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German Pages 918 Year 1978
FESTSCHRIET FÜR HELMUT SCHELSKY
Recht und Gesellschaft Festschrih für Helmut Schelsky zum 65. Geburtstag
Herausgegeben von
Friedrich Kaulbach und Werner Krawietz
DUNCKER &
HUMBLOT
I
BERLIN
Alle Rechte vorbehalten
@ 1978 Duncker & Humblot, Berlln 41
Gedruckt 1978 bel Berllner Buchdruckerei Union GmbH., Berlln 61 Printed in Germany ISBN 3 428 04224 7
Vorwort der Herausgeber Wie wenige Soziologen vor ihm hat Helmut Schelsky in der Entwicklung der westdeutschen Soziologie seit der Nachkriegszeit nicht nur die Begründung und Entfaltung seiner Disziplin als Fachwissenschaft bestimmt und gefördert, sondern seiner Soziologie zugleich ein unverwechselbares Signum aufgeprägt, indem er Soziologie stets als eine Wissenschaft von der Gesellschaft und dem Recht verstanden hat. Nicht von ungefähr steht daher seine Soziologie des Rechts in engem Zusammenhang mit seiner allgemeinen Soziologie. Erblickt man mit Schelsky in der Soziologie des Rechts einen wenn nicht gar den - integrierenden Bestandteil aller soziologischen Theoriebildung, so gewinnen die vielschichtigen Probleme einer sozialen Normierung, Standardisierung und Stabilisierung menschlichen Verhaltens in einem kulturellen Überbau von Institutionen, aber auch diejenigen ihres sozialen Wandels und der Evolution menschlicher Gesellschaft als solcher einen theoeretisch wie praktisch kaum zu überschätzenden Stellenwert. Wer- wie Schelsky- die Funktion des Rechts in der stets bewußten Regelung und Gestaltung der sozialen Beziehungen durch das menschliche Zweckhandeln erblickt, kann sich in seiner Soziologie des Rechts nicht auf eine Analyse der Voraussetzungen und Bedingungen institutioneller Stabilität bzw. Instabilität beschränken. Vielmehr muß er sein Augenmerk auf die Probleme einer Stabilisierung und Steuerung des sozialen Wandels mit Mitteln des Rechts richten. Für Helmut Schelskys Soziologie des Rechts steht damit bei aller Ambivalenz der menschlichen Existenz von Anbeginn die Entscheidungsdimension und Verantwortung des Menschen im Vordergrund, so daß er nie der Gefahr erlegen ist, Rechtssoziologie ohne Recht zu betreiben. Das macht den Aufbau und Ausbau einer Rechtssoziologie zu einer überaus voraussetzungsvollen und schwierigen Aufgabe, die nur durch Zusammenarbeit verschiedener, mit dem menschlichen Verhalten befaßter sozialer Handlungswissenschaften zu bewältigen ist. Die hier unter dem Rahmenthema Recht und Gesellschaft zur Festschrift für Helmut Schelsky vereinigten, fachsystematisch gesehen durchaus heterogenen Abhandlungen wollen nicht nur den national wie international renommierten Gelehrten aus Anlaß seines 65. Geburtstags ehren, sondern suchen zugleich einen Beitrag zu leisten, der
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Vorwort
die jeweiligen bloß konventionellen Fächergrenzen zwischen Soziologie, Rechtswissenschaft und Philosophie unter dem Aspekt ihrer eigenen Fachwissenschaft überschreitend - ganz im Sinne der von Schelsky stets geforderten Kooperation der Wissenschaften zu begreifen ist. Ihre Relevanz liegt, was das Verhältnis von Soziologie und Rechtswissenschaft angeht, vor allem im Bereich der Juristischen Methodenlehre praktischer Rechtswissenschart, der Rechtstheorie und der Rechtsphilosophie, die heute sämtlich nicht ohne eine zureichende Kenntnis moderner Rechtssoziologie auszukommen vermögen. Sie dürften zudem deutlich machen, daß und in welchem Ausmaß Schelskys theoretisch wie praktisch bedeutsame Soziologie des Rechts nicht nur zur Entwicklung der westdeutschen Rechtssoziologie beigetragen hat, sondern auch zur Grundlegung und Rehabilitierung praktischer Philosophie und praktischer Rechtswissenschaft. Was den Kreis der Beitragenden angeht, so sei eigens hervorgehoben, daß es sich nicht allein und nicht einmal vorwiegend um eine Festschrift von unmittelbaren Schülern und Freunden des Gelehrten in dem engeren, wohl üblicheren Sinne handelt. Auch sind längst nicht alle Beitragenden der Münstersehen Schule der Rechtstheorie zuzurechnen, die dem soziologischen Rechtsdenken Schelskys so viel verdankt, ebensowenig wie alle ihr zurechenbaren Gelehrten in diesem Band vereinigt werden konnten. Vielmehr handelt es sich - abgesehen von den dem Gelehrten persönlich und fachlich verbundenen Kollegen am Ort - um eine Reihe von Wissenschaftlern, mit denen Helmut Schelsky seit Jahren auf dem Gebiet interdisziplinärer Forschung, insbesondere der Grundlagenforschung, in diversen Forschungsprojekten- auch in internationalem Rahmen- zusammengearbeitet hat, so daß durchweg ein gemeinsames fachliches Erkenntnisinteresse dominiert. Zu ihnen haben sich einige ausländische Fachkollegen als Gratulanten gesellt, deren Beitrag zur Rechtssoziologie und Rechtsund Staatstheorie wegen ihrer Bedeutung für diese Disziplinen aus der internationalen Entwicklung nicht mehr hinweggedacht werden kann, ohne daß eine empfindliche Lücke entstünde. Die Herausgeber haben davon abgesehen, die diversen, von Soziologen, Juristen, Linguisten, Politologen, Anthropologen und Philosophen beigesteuerten Abhandlungen, etwa unter dem Aspekt einer soziologisch fundierten Rechts- und Staatstheorie, systematisch zu ordnen. Für den Kenner der Rechtssoziologie Helmut Schelskys ist ohnehin unschwer zu erkennen, welchen Bezugsproblemen moderner Rechtssoziologie und Rechts- und Staatstheorie die einzelnen Beiträge gewidmet sind. Wer hingegen der Rechtssoziologie Schelskys bislang noch ferner steht, wird in der einleitenden Einführung in sein rechtssoziologisches Werk den Weg für ein zureichendes Verständnis der
Vorwort
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jeweiligen Problemzusammenhänge geebnet finden. Einen Nachweis der weiterführenden Beiträge Schelskys enthält die diesem Band beigegebene, von Dieter Wyduckel zusammengestellte und bearbeitete, kritisch räsonierende Bibliographie der Schriften Helmut Schelskys, die erstmals einen umfassenden Gesamtüberblick über sein bisheriges soziologisches Werk bietet. Münster, im Oktober 1977
Friedrich Kaulbach
Werner K rawietz
Inhalt Helmut Schelsky- ein Weg zur Soziologie des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . XIII Norbert Achterberg, Münster:
Die Gesellschaftsbezogenheit der Grundrechte
1
Rotf Bender, Stuttgart:
Das Selbstregulierungstheorem als die zentrale Methode einer allgemeinen Gesetzgebungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
Rolf-Peter Calliess, Hannover:
Das strafrechtliche Problem der Gewalt in rechtssoziologischer Sicht 49
Karl-Wilhetm Dahm, Münster:
"Funktionale Theorie" und kirchliche Praxis - Zum Verarbeitungsprozeß von sozialwissenschaftliehen Theoriefragmenten in gesellschaftlichen Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
R. W. M. Dias, Cambridge: Götterdämmerung: Gods of the Law in Decline Ralf Dreier, Göttingen:
Zur Theoriebildung in der Jurisprudenz
87 103
Hendrik J. van Eikema Hommes, Amsterdam:
Law and positive morality ................................... . .... 133
Peter Häberte, Augsburg:
Der kooperative Verfassungsstaat .................................. 141
Peter Hartmann, Konstanz:
Individuum und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
Ernst E. Hirsch, Berlin:
Zur Rechtserheblichkeit des Normirrtums in juristischer und soziologischer Sicht ...................................................... 211
AntonyM. Honore, Oxford:
Das Prinzip der Mehrheitsregel .................................... 229
Stig Jargensen, Aarhus:
Der Begriff des Eigentums in geschichtlicher und gegenwärtiger Betrachtung im Bereich der öffentlichen Planung .................... 249
Friedrich Kautbach, Münster:
Das transzendental-juridische Grundverhältnis im Vernunftbegriff Kants und der Bezug zwischen Recht und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . 263
Inhalt
X Hans Kiefner, Münster:
Ius praetensum. Preußisches Zivil- und Zivilprozeßrecht, richterliche Methode und Naturrecht im Spiegel einer Reflexion Kants zur Logik 287
Werner Krawietz, Münster:
Evolution des Rechts und der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
Luigi Lombardi VaUauri, Mailand:
Verdienste und Grenzen moderner Rechtsanthropologie ............ 343
Peter Non, Zürich:
Wert und Wirklichkeit ............................................ 353
Alexander Peczenik, Lund:
Causation and Fault in Torts. How to save the lawyers from the philosophers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371
Valentin Petev, Münster:
Rechtsfindung und Bindungen des Richters im sozialistischen Rechtskreis .............................................................. 391
Manfred Rehbinder, Zürich:
Neues über Leben und Werk von Eugen Ehrlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403
Manfred Riedel, Erlangen:
Forschung und Bildung. Wilhelm von Humboldts ursprünglicher Begriff der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419
Klaus F. Röhl, Bochum:
über außervertragliche Voraussetzungen des Vertrages ............ 435
Frank Rotter, Mainz:
Der personfunktionale Ansatz in der Rechtssoziologie. Eine Auseinandersetzung mit dem Ansatz von Helmut Schelsky . . . . . . . . . . . . . . . . 481
Hans Ryffel, Speyer:
Recht und Ethik heute
507
Bernhard Schäfers, Göttingen:
über einige Zusammenhänge und Differenzen von Recht und Erziehung in der Gesellschaftstheorie, unter besonderer Berücksichtigung von Emile Durkheim und Max Weber .............................. 527
Jii.rgen Schmidt, Münster:
"Begründung" -
Einige Probleme eines rechtstheoretischen Problems 549
Hans Joachim Schneider, Münster:
Stadtplanung und Baugestaltung im Dienste der Verbrechensvorbeugung .............................................................. 579
Werner Schneiders, Münster:
Vera Politica. Grundlagen der Politiktheorie bei G. W. Leibniz ...... 589
Rii.diger Schott, Münster:
Das Recht gegen das Gesetz: Traditionelle Vorstellungen und moderne Rechtsprechung bei den Bulsa in Nordghana ........................ 605
Inhalt
XI
Hans Vlrich Scupin, Münster:
Untrennbarkeit von Staat und Gesellschaft in der Frühneuzeit. Althusius und Bodin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637
Heinhard Steiger, Gießen:
Zur innenpolitischen Neutralität des Staates ........................ 659
Stig Strömholm, Uppsala:
Analyse und Prognose. Zwei Typen der rechtlichen Entscheidungsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 681
Paul Trappe, Basel:
über die Anonymisierung von Verantwortung ...................... 697
Theodor Viehweg, Mainz:
Rhetorik, Sprachpragmatik, Rechtstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 717
Ota Weinberger, Graz:
Rationales und irrationales Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 721
Franz Wieacker, Göttingen:
Vom Nutzen und Nachteil des Szientismus in der Rechtswissenschaft 745
Jerzy Wreblewski, l..6dz:
Axiological Problems of Legal Informatics . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 765
Reinhold Zippelius, Erlangen:
Verlust der Orientierungsgewißheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 777
Dieter Wyduckel, Münster:
Bibliographie Helmut Schelsky
791
Verzeichnis der Mitarbeiter ............................................ 837
Helmut Schelsky - ein Weg zur Soziologie des Rechts Von Werner Krawietz I. Das Recht sei viel zu wichtig, um es den Juristen zu überlassen. Mit diesem Hinweis an seine soziologischen und juristischen Hörer pflegte Helmut Schelsky seine seit der ersten Hälfte der 60er Jahre an der Universität Münster gehaltenen Vorlesungen über Soziologie des Rechts zu eröffnen. Heute würde er vermutlich eher zu der Formulierung neigen, daß das Recht zu wichtig ist, um es den Soziologen zu überlassen. In dieser Redewendung deutet sich der Wandel seines rechtssoziologischen Denkens an, den der Soziologe Schelsky in der Entwicklung vom externen zum internen Beobachter allen Rechts in der Gesellschaft vollzogen hat. Ein Wissenschaftler, der wie Helmut Schelsky seit der Nachkriegszeit nicht nur die Entwicklung seiner Fachwissenschaft, der Soziologie, nachhaltig geprägt und vorangetrieben hat, sondern vor allem in den letzten drei Jahrzehnten seiner wissenschaftlichen Wirksamkeit neben seiner Tätigkeit als Forscher und Hochschullehrer - auch als Wissenschaftsorganisator, als wissensahaftlicher Berater von Politik, als Bildungspolitiker und politischer Publizist hervorgetreten ist, verdankt seine Bekanntheit nicht zuletzt der heute selten gewordenen Fähigkeit, eine derartige Vielfalt und Vielzahl von Berufsrollen zu einer weithin überzeugenden persönlichen Synthese zu integrieren. Das findet in der Persönlichkeit dieses überragenden Gelehrten bis in das alltägliche Verhalten hinein seinen sichtbaren Ausdruck. Es kann hier nicht darum gehen, Leben und Werk des "ganzen" Helmut Schelsky soziologisch zu vermessen. Wer Schelsky kennt, wird derartige Ambitionen ohnehin als völlig verfrüht abwinken. Die Vielfalt seiner diversen beruflichen Tätigkeiten sowie die Kontrovertik, in die er sich im Verlaufe seiner glänzenden wissenschaftlichen Laufbahn mit den verschiedensten soziologischen Fachkollegen und namhaften Vertretern benachbarter "Handlungswissenschaften" eingelassen hat, sollten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß Schelsky
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Werner Krawietz
sein wissenschaftliches Lebenswerk in ganz wesentlichem Umfange dem Aufbau und Ausbau einer Soziologie des Rechts gewidmet hat. Dies ist einer weiteren Öffentlichkeit, die ihn vor allem als Publizisten kennt, weitgehend unbekannt geblieben, nicht zuletzt deswegen, weil Schelsky selbst eine systematische Darstellung seiner Soziologie des Rechts bislang nicht verfaßt hat. Das ist ein Desiderat in der Entwicklung der westdeutschen Rechtssoziologie. Es erschwert überdies den Zugang zur allgemeinen Soziologie Helmut Schelskys, der in der Soziologie des Rechts einen - wenn nicht gar den - integrierenden Bestandteil aller soziologischen Theoriebildung erblickt. Seine Soziologie des Rechts hat Helmut Schelsky zuerst im Sommersemester 1963 an der Universität Münster und seither ständig in Einführungsvorlesungen, der Vertiefung dienenden Lehrveranstaltungen sowie in Forschungsseminaren und in einer Reihe weit verstreuter, im Laufe der Jahre aus diversen Anlässen veröffentlichter Spezialstudien vorgetragen, doch stehen alle diese Äußerungen in einem sehr engen, dem Hörer bzw. Leser oft nicht sogleich deutlichen inneren Zusammenhang mit seiner soziologischen Theorie. Der einführende Bericht in Schelskys bisheriges Leben und Werk steht infolgedessen ganz unter dem Vorzeichen seiner Soziologie des Rechts und beabsichtigt, den inneren Zusammenhang seiner allgemeinen Soziologie mit seiner Soziologie des Rechts zu verdeutlichen. Eine kritische Auseinandersetzung mit seinem Werk und mit dessen Verhältnis zu anderen Soziologien des Rechts bzw. zu anderen Rechtssoziologen, die naturgemäß ein Vielfaches des hier zur Verfügung stehenden Raumes beanspruchen würde, ist hier nicht beabsichtigt, auch wenn die vom Verfasser gewählte Berichtsform selbstverständlich nicht ohne zumindest implizite Stellungnahmen auszukommen vermag. Dieser Bericht dient der Absicht, dem Leser den Zugang zu Schelskys Soziologie des Rechts zu ebnen, indem er über Themen und Probleme seiner Rechtssoziologie im systematischen Zusammenhang informiert. Etwaige Mißverständnisse des Verfassers, welche seine Darstellung verfälscht haben könnten, sind infolgedessen nicht der Soziologie Helmut Schelskys, sondern dem Verfasser zur Last zu legen; es dürfte dem Leser aufgrund der zahlreichen Zitate nicht schwerfallen, auftauchende Zweifel über den wahren Bedeutungsgehalt der Aussagen Schelskys durch eigene Lektüre aufzuklären. Am 14. Oktober 1977 feierte Helmut Schelsky seinen 65. Geburtstag. Die wichtigsten Daten und Stationen seines bisherigen Lebens sind schnell berichtet, doch in ihrer Relevanz für seine heutige Entwicldung schwer auszuloten. Im Jahre 1912 in Chemnitz geboren, wuchs Schelsky in dem anhaltinischen Dorf Frose auf; nach Schulbesuch in Bernburg
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und Dessau legte er 1931 die Reifeprüfung am Realgymnasium zu Dessau ab. Seit dem Sommersemester 1931 studierte er an den Universitäten Königsberg und Leipzig bis 1935 neben Geschichte und Pädagogik vor allem Philosophie und Soziologie, insbesondere bei Hans Driesch, Arnold Gehlen, Hans Freyer und Theodor Litt. Im Jahre 1935 legte er das Staatsexamen für das höhere Lehramt ab und wurde mit einer Arbeit über die "Theorie der Gemeinschaft nach Fichtes ,Naturrecht' von 1796" an der Universität Leipzig zum Dr. phil. promoviert. In der Folgezeit war Schelsky zunächst bis 1938 am Philosophischen Institut der Universität Leipzig, dann am Philosophischen Seminar der Universität Königsberg tätig. Am 22. Februar 1939 habilitierte er sich an der Philosophischen Fakultät der Universität Königsberg als Habilitand von Arnold Gehlen mit einer Arbeit über "Thomas Hobbes", die nicht nur eine kritische Auseinandersetzung mit dessen politischen Lehren und der deutschen Robbes-Auffassung seiner Zeit, insbes. derjenigen von Carl Schmitt, enthält, sondern zugleich die Grundzüge einer politisch-philosophischen Anthropologie bietet. Am 1. November 1939 wurde er an der Universität Königsberg zum Dozenten für die Fächer Philosophie und Soziologie ernannt. Seiner am 1. Juli 1943 ausgesprochenen Berufung zum a. o.. Professor für Soziologie und Staatsphilosophie an die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Straßburg konnte er kriegsbedingt nicht Folge leisten. Im Spätherbst 1939 bis zum Frühjahr 1945 zum Wehrdienst eingezogen, erlebte Schelsky den Zweiten Weltkrieg in Polen und Rußland als Kompanieführer bei der Infanterie und- nach schwerer Verwundung - als Offizier im Stabe einer Division. Als Kriegsversehrter heimgekehrt, widmete er sich ab Mai 1945 bis zum Herbst 1948 zunächst der Gründung und Leitung des Flüchtlingshilfswerks Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes für die Britische Zone, Sitz Hamburg, und war zugleich als Generalsekretär des Deutschen Roten Kreuzes in der Britischen Zone tätig; ferner wirkte er als Publizist, u. a. als Mitarbeiter und Mitherausgeber der seit 1946 in Karlsruhe erscheinenden Zeitschrift "Volk und Zeit". Seine Lehrtätigkeit begann Schelsky an der Akademie für Gemeinwirtschaft in Hamburg, wo er seit dem 1. November 1948 zunächst im Rahmen einer Vertretung, dann als o. Professor für Soziologie wirkte, vom 1. Juli 1949 bis 31. Juni 1950 zugleich als Leiter dieser Akademie. Schon wenige Jahre später wurde er mit Wirkung vom 1. Mai 1953 als Ordinarius auf den Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Harnburg berufen. Im Jahre 1960 folgte er einem Ruf als o. Professor für Soziologie an die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Münster; daneben wirkte er von 1960 bis 1970 als Direktor der Sozialforschungsstelle an der Universität Münster, Sitz Dortmund. Von
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Werner Krawietz
1965 bis 1970 neben seinen Aufgaben in Münster und Dortmund mit der Planung des Aufbaus der Universität Bielefeld befaßt, war Schelsky weit über sein Fachgebiet hinausgehend auch in der Praxis der Hoch~ schulpolitikzunächst als Planungsbeauftragter einer Universität in Ostwestfalen und Mitglied des Gründungsausschusses, dann als Vorsitzender des Planungsbeirates des Kultusministers für die Entwicklung des Hochschulwesens im Lande Nordrhein-Westfalen sowie als Senator der Deutschen Forschungsgemeinschaft tätig. Sein internationales wissenschaftliches Engagement in der Lateinamerikaforschung hat in den 1968 verliehenen Ehrendoktoraten der Universitäten von C6rdoba/Argentinien und Pernambuco, Recife/Brasilien, Anerkennung gefunden. Einen schon früh ergangenen Ruf an die von ihm in ihrer Aufgabenbestimmung und ihren Strukturmerkmalen entscheidend mitgeprägte Universität Bielefeld nahm Schelsky erst mit Wirkung vom 1. Januar 1970 an. Hier wirkte er nicht nur als Inhaber eines Lehrstuhls in der Fakultät für Soziologie, sondern auch und vor allem als geschäftsführender Direktor des maßgeblich von ihm konzipierten Zentrums für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld, das als ein neues Element im europäischen Wissenschaftsbereich gelten kann, auch wenn seine Folge- und Fernwirkungen heute noch nicht abschätzbar sind. Mit Wirkung vom 23. Oktober 1973 ließ Helmut Schelsky sich auf eigenen Wunsch unter Verlagerung seines Lehrstuhls an die Universität Münster zurückversetzen, ein in der deutschen Universitätsgeschichte nicht ganz alltäglicher Vorgang. Hier war er nach Aufgliederung der alten Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät seither im Fachbereich Rechtswissenschaft als Inhaber eines Lehrstuhls für Rechtssoziologie, Rechts- und Sozialphilosophie tätig. Langjähriges Mitglied auch der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaf.,. ten und sonstiger Wissenschaftsorganisationen, zum Beispiel des Wissenschaftlichen Beirats der Fritz Thyssen-Stiftung, erhielt Schelsky im Jahre 1977 den Konrad-Adenauer-Preis für Wissenschaft. Mit Wirkung vom 31. März 1978 beendeteer mit der vorzeitigen Emeritierung seine Lehrtätigkeit an der Universität Münster. II.
1. Die Soziologie Helmut Schelskys ist im wesentlichen in der. Nachkriegszeit entstanden. Wie wenige deutsche Soziologen vor ihm, hat er damit zur Begründung und Verselbständigung, zum Ausbau und zur Konsolidierung der westdeutschen Soziologie als Fachwissenschaft beigetragen. Ein Überblick über sein weitgespanntes Werk wird jetzt erstmals aufgrund der von Dieter Wyduckel erarbeiteten, weit über 300 Titel aufweisenden räsonierenden Bibliographie seiner zum Teil schwer
Helmut Schelsky- ein Weg zur Soziologie des Rechts
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zugänglichen Publikationen auch einer weiteren Öffentlichkeit möglich, doch dürfte auch mancher Fachkollege, der sich daran gewöhnt hat, in ihm vor allem den Hochschulpolitiker, Bestsellerautor und Publizisten zu erblicken, Anlaß zur kritischen Überprüfung seines Urteils finden. Im folgenden wird daher zunächst von Schelskys wissenschaftlichem Werk der Nachkriegszeit ausgegangen, auch wenn die geistigen Grundlagen und Wurzeln seiner Soziologie - und damit auch seiner Soziologie des Rechts- bis in die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen zurückreichen. Bei dem Versuch einer inhaltlichen Kennzeichnung der von ihm behandelten, durchgängig auch rechtssoziologisch relevanten Themen und Probleme lassen sich trotz der Vielschichtigkeit seines Werks insgesamt drei Teilmengen unterscheiden, die wegen des Fehlens eindeutiger bzw. in Ermangelung hinreichend trennscharfer soziologischer Kriterien der Zuordnung einander freilich sehr weitgehend überschneiden; sie wollen daher auch nur im Sinne einer schwerpunktmäßigen Kennzeichnung und innerhalb der einzelnen Teilmengen bloß exemplarischen Charakterisierung verstanden werden. Die erste Teilmenge ist gekennzeichnet durch eine Vielzahl breit gestreuter, in der zeitgeschichtlichen Ausgangslage der Nachkriegszeit ansetzender, der empirischen Sozialforschung zuzurechnender "Bestandsaufnahmen" zur Situation der deutschen Familie und Jugend sowie der beruflichen Lebensbedingungen in der industriellen Arbeitswelt. Aus den von ihm und seinen Mitarbeitern veröffentlichten empirischen Untersuchungen über "Arbeitslosigkeit und Berufsnot der Jugend" (1952) und "Arbeiterjugend gestern und heute" (1955) hat Schelsky in einer zweiten, mit der vorangehenden sich sehr weitgehend überschneidenden Phase seiner soziologischen Forschungen in seinen Werken über die "Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart" (1953) und "Die skeptische Generation" (1957) nicht nur das vorläufige Fazit seiner Familien- und Jugendsoziologie gezogen, sondern im Anschluß an seine Analyse von Institutionen, wie Ehe und Familie, schon früh eine Fülle von Themen und Problemen aufgegriffen, die wie beispielsweise die Verschiebung der innerfamilialen Autoritätsstruktur zwischen den Ehegatten und Eltern zugunsten mehr partnerschaftlicher Beziehungen, die Doppelbelastung der verheirateten berufstätigen Frau durch Familie und Beruf oder die Stellung des Jugendlichen in der modernen Gesellschaft mit ihren vielfältigen Konfliktquellen und Folgeproblemen - noch heute praktisch weitgehend unbewältigt sind. Sein etwa zur gleichen Zeit unter dem Titel Soziologie der Sexualität (1955) erschienenes, den Beziehungen zwischen Geschlecht, Moral und Gesellschaft gewidmetes Buch, das u. a. in niederländischer, italienischer, spanischer, portugiesischer und französischer Sprache veröffentlicht wurde, erreichte 1977 mit fast 190 000 II Festschrift für Helmut Schelsky
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Werner Krawietz
Exemplaren die 21. Auflage. Darüber hinaus hat Schelsky schon früh eine Reihe von einführenden und grundlegenden Abhandlungen vorgelegt, die sich vor allem mit Problemen der Berufs-, Betriebs- und Industriesoziologie in einer verwissenschaftlichten Arbeitswelt befassen, wie etwa aus seinen Beiträgen über "Die Aufgaben der Betriebssoziologie und der Arbeitswissenschaften" (1954), zu dem von ihm- zusammen mit Arnold Gehlen - herausgegebenen Lehr- und Handbuch "Soziologie" (1955), über "Die sozialen Folgen der Automatisierung" (1957), zum Thema "Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation" (1961) und seiner Akademieabhandlung über "Die Zukunft des Menschen in der industriellen Arbeitswelt" (1962) hervorgeht. Eine Reihe von Untersuchungen gilt ferner im Blick auf die soziologische "Bedeutung des Schichtungsbegriffs für die Analyse der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft" (1953) und damit auf die Relevanz der heute erneut aktuell gewordenen Schichtungstheorien der "Bedeutung des Klassenbegriffs für die Analyse unserer Gesellschaft" (1961) sowie den sozialstrukturellen Voraussetzungen einer "Klassengesellschaft" (1962), mit denen er wiederholt in die Auseinandersetzung um die Relevanz marxistisch-sozialistischer Denkvorstellungen über die Sozialstruktur der modernen Industriegesellschaft eingegriffen hat. Mit einer Vielzahl von Publikationen zur Schul-, Erziehungs- und Bildungssoziologie und vor allem im Rahmen seiner hochschulpolitischen Aktivitäten - zur Universitäts- und Wissenschaftssoziologie hat Schelsky die einschlägige wissenschaftliche, aber auch die öffentliche Diskussion der noch heute weitgehend ungelösten praktischen Probleme nachhaltig gefördert. Als Marksteine seiner kritischen Auseinandersetzung mit den anstehenden Problemen seien hier nur seine Veröffentlichungen über "Schule und Erziehung in der industriellen Gesellschaft" (1957) und die seine soziologischen Bedenken zur Schulreform artikulierende Streitschrift "Anpassung oder Widerstand" (1959) genannt. Seine Überlegungen zur Idee und Gestalt der deutschen Universität finden sich vor allem in "Einsamkeit und Freiheit" (1963) und in "Grundzüge einerneuen Universität" (1966) sowie - im eher skeptischen Rückblick und Ausblick- in seinem "Abschied von der Hochschulpolitik oder Die Universität im Fadenkreuz des Versagens" (1969). Kennzeichnend für diese Abhandlungen ist die tief eindringende Analyse der Funktionen und Struktur von so wichtigen Institutionen, wie Schule, Universität usw., sowie die kritische Skepsis und Distanz gegenüber sozialistisch geprägten Schulmodellen und pädagogischen Theorien, die ihre Hoffnung auf eine Pädagogisierung der Gesellschaft setzen, weil sie davon ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit erwarten, aber auch die scharf pointierte Kritik an einer Demokratisierung und Politisierung der Bildungs- und Forschungsinhalte wie der wissenschaftlichen Hochschulstrukturen.
Helmut Schelsky- ein Weg zur Soziologie des Rechts
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Neben diesen Schwerpunkten seiner soziologischen Arbeit hat Schelsky, wie die von Wyduckel erarbeitete Bibliographie seiner Werke jetzt belegt, auf fast allen übrigen Gebieten soziologischer Forschung wichtige Gedankengänge beigesteuert. Das gilt insbesondere bezüglich der vielschichtigen praktischen Probleme, die eine Soziologie der Freizeit und der Erwachsenenbildung zu behandeln hat, beispielsweise für seine Arbeiten über "Soziologie und Erwachsenenbildung" (1954), "Beruf und Freizeit als Erziehungsziele in der modernen Gesellschaft" (1956) und "Das Recht auf die Freizeit der anderen" (1956). Es trifft aber auch zu für eine Soziologie des Alters, wie seine Überlegungen zum Thema "Der Mensch am Lebensabend" (1959) und "Die Paradoxien des Alters in der modernen Gesellschaft" (1960) deutlich machen, in denen er klarsichtig den "Notstand der Alten in der industriellen Gesellschaft" diagnostiziert hat und deren Richtigkeit und Praxisrelevanz mit dem ständigen Ansteigen des Anteils alter Menschen an der Gesamtbevölkerung im nachhinein eine freilich nicht erstrebte Bestätigung gefunden hat. In seinen Abhandlungen zur Medizinsoziologie, wie beispielsweise in "Arzt und Patient in der modernen Gesellschaft" (1952) und in seiner "Soziologie des Krankenhauses im Rahmen einer Soziologie der Medizin" (1958) hat er nicht nur als einer der ersten die sozialen Probleme des kranken Menschen und der Patienten im Krankenhaus behandelt, sondern daran auch soziologische Überlegungen zur "beruflichen Selbstdeutung des Arztes" und zu einem neuen "Leitbild für unsere Ärzte" geknüpft. Mit seinem vielbeachteten, auch ins Niederländische und Spanische übertragenen Beitrag zur Religionssoziologie "Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar?" (1957) hat Schelsky ferner im Hinblick auf das religiöse Erleben und Handeln des Menschen und die Möglichkeiten seiner Institutionalisierung in Gemeinde und Kirche nicht bloß die sozialstruktureilen Voraussetzungen einer Institutionalisierbarkeit beleuchtet, sondern - das Verhältnis von "Religionssoziologie und Theologie" (1959) transzendierend - die darüber weit hinausreichende Frage nach den sozialen Bedingungen einer "Reflexionssubjektivität des Individuums" gestellt, in der sich, wie er es nennt, in institutionellem Wachstum befindliche menschliche "Bedürfnisse letzten Grades" ankündigen. In der Tat erscheint die Annahme durchaus beachtenswert, daß hier, wie gerade heute etwa in dem Streben heranwachsender Jugendlicher nach neuer Religiosität und Lebenssinn deutlich wird, institutionell nicht abgesättigte "Selbstbewußtseinsbedürfnisse" zum Ausdruck gelangen. Trifft diese Annahme zu, dann könnte es sich -ins Grundsätzliche gewendet - hier wie anderwärts um auch für ein "motivstarkes Rechts- und Programmbewußtsein" durchaus relevante, im etablierten Rechtssystem unserer Gesellschaft möglicherweise bislang institutionell nicht hinreichend berücksichtigte "Bewußt-
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Wemer Krawietz
seinsansprüche" handeln. Darauf wird noch in anderem Zusammenhang zurückzukommen sein. 2. Auf die Methode der Wirklichkeitserfassung durch die empirische Sozialforschung und die Art von Wirklichkeit, die eine empirische Soziologie auf diese Weise zu erforschen unternimmt, bezieht sich eine quantitativ sehr viel geringere, aber qualitativ für die Entwicklung seiner Soziologie des Rechts höchst bedeutsame dritte Teilmenge seiner Schriften. Im Blick auf den Aufschwung der westdeutschen empirischen Sozialforschung nach 1945, zu dem Schelsky zunächst als Leiter der Akademie für Gemeinwirtschaft in Hamburg, dann als Leiter der Sozialforschungsstelle in Dortmund sowie als Forscher und Hochschullehrer an den Universitäten Harnburg und Münster selbst maßgeblich beigetragen hat, wandte er sich schon früh der Auseinandersetzung "mit den breiten anti-ideologischen Realitäts- und Orientierungsbedürfnissen der deutschen Gesellschaft nach dem Kriege" zu, wie vor allem sein Vortrag vor der Arbeitsgemeinschaft sozialwissenschaftlicher Institute im Juni 1950 über "Lage und Aufgaben der angewandten Soziologie in Deutschland" deutlich macht. Mit dieser Problemstellung, welche die Orientierung der Soziologie nicht bloß auf ihre Gegenstände, sondern auch auf sich selbst richtete, war zugleich die Frage nach Möglichkeit, Notwendigkeit und Art einer praktischen Anwendung der Soziologie auf das Leben zu beantworten. Hier wie in zahlreichen anderen Stellungnahmen, die auch in - von mir hauptsächlich der ersten und zweiten Teilmenge seines Werks zugerechneten - Untersuchungen einzelner sozialer Lebensbereiche, wie beispielsweise seiner Jugendsoziologie, enthalten sind, ist Schelsky stets davon ausgegangen, daß die Soziologie, wenn sie zum Beispiel die "Stellung der Jugend in der modernen Gesellschaft" (1959) untersucht, sich im Rahmen einer "analytisch deskriptiven Wissenschaft" bewegt. Die empirische Soziologie könne infolgedessen aufgrund ihrer Analysen der Praxis jeweils nur soziale Tatbestände bieten, jedoch nicht Normen richtigen sozialen Handelns. Was das Verhältnis von Soziologie und Praxis angeht, so bemerkt er im Hinblick auf die praktischen Probleme von Erziehung und Jugendpflege sehr treffend, der Soziologie könne "nichts Schlimmeres widerfahren, als daß sie als Prämisse gewertet würde, von der man einfach die Normen jugenderzieherischen oder jugendpflegerischen Handeins deduzieren wollte". Selbstverständlich wird dabei nicht ignoriert, daß für die Praxis die soziologische Analyse sozialer Tatbestände durchaus "notwendig" ist, weil sie bei der Orientierung ihres praktischen Handeins deren Kenntnis nicht entbehren kann und weil angesichts der zunehmenden Verwissenschaftlichung aller Praxis auch die praktischen Maßnahmen in Erziehung und Jugendpflege auf der "Grundlage" solcher Erkenntnisse erfolgen. Andererseits hat er mit
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Recht betont, daß jede Entscheidungspraxis - und mit ihr auch eine weitgehend verwissenschaftlichte Erziehung und Jugendpflege - bei ihren praktischen Entscheidungen und Maßnahmen eine "eigene geistige Verantwortung normativer Art" zu tragen hat. Infolgedessen bestimmt er das - hier nur exemplarisch beleuchtete - Verhältnis von Soziologie und Praxis dahingehend, daß die Soziologie aller Praxis zwar "Grenzen und Grundlagen" ihres Vorgehens, aber "keine Rezepte des sozialen Handelns" zu bieten vermag. "Die Soziologie sagt, was· ist, und nicht, was sein soll." Damit wird jedoch nicht nur das Verhältnis von Soziologie und Praxis gekennzeichnet, sondern am Beispiel von Soziologie und Sozialpädagogik auch die charakteristische Differenz aufgewiesen, die nun einmal zwischen der praktischen Anwendung einer Wissenschaft auf das Leben und aller praktischen Wissenschaft als solcher besteht. Diese Differenz ist auch für die an der Erzeugung und Anwendung des geltenden Rechts mitbeteiligte Jurisprudenz oder genauer: für die praktische Rechtswissenschaft von kaum zu überschätzendem Belang. Die antiideologische Funktion sozialwissenschaftlicher Empirie erblickt Schelsky darin, daß sie durch die Art ihrer Wirklichkeitserfassung aller sozialen Praxis bestimmte "Voraussetzungen für die Offenheit zur Veränderung" entzieht, insbesondere "den Glauben, die moderne Gesellschaft, wie sie ist, aus abstrakten, generalisierten Grundsätzen heraus planmäßig noch einer totalen Veränderung unterwerfen zu können", so daß sie "ihrem Wesen nach jede ideologisch-gesinnungshafte totale Revolution" verneine. In den Voraussetzungen der Wirklichkeitserfassung durch die empirische Sozialforschung steckt somit, wie er selbst hervorhebt, eine durchaus "politische Position". Das mag ihm den jüngst in der Deutschen Demokratischen Republik erhobenen, vom Standpunkt der sozialistischen Rechts-, Staats- und Gesellschaftstheorie bzw. -philosophie artikulierten Vorwurf eingetragen haben, "Herrschaftswissen im Dienste partikulärer Interessen" zu produzieren (Klenner), doch verkennt dieser Einwand, daß sich eine derartige Stellungnahme - quer zur Frontstellung der politischen Positionen in unserer Gesellschaft - gegen jede Art einer ideologisch bedingten Realitätsverschätzung richtet. Was das Verhältnis seiner Soziologie zur Philosophie angeht, so ist dieses - und das ist zugleich charakteristisch für die deutsche Soziologie - wie bei vielen Sozialwissenschaftlern seiner Generation anfänglich auch bei ihm noch bestimmt durch die Herkunft aus und die Auseinandersetzung mit der Philosophie des deutschen Idealismus von Kant bis Regel, wovon in anderem Zusammenhang noch die Rede sein Wird. Jedoch hatte die spezifische Verbindung von Philosophie und Ökonomie, aus der die deutsche Soziologie entstanden ist, schon vor
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1930 bei Hans Freyer, seinem Leipziger Mentor, dazu geführt, in seiner logischen Grundlegung des Systems der Soziologie diese als "Wirklichkeitswissenschaft" zu begreifen. Jedenfalls lagen in den 30er Jahren alle wesentlichen Positionen damaliger deutscher Soziologie schon ausformuliert vor, so daß eine Bewältigung der konkreten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Wirklichkeit nur noch in Ausnahmefällen als Anliegen und Aufgabe der Philosophie angesehen werden konnte. Helmut Schelsky hat die damit fällige Abgrenzung seiner Wissenschaft von der Gesellschaft gegenüber der Staats- und Gesellschaftsphilosophie des deutschen Idealismus schon in jungen Jahren vollzogen. Das wird auch deutlich in seiner Auseinandersetzung mit Regel und Marx und den sich hierauf stützenden Tendenzen zum sozialen und politischen Aktionsprogramm. Der Drang zur Wirklichkeit, der den 21jährigen Studenten der Philosophie und Soziologie beseelte, kommt in seiner kleinen Schrift "Sozialistische Lebenshaltung" (1934) wohl am deutlichsten zum Ausdruck, in der er - vorübergehend - für einen völkischen, national geprägten Sozialismus Stellung bezog. Was aus diesen Erwartungen und Jugendillusionen in der Ernüchterung der Kriegsjahre auf dem Prüfstand der Erfahrung geworden ist, zeigen vor allem seine unmittelbar nach Kriegsende im Rahmen eines Preisausschreibens verfaßte Schrift über "Das Freiheitswollen der Völker und die Idee des Planstaates" (1946), in der es um die verfassungsmäßige Sicherung staatsbürgerlicher Freiheiten in Vergangenheit und Gegenwart geht, sowie seine Abhandlung "Revision des Sozialismus" (1947). Unter den völlig veränderten sozialen Bedingungen der deutschen Situation in der Nachkriegszeit begab sich Schelsky, wie der beziehungsreiche Titel einer seiner später erschienenen, wohl wichtigsten Sammlung von Aufsätzen zur Zeitdiagnose, zur Deutung einzelner sozialer Lebensbereiche und Institutionen, zur politischen Soziologie und zur Strukturanalyse der Gesellschaft unter Einschluß der Probleme des sozialen Wandels signalisiert, auf die Suche nach Wirklichkeit in dem Bestreben, "den Tatbeständen oder Fakten vor ihrer normativen Verarbeitung oder ideenhaften Verallgemeinerung auf die Spur zu kommen", aber wohl wissend, daß die "reinen Fakten", "naiv aufgenommen, genauso vieldeutig und subjektiv willkürlich sind wie die Ideen". Eine grundlegende wissenschaftliche Klärung des Verhältnisses seiner Soziologie zur Philosophie hat Schelsky in seinem Buch zur "Ortsbestimmung der deutschen Soziologie" (1959) vorgenommen, in dem er - was sein Verhältnis zu einem wissenschaftlichen Sozialismus angeht - das Festhalten sowjetischer Wissenschaft an der Vorstellung einer "Einheit philosophisch-ökonomisch-soziologischen Denkens" als bloß "dogmatisch" ablehnt, weil sie mit der in der westdeutschen Entwicklung längst vollzogenen Verselbständigung einer fach-
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autonomen Soziologie nicht mehr vereinbar sei. Es fragt sich jedoch, ob die heutige westdeutsche Soziologie nicht - eben wegen dieser Entwicklung!- nach wie vor, aber heute bedrängender denn je theoretisch und praktisch in dem von Schelsky selbst diagnostizierten "Dilemma" steckt, "empirische Funktionswissenschaft auf der einen, sozialphilosophische Deutungswissenschaft auf der anderen Seite sein zu müssen". Augenscheinlich stellt die Verselbständigung der Soziologie als Fachwissenschaft- was ihr Verhältnis zu den übrigen Wissenschaften wie zur Philosophie angeht - ein bislang auch wissenschaftstheoretisch und wissenschaftsorganisatorisch kaum zureichend bewältigtes Problem dar, vor allem wenn man ihre nach wie vor bestehende Aufgabe bedenkt, aller außerwissenschaftlichen sozialen, wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Praxis und den ihr zuarbeitenden praktischen Wissenschaften, wie etwa der praktischen Rechtswissenschaft, das bei der praktischen Handlungsvorbereitung und der nachträglichen Handlungskontrolle benötigte, von Realitätsverschätzungen möglichst weitgehend befreite, auch praktisch brauchbare Erfahrungs- und Handlungswissen bereitzustellen. 3. In dem Maße, in dem sich die Standortbestimmungen seines soziologischen Denkens auch auf sich selbst, d. h. auf eine "Soziologie der Soziologie" richteten, wurden nicht nur die Grundlagen, sondern auch die Grenzen einer Wirklichkeitserfassung der empirischen Sozialforschung zusehends deutlich. Zwar vermag eine in experimentierendem Denken sich wissenschaftlich begründende, empirisch-sozialwissenschaftliche Wirklichkeitserfassung eine entsubjektivierte Beschreibung der Wirklichkeit zu geben, doch handelt es sich dabei um eine den unmittelbaren Erfahrungsumfang des Einzelnen grundsätzlich überschreitende, wissenschaftlich "bearbeitete und erfahrene" sekundäre Wirklichkeit. Indem sie die Tatsachen für das Bewußtsein reproduziert, auf denen das soziale Geschehen beruht, schafft sie zugleich die soziale Wirklichkeit, mit der wir es entscheidend zu tun haben, denn erst die in ihr lokalisierten Erfahrungen sind als "Fakten" anzusehen. Damit wurde auch der hier implizierte Anspruch, eine wissenschaftlich aufbereitete und verbindliche Wirklichkeitserfahrung des politischen, rechtlichen und sozialen Lebens und seiner Institutionen zu bieten, zum Thema und Problem seiner Soziologie. Im Hinblick darauf suchte Schelsky die Unterschiede und Grenzen der soziologischen Erkenntnis gegenüber den Erkenntnisweisen der anderen Wissenschaften und einer verwissenschaftlichten sozialen Praxis herauszuarbeiten, indem er am Beispiel gemeinsamer Sachfragen und Gegenstände des institutionell immer schon geprägten sozialen Lebens die Aussagen der Soziologie auf ihre Tragweite hin analy-
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sierte und beschränkte und durch den Wissenschaftsanspruch der Soziologie nicht mehr gedeckte Übergriffe auf das praktische soziale Denken und Handeln kritisierte. Daß Schelsky in seiner Kritik aller durch die binnenwissenschaftliche Aufgabenstellung der Soziologie und ihrer Orientierungsfunktion nicht mehr gedeckten, pseudosoziologischen Erkenntnisansprüche und ihrer nicht eben begrüßenswerten Auswirkungen im Sinne einer "Formierung oder Deformierung des Zeitbewußtseins" und auf die praktische "Lebenssinngebung" der Menschen in unserer Gesellschaft auch vor kräftiger Polemik nie zurückgeschreckt ist, wissen die Leser seines dem "Klassenkampf und der Priesterherrschaft der Intellektuellen" gewidmeten, inzwischen auch als Taschenbuch erschienenen Bestsellers "Die Arbeit tun die anderen" (zuerst 1975) und seiner jetzt in einem Sammelband unter dem Titel "Der selbständige und der betreute Mensch" (1976) veröffentlichten politischen Schriften und Kommentare zu schätzen. Die Soziologie als Fachwissenschaft hat solche - vermeintliche - Nestbeschmutzung überwiegend nicht goutiert und sucht mit dem nicht eben selten zu hörenden Kommentar zur Tagesordnung überzugehen, damit habe sich der Autor selbst entschieden außerhalb der Grenzen seines Faches gestellt und offensichtlich mit der Soziologie gebrochen. Wer so denkt, macht es sich meinem Eindruck nach zu einfach, denn auch die auf die Grenzen seines Faches reflektierende, durchweg selbstkritische "Anti-Soziologie" des Soziologen Helmut Schelsky ist - unheselladet der Schulstreitigkeiten innerhalb dieses Faches - eine legitime Aufgabe der Soziologie.
m. 1. Geht man mit Schelsky davon aus, daß alle politische, rechtliche, wirtschaftliche und soziale Entscheidungspraxis - in ihrem Verhältnis zur Soziologie, wie immer das aufgefaßt werden mag - bei ihren praktischen Entscheidungen im Hinblick auf den Einzelnen letztlich eine eigenständige Verantwortung und Leistung "normativer Art" zu tragen bzw. zu erbringen hat, so müssen die von der Soziologie zu erfüllenden Orientierungsbedürfnisse dieser Praxis vor allem auch und gerade unter dem Aspekt der normativen Relevanz soziologischer Erkenntnis für eben diese Entscheidungssituation aller Praxis gesehen werden. Angesichts der lebenspraktischen Vieldeutigkeit einer in methodologischer Hinsicht einwandfreien Faktenforschung und empirischen Wirklichkeitserfassung, deren technologische Verwendbarkeit sich nicht vorab ohne weiteres auf ein politisch-soziales Auswirkungsziel· festlegen läßt, wäre es wenig angebracht, schon die Ansätze soziologischer Forschung auf ein parteiliches Engagement zu verpflichten, w·en die Ergebnisse einer "engagementhaft, also bewußt ideologisch gesteuerten empirischen Forschung" der von der Soziologie bzw. dem
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Soziologen zu bewältigenden "Beratungs- und Expertenfrage, der Information von Sachbezügen und Entscheidungsfeldern" praktisch nicht gerecht zu werden vermag. Damit ist das - auch für eine Soziologie des Rechts - stets prekäre Problem der Grenzen zwischen Wissenschaft und Politik, zwischen wissenschaftlicher und politischer Begründung, Rechtfertigung und Legitimation von Aussagen und Handlungen erreicht. Hierzu hat Schelsky stets, nicht erst in den BergedarjeT Gesprächen zu Fragen der freien industriellen Gesellschaft, aber hier besonders eindringlich in seinem Referat "Wissenschaftliche Experten und politische Praxis- das Problem der Zusammenarbeit in der heutigen Demokratie" (1966), deutlich gemacht, daß jede wissenschaftliche Untersuchung wie jedes wissenschaftliche Gutachten über eine politische Frage seinen Gegenstand "aus einem politischen Gesamtzusammenhang abstrahieren und ihn auf die Methode einer Wissenschaft reduzieren, das heißt vereinseitigen" muß, sei dies nun eine statistische, wirtschaftstheoretische oder rechtliche Fragestellung. Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß wissenschaftliche Untersuchungen und Gutachten nicht zu praktischen Folgerungen kommen dürften, sondern nur wissenschaftliche Sachgesetzlichkeiten feststellen, nur Informationen bieten müßten, ohne aufgrund ihrer wissenschaftlichen Analysen bestimmte Handlungsrichtungen nahezulegen; denn das hieße "das wissenschaftliche Denken kastrieren". Andererseits vermag jedoch keine Sozialwissenschaft und kein Sozialwissenschaftler der sozialen Praxis die Verantwortung abzunehmen, seine "von abstrakten, das heißt einseitigen, wissenschaftlichen Positionen aus gemachten Ratschläge in den Gesamtzusammenhang der politischen Situation rückzuübersetzen". Infolgedessen könne auch die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Politik nur fruchtbar sein, wenn dabei die Verschiedenheit der Verantwortung des forschenden Wissenschaftlers und des handelnden Politikers beachtet werde, denn der Wissenschaftler ist "niemals politisch demokratisch legitimiert in seiner Expertise, er ist nur legitimiert durch sein Verhältnis zur Wahrheitssuche". In eben diesem Sinne hat für ihn auch eine Soziologie des Rechts nicht bloß eine empirischanalytische, sondern auch eine gesellschaftspolitische und rechtspolitische Dimension. Eine weitere Gefahr, in die alles soziologische und damit auch das rechtssoziologische Denken im Verhältnis zu der von ihm zu beratenden Praxis geraten kann, sieht Schelsky in der Tatsache, daß die Wirklichkeitserfassung einer empirischen Sozialforschung ihrer wissenschaftlichen Methodik nach - unter Abstandnahme von dem für sie bloß subjektiven Primärerleben der Einzelperson - zu einer "Denaturierung der Primärerfahrung" beiträgt und damit zur methodischen Dekompo-. sition ihres Erfahrungsgegenstandes führt. Aber diese Gefährdung
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erblickt er selbstverständlich nicht in der ganz unvermeidlichen "Entstellung des Objekts", dessen wissenschaftliche Dekomposition zu einem für alle empirische Sozialforschung unabweisbaren Anspruch geworden ist. Er erblickt sie vielmehr in der "Art ihrer Erfahrung", d. h. in der Methodik selbst. In der Tat besteht die eigentümliche Gefährdung, die von der unreflektierten Verwendung der Methodik empirischer Sozialforschung ausgeht, vor allem darin, daß die empirische Sozialforschung sich der "Distanzierung der eigenen Erfahrungsart", der "sekundären, wissenschaftlichen Tatsachenwirklichkeit des Sozialen" nicht in ausreichendem Maße bewußt wird, die konkrete soziale Wirklichkeit verfehlt und damit an Praxisrelevanz verliert. Diese Einsicht läuft nicht auf eine Steigerung der technischen Methodenperfektion hinaus, sondern "auf die Forderung nach einer dauernden kritischen Methodenreflexion", die der "zweiten Naivität" von Empirikern zu begegnen hilft. 2. Daß Schelsky selbst durch und durch Empiriker ist, daran haben nur diejenigen seiner Kritiker Zweifel, die ihn gern in der Ecke einer Sozialphilosophie spekulativer Provenienz zurechtrücken, um bei ihrer "Kritik" leichteres Spiel zu haben. Jedoch hat Schelsky stets und ständig klar gemacht, daß es ihm - und damit wird zugleich auch der Standort seiner Soziologie bestimmt - allenthalben nicht um eine irgendwie geartete "Wesensschau" von Wissenschaft geht, sondern um die wissenschaftliche Erfahrungsanalyse der konkreten sozialen Wirklichkeit. Das gilt auch für die Konkretheit seiner Selbstbetrachtung, durch welche er nicht nur der aller Sozialwissenschaft drohenden Gefahr einer "reflektierenden Auflösung ihres Gegenstandes" und der hierdurch bedingten "Auflösung der Sachleistung in abstrakte Selbstreflexion" zu begegnen sucht, sondern auch die "Wissens- und Wirkungshintergründe der Empirie" zu erfassen trachtet. Seine Forderung, "den Gegenstand konkret zu erfassen", läuft infolgedessen keineswegs darauf hinaus, nun etwa den unvermeidbaren Abstraktionen der Wissenschaften den "ganzen Menschen" entgegenzusetzen, in der vergeblichen Hoffnung, auf diese Weise die "ganze und volle Wirklichkeit" (Dilthey) zu erfassen und zu erhalten. Solcher - einer empirischen Sozialwissenschaft entgegenstehenden - Hermeneutik des unmittelbaren "Verstehens", die sich als "ein- und nachfühlende Subjektivität" beweist, aber nicht "in einer methodischen, versachlichten und damit beweiskräftig übermittelbaren Kontrolle", hat Schelsky schon früh eine entschiedene Absage erteilt, weil dies "das Leben an die Stelle der Wissenschaft setzen (hieße), und noch dazu ein Leben nur in der Vorstellung". Ebenso entschieden hat er in seiner Auseinandersetzung mit der Naturrechts- und Sozialphilosophie von Ernst Bloch dem von letzterem artikulierten Prinzip Hoffnung in der kritischen Selbstreflexion
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auf die Lebensgrundlage seiner eigenen Generation das "Prinzip Erfahrung" (1977) entgegengestellt, doch führt dies bereits in den Bereich seines bislang allein in Lehrveranstaltungen an der Universität Münster vorgetragenen, aber gegenwärtig noch nicht veröffentlichten Werks. Im Hinblick auf die Grenzen empirischer Soziologie und die Orientierungsbedürfnisse der Praxis wäre hier - sehr viel kritischer als bisher - nach dem soziologischen und dem von den praktischen Wissenschaften vorausgesetzten Begriff von Erfahrung zu fragen. Das gilt übrigens auch für die in der westdeutschen praktischen Rechtswissenschaft heute wohl vorherrschende Interessen- und Wertungsjurisprudenz, die sich trotz ihrer normativen praktischen Anliegen seit ihrer Begründung durch Ihering und Heck durchaus als praktische "Erfahrungswissenschaft" begreift. 3. Auch soweit Schelsky angesichts der von ihm diagnostizierten Grenzen empirischer Soziologie - über die bloße Beschreibung sozialer Tatsachen, Verhältnisse und Ereignisse hinausgehend - sich von seinem Standpunkt sozialwissenschaftlicher Empirie den sozialen Institutionen und mit ihnen den Problemen und dem Aufbau einer theoretischen Soziologie zuwendet, geht es für ihn stets um eine der konkreten Wirklichkeitsfassung gewidmete, die bereits eingeschlagene "induktive" Denkrichtung kontinuierlich fortsetzende, nur in der Abstraktion weitergeführte, aber nach wie vor induktiv begründete Erfahrung des Sozialen, so daß Überfolgerungen eines bestimmten Verallgemeinerungsgrades, wie er in sogen. reinen Theorien in Erscheinung tritt, kaum mehr haltbar erscheinen. Dies dürfte, was den Aufbau und Ausbau einer soziologischen Theorie des Rechts angeht, heute vor allem für die Beurteilung der Reinen Rechtslehre relevant sein, sofern man diese als eine empirische Theorie des Rechts begreift. Der in Soziologie und Jurisprudenz gleicherweise problematische, hier vorausgesetzte Theoriebegriff wird von Schelsky, jedenfalls was dessen empirische Grundlage angeht, dahingehend mehr beschrieben als bestimmt, "daß das ,induktive' Denken von einer niemals näher bestimmten Grenze der steigenden Abstraktion ab von der wissenschaftlichen Meinung als ,theoretisch' bezeichnet wird", so daß sich eine "prinzipielle Grenze" zwischen einer empirischen und einer theoretischen Soziologie schwer ausmachen läßt. Diese eher forschungspragmatische Stellungnahme bestimmt auch seine Auffassung des Verhältnisses von empirischer und theoretischer Soziologie des Rechts. Da eine empirische Analyse der konkreten sozialen Wirklichkeit für ihn stets der "Ausgangspunkt" bleibt, geht es letztlich um graduelle, im Grunde nur das Abstraktionsniveau betreffende Unterschiede einer arbeitsteiligen wissenschaftlichen Vorgehensweise. Das gilt auch dort,
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wo seine theoretische Soziologie über die methodisch systematisierten Beobachtungssituationen hinausgeht, weil soziologische Erkenntnis sich auch hier nicht in Spekulation verliert, sondern stets als "Vorgriff auf Erfahrung" begreift. Sie sucht insoweit empirische soziologische Aussagen nur in der Weise und so weit zu abstrahieren bzw. zu verallgemeinern, "daß diese Verallgemeinerungen empirisch überprüfbar bleiben". Neben die empirische Einzelforschung tritt damit die Aufgabe einer systematischen Theoriebildung, doch dürfte ein Pluralismus theoretischer Ansätze bis auf weiteres kaum vermeidbar sein. Auf diese durch die Art der empirischen Wirklichkeitserfassung mitbedingte Situation sucht der Forschungspragmatismus Schelskys angemessen zu reagieren, indem er von vornherein "mehrere ,systematische Theorien'" für möglich hält. Das wird vor allem bei seinem Aufbau einer soziologischen Theorie des Rechts deutlich, der verschiedene konkurrierende Erklärungsansätze in seine Überlegungen einbezieht. Sein Beitrag zu einer sich in diesem Sinne als systematische Theorie begreifenden Soziologie ist aufs engste verknüpft mit seiner Soziologie des Rechts. 4. Die soziologische Lehre vom Recht ist bei Schelsky eingebettet in seine Politis,che Soziologie. Wenn letztere- bloß aus Gründen zweckmäßiger Darstellung- erst hier zu Wort kommt, so vor allem deshalb, um den Zusammenhang von Politik und Recht herauszustellen, der die gesamte Soziologie Schelskys von Anfang an bestimmt. Das liegt nicht allein daran, daß sich gerade in der deutschen Soziologie seit jeher alles Denken über soziale Zusammenhänge - insbesondere in seiner Abgrenzung von der Gesellschafts- und Staatsphilosophie vor allem des 19 .. Jhdts. mit ihrem dem prekären Verhältnis von Staat und Gesellschaft geltenden Denkansatz - sehr betont auf die wichtigen wirtschaftlichen und sozialen Ereignisse im Gefolge der voranschreitenden "industriellen Revolution" richtete, die stets auch die politischen und rechtlichen Einrichtungen betrafen. Es ist vor allem darin begründet, daß Schelskys dezidierte Hinwendung zur sozialwissenschaftliehen Erfahrungsanalyse seiner konkreten sozialen Wirklichkeit sich selbstverständlich von Anfang an nicht auf die Beschreibung und Erklärung der sozialen Beziehungen, Formen und Gebilde und das heißt für ihn: der sozialen Institutionen beschränkte, die in Ehe und Familie, Jugend und Alter, Beruf und Betrieb, Arbeit und Freizeit, Stadt und Land das alltägliche Leben des Einzelnen, sein Erleben und Handeln kennzeichnen, prägen und mitbestimmen. Sie erschöpften sich auch nicht - bei aller Relevanz der hieran anknüpfenden Fragestellungen - in der ·makroskopischen Analyse der Sozialstruktur einer offensichtlich nicht als konstantes Dauergefüge ohne strukturelle Spannungen verfaßten, schichtungsbestimmten "Klassengesellschaft", deren für die Nachkriegszeit charakteristische Züge er in der überaus zeitrichtigen Formel von
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der westdeutschen "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" auf den Begriff gebracht hat, und auch nicht in den sich in ihr vollziehenden, den Einzelnen wie ganze soziale Gruppen, Klassen oder Bevölkerungsschichten betreffenden Aufstiegs-, Abstiegs- und Deklassierungsprozessen bis hin zu dem eher die "Randzonen menschlichen Verhaltens" betreffenden "Problem des Nonkonformismus" (1962) und der Devianz. Vielmehr richtete sich das Erkenntnisinteresse Schelskys schon in seinen soziologischen Überlegungen der früheil Nachkriegszeit, wohl nicht zuletzt unter dem. Eindruck des Erlebnisses der "Unstabilität unserer eigenen sozialen Umwelt", ganz betont- auch hier eindeutig in Frontstellung gegen die an Marx und die marxistische Sozialphilosophie anknüpfenden Deutungen des Sozialen und die sich hierauf stützenden Handlungsabsichten - auf die einer empirischen Wirklichkeitserfassung schwerer zugänglichen Probleme einer kulturellen Überformung, Führung und Regelung menschlichen Verhaltens schlechthin. Im Hinblick auf die Einsicht, daß der Mensch "dem Zwang der Umweltgebundenheit und der Instinktstarre entronnen" ist, mit der Folge, daß er "über seine Antriebe in bewußten Handlungen verfügen" muß, gewinnen in der Tat die Probleme einer sozialen Normierung, Standardisierung und Stabilisierung menschlichen Verhaltens in einem "kulturellen Überbau von Institutionen" an kaum zu überschätzender Bedeutung, weil durch ihn die anderweitig ungesicherten und weitgehend unspezialisierten menschlichen Bedürfnisse von Verhaltensunsicherheiten entlastet werden. Die sozialen Institutionen übernehmen jedoch nicht nur die "Leistungen der Verhaltensorientierung, der Entlastung, der Außenstützung der Motivationen", sondern ermöglichen damit zugleich die "Voraussehbarkeit der Handlungsfolgen". Die kulturell und geschichtlich geprägte institutionelle Überformung des vom Einzelnen zu erlernenden menschlichen Verhaltens gehört somit, wie Sprache und Werkzeuggebrauch, zu den wesentlichsten "Kulturleistungen und Existenzerfordernissen" des Menschen. Eine auf empirische Wirklichkeitserfassung bedachte institutionelle Analyse der in einer Gesellschaft bestehenden sozialen Institutionen, zu der Schelsky mit seinen eingangs erwähnten Bestandsaufnahmen in hohem Maße beigetragen hat, vermag ferner zu zeigen, daß die institutionalisierte Deckung der zu konkreten Interessen umgeformten menschlichen Bedürfnisse in weiten sozialen Lebensbereichen offensichtlich nicht ohne eine mehr oder weniger "organisierte Gruppenstützung" auszukommen vermag, die sich, was die Entwicklung der modernen Gesellschaft angeht, letztlich in den alle Lebensgebiete .durchdringenden Organisationsformen einer Bürokratie niedergeschlagen hat. Die ständig wachsende Bürokratisierung mit ihren Tendenzen zur Schaffung von Ämterhierarchien, Instanzen und Dienstwegen und den
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hierfür benötigten, arbeitsteilig funktionierenden Apparaturen hauptberuflich tätiger Amtswalter und Angestellter im weitesten Sinne, die in den Dienst der Befriedigung von Lebensbedürfnissen und Interessen getreten sind, hat längst auf alle sozialen Einrichtungen übergegriffen. Das gilt für den Großbetrieb der Wirtschaft wie für die Organisation der Gewerkschaften und Parteien, für die Organisation der sich selbst verwaltenden Gemeinden wie des Staates, auch wenn wir uns daran gewöhnt haben, die Bürokraten in der Wirtschaft Manager, in den Gewerkschaften und Parteien Funktionäre und in Staat und Gemeinden Beamte und Angestellte des Öffentlichen Dienstes zu nennen. Für Schelsky sind infolgedessen die in der Genese und Entfaltung der "industriellen Gesellschaft" in Erscheinung getretenen, ihre weitere Entwicklung maßgeblich mitbestimmenden, im Detail sehr verschiedenen "kulturellen Strukturgefüge" vor allem zu begreifen als "soziale Superstrukturen", d. h. als "Institutionen und Organisationen", die zu kleineren Gruppen und Institutionen, wie der Familie, und zum "privaten und persönlichen Leben des Einzelnen" in einem sehr spannungsreichen Verhältnis stehen. Zu den als Institutionen begriffenen, großorganisatorischen "bürokratisierten Superstrukturen" zählt er die Großbetriebe wie das Versicherungswesen, die Parteiorganisationen wie die Regierungs- und Verwaltungsorganisation, aber auch die Betriebs- und Organisationsformen der Öffentlichkeit, wie der Medien und der Publizistik mit ihren eigenständigen sozialen und beruflichen Gruppierungen. Damit gewinnt der Begriff der Institution eine für die empirische wie für die theoretische Soziologie Helmut Schelskys zentrale Bedeutung. 5. Bezeichnenderweise hat Schelsky die Grundlegung seiner soziologischen Theorie der Institution von Anfang an in den - hier zur Erörterung stehenden - Zusammenhang von Politik und Recht gestellt. Das wird vor allem deutlich in seinem im Januar 1949 vor der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Harnburg gehaltenen Vortrag "Über die Stabilität von Institutionen, besonders Verfassungen", in dem er "am Beispiel der modernen Staatsverfassung", die der Rechtstheorie wie der juristischen Staatslehre geläufige Dialektik von Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit aufnehmend, die Frage nach den sozialen Bedingungen der Stabilität bzw. Unstabilität moderner Staatsverfassungen stellte. Indem er in seinem soziologischen Erklärungsversuch die Frage "nach den speziellen Stabilitätsfaktoren eines bestimmten sozialen Systems" durch Bezugnahme auf "den Bestand anderer Institutionen oder Organisationen und ihrer Verhältnisse zueinander" zu klären suchte, konnte er den Nachweis führen, daß auch die "sogenannten Machtverhältnisse und politischen Kräfte", von deren Bestehen üblicherweise die "Dauerhaftig-
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keit einer geschriebenen Verfassung" abhängig gemacht wird, ihrerseits "nur als institutionelle Fakten oder als das Verhalten von Menschen in sozialen Systemen und Institutionen zu erfassen" sind. Bei dem Versuch, im Hinblick auf die wechselseitige Verflechtung verschiedenster Institutionen den gemeinsamen anthropologischen "Untergrund sowohl der individuellen als auch der sozialen Handlungsweisen des Menschen und ihrer Verhältnisse zu den Gebilden der Kultur", insbesondere "zu den sozialen Institutionen" freizulegen, gelangte er zu der Einsicht, daß die soziologische Frage "nach den Stabilitätsfaktoren geordneter sozialer Systeme" den Bereich dieses Wissenschaftsgebiets überschreitet. "Wie die verfassungstheoretische Frage nach der Stabilität der geschriebenen Verfassung auf die soziologische Betrachtung der ungeschriebenen Verfassungen und realen Machtzustände zurückverweist, so gerät die Soziologie ihrerseits in der Forschung nach den allgemeinen Beständigkeitsfaktoren der von ihr beschriebenen sozialen Gebilde auf außersoziologische Ursachen des menschlichen Verhaltens, wie sie die Anthropologie, Psychologie oder Biologie zu erfassen versucht." Auch bezüglich der anderen, mit dem menschlichen Handeln befaßten Fachwissenschaften macht Schelsky somit die Grenzen soziologischer Theoriebildung deutlich. Im Zentrum seiner soziologischen Arbeit sowie der theoretischen Grundlegung seiner Soziologie stand jedoch- und das ist in der Tat charakteristisch- von Anfang an, wie er im Untertitel seiner Abhandlung selbst hervorhebt, ein Beitrag "zu einem rechtssoziologischen Thema". Erst nach fast 20jährigen, einer konsequenten Wirklichkeitserfassung auf fast allen sozialen Lebensbereichen gewidmeten, empirischen wie theoretischen Vorarbeiten hat Schelsky neuerdings in seiner Abhandlung "Zur soziologischen Theorie der Institution" (1970) ein weiteres "Fragment einer Theorie der Institution" vorgelegt mit dem Ziel, es "in die vorhandenen soziologischen Theorien" einzuordnen. Wegen der bereits erwähnten Vielschichtigkeit aller sozialen Institutionen, die in ihrer Struktur und Funktion von den - aufgrund der traditionellen Kompetenzverteilung unter den beteiligten Fachwissenschaften tätig werdenden- Einzelwissenschaften bislang alles andere als hinreichend erforscht sind, dürfte es nützlich sein, eigens zu betonen, daß es sich dabei um eine soziologische Theorie handelt, die offenläßt, "ob es überhaupt eine interdisziplinäre Theorie der Institution geben kann und wie diese gegebenenfalls aussehen könnte". Auch begreift der Autor seinen Denkansatz lediglich als eine Theorie, ohne auszuschließen, daß andere Theorien neben ihr Relevanz besitzen. Mit seiner soziologischen "Theorie der Institution" verbindet Schelsky ferner keinerlei Universalitätsanspruch, insbesondere nicht den "Anspruch, die Institution als ,das Element schlechthin' oder die grundlegende ,Einheit' der sozialen
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Wirklichkeit" anzusehen. Daß es sich hingegen bei seiner Soziologie ihrem Anliegen nach um eine Form der systematischen Theorie handelt, daran kann kein Zweifel bestehen. In eben dieser Form gewinnt seine soziologische Theorie der Institution auch Relevanz für seine Soziologie des Rechts. 6. Erblickt man das fachliche Anliegen der Soziologie mit Schelsky darin, durch Erfahrungsanalyse die konkrete soziale Wirklichkeit zu erfassen, d. h. "das soziale Verhalten der Menschen und ihre Institutionen wissenschaftlich zu erkennen", so kann diese Aufgabe sowohl in der Form empirischer Sozialforschung als auch der systematischen Theorie bewältigt werden. Das führt bezüglich des Aufbaus und Ausbaus einer Soziologie des Rechts zu der von Schelsky getroffenen, in Forschung und Lehre auch stets beherzigten Unterscheidung zwischen einer empirischen und einer theoretischen Rechtssoziologie. Im Sinne dieser leicht mißverständlichen, im obigen Zusammenhang aber schon erläuterten Unterscheidung von soziologischer Empirie und Theorie als "verallgemeinerter Empirie" wird man den Schwerpunkt seiner Soziologie des Rechts ganz sicherlich vor allem im Bereich theoretischer Rechtssoziologie zu erblicken haben. Darüber hinaus sind jedoch - was die Leistung seiner Soziologie insgesamt wie seiner Soziologie des Rechts angeht - auch die soziologischen Orientierungsbedürfnisse der Praxis und der praktischen Wissenschaften, wie etwa diejenigen der praktischen Rechtswissenschaft, zu bedenken. Diese treten heute vor allem, wie Schelsky wiederholt dargelegt hat, in der Nachfrage nach einem fächerübergreifenden, praktischen "Orientierungswissen" in Erscheinung. So fraglos legitim gerade diese letzte Aufgabe der Soziologie erscheinen mag, umso mehr fragt es sich, ob die Soziologie gegenwärtig überhaupt in der Lage ist, sie praktisch zu erfüllen. Die Stellungnahmen des Soziologen Schelsky sind gerade in diesem für die übrigen Handlungswissenschaften wie für die soziale Praxis höchst relevanten Punkt so selbstkritisch wie skeptisch. Seine Kritik an einer Rechtssoziologie, die "ihren Gestaltungsanspruch für die gesamte Rechtswissenschaft anmeldet" und durchzusetzen sucht, stellt er in den allgemeinen Zusammenhang der Kritik an einer Soziologie, welche "Anspruch auf eine Erkenntnis und Erkenntnisvermittlung (erhebt}, die sich nicht auf den Kreis der Wissenschaftler beschränkt" und insofern "auf wissenschaftliche Beweiswürdigung oder gar wissenschaftliches Problemverständnis angewiesen" bleibt, sondern einen "allgemeinen Aufklärungsanspruch" stellt. Sie richtet sich infolgedessen nicht gegen "die Theoretiker der modernen Soziologie wie Parsans oder Popper, in Deutschland Luhmann oder Albert", wohl
