Gehalt daraus bereits begrifflich folgt. 1 8
Schwabe, Probleme, S. 15.
70
3. Kap.: Das Verhältnismäßigkeitsprinzip
Die Freiheit, tun und lassen zu können, was man will, ist "Freiheit von"; sie meint die Unabhängigkeit von der Einmischung anderer. 19 Der Aspekt der Selbstbestimmung20 rechtfertigt es auch, die Freiheit als Schutzgegenstand der - deshalb ja auch so genannten - Freiheitsrechte zu bezeichnen, 21 obwohl von ihnen nicht nur die Verhaltensfreiheit im engeren Sinne, sondern auch Eigenschaften, Situationen und rechtliche Positionen geschützt werden. 2 2 Schutzgegenstand der einzelnen Freiheitsrechte ist daher die Selbstbestimmung oder die Abwesenheit äußerer Hindernisse in dem jeweiligen Lebensbereich. Zieht man den Begriff des Freiheitsrechts auseinander, so ist bis hierhin der Bestandteil der Freiheit - in der liberalen Auffassung des Begriffs - geklärt. 2 3 2. Die Möglichkeit des Konflikts a) An dieser Stelle kommt nun eine - ähnlich unstrittige - empirische Annahme zum Zug. Diese lautet, daß der Gebrauch dieser Art von Freiheit zu Konflikten mit den Interessen Dritter oder der Allgemeinheit führen kann und nicht selten auch fuhrt. 2 4 "Das Freiheitsproblem ist weitgehend (...) ein Problem richtiger Verteilung der Freiheit." 2 5 In gewisser Weise ist diese Annahme bereits in die Theorie des liberalen Abwehrrechts eingegangen: Dies ist als Kerngehalt der negativen Freiheit in der philosophischen Tradition anerkannt; vgl. klassisch Hobbes, Leviathan. S. 118, 187, und Berlin, Concepts, S. 122; zusammenfassend Forschner, Mensch, S. 98 ff.; Partridge, Freedom, S. 222; Taylor, Irrtum, S. 118. 2 0 Zu ihm als wesentlichen Bestandteil des Freiheitshegriffs vgl. v. Arnim, Gemeinwohl, S. 22; ders., Staatslehre, S. 136; Haverkate, Rechtsfragen, S. 70, 73; v. Hippel, Grenzen, S. 15 f. Selbstbestimmung ist hier natürlich ganz schwach zu verstehen und hat zunächst noch nichts mit Autonomie o. ä. in einem stärkeren Sinne zu tun. 2 1 Dies sieht - trotz kritischer Grundhaltung zu diesem Begriffsgebrauch - auch Stern, Staatsrecht I1I/1,S. 641. 2 2 Zu den Schutzgegenständen der Abwehrrechte vgl. Alexy, Theorie, S. 174 ff.; Schwabe, Probleme. S. 13 ff.; Stern, aaü., S. 622 ff. Daß auch der klassische Begriff der negativen Freiheit nicht auf den Schutz der Verhaltensfreiheit im engeren Sinne beschränkt ist, sondern weitere Schutzgegenstände kennt, beweist die Formulierung bei Berlin, aaO., S. 121 f., nach der Freiheit deijenige Bereich ist, "within which the subject (...) is or should be left to do or be what he is able to do or be " (Hervorhebungen hinzugefugt). Auf der anderen Seite indiziert die klassische "Eingriffe in Freiheit und Eigentum "-Formel, daß weitere Unterscheidungen denkbar sind. Dies kann hier aber dahingestellt bleiben. 2 3 Zur Bedeutung des Rechts vgl. unten II. 2.; zu einer Problematisiening dieses FreiheitsbegrifTs vgl. unten II. 4. d). 2 4 Vgl. nur v. Arnim, Staatslehre, S. 180; Zippelitts, Staatslehre, S. 282, 327, 333 f. Zur Bedeutung dieser These, wenn man sie auf die natürliche Freiheit bezieht, für die Staatsrechtfertigung gegenüber dem Anarchismus vgl. Buchanan, Grenzen, S. 3 ff.; Höffe, Gerechtigkeit, S. 289 ff. 2 5 Zippelius, aaO., S. 327. Vgl. auch Ossenbiihl, Freiheit, S. 8: "Der Staat schützt die Freiheit, indem er sie 'gerecht' verteilt."
I. Die liberalen Abwehrrechte
71
Denn bestände diese Möglichkeit nicht, wäre es ganz unnötig, eine Theorie zu entwerfen, die den Schutz des einzelnen vor Freiheitseinschränkungen zugunsten individueller oder kollektiver Interessen zum Ziel hat, weil dann jeglicher Grund für eine solche Einschränkung fehlte. Ursachen und Konsequenzen dieser Situation sind bekannt. Die Ursachen dafür, daU es überhaupt zu Konflikten kommt, entsprechen den Erwägungen, die in den klassischen Vertragstheorien den Übergang vom Natur- zum Rechtszustandbewirken: Wenn "alle ein Recht auf alles (...) besitzen" 26 , werden unter der Bedingung der Güterknappheit Situationen auftreten, in denen "zwei ein und dasselbe wünschen, dessen sie aber beide nicht zugleich teilhaftig werden können"; 2 7 dadurch "wird einer des anderen Feind" und "danach trachten, sich den anderen unterwürfig zu machen oder ihn zu töten." 2 8 b) Um den durch diese Kollision von Freiheiten entstehenden Nachteile zu vermeiden, liegt es im Interesse aller, daß der Freiheit Grenzen gesetzt werden. 2 9 Da dies die Gesellschaft nicht aus sich heraus leisten kann, muß eine Instanz eingefühlt werden, die bestimmt, wie diese Konflikte zu lösen sind und die diese Lösung durchsetzt. Diese Instanz ist der souveräne moderne Staat und die von ihm zu diesem Zweck gesetzte Rechtsordnung. 30 An dem Grundproblem, daß Freiheiten und Interessen zum Ausgleich gebracht werden müssen und daß es jemanden geben muß, der dies tut, ändert sich nichts, wenn die Freiheiten nicht natürliche, sondern (grund)rechtlich gewährleistete sind. 3 1 Im Ergebnis bedeutet das, daß in einer Theorie, die die individuelle Freiheit zum Ausgangspunkt nimmt, ein Ausgleich der Freiheiten 2 6
Hobbes, Leviathan, S. 119.
2 7
Hobbes, aaO., S. 113.
2 8
Hobbes, aaO., S. 113 f. Diese etwas dramatische Beschreibung Hobbes' hängt von bestimmten anthropologischen Prämissen ab. Zur Frage, ob sich der Naturzustand nicht auch aufgrund weniger anspruchsvoller Prämissen als unvorteilhaft erweisen läßt, vgl. vor allem bejahend - Höffe, Begründung, S. 209 ff.; ders., Tausch, S. 14 ff. Unterstellt wird dabei allerdings, daß irgendein derartiges "Konfliktmodell" die Problemlage angemessen beschreibt. Zu diesem Ansatz grundsätzlich kritisch Habermas, Fundamentalphilosophie, S. 325 f.