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aber gegen eine Soziologie, die den Anspruch erhebt, als eine das praktische Handeln beherrschende "Bewußtseinsführungswissenschaft" zu fungieren. Die theoretische wie praktische Reichweite und Relevanz seiner Kritik wird deutlich, wenn man bedenkt, daß heute "alle weltanschaulich-totalitären sozialistischen Staaten mit soziologischen Gedankensystemen beherrscht" werden. Aber auch in der amerikanischen wie der westeuropäischen Gesellschaft ist die Soziologie insofern längst zur "Schlüsselwissenschaft" des 20. Jhdts. avanciert. Die Gefahr, in die eine derartige Soziologie gerät, erblickt Schelsky darin, daß sie sich - "über ihre fachlichen Erkenntnisse hinaus" - zu einem das menschliche "Selbstbewußtsein" zunehmend beherrschenden "Erkenntnismittel des Lebenssinnes" entwickelt. Es geht dabei gar nicht primär um die- durch die binnenwissenschaftlichen Schulstreitigkeiten mitbedingten - Richtungskämpfe innerhalb der westdeutschen Soziologie, die auch die praktische Brauchbarkeit ihrer Ergebnisse beeinträchtigen, vor allem dann, wenn sie schon vom Forschungsansatz her "engagementhaft" verpflichtet sind. Auch handelt es sich nicht allein und nicht vorrangig um die Gefahren einer "Verfälschung der wissenschaftlichen Soziologie zur sozialen Heilslehre". Vielmehr geht es Schelsky, wie er in seiner Abhandlung über "Die metawissenschaftlichen Wirkungen der Soziologie" (1977) deutlich macht, um die "Thematisierung des Zeitbewußtseins auch durch die durchaus wissenschaftlich bleibende Soziologie". Ist seine Analyse zutreffend - und manches spricht in der Tat für ihre Zeitrichtigkeit -, dann wird "in den Begriffen und Problemen dieser Wissenschaft das kollektive und das individuelle Selbstverständnis der Zeit gefunden, dann werden in dem Medium der Problemstellungen dieser Wissenschaft die kollektiven und individuellen Lebensziele und Sehnsüchte formuliert, dann leiten sich von ihr Handlungsformen und moralische Zurechnungen ab, vor allem aber definiert sie die Konflikte im sozialen Zusammenleben und in der Brust der Menschen". Das Prekäre dieser Entwicklung erblickt er in dem hierdurch bedingten, sich zugleich vollziehenden "Abbau der Bewußtseinssicherheiten und Sinnhorizonte", mit denen der "in unserer Kultur handelnde Mensch" bisher rechnen konnte. Was sollen wir also tun? Eine "dagegen kritische Soziologie", so lautet die vorläufige Antwort Schelskys, "müßte eine fachwissenschaftliche Disziplin sein, die sich in ihrer Anwendung im Praktischen bewährt, dabei aber gleichzeitig die Grenzen der soziologisch gesteuerten Praxis, also der ,manipulierenden' Wirksamkeit von Sozialwissenschaften, und zugleich den Bereich des sozial nicht Gestaltbaren, die Position der Freiheit vom Sozialen, erkennt und durchsetzt". Eine derartige Soziologie ist in der Tat ein "Desiderat" sozialwissenschaftlicher Forschung. Aber wäre sie überhaupt Soziologie? Auch fragt es sich, von welchem Standpunkt aus Ill Festschritt für Helmut Schelsky
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eine derartige "Kritik" heute noch zu leisten wäre. Kein Zweifel, daß in der Reflexion auf einen derartigen Standpunkt nicht bloß die Soziologie - und mit ihr eine Soziologie des Rechts -, sondern auch die Grundlagen des Rechts und der Rechtswissenschaft in Frage stehen. 7. Die damit aufgeworfene Frage, ob die Entwicklung einer derartigen kritischen Soziologie überhaupt als wissenschaftliche, insbesondere als soziologische Aufgabe angesehen werden kann, hat Schelsky sehr eingehend geprüft. Seine insoweit über eine bloß empirische bzw. systematische Analyse hinausgehende Soziologie ist kritisch in dem Sinne, daß sie - jenseits einer bloß teilstückhaften, kultur- oder zeitkritischen, mit Wertsubjektivismen verbundenen "materiellen Analyse" - zu einer näheren Bestimmung "der Bedingungen des soziologischen Denkens und der Wirklichkeit, die wir als das Soziale in diesem Wissen erfassen", zu gelangen sucht. Indem er sich bemüht, auf die "Denkvoraussetzungen der Soziologie" zu reflektieren, verfolgt er ein Anliegen, das "das soziologische Denken selbst" überschreitet, doch handelt es sich dabei zweifellos um ein wissenschaftliches Unterfangen. Schließlich geht es um die "Erkenntnisvoraussetzungen" seiner eigenen Fachwissenschaft "in ihrer Vereinzelung". Die Denkvoraussetzungen der Soziologie als Fachwissenschaft zu reflektieren und zu begründen, ist sicherlich nicht bloß ein "legitimes wissenschaftliches Anliegen, sondern eine notwendige wissenschaftliche Aufgabe". Und endlich ist eine kritische Analyse der Erkenntnisvoraussetzungen von Soziologie selbst Soziologie. Zwar könnte man mit Grund insoweit von einer "Philosophie der Soziologie" sprechen, doch wäre es verfehlt, die hier aufgeworfenen Fragestellungen unter Berufung auf diese Namensgebung in die Philosophie abzuschieben. Sie sind, wie Schelsky sehr treffend bemerkt, heute "den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen selbst auferlegt", denn "nur jede Disziplin selbst, die diese Denkweise materiell entwickelt und beherrscht, (kann) die jeweilige Sache und ihre Erkenntnis auch zum Gegenstand einer erkenntnistheoretischen Analyse machen". Er reagiert damit auf die Tatsache, daß dieses genuin "philosophische" Anliegen längst aus dem Fach "Philosophie" ausgewandert ist. In der Tat sollte heute keine Fachwissenschaft von Gewicht diese vormals philosophische Aufgabe vernachlässigen. Kritische Soziologie erschöpft sich für Schelsky jedoch nicht in bloßer Wissenschaftsmethodologie und Erkenntnistheorie. Indem er "auf die ,Bedingungen' dieses soziologischen Denkens und des in ihm Gedachten" zu reflektieren sucht, gelangt er nicht nur zur Erörterung von Sinn und Grenzen des "soziologischen Denkens" selbst, sondern auch von "Sinn und Grenzen des Sozialen", das in diesem Denken gedacht
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und bedacht wird. Die heute sichtbaren Leistungsgrenzen der Soziologie als einer Fachwissenschaft - neben anderen - legen es nahe, in ihr einen "Denk- und Forschungsaspekt" zu erblicken, "den man auf die Gegenstände aller anderen Wissenschaften mehr oder weniger zusätzlich zu richten" vermag. Die Entwicklung einer kritischen Soziologie ist daher für Schelsky seit jeher vor allem die Begründung einer "kritischen Theorie des Sozialen". Durchaus im Sinne der "Kritiken" Kants sucht er die Bedingungen eines soziologischen Denkens und seiner soziologischen Wirklichkeit zum Gegenstand einer kritischen Reflexion zu machen. Um angesichts der inflationären Verwendung der Begriffe "kritisch" und "Theorie" der Verwechslungsgefahr zu begegnen, hat Schelsky in seiner "Ortsbestimmung der deutschen Soziologie" zur Kennzeichnung seiner kritischen Theorie des Sozialen von einer "transzendentalen Theorie der Gesellschaft" gesprochen. Wie schon in Kants "Kritik der reinen Vernunft" bzw. in seinen "Prolegomena" bedeutet auch hier das Wort "transzendent" bzw. "transzendental" durchaus "nicht etwas, das über alle Erfahrung hinausgeht". Schelskys kritische "Theorie der Gesellschaft" ist "transzendental" nur im Hinblick auf das "Verhältnis dieser ,Theorie' zur empirischen Analyse als Einzelforschung und als System der allgemeinen Soziologie". Seine "transzendentale Theorie" überschreitet beide, setzt aber zugleich "beide insofern voraus, als sie die ,Bedingungen' dieses soziologischen Denkens und des in ihm Gedachten" zu erörtern sucht. Das bedeuet, daß das Werk der Soziologie als Fachwissenschaft in der Form der empirischen Wirklichkeitserfassung wie der systematischen Theorie zunächst getan, d. h. "vorhanden und durchgeführt" sein muß, "ehe sie Gegenstand dieser transzendentalen Theorie der Soziologie" werden kann. Insofern bestärken sich "analytische und transzendentale Theorie" gegenseitig, anstatt sich aufzuheben oder auszuschließen. Eine kritische Soziologie, die auf der Grundlage empirischer Wirklichkeitserfassung die "Grenzen" soziologischen Denkens und des in ihm Gedachten reflektiert, unternimmt nicht mehr und nicht weniger als "das gesamte Welt- und Seinsverständnis der soziologischen Denkprinzipien und Kategorien" transparent und damit "kritisch distanzierbar" zu machen. Das bedeutet - über das Anliegen einer bloßen Wissenssoziologie hinausgehend - die in den soziologischen Grundbegriffen und ihrer Verwendung getroffenen "definitorischen Bestimmungen aufzuschließen für die Einsicht der darin liegenden sozialen Entscheidungen, Seinsformen und damit Wert- und Sinngebungen nicht nur des Sozialen, sondern des menschlichen Lebens überhaupt". Daß die Begriffe und Denkweisen einer empirisch-analytischen Soziologie "einen solchen Hintergrund überhaupt nicht hätten", hält er mit Grund für die Naivität einer "Erfahrungswissenschaft Soziologie", die
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solche Fragen "nicht stellt bzw. definitorisch als unsoziologisch" nicht zuläßt. Wer sich auf diese Weise im Blick auf das soziale Verhalten der Menschen und ihre Institutionen in kritischer Reflexion auf die Grundlagen und Grenzen empirischer Wirklichkeitserfassung auch der "sinn- und werthaften Voraussetzungen" zu vergewissern sucht, auf denen die geschichtlich-kulturell geprägten "Bewußtseinssicherheiten und Sinnhorizonte" des erlebenden und handelnden Menschen vor jedem empirisch-analytischen Zugriff immer schon basieren, nimmtwie in der kritischen Selbstreflexion sichtbar wird- einen "außerhalb der als Soziologie definierten Sinnebene" liegenden "Standpunkt" ein, ohne ihn damit als auch ihn verpflichtend zu akzeptieren oder stillschweigend zu billigen. Indem er sich - in Ermangelung einer für Zwecke der kritischen Selbstreflexion erst noch zu etablierenden erkenntniskritischen Tabula rasa - in kritischer Reflexion auch auf diesen institutionell schon mitbesetzten, d. h. sinn- und werthaft mitbestimmten "Standpunkt" einläßt, wird es überhaupt erst möglich, die "Sinnfrage des Sozialen" als solche aufzuwerfen. Wer versucht, das gesellschaftliche Leben im Hinblick auf den vom Menschen selbst gesetzten "Sinn" gedanklich zu durchdringen - und vor dieser Aufgabe steht heute unzweifelhaft nicht nur die Rechtssoziologie, sondern vor allem auch jede praktische Wissenschaft, insbesondere die praktische Rechtswissenschaft -, muß die Frage nach dem Sinn des sozialen Daseins thematisieren. Die Soziologie Schelskys wirft sie nicht unkritisch auf, d. h. nach Art eines mehr oder weniger verschleierten Plädoyers für den bereits sozial etablierten Sinn, für den als fraglos richtig akzeptierten sozialen Status quo. Kaum jemand hat sich, um mit Schumpeter zu formulieren, entschiedener und eindeutiger von allen Bestrebungen abgesetzt, "im Kleid des Analytikers zu predigen und mit einem Blick auf die Bedürfnisse des Herzens zu analysieren". Schelskys Soziologie ist als "Theorie der Gesellschaft" kritisch genau in dem Sinne, daß sie selbst "sinnkritisch" zu verfahren sucht. In Abgrenzung von den Versuchungen einer "sozialen Utopie" einerseits und den Gefahren, andererseits in bloß "gesellschaftspolitische Anweisungen" abzugleiten, unternimmt sie den Versuch einer "Ordnungs- und Freiheitsdeskription". Infolgedessen ist das Forschungsdesign seiner "sinnkritischen Theorie der Gesellschaft" vor allem gekennzeichnet durch das Bestreben, die überaus vielschichtige Problematik der Freiheit des Menschen zu thematisieren als Frage nach der Möglichkeit seiner Freiheit "von der Gesellschaft". Indem sie dieses Thema als Problem menschlicher Freiheit "gegenüber der Gesellschaft" zu bestimmen sucht, kann die Frage nach dem "Sinn der ,Gesellschaft'", die den jeweils sozial etablierten "Sinn" selbst in Frage stellt, "sinnkritisch" formuliert werden. In dem Maße, in dem
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die kritische Soziologie Schelskys zu einer "Explikation der Bestimmungen der Freiheit des Menschen von der Gesellschaft" vorzudringen vermag, wird es ihr möglich, zu einer "sinnkritischen", d. h. "auch wertenden Reflexion des sozialen Gesamttatbestandes (zu gelangen), wie er von der empirischen und analytischen Soziologie erkannt und gedacht ist". Gegenüber der bisweilen feststellbaren "naiven Selbstzufriedenheit" einer "nur empirischen und analytischen Soziologie" hat Schelsky diesen Anspruch seiner kritischen Theorie der Gesellschaft in einer Vielzahl von Veröffentlichungen stets wachgehalten und verteidigt. Aus seiner sinnkritischen Problemempfindlichkeit und dem ihr zugrunde liegenden theoretisch-praktischen Problembewußtsein beziehen eine Reihe von Publikationen, vor allem die in "Systemüberwindung, Demokratisierung und Gewaltenteilung" (1973) abgedruckten, in denen der "lange Marsch durch die Institutionen" analysiert wird, und die in "Der selbständige und der betreute Mensch" (1976) zusammengefaßten politischen Schriften und Kommentare - jenseits aller bloß exemplarischen, aktualisierenden und konkretisierenden Polemik - ihren letztlich "sinnkritisch" motivierten und legitimierten Anspruch. Aus eben dieser Quelle speist sich auch der in seinem Werk allenthalben deutlich werdende, in seiner kritischen Theorie der Gesellschaft begründete Soupeon gegen alle Vorstellungen und Handlungstendenzen, in denen allzu unkritisch die "Planbarkeit", "Regierbarkeit" und mit ihr die Verfügbarkeit der Gesellschaft als ganzer propagiert wird. Die Leistung seiner sinnkritischen Theorie der Gesellschaft wird in vollem Umfange erst deutlich, wenn man - im Hinblick auf die Bewußtseinsbedürfnisse und Bewußtseinsansprüche der modernen Gesellschaft den Grad der durch sie ermöglichten kritischen Selbstreflexivität menschlichen Denkens und Handeins mit dem Entwicklungsstand zu vergleichen sucht, den eine von dieser "Art Kritik" befreite, bloße "Anwendung oder Gelebtheit" der Sinnentscheidungen des sozialen Lebens mit sich brächte. Es wäre ein arges Mißverständnis, in Schelskys sinnkritischer Theorie der Gesellschaft den Versuch der Begründung einer normativen Soziologie zu erblicken, die etwa in der Parteinahme für den jeweils sozial etablierten "Sinn" ein bestimmtes "System der richtigen Gesellschaft" zu rechtfertigen und zu ·legitimieren versuche. Indem seine kritische Soziologie "die Frage der Sinngebung des Sozialen und damit die Formen der Freiheit des Menschen von der Gesellschaft, aus denen heraus diese Sinnentscheidungen getroffen werden", "zur reflexionstheoretischen systematischen Überlegung erhebt", macht sie sich von einer kritiklosen Bejahung oder Verneinung der normativen Strukturen des etablierten Gesellschaftssystems, insbesondere des staatlich organisierten politischen Systems unserer Gesell-
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schaft, prinzipiell unabhängig. Infolgedessen kann Schelskys kritische Theorie auch nicht als normpräskriptiv, sondern nur als normdeskriptiv begriffen werden. Das zentrale Thema und Problem seiner "Ordnungs- und Freiheitsdeskription" bleibt - und hier verbindet sich seine "Theorie der Gesellschaft" mit der von ihm systematisch entwickelten "Theorie der Institution" - das stets prekäre Verhältnis, in dem unter der Bedingung der in der modernen Gesellschaft sich ständig steigernden Bewußtseinsbedürfnisse und Bewußtseinsansprüche gerade unter dem Aspekt möglicher "Sinngebung" des Sozialen "die Subjektivität und die Institutionen" zusammengefallt werden. Unter diesem Aspekt wird seine kritische Soziologie auch relevant für den Aufbau und Ausbau seiner im übrigen systematisch entwickelten Soziologie des Rechts. IV. 1. Bedenkt man, daß das Recht den Menschen in seinem Erleben und Handeln gleichsam von der Wiege bis zur Bahre begleitet und daß es vom Einzelnen aus gesehen - gewöhnlich nicht erst von ihm erfunden zu werden braucht, sondern ihm in den sozialen, kulturell und geschichtlich geprägten Institutionen immer schon als Ergebnis sinnkonstituierender Aktivitäten vorangehender Generationen mit spezifischen, auch normativ geprägten Bewußtseinsansprüchen gegenübertritt, so wird deutlich, daß eine auf empirischer Erfahrungsanalyse basierende Soziologie des Rechts von vornherein bei ihrer empirisch analytischen und systematischen Wirklichkeitserfassung genau diesen Zusammenhang von bereits sozial etablierten Institutionen und den ihnen zugrunde liegenden, auch normativen Orientierungen der Moral wie des Rechts in Ansatz zu bringen hat. In eben diesem Anliegen verbinden sich für Schelsky nicht nur empirische Wirklichkeitserfassung und seine systematische, d. h. als allgemeine "Theorie der Institution" entwickelte Soziologie, sondern auch seine allgemeine Soziologie mit seiner Soziologie des Rechts. Anders als beispielsweise die Familien-Soziologie oder die Betriebs-Soziologie ist für ihn die Soziologie des Rechts keine der sogenannten "Bindestrich-Soziologien", d. h. das Recht ist für ihn "nicht nur der Gegenstand einer ,speziellen Soziologie' ". Ebensowenig gewinnt Schelsky den Ansatz seiner Soziologie des Rechts etwa dadurch, daß er seine soziologische "Theorie der Institution" in einem Schritt abstrahierender Verallgemeinerung auf das Recht zu übertragen und damit dem Recht gleichsam von außen her überzustülpen versucht. Wie schon die Genese seiner Soziologie deutlich macht, entwickelte er - genau umgekehrt - von Anfang an seine soziologische Theorie exemplarisch an "einem rechtssoziologischen Thema".
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Wer auf dem Weg "Über die Stabilität von Institutionen, besonders Verfassungen" (1949) zu einer Theorie der sozialen Institutionen vordringt, indem er wie Schelsky am Beispiel der "Verfassungsleistungen von 1787, 1789 oder 1848" bis hin zur Konstituierung der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1949 den an bestimmte "soziale Bedingungen und Kräfteverhältnisse" gebundenen Staat "als Institution" begreift, um im Blick auf die mit Mitteln des staatlichen Verfassungsrechts gewährleistete und stabilisierte "Entwicklung der Staatsverfassung" der Hypothese nachzugehen, ob und inwiefern das "entwicklungsgeschichtlich spätere, aber höher organisierte System" eine "Steuerung der niederen, aber ursprünglicheren Bedürfnis- und lnstitutionssysteme" zu übernehmen vermag, für den gewinnt das im politischen System der staatlich organisierten Gesellschaft von Menschen für Menschen institutionell erzeugte, insofern freilich aber auch von mehr oder weniger autonomen, sinnkonstituierenden Entscheidungsaktivitäten abhängige Recht von vornherein eine für die moderne Gesellschaft kaum zu überschätzende, zentrale Funktion. Ein solches Denken, das die urkundlich verbürgte, in der Struktur des staatlichen Verfassungsrechts zum Ausdruck gelangende Konstitution als Institution auffaßt, hat in der Rechtswissenschaft seine - dem Nur-Soziologen wohl weniger bekannten, dem Juristen jedoch durchaus geläufigen - Wurzeln in einem nachpositivistischen, weit jenseits eines Gesetzes- und Rechtspositivismus angesiedelten Rechtsrealismus, welcher durchweg von der, auch einer empirischen Sozialforschung zugänglichen sozialen Wirklichkeit allen Rechts ausgeht. Daß man nicht bloß die Verfassung als ganze, sondern auch die in ihr verankerten "Grundrechte als Institution" begreifen kann, hat Niklas Luhmann -seinerzeit noch Abteilungsleiter in der von Schelsky geleiteten Sozialforschungsstelle an der Universität Münster, Sitz Dortmund, und Hochschullehrer der Universität Münster - in seinem gleichnamigen, im Jahre 1965 veröffentlichten, vielbeachteten Buch vom Standpunkt soziologischer Systemtheorie nachgewiesen. Die Abhängigkeiten eines auf die sozialen Institutionen gerichteten Denkens vom amerikanischen Pragmatismus (William James, John Dewey), von einer vergleichenden Ethnologie und Kulturtheorie (Bronislaw Malinowski, Margaret Mead, Ruth Benedict), aber auch und vor allem von der deutschen philosophischen Anthropologie (Max Scheler, Helmuth Plessner, Arnold Gehlen) und der Humanbiologie (z. B. Adolf Portmann) sowie der eher juristischen Institutionenlehre eines Maurice Hauriou hat Schelsky selbst in seiner schon 1949 erschienenen Abhandlung, aber auch seither zu wiederholten Malen offengelegt, so daß sich eine Rekonstruktion der Genese seiner Gedankengänge insoweit erübrigt. Tritt aber das Recht dem Menschen in den sozialen Institutionen immer schon entgegen- sei es
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als aufgegeben, sei es als zu gestaltendes -, dann kann eine zureichende soziologische "Theorie der Institution" nicht ohne eine Soziologie des Rechts formuliert werden. Damit wird seine Soziologie des Rechts konstitutiv für das System seiner Soziologie, d. h. eine systematische Theorie der Soziologie - was immer sie beinhalten mag - ist für ihn gar nicht denkbar ohne eine Soziologie des Rechts. Infolgedessen be-' greift Schelsky das Recht- m. E. mit Grund - als eine "soziale Erscheinung", die von vornherein "in den allgemeinen soziologischen Theorien berücksichtigt werden muß". Die "gegenwärtige soziologische Theorie" kann daher nach seiner Auffassung "ihre Einseitigkeit nur verlieren", "wenn sie die Bedeutung des Rechts für die Strukturgesetze der Gesellschaft angemessener erkennt" als bisher. 2. Um den Zugang zu Schelskys Soziologie des Rechts nicht zu ver-' fehlen, ist es wichtig, von vornherein den für seine Soziologie konstitutiven Zusammenhang seiner systematischen Theorie mit seiner Theorie des Rechts zu beachten. Diesen Zusammenhang hat Schelsky in den beiden, einander ergänzenden Abhandlungen "Zur soziologischen Theorie der Institution" (1970) und "Systemfunktionaler, anthropologischer und personfunktionaler Ansatz der Rechtssoziologie" (1970) herausgearbeitet. Mit dieser Verbindung seiner auf das soziale Verhalten der Menschen und ihre Institutionen gerichteten, systematischen Theorie und seiner soziologischen Theorie des Rechts beansprucht er keineswegs, die allgemeine Theorie zu schaffen. Mit ihr intendiert er zwar eine allgemeine Theorie, doch ist damit keineswegs die Auffassung verknüpft, "es könne eine ,allgemeine Theorie' der Gesellschaft oder gar des menschlichen Handeins überhaupt geschaffen werden". Vielmehr geht Schelsky - genau umgekehrt - von der forschungspragmatischen Annahme aus, "daß es stets eine Vielfalt von sozialwissenschaftlichen Theorieansätzen gibt und geben wird". Seiner Auffassung nach handelt es sich dabei jeweils um "aspekthafte TheorieSchnitte in die soziale Wirklichkeit", so daß die verschiedenen sozialwissenschaftlichen Theorien sich "in der Leistung der Wirklichkeitserkenntnis" ergänzen, aber nicht "zu einem Erkenntnissystem" konstituieren. Im Hinblick auf die unterschiedlichen "Ausgangspunkte" und die "theoretischen und praktischen Konsequenzen" soziologischer Theoriebildung unterscheidet er in seinem Versuch einer Typologie der "vorhandenen soziologischen Theorien" zwei "Theorieansätze", den "Ansatz vom Ganzen der Gesellschaft her" und den "Ansatz vom sozialen Handeln her". Während im ersten, von einem "Ganzen" der sozialen Wirklichkeit ausgehenden, Universalistischen Theorieansatz nach Auffassung von Schelsky "alles subjektive Handeln und zumeist auch das
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Individuum aufgehoben und in Seinsbezüge objektiviert" wird mit der Folge, daß diese Bezüge nur mehr "in ihren objektiven Zusamenhängen als ein strukturiertes System verstanden" werden, wird im zweiten, ;, von der handelnden Person her" und damit "vom Individuum her" denkenden, individualistischen Theorieansatz die "Erkenntnis auf ichsubjektive Bewußtseinshorizonte" beschränkt, weil hier der "Erlebnishorizont" des individuellen Subjekts durch "sein Bewußtsein (Motiv), sein Sinnverständnis und seine Sinngebung" das soziale Handeln bestimmt. In der seine Soziologie kennzeichnenden Verbindung seiner Theorie der Institution mit seiner Theorie des Rechts sucht Schelsky die Vorzüge dieser beiden, in ihrer Typik gekennzeichneten Theorieansätze zu nutzen, aber ihre Nachteile zu vermeiden. Indem er in seiner "Theorie der Institution" einerseits die Institution als ein "objektives Bezugssystem der sozialen Wirklichkeit", d. h. als ein "objektiv festgelegtes System sozialer Handlungen" oder - im Wortgebrauch verstehender Soziologie - als "objektivierten Sinn" begreift, entwickelt er seine "Theorie der Institution" zunächst selbst als "Teil einer System-Theorie", ohne freilich von der Gesellschaft als "einem sozialen System" auszugehen. Vom Ganzen her gedacht, sind die Institutionen für Schelsky "eine Art der ,sozialen Systeme'", "aus denen die Gesellschaft besteht". Wenn er gleichwohl, was die Wahl geeigneter Grundbegriffe systematischer Soziologie angeht, den Begriff der Institution dem Begriff des sozialen Systems vorzieht, so liegt das daran, daß für seine auf Erfahrungsanalyse und möglichst konkrete soziale Wirklichkeitserfassung bedachte Soziologie "der Abstraktionsgrad des Begriffs der ,Institution' geringer ist als der des ,sozialen Systems' und daher für manche soziologischen Erkenntnisabsichten geeigneter bleibt als das höchst abstrakte ,System'-Denken der modernen soziologischen Theorie". Demgegenüber sind für ihn "soziale Systeme" als "Teilerscheinungen der sozialen Welt" bloß "funktionale Abstraktionen, die möglicherweise entscheidende Wirklichkeiten in ihrem Abstraktionsvorgang fallen lassen". Darin liegt ganz offensichtlich eine partielle Absage an die Systemtheorie von Talcott Parsons, der er zum Vorwurf macht, die "Subjektivität des Individuums" fast völlig zum Verschwinden zu bringen, indem das Individuum entweder "zum leeren Tragkörper. funktionaler Bezüge oder zur Marionette sogenannter Normensysteme gemacht oder indem es selbst wieder als ,personales System' ausgefällt und in sich als bloße Funktionseinheit betrachtet" werde. Es wäre ein schweres Mißverständnis und hieße die Kritik Schelskys an Parsons' Systemtheorie verniedlichen, wenn man in seiner Argumentation lediglich - wie das bisweilen geschieht - ein verstecktes Plädoyer für den "ganzen Menschen" erblicken wollte. Solche Naivität
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verbietet sich nicht bloß deshalb, weil Schelsky wie in anderem Zusammenhang bereits deutlich wurde - seinen Denkansatz stets eindeutig gegenüber derartigen Positionen abgegrenzt hat. Denn das Problem auch seiner kritischen Soziologie war und ist von Anfang an "keineswegs die Frage, wie sich diese verschiedenen analytischen Abstraktionen des Menschen, die die empirisch-analytischen Fachwissenschaften vollziehen, zu dem ,ganzen Menschen' der Erfahrung verhalten"; vielmehr ist ihr Problem "die Bestimmung dessen, was sich im Menschen zu seinen ,sozialen Rollen' verhält oder was in ihm den von der Psychologie entdeckten Gesetzlichkeiten des Bewußtseins, Unterbewußtseins, Charakters usw. gegenübersteht". Infolgedessen läuft die Kritik Schelskys nicht darauf hinaus, nun etwa die "wissenschaftlichen Fachabstraktionen des Menschen zum ,integren ganzen Einzelnen'" zu synthetisieren, sondern sie besteht - ganz im Gegenteil - in einer "Durchleuchtung jener Fachabstraktionen durch eine reflektierende Abstraktion dessen, was am Menschen nicht in die vergegenständlichten Strukturen der empirisch-analytischen Denkebenen eingeht". Daß eine derartige Reflexion den ",ganzen Menschen' der Alltagserfahrung" überall dort, wo er auftauchen sollte, als eine "Fiktion" entlarven würde, hat Schelsky selbst stets deutlich gemacht. Abgesehen von seiner Kritik an der Einseitigkeit des systemtheoretischen Denkansatzes von Parsons nimmt Schelsky jedoch den objektivierenden Aspekt soziologischer Systemtheorie durchaus in seinen eigenen Denkansatz auf. Auch bestreitet er selbstverständlich nicht, daß- bei anderem Erkenntnisinteresse- dessen "Abstraktionshöhe, seine Konformität mit den theoretischen Ansätzen anderer Disziplinen, seine Technisierbarkeit usw." durchaus als "Vorzüge" anzusehen sind, die "hier nicht erörtert zu werden brauchen". Indem Schelsky jedoch andererseits seine Theorie der Institution auch unter dem Aspekt des individualistischen, d. h. "vom Individuum, von der handelnden Person her" denkenden Theorieansatzes überprüft, in der Absicht, mit seiner Theorie der Institution zugleich einen Beitrag zur "Theorie des sozialen Handelns" zu leisten, gelangt er - in Anknüpfung an und Auseinandersetzung mit Max Weber und Alfred Schütz- zu der Einsicht, daß alle "individualistischen" Theorieansätze, die ihren Ausgangspunkt ausschließlich "von der individuellen Ichbewußtheit her" wählen, wegen der in ihnen vorausgesetzten Einseitigkeit, die in der Beschränkung der Erkenntnis "auf ichsubjektive Bewußtseinshorizonte" liegt, heute "in der Tat nicht mehr aufrechtzuerhalten" sind. Damit wird jedoch auch der Versuch einer vom Individuum ausgehenden, handlungstheoretischen Begründung der Soziologie nicht schlechthin verworfen, sondern nur eine Kritik seiner Einseitigkeit geleistet. Im übrigen vertritt Schelsky jedoch die Auffassung, daß em "von den
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Subjektivitäten des "Ich-Du-Verhältnisses" ausgehendes, die "Ich-DuTheorie des sozialen Handelns" fortführendes Denken in der Soziologie "zu den noch nicht erfüllten Aufgaben des theoretischen Denkens" gehöre, so daß Max Weber und Alfred Schütz insoweit "noch weiterzuführen" seien. Auch ist Schelsky weit davon entfernt, den individualistischen Denkansatz in unzulässiger Weise zu verkürzen. Vielmehr weist er ausdrücklich darauf hin, daß sich im übrigen auch der individualistische Theorieansatz längst "abstrahiert und generalisiert" habe mit der Folge, daß "sowohl in der Tiefenpsychologie und ihren wissenschaftlichen und ideologischen Nachfolgeerscheinungen als auch in der kulturellen und philosophischen Anthropologie" das Individuum längst "seiner ,Bewußtheits'-Dominanz und -Kennzeichnung entkleidet" worden sei. In dem Maße, in dem aber das Individuum im Hinblick auf die Erkenntnisse von Psychologie und Anthropologie wissenschaftlich "zur Kategorie ,Der Mensch' generalisiert" werde, könne von einer "Überlegenheit" des Universalistischen Denkansatzes nicht mehr die Rede sein. Die weiterführende Einsicht liegt für Schelsky in der Erkenntnis, daß beide "Theorietypen", der Universalistische "auf der Grundlage der generalisierten Kategorie ,Das System' " und der individualistische "auf der Grundlage des generalisierten Begriffes ,Der Mensch'", bei aller Unterschiedenheit letztlich "das soziale Handeln erklären" wollen. Schließen aber beide Denkansätze einander nicht aus, weil sie zueinander im Verhältnis der "Komplementarität" stehen, dann kommt es für eine soziologische Theorie der Institution entscheidend darauf an, beide Theorieaspekte miteinander zu verbinden. In dem Problemaufriß seiner "Theorie der Institution", deren detaillierte Darstellung im vorstehenden Zusammenhang keiner Wiederholung bedarf, geht Schelsky von einer notwendigen "Dreiteilung der Institutionenlehre" aus, indem er die Institutionen im Hinblick auf eine organisierte Gruppenstützung des menschlichen Verhaltens "von ihrer sozialen Organisationsgesetzlichkeit", "von der Bedürfnisstruktur des Menschen", aber auch von den die Institutionen "leitenden und beherrschenden Ideen her" zu erklären sucht. Im Blick auf die Relevanz der beiden, von ihm analysierten Theorietypen stellt er dabei das "spannungshafte Verhältnis zwischen individueller Subjektivität und sozialer Objektivität" in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Begreift man auch die ständig wachsenden Bewußtseinsansprüche als "Bedürfnisse" des Menschen, dann geraten in der Tat, wie Schelsky in seinen empirischen Bestandsaufnahmen sozialer Institutionen wiederholt nachgewiesen hat, diejenigen sozialen Institutionen, die sich nach wie vor auf ein naives "Programm- und Ideenbewußtsein" zu stützen suchen, in sehr prekäre Bestandsprobleme, wenn der Prozeß einer kritischen Veränderung der menschlichen Selbstbewußtheit auf ihre Leit- und
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Zielbilder überzugreifen beginnt. Unter der Voraussetzung eines Wandels der "Bedürfnisse des menschlichen Selbstverständnisses" hat Schelsky deshalb schon 1949 die Bedingungen der Stabilität sozialer Institutionen darin erblickt, "daß in ihren bewußten Leitbildern und Zielvorstellungen, ihren Ideologien und Programmen, eine zusätzliche Oberschicht von kritisch-analytischen Bewußtseinsbedürfnissen Befriedigung und Halt finden muß, ohne daß die das Motivbewußtsein bindenden Formen der Institution dadurch ihre Funktion einbüßen". Zu den "Grundlagen" einer stabilen Institution gehöre nicht nur ein "motivstarkes Rechts- und Programmbewußtsein", sondern auch die "Möglichkeit selbstkritisch-analytischer Kontrolle". Infolgedessen haben nur diejenigen Institutionen, die diese "neuen Bedürfnisgrundlagen" berücksichtigen, Aussicht auf Bestand. Daher erblickt Schelsky heute mit Grund in der Erörterung des "Verhältnisses zwischen kritischreflektierender Subjektivität und dem Anspruch der Institutionen" den seine Theorie der Institution "abschließenden und krönenden Gedankengang". 3. Was das Verhältnis von Institution und Recht angeht, so gehört Schelsky durchaus nicht zu denjenigen soziologischen Theoretikern, die der allzu stark vereinfachenden Annahme huldigen, "Institutionen sind oder schaffen Recht". Vom Standpunkt einer systematischen Soziologie, die von vornherein ihre Theorie der Institution mit ihrer Theorie des Rechts verbindet, weil sie "die Bedeutung des Rechts für die Strukturgesetze der Gesellschaft" in das Zentrum ihrer Überlegungen stellt, muß eine derartige Auffassung als abwegig erscheinen. Sie ist auch nicht durch die "Tatsache" zu rechtfertigen, daß "heute keine Institutionen ohne Recht auffindbar" sind. Mit Grund hat Schelsky daher vor einer "vorschnellen Identifikation beider Erscheinungen" gewarnt. Sind Institutionen und Recht aber nicht identisch, so stellt sich- vom Denkansatz einer soziologischen Theorie der Institution und des Rechts her - die Frage, welche Funktionen das Recht in einer Gesellschaft besitzt, die aus einer ganz bestimmten "Art der ,sozialen Systeme'", nämlich aus "Institutionen", besteht. Mit dieser Fragestellung ist das zentrale Thema und Problem der Soziologie Helmut Schelskys, d. h. seiner soziologischen Theorie der Institution wie des Rechts, erreicht: "Die Funktion des Rechts in der 'modernen Gesellschaft" (1970). Die bereits skizzierte "Dreiteilung" seiner Institutionenlehre wiederaufnehmend, erblickt er seine Aufgabe darin, die verschiedenen "theoretischen Ansätze der Rechtssoziologie" zunächst einmal auf die hier implizierten "Funktionsbegriffe" zu befragen, indem er den "wissenstheoretischen Ansatz der jeweiligen funktionalen Analysen" untersucht. Allein von diesem Erkenntnisinteresse her ist - und bereits hier liegt der Anlaß für häufige Mißverständnisse!- der Titel und das
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"Erkenntnisziel" seiner dreiteiligen Abhandlung "Systemfunktionaler, anthropologischer und personfunktionaler Ansatz der Rechtssoziologie" (1970) zu begreifen. Es gilt somit, will man sich überhaupt auf seinen Denkansatz einlassen, vor allem das Mißverständnis zu vermeiden, es handle sich in diesem Beitrag um "eine die konkreten Erscheinungen des Rechts materiell erfassende Analyse". Wie Schelsky ausdrücklich betont, ist eine derartige materielle "Analyse der Funktionen des Rechts" gerade hier nicht beabsichtigt. Es geht ihm in dieser Abhandlung zunächst einmal "nur" darum, überhaupt "erst den begrifflichen Rahmen der verschiedenen Funktionsanalysen des Rechts zu ziehen". Insofern verbleibt seine Untersuchung durchaus - bewußt und gewollt - "im Vorfelde einer materiellen oder empirischen Rechtssoziologie". Jedoch versucht Schelsky auf diese Weise, eine "Brücke" zu schlagen "zwischen dem analytischen Vorgehen der Soziologie und dem sich ,normativ' bestimmenden juristischen Verständnis des Rechts". Seine typisierende Unterscheidung zweier, "vom Ganzen der Gesellschaft" bzw. "von der handelnden Person her" denkender, soziologischer Theorieansätze wiederaufnehmend und fortführend, weist er zunächst nach, daß jeder Ansatz eine "eigene, zum anderen sich gegensätzlich, ja oft sich ausschließend verhaltende Perspektive in der Problematisierung der betreffenden Erscheinungen der sozialen Wirklichkeit" entwickele und daß "diese Gegensätzlichkeit der Gesichtspunkte" bei einer denkkonsequenten Verfolgung des jeweiligen Theorieansatzes "zu antagonistischen Problem- und Kategoriensystemen" führe. In kritischer Auseinandersetzung mit den vorhandenen rechtssoziologischen Theorieansätzen geht er zunächst der Frage nach, ob bzw. inwiefern sich auch hier die obige "Typologie" von Denkansätzen nachweisen lasse und sucht "am Ansatz der rechtssoziologischen Funktionstheorie" zu belegen, daß "ein universalistischer oder ein individualistischer Theorieansatz zu verschiedenen Begriffen der sozialen Funktion" und demzufolge auch zu unterschiedlichen Begriffen der Funktion des Rechts führe. In seiner Auseinandersetzung mit Parsons und dessen Schüler Bredemeier, deren systemfunktionalen Ansatz einer Rechtssoziologie er als "idealtypisches Modell einer systemfunktionalen Analyse des Rechts" begreift, gelangt Schelsky zu dem Ergebnis, daß eine universalistische, systemfunktionale Analyse des Rechts sich vor allem in der Untersuchung erschöpfe, "welche Leistungen das Recht. für das Funktionieren des sozialen Systems als Ganzem erbringt". Infolgedessen erscheine das handelnde Individuum in diesen Analysen entweder als Normadressat in dem Sinne, daß es die "vom Recht produzierten und vertretenen Normsysteme (Legitimationen, Interpretationen, Entscheidungen, Sanktionen usw.) passiv als Motive seines Handels aufnimmt", oder als bloßer Konfliktträger, durch dessen
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"aus der Natur der Individuen und ihrer Interessen" bestimmtes Handeln es zu Konflikten komme, die ihrerseits "nur als Auslöser für die institutionellen Prozesse des Rechts" dienen, d. h. "zu normativen Systementscheidungen führen, die wiederum als Handlungsmotive dem Individuum auferlegt werden". Daher trete in der systemfunktionalen Analyse - so folgert Schelsky - das Recht "dem Individuum entgegen". Seine Funktion werde vornehmlich in der Leistung erblickt, ein möglichst konfliktfreies Funktionieren des Systems als Ganzen zu gewährleisten, an der das Individuum in einer "produktiven Kooperation" lediglich als "Teil des Systems" teilnimmt. Auch hier ist zu betonen, daß Schelsky die Ergebnisse "dieses systemfunktionalen Theorieansatzes der Rechtssoziologie" durchaus als "gültig und fruchtbar" ansieht. Im Hinblick auf das Erfordernis, eine "umfassende funktionale Analyse des Rechts" zu erarbeiten, erscheinen sie ihm jedoch als "einseitig und unzureichend". Ähnlich differenziert ist sein Stellungnahme zum "anthropologisch-funktionalen Ansatz einer Rechtssoziologie", der im Hinblick auf "in der menschlichen Natur begründete Ansprüche und Bedürfnisse" durch eine anthropologisch-funktionale Analyse des Rechts zu klären versucht, "inwiefern das Recht und seine Einrichtungen konstante anthropologisch begründete Bedürfnisse des Menschen", "will dieser überleben", "erfüllen können und erfüllen müssen". Geht man mit der modernen Anthropologie davon aus, daß eine "feste", d. h. "ontologisch eindeutige Natur des Menschen" nicht mehr angegeben werden kann, weil auch "seine biologisch begründeten Bedürfnisse in ihrer Erfüllung variabel" sind, dann führt der anthropologisch-funktionale Ansatz zu einer "Theorie der Institution", welche die Leistung der Institutionen - in Ermangelung einer Instinktfeststellung der Formen sozialen Handeins und der sozialen Gebilde in der "Kontrolle und Führung" des menschlichen Verhaltens erblickt, d. h. die "Gesamtfunktion ist dann immer die als Instinkt fehlende oder verkümmerte Steuerung des menschlichen Verhaltens in seiner Umwelt". Von hier aus wird eine "anthropologisch-funktionale Analyse" des Rechts - und mit ihr eine "anthropologisch-funktionale Rechtssoziologie" - möglich, die freilich "immer die ,objektive' Funktion des Rechts, das dem Menschen als Kontrolle, Steuerung, Führung, Integration usw. entgegentretende, über die persönliche Willens- und Wahlentscheidung verfügende ,Recht' begründen muß". Insofern ist eine anthropologisch-funktionale Analyse "durchaus mit der systemfunktionalen Analyse sozialer Gebilde, also der Institutionen, vereinbar". Gegenüber diesen Ansätzen zu einer anthropologisch-funktionalen Soziologie des "objektiven Rechts" (Malinowski, Gehlen) hat Schelsky vom Standpunkt seiner "Theorie und Soziologie des Rechts" jedoch
Helmut Schelsky- ein Weg zur Soziologie des Rechts
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Bedenken angemeldet mit der Begründung, daß sich "diese anthropologisch-funktionale Analyse des Rechts in einer Analyse der Institution" erschöpft. Wer wie er die kurzschlüssige Identifikation von Institution und Recht vermeidet, muß in der Tat zu der Einsicht gelangen, daß durch die anthropologisch-funktionale Analyse der Institution die Funktion des Rechts als solche "noch gar nicht bestimmt und geklärt ist". Damit wird die "Funktion des Rechts in der Institution" zum Thema und Problem seiner Soziologie des Rechts. Nach seiner Auffassung hat die Anthropologie in ihren bisherigen Forschungen allzu einseitig das "Schwergewicht auf die Erörterung der Instinkte, d. h. des biologisch-fixierten Verhaltens, gelegt" und damit nur die gleichläufige "Tendenz der Soziologie" verstärkt, die über den Menschen verfügenden, ihn mehr oder minder zwangshaft "steuernden Kräfte und Mechanismen" als maßgebende "soziale Gesetzlichkeiten" zu begreifen. Mit Grund weist Schelsky demgegenüber auf den neben der Thematik "Instinkt - Institutionen" liegenden, darüber weit hinausreichenden, breiten Verhaltensbereich hin, im Hinblick auf den das soziale Verhalten des Menschen - neueren biologisch-anthropologischen Einsichten folgend - sehr weitgehend auf einen Bereich des "subjektiv freien und bewußten Handelns" zurückgeführt werden kann. Infolgedessen vermag Schelsky die "Quelle des Rechts" nicht bloß in den Institutionen, sondern auch in dem - anthropologisch begründeten - menschlichen "Bedürfnis nach Recht" zu erblicken, das er zu den "abgeleiteten Kulturbedürfnissen" im Sinne Malinowskis zählt. Auf dieser Grundlage wird es für Schelsky möglich, die "Bewußtheit des Zweckhandelns" zum "anthropologischen Kennzeichen des Rechts" zu machen und die anthropologische Funktion des Rechts als die "stets
bewußte Regelung und Gestaltung sozialer Beziehungen durch freies und bewußtes Zweckhandeln" zu bestimmen. Anthropologisch gesehen,
sind Institutionen für Schelsky "eben nicht nur Instinktersatz", sondern "auf eine dauernde ,Bewußtheitsfront' der zweckbewußten, instinktfreien Handlung angewiesen", d. h. stets "dem sich situationsorientierenden, adaptiven, bewußte Zwecke verfolgenden Handeln des Menschen ausgeliefert". Auf dieser Grundlage wird es zugleich möglich, das Verhältnis von Institution und Recht zu verdeutlichen sowie zu klären, was das Recht "gegenüber den Institutionen leistet und weshalb es in allen menschlichen Institutionen unentbehrlich" ist. "Das Recht schafft in den Institutionen den Bereich des bewußten Zweckhandelns, d. h. den Ansatz, die menschlichen Institutionen jeweils unabhängig von den in ihm erfüllten Instinkt- oder Instinktmangelbedürfnissen zum Gegenstand und Ziel immer erneuten, aktualisierten bewußten Zweckhandeins zu machen." Ganz anders als die konservative Auffassung der
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Institution faßt Schelsky somit das Recht demgegenüber "gerade als die Ebene zweckgerichteten, ordnungsgestaltenden und bewußten Handeins für jeweils neue (sekundäre) Bedürfnisse des Menschen innerhalb der Institutionen" auf. In diesem Sinne wird Recht immer "gesetzt", d. h. dem Recht die "planende und gründende Funktion für die Gestaltung der Zukunft (und das Überleben des Menschen) zugeschrieben". Im "Rechtscharakter der Institution" liegt infolgedessen ihre "Rationalitäts- und Zukunftsdimension", d. h. "ihre Veränderbarkeit, ihre Anpassungsfähigkeit gegenüber neuen Umweltsituationen, ihre Dimension der bewußten, zweckgerichteten Planung der Zukunft", während das bloß "Institutionelle" im Sinne einer allem individuellen Erleben und Handeln "vorgegebenen Steuerungs-Normativität" seiner Funktion nach "den anthropologischen Instinktersatz des menschlichen Handelns" darstellt. Mit diesen Einsichten sind für Schelsky zugleich die "Grenzen" eines "anthropologisch-funktionalen Ansatzes der Rechtssoziologie" erreicht. Denn wenn das zum Gegenstand einer anthropologisch-funktionalen Analyse erhobene "Bedürfnis" sich selbst als "Bewußtseinsbedürfnis", nämlich als das "bewußte Zweckhandeln", erweist und sein "Zweck" - mangels einer Instinktfeststellung der Verhaltensabläufe bzw. einer Endzielangabe des Appetenzverhaltens vom Menschen selbst "gesetzt" wird, dann muß das bewußte Zweckhandeln selbst zum Gegenstand einer funktionalen Analyse des Handeins gemacht werden. Das läuft jedoch- jenseits einer bloß systemfunktionalen oder anthropologisch-funktionalen Analyse - auf das Erfordernis hinaus, die Institutionen "von den sie leitenden und beherrschenden Ideen her" zu erklären. 4. Auch in seinen systematischen Untersuchungen des begrifflichen Rahmens der verschiedenen Theorieansätze einer Soziologie des Rechts sucht Schelsky die Vorzüge einer systemfunktionalen und einer anthropologisch-funktionalen Analyse des Rechts zu nutzen, ohne deren Schwächen und Nachteile kritiklos in Kauf zu nehmen. Wer so vorgeht, wie er es tut, kann sich in der Tat" den Vorteil antagonistischer Theorieansätze" zu eigen machen, indem er "mit beiden" arbeitet, weil beide eine "verschiedene Erkenntnis- und Praxisfunktion" besitzen. Das beiden Theorieansätzen "Gemeinsame" erblickt er darin, daß die "Ziele", im Hinblick auf welche die sozialen "Handlungen, ·Leistungen, Einrichtungen usw. als Funktion begriffen" und damit als "objektive" Tatbestände behandelt werden, in Wirklichkeit nur "von einem Betrachter vorgefundene" Objekte sind, die - als das "soziale System" oder als "der Mensch" - eine wissenschaftlich "nicht bewiesene oder abgeleitete, sondern vorgegebene Grundannahme des Analytikers" darstellen. Eine "weitere Gemeinsamkeit" erblickt er darin, daß die hier "zur Analyse stehenden ,Objekte'" (das "soziale System", "der Mensch")
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selbst zu "Prozessen der Willensbildung und damit zur Bestimmung von ,Endzielen' ihres Handeins fähig" sind. Denn sie sind jenseits der Zielsetzung des bloßen "Fortbestandes und Funktionierens" von Institutionen in der Lage, sich "einen spezifischen ,Lebenssinn'" zu geben. Genau hier nimmt Schelsky sein - schon eingangs skizziertes Anliegen einer auf die Durchleuchtung der Grundlagen und Grenzen empirischer Wirklichkeitserfassung bedachten, kritischen Soziologie wieder auf, die im Hinblick auf das soziale Verhalten der Menschen und ihre Institutionen in kritischer Reflexion auf deren "sinn- und werthafte Voraussetzungen" zu einer "sinnkritischen Theorie der Gesellschaft" beizutragen sucht. In seiner kritischen Reflexion auf die Voraussetzungen und Bedingungen einer systemfunktionalen wie einer anthropologisch-funktionalen Analyse des Rechts und des in ihr Bedachten gelangt er zu der Einsicht, daß beide Theorieansätze einer Soziologie des Rechts offensichtlich nicht gänzlich ohne den Rekurs auf die politischen "Endziele" und "Ideen" auszukommen vermögen, die "sowohl den Menschen als generalisiertes Individuum als auch alle sozialen Systeme" kennzeichnen. Geht man ferner davon aus, daß es "durchaus möglich" ist, "andere oder zusätzliche ,Endziele'" als den bloßen Fortbestand und das Funktionieren der sozialen Institutionen "anzunehmen", indem man alle Handlungen und Einrichtungen dem auf diese Weise gewählten, neuen "Lebenssinn" unterstellt, so kann man auch diese "Endziele" zum nunmehr "vorgegebenen Zielwert" einer funktionalen Analyse machen. Sehr treffend spricht Schelsky insofern von einer politischen "Endziel-Programmfunktion", die vom Menschen und den sozialen Systemen erbracht werde. Indem er zwischen dem Endziel der bloßen Bestandserhaltung von sozialen Institutionen und zusätzlichen, darüber hinausweisenden, politisch-programmatischen "Endzielentscheidungen" differenziert, vermag er zwischen bestandsfunktionalen Analysen einerseits und politisch-funktionalen Analysen andererseits zu unterscheiden. Offensichtlich schließen politisch-funktionale Analysen und Theorieansätze die bloß bestandsfunktionalen nicht aus, sondern ein, doch erlaubt diese Unterscheidung, die bestandsfunktionale Analyse den empirisch-analytischen Sozialwissenschaften vorzubehalten, während die politisch-funktionale Analyse den sogen. "normativen" Wissenschaften, wie beispielsweise der Jurisprudenz, zugewiesen wird. Sie gestattet außerdem, die relative "Unabhängigkeit dieser politischen oder Programmierungs-Funktion gegenüber den ,Bestandsfunktionen'" zu verdeutlichen. Vom Standpunkt seiner kritischen Soziologie aus kann ihm freilich nicht verborgen bleiben, daß bestandsfunktionale Analysen "vom Bewußtsein des Betrachters abhängen", d. h. "von seiner Bestimmung des ,Systems' oder der ,Natur des Menschen'"; ihre Validität reiche infolgedessen nur so weit, IV Festschrift für Helmut Schelsky
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wie diese Bestimmungen des Betrachters geteilt werden, basiere also letztlich auf dem "Konsensus empirisch vorgehender Wissenschaft", der in seinen konventionellen Grundlagen selbst zur "Hintergrundsideologie" der Wissenschaft gehöre. Demgegenüber beruhe die Validität und Reichweite der politisch-funktionalen Analysen auf einem "Hintergrunds-Konsensus" über die jeweils zugrunde gelegten "Leitideen". Daher erscheint es Schelsky fraglich, "ob eine soziale Wirklichkeit von einem Sozialwissenschaftler hinreichend erkannt werden kann, ohne daß er überhaupt politisch-funktionale Endziele seiner Analyse, zumindest mit, zugrunde legt". Sein eigener Ansatz beruht infolgedessen auf dem Versuch, zu zeigen, "daß gerade die soziologische Analyse des Rechts ohne solche politisch-funktionalen Analysen kaum auszukommen vermag". Das wirft erneut die Frage auf, ob Schelsky nicht doch, zumindest im Bereich seiner Soziologie des Rechts, für eine normative Soziologie eintrete. 5. Im Hinblick auf die Funktionen des Rechts, die "in den herrschenden Theorien der Soziologie" vor allem als eine "auf das Ganze der Gesellschaft" bezogene "Ordnungsfunktion" definiert werden, unternimmt Schelsky den Versuch, eine komplementäre "theoretische Gegenposition" zu entwerfen, die das Recht "in einer vom Individuum oder von der Person und der menschlichen Natur her gedachten Handlungstheorie" versteht. Jedoch hat für ihn die Soziologie des Rechts "nicht nur eine analytische, sondern darüber hinaus eine rechtspolitische und gesellschaftspolitische Aufgabe". Nur soweit es um letztere geht, betont er eine Betrachtungsweise, die eine "Stärkung des sich im personalen Rechtsanspruch verwirklichenden und bewährenden individuellen Freiheits- und Verantwortungsbewußtseins" begründet. Anlaß und Beweggrund dieses rechts- und gesellschaftspolitischen Postulats ist für Schelsky die von ihm diagnostizierte, betonte Hervorhebung gesellschaftsprogrammatischer, vornehmlich auf die soziale Ganzheit und deren Gestaltung gerichteter Rechtsvorstellungen, deren Einseitigkeiten er zu kompensieren sucht. Soweit es hingegen um die analytisch-theoretische Aufgabe geht, bleibt seine Soziologie des Rechts deskriptiv, da sie die vorhandenen "Leitideen" der Institutionen nur "zum Ausgangspunkt und zur Voraussetzung einer Funktionsanalyse" macht, aber nicht selbst derartige Leitideen vorschlägt bzw. vorschreibt. In der Tat vermag eine Analyse der sozialen Wirklichkeit alle "ihre Einrichtungen, Handlungen usw. daraufhin abzufragen", wieweit diese den ihnen zugrunde liegenden "Leitideen" entsprechen und das "in ihnen vorausgesetzte Endziel" erfüllen, ohne damit ihren deskriptiven Charakter einzubüßen. Daß freilich mit dem Übergang von der bestandsfunktionalen zur politisch-funktionalen Analyse ein
Helmut Schelsky- ein Weg zur Soziologie des Rechts
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politischer Funktionsbegriff ins Spiel kommt, hat Schelsky selbst herausgearbeitet. Was die "politischen Endziel-Bestimmungen" als solche angeht, so erblickt Schelsky auch hier den "Trend einer Polarisierung dieser Konzeptionen", der sich "entweder mehr auf das Individuum oder auf die soziale Ganzheit" richtet. Schon der klassischen Institutionenlehre ist die politische Programmierung von Institutionen, die etwa im Begriff der "Charter" (Malinowski), der "idee directrice" (Hauriou, Gehlen), der "Idee der Institution" oder als "verfassungspolitische Grundentscheidung" (Carl Schmitt) zum Ausdruck gelangt, durchaus geläufig gewesen. Von seinem- eingangs bereits als genuin soziologisch herausgearbeiteten- kritisch-analytischen Standpunkt aus erblickt Schelsky im Bereich der politischen Programmierung und der als "Endziel" absolut gesetzten "Leitideen" den Bezugspunkt und das Betätigungsfeld politisch-funktionaler Analysen. Das gilt unabhängig davon, ob man die jeweiligen Endziele "von der Leitidee der Institutionen oder der sozialen Ordnung her formuliert oder vom Lebenssinn des Individuums". Richtet sich eine derartige soziologische Untersuchung auf die "Leitideen des Rechts", so nimmt deren politisch-funktionale Analyse zugleich die Form einer "rechtssoziologischen Funktionsanalyse" an. Indem Schelsky, auch hier typisierend, zwischen gesellschaftsprogrammatischen Funktionsanalysen des Rechts und personfunktionalen Analysen unterscheidet, bleibt jedem Rechtssoziologen die "Wahlmöglichkeit", welche Leitideen er "zum Ausgangspunkt und zur Voraussetzung einer Funktionsanalyse" macht. Kein Zweifel, daß es hier unter dem Aspekt der sozialen Ganzheit betrachtet- um den Bestand von "Basis-Ideologien" geht, sei es, daß diese sich bewußt als politisch "parteiisch" oder "ideologisch" begreifen, wie etwa eine Analyse unter dem Kriterium der Leistung für die "Volksgemeinschaft" oder für die "sozialistische Gesellschaft" erweisen mag, sei es, daß diese eher implizit beispielsweise das "gesellschaftspolitische Programm des Kapitalismus" propagieren. Ebenso kann - unter dem Aspekt einer auf die "Freiheit der Person, also der größtmöglichen freien Selbstbestimmung des Individuums" gerichteten Betrachtung - die Analyse der sozialen Wirklichkeit die "auf die Person bezogenen Leitideen" zum Ausgangspunkt ihrer politisch-funktionalen, rechtssoziologischen Untersuchung machen. Vom Standpunkt seiner kritischen Soziologie, die er, wie dargelegt, als "sinnkritische Theorie der Gesellschaft" versteht, ergreift Schelsky selbst in seiner soziologischen Theorie der Institution wie des Rechts nicht unkritisch Partei für eine der Leitideen des Rechts. Kritisch-analytisch betrachtet, sind für ihn alle "Ideen", "absoluten Werte" und "Leitbilder", d. h. diejenigen "der Institutionen und der Personen", "anthropologisch-funktional begründet" nur insofern, "daß die ,absolu-
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ten Endziele' des bewußten menschlichen Zweckhandeins zwar in der ,Entscheidung' des Menschen liegen, er eine solche Entscheidung aber aus Lebensnotwendigkeit treffen muß". Die Betonung liegt hier, was gern übersehen wird, darauf, daß der Mensch eine derartige Entscheidung zu treffen hat. Denn wenn die Endziele - aus anthropologischen Gründen - vom Menschen "selbst gesetzt" sind, freilich in einer Form, die ihn "ihre Verfügbarkeit aufheben und sie zu unvariablen Endzielen für sich erklären läßt", dann ist menschliches Handeln ohne derartige Endziele "anthropologisch nicht denkbar", aber - geschichtlich und gesellschaftlich bedingt- mit durchaus unterschiedlichen Endzielen vereinbar. Die anthropologisch-funktionale Analyse, die Schelsky seiner soziologischen Theorie der Institution wie des Rechts zugrunde legt, besagt somit lediglich, "daß kein handelndes menschliches Wesen ohne die Annahme solcher Endziele, also ohne diesen selbst gesetzten Instinktersatz des ,Absoluten', auf die Dauer existenzfähig ist", nicht weniger, aber auch nicht mehr. Daß derartige Endziele und Leitideen den Individuen durchaus nicht "angemessen bewußt" zu sein brauchen, wenn sie "unter ihrem Bestimmungsgrund" handeln, weil gerade der "institutionelle Zusammenhang seines Handelns" den Menschen "von der Präsenz dieser ,Ideen'" entlastet, hat Schelsky -unter Bezugnahme auf Mertons Unterscheidung zwischen manifesten und latenten Funktionen - sehr eingehend belegt und begründet. Geht man davon aus, daß gerade die Endziele und Leitideen in einer bloß bestandsfunktionalen Analyse "nicht aufgehen, d. h. nicht in ihrer Wirksamkeit und Wirklichkeit angemessen erfaßt" werden, dann läßt sich eine politisch-funktionale Analyse der Leitideen des Rechts in der Tat kaum vermeiden. Angesichts der "Tatsache, daß das subjektive Bewußtsein Schöpfer und Träger von Ideen" ist, wie beispielsweise der "Idee des Christentums" oder der "Idee der Erforschung der Wahrheit", stellt Schelsky unter politisch-funktionalem Aspekt darauf ab, daß "Ideen" durchaus "nicht identisch sind mit dem sogenannten ,Normsystem' von Institutionen". Vielmehr müsse zwischen dem jeweiligen Normsystem und der Idee einer Institution unterschieden werden mit der Folge, daß alle die sozial etablierten Institutionen "leitenden und beherrschenden Ideen" als "realer Bestimmungs- und Gründungsgrund der Institutionen" ebenso zu ihrer Erklärung heranzuziehen seien wie die Organisationsgesetzlichkeit der Institutionen und die Bedürfnisstruktur des Menschen. Die den Institutionen zugrunde liegenden "Ideen" sind für Schelsky somit nicht "Funktionen der Bedürfnisse", nicht bloß ein "durch Institutionen sublimierter Bedürfnisüberbau", sondern Institutionen müssen- genau umgekehrt- als" ,Funktionen' der Ideen" betrachtet werden, so daß "menschliche Vorstellungen, Bewußtsein und Denken" als ein relativ "autonomer Realfaktor
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des sozialen Lebens" angenommen werden. Die Leistung von Ideen für Institutionen wird dadurch begründet, daß "institutionelle Ideen von mehreren Subjekten gleicherweise gedacht" werden und damit als Grundlage der "sozialen Bindung und Kommunikation unter ihnen" dienen. Zieht man mit Schelsky aus diesen Überlegungen den Schluß, daß irgendwelche absolut gesetzten Endziele und Leitideen - von denjenigen, die den Glauben an sie nicht teilen, gewöhnlich Ideologie genannt - aus anthropologisch einsehbaren Gründen die politischsozialen Institutionen wie "die Rechtsordnungen bestimmen müssen", dann ist es nicht bloß möglich, sondern - will man Einseitigkeiten vermeiden - sicherlich auch nötig, das Gesellschaftssystem, insbesondere das Rechtssystem auch "daraufhin abzufragen, was es tatsächlich, und nicht nur formal, für die Integrität und Autonomie der Person leistet". Deshalb ist für Schelsky eine insoweit "person-funktionale rechtssoziologische Analyse" eine durchaus lohnende "Aufgabe unserer Gegenwart". Er wählt für seine politisch-funktionale, rechtssoziologische Analyse gerade diesen "Bezugspunkt", weil die "gesellschaftsprogrammatische Funktionsanalyse" des Rechts "schon viele Vertreter" gefunden habe, die "person-funktionale Analyse" hingegen heute "verhältnismäßig selten" geworden sei. Was die "Möglichkeit" einer personfunktionalen Analyse des Rechts angeht, so hängt diese offensichtlich davon ab, ob es gelingt, die im Vorstellungsbereich der jeweiligen Zeit und Kultur sich artikulierenden, rechtsgeschichtlich schwer faßbaren, aber sicherlich nachweisbaren "personalen Leitideen" des Rechts "auf einen sprachlich-begrifflichen Nenner" zu bringen. Als "Endziel-Bestimmungen" einer personfunktionalen Analyse des Rechts unterscheidet Schelsky "in der Geschichte und gegenwärtigen Existenz des Rechts", "bezogen auf die Bedürfnisse des Individuums", drei Leitideen, deren Genese und Entwicklung sich von den "Frühzeiten der menschlichen Kultur" über die modernen "Herrschafts- und Staatsbildungen" bis in die Gegenwart erstreckt. Es geht bei diesen geschichtlich aufeinander aufbauenden, personalen "Leitideen" um drei Handlungsprinzipien, die von ihm als "Grundlage personaler Rechtsbeziehungen" angesehen werden, nämlich um das Prinzip der "Gegenseitigkeit auf Dauer", das Prinzip der "Gleichheit bei Verschiedenheit" und das Prinzip der "Integrität und Autonomie der Person gegenüber der Organisation". Jedoch verkennt er keineswegs, daß die dritte, vor allem für die gegenwärtige Rechtsentwicklung relevant& Leitidee durchaus nicht "zu den politischen Leitideen aller durch Rechtsordnung .bestimmten Gesellschaften gehört", sondern "im wesentlichen eine rechtliche Leitidee der ,westlichen' Gesellschaften" darstellt. Der von ihm gewählte Bezugspunkt seiner politisch-funktionalen Analyse wird somit von Schelsky nicht gesetzt, sondern als im politischen System des
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staatlich organisierten Rechtssystems unserer Gesellschaft schon gegeben vorausgesetzt. Angesichts seiner analytisch-deskriptiven Einstellung zu dem von ihm gewählten Gegenstand kann daher auch insoweit von einer normativen Soziologie nicht die Rede sein. Es kann hier im übrigen nicht darum gehen, die Funktion und Struktur dieser drei Leitideen in ihrem institutionellen Zusammenhang erneut darzulegen, doch muß festgehalten werden, daß die funktionale Analyse des Rechts "in bezug auf die vorausgesetzten Leitbilder" vor allem darin besteht, die tatsächliche "Leistung konkreter Rechtsordnung, Maßnahmen, Handlungsvollzüge" zu erforschen. Das ist sicherlich eine Aufgabe, die - wie Schelsky selbst hervorhebt - "hier in Ausführlichkeit nicht durchzuführen" war. Er läßt auch keinerlei Zweifel darüber, daß seine inhaltliche Erörterung der "personalen Leitidee" des Rechts weder eine "empirische" noch eine "analytisch-theoretische", sondern eine "programmatische Bestimmung" dessen enthält, was die Person als ",Endziel' rechtssoziologischer Analyse" ausweist. Im übrigen beschränkt er sich jedoch darauf, die für jede der drei Leitideen des Rechts zentralen Probleme herauszuarbeiten und kritisch-analytisch zu beleuchten. Wirft man die Frage des rechtlichen Handeins als eines "sozialgesteuerten oder der Person für freie Wahlhandlung zur Verfügung stehenden Entscheidungsraumes auf", so besteht die Schwierigkeit, die personale Funktion des Rechts überhaupt "theoretisch formulierbar" zu machen, offensichtlich darin, daß wir heute sozialwissenschaftlich nicht eben selten "in einer Begrifflichkeit denken, die die freie bewußte Zweckhandlung der Person weitgehend bereits in sozial gesteuerte Verhaltensweisen aufgelöst hat". In der Tat vermag Schelsky hier zu zeigen, daß es darauf ankommt, schon bei der Wahl des Denkansatzes und der Begrifflichkeit soziologischer Theoriebildung die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß das Individuum überhaupt theoretisch begriffen werden kann und die Person nicht bloß als eine "variable Synthese von Sozialerwartungen und institutionellen Steuerungen" erscheint. Das entscheidende Realitätskriterium der :menschlichen Person erblickt er in der "Interaktion", d. h. "die Person in ihrer Autonomie und Integrität ist nur als sozial handelndes Wesen real". Die Person überhaupt "erst einmal theoretisch" begreifen, bedeutet für Schelsky, "die moralische und psychische Ganzheit und Kontinuität einer Handlungseinheit ,Person' zu stabilisieren, die sich selbst durch ein sich .,identisch wissendes und anerkennendes Selbstbewußtsein steuert"; von dieser "Handlungseinheit" werden alle Einflüsse der "Umwelt", "seien es physische, biologische, psychische oder soziale", "zur personalen Identität, Kontinuität und Ganzheit als Grundlage ihrer Handlungen ,eingearbeitet oder integriert'". Begreift man die Person derart nicht nur als "Bewußtseins- und Selbstbewußtseinszen-
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trum", sondern als "Handlungseinheit", so kann ihre Bedrohung von außen in der Einarbeitung "in das Funktionieren politischer und sozialer Systeme" als deren "bloßes Funktionsteil" erblickt werden, ihre Gefährdung von innen in die Beschränkung auf ein bloßes " ,Binnenverhältnis' der handlungslosen Reflexion, der Innerlichkeit, des folgenlosen Meinens, kurz der bloßen Reflexions- und Selbstbewußtseinsimmanenz". Zum Schutze der als Handlungseinheit begriffenen Person ist gegen die erste Gefährdung ihr "Recht", gegen die zweite Gefährdung ihre "Moral" aufgerufen. Mit diesen Überlegungen hat Schelsky in seiner - bewußt interdisziplinär angelegten - Studie nicht nur eine Brücke geschlagen zur Erörterung der einschlägigen Probleme der Rechts- und Moralphilosophie, sondern auch den Anschluß hergestellt an die beim subjektiven Recht und seiner rechtspraktischen Durchsetzung anknüpfende Problembehandlung der praktischen Rechtswissenschaft. 6. Erblickt man die Grundlage der Rechtssoziologie Helmut Schelskys in der Verbindung seiner soziologischen Theorie der Institution mit der des Rechts und die Leistung seines eigenständigen rechtssoziologischen Denkansatzes in der gegenüber einer systemfunktionalen Betrachtungsweise des Rechts komplementären, systematischen und kritisch-analytischen Betrachtung der anthropologischen Funktion und der personalen Leitideen des Rechts durch eine anthropologisch-funktionale wie personfunktionale Betrachtungsweise, so drängt sich die Frage auf, welche politischen Konsequenzen - sei es gewollt, sei es ungewollt - mit diesem "Ansatz der Rechtssoziologie" verknüpft sind. Auszugehen ist dabei von der zentralen Einsicht Schelskys, daß "ein Recht ohne politische ,Endzielbestimmung' schlechterdings nicht gedacht werden kann". Das bedeutet für jeden auf realistische Einschätzung der politischen Dimension allen Rechts bedachten, rechtssoziologischen Denkansatz, stets von der Annahme auszugehen, daß das Recht immer "eine soziale Ordnung als politische Leitidee, als Gesellschaftsprogramm oder Ideologie durchzusetzen oder aufrechtzuerhalten" hat; es sei denn, man wollte eine Rechtssoziologie ohne Recht betreiben. Es wäre ferner wenig realistisch anzunehmen, daß die unterschiedlichen Leitideen des Rechts und die mit ihnen verknüpften "theoretischen Ansätze der Rechtssoziologie" die Rechts- und Gesellschaftspolitik überhaupt nicht beeinflussen. Infolgedessen stellt sich die Frage, welche Folgerungen sich aus dem "verschiedenen Charakter der Theorieansätze" im Hinblick "auf ihre politische Wirksamkeit" ziehen lassen. Auch wenn man die objektivierenden, auf "den Bestand eines verallgemeinerten sozialen Systems" oder die "Befriedigung einer ebenso verallgemeinerten Natur des Menschen", d. h. auf "den Menschen
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schlechthin" gerichteten "Theorieansätze" als nicht unmittelbar politisch begreift, weil sie "keine politische Zielsetzung" verfolgen, dienen sie - wenn auch unbeabsichtigt - nach Auffassung von Schelsky mittelbar politisch "entweder der Durchsetzung, d. h. dem Bestand und Funktionieren, jedes sozialen und politischen Systems oder der biologischen Bedürfnisbefriedigung jedes Menschen". Diese "mittelbar politische Wirkungstendenz" werde noch deutlicher unter dem "Kriterium der beiden politischen Funktionsbegriffe" des Rechts, weil die Erkenntnisse systemfunktionaler Analysen des Rechts "praktisch-politisch" darauf hinausliefen, "das Individuum in das Funktionieren sozialer Systeme zu integrieren", d. h. "politisch-antipersonal" wirkten. Demgegenüber laufe die "mittelbare politische Tendenz" einer anthropologisch-funktionalen Rechtssoziologie einerseits auf die "Anerkennung der Grundansprüche des Individuums als Lebewesen" hinaus, andererseits öffne sie - indem sie die "freie Wahl- oder Zweckhandlung als den spezifischen Verhaltensraum des Naturwesens Mensch" aufweise- überhaupt erst theoretisch "das Tor für ein Verständnis des freien Handeins der Person und der darauf beruhenden Ansprüche der Person an sich selbst und die Gesellschaft". Sehr deutlich betont Schelsky, daß "auch die personbezogenen Leitideen des Rechts immer politisches Programm darstellen und auf politische Willensdurchsetzung angewiesen" bleiben, doch wendet er sich kritisch gegen die geläufige Auffassung, die personale, auf die "Autonomie und Integrität der Person" bedachte Leitidee des Rechts "nur als eine Begrenzung und Einschränkung der gesellschaftsprogrammatischen Rechtsordnung" zu begreifen. Heute drohe der Person "mit ihren Freiheits- und Autonomieansprüchen" nicht mehr primär Gefahr von der obrigkeitlichen Rechtsautorität und "Übermacht des Staates", so daß es im wesentlichen gar nicht mehr darum gehe, ihm politisch und rechtlich die "Freiheits- und Grundrechte der Person" abzuringen. Infolgedessen hält er- und das mag manchen Verfassungsjuristen ein wenig schmerzen!- den "Verlaß auf eine obrigkeitliche oder staatliche Rechtsgarantie der personalen Freiheits- und d. h. Rechtsansprüche" für eine "antiquierte Auffassung und eine Illusion", weil heute die "Strukturgesetzlichkeiten des sozialen Systems selbst durch die staatlichen Schutzmaßnahmen für das Individuum hindurchwirken und diese in Wirklichkeit weitgehend aufheben". Die politische Wirkung der "Freiheits- und Grundrechte der Person" beruht nach Auffassung von Schelsky somit nicht so sehr auf der obrigkeitlichen "Rechtsordnungsleistung des Staates". Vielmehr hängt das "aktuelle Recht der Person" für ihn - und das ist seine "politische Folgerung"! - entscheidend davon ab, daß es als eine "dauernde politische Gestaltungs- und Durchsetzungsaufgabe in allen konkreten politischen und sozialen Situationen" begriffen wird. Das
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ist eine Einsicht, die man mit durchaus unterschiedlichen praktischpolitischen Einstellungen zu beherzigen vermag. Die hier von Schelsky aufgeworfenen Fragen beziehen sich jedoch nicht allein auf die rechtsund gesellschaftspolitische Dimension der Rechtssoziologie; sie gehören auch zu den zentralen Problemen der verfassungsrechtlichen Grundrechtstheorie.
V. 1. In dem Maße, in dem die Soziologie des Rechts eine Verbindung mit der soziologischen Theorie der Institutionen eingeht, um von vornherein die "Bedeutung des Rechts für die Strukturgesetze der Gesellschaft" zur Grundlage ihrer analytisch-theoretischen, systematischen Überlegungen zu machen, sieht sie sich zugleich dem Einwand ausgesetzt - und das ist eine in der westdeutschen Rechtssoziologie leider sehr verbreitete Auffassung-, daß das Recht damit zum gesellschaftlichen Mittel der bloßen Erhaltung des politischen und sozialen Status quo gemacht werde. Damit wird die weitere Problembehandlung auf ein falsches Gleis geschoben, das die Beantwortung der Frage nach der Funktion des Rechts im Hinblick auf den sozialen Wandel von vornherein unter einen allzu einseitigen Aspekt rückt, der es erlaubt, gegen den vermeintlichen Konservativismus der Rechts-, Staats- und Gesellschaftstheorie zu Felde zu ziehen mit der Begründung, daß sie nur die Befestigung und Zementierung eben dieses Status quo betreibe. Die mangelnde Berechtigung dieses zu pauschalen Einwands wird sogleich deutlich, wenn man die Wirkungen sowie die Wirkungsweise des Rechts auf die sozialen Strukturen bzw. das soziale Verhalten der Menschen zum Ausgangspunkt der Überlegungen macht. Diese freilich sehr voraussetzungsvolle, viel allgemeinere, rechtssoziologisch wie rechtstheoretisch bislang eher unzulänglich behandelte Problemstellung hatte Helmut Schelsky schon in seiner 1949 veröffentlichten Abhandlung "Über die Stabilität von Institutionen, besonders Verfassungen" vor Augen, wenn er im Hinblick auf eine mögliche "funktionelle Gleichgewichtslösung des Staates als Institution" nicht nur "nach den Stabilitätsfaktoren geordneter sozialer Systeme" fragte, sondern auch die Frage nach den Voraussetzungen und Bedingungen einer institutionellen "Unstabilität" aufwarf. Erst wenn man nach dem dauernden "Führungs- und Steuerungsvorgang" fragt, der von Verfassungs und Rechts wegen die "stetige Vereinheitlichung der Verhaltensweisen durch institutionelle Einwirkung" gewährleistet, wird deutlich, daß die Probleme eines sozialen Wandels mit Mitteln des Rechts nur dann eine zureichende Antwort finden, wenn man im Hinblick auf das Recht stets "seine bedeutsame Funktion als dynamischer Stabilitätsfaktor" enthüllt. Es geht dabei nicht um die Alternative zwischen sozialer Stabili-
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tät oder sozialem Wandel, sondern um Stabilisierung und Steuerung des sozialen Wandels mit Mitteln des Rechts. Für eine soziologische Theorie der Institution wie des Rechts rückt daher von vornherein der "stabile Institutionswandel'1 in den Vordergrund des Interesses, nicht eine unkritische Befestigung des sozialen und politischen Status quo. Damit erweist sich Schelskys systematische Theorie des sozialen Verhaltens der Menschen und ihrer Institutionen als das Ergebnis einer von Anfang an nicht bloß statischen, den Zeitablauf ignorierenden Betrachtung, sondern als eine dynamisch-funktionale Theorie in dem Sinne, daß - unter Einbeziehung des Zeitablaufs in die Theoriebildung - das Verhältnis von Recht und Gesellschaft stets unter dem Aspekt der Entwicklung, der Veränderung und des sozialen Wandels betrachtet wird. Der Ansatz seiner Theorie eines mit Mitteln des Rechts betriebenen bzw. zu betreibenden sozialen Wandels wird am klarsten erkennbar in Schelskys Abhandlung "Das Ihering-Modell des sozialen Wandels durch Recht" (1972). Indem er die "soziologische" Rechtslehre Iherings als eine der "ersten funktionalen Theorien des Rechts" begreift, deren realistischer Denkansatz zugleich ",systemfunktional' und ,personfunktional'" angelegt sei, vermag er die Leistung lherings vor allem darin zu erblicken, daß dieser das Recht "zur Leitlinie und zum wesentlichen Faktor des sozialen Wandels" gemacht habe. Das "Recht und die Rechtsetzung" sind in der Tat für Ihering - und hier trifft sich Schelskys Auffassung wohl mit den Anschauungen der in der westdeutschen Rechtspraxis weitgehend vorherrschenden, aber auch in der praktischen Rechtswissenschaft durchaus dominierenden Interessen- und Wertungsjurisprudenz, die auf der Ihering'schen Grundlegung aufbaut - "der Königsweg der menschlichen Gestaltung der Zukunft, auf dem sich alle anderen sozialen Kräfte und Interessen zu treffen haben". Vergleicht man die Theorien des sozialen Wandels bei Ihering oder Hauriou mit den heute vorliegenden soziologischen Theorien des sozialen Wandels, so fällt auf, daß in letzteren "das Recht kaum Beachtung findet". Bezüglich der Frage, "ob soziale Tatbestände das soziale und individuelle Bewußtsein bestimmen und daher den sozialen Wandel steuern, oder ob die Ideen und sonstigen normativen und planenden Vorstellungen die sozialen Tatbestände und Entwicklungen bestimmen und leiten", begünstigen Soziologen "zumeist die erste Wirkungsrichtung". Demgegenüber plädiert Schelsky für eine "Einbeziehung des Rechts als Faktor und Ergebnis sozialer Wandlungen", weil erst "im Begriff der bewußten zielgerichteten sozialen Handlung von realen Gruppen oder Personen, die Recht setzen oder behaupten, die Wechselwirkung dieser Faktorengruppen oder die Kreisprozesse des sozialen Handelns" deutlich werden. Diese "Wechselwirkung" oder "Kreis-
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prozesse" erhebt er "zur grundlegenden Kategorie" seiner Theorie des sozialen Wandels durch Recht, ohne damit jedoch eine "kausale Eindeutigkeit" zu behaupten. Er läßt aber keinen Zweifel daran, daß darüber hinaus jede Theorie des sozialen Wandels der "Ergänzung" durch ein "situationsgebundenes soziales Aktionsprogramm" bedürfe, dessen Ziele "zeitbedingt wechseln, also nicht analytisch vorausdenkbar sind"; denn eine "bloße Fortschreibung analysierter Trends an Tatbeständen oder Strukturveränderungen" müsse infolge der von ihr zumindest implizit zugrunde gelegten "Dominanz der Vergangenheit" die menschliche Handlungskraft ersticken, weil sie sich der "Offenheit der Entwicklung" verschließt. Für Schelskys Theorie des sozialen Wandels durch Recht ist somit kennzeichnend, daß sie durch Einbeziehung des dynamischen Stabilitätsfaktors Recht und ergänzt um situationsgebundene, zielbewußte und zweckorientierte soziale Aktionsprogramme auf die "Rechtsetzung und -durchsetzung als Methode der stabilen, gewaltausschließenden Veränderungen verwiesen" wird. Sie schließt damit, auch vom Standpunkt seiner sinnkritischen Theorie der Gesellschaft, eine "ideologische Zukunftsbestimmung grundsätzlich aus"; denn die "zeit- oder situationsbedingten Aktionsprogramme des sozialen Wandels können ihre Konkretisierung nur in der Aufstellung von Rechtsforderungen finden, wollen sie eine wenigstens auf Zeit stabile Gesellschaftsordnung erstreben und dem politischen Handeln von einzelnen und Gruppen konkrete und anschauliche Ziele setzen". Ohne die "Konkretisierung der Handlungsziele aller sozialwissenschaftliehen Theorien des sozialen Wandels" gibt es für Schelsky somit auch keine zureichende Theorie des sozialen Wandels durch Recht. Erblickt man - institutionstheoretisch gesehen- mit Schelsky den wichtigsten Aspekt des sozialen Wandels darin, daß innerhalb der bereits institutionell etablierten "Hierarchie" von Institutionen und den sich hieraus ableitenden Bedürfnissen und Folgebedürfnissen unter den Bedingungen der Stabilität bzw. der Instabilität sowohl fortschrittliche als auch rückschrittliche Entwicklungen möglich sind, so lassen sich innovative Entwicklungen, insbes. die Entwicklung neuer Bedürfnisse und Institutionen, auf der Grundlage der Vorstellung deuten, daß die Institutionen höchsten Grades, aber auch die übrigen Institutionen, jeweils "neue Bedürfnisse produzieren, die ihre institutionelle Erfüllung verlangen und damit immer neue Institutionen und damit wiederum neue Bedürfnisse aus sich hervortreiben". Im Hinblick auf eine derartige, hier nur in den Umrissen skizzierte Entwicklung hat Schelsky deshalb von dem "Gesetz des sich selbst produzierenden Kreislaufes von Bedürfnis und Institution" gesprochen, das seiner Auffassung nach auch für die Bereiche der "Artefakte", d. h. der Technik und der "Symbole", "vor allem des sprachlich-geistigen Lebens", gelte.
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In der Tat werden auch mit den wachsenden technologischen Möglichkeiten und mit jeder wichtigen neuen technischen Erfindung, wie beispielsweise der Automation, jeweils "neue soziale und psychische Tatbestände und Bedürfnisse" geschaffen, die auf der Grundlage der vor~ handenen bzw. zu entwickelnden "Sozial-, Wirtschafts- und Humantechniken" wie des Rechts einer Bewältigung im Rahmen ihnen entsprechender "neuer Institutionen" bedürfen. In dem Maße, in dem Schelskys dynamisch-funktionale Theorie der Gesellschaft und des Rechts die sozialen Phänomene der Entwicklung, der Veränderung und des sozialen Wandels in ihre kritische Reflexion einbezieht, um sichdurchaus sinnkritisch - auch der Perspektiven der "Geschichtlichkeit der Institutionen" und des auf ihnen beruhenden Aufbaus der "Kultur" zu vergewissern, gerät nicht nur die Problematik der "Entwicklungsrichtung" des sozialen Wandels, sondern auch die Evolution der Gesellschaft und des Rechts in ihren Blick. 2. Die bisherigen, der Grundlegung seiner Soziologie des Rechts dienenden Überlegungen gestatten es, den soziologischen Begriff des Rechts zu bestimmen, den Schelsky seinen diversen einschlägigen Abhandlungen zugrunde legt, bisweilen ohne ihn näher zu explizieren. Auszugehen ist dabei von der Basisvorstellung, "daß alle grundlegenden Sozialbeziehungen in Vorgängen der Wechselwirkung zwischen dem Subjekt (Person, Ego, handelndem Individuum usw.) einerseits und den Institutionen (der sozialen Ordnung, gesellschaftlichen Objektivität usw.) andererseits ablaufen"; denn das Subjekt handelt "nach seinen Vorstellungen, Antrieben, Zielen, also seinen Motivationen auf die soziale Welt hin, d. h. es "schafft und verändert" sie, während die Institutionen das Verhalten der Menschen "steuern", d. h. "determinieren" und "sanktionieren". Wie die meisten wichtigen "sozialen Handlungsund Verhaltensbereiche" begreift Schelsky somit auch die soziale Wirklichkeit des Rechts, d. h. das Recht und die mit Mitteln des Rechts strukturierten Handlungs- und Verhaltensabläufe, vornehmlich als
Kreisprozesse wechselwirkender Motivations- und Institutionssysteme,
da das Recht "zu den sozialen Strukturen gehört, die sowohl als Motivationsstruktur des Subjekts wie als sozusagen ,objektive' Umwelttatsache" wirksam werden~ Das Recht gehört für ihn deshalb zu den "gar nicht so häufigen sozialen Erscheinungen", die zugleich "sowohl als institutionsgestützte Motivations- und Willenssysteme der Personen oder Subjekte wie auch als objektive Ordnung oder normerfüllte Institution" begriffen werden können. Für Schelsky lebt daher die insoweit "gleichsam überpersönliche Rechtsordnung" davon, daß sie "ständig vom Willen, den Motivationen, ja vor allem auch den Emotionen (Rechtsgefühlen) der Recht handelnden, suchenden, wahrenden Personen erfüllt und verlebendigt wird, während umgekehrt die objekti-
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vierte institutionelle Rechtsordnung, die Verfassungen, Gesetze, Anordnungen und ihre Durchsetzungs- und Verwaltungseinrichtungen, ständig eben die sogenannten Bewußtseinszustände der Personen, ihre Zielvorstellungen und Wertungen, Entscheidungen und Verzichte, ihrerseits bestimmt und beeinflußt". Demzufolge steht Recht zunächst im Dienste einer "intersubjektiven, handlungskommunikativen Aufgabe", indem es als "sozialer Mechanismus" fungiert, vermöge dessen "die einzelnen Personen sich in ihrem gegenseitigen Handeln aneinander orientieren". Darüber hinaus bietet das Recht dem sozial handelnden Menschen die "Chance", "sowohl das durch Handeln Erreichte auf Dauer zu stellen als auch zukünftige Wirkungen des Handeins im sozialen Zusammenhange zu erstreben". Recht leistet somit nicht nur die "Stabilisierung des Gewordenen und Erreichten", sondern verbindet damit "zugleich die Chance und die Methode des bewußten, also geplanten sozialen Wandels". Nur ein Recht, das im Zusammenleben der Menschen diese beiden Aufgaben erfüllt, vermag auch eine dritte wahrzunehmen, nämlich soziale Konflikte "durch seine Existenz in ihrem Entstehen überhaupt zu verhindern" bzw. schon entstandene "soziale Konflikte zu lösen", doch liegt seine primäre Funktion insoweit, wie Schelsky mit Grund vermutet, wohl weniger in der Konfliktlösung, sondern vor allem in der Konfliktverhütung. Ferner sind für ihn die "Mechanismen des organisierten Bewußtseins", wie das Recht, in ihrem objektiven gesellschaftlichen Bestande stets "dadurch gekennzeichnet, daß es für sie jeweils eine institutionelle Instanz gibt, die das soziale Verhalten des Einzelnen steuert, kontrolliert und sanktioniert", so daß umgekehrt diese Organisation auch als ein "System von Normen des Verhaltens" begriffen werden kann. Dieses "wechselwirkende Motivations-Institutionssystem", das im Bereich des Rechts fungiert, besteht - institutionell betrachtet aus dem Gesetzgeber, der Verwaltung und der Justiz, die das soziale Verhalten "vom Recht her steuern". Aufgrund dieses soziologischen Begriffs des Rechts wie des Rechtssystems, den Schelsky in seiner Soziologie des Rechts in systematischem Zusammenhang mit seiner soziologischen Theorie der Institution entwickelt, läßt sich zugleich das Verhältnis seiner Rechtssoziologie zu anderen Soziologien des Rechts und zur Rechtswissenschaft bestimmen. 3. Die Standortbestimmung von Schelskys Rechtssoziologie kann im tradierten, durch konventionelle Fächergrenzen gekennzeichneten System der Fachwissenschaften freilich nicht zureichend bestimmt werden, wenn man dabei die in ihrem Grunde philosophische Dimension seines soziologischen Rechtsdenkens ignorieren wollte. In seiner Auseinandersetzung mit den deutschen Klassikern der Rechts- und Sozial-
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philosophie hat er stets deutlich gemacht, daß von Kant bis Hegel jede soziale Analyse "im Recht die tragende Sozialbeziehung des Menschen" erblickte und daß die deutsche Philosophie, vor allem in ihrer idealistisch-aufklärerischen Tradition, "im wesentlichen das Verhältnis des Subjekts, des subjektiven Willens und Bewußtseins zum Recht ins Auge gefaßt" hat. Damit wird nicht etwa einer unkritischen Wiederanknüpfung an die klassische Rechts- und Sozialphilosophie das Wort geredet, sondern allenfalls an die Selbstverständlichkeit erinnert, daß heute keine Fachwissenschaft von Gewicht ihre philosophische Dimension vernachlässigen darf. Von der bei manchen Fachwissenschaftlern in diesen Fragen heute zu beobachtenden Ängstlichkeit, die auf der Befürchtung basiert, es könne das, was sie betreiben, nicht als schiere Fachwissenschaft, sondern als "philosophisch" angesehen und mit den alten universalen Systemen der Sozialphilosophie verwechselt werden, ist Schelsky völlig frei, da er in der mangelnden Reflexion auf das, was in der "Dekomposition der alten synthetischen Systeme" als deren Funktion für den Aufbau einer sinnkritischen Theorie der Gesellschaft sichtbar geworden ist, mit Grund eine "reaktive Unsicherheit" heutiger Fachwissenschaften erblickt. Im übrigen ist Schelskys Wissenschaft von der Gesellschaft und damit auch seine Soziologie des Rechts, wie bei vielen Sozialwissenschaftlern seiner Generation, noch bestimmt und geprägt durch die Herkunft aus und die Auseinandersetzung mit der Philosophie des deutschen Idealismus, doch ist genau dies selbst ein Stück deutscher Soziologie. Für Schelsky war es das "Naturrecht" des frühen Fichte von 1796, mit dessen "Theorie der Gemeinschaft" er sich in seiner 1935 veröffentlichten Dissertation kritisch auseinandersetzte. Jedoch erteilte er schon hier dem frühfichtischen Versuch, die Struktur allen Bewußtseins sowie die Strukturen aller Inhaltsgebiete unter Einschluß des Rechts durch die idealistische Denkmethode zu entwickeln und dialektisch zu begründen, eine eindeutige Absage, indem er in dem fichtischen Anspruch, das Rechtsverhältnis zwischen Individuen und das Recht "nur nach Denkgesetzen oder ,Naturrecht'", d. h. "das Recht unabhängig vom Staat und vor diesem abzuleiten", einen "Fehlschluß Fichtes" erblickte; denn "das Verhältnis von Individuum zu Individuum in der Notwendigkeit des Denkens ist eben nicht das Rechtsverhältnis". Das wurde auch deutlich in seiner Auseinandersetzung mit "Schellings Philosophie des Willens und der Existenz" (1937), in der unter Ablehnung der idealistischen Metaphysik bei aller Ambivalenz der menschlichen Existenz vor allem die Entscheidungsdimension und Verantwortung des Menschen betont wird. Wenn Schelsky aus der deutschen idealistischen Philosophie überhaupt eine bleibende, für seine Soziologie nachhaltig wirksame Einsicht gezogen hat, dann vielleicht aus deren Bestrebungen, die Strukturen aller In-
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haltshereiche menschlichen Lebens aus der freien Selbstsetzung des Ich zu begründen und dialektisch zu entwickeln. Jedenfalls ist schon seine 1942 gedruckte, aber nicht mehr veröffentlichte Habilitationsschrift über "Thornas Hobbes" eine nach Thematik und Problernbehandlung wesentlich "politische Lehre", die "sowohl die idealistische Reflexion des Denkens in sich als auch jede Form materialistischer oder psychologischer Reduzierung überschreitet", indem sie durchgängig auf erfahrungswissenschaftlicher Grundlage zu einer Rechts-, Staatsund Gesellschaftstheorie zu gelangen sucht, die praktisch "in einer Reflexion auf die Handlungen des Menschen" zum Ausdruck gelangt. Wer in dieser Untersuchung eine bloß philosophiehistorische Leistung erblickt, verkennt die praktische Relevanz ihres Anliegens, aus der kritisch reflektierenden Dekomposition des Werks von Hobbes die für das gegenwärtige politische Leben wichtigen Sachaussagen zu gewinnen. Von hier aus ist es nur ein Schritt bis zu den erfahrungswissenschaftlichen Bestandsaufnahmen Schelskys in der Nachkriegszeit, aber auch zu seiner kritischen Gesellschaftstheorie. Was im übrigen den Standort seiner Rechtssoziologie im Verhältnis zur Soziologie bzw. zur Rechtswissenschaft angeht, so ist dieser im Hinblick auf das Recht als Gegenstand beider Disziplinen vor allem gekennzeichnet durch sein Bestreben, im wechselseitigen Verhältnis von Soziologie und Rechtswissenschaft den Gefahren einer fachwissenschaftlichen Isolierung zu begegnen, die aus der ständig zunehmenden Spezialisierung und Differenzierung der Problernstellungen dieser Fachwissenschaften resultieren, so daß es einerseits zu einer unkritischen "Fortführung überholter Spezialisierungen" kommt, andererseits zu einer Vernachlässigung der "zwischen den Fächern liegenden Fragestellungen". Die Rechtssoziologie Helmut Schelskys zeichnet sich aus durch seine fachliche, in der westdeutschen Soziologie des Rechts heute recht seltene Kompetenz, zu den Grundlagen des Rechts und der staatlichen Herrschaftsordnung aus der Sicht beider Disziplinen Wissenschaftliches aussagen zu können. In der Tat stellen "sowohl die Kenner einer allgerneinen Rechtslehre und der Rechtsphilosophie als auch die Kenner der modernen soziologischen Theorien", wie Schelsky selbst scharfsichtig diagnostiziert, "Gruppen" dar, "die sich nur in wenigen Gelehrten überschneiden", zu denen er selbst ganz unzweifelhaft gehört. Man kann zu einer Soziologie des Rechts wohl nur gelangen, wenn man, wie Schelskys Vorgehen belegt, den weiten Weg durch die vielfach verzweigten sozialen Lebensbereiche nicht scheut und die mühevolle Arbeit einer möglichst konkreten, methodisch und erfahrungswissenschaftlich gesicherten Wirklichkeitserfassung leistet, doch ist es damit allein sicherlich noch nicht getan. Seine systematische Theorie des sozialen Verhaltens der Menschen und ihrer Institutionen bliebe
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als soziologische Theorie der Institution wie des Rechts einseitig ohne seine hierzu komplementäre, sinnkritische Theorie der Gesellschaft, die für Schelskys soziologische Theorie des Rechts überhaupt erst die Voraussetzungen schafft, um das Recht in seiner N ormativität zu begreifen. Anders als manche seiner soziologischen Fachkollegen, die sich nicht eben selten mit der Analyse des Außenaspekts allen Rechts begnügen, indem sie gegenüber dem staatlich organisierten Rechtssystem den relativ bequemen Standpunkt eines bloß externen Beobachters einnehmen, der die beobachtbaren Verhaltensregelmäßigkeiten sowie die Verlaufswahrscheinlichkeiten eines regelkonformen oder abweichenden Verhaltens zum Hauptgegenstand seiner wissenschaftlichen Erkenntnisinteressen macht, hat Schelsky in seinem Rekurs auf die soziale Wirklichkeit des Rechts stets auch den Innenaspekt des Rechts berücksichtigt, der sich daraus ergibt, daß das Recht von den Adressaten, an die es sich richtet, als sie verpflichtend anerkannt oder doch zumindest als sie verpflichtend behandelt wird. Wer sich- vom Standpunkt des externen Beobachters - auf den Außenaspekt des Rechts beschränkt, vermag nicht hinreichend zu begreifen, wie das Recht im Leben derjenigen fungiert, die es in den ständig wechselnden Lebenssituationen als normative Anleitung ihrem eigenen Verhalten zugrunde legen. Den rechtssoziologischen Zugriff auf diesen Innenaspekt des Rechts, wie er sich vom Standpunkt eines internen Beobachters darstellt, ermöglicht Schelsky durch seine politisch-funktionale Analyse des Rechts, die ihn einerseits in die Lage versetzt, das Recht unter Zugrundelegung eines "politischen Funktionsbegriffs" zu analysieren, was keineswegs bedeutet, daß der Beobachter sich selbst mit dem normativen Anspruch der Rechtsregeln identifiziert, andererseits aber auch gestattet, unter der Voraussetzung bestimmter politischer, mit Mitteln des Rechts erfolgter Programmsetzungen einen auch rechtssoziologisch reflektierten, rechtspolitischen und gesellschaftpolitischen Standpunkt zu vertreten. 4. Indem Schelsky im Hinblick auf das staatlich organisierte Rechtssystem, das auf dem Recht als der grundlegenden und tragenden Sozialbeziehung des Menschen basiert, aus der Sicht eines mit der Analyse der normativen Funktion und Struktur des geltenden Rechts befaßten Beobachters sowohl den Außenaspekt als auch den Innenaspekt der Rechtsordnung zu erfassen sucht, gewinnt er in seiner Rechtssoziologie einen kritisch distanzierten Standpunkt gegenüber der Soziologie wie gegenüber der Rechtswissenschaft. Mit der Frage der Abgrenzung seiner Rechtssoziologie gegenüber anderen Soziologien des Rechts hat Schelsky sich in einer seinen theoretischen Ausgangspunkt verdeutlichenden Studie über "Die Soziologen und das Recht" (1978) befaßt, die kürzlich in der Zeitschrift Rechtstheorie veröffentlicht wurde. In dieser
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Abhandlung wird gegenüber der modernen deutschen Soziologie der Vorwurf erhoben, sie habe "das Recht als grundlegende Sozialbeziehung entweder überhaupt ausgeblendet" bzw. "eliminiert" oder sie habe die Rechtsbeziehung "auf ihre rein objektive Seite, den Einfluß der Rechtsinstitutionen auf das Verhalten der Subjekte, reduziert und vereinseitigt", so daß sie bzw. einige ihrer Hauptvertreter "den im Recht und nach Maßgabe des Rechts handelnden Menschen aus den Augen verloren" haben. Während Schelsky in seiner Kritik an Arnold Gehlen von einer "Eliminierung des Rechts zugunsten der Institution" spricht und gegenüber Ralf Dahrendorf behauptet, daß dieser die "Eliminierung des Rechts zugunsten des Machtinteresses" betrieben habe, macht er Jürgen Habermas den Vorwurf, die "Ausblendung des Rechts zugunsten der Politik als Moral" zu verfolgen und beanstandet an der Rechtssoziologie von Niklas Luhmann die "Vereinseitigung des Rechts zum gesellschaftlichen Steuerungsmechanismus", obwohl er gegenüber letzterem einschränkend konzediert, daß dieser in seiner "Soziologie des Rechts" auch einer "personalen Handlungsorientierung am Recht" durchaus Rechnung getragen habe. Es kann hier nicht darum gehen, der bevorstehenden Diskussion über die Berechtigung dieser kritischen Vorwürfe vorzugreifen, doch wird man - im Hinblick auf das Erfordernis, die rechtssoziologische Betrachtung nicht auf den Außenaspekt des Rechts und den Standpunkt eines externen Beobachters zu beschränken - die hier aufgezeigten prinzipiellen Gefahren bei der rechtssoziologischen Theoriebildung sicherlich zu beachten haben. Ähnlich kritisch äußert sich Schelsky vom Standpunkt seiner Rechtssoziologie auch gegenüber der Rechtswissenschaft, der er vor allem wegen "ihrer dogmatischen Form" den Vorwurf einer Vereinseitigung der Rechtsbetrachtung nicht erspart. Die Rechtswissenschaft pflege das Recht "im Schwerpunkt als ein institutionelles Ordnungssystem abzuhandeln, das in Gesetzen und Verordnungen, in Organisationen und institutionellen Verfahren ,objektiviert'" sei; selbst die "subjektiven Rechte" existieren für sie im wesentlichen als eine spezifisch "objektivierte Rechtsmaterie". Das sei zwar "verständlich", weil die moderne Rechtswissenschaft vor allem "Gesetzes- und Justizwissenschaft" sei, die als "Kunst-, Organisations- und Verfahrenslehre" vor allem die "institutionelle Einwirkung auf das Handeln der Einzelpersonen klärt und lehrt". Im ganzen gesehen könne aber "keine Rede davon sein, daß die Rechtswissenschaft in ihrem gegenwärtigen, sehr betont dogmatisch-gesetzeshermeneutischen Zustand den vollen Umfang des sozialen Rechtshandelns" erfasse. Daher spricht Schelsky durchaus mit Grund von einer objektivistisch-institutionellen " ,deformation professionnelle' der Rechtswissenschaft". Wer heute im Hinblick auf das in unserer Gesellschaft geltende Recht V Festschrift für Helmut Schelsky
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- sei es als Soziologe, sei es als Jurist - Rechtssoziologie betreibt, wird sich in der Tat vor jeder Vereinseitigung und Verkürzung seiner Rechtsbetrachtung hüten müssen, wenn er nicht Gefahr laufen will, eine Rechtssoziologie ohne Recht zu bieten. 5. Die Relevanz der Rechtssoziologie Helmut Schelskys für die praktische Rechtswissenschaft wie für die Rechtspraxis braucht man dem Juristen kaum zu erläutern, denn sie wird für ihn- jedenfalls im Anschluß an die bisherigen Ausführungen - unmittelbar einsichtig. Geht man davon aus, daß im modernen Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland die Staatsverfassung als letzter normativer Geltungsgrund allen Rechts fungiert, so kann man - selbst wenn man die Verfassung und die in ihr verankerten Grundrechte nicht mit Schelsky als Institution begreifen will - kaum umhin, zur Kenntnis zu nehmen, daß der Grundgesetzgeber neben den wichtigen Vorschriften des Staatsorganisationsrechts in einer Reihe von Artikeln teils mit, teils unabhängig von den Grundrechten zahlreiche institutionelle Garantien ausgesprochen hat, zu denen nicht nur die verfassungsrechtliche Verbürgung privatrechtlicher Einrichtungen, wie beispielsweise die Institutsgarantie von Ehe und Familie, elterlicher Gewalt, Eigentum und Erbrecht zählen, sondern auch verfassungsrechtliche Verbürgungen öffentlichrechtlicher Einrichtungen, zum Beispiel die institutionelle Garantie der gemeindlichen Selbstverwaltung, des sachlich und persönlich unabhängigen, nur dem Gesetz verpflichteten Richtertums, der großen Religionsgemeinschaften u. a. m. Kein Zweifel, daß es sich bei all diesen institutionellen Garantien um die verfassungsrechtliche, mit Mitteln des Rechts auf Dauer gestellte Verbürgung von sozialen Einrichtungen handelt, die - unbeschadet ihres auch rechtlichen Charakters - in ihrem Bestande gewährleistet, aber in einer sich wandelnden Gesellschaft auch fortentwickelt werden sollen. Bislang haben praktische Rechtswissenschaft und Rechtspraxis freilich die sich eröffnenden Möglichkeiten einer empirisch-analytischen Durchdringung der tatsächlichen Voraussetzungen hier einschlägiger juristischer Entscheidungsprobleme und einer rechtstheoretischen und rechtssoziologischen Klärung kaum genutzt. Sie sind gewöhnlich mit der soziologischen Theorie der Institution und des Rechts nur wenig oder gar nicht vertraut, wenn man von einigen noch vorsichtig tastenden, primär juristischen Ansätzen institutionellen Rechtsdenkens einmal absieht, deren soziologische Basis nicht ganz unproblematisch ist. Begreift man das Recht insgesamt als ein "institutionelles Ordnungssystem", das in Organisation, Gesetzen, Verordnungen und Verfahren "objektiviert" ist, dann gewinnt die Rechtswissenschaft jedenfalls als praktische, auf Vorbereitung und Kontrolle der Rechtsanwendung be-
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dachte Disziplin in der Tat den Charakter einer Fachwissenschaft, welche die "institutionelle Einwirkung auf das Handeln der Einzelpersonen klärt und lehrt". Und dabei kann ihr die Rechtssoziologie Helmut Schelskys, die nicht bloß auf "Stabilisierung des Gewordenen und Erreichten" bedacht ist, sondern auch die Chancen, Voraussetzungen und Folgen eines "sozialen Wandels durch Recht" mitbedenkt, durchaus behilflich sein. Das gilt übrigens, wie nicht besonders betont zu werden braucht, für den gesamten Bereich des von Menschen für das Verhalten der Menschen und ihre Institutionen "gesetzten" Rechts, also für das öffentliche wie für das private Recht. Über den engeren Fragenkreis praktischer Rechtswissenschaft hinaus, lassen sich ferner im Bereich aktueller rechtswissenschaftlicher Grundlagenforschung mindestens drei Forschungsgebiete ausmachen, in denen eine Auseinandersetzung mit der Soziologie des Rechts, insbesondere der Rechtssoziologie Helmut Schelskys, ganz unvermeidlich ist, auch wenn sie gegenwärtig noch in den Anfängen steckt. Zu denken ist hier vor allem an die Juristische Methodenlehre der praktischen Rechtswissenschaft, an die Allgemeine Rechtslehre oder Rechtstheorie und an die Rechtsphilosophie, also an drei relativ selbständige Teildisziplinen der Rechtswissenschaft, die heute sämtlich nicht ohne eine zureichende Kenntnis der modernen Soziologie des Rechts auszukommen vermögen. In seinen Analysen des vielschichtigen Werks von Rudolph von Ihering, des Ahnherrn und Klassikers der Juristischen Methodenlehre praktischer Rechtswissenschaft, aber auch der Allgemeinen Rechtslehre und der deutschen Rechtssoziologie hat Schelsky selbst den Nachweis geführt, daß nicht nur die besondere und die allgemeine Rechtslehre oder Rechtstheorie einander bedingen, sondern "Philosophie und spekulative Geschichtswissenschaft als Leitwissenschaften der Rechtstheorie" spätestens seit Ihering abgelöst worden sind durch "soziologisch-systematische Aussagen über das Recht", zu denen selbstverständlich auch eine "Theorie des sozialen Wandels durch Recht" gehöre. Daher steht für Schelsky, wie schon für Rudolph von Ihering, die Juristische Methodenlehre und die Allgemeine Rechtslehre der Interessen- und Wertungsjurisprudenz in engem Zusammenhang mit einer soziologischen Rechtslehre bzw. einer soziologischen Theorie des Rechts. Betrachten wir die Allgemeine Rechtslehre oder Rechtstheorie als die "Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft", wie es der unter der Mitherausgeberschaft von Schelsky im Jahre 1972 erschienene zweite Band des Jahrbuchs für Rechtssoziologie und Rechtstheorie sinnfällig macht, dann dürfte die kritische Auseinandersetzung mit den Grundlagen von Recht und Staat künftig vor allem als eine Aufgabe von Rechtssoziologie und Rechtstheorie anzusehen sein, die nur mit vereinten Kräften bewältigt werden kann. Auch wenn man sich, wie
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Schelsky es schon früh getan hat, von jeder bloß ideengeschichtlichen Auffassung des Rechts wie von der Tradition des philosophischen Idealismus konsequent absetzt, so vermag eine soziologische Theorie des Rechts oder Rechtssoziologie gleichwohl nicht ohne letztlich philosophische Annahmen auszukommen. Es ist schlechterdings unmöglich, das soziologische Rechtsdenken auf der Grundlage einer Wissenschaftstheorie zu etablieren, die sich von dem Einfluß philosophischen Denkens völlig freizuhalten vermöchte. Damit stellt sich abschließend die Frage nach dem wissenschaftstheoretischen Fundament und der philosophischen Basis von Schelskys Soziologie des Rechts. VI. 1. Indem Helmut Schelsky in seiner systematischen, auf das soziale Verhalten der Menschen und ihre Institutionen gerichteten Soziologie von vornherein seiner Soziologie des Rechts eine zentrale Stellung einräumt, die der besonderen "Bedeutung des Rechts für die Strukturgesetze der Gesellschaft" Rechnung zu tragen sucht, vermag er zu einer Rechtssoziologie zu gelangen, die das sozial etablierte Rechtssystem mit seinen Institutionen und Instanzen sowohl unter dem äußeren als auch unter dem inneren Aspekt der Rechtsgeltung als wechselwirkendes Motivations- und Institutionssystem begreift. Für Rechtswissenschaft und Rechtspraxis von besonderer Relevanz ist dabei der Umstand, daß Schelskys Rechtssoziologie aufgrund ihrer Verbindung mit seiner "sinnkritischen Theorie der Gesellschaft" durchaus geeignet ist, auch zur Ausarbeitung und Erörterung der normativen Strukturprobleme des Rechts beizutragen, ohne dabei in ein unverbindliches und unwissenschaftliches, bloß politisches Räsonnement abzugleiten. Und schließlich ist seine Rechtssoziologie auch in der Lage - und das macht sie für Rechtswissenschaft und Rechtspraxis vor allem unter dem Aspekt der Gesetzgebungslehre und Rechtserzeugung besonders attraktiv - im Ausgang von einem politischen Funktionsbegriff aufgrund politisch-funktionaler Analysen des Rechts zu rechtssoziologisch begründeten, rechtspolitischen und gesellschaftspolitischen Vorschlägen zu gelangen. Im ganzen gesehen läuft Schelskys aus den bisher veröffentlichten Teilstücken seiner Rechtssoziologie ablesbare, dynamischfunktionale, d. h. den sozialen Wandel durch Recht einschließende, soziologische Theorie des Rechts auf eine Verbindung systemfunktionaler und personfunktionaler Aspekte und Denkansätze hinaus, die die Einseitigkeiten einer bloß gesellschaftsfunktionalen Analyse des Rechts zu vermeiden sucht, indem sie auch "den Motivschichten des Rechtshandelnden" rechtssoziologisch Rechnung trägt. Daß seine Soziologie des Rechts damit die Einseitigkeiten des Gesetzes- und Rechtspositivis-
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mus weit hinter sich gelassen hat, bedarf hier keiner weiteren Darlegung. In ihrer auf eine möglichst konkrete Wirklichkeitserfassung bedachten, auf Erfahrungsanalysen basierenden Vorgehensweise, die sich von überzogenen Abstraktionsansprüchen freihält, kommt sie wohl am ehesten einem nachpositivistischen Rechtsrealismus nahe, der sich bislang in den Vereinigten Staaten von Amerika und in Skandinavien -übrigens auch hier vermittelt durch gewisse gedankliche Vorentwicklungen und Schrittmacherdienste Rudolph von Iherings - freilich sehr viel ungehinderter zu entfalten vermochte. Jedoch hat Schelskys Soziologie des Rechts - anders als einige aktuelle Entwicklungsrichtungen des Rechtsrealismus - den normativen Aspekt des geltenden Rechts nie vernachlässigt oder gar aufgegeben, sondern ihn aufgrund ihrer auch politisch-funktionalen Betrachtung des Rechts stets in das Zentrum ihrer theoretischen und praktischen Überlegungen gestellt. Auf diese Weise trifft sich Schelskys Soziologie des Rechts mit den Erkenntnisinteressen der theoretischen wie der praktischen Rechtswissenschaft. Leider fehlt hier der Raum, um - in Anbetracht des fast völligen Fehlens einschlägiger Vorarbeiten - die wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen und Implikationen im Werke Schelskys auch im rechtssoziologischen Detail herauszuarbeiten. Es sei daher nur festgehalten, daß für Helmut Schelsky selbstverständlich auch die Soziologie des Rechts eine empirische Sozialwissenschaft ist, die als solche neben anderen Erfahrungswissenschaften, wie beispielsweise den Wirtschaftswissenschaften oder der Rechtswissenschaft, betrieben wird. Das sollte den heute freilich selten gewordenen, noch immer an einer Art Berührungsangst vor den Sozialwissenschaften leidenden Vertretern dogmatischer Jurisprudenz zu denken geben, welche die Jurisprudenz gegenüber den Sozialwissenschaften- und damit auch gegenüber einer Soziologie des Rechts! - ab- und auszugrenzen versuchen, um die Rechtssoziologie leichter als rechtswissenschaftlich vermeintlich irrelevant negieren und sich selbst gegen unliebsame sozialwissenschaftliche Kritik immunisieren zu können. Ferner ist die erfahrungswissenschaftliche Analyse auch der normativen Sinnsetzungs- und Sinndeutungsvorgänge des alltäglichen Lebens eine Aufgabe, die zunächst von den einzelnen Fachwissenschaften aufgrund ihres jeweiligen Methodenverständnisses zu bewältigen ist. Dieser noch von Kant und dem Kantianismus geprägte Wissenschaftsbegriff wird freilich im Bereich einer transzendentalen sinnkritischen Theorie zum Problem, doch hat Schelsky stets deutlich gemacht, daß auch seine "transzendentale Theorie" der Gesellschaft wie des Rechts durchaus nicht "über alle Erfahrungen hinausgeht", sondern die empirischen Analysen der Einzelforschung und das System seiner Soziologie nur insofern "überschreitet", als sie - beide voraussetzend - nach
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den Bedingungen dieses rechtssoziologischen Denkens und des in ihm Gedachten fragt. Schelsky erblickt sie- anders als der Wiener Kreis mit seinem Formalismus - nicht in einem bloß logischen Aufbau der Welt, sondern bei seiner Suche nach Wirklichkeit vor allem in der Analyse des sinnlich-sinnhaft gedeuteten Handlungserlebens und des in ihm Erlebten und Bedachten, d. h. in der Funktion und Struktur dieses menschlichen Handlungserlebens, das stets als soziale Konstruktion bzw. Rekonstruktion der institutionell immer schon verfaßten sozialen Wirklichkeit des alltäglichen Lebens erscheint. Sein Versuch, das gesellschaftliche Leben empirisch-analytisch, aber auch sinnkritisch im Hinblick auf den vom Menschen selbst gesetzten "Sinn" gedanklich zu durchdringen, unterscheidet ihn somit grundlegend von den Vertretern eines wissenschaftstheoretischen Positivismus, die heute nicht nur im Bereich einer Soziologie des Rechts, sondern vor allem auch im Bereich theoretischer Rechtswissenschaft anzutreffen sind. Während Rudolf Carnap sich um einen logischen Aufbau der Sozialwelt bemüht und Alfred Schütz demgegenüber zu einem sinnhaften Aufbau der Sozialwelt zu gelangen versucht, ist Helmut Schelsky bestrebt, durch kritische Reflexion auf die institutionell immer schon beantwortete, aber auch stets aufs neue zu beantwortende "Sinnfrage des Sozialen" zum Aufbau einer sinnkritischen Theorie der Gesellschaft und des Rechts beizutragen, deren wesentliche Aufgabe er in der kritischen Analyse aller Sinnsetzungprozesse in der alltäglichen Lebenswelt erblickt. Indem Schelsky die Kreisprozesse wechselwirkender Institutionsund Motivationssysteme in den Vordergrund seiner Überlegungen rückt, vermag er- weit entfernt von jedem alle normativen Aspekte des sozial konstituierten Sinns ignorierenden, allzu einseitigen Soziologismus oder Psychologismus- die objektiven und subjektiven Sinnzusammenhänge sozialen Erlebens und Handeins miteinander zu verbinden und damit die Einseitigkeiten und Verkürzungen zu vermeiden, die auch in der Handlungstheorie eines so bedeutenden, heute schon zu den Klassikern zählenden Rechtssoziologen wie Max Weber noch zu verzeichnen sind. Bei seiner Suche nach Wirklichkeit, die für ihn stets zugleich eine Suche nach Rechtswirklichkeit, d. h. nach der sozialen Wirklichkeit des Rechts, beinhaltet, steht somit schon am Beginn der sinnkritischen Theorie Schelskys der tiefgreifende Zweifel daran, daß die Krise, in die alle praktische Wissenschaft geraten ist, allein durch empirische Sozialforschung bzw. durch eine bloße Erneuerung der Forschungslogik überwunden werden könnte. Das gilt nach seiner Auffassung nicht nur für die Soziologie des Rechts, die zugleich praktische Aufgaben wahrzunehmen hat, sondern auch für die praktische Rechtswissenschaft, die "in ihrem gegenwärtigen, sehr betont dogmatisch-gesetzeshermeneuti-
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sehen Zustand den vollen Umfang des sozialen Rechtshandelns" gar nicht erfaßt. Und es gilt ferner für einige aktuelle Forschungsrichtungen der "Rechtsmethodologie", die "von vielen fälschlich als der moderne Ersatz der Rechtsphilosophie angesehen" wird. Der konsequente Rekurs auf die soziale Wirklichkeit des alltäglichen Lebens und die soziale Wirklichkeit des Rechts mit ihren sinnhaft konstituierten, aber durchaus pragmatisch aufgefaßten wechselseitigen Handlungs- und Wirkungsbeziehungen, die in der institutionellen Ordnung wie in den subjektiven Bewußtseinszuständen der sozial Handelnden ihren Niederschlag finden, erinnert in wissenschaftstheoretischer Hinsicht einerseits an den Pragmatismus von William James, andererseits an die Phänomenologie des Alltags bzw. der Lebenswelt von Edmund Husserl, dessen Denkansatz die Konstitutionsanalyse alltäglicher und wissenschaftlicher Sinnzusammenhänge transzendental abzuleiten und zu begründen suchte. Jedoch verdankt sich Schelskys durch die kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Philosophie des Idealismus geschulte, streng durchgehaltene Unterscheidung zwischen der Fülle und Vielfalt des menschlichen Erlebens und der kritischen Reflexion auf ein Erlebtes letztlich wohl der Philosophie von Henri Bergson, auf dessen Vorstellung von der durch das menschliche Handeln erreichbaren und im Handeln jeweils erreichten Dauer (duree sociale) er auch in seiner jüngsten Abhandlung über "Die Soziologen und das Recht" (1978) ausdrücklich Bezug nimmt. Indem Schelsky in seiner sinnkritischen Theorie der Gesellschaft und des Rechts seine Erfahrungsanalysen auf die im alltäglichen menschlichen Erleben und Handeln konstituierten, mit Mitteln des Rechts auf Dauer gestellten, aber auch zukunftswirksam gestalteten Sinnzusammenhänge zurückführt, hält er zugleich an der auch von Bergson mitbestimmten begrifflichen Konzeption des sozialen Sinns als einer stets reflexiven, erst im Nachhinein aufgrund eines sinnkritischen Vorgehens zugänglichen Sinnstruktur fest, die zugleich einen wissenschaftlich gesicherten Zugang zum normativen Sinn des Rechts erschließt. 2. Begreift man alles Recht - sofern im Hinblick auf die Vielzahl und Vielfalt staatlich organisierter und gestützter Rechtsordnungen die Verwendung des Kollektivsingulars Recht überhaupt angebracht ist! - als universales Phänomen der Gesellschaft, so erscheint es notwendig, im Hinblick auf die Erfordernissen einer wissenschaftlichen Analyse nicht nur die Voraussetzungen, sondern auch die Folgen zu bedenken, die aus der partikularistischen Aufsplitterung der mit dem menschlichen Verhalten im weitesten Sinne befaßten sozialen Handlungswissenschaften in eine Vielzahl von Fachwissenschaften resultieren. Damit ist nicht nur die. schon eingangs berührte Frage nach dem fachwissenschaftliehen Standort der Rechtssoziologie im Verhältnis von
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Soziologie und Jurisprudenz, d. h. als Fach einer dieser beiden Disziplinen, gestellt, sondern auch die Frage nach der Relevanz einer Soziologie des Rechts für die sich innerhalb der Jurisprudenz ausdifferenzierenden speziellen Fragestellungen und Teildisziplinen, die unter dem Aspekt sich partiell verselbständigender fachwissenschaftlicher Forschungsrichtungen und verschiedenartiger Erkenntnisinteressen betrieben werden, wie beispielsweise die Juristische Methodenlehre der praktischen Rechtswissenschaft, die theoretische Rechtswissenschaft oder Rechtstheorie sowie die Rechtsphilosophie. Die Gefahren einer derartigen Entwicklung hat Schelsky nicht allein in der rein fachwissenschaftliehen Fortführung und Perpetuierung überholter Spezialisierungen erblickt. Sie liegen für ihn gar nicht so sehr darin, daß "gleiche oder ähnliche Gegenstände nach speziellen Fragestellungen" behandelt werden oder einesachfremde "Vereinzelung der Methoden" vorgenommen wird. Vielmehr erblickt er die eigentliche Gefahr in der "Isolierung im Verhältnis solcher Wissenschaften zueinander", weil sie eine häufig gar nicht bemerkte Vernachlässigung der "zwischen den Fächern liegenden Fragestellungen" zur Folge hat. In der Tat wird mit der wachsenden Verselbständigung vermeintlich völlig eigenständiger Fachwissenschaften die "Gefahr der theoretischen Isolierung der Fächer und damit die Verengung der Erkenntnis" durchaus augenfällig. Das gilt auch im Hinblick auf die einzelnen Fächer und die verschiedenen wissenschaftlichen Richtungen in ein und derselben Disziplin, wie beispielsweise innerhalb der Jurisprudenz, in der eine von Juristen für Juristen betriebene Rechtsphilosophie "den vollen Umfang des sozialen Rechtshandelns" gar nicht mehr zu erfassen vermag. Einen Ausweg aus diesem Dilemma vermag nach Auffassung von Schelsky nur eine Wissenschaftsentwicklung zu eröffnen, die von der "Ergänzungsbedürftigkeit der Aspekte des Wissens" ausgeht und sich in ihrer Wissenschaftspraxis stärker als bisher durch die "Kooperationsnotwendigkeit unter den Wissenschaften" bestimmen läßt. Entsprechendes gilt für das Verhältnis der Soziologie des Rechts zur praktischen Rechtswissenschaft bzw. zur Rechtspraxis. Solange die Rechtspraxis sich nur auf die Anwendung der Einsichten praktischer Rechtswissenschaft beschränkte, aber die für ihre Tätigkeit benötigte "Sozial- und Menschenkenntnis" jeweils "aus der unmittelbaren Lebenserfahrung der Person" schöpfte, konnten sich die Rechtspraktiker, was die Wissenschaftlichkeit ihres Vorgehens angeht, im Rahmen ihres fachwissenschaftlich orientierten Handeins und Entscheidens als durchaus autonom begreifen. In dem Maße, in dem jedoch das Erfordernis einer "Verwissenschaftlichung der Primärerfahrung" wächst, aber die jeweilige "Fachautonomie der Praxis" gleichwohl aufrechterhalten werden soll, gerät alle Rechtspraxis in die Gefahr, anstelle einer Sozio-
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logie des Rechts sich eine selbstgemachte Rechtssoziologie "auf den Leib zu schneidern", indem sie rechtssoziologische Einzelkenntnisse "je nach persönlicher Erfahrung" auswählt, um sie dann "sichernd und stützend in das vorhandene Planungs- und Handlungsgefüge" einzupassen. Vor dieser "Selbsttäuschung des leichten Weges" hat ScheZsky mit Grund gewarnt. In der Tat bedarf eine Rechtspraxis, die auf eine "Verwissenschaftlichung der Primärerfahrung" des Rechtspraktikers nicht verzichten will, in ihren rechtssoziologischen Annahmen der ständigen "Wirklichkeitskontrolle" durch eine Soziologie des Rechts, die ein von Realitätsverschätzungen weitgehend befreites Erfahrungswissen bereitzustellen hat. Auch insoweit kann das Verhältnis der Soziologie des Rechts zur praktischen Rechtswissenschaft bzw. zur Rechtspraxis grundsätzlich in der "kooperativen Handlungsverschränkung zwischen analytischen und angewandten Wissenschaften" erblickt werden, ohne daß normatives Rechtsdenken und praktisches juristisches Entscheiden durch eine Soziologie des Rechts mattgesetzt werden. Erblickt man die Funktion einer Soziologie des Rechts mit ScheZsky darin, aufgrund empirisch-analytischer Tatbestandserhebungen und möglichst konkreter Erfahrungsanalysen der sozialen Wirklichkeit des Rechts eine von Realitätsverschätzungen befreite, wissenschaftlich aufbereitete "Welterfahrung des sozialen Lebensbereichs" bereitzustellen, so mag auf seiten der praktischen Rechtswissenschaft wie der Rechtspraxis bei manchem Juristen fälschlich der Eindruck erweckt werden, auf diese Weise auch die soziale Seite seines Handeins "in irgendeiner Form unmittelbar deduktiv aus den soziologischen Einsichten ableiten zu können". Und eben diese falsche Anschauung wird dann von einigen anderen Juristen, aber auch von manchem Rechtswissenschaftler, der die Zusammenhänge mangels rechtssoziologischer Kenntnisse nicht hinreichend durchschaut, als Position der Rechtssoziologie schlechthin bekämpft. Hier kann nur Aufklärung helfen - bei den Juristen, die solche Erwartungen oder Befürchtungen hegen! Daß die empirischanalytische Erarbeitung rechtssoziologischer Einsichten in die Funktion und Struktur allen Rechts diese Art inhaltlicher Praxisorientierung nicht zu leisten vermag, bedarf hier keiner weiteren Darlegung. Eine Soziologie des Rechts, die- wie diejenige Helmut ScheZskys- durchaus "im kantischen Sinne die phänomenale Analyse des Vorhandenen und Geschehenden sich zu geben bemüht, um die ganze Fülle des Machbaren und des Nichtmachbaren erst einmal aufzuhellen", setzt damit gerade "die Sollens- und Praxiswissenschaften in voller Eigenverantwortung und ohne den geheimsten Anspruch auf deduktive Gängelung und Steuerung frei", weil sie sich "auf die Analyse des Seienden- auch des seienden Normativen" -beschränkt.
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Eine weitere Quelle für zahlreiche Mißverständnisse und Ärgernisse, welche die Soziologie des Rechts heute für manchen Juristen bietet, liegt darin, daß der Rechtssoziologe die "dem Handelnden zuweilen gar nicht bewußten oder von ihm selbst nicht eingestandenen sozialen Abhängigkeiten, Voraussetzungen, Zwänge und Einseitigkeiten aufdeckt". Auch beschreibt er die häufig "übersehenen, auf jeden Fall nicht gewollten Nebenerfolge, die die Handlungen der jeweiligen Praxis im gesamten Sozialsystem ausgelöst haben". Das wird nicht eben selten auf seiten der Rechtspraxis, aber auch der praktischen Rechtswissenschaft fälschlich als "Verantwortungszurechnung" begriffen für das, was der praktisch "Handelnde in seinem System gar nicht verantworten will oder kann". Ferner sieht der Jurist - insoweit durchaus zutreffend! - in den bloß empirisch-analytischen Funktionseinsichten einer Soziologie des Rechts den "innersten Grund seiner Motive, Wertungen und Handlungsentscheidungen nicht berücksichtigt". Das verführt manchen Rechtspraktiker, aber auch manchen Rechtswissenschaftler, der die kritische Funktion bloßer Wirklichkeitsdarstellung verkennt, zu der Annahme, die Soziologie des Rechts habe seinen Standpunkt "verfälscht und verneint", so daß er glaubt, das Recht und die Rechtswissenschaft gegen die als "konkurrierende Handlungswerte und -motivationen verstandenen Aussagen der soziologischen Analyse verteidigen und behaupten zu müssen". Ebensowenig wie die Soziologie des Rechts dem rechtsanwenden Juristen Rezepte richtigen Handeins ausstellen kann, wenn es um sein eigenverantwortliches juristisches Entscheiden geht, vermag sie Rechtsnormen richtigen Entscheidens aufzustellen. Solche Befürchtungen sind freilich nicht gänzlich unbegründet, weil es auch Rechtssoziologen gibt, die glauben, bei der Wahrnehmung ihrer analytischen Aufgaben auch die normative Entscheidungstätigkeit gleich mitbesorgen zu sollen. Für Helmut Schelsky und seine Soziologie des Rechts gibt es jedoch "keine soziale ,action directe' aus der soziologischen Analyse heraus". 3. Der Weg Helmut ScheZskys zur Soziologie des Rechts wird somit entscheidend bestimmt und geprägt durch die ständige kritische - und das heißt für ihn stets auch sinnkritische! - inhaltliche Auseinandersetzung mit den durch das Leben selbst gestellten konkreten Rechtsproblemen in Rechtspraxis und praktischer Rechtswissenschaft, in der zugehörigen Juristischen Methodenlehre sowie der Rechtstheorie und Rechtsphilosophie. Im Zentrum seiner wissenschaftlichen Arbeit als Inhaber des Lehrstuhls für Rechtssoziologie und Rechts- und Sozialphilosophie im Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Münster stand und steht somit auch die Beschäftigung mit den Grundlagen des Rechts und der Rechtswissenschaft, die er zum Gegenstand seiner soziologischen Analysen macht. Indem Schelsky sich dabei mit Bedacht an
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den von der Jurisprudenz als Fachwissenschaft vernachlässigten oder gar ignorierten Fragen, an den zwischen den hochspezialisierten Teildisziplinen der Rechtswissenschaft aufbrechenden und über sie hinausweisenden Problemstellungen orientiert, ohne sich durch die bloß konventionellen Fächergrenzen zwischen Soziologie, Rechtswissenschaft und Philosophie beirren zu lassen, ist es ihm gelungen, den stets aktuellen "Streit zwischen den Realitäts- und den Sollensaspekten unserer Welt" als einen Problemzusammenhang zu bestimmen, der nur unter der Bedingung einer "Kooperation der Wissenschaften" zureichend behandelt werden kann. Diese Soziologie, das heißt seine Wissenschaft von Recht und Gesellschaft, hat Schule gemacht. Das gilt nicht bloß in dem Sinne, daß Helmut Schelsky schon früh, vor allem als Universitätslehrer in Münster und Dortmund - neben den anderen damaligen Zentren in Berlin, Frankfurt und Köln - eine Reihe von Soziologen an sich zog, ohne die heute die westdeutsche Soziologie als Fach und damit auch die Rechtssoziologie kaum denkbar wäre. Die Münstersehe Schule der Rechtstheorie, deren Wirkungen längst über den engeren Universitätsbereich hinausreichen, wäre heute nicht das, was sie ist, ohne die fruchtbaren Auseinandersetzungen mit dem institutionellen Rechtsdenken Schelskys und seiner Soziologie des Rechts, welche die Einsicht in die Notwendigkeit ständiger Kooperation mit der Rechtswissenschaft und der Philosophie nicht bloß postuliert, sondern in die Tat umgesetzt hat. In dem Dilemma des heute aller Rechtspraxis wie der praktischen Rechtswissenschaft angesonnenen, noch ständig wachsenden Gestaltungs- und Entscheidungsdrucks einerseits und der schwindenden Realitätsgewißheit andererseits, hat Helmut Schelsky an der Universität Münster seit mehr als eineinhalb Jahrzehnten - von seiner vorübergehenden Wirksamkeit in der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld in den Jahren 1970 bis 1973 einmal abgesehen- in ständiger Zusammenarbeit mit der von Hans J. Wolff im Jahre 1957 begründeten Westfälischen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechtsund Sozialphilosophie (IVR), die im Februar 1978 ihre 100. Sitzung veranstaltete, und mit dem Philosophen Joachim Ritter und seinem Schülerkreis unter der im Laufe der Jahre wechselnden Beteiligung zahlreicher namhafter Gelehrter aus den verschiedensten Fachbereichen den Gedanken einer Kooperation von Rechtswissenschaft, Soziologie und Philosophie tatkräftig ins Werk gesetzt. Trotz der Beteiligung von Juristen aller Fachrichtungen und der Bindung ihres jeweiligen rechtspraktischen Erkenntnisinteresses an eines der großen Teilgebiete des geltenden Rechts, wie das Privatrecht, Strafrecht, Öffentliche Recht oder Prozeßrecht, ging und geht es dabei nicht um ein bestimmtes, mehr oder weniger verbindliches inhaltliches Programm. Einer Schulbildung im Sinne einer R.eduktion der zwischen Gelehrten bestehenden
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wissenschaftlichen Beziehungen auf ein bloßes Lehrer- und SChülerverhältnis hat Schelsky stets skeptisch gegenübergestanden und mit Grund aktiv entgegengewirkt, weil er sie als der heutigen Wissenschaftsentwicklung nicht mehr angemessen ansieht. Auch hat sich diese Zusammenarbeit von Juristen, Soziologen, Philosophen, Linguisten und Politologen, von denen einige schon seit geraumer Zeit an anderen Universitäten wirken, bei aller Kritik des juristischen Positivismus, insbesondere des latent auch gegenwärtig durchaus noch wirksamen Gesetzes- und Rechtspositivismus, weder auf die Positivität und Narrnativität des Rechts schlechthin beschränkt noch - trotz der permanent geführten Auseinandersetzung mit dem wissenschaftstheoretischen Positivismus bzw. Neopositivismus- in bloßer Methodologie und Wissenschaftstheorie erschöpft. Sie ist vielmehr über die Jahre hinweg stets inhaltlich, auch dem konkret erfahrbaren Detail verpflichtet geblieben und hat sich in ihren rechtspraktischen wie rechtstheoretischen Überlegungen im Bereich des durch Erfahrungsanalysen gedeckten und methodologisch gesicherten Wissens gehalten, so daß im Hinblick auf die Münstersehe Schule der Rechtstheorie heute wohl am ehesten von einem wissenschaftstheoretisch aufgeklärten nachpositivistischen Rechtsrealismus gesprochen werden kann. In dieser langjährigen Zusammenarbeit hat sich einmal mehr die Einsicht Schelskys bewahrheitet, daß eine Kooperation der Wissenschaften vor allem dann fruchtbar zu werden vermag, wenn es gelingt, sie in Institutionen auf Dauer zu stellen, "in die die einzelnen Wissenschaften mit ihren partiellen Wahrheiten einzugehen haben", weil man erst aufgrund langwieriger, fachsystematisch heterogener Detailarbeit zu "Denksynthesen" gelangt, die geeignet sind, die faktischen und normativen "Voraussetzungen der Handlung und des Handelnden zu ergründen" und "das System eines sozialen Handelns" besser als bisher anzuleiten. Während jedoch beiJoachim Ritter schon seit Beginn der 60erJahre die für die westdeutsche Philosophie der Gegenwart charakteristische Diskussion einer Wiederbelebung und Grundlegung der praktischen Philosophie im Vordergrund stand, die zur Rehabilitierung auch des normativen Anliegens aller praktischen Philosophie führte, welche eine Antwort auf die Frage zu finden sucht, was wir tun sollen, stand für Hans J. Wolff stets die rechtstheoretische und philosophische Grundlegung der praktischen Rechtswissenschaft im Vordergrund seines Erkenntnisinteresses. In seiner langjährigen Zusammenarbeit mit beiden Gelehrten ist Helmut Schelsky stets bestrebt gewesen, gegenüber allen Realitätsverschätzungen vom Sein wie vom Sollen her in der notwendigen Kooperation von Rechtswissenschaft, Soziologie und Philosophie aufgrund seiner Soziologie des Rechts in den stets auch sinnkritischen Auseinandersetzungen vor der Erörterung normativer Problemlösungen
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zunächst einmal das "Realitäts- und Sollensbewußtsein" zur Deckung zu bringen, was heute augenscheinlich "in der Form der wissenschaftlichen Kooperation" wohl am ehesten möglich ist. Diese Form der Zusammenarbeit hat Schelsky nach dem allzu frühen Tode von Hans J. Wolff und von Joachim Ritter seit Jahren vor allem mit dessen Nachfolger, dem Philosophen Friedrich Kaulbach fortgesetzt, der die von Ritter neu begründete rechtsphilosophische Denktradition, welche die Rechtsphilosophie konsequent als Teil der praktischen Philosophie begreift, auf seine Art fortführt. Die Erneuerung, Fortsetzung und Fortentwicklung des wissenschaftlichen Anliegens praktischer Philosophie beruht für Kaulbach - ähnlich wie für Schelskys sinnkritische Theorie der Gesellschaft - nicht so sehr auf einer Wiederanknüpfung an Hegel, sondern an Kant, die freilich erst durch seine kritische Überwindung des Neukantianismus möglich geworden ist. Die langjährige kontinuierliche, in einem fruchtbaren Spannungsverhältnis von Rechtswissenschaft, Soziologie und Philosophie geführte Zusammenarbeit, welche sich auf seiten der der Münstersehen Schule der Rechtstheorie zuzurechnenden Wissenschaftler in einer Reihe von Studien und Veröffentlichungen niedergeschlagen hat, die den Grundlagenproblemen von Recht, Staat und Gesellschaft gewidmet sind, hat nicht nur die Rechtstheorie und Rechtssoziologie nachhaltig gefördert und dazu beigetragen, dem von Schelsky diagnostizierten "Verdorren der Rechtsphilosophie innerhalb der Rechtswissenschaft" höchst wirksam zu begegnen. Vielmehr hat Schelskys soziologisches Rechtsdenken in der Kooperation mit Philosophie und Rechtswissenschaft auch zur Rehabilitierung der praktischen Philosophie wie der praktischen Rechtswissenschaft beigetragen, deren zu behandelnde Praxisprobleme in vielen Daseinsbereichen der gegenwärtigen Lebenswelt des Menschen noch längst nicht bewältigt sind. Es hieße, einem heute sicherlich nicht mehr zeitgemäßen binnenfakultativen soziologischen Solipsismus das Wort reden, wollte man die im Jahre 1973 erfolgte Rückkehr Helmut Schelskys an den Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität zu Münster, das er seinem Wohnsitz nach gar nicht verlassen hatte, als einen Rückzug aus der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld, ja der Soziologie schlechthin interpretieren, wie es einige voreilige Kritiker getan haben. Wie der auf der dritten Europäischen Konferenz der Rechtsfakultäten im April 1974 von ihm erstattete Bericht über "Usefulness and Dangers of Teaching The Social Seiences to Law Students" zeigt, hat Schelsky sich seit Jahren sehr eingehend theoretisch wie praktisch auch mit den Problemen des Studiums einer Soziologie des Rechts im Rahmen der Juristenausbildung befaßt. Während Soziologische Fakultäten noch über die Be-
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rufs- und Arbeitsplatzchancen der von ihnen auszubildenden Soziologiestudenten rätseln und einige Juristische Fakultäten - privilegiert durch die künstlichen Studienvoraussetzungen eines reformbedingten Numerus clausus - noch immer die Reform der Juristenausbildung sowie die Möglichkeiten einer Integration von Rechts- und Sozialwissenschaften . erproben, hat Helmut Schelsky in knapp einem halben Jahrzehnt im Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Münster, der mit rund 4900 Jurastudenten und ca. 900 Studienanfängern pro Studienjahr derzeit zweitgrößten westdeutschen Juristischen Fakultät, das Studium der Soziologie des Rechts, das heißt der empirischen wie der theoretischen Rechtssoziologie, fest im juristischen Studium verankert. Die hier vorliegende Darstellung seines Wegs zur Soziologie des Rechts dürfte hinreichend deutlich machen, daß Schelsky weder seirien Abschied von der Universität genommen noCh mit der Soziologie gebrochen hat, wie manche Berufskollegen auch heute noch meinen. Wenn er mit Ablauf des Wintersemesters 1977/78 mit seiner vorzeitigen Emeritierung seine offizielle Lehrtätigkeit eingestellt hat, so verlieren die Studierenden einen stets anregenden, zur kritischen Auseinandersetzung ermunternden Hochschullehrer, doch setzt ihn dieser Verzicht für die soziologische Forschung frei.
Der Mensch Helmut Schelsky wird der soziologischen Forschung auch weiterhin sein unverwechselbares Signum aufdrücken. Ein Künstler unter den Gratulanten zu seinem 65. Geburtstag hat in einem von ihm überreichten Druck, der das "Alphabet" der Persönlichkeit Helmut Schelskys von A bis Z aufschlüsselt, das für ihn charakteristische Signum, welches in der unmittelbaren menschlichen Begegnung am deutlichsten hervortritt, in zwei Eigenschaften erblickt, die wenn er sie nicht schon besäße - sein Wahlspruch sein könnten: Wahrhaftigkeit und Wohlwollen.
Die Gesellschaftsbezogenheit der Grundrechte Von Norbert Achterberg
I. 1. Der Jurist verdankt dem Soziologen die Anregung: Helmut Schelsky hat die Frage nach der "Sozialbindung der Meinungsfreiheit" aufgeworfen. In seinen Darlegungen über "Der ,engagierte' Publizist und Schriftsteller" und dem hierin eingeschlossenen "Exkurs: Heinrich Böll -Kardinal und Märtyrer" findet sich der Kontext:
" ... in ,Katharina Blum', läßt [Böll Katharina Blum] fragen, ,ob der Staat ... nichts tun könne, um sie gegen diesen Schmutz zu schützen und ihre verlorene Ehre wieder herzustellen'. Und eine Negativfigur der Erzählung, ,der junge Staatsanwalt Dr. Korten', belehrt sie, ,daß es nicht Sache der Polizei oder Staatsanwaltschaft sei, gewiß verwerfliche Formen des Journalismus strafrechtlich zu verfolgen. Die Pressefreiheit dürfe nicht leichtfertig angetastet werden', und er verweist sie auf eine Privatklage. Ich bin in der Sache mit Böll einig, habe schon früher die Sorgfältigkeit und Sachgerechtigkeit der Information als die ,Sozialbindung der Meinungsfreiheit' bezeichnet. Aber so einfach nach dem Staatsanwalt rufen, wenn jemand durch falsche öffentliche Information verletzt ist oder sich fühlt ... ?" 1 •
Schelskys Frage ist von äußerster juristischer und soziologischer Brisanz. Sie stellt sich allgemeiner gewendet dahin, ob die Sozialwertigkeit der Rechtswahrnehmung zu den immanenten Schranken der Grundrechte zählt, noch allgemeiner gehalten als solche nach der Gesellschaftsbezogenheit der Grundrechte schlechthin2 • 2. Das An-Denken dieser Problematik erweckt die Assoziation zu einer mit Verve vorgetragenen Hypothese: Günter Dürigs Menetekel 1 Vgl. Schelsky, Die Arbeit tun die anderen, Opladen 1975, S. 330 ff., 342 ff. (insb. S. 351 [Hervorhebung von mir]). Zu den in Bezug genommenen Passagen vgl. Böll, Die verlorene Ehre der Katharina Blum (dtv 1150), 5. Aufl., München 1976, S. 53 f., 58. 2 Aus den folgenden Überlegungen ausgeklammert bleibt die Bedrohung der Grundrechte durch politische, technische, wirtschaftliche und soziale Zusammenhänge. Dazu Fechner, Die soziologische Grenze der Grundrechte, Tübingen 1954, S. 13 ff.
1 Festschrift für Helmut Schelsky
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" ... wenn Staat und Gesellschaft deckungsgleich werden, dann ... gehen mal wieder die Lichter aus" 3 • Der seinerzeit hierüber aufbrandende Beifall hinterließ Beklemmung - seine Spontaneität indizierte mangelnde Reflexion. Unweigerlich nämlich drängt sich die Frage auf, von welchem Staat hier ausgegangen wird: Die Tatsache, daß die ständestaatliche Disgruenz keineswegs besonders "lichtvoll" war, ist eine Binsenweisheit und dürfte auch von Dürig nicht in Abrede gestellt werden. Daß andererseits das über die klassenlose Gesellschaft angesteuerte Ziel eines Absterbens des Staats und einer hierdurch bewirkten Aufhebung von Antinomien zwischen Staat und Gesellschaft, wie es marxistischer Heilserwartung entspricht, ins Reich der Utopie gehört, ist ebenso offenkundig, so daß dieser Weg auf seine Grundrechtsrelevanz nicht im einzelnen befragt zu werden braucht. Nur soviel sei gesagt: Auch die "klassenlose" ist keine undifferenzierte Gesellschaft. Wo immer aber Herrschaftsstrukturen bestehen, bedarf es zur Ausgrenzung von Verhaltensspielräumen der Eröffnung von Freiheitsrechten - dies mithin auch im klassenlosen Staat. Die Hypostasierung der Möglichkeit des "abgestorbenen" Staats aber stellt jenen fundamentalen Irrtum dar, der unbewältigter und unlösbarer Widerspruch des historischen und dialektischen Materialismus zu bleiben verspricht. Unstrukturiertes geselliges Zusammenleben führtwie staatstheoretisch längst nachgewiesen - zwangsläufig in Kürze zur Ausbildung von Herrschaftsstruktur und damit von Verbandsgewalt, die - sobald sie deren Merkmale erfüllt --,.... wiederum als Staatsgewalt erscheint: Der dialektische Prozeß ist nur eine Umdrehung weiter. 3. Damit aber lohnt es sich allein, Dürigs These an der Demokratie zu messen, die- "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus"- die Identifikation und damit Kongruenz von Gesellschaft und Staat zumindest intendiert - dies unheselladet des in ihr anzutreffenden Pluralismus von Systemen, die das soziologische Korrelat des mit dieser Staatsform verhafteten Wertrelativismus bilden4 • Wie auch hier der Kontext er8 Vorgetragen in der Aussprache zu den Berichten von v. Simson und Kriele, Das demokratische Prinzip im Grundgesetz, auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Speyer 1970, VVDStRL 29,
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4 s. dazu BVerfGE 5, 85 (135, 204 f.); 12, 113 (125); Achterberg, "Öffentliche Ordnung" im pluralistischen Staat. Analytische Bemerkungen zu einem Grundbegriff des Polizei- und Ordnungsrechts, in: Öffentliches Recht und Politik, Festschrift für Hans Ulrich Scupin, hrsg. Achterberg, Berlin 1973, S. 9 (26 ff.); ders., Kelsen und Marx. Zur Verwendbarkeit der Reinen Rechtslehre in relativistischen und dogmatistischen Rechtssystemen, in: Politik und Kultur 2/1975, S. 40 (49 ff., 53 ff.); ders., Das rahmengebundene Mandat, BerlinNew York 1975, S. 34; Kelsen, Sozialismus und Staat, 2. Aufl., Leipzig 1923, S. 191 ff.; ders., Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl., Tübingen
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weist, hatte Dürig in der Tat die Demokratie im Visier - allerdings eine solche, in der "im Demokratisierungsrausch ... alle Lebensbereiche demokratisiert, potentiell öffentlich, politisch gemacht" sind, die zu einem "durchsozialisierten", "totalitären System" ausgestaltet, in der die "totale Gesellschaft" entstanden ist und in die sich ausgrenzende Grundrechte nicht mehr einziehen ließen5 • Die hiermit aufgezeigte Möglichkeit eines durch "Überdemokratisierung" bewirkten Umschlags von der Demokratie in den Totalitarismus mag in diesem Zusammenhang auf sich beruhen. Doch ist der Frage nachzugehen, ob die zuvor erwähnte, mit der Demokratie verbundene Intention der Deckungsgleichheit von Staat und Gesellschaft Konsequenzen für die Gesellschaftsbezogenheit der Grundrechte auszulösen vermag. a) Auch bei einer Kongruenz von Staat und Gesellschaft bleibt der Staat Grundrechtsadressat. Und selbst wenn dem nicht so wäre: Als "Schatten des Leviathan" - den Karl Loewenstein zutreffend beschrieben hat6 - kommen auch gesellschaftliche Kräfte in Betracht, und es liegt darum nahe, die als klassische Abwehrrechte zum Schutz des Individuums gegenüber dem Staat verstandenen Grundrechte beispielsweise als solche auch gegenüber Verbänden und Unternehmen mit marktbeherrschender Stellung einzuräumen. Letztlich dieser Gedanke, daß nicht nur Macht im Rechtsverhältnis zwischen Staatsbürger und Staat, sondern auch in Rechtsverhältnissen zwischen Staatsbürger und sonstigen Rechtssubjekten zur Übermacht anzuwachsen vermag, bildet das theoretische Fundament für die These, daß es auch dort Freiheitsräume auszugrenzen gilt und damit für die "Drittwirkungslehre" 7 • Loewensteins Beschreibung dieser Situation lautet: " ... [es] droht die Gefahr, daß ... der unendlich delikate und komplexe Mechanismus der Massengesellschaft zum Stillstand kommt und zusammenbricht. Aber auch wenn dies einstweilen nicht der Fall sein sollte, bedeutet die sich immer mehr steigernde Pluralisierung unserer heutigen Gesellschaft 1929, S. 101 ff.; ders., Zur Soziologie der Demokratie, in: Der Österreichische Volkswirt 19 (1926), 209, 239 (abgedr. auch in: Die Wiener rechtstheoretische Schule, hrsg. Klecatsky I Marcic I Schambeck:, Wien -Frankfurt- Zürich Salzburg - München 1968, S. 1729); ders., Demokratie, in: Schriften der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, I. Serie, V. Bd., Verhandlungen des Fünften Deutschen Soziologentages, Tübingen 1927, S. 37, 113 (abgedr. auch ebd.,
s. 1743).
Dürig, VVDStRL 29, 127. s Loewenstein, Verfassungslehre, 3. Aufi., Tübingen 1975, S. 414 ff. 7 Zur Rechtsordnung als Rechtsverhältnisordnung zunächst Achterberg, Die Bedeutung des Rechtsverhältnisses für die Grundrechtssubjektivität von Organisationen, in: Gedächtnisschrift für F. Klein, München 1977, S. 1 (1, 27 ff.); zur Bedeutung des Rechtsverhältnisses für die Grundrechtsgeltung ders., Schlußwort zu Schwabe, Verfassungswidrigkeit von Wettbewerbsverboten?, JZ 76, 440 (440). Vgl. ferner Hess. VGH, NJW 77, 455. 6
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die unerbittlich fortschreitende Aushöhlung und endliche Zerstörung der individuellen Freiheit und Selbstbestimmung- und mit ihnen der konstitutionellen Demokratie". Für ihn folgt hieraus - aus der zu erwartenden "hochorganisierten Anarchie der corps intermediaires" die Frage, wie der "laissez faire-Pluralismus" der technologischen Massengesellschaft überwunden und die pluralistischen Gruppen durch wirksame und erzwingbare Regelungen in den politischen Prozeß eingegliedert werden können8 • In der Tat: Dies ist der eine mögliche Weg, der mit der Diskussion über ein Verbändegesetz auch betreten wird; der andere mögliche Weg ist die Eröffnung der gekennzeichneten grundrechtliehen oder zumindest grundrechtsähnlichen Freiheitsräume auch gegenüber jenen gesellschaftlichen Kräften9 • b) Die zumindest intentionale Identifikation von Staat und Gesellschaft der Demokratie zwingt indessen zu der Frage, ob und inwieweit Sozialbindung von Grundrechten unter dieser Rahmenbedingung sinnvoll ist. Grundrechte sind Ausgrenzungen aus der staatlichen - und bei solcher Identifikation zugleich aus der gesellschaftlichen- Sphäre; Sozialbindungen sind Eingrenzungen der Grundrechte. Auf dem Boden der hier behandelten Prämisse ist Sozialbindung mithin Eingrenzung der Ausgrenzung aus dem gesellschaftlichen "Herrschaftsbereich", denn nur das Verständnis der Gesellschaft- wie auch des Staats- als ein solcher bildet die Voraussetzung für das Erfordernis von (nun einmal ausgrenzenden) Grundrechten - und zwar gleichgültig, ob es sich bei ihnen um Abwehr- oder Leistungsrechte, Grundrechte des status negativus oder des status positivus handelt. Die Frage stellt sich, ob eine solche "Eingrenzung der Ausgrenzung" überhaupt sinnvoll ist. In der Tat erscheint es als bemerkenswerter Umweg, zunächst eine Ausgrenzung aus der Herrschaftsgewalt vorzunehmen, um diese sogleich wieder der Eingrenzung durch eben dieselbe zu unterwerfen, anstatt sie von vornherein gar nicht erst in diesem Umfang einzuräumen. Verständlich und sinnvoll bleibt die Sozialgebundenheit also nur, wenn ihre Determinante nicht derselbe Bereich ist, aus dem die Grundrechte die Ausgrenzung bewirken sollen - mit anderen Worten: wenn die Grundrechte zwar eine Ausgrenzung aus der staatlichen Sphäre eröffnen, deren Eingrenzung aber die gesellschaftliche Sphäre vornimmt. Je größer die Identitätsapproximation, um so sinnloser mithin die Sozialgebundenheit von Grundrechten - oder umgekehrt formuliert: Die Anerken-
Loewenstein, S. 414. a. M. allerdings Loewenstein, S. 415, nach dem die "einzige Alternative zu mehr Regierung durch die Verbände ... mehr Regierung durch den Staat" ist - eine These, die sich mit der Möglichkeit der Eröffnung von Freiheitsräumen auch gegenüber gesellschaftlichen Kräften nur, allerdings immerhin darin trifft, als diese von Staats wegen geschaffen werden muß. 8 8
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nung der Sozialgebundenheit von Grundrechten impliziert das Eingeständnis der eben keineswegs vollkommenen Identität von Staat und Gesellschaft. II. Eben dieses Eingeständnis ist - wie sollte es anders sein - nicht neu. Mit ihm aber läßt sich die Gesellschaftsbezogenheit der Grundrechte durch die geschichtliche Entwicklung verfolgen, innerhalb deren es insofern einige besonders bedeutsame Markierungen gibt: 1. Zu ihnen zählt der vor dem Hintergrund antiker Gesellschaftsordnung zu sehende Streit der stoischen und der aristotelischen Schule über die Gleichheit der Menschen 10 • Die Vorstellung einer jedermann gleichermaßen zukommenden Menschenwürde, aus der die Anerkennung der Gleichheit nicht nur fließen kann11 , sondern deren notwendige Konsequenz sie ist, konnte einer Gesellschaft, der die Sklaverei ein anerkanntes Institut war, nicht innewohnen. Menschenwürde kam dem Bürger der polis, nicht aber dem Sklaven zu12 • Vor diesem Hintergrund bildete die in der stoischen Anthropologie und Ethik anzutreffende Annahme einer gemeinsamen Teilhabe aller Menschen wenn auch nicht am realen Gemeinwesen, so aber doch am Reich der Vernunft einen zukunftsweisenden Schritt, der- im Gegensatz zu der aristotelischen Lehre von der natürlichen Ungleichheit der Menschen, die allenfalls durch staatliche Maßnahmen verändert werden könne in der Gedankenwelt des antiken Roms- bei Cicero etwa13 - Nachfolge fand. 2. Die Verwirklichung der Gleichheit hat indessen nicht nur eine soziale, sondern auch eine religiöse Komponente, die das Eingebettetsein der Frage nach der Gesellschaftsbezogenheit der Grundrechte in weiterreichende metajuristische Dimensionen sichtbar macht. Aus der 10 s. dazu Oestreich, Die Entwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, in: Die Grundrechte. Handbuch der Theorie und Praxis der Grundrechte, 1. Bd., 1. Halbbd., hrsg. Bettermann I Neumann I Nipperdey, Berlin 1966, S. 1 (11 f.). 11 Die gemeinsame Verwurzelung von Freiheit und Gleichheit in der Menschenwürde ist neuerdings auf dem Weltkongreß der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie "Equality and Freedom: Past, Present and Future", St. Louis 1975, herausgearbeitet worden, wo sie von Recasens-Siches der Theorie von der "Zero-sum equation between freedom and equality" gegenübergestellt wurde (vgl. dazu den Bericht von U. Neumann, Gleichheit und Freiheit. Weltkongreß der IVR 1975, JZ 76, 565 [565 f.]). 11 Aristoteles, Politik, 1253 b 1 ff., 1329 a 1 ff. Dazu Gigon, Die Sklaverei bei Aristoteles, in: La "Politique" d'Aristote, Geneve 1965 (= Entretiens sur l'antiquite classique, t. 11), pag. 245 ff. 13 Hierzu Oestreich, S. 12. Vgl. ferner Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl., Wien 1963, S. 46 ff.
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bereits im frühen Christentum diskutierten und anerkannten imago dei 14 wurde zwar zunächst nur die Gleichheit aller Menschen vor Gott, noch nicht dagegen diejenige vor dem weltlichen Gesetz gefolgert. Gleichwohl zeichnete sich bereits die Säkularisierung der Gleichheit in dem Postulat der Nächstenliebe ab, wie es im Gleichnis vom barmherzigen Samariter15 anzutreffen ist. Die Gleichheit wächst damit in den weltlich-gesellschaftlichen Bereich hinein. Ihre metajuristische Verwurzelung bleibt sichtbar, wenn sie als überpositives Grundrecht, als Menschenrecht im Sinne der "Grundrechtsqualität" 18 anerkannt wird. 3. Die sich an den mittelalterlichen Dualismus von sacerdotium und imperium knüpfende Forderung nach einer klaren Scheidung beider
Gewalten, wie sie seit dem Investiturstreit anzutreffen ist17 und mit besonderer Deutlichkeit bei Marsilius von Padua hervortritt18, nimmt in funktioneller Hinsicht die der Staatstheorie der Gegenwart geläufige Beziehung zwischen Freiheitsdenken und Gewaltenteilung111 voraus. Selbst bei einer Reduktion der Teilung sozialer Gewalten auf die
u Ausgehend von Gen. 1, 26. Vgl. TertuHian, Adversus Praxean, in: ders., Opera, Pars II, Turnholti 1954 (Corpus Christianorum, Ser. Lat. 2), pag. 1157 (1173: "Erat autem ad cuius imaginem faciebat, ad Filii scilicet, qui, homo futurus certior et verior, imaginem suam fecerat dici hominem qui tune de limo formari habebat, imago veri et similitudo. "). Hierzu Otto, Der Mensch als Bild Gottes bei Tertullian, in: Der Mensch als Bild Gottes, hrsg. Scheffczyk, Darmstadt 1969 (=Wege der Forschung, Bd. CXXIV); ferner Hödl, Zur Entwicklung der frühscholastischen Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen, ebd., S. 193 ff.; Oestreich, S. 14 ff.; Prenter, Anthropologie IV. Dogmatisch, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG), 3. Aufl., hrsg. Galling, I. Bd., Tübingen 1957, Sp. 420 (421 ff.). u Lukas 10, 29-37. 18 v. Mangoldt I Klein, Das Bonner Grundgesetz, 2. Aufl., Bd. I, BerlinFrankfurt/Main 1966, I. Die Grundrechte, Vorbem. B V 1, 5, S. 97, 99 f.- Auf dieselbe Bedeutung beschränkt auch Kriele, Einführung in die Staatslehre, Reinbek 1975, S. 150, den Begriff Menschenrecht, den er damit dem Grundrecht als positivem Recht gegenüberstellt. 17 Vgl. Kölmel, Regimen christianum. Weg und Ergebnisse des Gewaltenverhältnisses und des Gewaltenverständnisses (8. bis 14. Jahrhundert), Berlin 1970, S. 196 ff. 18 Der in seinem um 1324 vollendeten Defensor Pacis (lat.-dt. Ausgabe, hrsg. Kusch, Darmstadt 1958) zu einer strikten Trennung beider Bereiche gelangte, indem er das sacerdotium auf die Probleme des Jenseits beschränkte, demimperiumdagegen das Diesseits zuwies: "Vivere autem ipsum et bene vivere conveniens hominibus est in duplici modo, quoddam temporale sive mundandum, aliud vero eternum sive celeste vocari solitum", ebd., I cap. 4, § 3, pag. 38. Hierzu de Lagarde, Marsile de Padoue ou le premier theoricien de l'Etat laique, 2 ed., Paris 1948 (= La naissance de l'esprit laique au declin du moyen-äge, vol. 2). n Signifikant Herzog, Allgemeine Staatslehre, Frankfurt/Main 1971, S. 237; Kriele, S. 158; Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, Stuttgart 1964, § 30, S. 527, der die Grundrechte als Institut zur "Verteilung der Funktionen zwischen Staat und Gesellschaft" bezeichnet.
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Trennung rechtlicher Funktionen20 bleibt die Machtbegrenzung gemeinsames Ziel der Grundrechte - durch Eröffnung individueller Freiheitsräume- und der Funktionenordnung- durch Aufspaltung und Verschränkung der Staatsfunktionen im Sinne von "check:s and balances". 4. Noch einen Schritt über die Eröffnung solcher Freiheitsräume hinaus geht die bereits bei Thomas von Aquino anzutreffende These, daß der Mensch als auf eigene Gewissensentscheidungen gegründetes Individuum nicht gegen sein Gewissen als höchste moralische Instanz handeln dürfe21 - frühe Formulierung des in modernen Verfassungen verankerten Widerstandsrechts, allerdings in einem individual-personalistischen und nicht einem sozial-transpersonalistischen Ansatz, auf dem das Widerstandsrecht dann beruht, wenn es mit dem Erfordernis der Wahrung des Gemeinwohls begründet wird. Bei diesem zweiten Ansatz allerdings wird die Gesellschaftsbezogenheit des Widerstandsrechts deutlich: Der Widerstand gegen Staatsorgane und damit gegen die Rechtsordnung läßt sich dann nur durch Rückgriff auf metajuristische, insbesondere gesellschaftliche, Interessen abstützen. 5. Um eine als Wendepunkt zu bezeichnende Markierung in der Gesellschaftsbezogenheit der Grundrechte handelte es sich bei dem Wandel der Grundrechtssubjektivität: Bedeutete der in der Magna Charta Libertatum enthaltene Grundrechtskatalog 22 nicht einen solchen von Menschenrechten, sondern von Rechten der Standesherren gegenüber dem König, so enthielt der Tübinger Vertrag Herzog Ulrichs von Württemberg (1514) schon solche aller Bürger23 , womit der klassenspezifische 20 Vgl. hierzu Achterberg, Probleme der Funktionenlehre, München 1970, S. 107 ff., 176 f.; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 10. Auf!., Karlsruhe 1977, § 13, S. 196 ff. 21 So hat etwa nach der Lehre des Thomas von Aquino alles menschliche Recht, das der lex naturalis widerspricht, vor dem· Forum des Gewissens (in foro conscientiae) keinen Bestand. Vgl. Summa Theologiae I- II, qu. 96, art. 4; qu. 95, art. 2. Hierzu Verdross, S. 71 ff. (81); s. auch noch G. Küchenhoff, Rechtsbesinnung, Göttingen 1973, S. 412 ff. (m. zahlreichen weiteren Hinweisen auf die Bedeutung des Gewissens). 22 Hierzu Kriele, S. 151 f., der die These, daß die Magna Charta Libertatum nicht in die Vorgeschichte der Freiheitsrechte gehöre, weil sie lediglich ständische Rechte festlege, nur bedingt für richtig hält, da die Geschichte der Grundrechte ein ständiges Zusammenfließen zweier Quellen, nämlich der Zurückweisung von Souveränitätsansprüchen und der Ausweitung von zunächst ständischen Rechten durch das Gleichheitsprinzip gewesen sei. Dem ist nicht nur zuzustimmen, sondern diese Sicht belegt zugleich die Gesellschaftsbezogenheit gerade auch der Gleichheitsrechte. Vgl. ferner Oestreich, s. 18 ff., 21. 23 Etwa die Freizügigkeit ("ainen fryen zug"). Vgl. Der Tübinger .Vertrag vom 8. Juli 1514, Faks.-Ausg. aus Anlaß der 450-Jahrfeier der Errichtung des Tübinger Vertrags, hrsg. Grube, Stuttgart 1964, III, 10, S. 25; s. dazu auch Gebhard Müller, 450 Jahre Tübinger Vertrag, in: Zeitschrift f. Württembergische Landesgeschichte 23 (1964), S. 6* ff. (11*).
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Charakter der Grundrechtsgewährung überwunden zu werden beginnt. Damit aber entsteht überhaupt erst die Möglichkeit, eine Sozialgebundenheit von Grundt:echten in dem heute geläufigen Sinne zu diskutieren. 6. Unterschiedliche Gesellschaftsauffassungen liegen zugrunde, wenn Freiheitsrechte oder Gleichheitsrechte verfassungsrechtlich akzentuiert werden. Auf engem Zeitraum belegbar ist dies durch den Wandel des Grundrechtsverständnisses, wie er einerseits in der "Declaration Girondine" (1791), andererseits in der "Declaration Jacobine" (1793) zum Ausdruck kommt24 : Übergang von der Betonung der Freiheit zu derjenigen der Gleichheit. Die Gesellschaftsbezogenheit dieser Akzentuierung aber macht es bis in die Gegenwart hinein zweifelhaft, ob die Gegensätzlichkeit beider Prinzipien in deren - wie sogleich darzulegen ist - neuerdings anvisierte Harmonie einzumünden vermag - ganz abgesehen von der noch zu erörternden "Knappheit" 25 der Freiheit, deren rücksichtslose Maximierung Ungleichheit zur Folge haben muß, wie umgekehrt Egalisierungen Verengungen von Freiheitsräumen nach sich ziehen müssen. 7. Auf dem Weltkongreß der Internationalen Vereinigung für Rechtsund Sozialphilosophie 197526 schließlich ist versucht worden, die tradierte Vorstellung von der Denknotwendigkeit des Widerspruchs von Freiheit und Gleichheit27 dadurch zu überwinden, daß die Menschenwürde als deren gemeinsame Wurzel aufgezeigt wurde - ein Unternehmen, das trotz seines individual-personalistischen Ansatzes auch Oestreich, S. 59, 61. Das "Prinzip der Knappheit" ist volkswirtschaftstheoretischen Ursprungs. Erstmals beschrieben wurde es 1918 durch Gustav Cassel (Theoretische Sozialökonomie, 5. Aufl., Leipzig 1932, S. 79 ff.). Vgl. dazu Samuelson, Volkswirtschaftslehre, 6. Aufl., Bd. 1, Köln 1975, S. 37 f.; A. Weber, Allgemeine Volkswirtschaftslehre, 7. Aufl., Berlin 1958, S. 50, 263, 286. - Aus Knappheit resultiert Planungsbedürfnis: Dies kommt dadurch zum Ausdruck, daß die Grundrechte Bestandteil der - wie sogleich (s. u. III 2) darzulegen sein wird - als "Sozialgestaltungsplan" zu begreifenden Verfassung sind. 28 s. o. Anm. 11. 27 Dazu E. Küchenhoff, Möglichkeiten und Grenzen begrifflicher Klarheit in der Staatsformenlehre, Berlin 1961, S. 626 ff.; Herbert Krüger, § 30 I 1, S. 530 ff.; Lauter, Freiheit und Gleichheit, in: Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung, Festschrift für Willi Geiger, hrsg. Leibholz I Faller I Mikat I Reiss, Tübingen 1974, S. 337 ff.; Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 5. Aufl., München 1975, § 28 II 2, S. 211 ff. - Willke, Stand und Kritik der neueren Grundrechtstheorie, Berlin 1975, S. 224 ff., will mit dem Postulat eines "Optimierungsmodells" zu einer "Neugewichtung" des Verhältnisses beider Grundwerte gelangen, indem er beide durch die - an die Stelle der "Brüderlichkeit" gesetzte - "Sozialität" zu überhöhen versucht, die er der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip entnehmen will (S. 237). Die Kritik hieran ist dieselbe wie an dem erwähnten Versuch des IVR-Kongresses. u
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auf die Gesellschaftsbezogenheit der Grundrechte ausstrahlt, denn eine durch einen solchermaßen gemeinsamen Nenner prästabilierte Harmonie beider Prinzipien müßte Konsequenzen für Interaktionen nach sich ziehen. Indessen bestehen Zweifel, ob aus einer derartigen Verankerung von Freiheit und Gleichheit- wie sie auch eine der modernsten Verfassungen Europas vornimmt (Art. 7 Verfassung der Republik und des Kantons Jura v. 20. März 1977: "Menschenwürde 1. Die Würde des Menschen ist unantastbar. 2. Jeder Mensch hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit und auf Chancengleichheit") - eine solche Harmonie zwingend folgt, ob nicht vielmehr Polaritäten bleiben, die als - den innerhalb der verfassunggestaltenden Grundentscheidungen28 bestehenden vergleichbare - "innere Antinomien" der Menschenwürde begriffen werden müssen.
111. In staatstheoretischer Hinsicht - also unabhängig von der jeweiligen Ausformung der Staatsgrundordnung- besitzt die Gesellschaftsbezogenheit der Grundrechte in zweifacher Richtung Determinationsrelevanz: bezüglich der Grundrechtsdetermination durch soziale Faktoren sowie hinsichtlich der Gesellschaftsdetermination durch die Grundrechte. 1. Als Verfassungsnormen nehmen die Grundrechtsbestimmungen an der auf der Verfassungsebene besonders hohen Sozialdetermination teil. Wie bereits andernorts dargelegt, untersteht zwar jede Rechtserzeugungsstufe einer autonomen Determinante 29 , aufgrund deren sie eine Regelung nach eigenen Bedürfnissen vornehmen kann und durch die mithin auch metajuristische Faktoren in die Rechtsordnung induziert werden können, doch ist der von dieser Determinante eröffnete Spielraum und damit zugleich das Einfallstor des Metajuristischen auf der Verfassungsebene deshalb größer, weil das Ausmaß rechtlicher Determination hier noch geringer ist, als auf den nachfolgenden Rechtserzeugungsstufen. Der Pyramide rechtlicher entspricht eine umgekehrte außerrechtlicher Determinanten30 - relativ breit noch auf den höhe28 Achterberg, Antinomien verfassunggestaltender Grundentscheidungen, in: Der Staat 8 (1969), 159 (163 ff.). 29 s. dazu u. Anm. 45. 30 Achterberg, Rechtstheoretische Grundlagen einer Kontrolle der Gesetzgebung durch die Wissenschaft, Rechtstheorie 1 (1970), 147 (153); ders., Bundesverfassungsgericht und Zurückhaltungsgebote. Judicial, political, processual, theoretical self-restraints, DOV 77, 649 (651 f.), wo des näheren dargelegt wird, daß der Rechtsnormenpyramide eine umgekehrte, gegenläufige Pyramide der Sozialdetermination entspricht und hieraus Konsequenzen für die Verfassungsgerichtsbarkeit gezogen werden.
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ren, zunehmend schmaler werdend dagegen auf den unteren Rechtserzeugungsstufen. Verhältnismäßig gut belegbar ist dieser Umstand mit Hilfe der Nullsummentheorie31: Ist die Rechtsordnung Bestandteil der sie erfassenden und umfassenden Sozialordnung, das Rechtliche Subsystem des Gesellschaftlichen, so sind alle Rechtserzeugungsstufen gleichermaßen in dieselbe soziale Umgebung eingebettet. Hieraus resultiert ein in seiner Breite von dem Vorrat zu regelnder Problemkomplexe abhängiger, in sich jedoch - rechtliche und metarechtliche Faktoren zusammengenommen - konstanter Determinationsstrang über alle Rechtserzeugungsstufen hinweg. Sind nun aber rechtlicher und metarechtlicher Bereich der Sozialordnung einander komplementär zugeordnet, so besteht zwischen beiden jene antagonistische Konfliktsituation, die nach der Nullsummentheorie bewirkt, daß jede Vergrößerung rechtlicher zugleich eine Verringerung außerrechtlicher Determination nach sich zieht. Umgekehrt folgt hieraus, daß auf den Rechtserzeugungsstufen, auf denen die rechtliche noch geringer ist, die außerrechtliche Determination größer ist- eine Erkenntnis, die sich vor allem für die Verfassungs- und mit ihr zugleich die Grundrechtsinterpretation als bedeutsam erweist32 • 2. Als Verfassungsnormen wirken sich auch die Grundrechtsbestimmungen als "Sozialgestaltungsplan", als Instrument gesellschaftlicher Evolution 38 aus. Allerdings ist dies nicht allein die Eigenschaft von 31 s. dazu in anderem Zusammenhang Luhmann, Grundrechte als Institution, Berlin 1965, S. 42 f., wo herausgestellt wird, daß das Verhältnis von Staatsmacht und Grundrechten demgegenüber nicht nach. der Machtsummenkonstanzthese beurteilt werden kann, weil die Garantie von Grundrechten vielmehr das Vertrauen in den Staat und darüber wieder die Staatsmacht zu stärken vermag: Hier fehlt es an der vergleichbaren antagonistischen Konfliktsituation. Vgl. auch noch Luhmann, ebd., S. 151; Parsons, On the Concept of Political Power, in: Proceedings of the American Philosophical Society, 107 (1963), 232 (250 ff.). 32 Der These, bei der Grundrechtsinterpretation müsse "die Frage nach den Grenzen der Rezeption der Sozialordnung durch die Grundrechtsnormen ... weitgehend offen und dem Einzelfall überlassen bleiben" (Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 8; Graf v. Pestalozza, Kritische Bemerkungen zu Methoden und Prinzipien der Grundrechtsauslegung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Der Staat 2 [1963], 425 [440]), ist zumindest insofern zuzustimmen, als die Rezeption bei den einzelnen Grundrechten - wie sogleich darzulegen ist - ein unterschiedliches Ausmaß aufweist. 33 Mit der Verfassung erweisen sich auch die Grundrechte als "Evolutionsantrieb gesellschaftlicher Systeme" (Tjaden, Soziales System und sozialer Wandel, 2. Aufl., Stuttgart 1972, S. 284), und lassen sich diese zu den Entwicklungsuniversalien im Sinne Parsons rechnen (Parsons, Evolutionary Universals in Society, in: American Sociological Review 29 [1964], 339 ff.).Zum Recht als Evolutionsfaktor im übrigen Luhmann, Rechtssoziologie, Reinbek 1972, S. 294 ff.; ders., Gerechtigkeit in den Rechtssystemen der modernen Gesellschaft, in: Rechtstheorie 4 (1973), 131 (132: Normgebung als
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Verfassungsnormen, sondern auch diejenige des unterrangigen Normenbestands, dem gleichfalls - gewollt oder ungewollt - finale Effekte eignen. Eben dies ist die Ursache, welche die Disjunktion der Normen in Konditional- und Finalprogramme fragwürdig macht34. Nicht nur beispielsweise Umweltschutzgesetze, sondern auch die mitunter als Paradebeispiel konditionalprogrammierter Normen erwähnten Strafgesetze35 üben - als Parameter der Steuerung sozialabweichenden Verhaltens - finale Wirkung aus. Indessen ist der sozialgestaltungsplanende Effekt gerade von Verfassungsnormen aus zweifachem Grunde von besonderer Bedeutung: zum einen deshalb, weil der Verfassung infolge ihrer Ranghöhe eine größere soziale "Breitenwirkung" zukommt als unterrangigen Normen, zum anderen deswegen, weil siezumindest intentional- wegen ihrer Geltungszeit eine größere soziale "Dauerwirkung" besitzt als jene. An diesen Besonderheiten nehmen auch die Grundrechte teil, deren sozialgestaltungsplanender Charakter nicht nur dort sichtbar wird, wo sie zugleich an den einfachen Gesetzgeber adressierte Programmsätze enthalten. Auch die Verbürgungen von Freiheit und Gleichheit selbst wirken sich - für sich allein und in ihrer Gewichtung - als Sozialgestaltungsplan aus und besitzen infolgedessen evolutionäre Wirkung: "Prozeß der Selektion geltenden Rechts aus dem weiten Horizont möglichen Rechts, in dessen Bestimmung auf sehr komplizierte Weise wiederum geltendes Recht als Bedingung der Möglichkeit neuen Rechts eingeht"); Schetsky, Das Ihering-Modell des sozialen Wandels durch Recht, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 3, S. 47 ff. - Zum gesellschaftlichen Wandel und zum Grundrechtsverständnis Ermacora, Menschenrechte in der sich wandelnden Welt, Wien 1974, passim; Krawietz, Evolution des Rechts in einer sich wandelnden Gesellschaft, (masch.-schr.) Referat auf dem Weltkongreß der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie "Law and the Future of Society", Sydney/Canberra 1977 (mit der von einem systemtheoretischen Ansatz aus aufgestellten These, daß die Grundrechtsverwirklichung mit dem Übergang vom Naturrecht zur Positivität eine irreversible evolutionäre Schranke überschritten hat [S. 19 ff.]); Wiltke, S. 142 f., 152, 154 f. (wo der übergang von der Natur der Grundrechte als Evolutionsfaktoren zu deren funktioneller Natur durchscheint). - Bei allem darf freilich die der Verfassung eigene Ambivalenz nicht aus dem Blickfeld geraten, die sie eben nicht nur als Evolutionsfaktor, sondern zugleich - ihrerseits als "Stabilitätsfaktor" (Schelsky, über die Stabilität von Institutionen, besonders Verfassungen, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaft 3 [1952], S. 1, passim [insb. S. 3, 17 f.]) des sozialen Systems erscheinen läßt. Die Grundrechte nehmen auch an dieser Eigenschaft teil. 114 Vgl. etwa Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 88 ff., 227 ff., 234 ff.; ähnlich Noll, Gesetzgebungslehre, Reinbek 1973, S. 253, der stattdessen die Unterscheidung von konservierenden und evolutionären Gesetzen verwendet (kritisch dazu Achterberg, Rezension zu Noll; Gesetzgebungslehre, in: Rechtstheorie 5 [1974], 228 [234]), sowie Walter Schmidt, Die Programmierung von Verwaltungsentscheidungen, AöR 96 (1971), 321 (331 ff.), der zutreffend hervorhebt, daß auch Zweckprogramme konditionale Momente enthalten. Das Umgekehrte gilt nur ebenso. 35 s. dazu Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 230.
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Die Eröffnung von Freiheitsräumen ermöglicht eine ganz andere gesellschaftliche Entwicklung als deren Verschließung, die Akzentuierung von Gleichheit eine andere als deren Ignorierung.
IV. In staatsrechtlicher Hinsicht hat die Gesellschaftsbezogenheit der Grundrechte zunächst eine institutionelle Seite, wobei freilich zu berücksichtigen ist, daß diese- wie noch zu zeigen sein wird -in der staatsrechtlichen Diskussion im allgemeinen um eine wichtige Dimension verkürzt wird. Im Anschluß an das schon unter der Weimarer Reichsverfassung vertretene Institutionenverständnis werden im Grundgesetz vier verschiedene Arten von Einrichtungsgarantien unterschieden38 : 1. Selbständige Garantien gesellschaftlicher Sachverhalte, 2. Garantien gesellschaftlicher Sachverhalte in Verbindung mit solchen von Rechtseinrichtungen, 3. Garantien gesellschaftlicher Sachverhalte in Verbindung mit Grundrechten, 4. Garantien gesellschaftlicher Sachverhalte in Verbindung mit solchen von Rechtseinrichtungen und Grundrechten. Der zuerst genannte Typ kommt im Grundgesetz nicht vor, während Art. 164 RV 1919 vorsah, daß der selbständige Mittelstand in Landwirtschaft, Gewerbe und Handel "in Gesetzgebung und Verwaltung zu fördern und ... zu schützen" sei. Der Umstand, daß hiermit nur ein gesellschaftlicher Sachverhalt, nicht aber eine Rechtseinrichtung angesprochen war, beruht darauf, daß der selbständige Mittelstand lediglich eine Sozialkategorie bildete, nicht aber eine Gruppe, die zur Rechtspersönlichkeit zu erstarken vermochte. In der Verfassungsordnung des Grundgesetzes besitzt dieser Typ der Einrichtungsgarantie nur den Charakter eines Merkpostens. In den Landesverfassungen gibt es demgegenüber eine Reihe von gesellschaftlichen Sachverhalten, die lediglich als Sozialkategorien in dem zuvor genannten Sinne und damit nicht zugleich als Rechtseinrichtungen garantiert sind: Jugend, Erwachsene; Gewerblicher Mittelstand, Landwirtschaft, Wirtschaft, Kunst, Kultur als gesellschaftliche Subsysteme37 • 38 v. Mangoldt I Klein, Das Bonner Grundgesetz, 2. Aufl., Bd. I, BerlinFrankfurt/Main 1966, I. Die Grundrechte, Vorbem. A VI 3 (insb. c). Der Begriff "Einrichtungsgarantie" als Oberbegriff über institutionelle Garantien und Institutsgarantien findet sich erstmals bei Friedrich Klein, Institutionelle Garantien und Rechtsinstitutsgarantien, Breslau 1934, S. 107. Zum Sinn der Verbindung von Einrichtungsgarantien und Grundrechten ("Institutionalismus" und "Individualismus"), ebd., S. 176 ff. 37 Jugend: Art. 13 BWV, 126 Abs. 3 BayV, 25 Abs. 1 BremV, 6 NWV, 25 Abs. 2, 55 Abs. 2 RhPfV, 25 Abs. 1 SaarV. - Erwachsene: Art. 35 BremV, 17 NWV. - Gewerblicher Mittelstand: Art. 153 Abs. 3 BayV, 40 Abs. 1 BremV, 43 Abs. 1 HessV, 28 S. 1 NWV, 65 Abs. 1 RhPfV, 54 Abs. 1 SaarV.-
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Garantien gesellschaftlicher Sachverhalte in Verbindung mit solchen von Rechtseinrichtungen sind demgegenüber derartige, in denen jene gerade als diese gewährleistet sind; hier bedeutet die Rechtseinrichtung rechtliche Anerkennung eines gesellschaftlichen Sachverhalts wie der kommunalen Selbstverwaltung und des Berufsbeamtenturns -, der durch die rechtliche Normierung auf die juristische Ebene erhoben wird. Garantien gesellschaftlicher Sachverhalte in Verbindung mit Grundrechten (und möglicherweise Rechtseinrichtungen) schließlich sind solche, in denen mit der Gewährleistung ein subjektives öffentliches Recht auf Abwehr (status negativus), denkmöglicherweise aber auch auf Leistung (status positivus) oder Teilhabe (status activus) oder Enthaltung (status passivus) verbunden ist - dies unbeschadet der zwischen solchen mitunter bestehenden, die Statutenlehre fragwürdig werden lassenden Interdependenzen38 • Indessen mag dies auf sich beruhen. Nicht gefolgt kann der zuvor dargestellten Unterteilung jedoch darin, daß neben der Garantie von (ausschließlich) gesellschaftlichen Sachverhalten solche in Verbindung mit Rechtseinrichtungen unterschieden werden. Jede Rechtseinrichtung nämlich bedeutet zugleich einen gesellschaftlichen Sachverhalt. Das Verhältnis zwischen Gesellschaftsordnung und Rechtsordnung ist nicht dasjenige zweier sich schneidender, sondern dasjenige zweier konzentrischer Kreise: Die Rechtsordnung ist in die Gesellschaftsordnung eingebettet39• Mithin gibt es zwar gesellschaftliche, die nicht auch rechtliche Sachverhalte sind, doch ist dieser Satz nicht umkehrbar; es gibt keine rechtlichen, die nicht auch gesellschaftliche Sachverhalte sind. Dem metajuristischen (Gesellschafts-)Bereich entspricht aus dieser Sicht kein metagesellschaftlicher (Rechts-)Raum40 • Damit aber reduziert sich das zuvor genannte Vierer- auf ein Dreier-Schema: Übrig bleiben Landwirtschaft: Art. 164, 165 BayV, 55 Abs. 1 SaarV. - Wirtschaft: Art. 39 Abs. 1 BremV. - Kunst und Kultur: Art. 11 Abs. 2 BremV, 18 Abs. 1 NWV,
40 Abs. 1 RhPfV. 88 So ist das Petitionsrecht Grundrecht des status activus, soweit durch dieses an der Ausübung der Staatsgewalt mitgewirkt wird (z. B. durch Anregung eines gesetzgeberischen Vorhabens), des status positivus, soweit es um die schlichte Petitionsbescheidung geht (unter diesem Aspekt umschließt jedes positive ein aktives Statusrecht, weil der Staatsbürger durch Auslösung staatlicher Handlungen an der Betätigung der Staatsgewalt mitwirkt). Die Systembildung von Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl., Tübingen 1905, S. 94 ff., steht danach auf schwankendem Boden. 38 Demgemäß vermag Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 30, den Staat als Untersystem der Gesellschaft zu bezeichnen, wogegen selbst aus der Kelsenschen Sicht der Identifizierung von Recht und Staat nichts einzuwenden ist. ' 0 Im Disziplinenkanon entspricht diesem Phänomen, daß es zwar RechtsSoziologie, nicht aber "Soziologie-Recht" gibt (anders als etwa Wirtschaftsoder Verwaltungsrecht als juristische Subsysteme).
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1. Garantien ausschließlich gesellschaftlicher Sachverhalte, 2. Garantien von Rechtseinrichtungen ohne Grundrechte, 3. Garantien von Rechtseinrichtungen mit Grundrechten, wobei die beiden letzteren zugleich den gesellschaftlichen Bereich betreffen.
V. Die Gesellschaftsbezogenheit der Grundrechte wird weiterhin unter dem Aspekt der funktionellen Seite der Grundrechte bedeutsam. Diese wieder in das Blickfeld gerücltt zu haben, ist das Verdienst Niklas Luhmanns41, nachdem das diese Komponente durchaus umgreifende Institutionenverständnis Maurice Haurious insbesondere durch Carl Schmitt auf die Bestandsgarantie von Rechtseinrichtungen verkürzt worden waz-42 • In funktioneller Hinsicht bedeuten die Grundrechte allerdings Eröffnung "generalisierter Verhaltungserwartungen" - und dies in doppelter Hinsicht: der Erwartung der Grundrechtswahrnehmung durch die Grundrechtssubjekte sowie des Grundrechtsvollzugs unter Wahrnehmung entsprechender Handlungspflichten durch die Grundrechtsadressaten. Keiner weiteren Vertiefung bedarf dabei, daß diesen Pflichten nicht entsprechende Rechte der Staatsbürger gegenüber zu stehen brauchen, sie sich vielmehr auf Reflexwirkung zu begrenzen vermögen und dies in der Regel auch tun. Ins Konkrete gewendet: Indem der Verfassunggeber das allgemeine Freiheitsrecht und spezielle Freiheitsrechte, das allgemeine Gleichheitsrecht und spezielle Gleichheitsrechte sowie weitere Grundrechte kodifiziert hat, ist von ihm zugleich die Pflicht übernommen worden, sowohl auf Verfassungsebene als auch - wie die Bindung aller Staatsfunktionen an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) erweist - auf unterrangiger Ebene diese Grundrechte zu konkretisieren und zu effektuie" Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 11, 12 f., 17, 25 ("Grundrechte als Institution einer differenzierten Kommunikationsordnung"), 199 f. (funktionaler Sinn der Grundrechte: soziale Differenzierung). Nach Luhmann, ebd., S. 27, hat die Positivierung der Grundrechte bewirkt, daß nunmehr selbst Freiheit (Bindungslosigkeit) als Recht (und damit Bindung) vorstellbar wird (s. auch noch S. 30). Ausführlich zu Luhmann (referierend und kritisierend) Willke, S. 157 ff. 4 ! s. einerseits Hauriou, Die Theorie der Institution und der Gründung (Essay über den sozialen Vitalismus), abgedr. in: Die Theorie der Institution und zwei andere Aufsätze von Maurice Hauriou, hrsg. Schnur, Berlin 1965, S. 27 ff., passim (prononciert S. 65: "Es sind die Institutionen, welche die Rechtsnormen schaffen, aber nicht die Rechtsnormen, welche die Institutionen schaffen"). - Zu Hauriou auch Schelsky, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 3, S. 77 ff. ("vitalistische Konzeption des sozialen Wandels durch Recht"), wo die Verbindung zwischen sozialdeterminierender und evolutionärer Wirkung des Rechts deutlich herausgearbeitet ist, andererseits Carl Schmitt, Verfassungslehre, 3. Aufl., München- Berlin 1957, s. 170 ff.
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ren. Die institutionelle Garantie läuft leer, wenn sie nicht um die funktionelle Wirkung ergänzt wird. Die Schmittsche Verkürzung des Institutionenverständnisses verzeichnet den Hauriouschen Ansatz dadurch, daß ein wesentlicher Aspekt des Grundrechtsgehalts ausgeblendet wird. Die weitere Erforschung der funktionellen Bedeutung der Grundrechte bleibt dringendes Desiderat der Grundrechtstheorie. Um dieses Charakters der Grundrechte willen bestehen übrigens nicht nur Bedenken gegen den mitunter anzutreffenden Versuch, Rechtsordnung und Sozialordnung auf den Unterschied von Statik und Dynamik festzulegen, sondern auch gegen Hans Kelsens Unterscheidung von Rechtsstatik mit der Unterstellung der Institutionen als ihrer Bestandteile sowie der Rechtsdynamik mit derjenigen der Normen und ihrer Erzeugung als deren Elemente43 • Institutionelle und funktionelle Komponenten der Grundrechte ergänzen und bedingen sich, können einander aber nicht disjunktiv gegenübergestellt werden. VI.
Schelskys Frage berührt nun allerdings weniger die institutionelle und funktionelle, als die "petitionelle" Seite der Grundrechte - nämlich diese als subjektive öffentliche Rechte. Das wirft die Problematik ihrer Sozialgebundenheit auf. Daß sie nicht für alle Grundrechte in gleichem Sinne wird beantwortet werden können, die Differenziertheit des Schrankensystems sich vielmehr auch hier auswirkt, sei vorweggenommen- doch wird dieser Umstand nur den Anhänger monokausaler oder monofinaler Ordnungssysteme beunruhigen können. 1. Festzustellen ist zunächst, daß mit der Rezeption praekonstitutioneller gesellschaftlicher Institute durch Grundrechtsnormen eine "transzendente" Verschränkung von staatlicher und gesellschaftlicher Sphäre entsteht44 • Indem der Verfassunggeber Begriffe wie "Glauben", "Kunst", "Beruf" verwendet, ohne deren Legaldefinition vorzunehmen, übernimmt er deren im Metajuristischen herausgebildete Begriffsinhalte. Die mit der Abstinenz des Verfassunggebers verbundene Oberlassung der Definitionskompetenz führt bereits als solche zu einer Gesellschaftsbezogenheit der Grundrechte. Soziologische "Konstitutivkräfte" nehmen insoweit die Funktion einer autonomen Determinante45 wahr. ca Vgl. hierzu Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960, S. 114 ff., 196 ff. Vgl. auch noch Achterberg, DOV 77, 651. 44 Vgl. hierzu Achterberg, Probleme der Funktionenlehre, S. 113. es Zur Bedeutung der (inhaltlich bereits von Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1925, § 35 G, S. 243, beschriebenen) autonomen Determinante aller Rechtserzeugungsstufen - die allein deren Abfolge sinnvoll macht,
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Freilich gilt dies nicht für alle Grundrechte in derselben Intensität. Andere, hinsichtlich deren sich der Verfassunggeber ebenfalls einer Legaldefinition- oder genauer: der "Konstitutionaldefinition" - enthalten hat, rezipieren nicht metajuristisches, sondern juristisches subkonstitutionelles Begriffsverständnis. Das gilt vor allem für das Eigentumsrecht, bei dem das Institut des Eigentums so übernommen ist, wie der Verfassunggeber es in der Rechtsordnung angetroffen hat46. Zum Teil trifft dies ferner für die Vereinigungsfreiheit zu, die sich auf das Arsenal jener überindividuellen Personeneinheiten bezieht, die der Rechtsordnung bekannt sind- wenn auch nicht ausschließlich auf diese: Begreift man die Vereinigungsfreiheit als "Prinzip freier sozialer Gruppenbildung", als ein "Aufbauprinzip der Gesellschaft" überhaupt47, so folgt hieraus nicht allein, daß weniger die Korporation als die Assoziation dem Schutzbereich der Vereinigungsfreiheit unterliegt, sondern es ergibt sich zugleich, daß die Assoziationsmöglichkeit nicht auf den Kreis normativ vorgegebener Personeneinheiten begrenzt, sondern als offenes System zu verstehen ist. Soweit nun allerdings metajuristische Begriffsbildungen in die Grundrechte übernommen sind und durch ihren Bedeutungsgehalt immanente Schranken der Grundrechte errichten, entsteht das Konsensproblem. Besonders deutlich wird dies bei der Kunstfreiheit: Jene "Gestaltung seelisch-geistigen Gehalts durch eine eigenwertige Form nach bestimmten Gesetzen", die mitunter als Merkmal der Kunst beweil nur so eine fortschreitende Konkretisierung ermöglicht wird, ohne daß lediglich die Normierung der jeweils höheren Erzeugungsstufe wiederholt wird - Achterberg, Rechtstheorie 1 (1970), 149 f., wo deren Bedeutung gerade für die Induzierung des Metajuristischen in die Rechtsordnung hervorgehoben wird; ders., Hans Kelsens Bedeutung in der gegenwärtigen deutschen Staatslehre, DOV 74, 445 (454), und neuestens Behrend, Untersuchungen zur Stufenbaulehre Adolf Merkls und Hans Kelsens, Berlin 1977, S. 82 ff. (mit zutreffender Hervorhebung, daß die autonome Determinante ihren Denkansatz sowohl bei Merkt als auch bei Kelsen in der Ermessenslehre findet [82], der wichtigen Erkenntnis, daß die Grundnorm selbst materiell nicht determiniert, so daß die ihr nachfolgende Rechtserzeugungsstufe voll autonom determiniert ist [84], der Fruchtbarmachung der autonomen Determinante auch für die Hermeneutik [84 ff.] und der Herausarbeitung ihrer Bedeutung für den metajuristischen Bereich [88, 90, 92]). 40 BVerfGE 1, 264 (278 f.); 14, 263 (277 f.); 20, 351 (355 f.), mit dem Bemerken, daß der Gesetzgeber sich bei der Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums "an den gesellschaftlichen Anschauungen seiner Zeit" orientiert, für die das Grundgesetz mithin offen ist (gerade hieran knüpft sich die Diskussion um den "Funktionswandel des Eigentums"). - Vgl. auch BK - Kimminich, Art. 14 RdNr. 8- 16; Hamann I Lenz, Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, 3. Auf!., Neuwied- Berlin 1970, Art. 14 Anm. A 1, B 1; v. Mangoldt I Klein, Art. 14 Anm. III 1; Maunz I Dürig I Herzog I Schotz, Grundgesetz, München 1976, Art. 14 RdNr. 30. 47 Maunz I Dürig I Herzog I Schotz, Art. 9 RdNr. 15. Vgl. hierzu auch Friedrich Müller, Korporation und Assoziation, Berlin 1965, S. 15 ff.
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zeichnet wird48 , enthält nicht nur eine erhebliche Schwankungsbreite, sondern besitzt derartig unscharfe Konturen, daß ihre exakte Begrenzung unmöglich ist. Im Bereich der Kunst beschränkt der Wertrelativismus die Konsensfähigkeit in solchem Maße, daß unweigerlich die Frage entsteht, ob dem Schutz der Kunstfreiheit nicht überhaupt alle Gestaltung zu unterstellen ist, die mit dem Anspruch des Kunstwerks auftritt, was die Verlagerung der Definitionskompetenz auf den Künstler selbst bedeutete49 • Inwieweit dieser hierbei an Schranken gebunden ist, hängt dann -mangels Unterstellung der Kunstfreiheit unter den Gesetzesvorbehalt - von der Erstreckbarkeit der Schrankentrias der persönlichen Entfaltungsfreiheit auf die Kunstfreiheit ab. Hierauf wird zurückzukommen sein. Zumindest zu erwähnen ist aber auch, daß sogar die Auffassung anzutreffen ist, das Ausmaß des Wesensgehalts der Grundrechte bestimme sich nicht danach, was dem Individuum bei dessen Einschränkung als Kernbereich verbleibe, sondern danach, was der Sozialgemeinschaft als deren Kernbereich garantiert sei. Anders sei beispielsweise 48 v. Mangoldt I Klein, Art. 5 Anm. X 3. Vgl. auch BVerfGE 30, 173 (188 f.); 31, 229 (238 f.); BVerwGE 38, 197 (207 f.); Erbel, Inhalt und Ausmaß
der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, Berlin- Heidelberg - New York 1966, S. 93 f., mit ausführlicher Übersicht über die Interpretationsversuche S. 3 ff., sowie neuestens die eingehenden Darlegungen bei Maunz I Dürig I Herzog I Scholz, Art. 5 RdNr. 26 ff., wo ein materiales Begriffsverständnis gefordert wird, das einerseits keine Drittanerkennung fordere, andererseits aber auch nicht nur vom künstlerischen Selbstverständnis abhängen dürfe. Scholz lehnt auch den Satz "in dubio pro arte" ab, will die Beurteilung aber auf eine Vertretbarkeitskontrolle beschränken (wobei freilich klarzustellen ist, daß die Problematik nicht allein zu einer solchen der Kontrolldichte gemacht werden kann, da immerhin der Maßstab feststehen muß, an dem das konkrete Kunstwerk zu messen ist). 41 Statements von Künstlern selbst bilden auch wenn man das subjektive Selbstverständnis des Künstlers nicht für maßgebend hält, sondern auf intersubjektives Kunsterlebnis abstellt - hierfür immerhin Interpretationshilfen. Welche unterschiedlichen Aussagen hierbei indessen vorkommen, sei nur durch die folgenden zwei Beispiele belegt: 1. Victor Bonato: "Der plane Spiegel ist Medium optischer Information. Diese Information ist seitenverkehrt, verfälscht also. Ich verforme Spiegel, um mit deren Reflexion Verfälschtes transparent zu machen, durch kritisches Sehen Erlebnisbereiche zu intensivieren und zu erweitern . . . Ebenbilder werden zu Zerrbildern, Zerrbilder persiflieren Ebenbilder - die Ironie ist perfekt. - Neue Bewußtseinsebenen werden so durch erkannte Fehlinformationen erschlossen." (Bonato, ed. Stringer, New York, 1974). 2. Sis M. Koch: "Ich bilde mir nicht ein, Kunst zu machen. Ich habe kein künstlerisches Anliegen, keine Botschaft ... Ich bin mein einziges Thema. Meine Bilder nutzen nur mir: Ich male mir meine Probleme und Aggressionen vom Leibe, konserviere besondere Stimmungen ..." (Ankiindigung der Ausstellung bei "Karlchen", Kampen, August/September 1977).- Auch bei einer Verlagerung der Definitionskompetenz auf den Künstler selbst wäre die Kunstfreiheit im übrigen nicht schrankenlos gewährleistet, wenn die Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG auf Art. 5 GG übertragen werden; s. dazu v. Mangoldt I Klein, Art. 5 Anm. X 6 f- i.
2 Festschrift für Helmut Schelsky
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angesichts der verfassungsrechtlichen Freiheitsgarantie die lebenslängliche Freiheitsstrafe nicht zu rechtfertigen5o. 2. Ausdrücklich niedergelegt ist die Sozialbindung eines Grundrechts - sieht man einmal von der Sozialisierungsmöglichkeit nach Art. 15 GG ab - im Grundgesetz lediglich durch die Formel "Eigentum verpflichtet" mit ihrer Konkretisierung "Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen" (Art. 14 Abs. 2 GG). Die Erläuterung, der Eigentümer müsse sich ohne Entschädigung die Beschränkungen gefallen lassen, "die in einem ,demokratischen und sozialen Rechtsstaat' bezüglich des Eigentums üblich, adäquat, zurnutbar sind" 51, verschiebt die Sozialbindurig allerdings zu sehr auf die verfassunggestaltenden Grundentscheidungen.
Abgesehen davon, daß hiervon wegen deren blankettartigen Charakters52 wenig Konkretisierung zu erhoffen ist, stellt die Bezugnahme auf das "Wohl der Allgemeinheit" nicht auf die rechtliche, sondern auf die gesellschaftliche Ebene ab. Mit der Sozialbindung gemeint ist der Gebrauch des Eigentums unter Berücksichtigung der Interessen der Gesellschaft, auch und gerade soweit diese nicht normativ als subjektive Rechte- "Rechte anderer" (Art. 2 Abs. 1 GG) - ausgeformt sind53 • Trotz des mißverständlichen Wortlauts bedeutet sie keine "Sollvorschrift" im methodelogischen Sinne, sondern entspricht der begrUfliehen Unschärfe, die auch dem "Wohl der Allgemeinheit" eignet. Wie in anderem Zusammenhang, ist es der Rechtsprechung freilich auch hier gelungen, die Verfassungsvorschrift zu konkretisieren und ihr schärfere Konturen zu geben. In der Terminologie der Schrankensystematik erscheint die Sozialbindung des Eigentums als (besondere) verfassungsunmittelbare Vorbehaltsschranke5 4 •
3. Stillschweigend enthalten ist die Sozialbindung nach verbreiteter Auffassung in der Berufsfreiheit. Dies trifft zu, wenn für den durch sie geschützten Beruf verlangt wird, daß dieser wirtschaftlich sinnvoll sein und eine Tätigkeit darstellen muß, durch die der Einzelne zugleich 5o Vgl. dazu BVerfGE 8, 274 (329); 22, 180 (219). Zweifelnd gegenüber der Richtigkeit dieser These Doehring, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsvergleichung und des Völkerrechts, FrankfurtiMam 1976, s. 169. 51 Maunz I Dürig I Herzog I Scholz, Art. 14 RdNr. 46. sz Näher hierzu Achterberg, Antinomien verfassunggestaltender Grundentscheidungen, in: Der Staat 8 (1969), 159 (160 ff.). · n Damit wird nicht in Abrede gestellt, daß die Formel über ihre sozialethische Appellfunktion hinaus auch als "Ermächtigung und Direktive des Gesetzgebers" (wie übrigens auch der sonstigen Funktionsträger) zu verstehen ist, so Ipsen, Enteignung und Sozialisierung, VVDStRL 10, 74 (85). 5' Zur Terminologie v. Mangoldt I Klein, I. Die Grundrechte, Vorbem. B XV3a.
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einen Beitrag zur gesellschaftlichen Gesamtleistung darbringt55 • Indem freilich gesagt wird, daß eine Tätigkeit, um als Beruf geschützt zu sein, weder subjektiv vom Vorstellungsbild des einzelnen her, noch objektiv (besser: intersubjektiv) von der Beurteilung der Gemeinschaft her ein Dienst am Mitmenschen zu sein braucht, sondern auch sozialwertig neutral sein kann, "wenn er nur erlaubt ist" 56, enthüllt sich die Grenzverwischung zwischen Sozialbindung und Rechtmäßigkeit. Werden als "sozialunwertige" allein solche Berufe ausgeklammert, die nicht erlaubt sind, so wird die Sozialbindung unversehens zur Rechtmäßigkeit umfunktioniert. Dann entscheidet eben nicht mehr die Gesellschaft, sondern allein der Gesetzgeber über die vom Berufsbegriff her gegebenen - immanenten - Schranken der Berufsfreiheit. Die Abstellung auf die Sozialwertigkeit oder -unwertigkeit - wird entbehrlich; ausreichend ist die Definition des Berufs als "jede erlaubte, auf Dauer berechnete Betätigung, die der Schaffung und Erhaltung einer Lebensgrundlage zu dienen vermag" 67 • Die These, der Gesetzgeber könne nicht beliebige Handlungen aus rechtmäßigen zu unrechtmäßigen und damit sozialunwertigen Berufen- spätestens hier wird die Identifizierung von Rechtmäßigkeit und Sozialwertigkeit evident - machen, wenn die gesellschaftliche Wertung eine andere ist58, bleibt Wunschtraum. Zu einer derart weitreichenden Induzierung des Metajuristischen in die Rechtsordnung ermächtigt weder eine Verfassungsbestimmung, noch wird sie durch die wie allen anderen Rechtserzeugungsstufen auch der Gesetzgebung zukommende autonome Determinante59 ermöglicht. Die Gesetzgebung dem Regelungsvorbehalt durch Gesellschaftskonsens zu unterstellen - und hierauf läuft diese These letztlich hinaus-, mit der Konsequenz übrigens, daß die Normgeltung vom FortBVerfGE 7, 377 (397); Maunz I Dürig I Herzog I Scholz, Art. 12 RdNr. 20. Ausdrückliche Ausklammerung sozialunwertiger Tätigkeit bei v. Mangoldt I Klein, Art. 12 Anm. III 2 a; zustimmend Bachof, Freiheit des Berufs, in: Die Grundrechte, 3. Bd., 1. Halbbd., hrsg. Bettermann./ Nipperdey I Scheuner, Berlin 1958, S. 155 (181); vgl. auch noch: Rupp, Das Grundrecht der Berufsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 92
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(1967), 212 (219). 51 Maunz I Dürig I Herzog I Scholz, Art. 12 RdNr. 20.
57 Ähnlich (allerdings ohne Zusatz: "erlaubt"): BVerwGE 1, 269 (271), NJW 55, 1532 (1533). Weitere Varianten nennen v. Mangoldt I Klein, Art. 12 Anm. 111 2 a, die der Befürchtung, auch unerlaubte Tätigkeiten könnten dem Berufsbegriff unterstellt werden, mit der o. Anm. 55 erwähnten Abstellung auf
die Sozialwertigkeit oder Sozialneutralität begegnen wollen. Im Grunde ist der Streit wenig ergiebig, da man durchaus zu argumentieren vermag, daß eine "unerlaubte" Tätigkeit (realistischerweise) per se nicht "auf Dauer berechnet" sein kann. 58 Maunz I Dürig I Her:wg I Scholz, Art. 12 RdNr. 20. &t s. dazu o. Anm. 45.
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bestand dieses Konsenses abhängt80, steht mit der geltenden Staatsgrundordnung, insbesondere mit dem Prinzip parlamentarischer Repräsentation, schlicht in Widerspruch. Wird die Sozialwertigkeit oder zumindest Sozialneutralität allerdings gleichwohl zu einem Essentiale des Berufsbegriffs erhoben, so erscheint die solchermaßen begründete Sozialbindung in der Terminologie der Schrankensystematik als immanente sachliche, Gewährleistungsschranke 81 • 4. Die Meinungsfreiheit wird, anders als das Eigentum, nicht verfassungsunmittelbar der Sozialbindung unterstellt. Man wird im Gegenteil aus dem Umstand, daß sie vergleichsweise eng umgrenzten verfassungsmittelbaren Vorbehaltsschranken unterworfen ist, im Umkehrschluß folgern müssen, daß der Vorbehalt nicht auch die Sozialbindung umfaßt. Damit entsteht insoweit auch nicht die seit der Lüth-Entscheidung umstrittene Problematik der Güterabwägung 62 zwischen der Meinungsfreiheit einerseits und dem vorbehaltsgesetzlich geschützten Rechtsgut andererseits: ein Verfahren, dem mitunter ein hierin angeblich liegender Zirkelschluß83 zum Vorwurf gemacht wird - irrigerweise übrigens, da jede Güterahwägung nun einmal begriffsimmanent ein argumentatives Kreisen oder - mit Karl Engisch - ein "Hin- und Herwandern des Blickes" 84 erfordert. Dieses mit dem Verdikt des Zirkelschlusses und damit des Verstoßes gegen Grundregeln der Logik zu belegen, käme der Absage an das Verfahren der Güterahwägung nahe85 • 80 Hier geht es um das Problem der Normeffektivität dazu Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 212 ff.; Pitamic, Die Frage der rechtlichen Grundnorm, in: Völkerrecht und rechtliches Weltbild, Festschrift für Alfred Verdross, hrsg. v. d. Heydte I Seidl-Hohenveldern I Verosta I Zemanek, Wien 1960, S. 207 (209), sowie Achterberg, DÖV 74, 453; Behrend, S. 69 ff.; Walter, Der gegenwärtige Stand der Reinen Rechtslehre, Rechtstheorie 1 (1970), 69 (81 f.) - aber auch um die Appellentscheidung des Verfassungsgerichts als "Normsurrogat" -dazu Achterberg, DÖV 77, 655 -, durch die Effektivität restituiert wird. 81 Zur Terminologie v. Mangoldt I Klein, I. Die Grundrechte, Vorbem. B
XV2a. 12
Dazu BVerfGE 7, 198 (208); Maunz I Dürig I Herzog I Scholz, Art. 5 RdNr.
249 ff.
18 Maunz I Dürig I Herzog I Scholz, Art. 5 RdNr. 253. " Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 2. Aufl., Heidelberg, 1960, S. 14 f., und im Anschluß an ihn Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, Berlin 1967, S. 161, 197 ff., 203 ff. Vgl. auch noch Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., Berlin- Heidelberg- New York 1975, S. 185, 213, 265 (Hin- und Herwandern des Blicks als "Wechselseitige Erhellung" und in Beziehung zum Vorverständnis [dazu Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, FrankfurtiMain 1972, passim]); Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, Stuttgart- Berlin- Köln- Mainz 1974, S. 18; Scheuerle, Rechtsanwendung, Nürnberg- Düsseldorf 1952, S. 23. 86 Wenn auch nicht gleich, da die Rechtswissenschaft auch sonst Verstöße gegen die Logik in Kauf nimmt, wie etwa die Anfechtbarkeit nichtiger Willenserklärungen, Enneccerus I Nipperdey, Allgemeiner Teil des bürgerlichen
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Aus der Unmöglichkeit, die Sozialbindung als Vorbehaltsschranke der Meinungsfreiheit zu begreifen, folgt das Erfordernis der Prüfung, ob diese eine immanente Gewährleistungsschranke bildet, die Sozialwertigkeit oder zumindest Sozialneutralität der "Meinung" in den Unterfällen der Meinungsfreiheit, der Freiheit der Meinungsäußerung, der Meinungsverbreitung und der Meinungsverschaffung 66 , also - möglicherweise differenzierend - mitzulesen ist. Der Umstand, daß die Abgabe von Werturteilen unumstritten zur Meinungsäußerung zählt und lediglich fraglich ist, ob auch Tatsachenmitteilungen zu ihr rechnen67, scheint eine solche Deduktion zu begünstigen. Sicherlich schließt auch das sich keinesfalls nur auf die Pressefreiheit beziehende, sondern zugleich auf die Meinungsfreiheit überhaupt erstreckende Zensurverbot68 die Sozialbindung nicht aus - dann zumindest nicht, wenn man der Auffassung ist, daß nach diesem vor allem keine behördliche Zensur stattfinden darf, gegen eine nichtbehördliche - wie die Freiwillige Selbstkontrolle der Deutschen Filmwirtschaft -, insbesondere gesellschaftliche, demgegenüber weniger Bedenken zu erheben sind69. Gleichwohl kann die Meinungsfreiheit hinsichtlich keiner ihrer zuvor erwähnten drei Unterfälle aus sich heraus als sozialgebunden verstanden werden. Auch hier wirkt sich der mit der demokratischen Staatsgrundordnung - im Lichte der verfassunggestaltenden Grundentscheidungen müssen wie alle Verfassungsvorschriften auch die Grundrechtsbestimmungen gedeutet werden70 - verhaftete W ertrelativismus aus. Er verbietet, der Meinungsfreiheit die Korsettstange einer wie auch immer umgrenzten "Soziokonformität" einzuziehen und dies ist, wie noch zu zeigen sein wird, entscheidend - das Abweichen von ihr justiziabel zu machen. Rechts, 15. Aufl., Tübingen 1960, 1. Band, 2. Halbbd., § 203 III 7, S. 1229, oder die Anfechtbarkeit nichtiger Verwaltungsakte, Eyermann I FröhZer, Verwaltungsgerichtsordnung, 7. Aufl., München 1977, Anhang zu § 42 RdNr. 1; Redeker I v. Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 5. Aufl., Stuttgart- Berlin - Köln - Mainz 1975, § 42 Anm. 12. 88 v. Mangoldt I Klein, Art. 5 Anm. III- V; Maunz I Dürig I Herzog I Scholz, Art. 5 RdNr. 1. 87 Verneinend z. B. Hamann I Lenz, Art. 5 Anm. B I; v. MangoZdt f .Klein, Art. 5 Anm. III 1 (m. weit. Hinweisen), bejahend Maunz I Dürig I Herzog I Scholz, Art. 5 RdNr. 51 ff. 08 v. Mangoldt I Klein, Art. 5 Anm. VIII 1; Maunz I Dürig I Herzog I Scholz, Art. 5 RdNr. 12. 69 Nach v. Mangoldt I Klein, Art. 5 Anm. VIII 4. Vgl. demgegenüber aber Noltenius, Die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft und das Zensurverbot des Grundgesetzes, Göttingen 1958, S. 116 f. 70 Vgl. dazu Achterberg, in: Der Staat 8 (1969), 175; Friedrich Klein, Bonner Grundgesetz und Rechtsstaat, ZgStW 106, 390 (400); Herbert Krüger, § 34 III 1 c dd, S. 814.
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5. Damit bleibt noch zu untersuchen, ob sich eine justiziable Sozialbindung der Meinungsfreiheit aus der Vbertragung der Schrankentrias der Persönlichkeitsentfaltung auf diese ableiten läßt. Umschlössen diese Schranken auch die Sozialbindung und wären ihnen auch alle speziellen Freiheitsrechte unterworfen, so würde hierdurch nicht nur der bereits erwähnten "Knappheit" der Freiheit entsprochen, sondern auch ein systemstabilisierender Effekt ausgelöst71 • a) Jedes weitere Denken in diese Richtung setzt freilich voraus, zunächst einmal die innere Schlüssigkeit der "Immanenzlehre" zu überprüfen. Dabei erscheint folgendes als bedeutsam: aa) Dieser Theorie liegt das Menetekel zugrunde, daß Grundrechte "infolge Fehlens eines Beschränkungsvorbehalts scheinbar gänzlich schrankenlos sind" 72 und die Glaubens- und Gewissensfreiheit beispielsweise selbst unter Mißachtung der Polizei- und Strafgesetze ausgeübt werden könne. Übersehen wird dabei, daß Grundrechte nun einmal nicht nur Vorbehalts-, sondern auch (immanenten und systematischen) Gewährleistungsschranken unterliegen - womit allerdings noch nicht ausgesagt ist, daß diese dem Bedürfnis nach Eingrenzung von Freiheitsrechten stets genügen. bb) Unzweifelhaft können ferner die drei Schranken der Persönlichkeitsentfaltung - Rechte anderer, Sittengesetze, verfassungsmäßige Ordnung -, wenn überhaupt, nicht unbesehen auf die speziellen Freiheitsrechte übertragen werden. In der Ausdeutung, welche der Begriff "verfassungsmäßige Ordnung" in der Rechtsprechung erfahren hatGesamtheit der formell und materiell verfassungsmäßig zustande gekommenen Normen73 - , führte die Übertragung dieser Schranken auf die speziellen Freiheitsrechte zu deren Unterstellung unter einen mit71 Diese Überlegung ergänzt die von Krawietz, S. 22, im Anschluß an Luhmann vertretene Auffassung, die Funktion der Menschenrechte und Grund-
freiheiten als solcher bestehe darin, Grenzen sozialer Systembildung zu stabilisieren, um auf diese Weise einer Entdifferenzierung der Sozialordnung zu begegnen. 72 Maunz I Dürig I Herzog I Scholz, Art. 2 Abs. I RdNr. 69. 73 BVerfGE 6, 32 (38); 9, 3 (11); 19, 253 (257); 25, 371 (407); BVerwGE 6, 134 (141), 354 (356); 7, 125 (134); Hamann I Lenz, Art. 2 Anm. B 6; a. M. v. Mangoldt I Klein, Art. 2 Anm. IV 2 a ("elementare Verfassungsgrundsätze und Grundentscheidungen des Verfassungsgesetzgebers"); Maunz I Dürig I Herzog I Scholz, Art. 2 Abs. I RdNr. 18 (mit dem Hinweis, daß die "Rechte anderer" und das "Sittengesetz" als daneben stehende Schranken bei der extensiven Interpretation, die der Begriff "Verfassungsmäßige Ordnung" durch die Rechtsprechung erhalten hat, sinnlos würden, was indessen zumindest bezüglich des Sittengesetzes keineswegs zutrifft); Wintrich, Zur Auslegung und Anwendung des Art. 2 Abs. 1 GG, in: Staat und Bürger, Festschrift für Willibalt Apelt, hrsg. Maunz I Nawiasky I Hecke!, München- Berlin 1958, S. 1 (6: "leitende Prinzipien der ... Teilrechtsordnungen ... , die deren Strukturen bestimmen").
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unter gerade nicht gewollten Gesetzesvorbehalt. Die Hypothese von der Schrankenimmanenz muß dann also zumindest mit dem Eingeständnis eines Bedeutungswandels des Begriffs "verfassungsmäßige Ordnung" verknüpft sein - in dem Sinne etwa, daß diese bei den speziellen Freiheitsrechten anders als beim allgemeinen Freiheitsrecht nicht die Gesamtheit des unterrangigen verfassungsmäßigen Normenbestands, sondern im Sinne einer "primitiven Nichtstörungsschranke" 74 nur die Normen umfaßt, die "zur Wahrung eines gedeihlichen menschlichen Zusammenlebens unerläßlich" sind75 • Da der Begriff "verfassungsmäßige Ordnung" teleologischer Auslegung fähig ist, erscheint diese unterschiedliche Deutung möglich78 • cc) Man wird auch der Auffassung zustimmen können, daß das sozialphilosophische, insbesondere (und nicht: "und") 77 sozialethische Menschenbild des Verfassunggebers das Individuum nicht von jeglicher Sozialbindung freistellt- und zwar ohne daß hierfür das Sozia1staatsprinzip bemüht zu werden braucht78 • Der Ausgleich zwischen Individual- und Gemeinschaftsinteressen und nicht allein zwischen kollidierenden Individualinteressen stellt allerdings eine der wesentlichen Aufgaben jeder Rechtsordnung dar, weil eben qas Gemeinschaftsinteresse nicht nur Addition von Individualinteressen ist79 • Daraus folgt, daß die Formel "Gemeinnutz geht vor Eigennutz" keineswegs der geltenden Staatsgrundordnung zugrundeliegt-der Verfassunggeber hat im Gegenteil nach den Erfahrungen der Vergangenheit bewußt die Individualinteressen akzentuiert -, daß es andererseits aber auch nicht ausreicht, die "Rechte anderer" als Grundrechtsschranken gelten zu lassen. Maunz I Dürig I Herzog I Scholz, Art. 2 Abs. I RdNr. 70. Maunz I Dürig I Herzog/ Scholz, Art. 2 Abs. I RdNr. 75. 78 Zu diesem Ergebnis wenn auch ohne Bezugnahme auf die Methode der teleologischen Reduktion- gelangt bereits BVerfGE 6, 38. 77 So aber Maunz I Dürig I Herzog I Scholz, Art. 2 Abs. I RdNr. 70. 78 So aber Maunz I Dürig I Herzog I Scholz, Art. 2 Abs. I RdNr. 24, 25. (Daß die Entfaltungsfreiheit insofern "sozialgebunden und sozialbereit" (Dürig] ist, als die verfassunggestaltende Grundentscheidung für die Sozialstaatlichkeit Auslegungsrichtlinie auch für die freie Entfaltung der Persönlichkeit ist, wird mit dem zuvor Gesagten nicht in Abrede gestellt). 78 Vgl. dazu Doehring, S. 26 ff.; Maunz I Dürig I Herzog I Scholz, Art. 2 Abs. I RdNr. 74. Hiermit hängt schließlich auch zusammen, daß die öffentliche Gemeinwohlbindung - wie auch immer man eine solche zu begreifen hat (s. dazu u. b) - sich nicht in der Anerkennung von "Rechten anderer" und damit kollidierender subjektiver Rechte erschöpft, so zutreffend Maunz I Dürig I Herzog I Scholz, Art. 2 Abs. I RdNr. 15. Ganz in dieser Richtung liegt auch die Auffassung von Krawietz, S. 23; Luhmann, Zur Funktion der "subjektiven Rechte", in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 1 (1970), 321 (323 f.), nach ,denen "Reziprozität" und "Komplementarität" von Grundrechten zu unterscheiden sind. 74 76
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dd) Die Persönlichkeitsentfaltung untersteht demgemäß nicht nur dem Vorbehalt subjektiver Rechte, sondern durch die Bezugnahme auf das Sittengesetz und die verfassungsmäßige Ordnung zugleich einem Bestand an objektiven moralischen und rechtlichen Normen, die als solche durchaus geeignet sind, supraindividuellen Interessen Rechnung zu tragen. Die Bedenken gegen die Bezugnahme auf das Sittengesetz die sich weithin mit denjenigen gegenüber der tradierten Deutung des polizeirechtlichen Begriffs "öffentliche Ordnung" decken - sollen hier nicht wiederholt werden80 • Das Grundgesetz hat dieses nun einmal rezipiert, mag man dies begrüßen oder nicht. Jedenfalls aber zwingen Schwankungsbreite des Sittengesetzes und Wertrelativismus der Demokratie dazu, diese Schranke restriktiv zu handhaben - denjenigen zumindest, der sich nicht im Besitze naturrechtlicher Heilsgewißheit befindet. ee) Methodisch ungeklärt ist indessen noch immer, auf welchem Wege die speziellen Freiheitsrechte der Schrankentrias unterstellt werden können. Gerade hieraus resultiert der Vorwurf des "Orphischen", den sich die Immanenzlehre eingehandelt hat81 • (1) Sicher ist, daß die Schranken der Persönlichkeitsentfaltung keine immanenten der speziellen Freiheitsrechte sind, wie sie die Begriffsinhalte der durch die geschützten Rechtsgüter - Glauben, Meinung, Kunst, Beruf, um nur Beispiele zu nennen - bilden. Diese Annahme verbietet sich schon allein deswegen, weil die Rechte anderer, das Sittengesetz und die verfassungsmäßige Ordnung auch keine immanenten Schranken der Persönlichkeitsentfaltung sind, wie sich aus ihrer Ausgestaltung als verfassungsunmittelbare Vorbehaltsschranken ergibt, deren es nicht bedurft hätte, wenn sie der Persönlichkeitsentfaltung ohnedies innewohnten. (2) Aber auch die analoge Anwendung der Schrankentrias auf die speziellen Freiheitsrechte ist nicht zulässig. Zwar mag es sein, daß der Normzweck der Schranken die Ausdehnung ermöglicht und auch die Interessenlage übereinstimmt. Ebenso würde die Analogie nicht hindern, dem Begriff "verfassungsmäßige Ordnung" bei der Anwendung auf die speziellen Freiheitsrechte einen begrenzteren Inhalt zu geben, da der Zweck dieser Schranke eben nicht so weit reicht, auch diese in der Bedeutung als Gesamtheit des formell und materiell verfassungs80
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Hierzu Achterberg, in: Festschrift für Hans Ulrich Scupin, S. 25 ff. Wehrhahn, Systematische Vorfragen einer Auslegung des Art. 2 Abs. I
des Grundgesetzes,. AöR 82 (1957), 250 (274). Rechtfertigungsversuch bei Dürig I Herzog I Schatz, Art. 2 Abs. I RdNr. 70, wo der Ersatz rechtstheoretisch exakter Untermauerung durch die apodiktische Hypostasierung, die Immanenzlehre sei- da Verfassungstexttreu- "von vornherein gegen [diesen] Vorwurf gefeit", allerdings wenig überzeugt. Maunz I
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mäßigen Normenbestands zu begrenzen, so daß die Analogie mit einer teleologischen Reduktion verbunden werden müßte, aber auch könnte. Die Unzulässigkeit der Analogie gründet sich jedoch darauf, daß keine Gesetzeslücke vorhanden ist, die durch eine solche ausgefüllt werden könnte. Dem Verfassunggeber kann nicht unterstellt werden, daß ihm hinsichtlich sämtlicher spezieller Freiheitsrechte dieselbe Regelungslücke unterlaufen wäre, die Schrankentrias nicht aufzunehmen oder zumindest nicht deren entsprechende Anwendung vorzuschreiben. (3) Damit bleibt als letzter - methodisch allerdings in der Tat gangbarer - Weg, die durch die verfassungsunmittelbaren Vorbehaltsschranken "Rechte anderer", "Sittengesetz", "verfassungsmäßige Ordnung" umgrenzte Persönlichkeitsentfaltung in dem ihr dann noch zukommenden Ausmaß als systematische sachliche Gewährleistungsschranke aller speziellen Freiheitsrechte heranzuziehen82 - dies allerdings mit der erwähnten teleologischen Reduktion des Begriffs "verfassungsmäßige Ordnung". Damit wird methodenrichtig83 das Ziel erreicht, diese dem Vorbehalt der Rechte anderer, des Sittengesetzes und der zur Wahrung eines gedeihlichen menschlichen Zusammenlebens unerläßlichen Ordnungsnormen zu unterstellen. b) Mit diesem Befund ergibt sich die Anwendbarkeit der reduzierten Schrankentrias auf die speziellen Freiheitsrechte. Die These, alle Individualrechte ständen unter einem "allgemeinen Gemeinschaftsvorbehalt" oder unter dem Vorbehalt der "Gemeinverträglichkeit"84, ist so allerdings zu pauschal. Vielmehr muß exakter zum Ausdruck gebracht werden, daß sich in ihr in Wirklichkeit die bezüglich des allgemeinen Freiheitsrechts und der speziellen Freiheitsrechte durch die erwähnte Reduktion abgestufte Schrankentrias verbirgt; darüberhinaus besteht kein selbständiger "Gemeinwohlschutz". Hierdurch, insbesondere durch 82 Scholtissek, Innere Grenzen der Freiheitsrechte, NJW 52, 561 (562), gelangt zu demselben Ergebnis dadurch, daß er in den allgemeinen Schranken des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nichts anderes als eine Konsequenz des Gleichheitssatzes erblickt, so daß sie auch ohne ausdrückliche Erwähnung gelten. Indessen bedarf es dieses Umwegs nicht, weil eben nicht nur Art. 3 GG, sondern auch Art. 2 GG als systematische sachliche Gewährleistungsschranke herangezogen werden kann, wodurch zugleich dem Prinzip verfassungsgesetzlicher Konkordanz (Hesse, § 2 III 2 c bb, S. 28 f.; Lerche, Ubermaß und Verfassungsrecht, München 1961, S. 125 ff.; Friedrich Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl., Berlin 1976, S. 170 ff., 175 f.; Scheuner, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 20, 125; ders., Pressefreiheit, VVDStRL 22, 1 [53]), Rechnung getragen wird. 83 Friedrich Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl., S. 157 f., sieht in einem solchen Verfahren, dem auch er insoweit zustimmt, eine "funktionsdifferente Auslegung", doch mag dies auf sich beruhen, da sich in der Sache hierdurch nichts ändert. 84 In diese Richtung zielen allerdings BVerfGE 7, 377 (408 f., 414); 20, 150 (176); BVerwGE 2, 85 (87); 4, 167 (171); Doehring, S. 30.
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die im Rahmen der Berücksichtigung von "Rechten anderer" bei Grundrechtskollisionen erforderlich werdende Güterabwägung, wird der erwähnten "Knappheit" der Freiheit Rechnung getragen85. Rechte anderer sind dabei nicht nur Grundrechte, sondern auch unterrangig eröffnete subjektive öffentliche Rechte, die hierbei als Grundrechtsschranke rezipiert werdens8 • Sie werden als solche gerade im Bereich der speziellen Freiheitsrechte bedeutsam, während sie bei der Persönlichkeitsentfaltung von der dort nicht reduzierten Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung umfaßt werden, sofern sie in formell und materiell verfassungsmäßigen Normen niedergelegt sind. Trifft dies zu, so laufen die "Rechte anderer" als selbständige Schranke leer. Eigenständige Bedeutung besitzen sie bei dem allgemeinen Freiheitsrecht nur, sofern sie auch aus nicht verfassungsmäßigen Normen ableitbar sind - eine Möglichkeit, die sich allerdings abzeichnet, wenn der Ungültigerklärung einer Norm konstitutive Wirkung beigemessen wird oder ein verfassungswidriger rechtsgestaltender Verwaltungsakt be~ standskräftig wird. Doch mag dies in diesem Zusammenhang auf sich beruhen. c) Zurückzukehren ist zu der Ausgangsfrage, ob sich mit Hilfe einer Übertragung der reduzierten Schrankentrias auf die Meinungsfreiheit deren Sozialbindung ableiten läßt. Wie auch immer das Ergebnis ausfällt, sicher ist schon jetzt, daß Helmut Schelskys These von der "Sozialbindung der Meinungsfreiheit" sich in jedem Fall als zutreffend erweist. Denn diese Sozialbindung braucht nicht notwendigerweise rechtliche Relevanz zu besitzen; sie kann im metajuristischen, gesellschaftlichen Bereich verbleiben. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß weite Teile des Parlamentsrechts - wie andernorts dargelegt87 - "lex de iure imperfecta, de politicis perfecta" sind. Bleibt bei ihnen nur die Sanktion im metajuristischen (dort: politischen) 85 Unzutreffend ist die- gegen BVerfGE 28, 243 ff., vertretene- Auffassung von Graf, Ungeschriebene Grundrechtsschranken, BayVBl 71, 55 (55), von kollidierenden Rechten könne nur bei gegenläufigen die Rede sein, nicht aber bei gleichgerichteten (gegen den Staat als Grundrechtsadressaten). Auch hier kann es wegen der Verengung des Freiheitsraums infolge der Knappheit der Freiheit zu Kollisionen kommen, die durch Güterahwägung zu bewältigen sind. 86 Mißverständlich Hamann I Lenz, Art. 2 Arim. B 5, nach denen als "Rechte anderer" nur solche in Betracht kommen, die eine einwandfreie verfassungsrechtliche "Fundierung" aufweisen. Hierbei bleibt unklar, ob damit die Natur als Verfassungsgesetze verlangt wird, denn eine verfassungsrechtliche Fundierung müssen wegen des Delegationszusammenhangs auch unterrangige Normen aufweisen, um rechtsgültig zu sein. Daß der unterrangige Gesetzgeber keine "anderen Rechte" schaffen könne (so Hamann !Lenz, ebd.), ist zumindest in dieser Allgemeinheit nicht zutreffend. 87 Achterberg, Das Parlament im modernen Staat, DVBl 74, 689 (701); ders., Das rahmengebundene Mandat, Berlin- New York 1975, S. 18; ders., Parlamentsreform - Themen und Thesen, DÖV 75, 833 (837).
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Raum, so ist bei einer lediglich sozialverhafteten Sozialbindung dagegen schon der Tatbestand, nicht erst die Rechtsfolge in diesem verankert. In der Tat rezipiert das Grundgesetz mit der Schrankentrias zwar das Sittengesetz, fordert damit jedoch keine Sozialwertigkeit oder zumindest Sozialneutralität der Freiheitswahrnehmung. Das Verhältnis von Moralnormen und Sozialnormen kann hier nicht ausgelotet werden, doch kann immerhin soviel gesagt werden, daß nicht jeder Verstoß gegen Sozialität auch ein solcher gegen die Moralität zu sein braucht. Verhalten sich gesellschaftlicher und rechtlicher Bereich wie zwei konzentrische Kreise, so läßt sich dieses Bild noch erweitern, wenn man berücksichtigt, daß es außer dem Überschneidungsraum, in dem Moralnormen zugleich Rechtsnormen sind, sowohl einen metajuristischen moralischen als auch einen metamoralischen juristischen Bereich gibt. Infolgedessen erscheinen Rechtsraum und Moralraum als zwei sich schneidende Kreise, beide eingelagert in den sie umwölbenden Kreis des Gesellschaftlichen. Wie die Überschreitung einer Sozialnorm nicht zugleich die einer Rechtsnorm sein muß, braucht sie dementsprechend auch nicht diejenige einer Moralnorm zu sein. Aus der Rezeption des Sittengesetzes als Schranke des Freiheitsrechts läßt sich dessen Sozialbindung mithin nicht ableiten. Daß sich aus den "Rechten anderer" und der "verfassungsmäßigen Ordnung"- unmittelbar rechtsnormativ verankerten Grundrechtsschranken - nichts anderes ergibt, bedarf nach dem zuvor Erwähnten keiner weiteren Darlegung.
VD. Damit steht das Ergebnis fest: Die Sozialbindung der Meinungsfreiheit besitzt soziale, nicht jedoch rechtliche Relevanz. Auch hier wirkt sich erneut der- wenn auch, wie die Grenze des Verstoßes gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung zeigt, nicht unbeschränkte88 - Wertrelativismus aus, der mit der Demokratie verhaftet ist. Demgemäß können nicht nur sozialwertige oder sozialneutrale, sondern selbst sozialunwertige Meinungen vertreten werden, ohne daß dies justiziabel wäre811 • Die Verantwortung vor der Gesellschaft mit der 88 Näher dazu Achterberg, Kelsen und Marx. Zur Verwendbarkeit der Reinen Rechtslehre in relativistischen und dogmatistischen Rechtssystemen, in: Politik und Kultur 2/1975, S. 40 (53 ff.). 8' Gerade der Wertrelativismus und mit ihm der Wertepluralismus lösen schwerwiegende Konsequenzen für die Probleme des Konsenses und der Identifikation aus. Unter ihrer Geltung setzt der Konsens voraus, daß sich die Gesellschaft zunächst auf ihr Grundwerte besinnt - was von Isensee, Verfassungsgarantie ethischer Grundwerte und gesellschaftlicher Konsens, NJW 77, 545 (545), bereits optimistisch als neue, aber doch schon vorhan-
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möglichen Folge des gesellschaftlichen Unwerturteils bleibt freilich bestehen. Nicht bezweifelt werden kann, daß diese gesellschaftliche Verantwortlichkeit oftmals nicht hinlänglich erkannt wird. Nicht wenige Meinungsäußerungen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte, insbesondere solche im Schutzbereich der Pressefreiheit, haben ein gerüttelt Maß Anteil an mancherlei desolaten Zuständen in dieser Gesellschaft90 und durch ihren destruktiven Charakter einen im Sinne der Smendschen Integrationstheorie desintegrierenden Effekt ausgelöst. Innerhalb des Staats dadurch auftretende Zentrifugalkräfte haben, wie sich gezeigt hat, zunehmend gesellschaftliche Randgruppen produziert, deren Aktionen jene oben erwähnte Grenze überschreiten und infolgedessen staatliche Reaktionen nach sich ziehen müssen. Genau dies ist der Punkt, an dem die zuvor allein gesellschaftliche Relevanz der Sozialbindung die Schwelle zur rechtlichen Relevanz überschreitet. Wiederum also: ein abgestuftes Schrankensystem der Grundrechte, in das auch die freiheitliche demokratische Grundordnung noch als Schranke einbezogen werden muß. Die Vorschrift über die Grundrechtsverwirkung belegt dies zur Evidenz. Solange diese Grenze nicht erreicht ist, gewinnt indessen Helmut Schelskys Folgerung aus der "Sozialbindung der Meinungsfreiheit" dene Situation diagnostiziert wird-; solange und soweit dieser Konsens jedoch nicht besteht, ist der wertrelativistische Staat vom Ansatz her zur Nichtidentifikation gezwungen (wenn auch keineswegs genötigt, den wertrelativistischen Ansatz durchzuhalten; Isensee, NJW 77, 546, kann darin zugestimmt werden, daß der Staat "originäre Verantwortung" für die ihm vorgegebenen Grundwerte trägt, wobei nur fraglich ist, was zu diesen zählt, ob insbesondere auch die Grundrechte kraft des "kategorischen Geltungsanspruchs der Verfassung" [Isensee, NJW 77, 550] zum wertrelativitätsentzogenen Sozialbereich zählen). Vgl. zum Thema ferner Achterberg, in: Festschrift für Hans Ulrich Scupin, S. 29 ff.: ders., in: Politik und Kultur 2/1975, S. 53 ff. m. weit. Hinweisen; Herbert Krüger, S. 161, 178 ff., 247, 281 f., 388 (zu den Grundrechten als Verwirklichung der Nichtidentifikation: S. 528, 541); Rechtsgeltung und Konsens, hrsg. Jakobs, Berlin 1976, passim; Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, Tübingen 1972, S. 236 ff., 244 ff.; Werner, Recht und Toleranz, in: Verhandlungen des 44. Deutschen Juristentages, Hannover 1962, Bd. II/B, Tübingen 1964, passim, insb. S. B 6 f., wo Toleranz als Ordnungsfaktor innerhalb der "offenen Gesellschaft" begriffen wird, durch den das in dieser gegebene mannigfache Gegeneinander "nicht in ein Chaos entartet" - eine These, die nach jüngsten Erfahrungen freilich fragwürdig geworden ist (s. aber auch den Hinweis darauf, daß die Toleranz nicht schrankenlos bestehen kann [S. B 9]); Zacher, Pluralität der Gesellschaft als rechtspolitische Aufgabe, in: Der Staat 9 (1970), 161 (insb. 163 ff., wo hervorgehoben wird, daß sozialer Zwang nur Quasi-Konsens bedeuten kann, 172 mit dem wichtigen Hinweis, daß das Recht die Entwicklung der Konsense und Meinungen führen kann). 10 Im gleichen Sinne Steinbuch, Asche auf Euer Haupt, in: Die Welt am Sonntag, Nr. 44 v. 30.10.1977, S. 9: "Wer über die Massenmedien verfügt, darf eben nicht nur Buchstaben und Bilder aneinanderreihen, sondern muß auch über die Folgen des Publizierten nachdenken und Verantwortung dafür tragen."
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uneingeschränktes Gewicht: "Aber so einfach nach dem Staatsanwalt [oder dem Bundesverfassungsgericht] 91 rufen, wenn jemand durch falsche öffentliche Information verletzt ist oder sich fühlt ... ?" Die Antwort lautet, wie aus soziologischer, so auch aus juristischer Sicht: Nein.
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Ergänzung vom Verfasser.
Das Selbstregulierungstheorem als die zentrale Methode einer allgemeinen Gesetzgebungslehre Von Rolf Bender Vorbemerkung
Anläßlich meines Vortrages an der Universität Münster "Über den Versuch zu einem Allgemeinen Teil einer Gesetzgebungslehre", fand das Stichwort "Selbstregulierungstheorem" das besondere Interesse Professor Schelskys. Er steuerte selbst ein Beispiel aus dem Bereich der Universität bei: Solange noch Hörgelder nach der Zahl der Hörer an die Hochschullehrer bezahlt wurden, haben pädagogisch besonders begabte und interessierte Professoren weit mehr Vorlesungen und Übungen abgehalten, als ihrem heutigen Pflichtdeputat entspricht. Einige wenige in der Forschung besonders erfolgreiche Professoren mögen auch etwas weniger Unterrichtsstunden abgehalten und dafür mehr veröffentlicht haben. Als man das Hörgeld pauschalierte, - und das gerade in der Phase steigender Studentenzahlen - lasen ab sofort alle Professoren nur noch soviel, wie sie mußten. Insgesamt ging daher das durchschnittliche Unterrichtsangebot pro Kopf eines Lehrenden zurück - und das genau im Zeitpunkt eines sprunghaft ansteigenden Unterrichtsbedarfs. Es handelt sich hier um den Prototyp eines "Negativen Selbstregulierungsmechanismus", der zweifellos viel zur Verschärfung des numerus clausus beitrug und beiträgt.
I. Einführung Eine Allgemeine Gesetzegebungslehre bedarf in erster Linie "handhabbarer Regelungsanweisungen", die auf einem mittelhohen Abstraktionsniveau formuliert und geeignet sind, die Ziele des Gesetzgebers sicherer und mit weniger Aufwand zu erreichen. Das Fehlen solcher typisierter Regelungsanweisungen ist hauptverantwortlich für die Langsamkeit des Gesetzgebungsverfahrens, die Gesetzflut, die mangelhafte Harmonie unserer Rechtsordnung und die fehlende Effektivität. 1. Gesetzgebungslehre als "juristische Metadogmatik"
Weit mehr als zweitausend Jahre haben sich Juristen mit der Anwendung von Gesetzen befaßt und dafür eine ausgefeilte Methodenlehre und Dogmatik entwickelt. Dagegen war die viel wichtigere - weil breiter wirkende - Methodologie der Herstellung von Gesetzen bislang nur selten
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Gegenstand wissenschaftlicher Bemühung. Wer etwa Schreiner werden will, muß 8 Jahre lernen und 2 Prüfungen bestehen, Gesetzgeber hingegen fallen sozusagen "als Naturtalente vom Himmel". Und die Ergebnisse sind oft danach. Eine Gesetzgebungslehre muß erfolgreiche Methoden anbieten können für eine Vielzahl von Fällen gesetzlicher Regelungsbedürftigkeit mit jeweils gleichartiger Problematik. Wenn uns Richtern ein problematischer Fall vorliegt, fangen wir schließlich auch nicht mit der Gerechtigkeitsidee bei Aristoteles an, um uns langsam über Thomas von Aquin bis Rawls1 an die Probleme des konkreten Falles heranzutasten. Wir haben vielmehr in der juristischen Dogmatik vorgeformte Lösungstechniken für häufig vorkommende Interessenkollisionen, wie z. B. culpa in contrahendo, Wegfall der Geschäftsgrundlage usw. Wir fragen in der Regel dann nur noch, welchem typischen Interessenkonflikt der Fall zuzuordnen ist. Der Gesetzgeber hingegen geht heute noch nach der eben apostrophierten "Aristoteles-Methode" vor. Er tut so, als ob alle seine Probleme brandneu seien und jeweils zum ersten Mal gelöst werden müßten. Das sieht dann etwa so aus, daß das immer wieder gleiche Problem, nämlich einen wirtschaftlich schwachen, geschäftsungewandten Personenkreis- und nur diesen- zu schützen, z. B. wie folgt gelöst wird: Das Abzahlungsgesetz gilt für alle, außer für Kaufleute, die im Handelsregister eingetragen sind - auch wenn es um kein Handelsgeschäft geht. Der Schutz vor dem aufgedrängten auswärtigen Gerichtsstand (§ 38 ZPO) gilt für alle, außer für Vollkaufleute - gleichgültig, ob sie im Handelsregister eingetragen sind und gleichgültig, ob es um ein Handelsgeschäft geht. Der Schutz vor nachteiligen Allgemeinen Geschäftsbedingungen gilt für alle, außer für Kaufleute, aber nur, wenn es um ein Handelsgeschäft gehtauf die Eintragung im Handelsregister kommt es nicht an. Daß vermutlich alle drei verschiedene Lösungstechniken das angestrebte gemeinsame Ziel weitgehend verfehlen, soll hier nicht weiter problematisiert werden. Das Beispiel soll zeigen, wie wichtig vielfältig brauchbare Regelungsanweisungen sind, die auf einem mittelhohen Abstraktionsniveau zu formulieren wären.
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John
Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1975.
Selbstregulierungstheorem in einer allgemeinen Gesetzgebungslehre
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2. Axiome und Theoreme einer Gesetzgebungslehre
Einige solcher Regelungsanweisungen mittlerer Reichweite wurden von mir versuchsweise skizziert2 und "Theoreme" genannt. Dieser Benennung lag der Gedanke zugrunde, daß jene Regelungsanweisungen vermutlich keine willkürliche Ansammlung darstellten, sondern daß sie "ableitbar" sein müßten von einer bestimmten Zahl von Axiomen, die ihrerseits die Grundlage einer Theorie der Gesetzgebung ausmachten. Freilich kann man in der Rechtswissenschaft von Axiomen und Theoremen nur in einem übertragenen Sinne reden, weil es sich hier immer nur um plausible nicht um logisch zwingende "Ableitungen" handelt. Als zentrales Axiom einer Gesetzgebungslehre drängt sich der Gerechtigkeitsbegriff auf, welcher vielleicht in der ihm von Rawls 1 gegebenen Ausprägung für diesen Zweck am fruchtbarsten sein dürfte. Als kaum weniger wichtig möchte ich den Gesichtspunkt der Ökonomie staatlichen Handeins daneben stellen. Staatliche Ressourcen sind stets begrenzt; der Bedarf für die Erfüllung staatlicher Aufgaben und Leistungen ist praktisch unbegrenzt.
a) Die Ökonomie staatlichen Handelns als freiheitssicherndes Axiom Das Gebot der Ökonomie staatlichen Handeins -das in der Verfassung nirgends angesprochen wird - muß geradezu als eine Voraussetzung für die Verwirklichung der Grundrechte des Einzelnen angesehen werden. Wenn diese individuellen Freiheitsrechte nicht nur formales Recht, sondern reale Möglichkeiten sein sollen, so setzt das die Verfügbarkeit möglichst vieler Freiheitsrechte für möglichst viele Bürger voraus. Diese Verfügbarkeit hängt weitgehend davon ab, ob die erforderlichen Ressourcen dem Einzelnen privat zur Verfügung stehen, und -wo das nicht der Fall ist- ob die Verfügbarkeit durch entsprechende staatliche Leistungen eröffnet wird. Mangelhafte Ökonomie staatlichen Handeins beschränkt die Freiheitsrechte beider Bevölkerungsgruppen und verschiebt ihr Verhältnis zueinander in negativer Richtung. Auch wer nicht soviel wirtschaftliche Verfügungsfreiheit hat, um alle wünschbaren Freiheitsrechte im größtmöglichen Ausmaß in Anspruch zu nehmen, kann mit seinen beschränkten finanziellen Mitteln 2 Ralf Bender, Die Zielverwirklichungstechnik in der Gesetzgebungslehre, in: Jürgen Rödig (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, Berlin - Heidelberg 1976, S. 475 ff.
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immerhin noch sein Handeln nach seinen persönlichen Prioritäten ausrichten. Je mehr der Staat von den - dem Einzelnen verbleibenden frei verfügbaren Mitteln in Anspruch nimmt (durch direkte oder indirekte Steuern, Sozialabgaben usw.) desto schmaler werden diese individuellen Freiräume; ja noch schlimmer, um so mehr Personen werden zunehmend in die zweite Gruppe gedrängt, denen durch staatliche Leistungen jene Freiräume verfügbar gemacht werden, denen der Staat und nicht der Einzelne Priorität einräumt. Das Ganze gerät schließlich zum Zirkel: Je größer die Zahl der Menschen wird, die auf staatliche Leistungen angewiesen sind, desto größer wird die Belastung für den gerade dadurch zunehmend kleiner werdenden "Rest", und je kleiner der "Rest", desto höher die Belastung für den Einzelnen. Auf diese Weise werden - auch und vor allem durch mangelhafte Ökonomie staatlichen Handeins- zunehmend aus selbständigen Bürgern betreute Menschen3 • Der Vorgang wird zum freiheitsfeindlichen Nonsens, wenn ein Zustand erreicht wird, von dem wir kaum mehr weit entfernt sind: Es findet hauptsächlich keine wirkliche Umverteilung zwischen wirtschaftlich Starken und Schwachen mehr statt, sondern es sind weitgehend dieselben Menschen, denen die Mittel für private Entscheidungen entzogen und sodann durch (kostspielige) Entscheidungen der Bürokratie wiederum zugeteilt werden4 • Vielleicht kann jemand demnächst - wenn die Allgemeine Rechtshilfe eingeführt sein wird - kostenlos Prozesse führen; er würde aber viel lieber durch eine Zusatzausbildung seine beruflichen Chancen verbessern, wenn die - auch durch die Prozeßhilfe - ständig steigenden Abgaben ihn nicht daran hinderten. 8 Vgl. Helmut Schelsky, Der selbständige und der betreute Mensch, Stuttgart 1976. ' Der Zugrüf der öffentlichen Hände auf das Einkommen ist bereits soweit fortgeschritten, daß die Differenz zwischen dem Nettolohn eines durchschnittlichen Arbeitnehmers und den Bruttolohnkosten mehr als 100 °/o ausmacht, die indirekten Steuern noch gar nicht mitgerechnet (In Wirklichkeit muß der Arbeitnehmer ja auch die sog. Arbeitgeberanteile mitverdienen,
was lediglich durch das [historisch bedingte] Splitting verschleiert wird).
Unter diesen Umständen braucht man sich nicht zu wundern, wenn sich mancher kinderreiche Arbeiter tatsächlich netto besser stellte, wenn er seine Arbeit aufgäbe und von der Sozialbille lebte. Trotz dieses enormen Zugriffs der öffentlichen Hände sind die öffentlichen Investitionen z. B. in Baden-Württemberg in den 10 Jahren von 1965-1975 real gesunken; dafür sind die Personalkosten in diesem Zeitraum von 30 Ufo auf 42 Ofo des Staatshaushaltes gestiegen.
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Aber auch die Gruppen, die von vornherein auf staatliche Leistungen angewiesen sind, werden durch die mangelnde Ökonomie staatlichen Handeins in den ihnen verfügbar gemachten Freiräumen verkürzt. Was als unnötige Umverteilungskosten in der Bürokratie hängen bleibt und was von Nichtberechtigten mißbräuchlich in Anspruch genommen wird, geht notwendig an den Verfügungsmöglichkeiten der berechtigten Leistungsempfänger ab. Für sie bleiben daher notwendigerweise ebenfalls immer geringfügigere Freiräume übrig. Wenn wir diese Zusammenhänge noch lange ignorieren, und wenn wir nicht umkehren, dann mag sich schließlich die Prognose der Konvergenztheorie erfüllen, nur wird das gemeinsame Gesicht des spätindustriellen Wohlfahrtstaates eher von betreuten Zuteilungsempfängern als von selbständigen Bürgern in einer freiheitlichen Demokratie geprägt sein.
b) Das Selbstregulierungstheorem als "Ableitung" vom Ökonomie-Axiom Das Selbstregulierungstheorem soll - wie noch auszuführen sein wird- in erster Linie das Gebot der Ökonomie staatlichen Handeins realisieren. Weil dieses Gebot- wie dargelegt- eine zentrale Funktion für die Verwirklichung bürgerlicher Freiheitsrechte erfüllt, stellt es (neben dem Selbstorganisationstheorem 5 - dem Gegenstück auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene) die schlechthin zentrale Methode einer Allgemeinen Gesetzgebungslehre dar. Die meisten anderen Theoreme (die .ich an anderer Stelle2 skizziert habe) können als spezielle Einzelausprägung der Selbstregulierung oder als deren Ergänzung aufgefaßt werden: fi Soweit der Staat seinen Bürgern bestimmte Verhaltensweisen vorschreibt, wird hier versucht unter dem Sammelnamen "Selbstregulierungstheorem" optimale Regelungsanweisungen zu formulieren. Dasselbe will das (erst noch aufzuarbeitende) "Selbstorganisationstheorem" in dem Bereich leisten, wo der Staat bestimmte Zustände durch Schaffung staatlicher Organisationen zu garantieren versucht. Die These 1 des "Selbstorganisationstheorems" könnte etwa lauten: Zur Gewährleistung erstrebter Zustände in der Gesellschaft soll der Staat nach Möglichkeit keine eigenen (bürokratischen) Organisationen errichten, sondern die Rahmenbedingungen dafür schaffen, daß sich die Bürger selber in relativ kleinen Gemeinschaften mit weitgehenden Kompetenzen und eigenen wirtschaftlichen Ressourcen organisieren, um einen großen Teil ihrer gemeinschaftlichen Probleme in eigener Regie zu lösen. Voraussichtlich wird das "Selbstorganisationstheorein" noch mehr für das Ziel leisten, daß nicht zunehmend· aus selbständigen Bürgern betreute Zuteilungsempfänger werden.
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Das Entfremdungstheorem befaßt sich mit den Folgen der durch (übertriebene) Rationalisierung, Spezialisierung, Professionalisierung und Zentralisierung zerstörten Selbstregulierungsmechanismen. Mit dem Standardtheorem wird aufgezeigt, wie durch Schaffung entsprechender Rahmenbedingungen Fehlleistungen bei typischen vielfach wiederkehrenden öffentlichen Aufgaben vermieden werden können. Das Sandhaufentheorem will extrem unterschiedliche Rechtsfolgen und Zufälligkeiten bei den richterlichen Tatsachenfeststellungen "automatisch" ausgleichen. Mit dem Matrixtheorem schließlich sollen die Parteien in den Stand gesetzt werden, alltägliche Konflikte selbst zu lösen, wo das gleichwohl nicht möglich ist, sollen Gerichtsentscheidungen schneller und berechenbarer ergehen können. 3. Die empirisclle Komponente
Theoreme einer Gesetzgebungslehre sind aber nicht nur aus den Axiomen einer Theorie der Gesetzgebung plausibel ableitbar (und fügen sich so in ein System). Damit sie zu handhabbaren Regelungsanweisungen werden, die die Ziele des Gesetzgebers sicherer und mit weniger Aufwand erreichen, müssen sie auch nach der empirischen Seite hin abgesichert werden. In dieser Hinsicht stützt sich der Gesetzgeber noch heute auf intuitive Überzeugungen und Vermutungen. ErnstE. Hirsch8 führt dazu aus: über die wechselseitige Beeinflussung von Recht und Sozialleben weiß man kaum etwas. Der Gesetzgeber macht sich auch gar nicht die - allerdings recht entsagungsvolle - Mühe mit sachgerechten Methoden an das Studium dieser Zusammenhänge heranzugehen. Er beschränkt sich - was allerdings viel leichter und müheloser ist - auf ethische und politische Postulate und Schlagwörter, kurz gesagt auf irrationale Größen des Glaubens, der Überzeugung und der Meinung. So ist jedes Gesetz ein Schuß ins Dunkle und muß es sein, weil man mangels notwendiger Unterlagen nicht imstande ist, die Reaktionen vorauszusehen und einzukalkulieren welche das Gesetz bei denen hervorrufen wird, für die es bestimmt ist. Frederik K. Beutel fordert geradezu eine "experimentelle Rechtswissenschaft"7 als empirische Grundlage einer rationalen Gesetzgebung. Noll 8 und Opp 9 haben eindringlich auf die Möglichkeiten hingewiesen, wie allgemeine und spezielle Probleme des Gesetzgebers mittels der vorhandenen Methoden der empirischen Sozialforschung gelöst werden können. 8 Ernst E. Hirsch, Rechtssoziologie heute, in: Sonderheft 11 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1971, S. 9- 35. 7 Frederik K. Beutel, Die experimentelle Rechtswissenschaft, Berlin 1971. 8 Peter Noll, Gesetzgebungslehre, Reinbek 1973, insbes. S. 86 ff. 9 Karl Dieter Opp, Soziologie im Recht, Reinbek 1973, insbes. S. 126 ff.
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Gleichwohl ist die Rechtstatsachenforschung bislang in der Bundesrepublik ein Lippenbekenntnis in den Sonntagsreden der Justizminister geblieben. Wenn es konkret um personelle und finanzielle Forderungen für diesen neuen Zweig der Rechtswissenschaft geht, reichen die Mittel gerade dazu aus, um die nicht vorhandene Rechtstatsachenforschung zu verwalten. Im Rahmen des vorliegenden Beitrages kann die empirische Komponente des Selbstregulierungstheorems nicht geleistet werden, weil die entsprechenden rechtstatsächlichen Untersuchungen bislang fehlen. Es muß deshalb hier zurückgegriffen werden auf plausible Annahmen in Anlehnung an Erkenntnisse der verhaltenstheoretischen Psychologie und Soziologie. Sobald das Selbstregulierungstheorem - nicht nur wie hier auf mittelauf mittlerem Abstraktionsniveau ausdifferenziert wird, sind selbstverständlich gesicherte Erkenntnisse - auch aus den Wirtschaftswissenschaften - notwendig. Aus demselben Grund müssen auch die nachfolgenden Beispiele lediglich als Gedankenspiele angesehen werden, die der Verdeutlichung des Gemeinten dienen sollen, und nicht etwa als Patentrezepte zur Bewältigung konkreter Probleme. Selbstverständlich wird hier mit dem Selbstregulierungsmechanismus nur ein Aspekt zur Frage der Wirksamkeit von Gesetzento herausgegriffen. hohem sondern auch -
II. Grundsätze zum Selbstregulierungstheorem Jährlich werden auf ca. 5000 Seiten Bundesgesetzblatt hunderte von Gesetzen und Verordnungen erlassen, mit denen der Staat versucht, die gesellschaftlichen Probleme zu lösen. In aller Regel taucht dann in einem der letzten Paragraphen die sog. "Strafbewehrung" auf. Dort wird festgelegt, daß derjenige, der gegen die aufgeführten Bestimmungen verstößt, in dieser oder jener Weise bestraft werden soll. Es werden Meldepflichten eingeführt, Kontrollinstanzen geschaffen, Sanktionsinstanzen, Beschwerdeinstanzen und Vollstreckungsinstanzen beschäftigt, die die Befolgung letztlich sicherstellen sollen. Bei dieser Methode ist der staatliche Aufwand groß und der Erfolg fragwürdig. Manchesmal werden durch diese Methode mehr neue Probleme geschaffen, als alte gelöst. Gesellschaftliche Probleme können wirklich "neu entstehen" - wie z. B. das Problem der Vertriebenen nach dem zweiten Weltkrieg. Sie können aber auch immer schon "da gewesen" sein, bislang aber gar nicht als Problem empfunden worden sein - wie zum Beispiel der Zugang der Unterschicht zum Gericht. Endlich können gesellschaftliche Probleme dadurch entstehen, daß bislang "selbsttätig" funktionierende 10 Vgl. dazu Erhard Blankenburg, über die Unwirksamkeit von Gesetzen, ARSP 68, 1977, S. 31 -57 und die dort angegebene Literatur.
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Problemlösungsmechanismen aus mannigfachen Gründen versagen. Dieser dritte Entstehungsgrund gesellschaftlicher Probleme dürfte dafür verantwortlich sein, daß der Gesetzgeber seine Problemlösungen in der Regel als direkte staatliche Interventionen ausgestaltet. Es ist ja auch so naheliegend: wo die "gesellschaftlichen Kräfte" (was immer das sein mag} versagen, muß der Staat intervenieren. Das muß er vielleicht wirklich, aber er muß es nicht unbedingt durch unmittelbaren Befehl mit Strafandrohung. Als Alternative bietet sich die Schaffung bestimmter Rahmenbedingungen an, von welcher erwartet werden darf, daß sie die gewünschte Problemlösung gleichsam "wie von selbst" herbeiführen werden. Dabei darf man den terminus "von selbst" nicht wörtlich nehmen. Ganz von selbst lösen sich die wenigsten Probleme. Das gerade ist der grundsätzliche Fehler des "laisser faire ~ laisser allez ~ Prinzips". Andererseits ist sein "Spiegelbild", das wir Verbots-Sanktions-Methode nennen könnten, ebenfalls wenig erfolgreich ~ aber ganz unverhältnismäßig aufwendig. Das Selbstregulierungstheorem versucht einen optimalen Weg zwischen diesen beiden Extremen anzusteuern.
These 1: Der Staat soll in der Regel seine Ziele nicht durch unmittelbare Befehle mit Strafandrohung verfolgen, sondern ~ wo immer möglich ~ durch Erstellung von Rahmenbedingungen, die geeignet sind, die erstrebten Ziele ohne direkte staatliche Intervention zu erreichen. Wie solche "selbsttätig" wirkenden Rahmenbedingungen aufgefunden werden können, sei hier am Beispiel der sog, "Atomsätze" aufgezeigt. Man stelle sich vor, eine Stadtverwaltung stehe vor dem Problem, wie der Schmutz beseitigt werden soll, der sich auf der Straße unter den Autos der Dauerparker ansammelt. Dieses Problem wird zunächst in "Atomsätze" (das sind Sätze mit nur eingliedriger Aussage) aufgespalten: 1. Auf der Straße parken Autos
2. Unter den Autos sammelt sich Schmutz an 3. Die Straßenkehrmaschine kommt (mit ihren Besen) nicht unter die Autos 4. Auf der Straße soll kein Schmutz sein. Nunmehr werden diese einfachen Aussagesätze in ihr Gegenteil verkehrt: 1. Auf der Straße parken keine Autos
Diese Alternative legt die herkömmliche "Verbotsmethode" nahe. Es wird ein Parkverbot erlassen, von der Poliz.ei überwacht; übertretungen werden vom Gericht geahndet. 2. Unter den Autos ist kein Schmutz Hier bietet sich die "pädagogische. Methode" an. Schon die Schulkinder werden dazu erzogen, nicht einfach jeden Abfall auf die Straße zu wer-
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fen. Soziale Kontrolle garantiert den Erfolg. Versuchen Sie z. B. einmal in Zürich einen Busfahrschein wegzuwerfen. Sie können ziemlich sicher sein, daß er ihnen alsbald nachgetragen und überreicht wird mit den Worten "Sie haben etwas verloren". 3. Die Straßenkehrmaschine kommt unter die Autos Es wird eine "technische Methode" gefunden; z. B. werden die Kehrmaschinen mit einem Strahlrohr ausgerüstet und der Schmutz unter den Autos mit einem Wasserstrahl weggespült. 4. Es soll Schmutz auf der Straße sein Diese etwas frappierende "Problemnegierungsmethode" 11 kann manchesmal- jedenfalls in Verbindung mit anderen Methoden- wirklich nützlich sein. Manchesmal werden Scheinprobleme unnötig hochgespielt. Ein wenig Schmutz auf der Straße ist vielleicht wirklich nicht so unerträglich. Von der Straße muß man ja schließlich nicht gerade essen können. Mit diesem Beispiel werden schon zwei nachfolgende Varianten der zu schaffenden Rahmenbedingungen vorgestellt.
111. Die drei Varianten des Selbstregulierungsmechanismus 1. Die Technische Variante
Sie ist in der Regel die Variante mit der sichersten Erfolgsaussicht, ist aber nur beschränkt anwendbar. Einmal setzt der jeweilige Stand der Technik hier Grenzen, zum anderen wirkt sie undifferenziert manchesmal auch gegen jene, die gar nicht betroffen werden sollen. So ist es technisch vielleicht möglich, mein Grundstück durch Selbstschußanlagen gegen Einbrecher zu sichern. Dabei entsteht aber auch eine Gefährdung harmloser Personen, die mein Grundstück versehentlich betreten. Die Technische Variante kann so beschaffen sein, daß der Bürger davon gar nicht unmittelbar angesprochen wird (vgl. das Beispiel mit dem Wasserstrahl an der Kehrmaschine). Sie kann so beschaffen sein, daß sich der technische Zwang unmittelbar gegen den Bürger wendet, der die staatlichen Anordnungen nicht befolgen will (wenn z. B. nur Autos zugelassen würden, deren Motor nur noch angelassen werden kann, wenn der Sicherheitsgurt angelegt ist). Schließlich kann mit der Technischen Variante die Voraussetzung für einen (nahezu) unausweichlichen psychologischen Zwang gegen den befolgungsunwilligen Bürger geschaffen werden. Beispiel: Die Verwendung von steuerbegünstigtem leichtem Heizöl in Dieselmotoren ist strafbar. Die Verfolgung dieses Delikts (das den Staat ;ährlich Millionen kostet) war nicht sehr erfolgreich. Nach der neuen Mineralölverordnung ist leichtes Heizöl durch einen Farbzusatz zu kennzeichnen, was die Verfolgung dieses Deliktes erleichtern soll.
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Besser wäre es gewesen, dem Heizöl einen Zusatz beizufügen, der Dieselmotoren - aber nicht Ölbrenner - schädigt. Ein solcher Selbstregulierungsmechanismus machte Kontrollinstanzen, Sanktionsinstanzen und Vollstreckungsinstanzen in diesem Bereich ganz überflüssig. Der Gedanke ist nicht sehr neu. Schon unsere Großväter wußten darum. Sie verzichteten darauf, Gendarmen in die Wohnungen zu schicken, um die Trinksitten der Bürger zu kontrollieren. Statt dessen vergällten sie den (steuerbegünstigten) Sprit, eine Methode, die sich bis heute als recht wirksam erwiesen hat. (Gleichwohl scheint der Selbstregulierungsmechanismus
in Vergessenheit geraten zu sein.)
These 2: Wo die technischen Möglichkeiten bestehen oder geschaffen werden können, und wo strikte Befolgung staatlicher Anordnungen sowohl ~r forderlich als auch ausnahmslos unschädlich erscheint, empfiehlt sich der Einsatz eines "Technischen Selbstregulierungsmechanismus". 2. Die Vorteils-Nachteils Variante
Weniger radikal- dafür auch weniger erfolgssicher- ist die nunmehr vorzustellende Methode. Hier muß zunächst empirisch untersucht werden, warum die betroffenen Personen das angesonnene Verhalten nicht "von selber" üben. Meist kommen Nachteile in Betracht, die mit der Befolgung verbunden sind. Diese Nachteile mögen häufig wirtschaftlicher Natur sein, müssen es aber nicht. Manchmal handelt es sich auch bloß um einen gewissen Aufwand an Mühe, die die Befolgung abfordert, eine Einbuße an Ansehen, innerhalb der für den Adressaten maßgeblichen Bezugsgruppe oder was immer sonst. Wo immer das möglich ist- und es ist sehr oft möglich- sollte der Staat lediglich die Rahmenbedingungen schaffen, die die befolgungshindernden Nachteile vermeiden, oder sie durch andere Vorteile, bzw. durch mit der Nichtbefolgung zu verbindende Nachteile, ausgleichen. So könnte man sich z. B. vorstellen, daß der Steuerwert für Miethäuser nicht mehr von staatlichen Kommissionen ermittelt und festgesetzt wird, was nicht nur einen unverhältnismäßig großen Aufwand erfordert sondern auch dazu führt, daß die Einheitswerte immer schon überholt sind, wenn sie zum erstenmal festgesetzt werden, von den nachfolgenden Jahren gar nicht zu reden. Man könnte sich vorstellen, daß diese Steuerwerte von den Eigentümern selbst jährlich neu deklariert werden. Man müßte dann freilich selbstregulierende Rahmenbedingungen schaffen, die gewährleisten, daß reelle Werte angegeben werden z. B. dahingehend, daß die Mieten nicht mehr als 5 °/o vom Steuerwert betragen dürfen, daß im Enteigungsfalle der deklarierte Steuerwert als angemessene Entschädigung gilt..
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Sollten die durchzuführenden Stichproben ergeben, daß gleichwohl noch zu niedrige Steuerwerte deklariert werden, so müßte man über weitere Rahmenbedingungen nachdenken z. B. über ein Vorkaufsrecht der Gemeinden zum Steuerwert usw. Vielleicht ist auch übertriebener Perfektionismus gar nicht von nöten. Sollten noch immer einige Mietshausbesitzer den Steuerwert zu niedrig deklarieren, und werden sie gleichzeitig durch den Selbstregulierungsmechanismus dazu gezwungen, dann auch die Mieten niedriger als üblich zu kalkulieren, so wird vielleicht aus einer Gesamtschau heraus das öffentliche Interesse nicht entscheidend tangiert (vgl. die Problemnegierungsmethode11).
These 3: Eine gesetzliche Regelung, die den Bürger zu einem bestimmten Verhalten veranlassen soll, ist möglichst so zu gestalten, daß entweder die mit der Befolgung überlieherweise verbundenen Nachteile vermieden werden, oder, daß die Befolgung "automatisch" Vorteile (nicht notwendig materieller Art) mit sich bringt und/oder die Nichtbefolgung "automatisch" Nachteile nach sich zieht. Dies gilt ganz ebenso für Regelungen, die sich nicht unmittelbar an den Bürger, sondern an den staatlichen Funktionär wenden (Verfahrensgesetze, Dienstvorschriften usw.). Beispiel: In der Eherechtskommission (die das neue Scheidungsrecht vorbereitete) war das Problem aufgetaucht, wie man die Richter veranlassen könne, häufiger als bisher das Scheidungsverfahren auszusetzen, wenn noch eine Chance zur Versöhnung besteht. Man erwog die bisherige Kann-Bestimmung (der Verfahrensaussetzung) in eine Soll- oder gar Muß-Bestimmung zu verändern. Ich hatte seinerzeit vorgeschlagen, statt dessen § 7 der Aktenordnung dahin zu ändern, daß nach erfolgter Aussetzung (auch nach relativ kurzfristigem Wiederanruf der Sache, falls die Versöhnnug scheitert) der Sache ein neues Aktenzeichen zugeteilt wird. Dann nämlich würden die Richter bereitwilliger aussetzen, da ihr Arbeitspensum an der Zahl der erledigten "Nummern" gemessen wird. 3. Die Pädagogische Variante
Sie ist sozusagen die "sanfteste" Selbstregulierungsmethode, vermag allerdings keine umfassende und strikte Befolgung zu garantieren (das kann freilich die Strafdrohung-Sanktions-Methode auch nicht). Um we11 Die Problemnegierungsmethode wird im Rahmen des sehr wichtigen Teiles der Gesetzgebungslehre eine Rolle spielen, der sich damit befassen wird, in welchen Situationen man besser gar kein Gesetz erläßt, oder wie man (gegen den Widerstand mächtiger Interessengruppen) Gesetze wieder los wird, die ihren Zweck längst erfüllt haben (falls sie das jemals taten). Vermutlich gehört der größte Teil unserer Subventionsgesetze zu dieser Klasse von Rechtssetzung.
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nigstens eine hinreichend zahlreiche Befolgung zu sichern, eignen sich hierfür in der Regel nur Verhaltensweisen, die der sozialen Kontrolle unterliegen. Als Beispiel für diese Variante soll die derzeitige Ausgestaltung der Gurtanlegepflicht dienen: Noch vor wenigen Jahren galt jemand, der im Auto einen Sicherheitsgurt anlegte, als ausgesprochener Feigling. Den pädagogischen Bemühungen des Staates - unterstützt von den Automobilclubs - ist es gelungen, die Einsicht zu verbreiten, daß das Anlegen des Gurtes zur eigenen Sicherheit erforderlich ist. Auch die soziale Kontrolle beginnt zu funktionieren: Wer selbst nicht soviel Einsicht aufbrächte, legt vielleicht seiner Frau zuliebe den Gurt an, oder weil er von Mitfahrern immer wieder auf sein fahrlässiges Verhalten hingewiesen wird.
These 4: Wo es nicht unbedingt darauf ankommt, daß jedermann das angesonnene Verhalten an den Tag legt, sondern es ausreichend erscheint, wenn dies die Allermeisten tun, empfiehlt es sich in der Regel, sich auf pädagogische Rahmenbedingungen zu beschränken. Dies gilt jedenfalls dann, wenn angenommen werden kann, daß soziale Kontrolle eine hinreichende Befolgung sicherstellen wird.
IV. Anwendungsbedingungen des Selbstregulierungsmechanismus 1. Einsicht nnd Stringenz
Beide Aspekte stehen in einem reziproken Verhältnis zueinander. Wo große Einsichtsfähigkeit erwartbar ist, genügt häufig die Pädagogische Variante, die freilich niemals strikte Befolgung garantiert. Die Technische Variante setzt keinerlei EinsiChtsfähigkeit voraus, garantiert aber andererseits (in der Regel) strikte Befolgung. Die VorteilsNachteils-Variante steht in beiden Hinsichten etwa in der Mitte. Sie ist vielfältig variierbar, was sie mehr in die Nähe einer der beiden anderen Varianten zu bringen vermag. Das soll hier noch näher ausgeführt werden. a) Nachteilige Folgen eigenen Verhaltens wirken um so weniger motivierend (im Sinne von Abhaltung) je weiter zeitlich entfernt und je unsicherer der Eintritt überhaupt ist. Demgegenüber spielt die Schwere der erwartbaren nachteiligen Folgen eine untergeordnete Rolle. (Der Menschist eben nicht das rationale Wesen für das er sich so gerne hält.)
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Gleichgültig, ob nun nachteilige Folgen für eigenes Verhalten erst durch entsprechende Rahmenbedingungen gesetzt werden, oder ob die nachteiligen Folgen von selber eintreten und - weil sie gleichzeitig gesellschaftsschädlich sind- das Verhalten als solches verhindert werden soll, so gilt: Man muß versuchen (überhaupt oder zusätzlich zu den später oder nur vielleicht eintretenden Folgen) nachteilige Folgen zu setzen, die
dem mißbilligten Verhalten zeitlich unmittelbar und mit Sicherheit folgen, wenn möglichst strikte Befolgung erwünscht ist.
Als Beispiel diene wiederum die Anschnallpflicht: Wenn die Rechtsprechung dazu überginge, das Nichtanlegen_ des Gurts als eigenes Mitverschulden am Unfall anspruchsmindernd zu berücksichtigen, würde das die Neigung sich anzuschnallen, wohl nicht sehr wesentlich verstärken. Wer darauf vertraut, daß er nicht so bald - vielleicht überhaupt nie - in einen Unfall verwickelt werden wird, und deshalb seine eigene Gesundheit gefährdet, wird sich kaum wesentlich davon beeindrucken lassen, wenn er gleichzeitig auch mit einer Anspruchsminderung rechnen muß. Wirksamer wäre vermutlich, wenn jeder, der unangeschnallt von der Polizei angetroffen wird, seiner Versicherungsgesellschaft gemeldet würde und dann sofort für ein Jahr in eine höhere Versicherungsklasse käme. b) Oftmals ist der Gesetzgeber gar nicht ganz sicher, ob das dem Bürger angesonnene Verhalten die positiven Ergebnisse erbringen wird, die er davon als wahrscheinlich erwartet. In diesen Fällgen kann es sich empfehlen, die Nachteils-VorteilsVariante so zu gestalten, daß kein allzu großer psychologischer Zwang von den zu setzenden Rahmenbedingungen ausgeht. Wenn man den Selbstregulierungsmechanismus so ansetzt, daß lediglich die bei der Befolgung sich zwangsläufig einstellenden Nachteile ausgeglichen (aber nicht überkompensiert) werden, und trotzdem der angesprochene Personenkreis das ihm angesonnene Verhalten wider Erwarten nicht zeigt, so kann das ein Indikator dafür sein, inwieweit die Betroffenen die positive Bewertung des Zieles (durch die. Regierung) nicht teilen, und das vielleicht aus guten Gründen. 2. Misdlformen und Kombination
a) Wenn die drei Varianten hier zu Darstellungszwecken sozusagen
in Reinkultur" vorgeführt wurden, so heißt das natürlich nicht, daß in der Praxis nicht eher Mischformen vorzuziehen wären.
Als Beispiel für eine Mischform zwischen der Technischen Variante und der Vorteils-Nachteils-Variante kann vielleicht folgender Vorschlag angesehen werden: Betriebe, die Wasser aus. Flüssen entnehmen und einleiten, müssen die Entnahmestelle ganz nah :flußabwärts- von ihrer eigenen Einleitung liegend - anlegen. (Diese Rahmenbedingung. hülfe gegen Wasserversehrnutzung freilich nur dann, wenn es sich technisch einrichten ließe,
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daß Wasser nur entnommen werden kann, wenn gleichzeitig eingeleitet wird und wenn der Betrieb Wasser mit einer gewissen Mindestqualität benötigt.) b) Die vorgestellten Varianten sind auch keineswegs als Alternativen gedacht, zwischen denen jeweils gewählt werden müßte. Im Gegenteil, gerade die Kombination mehrerer Rahmenbedingungen, die je verschiedenen Varianten zuzurechnen sind, wird häufig zur besonders sicheren Zielerreichung beitragen. Ja selbst die Kombination mit der hier grundsätzlich in Frage gestellten Verbots-Sanktions-Methode als ultima ratio wird sich immer wieder empfehlen. 3. Herstellungs- und Folgekosten
Der Aufwand für die Herstellung der Rahmenbedingungen eines Selbstregulierungsmechanismus ist in der Regel sehr viel größer als bei der Verbots-Sanktions-Methode. Der Aufwand für letztere erfordert kaum mehr als ein wenig Papier und Druckerschwärze im Bundesgesetzblatt. (Wahrscheinlich ist gerade deshalb diese Methode so besonders beliebt.) Gerade umgekehrt verhält es sich mit den Folgekosten. Der Selbstregulierungsmechanismus löst im allgemeinen keine oder höchstens geringfügige Folgekosten aus, während bei der Verbots-Sanktions-Methode die Folgekosten um so höher werden, je mehr Wert die staatlichen Organe auf vollständige Zielerreichung legen. Aber gerade deshalb, weil Investitionskosten überschaubar sind und kurzfristig anfallen, während man Folgekosten, als erst später auftretend, illusionär verniedlichen oder ganz verdrängen kann, scheint die Verbots-Sanktions-Methode so beliebt zu sein. (Ein großer Teil der Finanzmisere unserer öffentlichen Hände rührt offenbar daher, daß man vielfach über Investitionen beschließt, ohne auch nur eine Ahnung von den Folgekosten und ihrer künftigen Entwicklung zu haben.) 4. Planspiel und Erfolgskontrolle
a) Schon bei Gesetzen herkömmlicher Struktur ist es im Grunde unverantwortlich, sie in Kraft zu setzen, ohne die beabsichtigten Rechtsregeln vorher auf ihre Wirkungen und Nebenfolgen hinreichend getestet zu haben12 • Die Methoden dafür sind in Form des Planspiels und der Simulationsmodelle längst vorhanden. Das Planspiel empfiehlt sich dort, wo einem Gesetzentwurf hauptsächlich psychologische und sozialpsychologische Gesetzmäßigkeiten zugrunde liegen. Das Simulationsmodell bietet sich dort an, wo es um soziologische und volkswirtschaftliche Zusammenhänge geht. 12
Vgl. Rolf Bender, Zur Notwendigkeit einer Gesetzgebungslehre, Stuttgart
1974,
s. 28 f.
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Nun aber ist die Setzung eines Selbstregulierungsmechanismus eingegenüber der Verbots-Sanktions-Methode- weit komplizierteres und hinsichtlich seiner Wirkungen und Nebenfolgen noch weniger voraussagbares Unterfangen. Deshalb ist es hier ganz unerläßlich, das beabsichtigte Gesetz vor seinem Inkrafttreten hinreichend zu testen. b} Bis heute ist es noch immer so, daß der Gesetzgeber nicht einmal aus seinen in der Vergangenheit gemachten Fehlern lernt. Das ist in der Regel auch schon deshalb nicht möglich, weil weder ein hierfür geeignetes lnformationssystem13 noch eine institutionalisierte Erfolgskontrolle der Gesetzgebung vorhanden ist. Daher erfährt der Gesetzgeber häufig gar nicht, wenn sein Gesetz wirkungslos geblieben ist oder negative Nebenfolgen hat. Auch hierfür ein Beispiel: Im Jahr 1969 wurde § 6 a AbzG eingeführt, wonach in Abzahlungssachen das Mahnverfahren am Gläubigerwohnsitz stattfindet, nach Widerspruch aber der Rechtsstreit an das Wohnsitzgericht des Schuldners zu verweisen ist. Damit wollte man verhindern, daß der Sache nach ungerechtfertigte Versäumnisurteile ergehen, nur weil die (häufig geschäftsungewandten) Schuldner den Weg zu dem weit von ihrem Wohnsitz entfernten Gericht nicht finden. Anläßtich eines anderen Forschungsvorhabens des Instituts für Rechtstatsachenforschung Stuttgart e. V. ergab sich, daß im Jahre 1973 in einer Mahnabteilung (die jährlich ca. 150 000 Mahnsachen bearbeitet) niemand sich erinnerte, seit 1969 auch nur einen einzigen Fall an das Wohnsitzgericht des Schuldners verwiesen zu haben. Es stellte sich auch schnell heraus, warum § 6 a AbzG in aller Regel gar nicht funktionieren konnte (inzwischen ist das Problem durch die Neufassung des § 38 ZPO überholt). Der Gläubiger schreibt in seinen· Zahlungsbefehl nicht "Achtung Abzahlungssache". In der Regel ist er eher bestrebt, den Charakter des Abzahlungsgeschäfts im Zahlungsbefehl zu verdecken. Der Schuldner schreibt in seinen Widerspruch alles mögliche, z. B. "ich bin betrogen worden", nur nicht, daß es sich um ein Abzahlungsgeschäft handelt. Das nimmt auch kaum wunder, wenn man die amtliche Belehrung für den Schuldner liest. Sie ist so lang, so kompliziert und in einem so penetrant korrekten Behördendeutsch verfaßt, daß selbst ein Jurist Mühe hätte, sie zu verstehen. Das Beispiel dürfte symptomatisch dafür sein, daß das Fehlen einer institutionalisierten Erfolgskontrolle in der Regel zu Lasten der Schwächeren geht. In den vier Jahren seit Inkrafttreten der Vorschrift hatten die verantwortlichen Stellen noch immer nicht bemerkt, daß die Schuldnerschutzvorschrift des § 6 a AbzG praktisch unwirksam blieb. Wo einflußreiche Interessengruppen hinter einer neuen Gesetzesvorschrift stehen, dürfte schnell auf Abhilfe gedrungen werden, wenn eine erlassene Vorschrift nicht die erhoffte Wirkung zeitigt. 13 Rolf Bender, Aufbau eines Informationssystems in Justiz und Verwaltung, in: ZRP 1973, S. 134 ff.
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Es leuchtet ein, daß gerade bei Normen mit komplizierten Selbstregulierungsmechanismen auch ein vor seiner Verkündung gut getestetes Gesetz, unter den doch immer wieder andersartigen Bedingungen der Wirklichkeit, unvorausgesehene und unerwünschte Nebenfolgen haben kann. Diese müssen durch repräsentative Stichproben festgestellt und gegebenenfalls durch entsprechende Gesetzesänderungen ausgeschaltet werden. V. Der Negative Selbstregulierungsmechanismus Unter einem Negativen Selbstregulierungsmechanismus verstehen wir Gesetze, die Rahmenbedingungen enthalten, die geeignet sind, den Adressaten zu einem Verhalten zu motivieren, das den Zwecken dieses Gesetzes, anderer Normen oder den politischen Zielen der Regierung widerstreitet. In den wenigsten Fällen ist sich der Gesetzgeber dieser negativen Folgen seiner Rechtssetzung bewußt und nimmt sie höherrangiger Ziele wegen in Kauf. Solche dysfunktionale Rechtssetzung beruht teils auf dem Mangel am Bewußtsein vom Stellenwert des Selbstregulierungsmechanismus. Teils beruht das schlicht darauf, daß der Gesetzgeber mangels Kenntnis der empirischen Zusammenhänge zwischen Rechtssetzung und Reaktion der Betroffenen, nicht in der Lage ist, deren Reaktionen einzukalkulieren14 • Dieselben Ursachen sind verantwortlich dafür, daß bei der Schaffung sog. "Reform"gesetze gelegentlich ein im abzuändernden Gesetz vorhandener positiver Selbstregulierungsmechanismus {der zufällig oder intuitiv dort hineingeraten sein mag) beseitigt wird. Ein Beispiel für die Abschaffung eines funktionierenden Selbstregulierungsmechanismus ist die eingangs erwähnte Ersetzung des Hörgeldes durch die Hörgeldpauschale. Als Beispiel für die Schaffung eines negativen Selbstregulierungsmechanismus mögen die Beihilfebestimmungen gelten, wonach ein (privat gut versicherter) Beamter mehr als 100 °/o der entstandenen Krankheitskosten ersetzt bekommt. Auch die Bestimmung im Haushaltsplan, wonach der Vorstand eines Amtsgerichts mit mehr als drei richterlichen Planstellen ein höheres Gehalt bezieht, erscheint bedenklich. Der Vorstand mit 3 Planrichtern müßte schon fast ein Heiliger sein, wenn er versuchte, die anfallende Arbeit mit den vorhandenen Kräften zu bewältigen. Im Extremfalle wird er mit der Verfassung immer neuer Denkschriften und Erfahrungsberichten zur Notwendigkeit einer weiteren Planstelle so überlastet sein, daß er wirklich eine zusätzliche Kraft braucht.
1'
Vgl. oben Anm. 6.
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Ein weiteres Beispiel: Die gängige Methode, mittels Reformgesetzen alle Jahre wieder kleinen Behörden (oder Gerichten) geringfügige Zuständigkeiten wegzunehmen, um sie bei größeren Behörden zu konzentrieren (vgl. das Kleine-Schrittchen-Theorem2) hat zwangsläufig zur Folge, daß bei den kleinen Behörden niemals eine ganze Arbeitskraft frei wird, die man dort abziehen könnte. Bei den Zentralbehörden aber braucht man jedesmal eine ganze Gruppe neuer Mitarbeiter.
Besonders bedenklich wird die Sache dann, wenn mittels "Reform"gesetzen ein funktionierender positiver Selbstregulierungsmechanismus beseitigt und gleichzeitig statt dessen ein negativer Selbstregulierungsmechanismus neu geschaffen wird; ein Vorgang der sich beim derzeitigen dürftigen Stand der Gesetzgebungswissenschaft nur schwer vermeiden läßt. Man kann nur hoffen, daß der Ruf nach der Schaffung einer Gesetzgebungslehre, als einem neuen Zweig der Rechtswissenschaft nicht länger ungehört verhallt .. Das Gemeinwesen kann es sich nicht mehr lange leisten, daß seine Ordnung auf intuitive Überzeugungen und irrationale Glaubenssätze gebaut wird.
Das strafrechtliche Problem der Gewalt in rechtssoziologischer Sicht Von Rolf-Peter Calliess 1. Strafrecht und Rechtssoziologie Zunächst eine Vorbemerkung: Wenn hier in der Themenwahl Strafrecht und Rechtssoziologie in so auffällige Nähe gerückt werden, so wird damit keine programmatische Absicht verfolgt, etwa in der Hinsicht, daß der Gegenstandsbereich der Rechtssoziologie nun grundsätzlich durch Themen- und Problemstellung der herkömmlichen rechtsdogmatischen Fächer, hier des Strafrechts vorgegeben ist und die Rechtssoziologie primär als Hilfswissenschaft der Rechtswissenschaft gesehen wird. Würde ein solches Konzept zum Ausgangspunkt gewählt, so würde sich nur allzubald die übliche Ratlosigkeit breit machen, wie denn soziologische Erkenntnisse in das Recht zu integrieren seien. Es wäre eine Soziologie vor den "Toren der Jurisprudenz", eine "Soziologie im Recht", nur nicht Rechtssoziologie, die da zur Sprache käme. Worum es hier geht, ist, Rechtswissenschaft nicht als normative Geisteswissenschaft, sondern als Sozialwissenschaft zu verstehen. Solange Rechtssoziologie sich primär begreift als "Bindestrich-Soziologie", als Justiz-Soziologie, Richter-Soziologie oder Gefängnis-Soziologie, wird der Weg für eine Integration versperrt. Erst wenn Rechtssoziologie primär als Anwendungsfall der allgemeinen Soziologie begriffen wird, Rechtssoziologie primär die Interaktionsstrukturen und -prOZE;!SSe in konkret-historischen Gesellschaften zu ihrem Gegenstand macht, rückt sie in relevante Nähe zur Rechtswissenschaft. Doch die Integration kann erst dann voll gelingen, wenn die Rechtssoziologie sich der Mühe unterzieht, ins traditionelle Zentrum der Rechtswissenschaften, die Dogmatik, vorzustoßen, und, wenn sie zu dieser einen sozialwissenschaftlich fundierten Beitrag leistet. Rechtssoziologie muß selbst ein theoretisches Konzept für eine Strafrechtswissenschaft entwickeln, auf dessen Grundlage sich dogmatische Fragestellungen, Probleme und Befunde integrierend diskutieren lassen. Angesichts dieser allgemeinen Problemlage, deren Lösung nach einhelliger Meinung gerade auch im Rahmen einer mehr sozialwissen4 Festschrift für Helmut Schelsky
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schaftlieh orientierten Juristenausbildung nötig ist, kann man zwei Wege beschreiten. Der eine ist der einer mehr abstrakt geführten wissenschaftstheoretischen Diskussion. Der andere ist ein mehr induktiver Weg, von einer einzelnen Frage her, hier der Gewalt, dem Problem nachzugehen. Der Vorzug der zweiten vor der ersten Alternative liegt auf der Hand: Der Ausgang von einem speziellen Problem ist anschaulicher, die Konsequenzen sind klarer. Die nachfolgenden Ausführungen zum strafrechtlichen Problem der Gewalt in rechtssoziologischer Sicht sollen also der Frage - und das soll der rote Faden bei allen Einzelerörterungen sein - nach der Möglichkeit der Integration von dogmatischen und rechtssoziologischen Aussagen zu Problemen der Gewalt dienen. Von rechtssoziologischer Seite geht es dabei nicht um die Behandlung eines Ausschnitts von Einzelsoziologien wie der Probleme des Züchtigungsrechtes und der Kindesmißhandlungen im Familiensystem oder der Gewaltkriminalität in jugendlichen Gruppen. Dazu liegt eine Fülle von Einzeluntersuchungen besonders aus dem angelsächsischen Bereich vor. Es geht vielmehr um ein Konzept, um die Gewinnung eines kategorialen Rahmens, der sowohl die Aufstellung empirisch überprüfbarer Hypothesen erlaubt, als auch zugleich von strafrechtsdogmatischer Relevanz ist. Es geht, wenn man so will, um die Definition dessen, was als Gewalt zu bezeichnen ist, um die Bestimmung der Funktion von Gewalt also und des Verhältnisses von Gewalt und Recht. Gerade um das Verständnis dessen, was Gewalt ist, was als Gewalt definiert werden soll, geht es auch im Strafrecht. Es handelt sich dabei nicht um ein beliebiges Definitionsproblem, sondern um ein Problem mit weitreichenden gesellschaftlichen Folgen. 2. Das Problem der Gewalt im Strafrecht Gewalt als gesellschaftlich unerwünschte Form der Interaktion in sozialen Sinnzusammenhängen ist in einer Fülle von Straftatbeständen poenalisiert: So etwa als Interaktionsform im politischen System beim Hoch- und Landesverrat und der Parlamentsnötigung. So im Beziehungsfeld von Staat und Einzelnen beim Widerstand gegen Staatsgewalt, als Form öffentlicher Kommunikation beim Landfriedensbruch, im Beziehungsfeld zwischen öffentlichen und privaten Bereich beim Hausfriedensbruch, im Bereich der Geschlechtsbeziehungen bei den Sittlichkeitsdelikten, des Freiheitsschutzes bei der Nötigung und im Bereich der Eigentums- und Vermögensdelikte als Raub und Erpressung. Gewalt als poenalisierte Form der Interaktion spielt im Strafrecht eine zentrale Rolle. Der Begriff der Gewalt ist im Strafrecht nicht de-
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finiert. In der gegenwärtigen dogmatischen Diskussion ist der Begriff der Gewalt ungeklärt und umstritten. Betrachtet man die Entwicklung der Rechtsprechung, so läßt sich eine Tendenz aufzeigen, den ursprünglich eng gefaßten Gewaltbegriff auszuweiten. Die zunächst an den Kriterien der Körperlichkeit festgemachte Gewaltdefinition ist nach und nach "entmaterialisiert" worden. Hatte noch das Reichsgericht einen Gewaltbegriff vertreten, der durch das Merkmal der Einwirkung auf den Körper des Verletzten und in einer früheren Phase zusätzlich durch das Erfordernis der Kraftentfaltung beim Täter bestimmt war, so hat die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes diese Kriterien zunehmend aufgegeben und Gewalt allein vom Merkmal der Zwangswirkung her begriffen. Die Folgen eines derart gewandelten Gewaltverständnisses liegen auf der Hand. Gewalt - vom Merkmal der Körpereinwirkung gelöst und nur noch als Zwangswirkung verstanden - wird ununterscheidbar in die vielfältigen Zwänge des täglichen Lebens eingereiht und verliert die tatbestandliehen Konturen. Aber nicht nur die Tatbestandsunbestimmtheit, sondern auch die Strafbarkeit wird dadurch in einem bisher nicht dagewesenem Maß erweitert. Sozialer und politischer Druck fast jeglicher Spielart kann nun zum strafbaren Verhalten werden. Ohne daß Gewalttätigkeiten stattfinden, können politischer Streik zum Hochverrat und zeitlich befristete Sitzdemonstrationen zur Nötigung durch Gewalt werden, von einer Reihe anderer politisch nicht so brisanter Fälle im Bereich des Straßenverkehrs, des Freiheitsschutzes usw. ganz zu schweigen. Was damit droht, ist klar: Strafrecht beginnt, politisches Handeln zu ersetzen, wenn das potentielle Versagen von Kommunalbehörden oder der gesetzgebenden Körperschaften in Fällen der Erhöhung von Straßenbahntarifen für Schüler und Studenten oder im Falle der Montanmitbestimmung mit Mitteln des Strafrechts gerade gezogen wird. Das ausdüferenzierte und komplexe Gefüge der verschiedenen Kommunikations- und Interaktionssysteme, die etwa das Grundgesetz voraussetzt, wird gefährdet, wenn das Strafrecht seine Funktion als ultima ratioder Gesellschaftspolitik dadurch verliert, daß die Voraussetzungen für die Steuerung von Interaktionsprozessen mit Mitteln des Strafrechts nicht mehr bestimmt genug sind. Es besteht die Gefahr einer Simplizierung der Sozialstruktur durch eine Totalisierung des politischen Systems. Was hier unter rechtssoziologischem Aspekt auf dem Spiel steht, ist also mehr als nur ein relativ unbedeutendes Problem der Dogmatik. Es ist die Komplexität der gesellschaftlichen Strukturen, die die Funktionsbedingung dieser konkreten Gesellschaft und damit auch Lebensbedingung des Einzelnen ist. Sie zu schützen hat sich das Grund-
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gesetz zur Aufgabe gemacht, wenn es mit Blick auf das Strafrecht in Art. 103 die Eingriffsbedingungen staatlichen Handeins vor Regelung der Tat in Straftatbeständen fixiert wissen will. Eine wertsystematische, von soziologischen Erkenntnissen absehende Dogmatik sucht aber die Ausweitung des Gewaltbegriffs unter Berufung auf das Grundgesetz zu rechtfertigen. Sie argumentiert folgendermaßen: Da im Grundgesetz - was nicht unbestritten ist - der Schutz der Freiheit zum zentralen Wert geworden sei und die Freiheit des einzelnen bei Schaffung des StGB noch nicht den Rang gehabt habe, den ihm heute das Grundgesetz zuerkennt, sei eine verfassungskonforme Auslegung des Strafrechts dahingehend vonnöten, daß nun nicht nur die Verletzung physischer Integrität strafrechtlich zu ahnden sei, sondern auch psychischer Zwang, ja jede Zwangswirkung überhaupt, jeder soziale Druck also, sofern er verwerflich sei, zum Schutze der Freiheit mit Mitteln des Strafrechts abgewehrt werden müsse. Daß diese Entwicklung im Strafrecht ihre Entsprechung auf sozialwissenschaftlichem Gebiet in einer Diskussion hat, die von der zunehmenden Brutalisierung unserer Welt ausgeht, die in soziologisch wenig reflektierter Verwendung der Kriminalstatistiken ein ständiges Ansteigen der Gewaltkriminalität behauptet und die unter den Begriff der Aggression jedes menschliche Handeln fassen will, liegt auf der Hand. Daß soviel Übereinstimmung zwischen Rechts- und übriger Sozialwissenschaft so unerwartet besteht, mag manchen beglücken. Doch ist angesichts der eingangs skizzierten Lage zwischen Rechtssoziologie und dogmatischer Rechtswissenschaft wohl eher Mißtrauen am Platze.
3. Theorie kommunikativen Handeins Im folgenden soll nun der Versuch unternommen werden, den rechtssoziologischen Zusammenhang auf der Basis einer Theorie kommunikativen Handelns, die zugleich eine Theorie der gesellschaftlichen Partizipation ist, zu behandeln. Einige wenige Andeutungen müssen unter Inkaufnahme von Verkürzungen genügen. Menschliches Zusammenleben realisiert sich in Interaktions- und Kommunikationsprozessen. In ihnen werden bestimmte Problemlösungen in Strukturen, sozusagen als geronnene Gesprächsergebnisse, auf Dauer gestellt. Die Strukturen fungieren als normative Deutungshypothesen in sozialen Situationen. Die Strukturen beschreiben Chancen erfolgreicher Teilnahme am Interaktionsprozeß. Sie legen fest, wie man interagieren muß, um bei Lösung bestimmter Probleme erfolgreich zu sein. Die Chancen der Partizipation sind an Regeln gebunden, die man kennen muß, wenn man Probleme erfolgreich lösen will.
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Sofern die Gesellschaft und der Einzelne sich im gleichen Prozeß konstituieren, müssen diese Regeln vom einzelnen gleichsam als ein System der "inneren Kommunikation" internalisiert werden, das dann auf kommunikativer Ebene wieder als Möglichkeit sprachlicher Interaktion fungiert. Die einzelnen Strukturen und Strukturkomplexe sind jeweils von ihrem Gegenstand her thematisch und sinnhaft in sozialen Systemen geordnet. Man kann also sagen, daß jede gesellschaftliche wie rechtliche Ordnung aus Netzen von Interaktions- ind Kommunikationsstrukturen besteht, die zu Sinnzusammenhängen intersubjektiv verknüpft als soziale Systeme begriffen werden können. Das Strafrecht setzt diese sozialen Systeme voraus und benutzt sie als thematische Ordnungsgesichtspunkte, die man herkömmlich und ungenau als Rechtsgüter bezeichnet. Rechtsgüter können in ihrer interaktionistischen Struktur als Verteilernetze von intersubjektiv definierten Partizipationschancen in sozialen Systemen begriffen werden. Das Strafgesetz schützt nicht irgendwelche substantiell begriffenen Werte- wie etwa im Fall der Nötigung, die "natürliche Fähigkeit zur Selbstbestimmung". Gegenstand seines Schutzes sind vielmehr Funktionen, zentrale "Mechanismen" der Interaktion von sozialen Systemen. So kann im Wirtschaftssystem der Mechanismus der Übereignung von beweglichen Sachen als so zentral angesehen werden für das Funktionieren des Systems, daß zu seinem Schutz die Poenalisierung der Wegnahme für erforderlich gehalten wird. Die Straftaten sind dadurch gekennzeichnet, daß sie an die Stelle der intersubjektiv definierten Partizipationschancen die einseitige Darstellung und Durchsetzung von Erwartungen allein aus der Täterperspektive setzen. Die wechselseitigen Definiertheit der Situationen wird aufgehoben und der Täter setzt sich an die Stelle des Opfers. Er verfügt so wie ein Eigentümer über die fremde Sache, oder er projiziert, wie etwa bei den Sittlichkeitsdelikten, seine eigene sexuelle Gestimmtheit in die ganz anders geartete des Verletzten hinein. Eine besondere Gruppe bilden nun diejenigen Delikte, in denen die Gewalt das operative Medium der interpersonellen Beziehung zwischen Täter und Verletztem ist. Zunächst: Gewalt ist eine interpersonelle Beziehung. Der Gewaltangriff ist weder vom Täter noch vom Verletzten allein, also weder vom Merkmal der körperlichen Kraftentfaltung auf seiten des Täters noch allein vom Merkmal der körperlichen Einwirkung vom Opfer her zu bestimmen. Sodann: Gewalt läßt sich als soziale Beziehung nicht beschreiben durch quasi dingliche Substrate im Rückgriff auf die Merkmale der Körperlichkeit oder der zwingenden Wirkung. Gewalt kann vielmehr nur verstanden werden als gesellschaftlich wie rechtlich definierte Sozialbeziehung, vermittelt durch
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das Merkmal der Physis, der Körperlichkeit des Menschen. Nun sind zwar alle Sozialbeziehungen grundsätzlich ohne physische Vermittlung nicht denkbar. Doch ist es die Regel, daß in der Interaktion nicht die physische, sondern die sprachlich-symbolische Kommunikation den Primat hat. Physische Gewalt ist gerade durch das Absehen von sprachlich-kommunikativer Vermittlung gekennzeichnet. Der Verzicht auf die primär sprachlich-symbolische Vermittlung der Sozialbeziehungen unterscheidet die Gewaltdelikte von anderen strafbaren Taten. Die Anwendung physischer Gewalt gefährdet nicht nur - wie die übrigen Delikte - die Wechselbezüglichkeit der Interaktion. Sie gefährdet vielmehr wegen ihres universellen Verwendungscharakters und der unmittelbar motivierenden Wirkung jede kommunikative Sozialbeziehung überhaupt. Der Grund für die Strafbarkeit der physischen Gewalt als operativem Medium in sozialen Beziehungen beruht primär -und darin liegt ihr spezifischer Gehalt gegenüber anderen "Zwangswirkungen" - auf ihrem hohen Unabhängigkeits- und Freiheitsgrad gegenüber den normalen, sprachlich-kommunikativ vermittelten Sozialbeziehungen. Die Gewalt, in ihrem Charakter der universellen Verwendbarkeit, stellt nicht nur konkret die Wechselbezüglichkeit jeder Situation in Frage. Im Verzicht auf die sprachlich vermittelte Kommunikation zielt sie vielmehr darauf, Kommunikation überhaupt als Bedingung der Möglichkeit menschlicher Existenz aufzuheben. Diese spezifische Differenz ist bisher in der rechtssoziologischen wie strafrechtlichen Diskussion noch nicht ausreichend zum Kriterium der Bestimmung dessen gemacht worden, was Gewalt ist. Gewalt ist vor diesem Hintergrund einer kommunikativen Handlungstheorie zu definieren als die Herstellung einer gegenwärtigen Situation der sozialen Interaktion, die durch aktuelle oder potentielle Verletzung der körperlichen Integrität, d. h. durch Gewalttätigkeit oder Bedrohung mit Gewalttätigkeit gekennzeichnet ist.
4. Gewalt und Recht Daß ein solcher Gewaltbegriff einen Rechtsbegriff voraussetzt, der nicht durch physische Gewalt legitimiert ist, physische Gewalt nicht wie Max Weber u. a. zum Bestandteil der Definition der Rechtsregel macht, ist deutlich. Nach Weber kann eine Verhaltensvorschrift nur dann zum Recht gehören, wenn ihre Verletzung in der Regel zur Ausübung von physischem oder psychischem Zwang führt. Der Rechtszwang unterscheidet sich hiernach nur dadurch von anderen gesellschaftlichen Regeln, daß er von einem zuständigen Erzwingungsstab ausgeführt wird. Demgegenüber macht der hier vertretene Rechtsbegriff physische Gewalt nicht zum Kriterium dafür, ob eine Rechtsregel
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vorliegt oder nicht. Er sieht das Wesen des Rechts vielmehr in einer bestimmten Koppelung von Aktions- und Reaktionsmuster. Das Aktionsmuster ist mit einer formalisierten Regel darüber gekoppelt, wer auf diese Aktion und in welcher Weise zu reagieren hat. Nur dieser Ansatz vermag auch die unterschiedlichsten Rechtsregeln vollständig zu erkennen. Die Zwangstheorie hat die Untersuchung des modernen Verwaltungsrechts vernachlässigt und darum übersehen, daß manche Rechtsregeln mit positiven Sanktionen versehen sind (Prämien, Vergünstigungen). Auch Regeln des Zivilrechts, die auf die Gestaltung oder Feststellung von Rechtsverhältnissen ausgehen, ja selbst noch Institute wie der Schuldspruch unter Strafverzicht oder des Absehens von Strafe im Strafrecht, können nicht im Rahmen der Zwangstheorie, sondern nur im hier skizzierten Rechtsverständnis genuin erfaßt werden. Entscheidend ist nicht der Zwang, den der Rechtsapparat ausübt, sondern die Antwort des Apparates nach formalisierten Regeln charakterisiert das Recht. Eine funktional vergleichende Analyse von historisch früherer und gegenwärtiger Rechtsordnung bestätigt diesen Sachverhalt. Luhmann hat darauf hingewiesen, daß Gewalt wie jedes menschliche Handeln die Funktion der Darstellung und der Durchsetzung von Erwartungen hat. In einfacheren Rechtsordnungen konnte physische Gewalt primär eine Funktion des Rechts dadurch sein, daß sie der einzig generell verfügbare Modus war, indem die Vergewisserung darüber geschehen konnte, daß man an den durch den Normbruch enttäuschten Erwartungen festhalten kann. Mit der zunehmenden Komplexität der Gesellschaft und der damit verbundenen Konzentration der Anwendung physischer Gewalt im politischen System werden nun in Verfahren die enttäuschten Erwartungen dargestellt und in ihnen wird darüber entschieden, ob man an seinen Erwartungen festhalten kann oder nicht. Zwar wird Gewalt nicht entbehrlich bei der Durchsetzung von Erwartungen, doch sie verliert ihre Funktion als Symbol und Beweis des Rechts. Das bringt eine Einschränkung der Fälle gewaltsamer Interaktion. Gewalt tritt im Erscheinungsbild der Gesellschaft zurück. Ja, sie muß versteckt werden und ist in ihrer Anwendung ihrerseits an bestimmte Regeln gebunden (Notwehr, Selbsthilfe, Schußwaffengebrauch). Die hohe Ausdifferenziertheit und Komplexität der Gesellschaft macht zwar Gewalt nicht entbehrlich, gibt ihr aber einen anderen Stellenwert. Ist eine hochgradige Arbeitsteilung einmal zum grundlegenden Prinzip und zur Existenzbedingung einer Gesellschaft geworden, dann heißt das, daß jeder Einzelne immer weniger von Etwas weiß. Er ist auf Austausch und Kommunikation angewiesen und muß sich auf ihr Funktionieren verlassen können. Werden aber rechtlich strukturierte Kommunikations- und Informationsprozesse zum entscheidenden Merk-
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mal dieser Gesellschaft - wofür die Entwicklung der Kommunkationsund Informationswissenschaften steht-, dann ist die sprachliche Vermitteltheit des Rechts nicht nur der Kitt, sondern das Konstituens dieser Gesellschaft. Physische Gewalt als operatives Medium der Inter~ aktiongewinnt dann wegen ihrer unmittelbar motivierenden Wirkung, weil sie rasch zum Erfolg führt und eine Größe wegen ihrer Durchschlagskraft besitzt, den Stellenwert, die hochkomplexen Kommunikationsstrukturen dieser Gesellschaft zu gefährden. Gewalt vereinfacht Komplexität. Alle Alternativen zu Gewalt sind komplex. Tritt die Komplexität als Funktionsbedingung der Gesellschaft aber erst einmal ins Bewußtsein der Öffentlichkeit, dann läßt sich auch die Sensibilisierung gegenüber jedweder Gewalt erklären. Nicht nur läßt sich dann das statistische Ansteigen der Gewaltkriminalität als Gradmesser der öffentlichen Besorgtheit und einer erhöhten Verfolgungsintensität soziologisch erklären. Auch die dogmatische Ausweitung des Gewaltbegriffs wird vor diesem Hintergrund verständlich. Freilich macht hier die soziologisch orientierte Sozialforschung einen systematischen Unterschied. Galtung und andere unterscheiden bekanntlich zwischen interpersoneller und struktureller Gewalt. Doch darauf kommen wir später zurück. 5. Gewaltbegriff in sozialwissenschaftlicher Sicht Zunächst soll die Frage weiter verfolgt werden, ob das hier entwickelte situative, auf die Verletzung der körperlichen Integrität abstellende Gewaltverständnis unter rechtssoziologischem Aspekt angemessen ist. Bedenken ließen sich unter folgenden Aspekten geltend machen: Erstens deckt dieser Gewaltbegriff die vielfältigen Phänomene der Gewaltsamkeit in der Gesellschaft nicht ab und verengt deshalb den Forschungsansatz. Die in der sozialwissenschaftliehen Diskussion unter dem Aggressionsbegriff erörterten Gegenstände wie verbale Aggressionen, sozialer Druck und damit praktisch jede Handlung wie auch psychischer Zwang kommen nicht in den Blick. Auch wird die Frage der strukturellen Gewalt ausgeblendet - üben diejenigen Gewalt aus, die Wohnhäuser besitzen oder die, die sie besetzen. Und auch der Unterschied von individueller und kollektiver Gewalt etwa bei politischen Demonstrationen und Streiks wird nicht sichtbar. Zweitens ließe sich die Frage stellen, ob der Gewaltbegriff einen Ansatz für die Beantwortung der Frage enthält, warum die Verletzung der körperlichen Integrität den einen erlaubt und den anderen verboten ist. Denn die Gesellschaft anerkennt doch im Züchtigungsrecht der Eltern und Lehrer, der Notwehr, der Gewaltanwendung der Sicherheits- und Voll-
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Streckungsorgane und auch in internationalen Auseinandersetzungen ein breites Spektrum legitimierter Gewaltanwendung. Beide Aspekte münden schließlich in die eine Frage, ob mit dem Thema des gesellschaftlichen Gewaltzusammenhanges als Ganzem auch das Problem notwendiger Gegengewalt als Form der Ausübung eines sozialen Widerstandsrechts ausgeblendet wird und damit die Rechtssoziologie in ihrem theoretischen Ansatz nichts anderes ist als ein Sachwalter des gesellschaftlichen Status quo. Beginnen wir zunächst mit der zweiten Frage nach der politischen Dimension des entwickelten Gewaltverständnisses. Schon darin, daß Gewalt nicht allein von bestimmten Eigenschaften, Intentionen oder Verhaltensweisen des Täters oder bestimmten Wirkungen beim Opfer, sondern primär durch das Merkmal der sozialen Situation definiert wird, zeigt sich, daß der gesamtgesellschaftliche Bezug der Gewalt nicht ausgeklammert, sondern ausdrücklich thematisiert wird. Soziale Situationen sind stets schon gesellschaftlich oder gesetzlich bewertete Situationen. Es sind soziale Definitionen und Bewertungen vorausgesetzt, die sie sich ihrerseits wieder im Rahmen von prinzipiellen Strukturentscheidungen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene diskutieren lassen. Und auch dieser Rahmen läßt sich, sofern er nicht naturwüchsig gedacht, sondern als durch Entscheidungen gesetzt verstanden wird, seinerseits noch bezüglich des Problems der Gegengewalt hinterfragen. Das alles sind Fragen, die der Strafrechtsdogmatik im Kontext der Rechtsgüterlehre und der Frage nach den Handlungsfolgen wie der Sozialschädlichkeit geläufig sind. In der Kriminalsoziologie sind sie erst neuerdings in der analytischen und empirischen Trennung vom Verhaltens- und Bewertungsaspekt in der Ergänzung ätiologischer Ansätze durch den sog. labelling-approach thematisiert und zum Ausgangspunkt der Analyse gemacht worden. Das hier entwickelte Gewaltverständnis ist insofern leistungsfähig, als es in einen Bezugsrahmen eingebunden ist, der sowohl Erklärungshypothesen für die Scheidung in poenalisierte und legale Gewalttätigkeit erlaubt, als auch die politische Dimension des Setzungs- und Entscheidungscharakters mitformuliert und eine kritisch kriminal- wie rechtspolitische Dimension eröffnet. Freilich beschränkt das geschilderte Gewaltverständnis das Phänomen der Gewalt auf Situationen der Verletzung körperlicher Integrität. Man kann nun fragen - und damit kommen wir zum ersten Problemkomplex - ob damit nicht eine vorschnelle Einengung des Forschungsgegenstandes verbunden ist, insofern nämlich, als man die vielfältigen anderen Formen von Gewalt nicht mehr in den Griff bekommt. Man mag nun einwenden, daß es sich hier letztlich um einen Streit um Worte handele und daß es eine Frage der Konventionen sei,
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den Gewaltbegriff eng oder weit zu fassen. Fragt man aber nach den gesellschaftlichen Folgen solcher Definitionen, so kann die Formulierung der Arbeitshypothesen nicht gleichgültig sein. Auf der dogmatischen Seite lassen sich die dysfunktionalen Folgen eines weitgefaßten Gewaltbegriffs, der schließlich jeden Zwang und sozialen Druck zum Gegenstand der Poenalisierung machen kann, gut zeigen. Von sozialwissenschaftlicher Seite ist mit Recht darauf hingewiesen worden, daß es, wenn man das Aggressionspotential einer Gesellschaft diskutieren will, .auf eine Differenzierung der Aggressionsphänomene ankommt. Wenn z. B. in der Gesellschaft der Eskimos das Fehlen jeglicher Aggressionen mittels der Verletzung körperlicher Integrität festgestellt wird, dann führt es zu einer Verwischung jeglicher qualitativer Unterschiede, wenn die Aggressivität auch dieser Gesellschaft mit dem Hinweis darauf behauptet wird, daß auch sie, in ihren Strategien wechselseitiger Beschimpfungen, Aggressionen kenne. Man kann nicht Schimpfereien und Bombenkriege sinnvoll unter den gleichen Begriff der Aggression bringen. Sofern sich Rechtssoziologie auch als empirische Wissenschaft versteht, kann es ihr nicht gleichgültig sein, welche Arbeitshypothesen sie zugrundelegt. Es ist mit Recht darauf hingewiesen worden, daß es so gut wie unmöglich sei, empirischen Aufschluß über Formen psychischer Gewaltanwendung zu gewinnen. Wie schwierig es selbst schon im Rahmen der Kriminalität ist, über die gesellschaftliche Bedeutung, den Umfang und die Verteilung der Gewalt Aufschluß zu gewinnen, zeigt die kriminologische Diskussion über Funktion- und Aussagewert von Kriminalstatistiken wie auch das Bemühen der Dunkelfeldforschung. Haben auch die jüngsten Arbeiten über Delinquenzbelastung einen entscheidenden Fortschritt gebracht, so steckt doch die Dunkelfeldforschung noch in den Anfängen. Und die Diskussion über die Frage, ob Kriminalstatistiken eigentlich das messen, was sie zu messen vorgeben, also den Umfang und die Entwicklung der Kriminalität oder eher die öffentliche Besorgtheit und die dadurch veranlaßte stärkere soziale Kontrolle, eher das Aufdecken der Straftaten und die Intensität der Verfolgung der Kriminalität als deren tatsächliche Höhe, verweist auf weitere schwierige Probleme. Die These von der ständig ansteigenden "Brutalisierung der Welt" ist besonders in der anglo-amerikanischen Literatur anhand von Einzeluntersuchungen in Stadtteilen wie auch unter Hinweis auf den Meßwert der Kriminalstatistiken grundsätzlich in Zweifel gezogen worden. Hinzu kommt u. a., daß angesichts eines Gewaltbegriffs in der Rechtsprechung, der auch psychische Zwänge mitumfaßt, sich bei den einzelnen Gewaltdelikten anhand der Statistik eine Unterscheidung
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von Verletzung körperlicher Integrität und sonstigen Zwängen kaum durchführen läßt. Die Risiken und Gefahrenquellen einer zu direkten und unmittelbaren Verwendung der Kriminalstatistik für die Feststellung und Umfang der Entwicklung von Kriminalität sind jedenfalls beträchtlich. 6. Weiter und enger Gewaltbegriff
Immerhin wird man eines sagen können: Die Sensibilität gegenüber jedweder Gewaltanwendung ist beträchtlich gewachsen. Es steht außer Frage, daß dies mit dem stetig wachsenden Bewußtsein für die hohe Komplexität der Gesellschaft und der damit verbundenen hohen Störanfälligkeit der Institutionen in Zusammenhang gebracht werden muß. Das wird nicht zuletzt daran deutlich, daß gerade die hohe strukturelle Komplexität der Gesellschaft, d. h. der hohe Grad der informationeilen Vermitteltheit gesellschaftlicher Prozesse zum Grund und Gegenstand neuer - auch gewaltsamer - gesellschaftsverändernder Strategien gemacht worden ist. Wenn aber schon die Schwierigkeiten bei der empirischen Erfassung der mit der Verletzung körperlicher Integrität verbundenen Delikte bisher kaum bewältigt sind, dann erscheint es unzweckmäßig, den Gewaltbegriff derart auszuweiten, daß entweder jedes Handeln, das einen anderen schädigt oder gar jedes Handeln überhaupt als aggressiv zu bezeichnen. Nicht nur theoretische, sondern auch empirische Gesichtspunkte sprechen eher für die Leistungsfähigkeit des hier entwickelten engen Gewaltbegriffs als für einen weiten, der gar keine Konturen mehr erkennen läßt. Damit ist eine Einschränkung des Forschungsgegenstandes der Rechtssoziologie insgesamt nicht verbunden. Denn die Operationalisierung des Gewaltbegriffs hindert nicht, ihn in einen Zusammenhang mit anderen gesellschaftlichen Zwängen zu bringen. Ja, man kann dies eigentlich erst richtig, wenn der Unterschied zwischen Strategien kommunikativen Zwanges und Strategien der Gewalt deutlich ist. Blicken wir auf den unterschiedlichen Gebrauch des Begriffs der Gewalt in der Rechtsordnung, so stoßen wir auf den bereits theoretisch erörterten Unterschied zwischen struktureller Gewalt und interpersoneller Gewalt. Wir kennen die staats-und familienrechtlichen Termini wie "elterliche Gewalt", "besonderes Gewaltverhältnis", "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus", und auch das Strafrecht redet von Gewaltund Willkürherrschaft, der Mißhandlung von Abhängigen, die "vom Fürsorgepflichtigen der Gewalt des Täters überlassen" worden sind. Dieser Gewaltbegriff wird deswegen struktureller Gewaltbegriff genannt, weil er von den rechtlichen und anderen sozialen Strukturmu-
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stern der Rollensysteme und den mit ihnen gegebenen funktionalen Interdependenzen, Gruppenzugehörigkeiten, Wertvorstellungen und Informationsverteilungen nicht abzulösen ist. Diese auf gesellschaftliche Strukturzusammenhänge bezogene Verwendung des Wortes Gewalt, die noch einer älteren Phase der Rechtssprache zuzurechnen ist, meint in der Sache die sozial und rechtlich strukturierten Handlungs- und Sinnzusammenhänge, die als Verteilernetz von Macht- und Einflußchancen, von Partizipationschancen in sozialen Systemen begriffen werden können. 7. Strukturelle und interpersonelle Gewalt Doch die Unterscheidung von struktureller und interpersoneller Gewalt bedeutet noch nicht die Trennung beider Bereiche. Vielmehr besteht ein Spektrum vielseitiger Abhängigkeiten, auf das nur beispielhaft kurz hingewiesen werden kann. Ist in einer Gesellschaft, die sich selbst als Wirtschafts- und Konsumgesellschaft versteht, das Leistungsprinzip das beherrschende Prinzip des gesellschaftlichen Lebens, und ist alles entscheidender Maßstab der Erfolg der Einzelnen, dann legen sich Problemlösungsstrategien nahe, den Erfolg auf dem unmittelbarsten, weil schnellsten Wege, d. h. unter Umgehung des umständlichen Kommunikationsnetzes mittels physischer Gewalt herbeizuführen. Auch die mit dem Leistungsprinzip zusammenhängende autoritäre Organisation der Gesellschaft zielt auf die diskussionslose Befolgung dessen, was von "oben" angeordnet ist. Werden diese Interaktionsmechanismen von denen, die sie nicht nur täglich in der Arbeitswelt erfahren, sondern auch bereits in sie hineinsozialisiert sind, auf den Familien- und Sozialisationsbereich übertragen, dann reproduziert sich jenes gewaltträchtige Strukturschema in der folgenden Generation. Mit dem Erlernen eines restringierten Codes der sprachlichen Interaktion ist in Konfliktsituationen das Repertoire an Alternativen nicht groß. Zudem hat man nach dem Spruch "wer nicht hören will, muß fühlen" auch die Verhaltensmodelle gewaltsamer Problemlösungen vielfältig gelernt. Wir brauchen also gar nicht erst nach einem Triebpotential der Aggression zu suchen. Aggression ist nicht naturwüchsige "Grundmacht des Lebens", die es entweder durch andere Triebpotentiale wie die Libido erst zu überformen oder schlicht in ungefährliche Arten aggressiven Verhaltens, wie Fußball, Mondwettfahrten usw. abzuleiten gilt. Die potentielle Gewaltsamkeit ist bereits in den ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen der Produktions- und Reproduktionsprozesse selbst angelegt. Sucht man das Gewaltproblem auf einen schichtenspezifisch-sozialtheoretischen Nenner zu bringen, dann läßt sich zeigen, daß rigide Kommunikations-
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strukturen zugleich auch eingeschränkte Partizipationschancen sind. Soziale Strukturen setzen sich in psychische Strukturen, und d. h. in Handlungspotentiale um. Es lassen sich dann Bedingungen angeben, mit denen erklärt werden kann, warum trotzschichtenneutraler Delinquenzbelastung Gewaltkriminalität besonders in der Unterschicht lokalisiert ist. Auf kognitiver Ebene bedeutet das, daß im Sozialisationsprozeß den Unterschichtkindern nicht ein elaborierter, sondern ein restringierter Sprachkode vermittelt wird. Und auf motivational-sozialer Ebene werden eher repressive als permissive Verhaltenstechniken erlernt. Im Sozialisationsprozeß wird nur ein relativ begrenztes Spektrum verbaler und aktualer Verhaltensweisen gelernt, das wenig Alternativen und Flexibilität in Konfliktsituationen zuläßt. Ist aber die soziale Interaktion in der Gesellschaft vornehmlich durch sprachlich-vermittelte Kommunikation gekennzeichnet, und sind hier nur wenige oder zu rigide Muster der Problemlösung gelernt, so erscheint der Rückgriff auf gewaltsame, jederzeit verständliche und allseitig organisierbare Problemlösungstechniken nur funktional. Man kann es auch so sagen: Trotz strukturell vielseitiger Kommunikationsmöglichkeiten sind in der Unterschicht die individuellen Kommunikationsfähigkeiten und Partizipationsmöglichkeiten begrenzt. Objektiv könnte man mehr, als subjektiv möglich ist. Einem phänomenologisch orientierten Verständnis der Gewaltkriminalität gelingt es nicht, die oben genannte "individuelle" und die "kollektive" Gewaltkriminalität in Gruppen, wie sie etwa bei den "Studentenunruhen" auftrat, integrierend zu interpretieren. Die Leistungsfähigkeit des hier vorgetragenen Ansatzes zeigt sich nun gerade darin, daß eine solche Integration möglich ist. Ganz anders als bei den sog. "individuellen" Gewalttätigkeiten ist bei den Studentengruppen die subjektive Kommunikationsfähigkeit des Einzelnen unverhältnismäßig hoch, jedoch strukturell begrenzt. Subjektiv könnte man wesentlich mehr, als objektiv möglich ist. Täterbezogene und sozialisationstheoretische Modelle helfen nicht viel weiter. Denn hier sind nicht die individuellen Chancen der Partizipation, sondern gerade die strukturellen Möglichkeiten zur Verantwortung in gesellschaftlichen Systemen begrenzt. Die Partizipationsmöglichkeiten sind nicht individuell, sondern strukturell beschnitten. Auch hier liegt angesichts der Diskrepanz zwischen den individuellen Kompetenzen und den strukturellen Möglichkeiten eine gewaltsame Darstellung und Durchsetzung von Erwartungen in Konfliktsituationen nahe. Wer nicht sprechen kann, handelt. Wer seine Argumente nicht darlegen und mit ihnen nicht im politischen System
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partizipieren kann, stellt seine Erwartungen im Medium der Gewalt dar oder setzt sie sprachlos itn Medium der Gewalt durch. Beide Typen gewaltsamen Verhaltens lassen sich also in einer Theorie des kommunikativen Handeins und der Partizipation integrieren. Die Integrationsmöglichkeit beider Varianten gewaltsamen Handeins spricht nicht zuletzt für einen soziologischen Begriff des Rechts und der gesellschaftlichen Strukturen, der nicht das soziale System und das Persönlichkeitssystem desintegriert und sie den Bereichen von Soziologie und Psychologie zuweist. Das wird deutlich an der aufgezeigten Verflechtung zwischen individuellem Handlungspotential und Sozialstruktur. Gewalt ist ein Handeln, das wie normales Verhalten Ziele verfolgt. Es verzichtet jedoch auf sprachlich-kommunikative Vermittlung, weil diese entweder individuell oder strukturell nicht möglich ist. Gleichwohl ist Gewalt wie jedes andere Handeln entweder das Medium der Durchsetzung eigener Erwartungen (Nötigung, Raub) oder das der Darstellung und Demonstration eigener Erwartungen, ohne im dogmatischen Sinn Mittel zu Zwecken zu sein. Wenn individuell oder strukturell keine Alternativen für mögliches Handeln vorhanden sind, bietet sich Gewalt als probates, weil allseitig motivierendes, zum schnellen Erfolg führendes und jederzeit organisierbares Mittel der Problemlösung an. Gewalt ist stets Ausdruck einer unnötigen Rigidität des Persönlichkeitssystems oder der sozialen Systeme. Die objektiven oder subjektiven Möglichkeiten zur Teilnahme, zur Partizipation im sozialen System sind eingeschränkt. Das Ausmaß der strukturell oder individuell .,verweigerten" Möglichkeit zu gesellschaftlicher Kommunikation und Partizipation verstärkt also die Tendenz in der Gesellschaft zum Rückgriff auf Problemlösungstechniken im operativen Medium der Gewalt.
"Funktionale Theorie" und kirchliche Praxis Zum Verarbeitungsprozeß von sozialwissenschaftliehen Theorie· fragmenten in gesellschaftlichen Institutionen Von Karl-Wilhelm Dahm
I. "Funktionale Theorie", funktionalistische Betrachtungsweise, oder einfach die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion sind Begriffe, die erst seit wenigen Jahren über den Rahmen fachwissenschaftlicher Erörterungen hinaus gedrungen sind. In zunehmendem Maße und raschem Tempo werden sie jedoch inzwischen ganz selbstverständlich in den alltagssprachlichen Auseinandersetzungen über den Sinn oder über die Mängel unserer gesellschaftlichen Institutionen verwandt. Man begegnet ihnen in der Politik wie im Bildungswesen, in Wirtschaftsunternehmungen wie in Kommunalverwaltungen; man begegnet ihnen auch in der Kirche. Die Frage nach "der Funktion", was immer das sei, taucht unvermeidlich auf, wenn es in der betreffenden Institution um Legitimation oder Kritik, um Veränderung oder Planungsprioritäten geht. Was mit Funktion gemeint wird, steht keineswegs eindeutig fest; die Verwendung des Wortes weist ein hohes Maß an Vieldeutigkeit und Dehnbarkeit auf. Doch dürfte es nicht zuletzt diese Vielfalt von Assoziationsmöglichkeiten bei durchaus vermuteter einheitlicher Grundrichtung sein, die dem Begriff der Funktion seine erstaunliche Resonanz verschafft. Warum ist das so? Wo liegen die sachlichen Ursachen? Oder, im Sinne unserer eigenen Thematik gefragt: Wo liegt die Funktion der "Funktionalismus"-rezeption in der gesellschaftlichen Praxis? Handelt es sich, wie man von "links" hören kann, um nichts anderes als um Legitimierung und technokratische StabilisierungdesStatus quo; um Verschleierung der sogenannten wirklichen Gegensätze? Oder handelt es sich, wie Helmut Schelsky in seiner Streitschrift "Die Arbeit tun die andern" meint, um einen Aspekt jener "Soziologisierung" unseres öffentlichen Bewußtseins, in der sich die "Klassenherrschaft" der selbsternannten neuen Sinnvermittler zur Geltung bringt; nämlich die der "Intellektuellen", speziell der Soziologen und ihrer Gefolgschaft in Pädagogik, Publizistik und Theologie1 •
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Diese Fragen sollen hier nicht global und grundsätzlich bearbeitet werden. Sie bilden vielmehr den Rahmen für die Erörterung eines konkreten Feldes dieser allgemeinen sogenannten "Soziologisierung" innerhalb unserer Gesellschaft, nämlich der Funktionalismusrezeption in der (Evangelischen) Kirche der BRD. Das Problem einer "Funktion der Funktionalismusrezeption" in der kirchlichen Praxis läßt sich für unseren Zweck allerdings nur schwer direkt und explicit angehen: etwa durch eine eigene Bestimmung des Funktionsbegriffes, der dann als Instrument der Analyse für die verschiedenen Verwendungsformen, Verwendungsahsichten und Verwendungsbereiche dienen könnte. Durch einen solchen Weg könnte nämlich der offene, gerade in seinem Spannungsreichtum interessante und aufschlußreiche Gebrauch des Funktionsbegriffes von vornherein zu stark abgewertet werden; außerdem müßte die doppelte Verwendung des Begriffes, nämlich einerseits im Sinne dieser strengen Definition und andererseits als etwas vages Etikett eines Syndroms vielschichtiger Absichten, verwirrend wirken. Der "Funktion der Funktionalismusrezeption" soll darum eher indirekt nachgegangen werden; gleichsam auf dem Umwege einer Beschreibung und Reflexion jenes Prozesses, als der sich diese Rezeption und die mit ihr verbundene Transformation tatsächlich abgespielt hat: als Frage nach seinen Voraussetzungen, nach den Impulsen, die die Verarbeitung vorangetrieben, nach Faktoren, die sie behindert haben; als Frage danach, wie eine ursprüngliche fachwissenschaftliche Begrifflichkeit verändert wurde und langsam eine neue Bedeutungstendenz gewann; als Frage nicht zuletzt nach den Auseinandersetzungen mit konkurrierenden Deutungsversuchen aus der Theologie und aus der Soziologie. Anders formuliert, nämlich als methodologisches Problem im Bezugsrahmen der Wissenssoziologie: es geht uns um die Bedingungen und Formen eines Transformationsprozesses zwischen der Ebene des "wissenschaftlichen Wissens" und der Ebene eines "alltagsweltlichen", vorrangig auf Handlungsrelevanz ausgerichteten "Wissens" 2 • Dieser methodische Ansatz drängt sich schon wegen bestimmter im Untersuchungsgegenstand selbst liegender Tendenzen auf. Nimmt man nämlich ein wichtiges Ergebnis der Analyse vorweg, so sind die "Rezipienten" und "Transformatoren" nicht übermäßig an der Frage intert H. Schelsky, Die Arbeit tun die anderen, 1975; bes. S. 167 ff. z Vgl. zu dieser von Alfred Schütz angeregten Unterscheidung zwischen
wissenschaftlichem Wissen und "Alltagswissen": Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen, Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit (ro-ro-ro-studium), 1973; bes. J. Matthes I F. Schütze, Zur Einführung, S. 1152. Ferner: A. Schütz I Th. Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, 1975 (Soziol. Texte 82).
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essiert, wie sich ihre eigenen Probleme und Interessen in die eingeschliffenen Problemformulierungen auf der Ebene des "wissenschaftlichen Wissens", also auf der vereinfacht sogenannten "Theoretischen Ebene" einzeichnen lassen oder wie sie mit diesen zu vermitteln sind. Die Ebene des "wissenschaftlichen Wissens" gerät vielmehr deutlich aus dem Blick. Sie wird verdrängt von dem Interesse an Handlungsorientierung; genauer: von dem Interesse an einem für den Berufsalltag handlungsrelevanten Wissen. Dieses handlungsgeleitete Interesse muß keineswegs zu jener Art von platt pragmatischer Ideologie führen, die distanzlos oder reflexionsvermindert nur noch Ratschläge und adhoc-Rezepte vermittelt und die mit einer zutiefst unwissenschaftlichen Haltung einhergeht - und tut es in der Regel auch nicht. Auf der Ebene des berufsbezogenen und handlungsorientierten Alltagswissens lassen sich vielmehr durchaus solche Regelsysteme und Reflexionsdistanzen, kritische Zweifel und stringente Konzeptionen ausmachen, die strukturell vergleichbar sind mit denen des "wissenschaftlichen Wissensbetriebes" 3 • Sie unterscheiden sich von diesen jedoch durch ihre anderen Schwerpunkte, ihre anderen Interessen, ihre anderen Zwecke, ihren anderen Abstraktionsgrad. So geht es im Bereich des Alltagswissens eben weniger um Axiomatisierung oder Widerspruchslosigkeit, um durchgehende theoretische Stimmigkeit oder einen methodisch auf Dauer gestellten Zweifel. Es geht hier vielmehr um die pragmatische Brechung der Systematik zugunsten eines handlungsleitenden, handlungsdeutenden und handlungslegitimierenden Umganges mit dem Wissen. Bestimmte theoretische Unstimmigkeiten oder unaufgelöste Reste werden um solcher vorrangigen Zweckewillen weit eher in Kauf genommen als in der Wissenschaft. Zwischen diesen beiden Ebenen, der des wissenschaftlichen Wissens und der des berufs- und handlungsbezogenen Alltagswissens, gibt es offenkundig vielfältige wechselseitige Beziehungen: Dominieren kann sowohl der Einfluß, der von den Praxisfeldern und ihren Wissensbeständen in die Wissenschaft hineinwirkt als auch die umgekehrte Richtung, nämlich die Einwirkung von wissenschaftlichem Wissen auf das Alltagswissen. Um diese letztere Richtung geht es eindeutig in unserem Falle der Funktionalismus-Rezeption innerhalb der Evangelischen Kirche: Es werden bestimmte Teilstücke aus dem Wissensbestand der Wissenschaftsebene herausgelöst, auf die Ebene des handlungsbezogenen beruflichen Alltagswissens herüber transportiert und hier verarbeitet, d. h. sowohl von den Rezipienten aufgenommen, angeeignet, "internalisiert" als auch in ihrem Inhalt verändert.
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Matthes I Schütze, S. 49.
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Wie ein solcher Transformationsprozeß im einzelnen vor sich gehen kann, welchen Bedingungen und Regeln er unterliegen kann, soll an dem besonderen Fall "Funktionale Theorie und kirchliche Praxis" genauer m den Bliick genommen werden4 • !Doch mögen in diesem speziellen Transformationsvorgang auch Formen erkennbar werden, die über unseren Fall hinaus von exemplarischer Bedeutung für vergleichbare Vorgänge in anderen gesellschaftlichen Institutionen oder anderen beruflichen Handlungsfeldern sind. Wir meinen, in diesem Prozeß drei Hauptaspekte ausmachen und unterscheiden zu können, die sowohl für das spezielle Thema charakteristisch als auch darüber hinaus verallgemeinerungsfähig sein können für Transformationsprozesse zwischen wissenschaftlichem Wissen und berufsbezogenem Alltagswissen in anderen Institutionen (siehe Abschnitt III). II.
Bevor wir uns diesen Aspekten im einzelnen zuwenden können, muß kurz erörtert werden, ob und in welcher Weise das Thema Funktionalismus innerhalb der Kirche denn überhaupt als aktuell empfunden wird, ob es tatsächlich die eingangs behauptete Resonanz hat, ob es tatsächlich zu Resonstruktionen des beruflichen Alltagswissens von Pfarrern und anderen kirchlichen Einflußträgern geführt hat. In theologischen Veröffentlichungen kommt das Stichwort "Funktion", meist in Kombination mit anderen Begriffen wie "gesellschaftliche Funktion der Kirche", "Funktion kirchlichen Handelns", "funktionale Kirchentheorie" usw. erst seit dem Beginn der siebziger Jahre häufiger vor; mündlich diskutiert wurden die entsprechende Thematik schon ein paar Jahre länger. Die bei der Verwendung des Wortes Funktion mitschwingenden Untertöne klangen anfangs überwiegend positiv und konstruktiv; diese Klangfärbung hat inzwischen jedoch ihre dominierende Bedeutung verloren. Wer sich heute im kirchlichen Bereich zum Thema "gesellschaftliche Funktion" oder "Funktionalismus" äußert, tut das meistens in abwehrender, distanzierender, kritisierender Absicht; Fragen nach den gesellschaftlichen Funktionen der Kirche gelten als verdächtig und gefährlich. "Evangelium oder Funktion" 5 ist eine der häufig gestellten Alternativen; mit ihr wird polemisch und tendenziös eine Front aufgebaut, die zwar weder logisch noch soziologisch noch theologisch einsichtig ist, die aber trotzdem einen starken 4 Vgl. K. W. Dahm, Beruf: Pfarrer, 1971. Darin: Das Berufsfeld des Pfarrers in der Sicht einer "funktionalen Theorie" des kirchlichen Handelns, S. 99 -175; H. Hild (Hrsg.), Wie stabil ist die Kirche, 1974, bes. S. 209 ff. 6 Zuerst und grundsätzlich pointiert bei M. Josuttis, Praxis des Evangeliums zwischen Politik und Religion, 1974, vgl. bes. "Evangelium oder Funktion", S. 245-253.
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Widerhall findet und also ihre Gründe haben muß. Funktionalistische Betrachtungsweise und insbesondere "Funktionale Theorie" als Ausdruck und Faktor des "Verharrens im Status quo" anzuprangern, ist eine weitere häufig wiederkehrende Figur der pejorativ gemeinten Kritik8 • Beide kritisch-ablehnenden Argumente, das theologische und das gesellschaftspolitische, finden sich, untereinander oder mit zusätzlichen Aspekten vermischt, heute in ungezählten kleineren oder größeren Veröffentlichungen. Angefangen vom allgemeinen dogmatischen Lehrbuch7 über ekklesiologische Aufsätze oder Monographien8 bis hin zur Predigtmeditation9 wendet man sich mehr oder minder beiläufig dagegen, die Kirche oder den Gottesdienst "nur" oder vorrangig als "soziale Funktion" oder unter den Gesichtspunkten ihrer sozialen Funktion zu begreifen; anscheinend gehört für viele eine Bemerkung in dieser Richtung heute zum Standardrepertoire ekklesiologischer oder praktisch-theologischer Publikationen. Genau das aber ist auffällig. Auf der einen Seite nämlich gibt es nach wie vor nur wenige literarische Äußerungen, in denen programmatisch eine funktionale Betrachtung oder gar eine Funktionale Theorie kirchlichen Handeins gefordert wird. Als systematisch durchgeführter Entwurf liegt eine solche Theorie überhaupt noch nicht vor. Wird von der Kritik also mit Kanonen auf Spatzen geschossen? Eine andere Rückfrage an die Kritik wiegt schwerer: in keiner einzigen der vorliegenden literarischen Äußerungen, in denen ein funktionalistischer Ansatz konstruktiv auf die Kirche anzuwenden versucht wird, gibt es eine Tendenz oder gar die explicite Forderung, nunmehr gesellschaftliche Funktionen an die Stelle des Evangeliums, funktionalistisch-soziologisches Denken an die Stelle der Theologie zu setzen. Warum aber dann die scharfe Polemik; warum dann die scheinbar obligatorische beiläufige Notiz gegen die funktionalistische Betrachtung der Kirche und ihres Handelns? Ich kann mir das nur so erklären, daß der Adressatenkreis, an den sich die Kritik richtet, weit über diejenigen hinausgehen muß, die sich literarisch zugunsten einer "funktionalen" Betrachtungsweise geäußert haben. Offenbar ist der Kreis 8 So exemplarisch K. Ahlheim, Verharren im status quo, in: "Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft", Jg. 1974, S. 363-373. - Ähnlich auch schon: Seminarkollektiv Mainz, Religion und Funktionalismus, in: Theologia Practica, Jg. 1973, S. 82-97. 7 Vgl. z. B. H. G. Pöhlmann, Abriß der Dogmatik, 2. Aufl., 1975, S. 256 ff. 8 Außer Josuttis, a.a.O.: tendenziell J. Moltmann, Kirche in der Kraft des Geistes, 1975, S. 34 ff. u. 352 ff.; R. Slenczka, Gottesvolk und Volkskirche, in: Kerygma und Dogma, Jg. 1977, S. 188-204. 0 So z. B. M. Fischer, Predigtmeditation zum 1. Advent 1977, in: Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft (WPKG - Predigtmeditationen), Jg. 1977, Heft 11, S. 9.
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derer, die in den Augen der Kritiker in ihrem Denken und ihrem Handeln "funktionalistisch" beeinflußt oder bestimmt sind, weit größer. Offenbar wird diesem relativ großen, wenn auch keineswegs klar abgrenzbaren Kreis ein Syndrom von Einstellungen und Absichten zugeschrieben, das in sich zwar vielschichtig und widerspruchsvoll sein mag, dem aber als allgemeines Kennzeichen das Etikett "funktionalistisch" zugeordnet wird. Dabei können unter diesem Etikett durchaus auch solche Personen subsumiert werden, die zwar bestimmte Ingredienzien dieses Syndroms vertreten, beispielsweise hinsichtlich einer "funktionsorientierten" Betrachtung der Amtshandlungen, die aber das Etikett als ganzes für ihre eigene Person entschieden von sich weisen würden. Doch kann die Ausstrahlungskraft offensichtlich ebenso von dem Etikett als auch von einzelnen isolierten Ingredienzien dieses Syndroms ausgehen. Und eben diese breite Ausstrahlung dürfte es sein, der die erstaunlich lebhafte, zuerst mehr positive, dann mehr kritische Resonanz gilt, die das Thema Funktionalismus während der letzten Jahre in der Kirche gefunden hat. Mag sich nun diese Resonanz in der Form einer weiteren Verbreitung "funktionaler" Denkweisen äußern oder in der Form kritischer Reaktionen; ihr pures Vorhandensein und ihre Intensität dürften deutlich machen, daß wir es tatsächlich mit einem virulenten Problem zu tun haben; einem Problem, das wahrscheinlich auf der Ebene des Alltagswissens von Pfarrern und anderen kirchlichen Einflußträgern in Zukunft noch erheblich an Bedeutung und Gewicht gewinnen wird. Das Syndrom aus Einstellungen und Absichten, das sich hinter diesem Etikett verbirgt oder dort gesucht wird, mag im einzelnen oft schwer zu fassen sein; auch die Kritik vermag nur selten zu präzisieren, wen oder was sie im einzelnen meint, und gleichzeitig den Gemeinten auch wirklich zu treffen. Dieses schillernde und uneinheitliche Erscheinungsbild dürfte jedoch weniger auf unseren speziellen Fall als vielmehr darauf zurückgehen, daß sich solche Syndrome oder Einstellungsbündel im Bereich des Alltagswissens kaum nach Gesichtspunkten der begrifflichen Einheitlichkeit und der gedanklichen Stringenz entwickeln und strukturieren. In unserem Fall dürfte allerdings die vielschichtige und widerspruchsvolle Verwendung des Funktionsbegriffes ein zusätzliches Maß an Unschärfe und Verwirrung produzieren. Doch kümmert es diejenigen, die den Begriff oder bestimmte damit zusammenhängende Vorstellungen verwenden, in der Regel wenig, wenn man ihnen nachweist, daß sie den Funktionsbegriff mehr im Sinne von B. Malinowski, also bezogen auf menschliche Grundbedürfnisse, oder mehr im Sinne von T. Parsons, also bezogen auf das Gleichgewicht des betreffenden Systems verwenden10 • Vielmehr erscheint es 10
Vgl. H. Kaefer, Religion und Kirche als soziale Systeme, 1977, S. 43ff.
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ja gerade als besonderes Kennzeichen unseres Problems, daß das Syndrom des funktionalen Denkens in seiner schillernden Mehrdeutigkeit in Anspruch genommen wird; letzten Endes wohl mit der Absicht, mit Hilfe dieses funktionalen Denkens einen neuen oder erweiterten Zugang zu jener gesellschaftlichen Praxis zu gewinnen, auf die das eigene Wirken bezogen ist: sei es als Berufspraxis des Gemeindepfarrers, sei es sonst als Mitarbeiter oder Repräsentant der Kirche. Besonders deutlich faßbar dürften die allgemeinen Transformationsund Verarbeitungsprozesse des funktionalen Denkens dort werden, wo sich das berufsbezogene Alltagswissen von jungen Theologen in der Erstbegegnung mit ihrer Praxis zu konstituieren beginnt. Hauptsächlich am Beispiel dieser Population soll darum auch der Transformationsprozeß beobachtet und analysiert werden. Dieser Versuch ist durchaus mitveranlaßt, sicher beeinflußt und wohl auch begrenzt durch eigene Erfahrungen und Beobachtungen während und nach meiner Tätigkeit in der Vikarsausbildung der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau. Durch die Aufgabenstellungen dieser Tätigkeit war ich selbst aktiv und passiv in den Transformationsprozeß hineinverflochten.
m. 1. Eine Vielzahl unterschiedlieber Interessen als Voraussetzung und Impuls des Transformationsprozesses
Eine erste Frage, die sich bei der Beschäftigung mit unserem Phänomen stellt, ist die, welche äußeren Voraussetzungen oder welche Rahmenbedingungen es ermöglichen, daß ein solcher Prozeß überhaupt in Gang kommt. Weiche Interessen, welche Bedürfnisse und welche Anlässe können dazu führen, daß bestimmte begriffliche Muster wie etwa das "funktionale Denken" so plötzlich und so energisch aus dem Bereich des wissenschaftlichen Denkens hinüber transportiert werden in den des berufsbezogenen Alltagswissens und dort tatsächlich weiter verarbeitet werden? Verfügbar und damit in gewissem Sinne auch abholbereit lagen all diese Muster auf der Wissenschaftsebene ja längst vor. Warum wurden sie nicht schon früher in Anspruch genommen? Und warum jetzt, gegen Ende der sechziger Jahre geradezu schubartig abgerufen? Zu vermuten ist von vornherein, daß der Prozeß nicht durch eine Einzelursache ausgelöst wurde, sondern daß mehrere Interessen und andere Faktoren zusammenwirken mußten; vielleicht wirken sogar solche Faktoren zusammen, die von ihrem ursprünglichen und eigentlichen Eigeninteresse keineswegs zur Kooperation praedestiniert sincl.
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Ich meine, daß sich im Falle unseres Beispiels vier solcher Faktoren oder Faktorenbündel unterscheiden lassen, die, in sich zwar wiederum vielschichtig, in ihrem Zusammenwirken jedoch diesen Transformationsprozeß anregten und seine Ausweitung erst ermöglichten. Schon zu Beginn der sechziger Jahre entwickelte sich eine erste Bedarfslage aus den Interessen, die sich mit Stichworten wie "Kirchenreform" und "Strukturreform" verbanden und die bald in fast allen Landeskirchen zur Bildung von Ausschüssen oder Arbeitsgruppen führten. Ihr Thema war, wie die in Jahrhunderten gewachsenen kirchlichen Organisations- und Arbeitsformen besser auf die Anforderungen der Gegenwart einzustellen seien11 • Zur Bearbeitung dieser Thematik wurde, soweit ich sehe erstmalig, die Hilfe der empirischen Sozialwissenschaften für die Arbeit der Kirche in breitem Umfange in Anspruch genommen: es wurden Befragungen durchgeführt1 2 und "Strukturanalysen" angefertigt; Stichworte wie "gesellschaftliche Funktion der Kirche" oder "Funktionsbestimmung" kamen in Mode; das Wort wurde vorwiegend im Sinne von "aufgabenbezogen", "aufgabengerecht" oder auch im Sinne Malinowskis als "bedürfnisbezogen" verstanden13. Ein zeitlich zweiter, sachlich aber wohl der stärkste Antrieb, mit Hilfe soziologischer Betrachtungsweisen die Phänomene der kirchlichen Praxis zu analysieren und vielleicht besser als sonst zu verstehen, kam aus den Reihen von jungen, aus der Universität in das kirchliche Vikariat überwechselnden Theologen. Manche unter ihnen fanden das, was sie im Studium über Wesen und Gestalt der Kirche theologisch gelernt hatten und was beispielsweise in der zentralen Metapher vom "Leib Christi" ausgedrückt ist, in der volkskirchlichen Wirklichkeit von Administration und pfarrberuflichen "Dienstleistungen" kaum wieder. Sie suchten darum nach zusätzlichen, über die theologischen Beschreibungsformen hinausgehenden Kategorien für das, was sie als Kirche tatsächlich vorfanden. Bei Anderen waren durch das Theologiestudium selbst, etwa durch Bibelkritik, durch die "Gott-ist-tot"-Theologie oder durch ein mit der eigenen intellektuellen Redlichkeit vermeintlich nicht zu vermittelndes Offenbarungsverständnis Zweifel daran entstanden, ob man auf die überkommene theologische Weise überhaupt noch überzeugend begründen könne, was Kirche sei. Die meisten praktischen Aufgaben der Kirche, ihre Jugendarbeit oder ihre Seelsorge, ihre ErwachVgl. Daiber I Seiz I Simpfendörfer, Kirchenreform, 5 Bde. 1968 - 1970. Kirchenreform durch Öffnung zur Religion, Diss. Hamburg, 1976. 12 Vgl. W. Marhold, Fragende Kirche, 1971. 13 Vgl. Dienst I Dahm I Brückner, Aufgabe und Struktur der Gemeinde heute; Erwägungen zu einer mittelfristigen Konzeption der Kirchenreform; Verlag Evangel. Presseverband, Frankfurt 1969. 11
J. Lucht,
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senenbildung und ihre diakonischen Tätigkeiten ließen sich nämlich rational anscheinend auch dann rechtfertigen und tatkräftig in Angriff nehmen, wenn man den theologisch-ekklesiologischen Begründungen nicht voll zuzustimmen vermochte. Die soziologische, speziell die funktionalistische Betrachtung der Kirche und ihrer Aufgaben konnten so zur Zusatzlegitimierung oder auch zur Ersatzlegitimation für theologische Begründung der eigenen Arbeit in der Kirche verstanden und in Anspruch genommen werden. Ein dritter und ebenfalls nachhaltiger Impuls, sozialwissenschaftliche und speziell gesellschaftskritische Begriffe und Denkweisen in die binnenkirchliche Diskussion einzubringen und dort zu verankern, wurde durch diejenigen Vikare vertreten, die auf der Universität von der Studentenrevolte erfaßt und geprägt waren und jetzt versuchten, ansatzweise den "Marsch durch die Institution Kirche" zu beginnen. Ihre Auffassungen und besonders ihre Argumentationsmuster waren auf das stärkste beeinflußt von der "Kritischen Theorie" der Frankfurter Schule sowie von den klassischen Vorstellungen des historischen und dialektischen Materialismus14 • Hatte man sich bis ca. 1970 in den kirchenleitenden Gremien und selbst in den kirchlichen Ausbildungsinstitutionen den soziologischen Strömungen gegenüber je nach eigener Neigung verhalten können, also teils aufgeschlossen-interessiert und teils ablehnend-distanziert, so wurden die gesellschaftskritischen Anfragen und Angriffe seitens der jungen Theologen aus dem Lager der Neuen Linken jetzt so energisch und herausfordernd vorgetragen, daß Kirchenleitungen und Ausbildungspersonen den provozierten Auseinandersetzungen nicht mehr ausweichen konnten. Man mußte sich nolens-volens auf die soziologischen oder pseudosoziologischen Argumentationsmuster der "linken Vikare" einlassen, konnte die Diskussionen meist nicht auf die gewohnten theologischen Denkmuster zurückführen, ohne sofort der Verschleierung oder des Ausweichmanövers geziehen zu werden, mußte vielmehr einerseits nach soziologisch einigermaßen begründbaren Gegenargumenten suchen und andererseits die transformierbaren sozialkritischen Impulse und Anfragen in Aktionen und Reformversuchen (wie beispielsweise durch die Demokratisierung des Ausbildungsbereiches, etwa durch Einrichtung paritätisch zusammengesetzter Ausbildungskammern) aufzufangen versuchen. Ob jedoch Gegenargumente vorgebracht, ob kritische Anregungen in Reformen umgesetzt wurden oder ob es zu Mischformen zwischen beidem kam, in 14 Vgl. "Theologiestudenten 1969, Dokumente einer revolutionären Generation", o. Verf., hrsg. Evangel. Verlagswerk Stuttgart 1969; E. Weber IR. Trommershäuser, Kirche im Kapitalismus, in: U. Greiwe (Hrsg.), Herausforderung an die Zukunft, 1970, S. 260- 273. W. D. Bukow, Das Elend der sozialistischen Opposition in der Kirche, 1969.
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jedem Falle führten die dauernden Auseinandersetzungen bei allen Beteiligten zu einer Aneignung gesellschaftswissenschaftlicher Betrachtungsweisen, die keineswegs immer bewußt oder gar gewollt war. Und nicht selten waren es gerade vereinfachte funktionalistisch-soziologische Argumentationsmuster, die gegen die kirchen- und religionskritischen Argumente marxistischer Provenienz ins Feld geführt wurden; nicht zuletzt deshalb, weil die marxistische Kritik, angewendet auf die Lebensformen und Praxisfelder der Kirche, gewöhnlich als verständnislos gegenüber kirchlichem Leben und als destruktiv empfunden wurde. Diese drei vorwiegend binnenkirchlich motivierten Nachfragen nach sozialwissenschaftlichen und speziell "funktionalistischen" Erklärungsmustern und Argumentationshilfen können natürlich nicht einfach von den übergreifenden gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen als kirchliche Sonderthematik abgelöst werden. Sie sind vielmehr, und das macht unseren vierten Faktor aus, vielfältig verflochten mit dem allgemein in der BRD seit Mitte der sechziger Jahre aufkommenden Trend, die Gegebenheiten unseres Zusammenlebens stärker als bisher durch sozialwissenschaftliche, insbesondere durch gesellschaftskritische Brillen zu betrachten; durch jenen Trend also, der von Helmut Schelsky ebenso eigenwillig wie einseitig als Machtkampf um die Vorherrschaft quasireligiöser sozialer Heilsverheißungen und um die entsprechende Priesterherrschaft ihrer meist soziologischen Produzenten interpretiert wurde. Schelsky hat in diese Trendanalyse ausdrücklich auch die kirchlichen Varianten der allgemeinen Soziologisierung einbezogen und sie durch das plakative Etikett "Vom Seelenheil zum Sozialheil" gekennzeichnet16. Ohne die kritisch-erhellenden Aspekte dieser Sicht bestreiten zu wollen, ohne sie allerdings auch an dieser Stelle gründlicher hinterfragen zu können, muß zumindest nachdrücklich darauf hingewiesen werden, daß die These Schelskys der Komplexität von Bedarfslagen und Ursachen für die breite Aufnahmebereitschaft soziologischer und speziell funktionaler Betrachtungsweisen in der Kirche wohl kaum gerecht wird. Gerade um diese Komplexität geht es aber offenkundig, wenn man nach den vorgegebenen Voraussetzungen und den Impulsen für die überraschend breite Rezeption des "funktionalen Denkens" fragt. Es war nicht das Interesse allein einer Einzelgruppe, das den Transformationsprozeß in Gang gesetzt hat: weder das der "Strukturreformer" noch das der "Kirchenreformer"; weder das jener Pfarramtskandidaten, die der pastoralen Praxis ratlos und ohne Konzept gegenüber standen, noch das der antiautoritären, auf die "Kritische Theorie" sich berufenden "linken Vikare"; es war auch nicht allein das Interesse 15
H. Schelsky, Die Arbeit tun die anderen, bes. S. 317-329.
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ihrer unfreiwillig zur Gegenargumentation herausgeforderten Gesprächspartner in den Ausbildungseinrichtungen und Kirchenleitungen. Für sich allein wäre keine dieser Gruppen, und es wäre, gegen Schelskys Behauptung, schon gar nicht die vergleichsweise winzige Schar soziologisch ausgebildeter Theologen einflußreich genug gewesen, um diesen in seinen Konsequenzen unübersehbaren Prozeß der Reinterpretation des kirchlichen Handeins durch soziologische Deutungsmuster in Gang zu setzen. Es war vielmehr die Koinzidenz all der angegebenen, durchaus verschiedenartigen, oft gegensätzlichen, durchweg aber vitalen Interessen, die die Transformation der funktionalen Betrachtungsweisen in das Alltagswissen kirchlicher Praktiker eingeleitet und vorangetrieben hat. 2. Erklärungskraft, Legitimierung und Motivation für das eigene Handlungsfeld als Hauptkriterien der Transformation
Wer in der Zeit ab ca. 1965 von "funktionaler Betrachtungsweise" sprach, dem ging es inhaltlich in der Regel darum, die Aufgabenfelder der Kirche einmal grundsätzlich anders als in den klassisch-theologischen Denkweisen zu sehen und zu reflektieren. Dieses AnderssehenWollen bedeutete nicht, daß die eine Betrachtungsweise alternativ gegen die andere ausgespielt wurde; so, als ob nur die eine richtig und die andere darum notwendig falsch wäre. Die Zuordnung der funktionalen zu den theologischen Betrachtungsweisen war vielmehr durchaus vielschichtig: mal spannungsreich, mal ergänzend, mal unklar. Die klassischen protestantisch-theologischen Denkweisen lenkten ja gewöhnlich die Aufmerksamkeit des Theologen auch und gerade wenn es um konkretes kirchliches Handeln ging, auf den "eigentlichen Auftrag der Kirche", nämlich darauf, daß "die rettende Gnade Gottes in Christus allem Volk zu verkündigen" sei (Vorspruch einer "Kirchlichen Lebensordnung")18 • Kriterien einer solchen Perspektive waren vorrangig die "rechte Verkündigung", das Verhältnis von Gesetz und Evangelium, von Glauben und Nachfolge, die Auferbauung der Gemeinde als Leib Christi, das Bekenntnis und das rechte Sakramentsverständnis. Die "Funktionale" Betrachtungsweise fragte demgegenüber nach Interessen, Bedürfnissen und Aufgabenstellungen, die sich neben einer solchen theologischen Bestimmung für die betreffende konkrete kirchliche Handlung oder auch vermischt mit dieser erkennen und formulieren ließen. Beispielsweise erscheint in dieser Blickrichtung die Taufe 18 Ordnung des kirchlichen Lebens der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Eigenverlag der Kirchenverwaltung Darmstadt, Fassung 1969, s. 8.
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nicht nur als Sakrament der "Berufung des Täuflings zu einem Gliede am Leibe Christi" (Kirchliche Lebensordnung), sondern sie erfüllt auch eine Reihe von sogenannten "gesellschaftlichen Funktionen". Dazu gehört etwa die erste öffentliche Präsentation und damit die feierliche Aufnahme des Neugeborenen in seine über die Familie hinausgehende gesellschaftliche Umwelt, die öffentliche Namensgebung, das festliche Zusammensein von Verwandten und Freunden anläßlich der Geburtund manchmal auch die Regelung von halbmagischen, kultischen Reinigungsvorstellungen, von denen sich Reste noch immer in unserer Kultur finden. Ein anderes Beispiel sind Konfirmanden-Unterricht und Konfirmation, die nach theologischem Verständnis die in der Taufe zugesagte Gliedschaft am Leibe Christi durch bewußte Bejahung der inzwischen erlernten Glaubensauffassungen "befestigen" sollen. Andererseits erinnert diese kirchliche Handlung unverkennbar an jene vielfältigen Riten, die in fast allen Kulturen aus Anlaß der Übergänge von der Kindheit in die Erwachsenenwelt breit und intensiv durchgeführt werden. Auch in unserer Kultur ist die Konfirmation nicht abgelöst von diesen Übergängen und den damit für die Jugendlichen und ihre Eltern gestellten Schwierigkeiten zu denkeri17• Die Schwierigkeiten und besonderen Aufgaben im Zusammenhang mit der Pubertät, denen in der "funktionalen Betrachtung" oft eine besondere Beachtung zugewendet wurde, sind im Zuge dieses Denkens gerade im letzten Jahrzehnt ausdrücklich und nachdrücklich zum Thema des Konfirmandenunterrichtes gemacht worden; sie wurden damit gleichzeitig in einen engeren Bezug zu den vorrangig im Konfirmandenunterricht zu behandelnden Glaubensfragen und Lebensfragen gestellt18 • Die Reihe von Beispielen für diesen doppelten Aspekt der kirchlichen Handlungen, nämlich einerseits ihre spezifisch theologische Sinngebung und andererseits ihre sogenannte "soziale Funktion", verstanden als menschliche Bedeutung ohne bewußt vollzogenen religiösen Bezug, geht weit über die sogenannten Amtshandlungen, also Taufe, Konfirmation, Trauung und Bestattung hinaus. Allerdings geraten diese "Amtshandlungen" meistens zuerst in den Blick, wenn von gesellschaftlichen Funktionen der Kirche die Rede ist. Der Zusammenhang von zugleich spezifisch kirchlicher und allgemein gesellschaftlicher Bedeutung erstreckt sich aber genauso auf das seelsorgerische Gespräch 17 Vgl. J. Matthes, Volkskirchliche Amtshandlungen, Lebenszyklus und Lebensgeschichte, in: J. Matthes (Hrsg.), Erneuerung der Kirche, 1975. 18 Vgl. K. Dienst, Moderne Formen des Konfirmandenunterrichts, 1973; Ders., Die lehrbare Religion, 1976; D. Stoodt, Religiöse Sozialisation und emanzipiertes Ich, in: Dahm/.Luhmann I Stoodt, Religion, System und Sozialisation, 1972.
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mit dem einzelnen Ratsuchenden, auf die Jugendarbeit, auf die kirchliche Erwachsenenbildung in Ortsgemeinden wie in Evangelischen Akademien, auf die kirchlichen Einrichtungen im Gesundheitswesen und nicht zuletzt auf die Veröffentlichung sozialethischer Denkschriften oder tagespolitischer Stellungnahmen des Rates der EKD. Es sind also fast alle kirchlichen Handlungen, die diesem doppelten Aspekt und damit auch dem doppelten Maßstab der theologischen Sachgerechtigkeit einerseits und der gesellschaftlich-funktionalen Sachgerechtigkeit andererseits ausgesetzt werden können. So gewiß wie jeder Konfirmandenkurs, jedes Beratungsgespräch und jede Denkschrift an dem theologischen Kriterium von "Gesetz und Evangelium" gemessen werden kann, so gewiß läßt sich an jede dieser Handlungen auch die andere Frage stellen, ob sie nämlich den pädagogischen oder psychologischen Implikationen des betreffenden Gegenüber, sei es ein Konfirmandenkurs oder sei es ein Ratsuchender, gerecht geworden ist. Diesen zweiten Aspekt des kirchlichen Handelns, seine gleichsam religiös-unspezifische, im Einzelfall des Gegenübers begründete Sachlichkeit genauer in den Blick zu fassen, war ein Hauptziel der funktionalen Betrachtungsweise. Dieser zweite Aspekt sollte in einem höheren Maße ernst genommen werden als das normalerweise in der Theologie geschieht; es sollte gefragt werden, welche konkreten und motivierenden Aufgaben sich aus diesem Aspekt ergeben und wie man sich ihnen sachgerecht stellen kann. Das Interesse an dieser Betrachtungsweise äußerte sich nicht primär als "akademisches" Interesse im Sinne von Forschung, Systematisierung und Reflexion; es ging nicht um eine für das "wissenschaftliche Wissen" notwendige Abstraktion aus der unmittelbaren Verflochtenheit mit der Handlungswelt. Sondern es ging gerade umgekehrt um Verstehens- und Zugangshilfen für diese Handlungswelt, für die eigene Praxis, für die eigene Verflochtenheit in den kirchlichen Alltag. Im Kontext der vorhin erörterten zeitgeschichtlichen Rahmenbedingungen ließen sich solche Verstehens-und Zugangshilfen offensichtlich nicht allein oder nicht zureichend aus der spezifisch-theologischen Interpretation dieses zweiten Aspektes der kirchlichen Handlungen gewinnen. Denn in der in den sechziger Jahren vorherrschenden Theologie spielten die Aspekte der "gesellschaftlichen Funktion" meist eine untergeordnete Rolle, galten sie vielfach als "uneigentlich", wurden sie oft schon durch pejorative Umschreibungen von Zentralbegriffen wie "gesellschaftliche Bedürfnisse" oder "religiöse Bedürfnisse" abgewertet; so, wenn gesagt wurde, daß "die Kirche doch keine Bedürfnisanstalt" sei oder daß "wir doch keine Bedürfnistheologie, sondern das Wort Gottes verkündigen wollen". Wer aus dem Theologiestudium kam,
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war in der Regel negativ gegenüber diesen "gesellschaftlichen Funktionen" oder den oft gleichbedeutend verstandenen "religiösen Bedürfnissen" gestimmt. In der eigenen Begegnung mit der Praxis volkskirchlicher Parochien mußte er jedoch erfahren, daß den sogenannten gesellschaftlichen Funktionen dort ein weit größeres Gewicht zukam als es nach den vorherrschenden theologischen Interpretationstendenzen zu vermuten war. Sowohl durch die Aufgabenstellungen des Gemeindepfarrers als vor allem auch durch die Erwartungen und Kirchlichkeitseinstellungen der Gemeindeglieder wurde solchen scheinbar "uneigentlichen" Aspekten wie Erziehungsaufgaben, Krankenbesuchen, Organisierung von Freizeiten, diakonisch-karitativer Tätigkeit und dem Management eines pfarramtliehen Apparates mit zwanzig Mitarbeitern ein sehr viel höherer und auch sehr viel positiver empfundener Stellenwert als durch die Theologie zugemessen. Und dies betraf, so mußte man aufgrund von Umfrageergebnissen eindeutig erkennen, nicht nur die Einstellungsmuster derjenigen Parochie, in die man zufällig hineingeraten war, sondern es galt für die ganz überwiegende Mehrheit des evangelischen wie übrigens auch des katholischen Kirchenvolkes. Diese Praxiserfahrungen verlangten nach Erklärung und nach einer für die zukünftige Berufstätigkeit motivierenden Sinngebung, die über die zu knappen oder zu pejorativen theologischen Interpretationsmuster jener Tätigkeitsbereiche deutlich hinausgingen. Eben das aber schien die funktionale Betrachtungsweise leisten zu können. Sie schien etwas von jenem Druck auffangen und wegarbeiten zu können, der darin lag, einen Großteil der eigenen Aufgaben theologisch als opus alienum, als uneigentlich oder gar als Allotria verstehen zu müssen, und der dazu führte, daß damit gerade diejenige Handlungsmotivation im tiefsten gebrochen wurde, die zur Bewältigung der Praxisanforderungen dringend notwendig war. Die "funktionale" Betrachtung vermochte offenbar deutlich zu machen, daß in dem scheinbar uneigentlichen, dem theologisch nicht spezifisch qualifizierten kirchlichen Handeln im Erziehungs- und im Beratungsbereich, bei lebenscyklischen Übergangsstationen und im Freizeitbereich durchaus ein eigener Sinn, eine eigene Würde und damit eine starke Handlungsmotivation liegen kann. Die funktionale Betrachtung erfüllte diesen Zweck auf verschiedene Weise: Zunächst einmal machte sie den Blick dafür frei, daß es hier um elementare menschliche "Bedürfnisse" der Lebensdeutung, der Begleitung oder der Beratung geht, auf die einzugehen, wenn sie erst einmal als solche erkannt sind, einen unmittelbar evidenten Sinn in sich selbst hat, und denen man kaum gerecht wird, wenn man sie als uneigentliches
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Nebengebiet des eigentlichen Verkündigungsgeschehens oder als verkrustete Reste einer vergangeneo Religiosität abtut. Die funktionale Betrachtung zeigte darüberhinaus, wie tief diese "Bedürfnisse" oder der zweite Aspekt der kirchlichen Handlungen in unserer Kultur und in unserer kirchlichen Tradition verankert sind; daß sie nämlich fast unabhängig und weitgehend unbeeinflußt von dem in den letzten zwei Jahrhunderten stattgehabten Wechsel von theologischen Grundströmungen und damit auch dem Wechsel von theologischen Beurteilungen jenes zweiten Aspektes, nämlich der "menschlichen Bedürfnisse" und "gesellschaftlichen Funktionen der Kirche" eine ganz erstaunliche Stabilität aufwiesen, ja, daß ihre Beharrungskraft weit größer war als die der theologischen Schulrichtungen. Wiederum stellte sich in dieser Perspektive die Frage, ob man angesichts solcher Stabilität und Beharrungskraft nicht sehr viel mehr "Sinn" in solchen Bedürfnislagen und "Funktionen" vermuten müsse als das normalerwei~e geschah; und ob es beruflich nicht lohnend wäre, sich konstruktiv und kritisch weit mehr als bisher auf die mit diesen Bedürfnislagen gestellten Aufgaben einzulassen. Endlich konnte die funktionale Betrachtung einer im beruflichen Alltag demotivierenden alternativischen Entgegensetzung von Bedürfnisorientierung und "eigentlicher Verkündigung" durch den Hinweis auf die Kirchengeschichte und darüber hinaus auf die allgemeine Religionsgeschichte entgegenwirken, indem sie auf die immer schon vorhandene Verflochtenheit von "eigentlich" oder ursprünglich theologischen Zwecken mit individuellen alltagsweltlichen Problemen und mit den "gesellschaftlichen Funktionen" aufmerksam machte und ins Bewußtsein derjenigen Theologen rückte, die nach Legitimierung und Motivation für die Arbeit in diesem Bereich fragten. Es war die Notwendigkeit, sich mit diesen Arbeitsaufgaben beruflich zu arrangieren oder zu identifizieren, die zu der sogenannten funktionalen Betrachtungsweise geführt hatte und die ihr Resonanz gab. Der Eindruck, daß die spezifisch-theologischen Bestimmungen dieser Aufgaben dazu nicht immer ausreichten, drängte danach, zusätzliche Erklärungen und Handlungsanleitungen zu suchen- und dazu, sie mehr oder weniger eklektisch aus den Interpretationsmöglichkeiten, die von den Humanwissenschaften angeboten wurde, abzurufen. Zum zusammenfassenden Schlüsselbegriff für diese Tendenzen wurde das Stichwort von der Funktions- oder Aufgabenorientierung. Inwieweit der Sprachgebrauch des Wortes Funktion auf einen der verschiedenen soziologischen Funktionsbegriffe stimmig zu beziehen war, spielte für die praxisorientierten Rezipienten keine besondere Rolle. Entscheidend war, ob sich die eine oder andere Anregung aus dem Bereich des wissenschaftlichen Wissens erklärungskräftig und motivierend auf die
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eigenen Praxiserfahrungen beziehen ließen. Wo das der Fall schien, wurden sie ohne Skrupel gegenüber wissenschaftlicher Systemstringenz in das eigene berufliche Alltagswissen übernommen und dort verarbeitet. 3. Theoriebegriff zwischen Handlungskonzept und Transzendierungsforderung
Obwohl es sich also um die eklektische Verarbeitung einzelner Aspekte und insgesamt eher um eine Betrachtungsweise als um eine "Theorie" handelte, war doch im kirchlichen Ausbildungssektor und in einigen anderen kirchlichen Teilbereichen schon bald von "Funktionaler Theorie" die Rede. Vor allem in der Variante "Funktionale Kirchentheorie" verbreitete sich der Begriff außerordentlich rasch im kirchlichen Sprachgebrauch. Es schien so, als ob man nur darauf gewartet hätte, eine Sichtweise, die sozusagen in der Luft lag, mit einem begrifflichen Etikett zu versehen.· Doch ist auch die Verwendung dieses Theoriebegriffs bei näherem Hinblick keineswegs einheitlich. Die meisten, die eine funktionale Betrachtungsweise im kirchlichen Bereich für fruchtbar und weiterführend hielten, wollten mit dem Theorie-Anspruch zum Ausdruck bringen, daß es ihnen nicht nur um Analyse und phänomenologische Deskription ging, sondern ganz dezidiert um eine Konzeption des eigenen Handelns: Die sogenannten gesellschaftlichen Funktionen der Kirche sollten nicht nur erhoben und beschrieben, sondern sie sollten als Aufgabe bewußt gemacht, bejaht und kritisch-konstruktiv in Angriff genommen werden. Es ging um eine Konzeption des kirchlichen Handelns, die bei vordergründiger Sicht zwar vorrangig auf die Berufsaufgaben der Gemeindepfarrer gerichtet schien, die aber implicit auf die Gesamtheit des kirchlichen Lebens in seiner volkskirchlichen Verfassung zielte: also auf den Diakoniebereich ebenso wie auf das Bildungswesen, auf die Telefonseelsorge ebenso wie auf die kirchlichen Äußerungen zur Politik. Eine solche Konzeption brauchte eine formelhafte Kennzeichnung, die ihre Intentionen schlagworthaft verdichtete. Dieser Aufgabe schien der Begriff einer "Funktionalen Theorie" genau zu entsprechen: Was mit "funktional" gemeint war, glaubte man der Grundrichtung nach zu wissen; der Begriff "Theorie" schien der eigenen Konzeption gerade im Kontext seiner sonstigen Verwendung gegen Ende der sechziger Jahre einen ebenso progressiven wie anspruchsvollen Klang zu geben. Wiederum spielte es keine Rolle, ob diese Verwendung des Theoriebegriffes den Kriterien des "wissenschaftlichen Wissens" gerecht wurde oder nicht. Was man suchte, war eine "Praxistheorie", war die pragmatische Adaption einer Kategorie, die sich als Kurzformel zur internen Verständigung eignete und gleichzeitig nach außen die eigenen Absichten plastisch zum Ausdruck brachte.
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Eine zweite Verwendungsabsicht des Wortes "Funktionale Kirchentheorie" entstand durch die Notwendigkeit einer Unterscheidung der eigenen Konzeption von solchen kirchentheoretischen Ansätzen, die sich im Umkreis der "Kritischen Theorie" der Frankfurter Schule entwickelten. Allerdings war das Verhältnis zwischen gesellschaftskritischmarxistischen und funktionalistischen Argumentationsweisen auf der Ebene des Alltagswissens nie eindeutig bestimmt. Zwar wurde in den literarisch ausgetragenen Auseinandersetzungen, vor allem in der "linken" Kritik am Funktionalismus die Gegensätzlichkeit der Grundansätze gerne beschworen19, gelegentlich wurde sie sogar zu zwei sich feindlich gegenüberstehenden kirchenpolitischen Lagern hochstilisiert, doch unterhalb dieser eher akademisch-literarischen Polemik sah es mit diesem Verhältnis anders aus. Die Mehrheit der an den neuen kirchentheoretischen Fragestellungen engagierten Vikare und erst recht die Pragmatiker im kirchlichen Apparat wichen einer strengen Grenzziehung zwischen Funktionaler Theorie und Kritischer Theorie gewöhnlich aus. Ihnen ging es um die Leistungsfähigkeit der soziologischen Begriffe und Denkweisen in ihrem eigenen Bedarfsfeld. Wenn sie dazu etwas hergaben, war es unwichtig, wo diese Begriffe ihren systematisch-theoretischen Ursprung haben mochten. Ganz unbefangen wurden die eklektisch gewonnenen Fragmente aus dem Umkreis der kritischen Theorie mit solchen des Funktionalismus gemischt oder additiv einander zugeordnet. Gewöhnlich wurde die grundsätzliche eigene Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen in Gesellschaft und Kirche in den Argumentationsmustern der kritischen Theorie vorgetragen: also etwa als Forderung einer energischen Demokratisierung auch im kirchlichen Bereich, nach Verminderung des Leistungsdrucks, nach "Entlarvung" der systemstabilisierenden und herrschaftsverschleiernden Funktionen der Kirchen in unserer Gesellschaft. Andererseits fand man in den kirchenbezogenen Reflexionen, die ihren Ansatz bei der Kritischen Theorie hatten, nur wenig Differenzierungsmöglichkeiten und Erklärungshilfen für die eigenen Schwierigkeiten im pfarramtliehen Alltag; die parochialen Aufgaben vorwiegend unter dem Gesichtspunkt einer ausweglos negativen Determiniertheit durch das kapitalistische System und andere gesellschaftliche Zwänge zu sehen, wurde nicht nur als demotivierend und auf die Dauer unerträglich empfunden, sondern es stimmte auch mit den eigenen Erfahrungen nicht überein. Darum wurde für die soziologische Interpretation der eigenen Berufsfelder weit stärker auf die funktionale Betrachtungsweise zurückgegriffen, ohne darum die mehr allgemeine Forderung nach grundlegenden gesellschaftlichen 1' So besonders K. Ahlheim, oben Anm. 6); Seminarkollektiv Mainz (vgl. oben Anm. 6); aber auch M. Josuttis (oben Anm. 5).
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Veränderungen preiszugeben. Funktionalistische, kritisch-theoretische und selbst orthodox-marxistische Argumentationsstücke wurden praktisch miteinander vermittelt, ohne ihre Vermittelbarkeit theoretisch im Sinne des wissenschaftlichen Wissens zu problematisieren. Gegenüber den Stringenzansprüchen der "großen Theorien" blieb man distanziert; ideologisch wollte man sich weder auf eine marxistische Glaubenslehre noch auf einen affirmativen Institutionspositivismus, wie er dem funktionalistischen Ansatz nachgesagt wurde, festlegen lassen. Diese pragmatisch-unbefangene Mischung aus Aspekten der "Funktionalen Kirchentheorie" und solchen einer "Kritischen Theorie der Kirche" fand sich also vorwiegend und vielfältig auf den Diskussionsebenen unterhalb der literarischen Äußerungen, nämlich in den Standardmeinungen der Alltagskonversation und in einer Unzahl von Arbeitspapieren. Doch blieb die Bemühung um eine Vermittlung von "funktionalem" und gesellschaftskritischem Blick auf die Praxis der Kirche nicht auf die Ebene von Alltagswissen und Alltagskonversation begrenzt. Dieses Vermittlungsinteresse wurde vielmehr auch grundsätzlicher und theoretischer, gewissermaßen "wissenschaftlicher" in Angriff genommen. Insbesondere die von Wolfgang Herrmann schon 1965 eingeführte und in seinen späteren Publikationen explizierte Forderung einer empirischkritischen Methode der Theologie, die grundsätzlich der historischkritischen Methode vergleichbar und mit ihr gleichberechtigt sein sollte20 , fand ein überaus breites Echo. Eine inzwischen schon unübersehbar gewordene Flut von Publikationen, seit 1970 mindestens 50 Buchveröffentlichungen zum Thema Praktische Theologie, Ekklesiologie und Kirchliche Zeitgeschichte, hat diese Forderung in der einen oder anderen Weise aufgenommen oder ist von ihr beeinflußt21 • Eine andere Frage ist allerdings, ob die Masse dieser Veröffentlichungen auch tatsächlich realisiert, was sie intendiert, nämlich sowohl den empirisch faßbaren Gegebenheiten als auch den Ansprüchen einer diese Gegebenheiten transzendierenden Kritik gerecht zu werden. 20 W. Herrmann I G. Lautner, Theologiestudium, Entwurf einer Reform, 1965; W. Herrmann, Die Angst der Theologen vor der Kirche, 1973; Chr. Gremmels I W. Herrmann, Vorurteil und Utopie, 1971; W. Herrmann, Theologische Ausbildung und ihre Reform, 1976 (Eigenverlag Comenius-Institut Münster). 21 Vgl. dazu die Übersicht bei K. F. Daiber, Grundriß der Praktischen Theologie als Handlungswissenschaft, 1977, S. 14 ff.; ferner in jüngster Zeit (Auswahl): H. W. Heßler (Hrsg.), Protestanten und ihre Kirche, 1976; G. W. Rammenzweig, Kirche zwischen Bürokratie und Demokratie, 1975; J. Matthes (Hrsg.), Erneuerung der Kirche, 1975; J. Moltmann, Neuer Lebensstil, 1977; W. Marhold u. a., Religion als Beruf, 2 Bde., 1977; D. Rössler, Die Vernunft der Religion, 1975; S. Sunnus, Die ersten sieben Jahre, Rückblick eines Landpfarrers, 1977 (Eigenverlag Commenius-Institut, Münster).
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Meinerseits habe ich den Eindruck, daß das häufig nicht gelingt, weil der Aspekt der Kritik den Aspekt einer sachgerechten Berücksichtigung und Interpretation der kirchlichen Alltagsfunktionen kräftig überwuchert. Ein solcher Mangel an Sachgerechtigkeit liegt etwa dann vor, wenn das kirchliche Verhalten von Gemeindegliedern, vermeintlich kritisch, in einer Weise als theologisch "uneigentlich" oder als "entfremdet" beurteilt wird, in der sich die betroffenen Gemeindeglieder nicht wiederzufinden vermögen, sondern die sie als Disqualifizierung empfinden. Derartige Tendenzen der Überwucherung von funktional-sachgerechter Deutung durch einen steilen Kritikbegriff finden sich sowohl in theologischen wie in soziologischen Arbeiten zum Thema Kirche. Nicht selten allerdings wird dabei der hehre Anspruch der Kritik durch eine deutlich ideologische, vom eigenen Vorurteil, sei es Wunschbild oder Zerrbild, bestimmte und so die kirchliche Wirklichkeit verzerrende Analyse beeinträchtigt und nachhaltig in Frage gestellt22. Gerade dieser Tendenz versuchte der funktionale Ansatz entgegenzusteuern, indem er immer wieder die Rückbindung an das forderte und suchte, was tatsächlich meßbar und überprüfbar in der Praxis vorging; an das, was Pfarrer oder Gemeindeglieder ihrerseits beabsichtigten und erwarteten; darauf, wie sie ihr Handeln selbst empfanden und wie die betreffenden Vorgänge sich in ihrem konkreten sozialen Kontext auswirkten. Doch lag in dieser akzentuierten Forderung die Gefahr, sich zu stark an den vorfindliehen Gegebenheiten auszurichten und deren ungenutzte Möglichkeiten auch hinsichtlich von Innovationen und verändernder Entwicklung zu vernachlässigen. Die ständig virulente Spannung zwischen einer redlichen Orientierung an der gegebenen Realität einerseits und deren weiterführender Transzendierung andererseits dürfte freilich das Schicksal der meisten "Praxistheorien" im Sinne des beruflichen Alltagswissens sein. Auch darin sind sie deutlich unterschieden von den abstrakten Theorien des wissenschaftlichen Wissens, die, wie etwa verschiedene Modelle einer Theorie der Gesellschaft oder einer Theologie der Kirche, das Problem der praktischen Vermittlung mit der gegebenen Realität großzügig vernachlässigen- und wohl auch vernachlässigen müssen.
zz Theologisch z. B. J. Moltmann, Kirche in der Kraft des Geistes, 1975, S. 352 ff.; Kirchensoziologisch z. B. Y. Spiegel (Hrsg.), Kirche und Klassenbindung, 1974; E. Weber IR. Trommershäuser, Kirche im Kapitalismus, in: U. Greiwe (Hrsg.), Herausforderung an die Zuknuft, S. 260 - 273. 6 Festschrift für Helmut Schelsky
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IV. Die Auseinandersetzungen um Theoriefähigkeit und theoretische Reichweite des funktionalen Ansatzes haben andererseits deutlich gemacht, daß sich der Begriff "funktionale Kirchentheorie" nicht einfach auf die Funktion eines zusammenfassenden Etiketts für eine bestimmte Handlungskonzeption reduzieren ließ. Die komplexe faktische Verwendung des Begrüfes blieb nie auf diese Funktion begrenzt, sondern verwies immer über sie hinaus auf die Verflechtung mit anderen Ebenen des Wissens. Daß das geschah und daßtrotzder vielschichtigen und damit manchmal verwirrenden Verwendung der Formel "Funktionale Kirchentheorie" immer wieder zustimmend und kritisch auf diese Formel Bezug genommen wurde, zeigt m. E. an, daß die mit ihr zum Ausdruck gebrachten Absichten noch keineswegs überholt oder durch einen anderen theoretischen oder theologischen Entwurf "aufgehoben" sind. Offensichtlich ist es bisher keinem der neueren theologisch-ekklesiologischen und sozialwissenschaftlich-kirchentheoretischen Entwürfe zureichend gelungen, das Phänomen Kirche in seiner komplexen Spannweite zwischen theologischer Bestimmung und empirischer Wirklichkeit, zwischen religiöser Transzendenz und gesellschaftlicher Funktion begrifflich zureichend darzustellen und zu erklären23 • Offensichtlich sind bei vielen kirchentheoretischen Entwürfen gerade diejenigen Aspekte zu wenig berücksichtigt oder zu wenig ausdifferenziert, um die es in der Funktionalen Theorie grundsätzlich geht, die allerdings auch von den bisher vorgelegten Differenzierungsversuchen dieses theoretischen Ansatzes noch keineswegs zureichend realisiert wurden - und darum zu weiterer Bearbeitung herausfordern. Fragt man im Bezugsrahmen der bisherigen Erfahrungen mit der "Funktionalen Theorie", welche Gesichtspunkte sich als so fruchtbar erwiesen haben, daß sie in eine solche weiterführende Bearbeitung positiv einzubringen sind, und fragt man andererseits, welche besonders wichtigen Defizite für eine weitere Entwicklung in Angriff genommen werden müßten, so lassen sich m. E. drei Aspekte eines unaufgebbaren positiven Beitrags und zwei Schwachstellen deutlich identüizieren. Diese fünf Gesichtspunkte sollen abschließend thesenartig zur Diskussion gestellt werden. u Auch der verdienstvolle Entwurf von W. D. Marsch, Institution im Ubergang, 1970, hat diese Zustimmung u. a. wohl deshalb nicht erfahren, weil seine Unterscheidung von "transzendentalen" und "empirischen" Aspekten der Kirche in ihrem Integrationszusammenhang nicht genügend deutlich wurde.
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1. Der funktionale Ansatz ermöglicht durch seine methodisch und inhaltlich dezidierte Ausrichtung auf die kirchliche Praxis mit ihren Teilbereichen von kirchlichen Einstellungen und kirchlichen Handlungsfeldern eine Distanzierung von wirklichkeitsfremden oder wirklichkeitsverzerrenden Vorurteilen und Wunschvorstellungen; er bietet Instrumente zur reflektierten Aufarbeitung eigener Praxiserfahrungen, und er ermöglicht jene Art von handlungsbezogenem Diskurs, der für die Transformationsprozesse im Theorie-Praxisverhältnis von konstitutiver Bedeutung ist24•
2. Der funktionale Ansatz ermöglicht offensichtlich eine Art von theoretischen Aussagen mittlerer Reichweite, die einerseits im Blick auf das handlungsorientierte Alltagswissen, andererseits aber auch im Blick auf wissenschaftliches Wissen sowohl transparent als auch abgrenzbar sind. Abgrenzen muß sich eine funktionale Theorie in der einen Richtung gegen eine Beschränkung auf die Funktion, einem eklektisch zusammengetragenen Bündel von handlungsrelevanten Teilstücken des Wissens den zusammenfassenden Namen zu geben25 ; sie muß vielmehr diese Teilstücke in einen systematischen Zusammenhang bringen und Verknüpfungsmöglichkeiten mit anderen theoretischen Systemen herstellen - und vermag das von ihrem methodischen Ansatz aus durch Abstraktion und Steigerung von Komplexität auch zu leisten. In der anderen Richtung muß sie sich abgrenzen gegen die Sogkräfte einer zu starken Abstraktion im Bereich des wissenschaftlichen Wissens; der Steigerung von Komplexität muß vielmehr, wie Helmut Schlesky es ausdrückt, "eine Reduktion parallellaufen, um die für den Handelnden nicht mehr faßbare Komplexität der modernen Verhältnisse wieder erlebbar zu machen und in individuelle Handlungsmotivationen zurückzuformen" 28 • Gerade in einer solchen Reduktionsfähigkeit sehe ich die Hauptleistung, die die bisherigen, am u Vgl. J. Habermas, Theorie und Praxis, Neuausgabe 1971, 4. Aufl., 1974, bes. S. 31 ff. - Bei den von uns erörterten Transformationsprozessen im kirchlichen Bereich fand die von Habermas behauptete Relevanz einer Institutionalisierung solcher Diskurse ihre Bestätigung und Exemplifizierung vor allem in den sogenannten Predigerseminaren, in denen die von der Universität kommenden Vikare in mehrwöchigen Kursen Gelegenheit hatten, im Gespräch mit ihren Kollegen und den Dozenten zu einer theoretischen Aufarbeitung ihrer Praxiserfahrungen zu gelangen (vgl. dazu K. W. Dahm, Traditionen und Übergänge im Predigerseminar, in: K. W. Dahm, Beruf: Pfarrer, 3. Aufl., 1974, S. 59 - 74). 15 Zur eklektischen Rezeption religiösen Wissens im kirchlichen Alltag vgl. H. Geiler, Einflußmöglichkeiten und Einflußformen der Kirche auf das Leben des einzelnen in der BRD, in: H. W. Brock:mann (Hrsg.), Kirche und moderne Gesellschaft, 1976, bes. S. 33 ff. ze H. Schelsky, Die Arbeit tun die anderen, 2. erweiterte Aufl., 1976, S. 381. -Diese Aufgabe einer "Funktionalen Theorie" übersieht M. Josuttis, S. 249 und gelangt darum zu mehreren Mißverständnissen.
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funktionalen Ansatz ausgerichteten theoretischen Versuche erbracht haben. 3. Der Begriff der Funktion dürfte gerade wegen seiner umgangssprachlichen und wissenschaftlich-soziologischen Mehrdeutigkeit geeignet sein, die mehrschichtige Absicht, für die das Wort Funktionale Theorie steht, zum Ausdruck zu bringen. Diese Absicht knüpft einmal an den Sprachgebrauch an, der Funktion im Sinne von Zweck und Aufgabe versteht (Beispiele: Die Kirche hat die Funktion, das Evangelium zu verkünden; der Pfarrer hat die Funktion, Kranke zu besuchen); sie zielt dann auf Thematisierung und Theoretisierung konkreter kirchlicher Aufgaben. Diese Absicht knüpft zweitens an den ursprünglichen mathematischen, inzwischen aber auch in Soziologie und Systemtheorie vorherrschenden Wortsinn der Beziehungsfähigkeit an. (Beispiele: a ist eine Funktion von b bedeutet: es besteht eine Beziehung zwischen a und b; Kirche; oder: "der wirtschaftliche Erfolg ist eine Funktion des rechten Glaubens".) Mit der Anknüpfung an dieses Funktionsverständnis wird die Absicht verfolgt, die vielfältige Verflechtung des kirchlichen Lebens mit anderen gesellschaftlichen Institutionen und Teilbereichen begrifflich genauer zu erfassen und zu erklären. Besonders wichtig ist dafür die Weiterentwicklung, die dieser Funktionsbegriff durch N. Luhmann erfahren hat. Danach kann eine in diesem Sinne verstandene funktionale Analyse durch Veränderung der Bezugspunkte solche Tatbestände vergleichsfähig machen, die in unserem Alltagsbewußtsein nicht miteinander verglichen werden; sie kann Zusammenhänge aufweisen, die normalerweise nicht sichtbar sind oder nicht beachtet werden- und trotzdem unsere Wirklichkeit bestimmen27• Gerade mit Hilfe dieser Art von funktionalen Analysen lassen sich m. E. wie durch keine andere Methode Beziehungen herstellen zwischen den sonst scheinbar gänzlich heterogenen Kategorien der theologischen Dimension Kirche und der sozialwissenschaftliehen Dimension Kirche28 • Wegen dieser Ermöglichung einer neuen theoretisch begründeten Beziehungsfähigkeit ist dieser Begriff von "Funktion" oder die Methode, für die er steht, für eine Theorie (oder Theologie) der gegenwärtigen Kirche unverzichtbar. 4. Zu den Defiziten, die die funktionale Kirchentheorie bisher offensichtlich nicht zureichend auszugleichen vermocht hat, gehören zunächst die Übergänge von der phänomenologischen Deskription zu einer 17 N. Luhmann, Soziologische Aufklärung, 1971, S. 9 - 53. Dazu auch H. Kaefer, Religion und Kirche als soziale Systeme, 1977, S. 43 - 64. n Vgl. als Anwendungsversuch dieser Methode: K. W. Dahm, Verbundenheit mit der Volkskirche, in: J. Matthes (Hrsg.), Erneuerung der Kirche, 1975,
s. 113-159.
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theoretischen Konzeption, sozusagen vom Ist zum Soll. Die Begründung einer beispielsweise grundsätzlich positiven Einstellung zu den "Funktionen" der Volkskirche bedarf nicht nur einer gründlichen Erhebung und Problematisierung der tatsächlich vollzogenen Legitimationsvorgänge, wie sie oben am Beispiel der Vikare beschrieben wurden; die Begründungsproblematik muß vielmehr auch mit anderen Ebenen des Wissens, speziell des theologischen und des gesellschaftstheoretischen Wissens, stärker verknüpft werden; theologisch gesprochen: was "funktional" getan wird oder getan werden soll, muß theologisch verantwortet werden. 5. Die bisherigen Bemühungen um eine Funktionale Kirchentheorie haben offensichtlich nicht ausgereicht, um den Verdacht einer technokratischen oder unkritischen Orientierung an eingeschliffenen Bedürfnissen, an einer "funktionalen Verwertung des Evangeliums" 29 , an der puren Stabilisierung des status quo gänzlich auszuräumen. Wahrscheinlich muß deutlicher und grundsätzlicher herausgearbeitet werden, daß die kritische und transzendierende "Kraft des Evangeliums" ihren Ort nicht nur innerhalb der einzelnen Bereiche des kirchlichen Handeins und im Vollzug konkreter Aufgaben hat, woran in der funktionalen Theorie immer festgehalten wurde, sondern daß "das Evangelium" auch das System Kirche als Ganzes zu transzendieren vermag; anders gesagt: daß die Funktionen der Kirche nicht im Vorhandenen aufgehen 30•
M. Josuttis (vgl. oben Anm. 5). Zur soziologischen Vermittlung dieses Gedankens vgl. T. Rendtorff, Gesellschaft ohne Religion, 1975. !9 30
Götterdämmerung: Gods of the Law in Decline By R. W. M. Dias Law is a social institution. Indeed, it is more: it is one of Man's better inventions in that it has made co-existence possible of large numbers of people and enables them to achieve within a framework of control and co-ordination far more than individuals could achieve on their own. As such, it is something to be nurtured by every society; 1 and when a society falters in this respect, that could spell the start of its undoing. Is that too extravagant a statement? Let us see. The British legal system has enjoyed a considerable reputation. It is not proposed to consider whether this is justified, nor whether other systems are better or worse. I am only concerned with the implications of one event in 1977, the Gouriet affair, 2 which seems tobe a significant straw in an ill wind. What happened was this. In answer to a call by the International Confederation of Free Trade Unionsforageneral protest against the apartheid policy of South Africa, the executive council of the British Union of Post Office Workers (UPOW) decided on 13 January to call on its members to refuse to handle mail to that country for a week commencing on Sunday the 16th. The Post Office Engineering Union (POEU) also decided on similar action. These moves need to be set against the background of the Post Office Act, 1953, sections 58 (1) and 68, and the Telegraph Act, 1863, section 45, which together make it a criminal offence wilfully to detain or delay the transmission of postal packets or messages as well as to solicit or proeure any other person to commit such an offence. At this date no crime had been committed; there was only the threat of a crime. Mr. Gouriet, as a member of the public, applied to the Attorney-General on the 14th asking the latter to apply by way of relator proceedings for an injunction to stop the boycott. (According to English law, in a matter affecting public rights, where an individual's own interests are not in jeopardy, it is the Attorney-General who has to act "on the relation" of some 1 The original Marxist prediction that law will "wither away" and be replaced by an "administration of things" is not now talked about by contemporary Marxists. 1 Gauriet v. Union of Post Office Workers, [1977] 2 Weekly Law Reports, 310 (Court of Appeal); [1977] 3 Weekly Law Reports, 300 (House of. Lords). Hereafter these reports will be cited as W. L. R.
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private person.) The Attorney-General refused, "having considered", as he put it, "all the circumstances including the public interest"; whereupon Mr. Gouriet applied for an injunction in his own name. The trial judge refused to make an order. The Court of Appeal at a special sitting issued an interim injunction the day before the start of the boycott, which in the event did not take place. At the resumed hearing a few days later the proceedings in the Court of Appeal became extremely tangled because of amendments to the pleadings, but the upshotwas that the Courtheld by a majority (a) that it had no power to review the Attorney-General's discretion to refuse, (b) that the plaintiff was not entitled to permanent injunctions against the unions, but (c) it held unanimously that he was entitled to declarations that the proposed actions by the unions were illegal and to a declaration against the Attorney-General that, notwithstanding the latter's refusal to act, he was entitled to seek declarations against the unions, and also that temporary injunctions should be granted until those declarations were finally resolved. These injunctions were immediately discharged in view of the calling off of the boycott. All the parties then appealed to the House of Lords, the highest tribunal in the land, and before that body the issue narrowed itself to the simple question whether Mr. Gouriet was entitled on the basis of a general public interest in the upholding of the law (as distinct from a private interest of his own) to take steps to prevent a threatened breach of it in spite of the AttorneyGeneral's refusal to act on behalf of the public. The House decided that he was not so entitled. In effect, then, what happened was that the chief Law Officer of the Crown refused to invoke the law to prevent a criminal offence organised on a national scale by trade unions in defiance even of Parliament, and a law-abiding citizen had to stand powerless. If it is feit that this statement is startlingly phrased, it ·should be asked how eise the plain facts could be put. The wider import of this affair, not its legal technicalities, are the concern of this paper. British society has traditionally been ruled by certain hallowed legal deities; and if they are deposed, it will be the end of the society in its present form. The Gauriet affair shows that four of those gods may now be moving into their twilight, namely, freedom of the subject, the rule of law, judicial independence, and the authority of Parliament.
Freedom of the subject Superficially it would seem that Gauriet vindicated the freedom of action by trade unions, but this triumph should be seen in the context of the exercise of freedom generally. The danger of its abuse poses a
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more insidious problern than the abuse of power, because mere power, whether in the form of legislative capacity, industrial action, or crude muscle, is inert in itself. It is the exercise of power that matters. Therefore, one aspect of the problern of freedom is that behind power lies the freedom of power-holders to exercise it or not, so the heart of the matter is the abusive exercise of this freedom, not simply power. The freedom of trade unions to strike, for example, can cripple an industry and even the country. The freedom to boycott asserted by UPOW and POEU, while in no sense crippling, was intended nonetheless to cause public inconvenience. There would have been no point in it otherwise. Another aspect of freedom is that even where law does step in and prohibits freedom of action by imposing a duty not to exercise it, individuals still have the inner moral freedom to obey that law or not, a point which was highlighted by the decisions of UPOW and POEU to defy the prohibitions laid down by Parliament. With regard to freedom to exercise power abusively, it is necessary at the outset to grasp the ambiguity inherent in the word "freedom". "Freedom from", in the sense of immunity from power, must be distinguished from "freedom to", in the sense of liberty to act as one pleases. Failure to appreciate this has led proponents of freedom from power to assume that this implies that they have also the freedom to behave as they please. John Stuart Mill, the 19th century English libertarian, was quite clear that "The principle of freedom cannot require that [a man] should be free not to be free. It is not freedom to be allowed to alienate his freedom". 3 Neither is freedom to abuse freedom the road to freedom; it is rather the road to a return to power and the end of freedom. Unlimited freedom of action results in anarchy, which sooner or later prompts people who have grown weary of chaos to call for power to restore order. That order is inevitably at the price of freedom. For, no matter how laudable the intentions of the new power-holders may be, the controls, which they introduce, dare not be relaxed lest the forces of disruption take over; and with the passage of time as reaction to themselves begins to set in they have to increase their controls. This is what is implied when it is said that power corrupts and absolute power corrupts absolutely. 4 Not that power-holders are inherently evil; they get caught in the toils of power. It is in this way that the tyranny of those asserting freedom from tyranny becomes as bad, if not worse, and the seeds of the death of freedom are sown in the bed of freedom itself.5 3 Utilitarianism, Liberty and Representative Govemment (Everyman Library, 1962), p. 158. 4 Montesquieu, L'Esprit des Lois (1748), 11, 4-6.
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Gouriet spotlights the freedom allowed to the unions to display their industrial power by interrupting a public service. For the AttorneyGeneral to refuse to take action in the face of this on policy grounds, and for the courts to prevent anyone else from doing so either, simply clears the stage for other and even more drastic exhibitions of strength. The more powerful the union, the more impolitic it will be to interfere. The possibility of ultimate chaos through interferences with vital services if Gouriet were to be copied is clear. If such a state of affairs were to ensue, the only way out would be through a firm powerstructure, which will mean the end of the road for freedom of industrial action by unions and many other freedoms as weil. With regard to the second aspect of freedom, namely freedom to disobey laws, one line of defence is to argue that the law in question is not "law" because it is "immoral", or "disused", which is only a cloak for covering the fact that it militates against some cherished principle of the dissidents. 8 In the Gauriet affair the Ieader of UPOW, Mr. Tom J ackson, toyed with a similar argument, but no one apart from him ever doubted the validity of the legislation involved7• 5 The history of this makes melancholy reading. Greek democracy was wrecked by the uncontrollable Athenian mobs and led Plato and Aristotle into preaching for a power-structure and agaiilst the evils of unlimited freedom. The chaos of the Dark ·Ages was succeeded by a power-structure of sorts in the Holy Roman Empire. Freedom from this in turn was won by national Sovereigns, who then claimed unlimited freedom of action in their mutual dealings and at the same time began to abuse their domestic power over their subjects. The abuse of freedom of action among themselves led, e. g., to the Thirty Years War, which prompted Grotius and others to call for an international power-structure; we are still calling for one. The abuse of internal power provoked revolutionary movements for freedom from power, e. g., the British Revolution of 1688 and the French Revolution. The freedom from power won by the French revolutionaries was immediately construed as unlimited freedom of action, the end result of which was a return to power under Napoleon. In the present century the power-structure of Imperial Germany was replaced by the permissive Weimar Republic, which brought the country to near-anarchy from which it was pulled back by the power-structure of Hitler, and which in turn ended in World War II. The Russian revolution for freedom from Tsarist power has ended in the establishment of one of the most ruthless power-structures yet seen. In 1977 in Pakistan the chaos into which political factions plunged the country after allegedly rigged elections was halted on July 5 by a military power-structure, which nevertheless promised elections on October 18 and a return to democratic government; On October 1 elections were postponed indefinitely in view of continuing unrest. So we keep spiralling round from abuse of power to freedom from power, and then from abuse of freedom of actionback to a fresh form of power. 8 The "Clay Cross affair" is one example. Eleven councillors of the Clay Cross Urban District Council refused to implement the Housing Finance Act, 1972, on the ground that it ·was contrary to socialist principles, but they sought at one stage to contend that the Act was not "law" because it was "immoral". See Asher and Others v. Lacey, [1973] 1 W. L. R. 1412.
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The basis of obedience to law is a much-debated issue and too large to be explored here. 8 One basis, which is revived in one form or another, is consent. This being so, the argument runs, once consent to a law is withdrawn, it ceases to bind. This approach, it is submitted, obscures the issue. No one is ever asked if he or she consents to laws, which are treated as binding per se. The point might be better made by asking whether refusal to be bound can make laws cease to apply. Such refusal is likely to encounter the force of the state; which makes talk of consent rather futile. The real question is when it is justifiable to challenge the power of the state and when it is justifiable for the latter to use its power. Such challenge, if offered at all, should be offered responsibly, and the answer to the question: within what Iimits may one do so?, must remain a matter of opinion. Many suggestions have been made, but one consideration upon which writers are agreed is that disobedience should stop short of inflicting violence or hardship on the innocent; otherwise it is irresponsible and an abuse of freedom. "Hardship" includes breakdown of social existence, social services or undue expenditure in avoiding or mitigating the effects of the disobedience. 11 Judged by this canon, the proposed action by UPOW and POEU would have exceeded the Iimit of permissible disobedience, for it was organised defiance of a statutory law on a national scale in protest against the policy, not even of their own country, but of a foreign power, and it was calculated to inflict hardship on people in their own country who were in no way concerned with, or involved in, that policy. The Gouriet decision did nothing to discourage such an abuse of freedom. Freedom with responsibility should be the ideal; without it freedom can be destructive. A sense of responsibility is now on the ebb. One reason is the prominence accorded to rights all the time to the exclusion of duties. 10 Along with the emergence of pressure groups, political and 7 For comment on Mr. Jackson's statementby Lord Wilberforce, see [1977] 3 W. L. R. at p. 308. 8 See, e. g., M. Walzer, Obligations: Essays on Disobedience, War and Citizenship (Oxford University Press, 1970), Part I; Is Law Dead? (ed. E. V. Rostow, Sirnon & Schuster, New York, 1971); J. Rawls, A Theory of Justice (Clarendon Press, 1972), pp; 350- 391; P. Singer, Democracy and Disobedience (Clarendon Press, 1973); R. M. Dworkin, Taking Rights Seriously (Duckworth, 1977), chaps. 7 et seq. • For reff. see last note. For other Iimits and a short discussion of disobedience generally, see my Jurisprudence (4th ed., Butterworths, 1976), pp. 428-434. 10 This may be one of the more unfortunate products of the otherwise beneficial institution of the welfare state. Human nature finds it irksome to have to feel grateful and indebted for favours. The welfare state provides benefits undreamed of fifty years ago, but the psychological reaction is to persuade oneself that there is no call for gratitude in all this since such
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social, in an increasingly permissive society, this emphasis on rights Ieads to the view that a minority need not submit to the majority. Democracy was originally a method of curbing abuse of power by a tyrant by vesting it in majority decision. Such a system can only work as long as there is at least a willingness to "play the game" according to the rule of accepting such decisions. When insistence on rights reaches the point at which minorities refuse to do so, democratic government becomes unworkable. In that perspective democracy appears tobe only an intermediatestage in a march from tyranny to anarchy. What proponents of freedom fail to perceive is that theirs is essentially a negative attitude. Freedom to do or not to do something connotes absence of duty not to do or to do it. 11 They tend to be more obsessed with abolishing restraints on action, which is negative, rather than with the nature of the actions themselves, and some even take refuge in the slogan, "the end justifies the means". 12 Law serves society; a more positive attitude would be to start with obligations to society and to work outwards from these to freedoms. Regrettably, trade unions do appear to contribute to this growing insistence on rights and decline of a sense of social responsibility. It would be unfair to accuse them of a Iack of such sense, but the factisthat by and large they do convey an image, which cases like Gouriet do nothing to dispel. The thesis being advanced is that freedom of the subject is ultimately imperilled by indulging the kind of freedom of action that was threatened here, for once that god is dethroned, others are likely to fall in its wake.
benefits are due "as of right" and to feel aggrieved that yet more benefits are not forthcoming. Further, the welfare state aims to satisfy "basic needs". The term "basic" implies that above this minimum some people continue to enjoy additional amenities. Those who do not enjoy these then start to urge that they also are "basic needs" and due to them "as of right". Cf. A. M. Honore: "What is at one time a luxury becomes at another time a necessity and need": "Social Justice" in Essays in Legal Philosophy (ed. R. S. Summers, Basil Blackwell, 1968), p. 78. Trade unions, too, have contributed largely by their insistence on workers' rights rather than their duties. 11 For this distinction, see J. Bentham, Of Laws in General (ed. H. L. A. Hart, The Athlone Press, 1970), pp. 95 et seq.; W. N. Hohfeld, Fundamental Legal Conceptions as Applied in Judicial Reasoning (ed. W. W. Cook, Yale University Press, 1923), chap. 1. 12 It is questionable whether industrial action calculated to hit the uninvolved public is a legitimate means of seeking redress of grievances, however genuine. Those who do this nearly always cast responsibility for what they do away from themselves and on to the other side for not giving in to them. Hijackers behave in much the same way, and they are as convinced of the justice of their demands as militant striker~.
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The rule of law The expression "rule of law", which carries most powerful emotive overtones, was introduced by Professor A. V. Dicey late in the last century. 13 His rather special meaning is no Ionger accepted, so for the purposes of this paper the phrase will be used, first, in contrast to "rule by law" and, secondly, in its more obvious sense of upholding law and order. The impact of Gauriet on each will be cansidered in turn. "Rule by law" cannotes a pawer-structure, which uses law as an instrument for effectuating the politics of power; "rule af law" connotes freedom from abuse of power by using law to curb its excesses. It was argued in the preceding section that abuse of freedom could reach proportians when only overwhelming power will stem anarchy and restore order. The problern of how to prevent the abuse of power by governments as a whole falls outside this paper. Gauriet witnessed a more limited attempt to control what seemed to be a misuse of power. The threat to the "rule of law" lay in the Attorney-General's reliance on "discretion" to justify his refusal to invoke the law. There is no need to inquire into the precise nature of this discretion. 14 The AttorneyGeneral contended that it was absolute and he was upheld by the House of Lords and the majority in the Court of Appeal. Only Lord Denning in the lower Court was prepared to hold that it is indirectly reviewable at the instance of a private individual seeking an injunction and a declaration. His view did not prevail, and if the law is indeed otherwise, so be it; but so much the worse for the "rule of law". Many unfortunate results are rooted in obsession with a mere word as if it were some incantation. "Discretian" is particularly misleading in this connection. The word "cat" covers a domestic tabby and a tiger, but for the purpose of sleeping in the same room as one it would be suicidal to ignore the difference. Some other Iabel, such as "pet", would dissolve that problem, though in some other context this might be equally inappropriate. So, too, it is one thing not to take action in cases involving isolated individuals and particular occasions; it is quite another when the proposed breach of the law is a criminal offence organised nationally andin defiance of an Act of Parliament, involves and affects innumerable individuals and interferes with a public service. The difference between the two situations is greater than that between a cat 13 Introduction to the Study of the Law of the Constitution (ed. E. C. S. Wade, Macmillan & Co., Ltd., 1939), pp. 188- 203. 1' See J. Ll. J. Edwards, The Law Officers of the Crown (Sweet & Maxwell, Ltd., 1964, reprinted 1977); G. L. Witliams, "The Power to Prosecute" [1955] Criminal Law Review, 668; Elwyn Jones, "The Office of the Attorney-General" (1969) 27 Cambridge Law Journal, 50; B. M. Dickens, "The AttorneyGeneral's Consent to Prosecution" (1972) 35 Modern Law Review, 34.
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and a tiger, and only the ward "discretion" masks what is a difference in kind, not merely in degree. In the Gauriet context, therefore, for the Iaw to group both under that Iabel may well prove suicidal. The point isthat the Attorney-General's refusal as a matter of discretion to move in the face of a proposed violation of the law on this scale on a highly charged political issue is to treat law as an instrument of politics "rule by law", where law is used or not as a matter of political expediency.u Not that courts should be hostile to executive discretion as such. When it is used to uphold the "rule of law" the courts should support it, and rightly so. Thus, in the Clay Cross affair, already alluded to, 18 eleven local councillors refused to implement an Act of Parliament, for which they incurred a surcharge. The Minister in his discretion ordered that an extraordinary audit be held, and the Court of Appeal upheld the validity of his orderP An important safeguard against abuse of power is that no exercise of power should lie outside independent scrutiny. If absolute discretion there has to be in law in such a situation as Gouriet, then it would be reasonable to expect it tobe exercised by one who is at least politically neutral rather than by one who, like the Attorney-General, is appointed from the political party in power and who described hirnself as a "political animal" accountable only to Parliament (the Hause of Commons). Scrutiny by the House of Commons is not independent. It votes along Party lines, especially on political issues, and the AttorneyGeneral, as a member of the government, has a built-in majority behind him. His discretion evolved in days gone by when members of Parliament could be trusted to exercise independent judgment. Since then the development of the organised Party system has changed the character of Parliament in such a way that on political issues it is highly unlikely to act as an independent control. In this situation Lord Denning's attempt to introduce even some measure of independent control through the courts merited more support than it received. 15 Lord Denning saw the point when he said, "This is, to my mind, a direct challenge to the rule of law": [1977] 2 W. L. R. at p. 328. te Ante, n. 6. 17 Asher and Others v. Secretary of State for the Environment and Another, [1974] Chancery, 208, at p. 221: "Each of them deliberately broke the solemn promise which he gave when he accepted office. Each of them has flagrantly defied the law. Each of them is determined to continue to defy it. Yet they come to the Court and complain that the Secretary of State has acted unlawfully. If he has done so, we would not hesitate to say so. We will not talerate any abuse of power by the executive arm of government. But here there is none. These 11 councillors, by their conduct, have presented a grave problern to all concerned in the good government of this country. The Secretary of State is the one person who can take action to see that the law is obeyed. He is the one to decide which of several courses open is the best one to take. So lang as he acts in good faith, his decision is not to be questioned": per Lord Denning.
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The effect of Gauriet on the other meaning of "rule of law" as the upholding of law and order is clear. Generally speaking, a decision not to uphold a law is damaging at any time. The likely effects may briefly be summarised as follows: (i) it discourages the law-abiding, who may even start taking the law into their own hands; (ii) it discourages those who have to enforce laws, which would erode the whole basis of lawenforcement; (iii) it destroys the sense of doing something illegal when one goes against the law, and which casts the onus on the dissident to justify his action; (iv) it may darnage a country's prospects and esteem internationally; 18 (v) it impairs the basis of dependability on which people arrange their affairs; (vi) it impairs the educative function of law, which works through the psychological reaction of ridding oneself of the fear of punishment by creating a desire to conform; 18 (vii) it reduces the pressure towards conformity exerted by the fact of obedience by other people as soon as even one person is allowed to disobey; (viii) it estops the authorities from trying to uphold the law on the next occasion when a breach of it is threatened; and (ix) it is not true that dissidents may be won over by not invoking a law which stands in their way; they will find some other law on which to hang their grievances. These nine points have been set out because Gauriet struck blows of varying severity at each of them.
Judicial independence No direct attack was launched on this ancient god of the law. Gunfire was audible, so to speak. In order to explain this, it is necessary to begin with a truism, namely that the judicial process is not one of mechanical reasoning. Rules do not of themselves decide disputes. Their structure, the fluidity of the meaning of words at their fringes and the possibility of making different statements to describe the same factsituation combine to allow leeways to judges as to how they state, interpret and apply rules to facts. It is also commonplace that in this task they are guided by their sense of values according to which they balance the interests in dispute. 18 E. g., the I. M. F., which loaned a vast sum to Britain to help her economy, was watehing the government's handling of trade unions. 11 R. D. Schwarz and S. Orleans: "The threat of sanction can deter people from violating the law, perhaps in important part by inducing a moralistic attitude towards compliance": "On Legal Sanctions" (1966- 67) 34 University of Chicago Law Review, p. 300; Aristotle: "Legislators make citizens good by forming their habits": Nicomachaean Ethics, II, 1.5. See also K. Olivecrona, Law as Fact (Humphrey Milford, 1939), pp. 147- 148; (2nd ed. Stevens & Sons, Ltd., 1971), pp. 271 - 273..
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This brief explanation makes it possible to relate judicial independence to the "rule by law" /"rule of law" dichotomy. Where "rule by law" obtains, the judiciary is a tool of government and judges are required to reflect and implement official policies and interests. Where "rule of law" obtains, judges are free to decide on values of their own, and the check on power derives from their being in a position to hold governmental interests in balance against others. It is in this way that the British judiciary has built up its tradition of independence over centuries. By and large the judges have contrived to preserve as much balance of power in society as they could by siding with the weaker side whenever the balance tilted against it. Thus, during the constitutional struggles of the 17th century they championed the individual against the overmighty monarch. They have sided with the worker against the overmighty employer when the latter sought to utilise his unequal bargaining position in order to drive harsh and unconscionable bargains. Trade unions evolved independently to redress this inquality. The attitude of the judiciary toward~ them has been equivocal, but this has been due largely to the fact that trade unions, too, are capable of wielding power in oppressive as wen as beneficial ways. This is why courts have intervened to protect individual workers against oppression by overmighty unions. In Gouriet the courts were asked for the first time to intervene to protect the public against union power. In the end they refused. Perhaps, it is a matter of regret that they declined to pursue their historic mission. Lord Denning alone showed how it might still have been pursued; but he got no support. In so far, then, as the ultimate decision allowed uncontroned freedom of action to the trade unions, it could wen facilitate more widespread industrial action resulting in economic and social chaos, which could in turn Iead to areturn to absolute power. So the decision can be seen as a sman and unintended step towards an eventual "rule by law" under which judicial independence, inter alia, will disappear. A different threat could be to the jurisdiction of the courts rather than to their independence, namely, the removal of political and other sensitive areas from courts altogether and having these dealt with administratively. 20 Such a move will only reduce the problem, since no one can foresee when a dispute will be likely to produce political and controversial implications. The only way to ensure that such matters will always be decided according to government wishes is by abolishing judicial independence. 2
° Cf. F. Engels's "administration of things", i. e., rule by law.
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A side wind did blow up after the Court of Appeal's decision in the form of an attack by a Minister, Mr. Michael Foot, M. P., alleging judicial prejudice generally against trade unions, which provoked a spirited newspaper debate. 21 The point appears to be that since the element of discretion involved in the judicial process leaves room for the play of value-judgments, the judges, who are said to be drawn exclusively from a certain social stratum, tend only to reflect its values, which in the main are hostile to unions. The charge is not new; it is resurrected each time an unpalatable decision is given. Judges are an easy target, since it is not in keeping with their office to reply. The answer in broad terms is that their value-judgments are formed as objectively as possible, which is more than just an empty statement. There is a difference between deciding according to one's personal likes and dislikes and deciding according to one's assessment of current values. 22 A subjective element is indeed unavoidable, and this is connoted by the words "as objectively as possible" and "one's assessment". It is part of the very nature of the judicial process. The main thrust of the objection is not so much that judges are consciously prejudiced, but that their class background and upbringing exert a subconscious influence. The point that seems to be overlooked, however, is that several other, no less important, subconscious pressures go far towards counteracting it. First, there is role pressure. A role is a role because it attracts to itself certain obligations regarding behaviour, i. e., the role-bearer ·has to conform to the traditions of the office. This is why fire-brands get tamed when they assume office. The judicial role, with the weight of centuries behind it and its great social responsibility, carries subconscious pressure towards conformity with its standards of objectivity and impersonality. Secondly, one of the most influential values in the judicial process is fidelity to principle and doctrine. Even if a judge were to have strong conscious or· subconscious feelings about an issue, he is constrained to exercise such discretion as he may have in an objectively justifiable and publicly acceptable way 21 The Times, May J.-A. G. Griffith, The
15, 1977, and the following days. A recent attack by Politics of the Judiciary (Fontana, 1977), was published after this paper had gone to press. 22 A British judge, Lord Justice Slesser, said: "Yet, evenhere, it is suggested that the Judge should apply, not his own private opinions, but an objective test. The customary prevailing moral habits and assumptions of the good citizen should be his criterion, not his own personal preferences": The Art of Judgment (Stevens & Sons, Ltd., 1962), pp. 32 - 33. An American judge, Mr. Justice Frankfurter, said the same: "lt is not the duty of judges to express their personal attitudes on such issues, deep as their individual convictions may be. The opposite is the truth: it is their duty not to act on merely personal views": "Marshall and the Judicial Decision" (1955) 69 Harvard Law Review, 228. 7 Festschrift für Helmut Schelsky
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by adhering to principle and doctrine. This value is a considerable brake on prejudice and caprice. Thirdly, British judges serve their apprenticeship at the Bar, which imparts an unique training in depersonalised thinking in that the barrister has learned how to throw the whole weight of his expertise and personality into his client's case, regardless of his personal views, arguing in keeping with his own sympathies in one case and against them in the next. Finally, the awareness of the danger of this subconscious influence of class and background is itself a minimising factor. British judges have long been aware of it. Indeed, a remark of Lord Justice Scrutton in 1921, which critics of the judiciary are fond of quoting, is for this reason not as weighty in their favour as they suppose. 2 a The decisive consideration is, of course, the evidence of judicial prejudice. The Attorney-General declined to give reasons to the court for not intervening in the Gauriet affair, saying that he was answerable only to Parliament. In the absence of evidence, it is impermissible to impute motives to him. Equally, then, it should be impermissible to impute motives of prejudice to judges unless there is evidence; and this becomes the battleground of dispute. To analyse the case-law in detail will need a treatise, but any reliable work on labour law will show that judges have not been anti-union in their approach. They have supported unions, except when their power has been abused. The crux of the matter is who should decide what constitutes "abuse". This has to be done by an independent body, obviously not unions themselves; and no one would have doubted the suitability of the courts were it not for this unsubstantiated charge of prejudice. It is perhaps sufficient here to refer to the work of two left-wing scholars, who examined this very area of industrial disputes and felt driven to conclude: "Clearly there was less statistical evidence of the influence of judicial bias than might a priori have been expected." 24 Reported decisions by no means depict the whole picture. Court records will show that a great many decisions are pro-union. These are not reported because they do not evoke protest; it is only anti-union decisions that get taken on appeal and spark off publicity. An illustra23 "Labour says: 'Where are your impartial Judges? They all move in the same circle as the employers, and they are all educated and nursed in the same ideas as the employers. How can a labour man .or a trade union get impartial justice?' It is very difficult sometimes to be sure that you have put yourself into a thoroughly impartial position between two disputants, one of your own class and one not of your class": "The Work of the Commercial Court" (1921) 1 Cambridge Law Journal, p. 8. 24 P. O.'Higgins and M. Partington, "Industrial Conflict: Judicial Attitudes" (1969) 32 Modern Law Review, 53. Their a priori expectation of bias has peculiar significance.
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tion of this point will be found in an article by the President of the ill-starred lndustrial Court, so bitterly resented by trade unions, in which he gave statistical evidence of the overwhelming number of cases before that court in which there was judicial and union accord. 25 Mr. Foot's allegation was made after the Court of Appeal decision adverse to the Attorney-General and the unions. The House of Lords reversed it. Is it, then, only the Court of Appeal that is prejudiced? With regard to the House of Lords, either there is no prejudice there, or else their Lordships must have succumbed to trade union power. One or the other it must be. If it is the former, the critics would do well to admit that their charge is largely illusory; if it is the latter, they would be making the overall point of this paper better than I can. They cannot have it both ways. Much of this criticism stems from a failure to appreciate the traditional role of the judiciary of always throwing in their weight against any abuse of power, particularly in order to protect the individual. This is not prejudic,:e, but an aspect of what Aristotle called "distributive justice", preserving "equal distribution among equals". 26 Trade unions understandably object to their power and freedom being questioned, and they call for more "collectivist thinking" on the part of judges. If this means that judges should always give more weight to union interests than to individual and other interests, it is only a demand for thinking in terms of a different class interest, namely, trade unions. A :rnore acceptable interpretation of "collectivist thinking" would be thinking in terms of society, of duties towards society, rather than of rights. On this view there is much to be said for calling on judges, and indeed alllawyers, to familiarise themselves with the kind of thinking that the relatively new welfare societies require. Lord Scarman has pointed out that traditionally the task of judges has been seen as one of deciding which of two disputants is in the right or in the wrong - applying Aristotle's "corrective justice". Welfare problems, on the other hand, concern parties all of whom are more or less in the right, which makes the task of resolving them one of "distributive justice". The courts have traditionally been used to dealing with individuals, they should now learn to deal with the mass. They are likely to fail even in the task of protecting the individual, who gets caught up in welfare problems, unless "collectivist thinking" in this sense is understood and brought to bear. All this, however, is quite different from prejudice for or against trade unions. 25 J. Donaldson, "Lessons from the Industrial Court" (1975) 91 Law Quarterly Review, 181. 2e Nicomachaean Ethics, V.
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The question of judicial prejudice has been considered at some length because, no matter how unfounded that charge may be, the fact that it is made is a threat to judicial independence. Gauriet only fanned the embers which have glowed on and off for years.
The authority of Parliament
Gauriet uncovers a distinction which has hitherto largely been overlooked, namely that between "sovereign competence" and "sovereign authority". The "sovereignty of Parliament" usually means the former in the sense of legislative omnicompetence: within its territorial jurisdiction nothing is beyond Parliament's power to regulate and no court can declare a statute void. (Some are prepared to maintain that this is so even with regard to statutes contrary to regulations and decisions of the European Economic Community). Such considerations relate to the validity of legislation. "Sovereign authority", on the other hand, pertains to respect for the authority of Parliament, which induces obedience to its enactments. The distinction between the two ideas may be seen in the fact that an enactment may be legally valid, but command no respect and obedience. Gauriet is an example of disrespect to the "authority of Parliament". Admittedly the disobedience was only threatened, and the fact that the Attorney-General refused to take steps in advance does not, strictly speaking, affect the illegality of the action. From a popular point of view, however, appearances could be otherwise. A perfectly normal reaction would be to say that since it has been publicly announced that no steps will be taken, the action is no Ionger illegal, or not so as to matter. What is legal and illegal, or what matters, thus appears to rest on executive discretion and not on what Parliament has said. Again, more seriously, even if the proposed action is acknowledged by the would-be actors to be illegal, their reaction and that of others might weil be that as long as one is strong enough to defy the law, legality and illegality are irrelevant. In both these ways Gauriet can be said to undermine the "authority of Parliament". On the other hand, a different possibility points in the contrary direction of "rule by law" (which demands respect for legislative authority). Sensitivity about diminishing the authority of Parliament in this case may shame the authorities into a more ruthless enforcement of other laws so as to show that they do care about upholding the law and the authority of Parliament. If there were to be this reaction, it would pave the way towards eventual "rule by law", especially if those for whose benefit the law was ignored assume power.
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Gouriet, be it noted, did not touch on the legislative competence of Parliament. If a power-structure and "rule by law" were to come, then no Iimits on legislative competence could possibly be tolerated. This may be why those who most stoutly supported the unions' defiance of the authority of Parliament are also those who in other ways strive to ensure that Parliament's legislative competence remains unimpaired, e. g., by trying to pull Britain out of the Common Market with its possible limitations on Parliament's competence. Their attitude is not contradictory; the consistent thread underlying it is their eventual hope of establishing a "rule by law". A short paper, such as this, which tries to gauge the far-reaching effects of a single happening, can only point out the broad currents of development, some of which are more likely than others. It cannot take account of the multitude of cross-currents and eddies produced by all kinds of factors, any of which could entirely deflect the course of events. It may indeed be that countervailing forces are even now at work behind the scenes; and if they are, it is better that they remain so. However, the dangers to which I have tried to draw attention are there and they are real; but there is nothing I would welcome more than to find that I have been wrong.
Zur Theoriebildung in der Jurisprudenz Von Ralf Dreier
An Theorien in der Jurisprudenz herrscht kein Mangel; im Gegenteil. Durchmustert man das juristische Schrifttum auf die Verwendung des Ausdrucks "Theorie", so hat man einen ausgesprochenen Theorienreichtum zu konstatieren. Freilich fragt sich, ob alle diese sogenannten "Theorien" ihren Namen verdienen - dies besonders dann, wenn man sie mit Theorien in anderen Disziplinen, vor allem in den Naturwissenschaften, vergleicht. Das ist offenkundig eine Frage des Theoriebegriffs. Ihre Beantwortung fällt indessen schwer, weil es Untersuchungen zum Theoriebegriff in der Jurisprudenz kaum gibt!. Ein Beleg für dieses auffällige Mißverhältnis zwischen Wortwendung und Begriffsklärung ist der negative Stichwortbefund in den Sachregistern der meisten Lehrbücher und Gesamtdarstellungen der juristischen Methodenlehre und der allgemeinen Rechtstheorie2 • Das mag sich daraus erklären, daß der juristische Theoriebegriff kein spezifisches Problem darstellt oder die mit ihm verbundenen Probleme unter anderen Titeln abgehandelt werden. Es kann aber auch sein, daß jenes Mißverhältnis ein Defizit an "Metatheorie" anzeigt, d. h. eine Vernachlässigung der Theorie der juristischen Theoriebildung und mithin zugleich der Theorie der Jurisprudenz und insbesondere der juristischen Dogmatik überhaupt. 1 Ausnahmen, die freilich durchweg knapp und kursorisch bleiben, bilden H. L. A. Hart, Definition and Theory in Jurisprudence. An Inaugural Lecture, Oxford 1953; H. Wagner, Die Theorie in der Rechtswissenschaft, JuS 1963, 457- 465; K. Haag, Versuch einer Beschreibung der wissenschaftlichen Theoriebildung mittels der mathematischen Informationstheorie, ARSP 54 (1968), 351- 374; A. Podlech, Rechtstheoretische Bedingungen einer Methodenlehre der juristischen Dogmatik, JbRSozRTh 2 (1972), 491 - 502; W. Krawietz, Juristische Entscheidung und wissenschaftliche Erkenntnis, Wien I New York 1978, 211 ff. Vgl. auch R. Dubischar, Vorstudium zur Rechtswissenschaft. Eine Einführung in die juristische Theorie und Methode anband von Texten, Stuttgart I Berlin I Köln I Mainz 1974, 9 ff. Der vom Titel her mißverständliche Aufsatz von H. J. Wolff, Juristische Theorie und Praxis, JZ 1951, 585 - 589, befaßt sich nicht mit der juristischen Theoriebildung, sondern mit dem Verhältnis von Theorie und Praxis in der Juristenausbildung. 1 Vgl. dazu die repräsentativen Werke von K. Larenz, Juristische Methodenlehre, 3. Aufl., Berlin I Heidelberg I New York 1975, und H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960 (Neudruck 1967).
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Diesem Fragenkreis soll im folgenden, zumindest in einigen Aspekten, nachgegangen werden. Dazu empfiehlt es sich zunächst, sich einen Überblick über den Phänomenbereich "Theorien in der Jurisprudenz" zu verschaffen (1.). Daran schließen sich einige allgemeinere Bemerkungen zum Theoriebegriff (II.). Es folgen Überlegungen zur Theoriebildung in der Rechtsdogmatik (III.) sowie wenige abschließende Notizen zur Theoriebildung in der Rechtstheorie (IV.). I. Überblick 1. Der Ausdruck "Jurisprudenz" wird im deutschen Sprachgebrauch in der Regel, wenngleich nicht unbestritten, in einem weiten Sinne verwendet, der sowohl die Rechtswissenschaft als auch die Rechtspraxis, und zwar die richterliche wie die rechtsberatende, umfaßt3 • Im Mittelpunkt der so verstandenen Jurisprudenz steht traditionell die Tätigkeit des Richters, eine Tätigkeit, die durch die Aufgabe definiert ist, Lebenssachverhalte unter Rechtsnormen zu subsumieren. Man pflegt die logische Struktur dieser Tätigkeit als Justizsyllogismus zu bezeichnen, und es besteht Einigkeit darüber, daß das Problem dieses Syllogismus weniger in der Subsumtion als solcher als vielmehr in der konkretisierenden Ermittlung seiner Prämissen besteht, d. h. der anzuwendenden Rechtsnorm als des Obersatzes einerseits und des zu subsumierenden Sachverhalts als des Untersatzes andererseits.
Es braucht an dieser Stelle nicht dargelegt zu werden, daß sich beide Arbeitsvorgänge, die Beantwortung der Tatfrage (quid facti) und die Beantwortung der Rechtsfrage (quid iuris), nicht streng voneinander trennen lassen, daß vielmehr der Sachverhalt im Blick auf die Norm und die Norm im Blick auf den Sachverhalt konkretisiert bzw. konstituiert werden4 • Karl Engisch hat dafür die einprägsame und seither vielfach aufgenommene Formel vom "Hin- und Herwandern des Blicks" geprägt 5• Es muß. und kann hier darauf verzichtet werden, die Struktur des Vorgangs, der durch diese Formel veranschaulicht wird, genauer zu analysieren8 • Geht man mit dieser Einschränkung und 3 Eine abweichende Wortverwendung schlägt 0. Ballweg, Rechtswissenschaft und Jurisprudenz, Basel1970, 7 ff., 96 ff., vor. 4 Dazu z. B. K. Larenz (oben Fn. 2) 262 ff.; s. a. J. Hruschka, Die Konstitution des Rechtsfalls, Berlin 1965. 5 K. Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung (1942), 2. Aufl., Heidelberg 1960, 15; s. a. M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl., Berlin 1976, 197 ff., 203 ff. 8 Dazu z. B. R. Alexy, Die Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Argumentation, Diss. Göttingen 1976, 259 ff. (diese hier nach dem Manuskript zitierte Arbeit erscheint demnächst unter dem Titel "Theorie der juristischen Argumentation" im Verlag Suhrkamp, Frankfurt/M.; z. z. im Druck).
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trotz jener Wechselbezüglichkeit von der Differenz zwischen Sachverhalt- und Normermittlung aus, so liegt es nahe, zwei Gruppen von Theorien in der Jurisprudenz zu unterscheiden, erstens solche, die der Beantwortung der Tatfrage, und zweitens solche, die der Beantwortung der Rechtsfrage dienen. Diese Unterscheidung läßt sich in der Tat treffen. Sie läßt sich aber wegen der genannten Wechselwirkung nicht streng durchführen; dies schon deshalb nicht, weil Theorien in bezug auf Tatbestandsmerkmale eines Rechtssatzes, etwa des Merkmals "Wegnahme" in § 242 StGB, sowohl als Theorien der Norminterpretation als auch als Theorien der Sachverhaltskonstitution fungieren können. Allerdings gibt es Theorien in bezug auf Sachverhalte, die nicht primär norminterpretative Funktion haben. Es sind dies z. B. nachbarwissenschaftliche (medizinische, psychologische, chemische, physikalische usw.) Theorien, deren sich der Richter in Beweisverfahren regelmäßig unter Beiziehung eines Sachverständigen bedient, oder die sogenannten "Alltagstheorien", d. h. wissenschaftlich ungeprüfte Annahmen über die Realität, die die richterliche Sachverhaltsermittlung teils bewußt, teils unbewußt steuern7 • Es dürfte indessen deutlich sein, daß es sich bei beiden, den nachbarwissenschaftlichen wie den Alltagstheorien, zwar um juristisch relevante, nicht aber um juristische Theorien im eigentlichen Sinne handelt. Hinzuzufügen wäre, daß es kaum eine außerjuristische Theorie geben dürfte, die nicht unter irgendeinem Aspekt in irgendeinem Sachverhalt juristisch relevant werden könnte. Die im angesprochenen Sinne juristisch relevanten Theorien sollen im folgenden außer Betracht bleiben. Daß die Grenze zwischen ihnen und den im engeren Sinne juristischen Theorien fließend ist, wurde schon erwähnt. Im vorliegenden Zusammenhang empfiehlt es sich, die Betrachtung auf juristische Theorien zu beschränken und diese als Theorien über Normen zu definieren - unheselladet dessen, daß sie etwa als Theorien über Normelemente oder Normbereiche auch bei der Sachverhaltsermittlung eine Rolle spielen können. Bemerkt sei noch, daß mit dem Ausdruck "Norm", soweit er ohne nähere Zusätze verwendet wird, ausschließlich Rechtsnormen gemeint sind. Theorien über Normen können sich auf geltende Normen, auf Normen, die in der Vergangenheit gegolten haben, und auf Normen überhaupt beziehen. Theorien über Normen, die in der Vergangenheit gegolten haben, also rechtsgeschichtliche Theorien, werden hier aus Ver7 Zu den Alltagstheorien vgl. R. Lautmctnn, Justiz die stille Gewalt, Frankfurt/M. 1972, 22, 57 ff., 97 ff.; K.-D. Opp, Soziologie im Recht, Reinbek 1973, 24, 55 ff.; R. Dubischar (oben Fn. 1) 166 ff.
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einfachungsgründen ebenfalls ausgeklammert8 • Es verbleiben Theorien über geltende Normen und Theorien über Normen überhaupt9 • Die ersteren können rechtsdogmatische Theorien, die letzteren rechtstheoretische Theorien genannt werden. Dabei meint der Ausdruck "rechtsdogmatisch" die sogenannte Rechtswissenschaft im engeren und eigentlichen Sinne10, während der Ausdruck "rechtstheoretisch" als Sammelbezeichnung für alle systematischen juristischen Grundlagendisziplinen (Rechts- und Staatstheorie, Rechts- und Staatsphilosophie, Rechts- und Staatssoziologie) verwendet wird. 2. Dogmatische Theorien im definierten Sinne bilden den Schwerpunkt des Phänomenbereichs "Theorien in der Jurisprudenz". Sie können sich auf Einzelnormen, Normelemente, Normenkomplexe, Zusammenhänge von Normen und Relationen zwischen Normen und Fakten beziehen. Der schwankende Wortgebrauch und die Vielfalt der durch ihn bezeichneten Phänomene erlaubt beim gegenwärtigen Forschungsstand keine strenge Klassifikation. Kombiniert man gegenständliche und funktionelle Einteilungskriterien, so läßt sich in einem ersten Zugriff lediglich eine Typenreihe mit steigendem Abstraktionsgrad bilden. Sie umfaßt a) interpretative Theorien, b) normvorschlagende Theorien, c) konstruktive bzw. Qualifikationstheorien, d) Institutstheorien, e) Prinzipientheorien, f) Grundbegriffstheorien und g) Rechtsgebietstheorien. Der Ausdruck "Typenreihe" will besagen, daß zwischen den genannten Theoriegruppen fließende Übergänge und Überschneidungen stattfinden.
a) Interpretative Theorien beziehen sich auf Elemente relativ konkreter Normen. Unter anderem diese Konkretheit unterscheidet sie von Theorien über Grundbegriffe. Beispiele solcher interpretativer Theorien sind die bereits erwähnten Theorien zur Interpretation des Merkmals "Wegnahme" in § 242 StGB (Apprehensions-, Kontrektations-, Ablations-, Illationstheorie) 11 • Genannt seien weiter die Saldo8 Zur Bedeutung wissenschaftlicher Theorien in der Geschichtsforschung vgl. die in dem Sammelband H. Albert (Hrsg.), Theorie und Realität, 2. Aufl., Tübingen 1972, 237 ff., abgedruckten Aufsätze von Hempel, Goldstein, Topitsch und Watkins; s. a. die Bemerkungen von Albert in der Einleitung ebd. 16 ff. 9 Nicht gesondert behandelt werden im folgenden auch Theorien über Normen, deren zukünftige positiv-rechtliche Geltung für politisch wünschbar undioder ethisch gesollt gehalten wird. Sie kommen jedoch als rechtspolitische und rechtsethische Theorieelemente juristischer Dogmatiken und allgemeiner Rechtstheorien in den Blick. 10 Dazu statt vieler G. Radbruch, Rechtsphilosophie (1931), 8. Aufl., Stuttgart 1973, § 15 S. 205 ff. 11 Da Belege für die im Text als Beispiele genannten Theorien in den einschlägigen Kommentaren und Lehrbüchern unschwer aufgefunden werden können, verzichte ich hier und im folgenden auf Einzelnachweise.
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theorie, die Zweikondiktionentheorie und die Willensentscheidungstheorie in bezug auf den Begriff der Bereicherung in § 818 111 BGB, die Wesenskerntheorie und die Theorie der allgemeinen Handlungsfreiheit in bezug auf den Begriff der freien Entfaltung der Persönlichkeit in Art. 2 I GG, die absolute und die relative Theorie in bezug auf den Begriff des Wesensgehalts eines Grundrechts in Art. 19 II GG. In der Sache sind alle diese Theorien definitorische Interpretationsvorschläge bzw. Hypothesen über für angemessen gehaltene Wortverwendungsregeln. Oft angeführt werden in diesem Zusammenhang auch die Theorien über das Wirksamwerden einer empfangsbedürftigen Willenserklärung unter Abwesenden (Äußerungs-, Absendungs-, Zugangs-, Wahrnehmungstheorie). Sie entstammen wie viele zivilistische Theorien der Pandektistik und hatten sich dort am Rechtsstoff der Pandekten zu bewähren. Seither haben sie an Bedeutung verloren, weil sich das BGB in § 130 I für eine von ihnen, nämlich die Zugangstheorie, entschieden hat. Gleichwohl verdeutlichen sie noch immer die Problemlage, der sich etliche interpretative (wie auch Grundbegriffs-)Theorien verdanken: einen zeitlich gestreckten Lebensvorgang, der in mehrere Teilakte zerlegt werden kann, von denen einer als derjenige auszuzeichnen ist, an den sich eine Rechtsfolge knüpft. Abgesehen davon bleibt die Zugangstheorie auch insofern von Belang, als sie eine definitorische Präzisierung des Begriffs des Zugangs enthält und ihre Begründung zugleich die ratio legis des § 130 I BGB angibt. Die geläufige Auffassung, daß eine gesetzgeberische Dezision einen vormaligen Theorienstreit obsolet macht, trifft deshalb nur mit Einschränkungen zu. b) Normvorschlagende Theorien sind Annahmen über noch ungeschriebene Normen, die als geltendes Recht behauptet werden. Als Beispiele seien die Theorien über die culpa in contrahendo, den Wegfall der Geschäftsgrundlage und die positive Vertragsverletzung genannt12. Zur Begründung der in ihnen enthaltenen Geltungsbehauptung dient in der Regel das herkömmliche Instrumentarium der Lükkenfüllungs- bzw. Rechtsfortbildungslehre, also insbesondere die Analogie und/oder die Ableitung aus Prinzipien bzw. Rechtsgrundsätzen. Von ihrer Funktion her liegt es nahe, sie als lückenfüllende Theorien zu bezeichnen. Das ist aber unzweckmäßig, weil auch andere dogmatische Theorien, insbesondere die Instituts-, Prinzipien- und Grundbegriffstheorien, lückenfüllende bzw. rechtsfortbildende Funktionen haben. Hinzu kommt, daß sich beim gegenwärtigen Stand der juristi11 Vgl. dazu und zu den weiter unten behandelten Qualifikationstheorien den instruktiven Vortrag von H. Dölle, .Juristische Entdeckungen, in: Verh. d. 42. Deutschen Juristentages, Bd. II Teil B, Tübingen 1958, 1-22.
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sehen Methodenlehre eine strenge Grenze zwischen Interpretation und Lückenfüllung bzw. Rechtsfortbildung nicht ziehen läßt. Im übrigen unterscheiden sich die normvorschlagenden von den Prinzipientheorien wie die interpretativen von den Grundbegriffstheorien durch ihre relative Konkretheit. c) Konstruktive bzw. Qualifikationstheorien betreffen die Einordnung eines sozialen oder rechtlichen Phänomens in das System der juristischen Begriffe. Hierhin gehören z. B. die Theorien über die "Rechtsnatur" des Pfändungspfandrechts und der Auflassungsvormerkung, die Theorien über die Rechtsstellung der Vermögensverwalter (Amtsund Vertretertheorie)13 , die Zweistufentheorie über die Vergabe von Subventionen und die Benutzung öffentlicher Einrichtungen, die Theorien über die Rechtslage Deutschlands nach 1945 usw. Charakteristisch für diese Gruppe sind vor allem die Rechtsnatur-Theorien. Sie setzen das System der juristischen Grundbegriffe voraus und haben die Funktion, durch den in ihnen enthaltenen Konstruktions- bzw. Qualifikationsvorschlag (z. B. die Qualifikation eines sozialtypischen Lebensverhältnisses oder eines Rechtsinstituts als dinglich oder als obligatorisch bzw. als öffentlichrechtlich oder als privatrechtlich) den Normenkomplex zu erschließen, nach dem das fragliche Lebensverhältnis oder Institut zu behandeln bzw. die Regelung des Instituts zu ergänzen ist. Konstruktive Theorien waren, wie schon ihr Name anzeigt, konstitutive Elemente der sog. Konstruktions- bzw. Begriffsjurisprudenz14 • Sie sind aber, weil und insoweit Begriffs- und Systembildung unverzichtbare Bestandteile jeder rechtsdogmatischen Tätigkeit darstellen, nicht an die Begriffsjurisprudenz im Sinne einer historischen Epoche der Rechtswissenschaft oder als einer Degenerationserscheinung derselben, die durch Lebensfremdheit und Scholastizismus geprägt ist, gebunden. d) Institutstheorien sind Theorien über Rechtsinstitute. Der Ausdruck "Rechtsinstitut" ist allerdings mehrdeutig. In einem weiten und unspezifischen Sinne wird er auf nahezu alle juristischen Grundbegriffe und Prinzipien angewendet. Wenn hier von Institutstheorien als einer spezifischen Gruppe juristischer Theorien die Rede ist, so will der Ausdruck in einem engeren Sinne verstanden sein, nämlich als Bezeichnung abgrenzbarer Normenkomplexe, die sozialtypische Le13 Die Amts- und die Vertretertheorie werden von Haag (oben Fn. 1) 364 ff. als Beispiele rechtswissenschaftlicher Theoriebildung ·informationstheoretisch analysiert. u Vgl. dazu den Sammelband W. Krawietz (Hrsg.), Begriffsjurisprudenz, Darmstadt 1976, bes. die dort abgedruckten Beiträge zur juristischen Konstruktion; s. ergänzend M. v. Rümelin, Zur Lehre von der juristischen Konstruktion, ARSP 16 (1922/23), 343 ff.
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bensverhältnisse regeln15. Es ist dieser Institutsbegriff, der seit Savigny, Stahl und Regel dem institutionellen Rechtsdenken zugrunde liegt. C. Schmitt hat dazu vorgeschlagen, terminologisch zwischen Instituten als privatrechtliehen und Institutionen als öffentlichrechtlichen Normenkomplexen zu unterscheiden10. Dieser Vorschlag hat sich jedoch nicht durchgesetzt. Die Ausdrücke "Institut" und "Institution" werden deshalb im folgenden synonym verwendet. Institute bzw. Institutionen im gekennzeichneten Sinne sind z. B. Kauf, Tausch, Miete, Eigentum, Hypothek, Ehe, Familie, Testament, Schule, Universität, Kirche, Beamtenturn usw. Es obläge einer allgemeinen Institutionentheorie, zu verdeutlichen, welches die Gemeinsamkeiten und die Unterarten dieser und ähnlicher Einrichtungen sind und welche Relevanz sie in der Gesamtrechtsordnung sowie für das Verständnis derselben haben17. Im vorliegenden Zusammenhang sind mit Institutstheorien nicht allgemeine, sondern besondere gemeint, d. h. Aussagen über die Struktur und die Funktion einzelner Rechtsinstitute. Daß diese Theorien, etwa vermittels idealtypischer Begriffsbildung18, lückenfüllende Funktionen haben können, wurde schon erwähnt. Ihre Bedeutung ist damit aber nicht erschöpft. Sie liegt zumindest ebenso in ihrer interpretativen und explanativen sowie begriffsund systembildenden Funktion. Doch sollte nicht unerwähnt bleiben, daß und in welchem Maße sich Institutstheorien im Rahmen eines institutionellen Rechtsdenkens als Einfallstore für ideologisch-weltanschauliche Gehalte in das positive Recht erwiesen haben19. Es gibt, wie auf der Hand liegt, Institutsbegriffe unterschiedlichen Abstraktionsgrades. Die Grenze zwischen Institutstheorien und Grundbegriffstheorien ist demgemäß fließend. Das belegen etwa die Theorien des Eigentums, des Vertrages und der juristischen Person. Die typologische Differenz läßt sich wiederum nur durch das Merkmal der relativen Konkretheit bestimmen. Diese manifestiert sich u. a. darin, daß rechtlichen Institutionen im hier gemeinten Sinne in der Regel soziale Institutionen als Forschungsgegenstand der Soziologie korrespondie15 Dazu mit Belegen R. Dreier, Zum Begriff der "Natur der Sache", Berlin 1965, 86 ff. u C. Schmitt, Freiheitsrechte und institutionelle Garantien (1931), in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, 2. Aufl., Berlin 1973, 140- 173; s. a. ebd. 215. 17 Vgl. dazu die Sammelbände R. Schnur (Hrsg.), Institution und Recht, Darmstadt 1968; H. Schelsky (Hrsg.), Zur Theorie der Institution, Düsseldorf 1970. 18 Dazu z. B. G. Radbruch, Die Natur der Sache als juristische Denkform (1948), Ausg. Darmstadt 1960, 13 ff., 30 ff. 1U Vgl. B. Rüthers, Institutionelles Rechtsdenken im Wandel der Verfassungsepochen, Bad Hornburg v. d. H. I Berlin I Zürich 1970.
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ren, während juristische Grundbegriffe auf der spezifischen Abstraktionsleistung der Rechtswissenschaft beruhen und daher dieser eigentümlich sind. e) Prinzipientheorien sind Annahmen über den Inhalt, den Rechtscharakter und die Funktion von Normen hohen Abstraktionsgrades. Prinzipien oder Grundsätze (auch diese Ausdrücke werden hier synonym verwendet) können, wie die Staatszielbestimmungen des Art. 20 I GG oder das Prinzip von Treu und Glauben in § 242 BGB, im geschriebenen Recht ausdrücklich formuliert sein; sie können aber auch, wie das Bestimmtheitsprinzip, das Verhältnismäßigkeitsprinzip, das Prinzip der streitbaren Demokratie oder der Grundsatz des Vertrauensschutzes, entweder induktiv aus einer Reihe von Einzelvorschriften erschlossen oder deduktiv aus einem oder mehreren übergeordneten Prinzipien abgeleitet sein. Über den herausragenden Stellenwert und die Funktion der auf sie bezogenen Theorien braucht an dieser Stelle nichts weiter gesagt zu werden20 • f) Grundbegriffstheorien beziehen sich auf abstrakte Normelemente, die explizit oder implizit vielen Einzelnormen immanent sind. Die ihnen zugeordneten Begriffe beruhen, wie bemerkt, auf der spezifischen Abstraktions- und Systembildungsleistung der Rechtswissenschaft. In dem Maße allerdings, in dem sich der neuzeitliche Gesetzgeber diese Leistung gesetzestechnisch zunutze gemacht hat, sind sie zugleich Elemente hochabstrakter und in der Regel unselbständiger Einzelnormen, wie sie in den allgemeinen Teilen der modernen Kodifikationen zu finden sind. In bezug auf diese Normen fungieren die Grundbegriffstheorien als interpretative Theorien. Darüber hinaus sind sie jedoch Aussagen über grundlegende Konstruktionselemente ganzer Rechtsgebiete oder auch einer Rechtsordnung insgesamt. Als solche haben sie einen deskriptiv-analytischen Status und erhalten sie explanative und nicht selten auch innovativ-heuristische Funktionen. Als Beispiele für Grundbegriffstheorien seien die Theorien des subjektiven Rechts, der juristischen Person, der Rechtssubjektivität, der Rechtsobjekte, der juristischen Handlungen, der Willenserklärung, der Vertretung, der Schuld, der Strafe, des Gesetzes, des Verwaltungsakts, des Plans usw. genannt. Auch zu ihrem Stellenwert in der juristischen Dogmatik erübrigen sich im vorliegenden Zusammenhang nähere Ausführungen21 • 20 Dazu als Standardwerk J. Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts (1956), 3. Aufl., Tübingen 1974; vgl. auch H. J. Wolff, Rechtsgrundsätze und verfassungsgestaltende Grundentscheidungen als Rechtsquellen, in: Forschungen und Berichte aus dem öffentlichen Recht, GedSchr. für W. Jellinek, München 1955, 33 -52, und Chr. Göldner, Verfassungsprinzip und Privatrechtsnorm in der verfassungskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung, Berlin 1969.
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g) Rechtsgebietstheorien schließlich sind die juristischen Dogmatiken bzw. Teildogmatiken selbst, also z. B. die Theorien des bürgerlichen Rechts, des Strafrechts, des Staats- und Verwaltungsrechts oder, auf niedrigerer Abstraktionsebene, des Schuldrechts, des Familienrechts, des Steuerrechts, des Sozialrechts, des Polizeirechts usw. Näherhin sind sie Theorien über N ormenmengen, die sich teils durch die Verschiedenheit der ihnen zugeordneten Lebensbereiche (so das Familien- und das Erbrecht), teils auch nur rechtstechnisch-analytisch voneinander unterscheiden (so das Schuld- und das Sachenrecht). Die Bezeichnung der Dogmatiken als "Theorien" bedarf allerdings einer Erläuterung. Diese hat davon auszugehen, daß man Dogmatiken sowohl als soziale Handlungssysteme als auch als Satz- oder Aussagensysteme begreifen kann. Ihr Charakter als soziale Handlungssysteme kann hier außer Betracht bleiben. Was ihr Verständnis als Satz- oder Aussagensysteme betrifft, so liegt es nahe, Rechtsdogmatik im weitesten Sinne als Summe aller Sätze oder Aussagen zu definieren, die im Sozialsystem Rechtswissenschaft über geltendes Recht geäußert werden. In diesem disziplinären Sinne allerdings werden Dogmatiken weder als Theorien bezeichnet noch bietet sich eine solche Bezeichnung an, und zwar deshalb nicht, weil, wie hier im Vorgriff auf die Überlegungen zum Theoriebegriff bemerkt sei, an Theorien bestimmte Anforderungen, insbesondere der Konsistenz und der Widerspruchsfreiheit, gestellt werden. Dogmatiken als Rechtsgebietstheorien (also weder im wissenschaftssoziologischen noch im disziplinären, sondern im wissenschaftstheoretischen Sinne) sind daher nur diejenigen Systeme von Aussagen über geltendes Recht, die jenen Anforderungen genügen oder zumindest den Anspruch erheben, ihnen zu genügen, also etwa die in einem Lehrbuch des bürgerlichen Rechts oder des Strafrechts enthaltenen Aussagen. Ob und in welchem Sinne Rechtsgebietstheorien die mit dem Theoriebegriff in der Regel verbundene Erklärungsfunktion erfüllen, wird noch zu erörtern sein. Im Unterschied zu den vorher genannten Theoriegruppen stellen die Rechtsgebietstheorien einen deutlichen Grenzfall dar. Das nicht nur deshalb, weil es schon vom Wortsinn her zweifelhaft ist, ob sich die Dogmatik als Theorie dem Begriff der dogmatischen Theorie subsumieren läßt. Diese Zweifel lassen sich durch die Grenzfallthese ausräumen. Wichtiger ist, daß es Schwierigkeiten bereitet, Belege für die Selbstbezeichnung der Dogmatik als Theorie zu finden. Im Gegensatz zur gerade zu inflationären Verwendung des Wortes im Bereich der inter11 Die Frage, ob und in welchen Fällen sich Grundbegriffstheorien in Prinzipientheorien umformulieren lassen (und umgekehrt), soll hier unerörtert bleiben. - Zu den Grundbegriffstheorien vgl. im übrigen bes. die oben in Fn. 1 genannte Schrift von H. L. A. Hart.
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pretativen, normvorschlagenden, konstruktiven, Instituts-, Prinzipienund Grundbegriffstheorien ist hinsichtlich seiner Anwendung auf die Dogmatiken insgesamt, im Unterschied übrigens auch zum Wortgebrauch des vergangenen Jahrhunderts22 , gegenwärtig eher eine gewisse Zurückhaltung zu beobachten. Es läßt sich vermuten, daß dies mit dem noch immer umstrittenen und unsicheren Selbstverständnis der Jurisprudenz als Wissenschaft zusammenhängt. Um so verwunderlicher ist dann allerdings die Sorglosigkeit des Wortgebrauchs im Bereich der dogmatischen Teiltheorien. Zum Abschluß dieses Überblicks über dogmatische Theorien sei noch angemerkt, daß der juristische Sprachgebrauch die Ausdrücke "Theorie" und "Lehre" in aller Regel austauschbar zu verwenden pflegt. Es mag hier offen bleiben, ob es sinnvoll ist, ihnen verschiedene Begriffe bzw. Wortverwendungsregeln zuzuordnen23 • 3. Es verbleibt ein Blick auf den Komplex der rechtstheoretischen Theorien. Dazu wurde schon gesagt, daß der Ausdruck "rechtstheoretisch" hier in einem weiten, den Gesamtbereich der systematischen juristischen Grundlagendisziplinen einbegreifenden Sinne verstanden wird. Obwohl die in diesem Bereich obwaltende Theorienvielfalt eher noch größer als im Bereich der Rechtsdogmatik ist, so betritt man doch mit ihm einen wissenschaftstheoretisch geläufigeren Boden. Das bedeutet nicht, daß der Theoriecharakter rechtstheoretischer Theorien unproblematisch ist. Es meint nur, daß sich diese Problematik in den Bahnen der intensiven Theoriediskussion bewegt, die insbesondere der Theorie der Sozialwissenschaften in den letzten Jahrzehnten gewidmet worden ist 24 • Daher kann hier auf eine klassifizierende oder typologisierende Zusammenstellung, so reizvoll sie wäre, verzichtet werden25 • Erinnert sei nur an die Unterscheidung zwischen vernunftrechtlichen, analytischen und realistischen Rechtstheorien. Hingewiesen sei ferner auf die Differenz zwischen rechtstheoretischen Objekt- und Metatheou Als willkürlich herausgegriffene Beispiele seien genannt: K. Grolmann, Theorie des gerichtlichen Verfahrens in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten nach dem gemeinen deutschen Recht, 2. Aufl., Gießen I Darmstadt 1803; L. v. Gaisberg, Allgemeine Vorkenntnisse zur Theorie des bürgerlichen Processes mit besonderer Rücksicht auf den teutschen gemeinen bürgerlichen Process, Stuttgart 1820; J. F. Kierulff, Theorie des gemeinen Civilrechts, Bd. 1, Altona 1839; R. Schmid, Theorie und Methodik des bürgerlichen Rechts, Jena 1848. 2s Nahe liegt etwa, unter "Theorie" ein konsistentes System von Aussagen zur Lösung eines Problems bzw. zur Erklärung eines Phänomens und unter "Lehre" die zusammenfassende Darstellung aller Theorien, die zu einem Problem bzw. über einen Gegenstand vertreten werden, zu verstehen. u Dazu die Aniaben unten Fn. 34. 15 Vgl. dazu den Problemüberblick bei R. Dreier, Was ist und wozu Allgemeine Rechtstheorie?, Tübingen 1975.
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rien, d. h. Theorien des Rechts und solchen der Rechtswissenschaft bzw. der juristischen Sprache. Weiter seien die vielfältigen interdisziplinären Theorien bzw. "Theorieansätze" erwähnt, die gegenwärtig in der Rechtstheorie diskutiert werden (allgemeine Systemtheorie, Regelkreistheorie, Handlungstheorie, Kommunikationstheorie, Informationstheorie, Entscheidungstheorie, Argumentationstheorie usw.). Angemerkt sei schließlich, daß etliche der im vorigen Abschnitt angeführten Theorien, insbesondere die Instituts-, die Prinzipien- und die Grundbegriffstheorien, im Bereich der Rechtstheorie wiederkehren, also nicht nur den Status dogmatischer, sondern auch rechtstheoretischer Theorien haben- dies je nach dem, ob sie in bezug auf die geltenden Normen einer bestimmten Rechtsordnung oder in bezug auf Normen überhaupt gebildet werden. Auf die damit angesprochene Wechselbezüglichkeit zwischen rechtsdogmatischer und rechtstheoretischer Theoriebildung wird im letzten Abschnitt dieser Überlegungen noch einmal zurückzukommen sein.
ll. Bemerkungen zum Theoriebegriff 1. Eine umfassende wortgebrauchs-, bedeutungs- und/oder problemgeschichtliche Untersuchung zum Theoriebegriff steht noch aus 26. Sie kann auch an dieser Stelle nicht vorgelegt werden. Für den hier verfolgten Zweck genügt es, sich kurz einige historische Zusammenhänge zu vergegenwärtigen.
Erinnert sei zunächst an den ursprünglichen Wortsinn des griechischen Ausdrucks "itEwQ(a". Er meint Anschauen, Betrachten, denkende Betrachtung der Welt. Von daher stammt die bis heute geläufige Entgegensetzung von Theorie und Praxis, eine Entgegensetzung, die sich im Dualismus zweier Lebensformen, der vita contemplativa und der vita activa, niedergeschlagen und nachhaltige Aversionen zwischen Theoretikern und Praktikern hervorgebracht hat27 • Ausdruck dessen ist der Gemeinspruch "Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis", dem bekanntlich Kant eine oft zitierte Abhandlung gewidmet hat28 • Kants an der Moralphilosophie, am Staatsrecht und am Völkerrecht exemplifizierte These lautet, vereinfacht ausge18 Zu den Anfängen vgl. J. Ritter, Die Lehre vom Ursprung und Sinn der Theorie bei Aristoteles, Köln I Opladen 1953; B. Snell, Theorie und Praxis, in: ders., Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, 3. Aufl., Harnburg 1955, 401 - 411. 27 Daran erinnert noch der Buchtitel von H. Schelsky, Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen, Opladen
1976. 28 Kant, über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793), Werke, Ausg. Weischedel, Bd. VI, Darmstadt 1964, 125 - 172. 8 Festschrift für Helmut Schelsky
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drückt, daß eine gute Theorie die beste Hilfe für die Praxis sei, und diese These dient nach wie vor als Standardformel zur Rechtfertigung der Tätigkeit des Theoretikers gegenüber dem theorieabgeneigten Praktiker. Theorie als "denkende Betrachtung der Gegenstände" 29 ist in der Tradition der griechischen Philosophie auf die Erkenntnis des Dauernden, Währenden, Beharrenden, Subsistierenden, des "Wesens der Dinge" im Unterschied zu ihren wechselnden "Erscheinungen" gerichtet. Dem entstammt die ebenfalls bis heute geläufige Entgegensetzung von Theorie und Empirie. Sie ist historisch und systematisch vor allem deshalb von Belang, weil sich an ihr im Verlaufe der Neuzeit die Unterscheidung zwischen metaphysischer Spekulation und empirisch prüfbarer und in diesem Sinne "wissenschaftlicher" Theoriebildung entwikkelt hat. Daraus ergibt sich im Blick auf juristische Theorien eine Reihe von Problemen, auf die zurückzukommen sein wird. Sie betreffen das Verhältnis juristischer Theorien zur Empirie und die Frage der wissenschaftlichen Prüfbarkeit nicht-empirischer, insbesondere normativer Theorien. An der Unterscheidung zwischen metaphysischer Spekulation und wissenschaftlicher Theoriebildung zerbrach die ursprüngliche Einheit von Philosophie und Theorie. Die Geschichte des Theoriebegriffs ist seither untrennbar mit der Geschichte des neuzeitlichen, am Methodenideal der Naturwissenschaften orientierten Wissenschaftsbegriffs verknüpft. Im Blick darauf kann man mit Schelsky sagen, daß die Merkmale des Theoriebegriffs den "Kern der modernen Wissenschaftlichkeit" definieren30• Die Frage, ob juristische Theorien ihren Namen zu Recht tragen, fällt insofern zusammen mit der Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz. 2. Der Ausdruck "Theorie" ist allerdings nicht auf den wissenschaftlichen Sprachgebrauch beschränkt geblieben, sondern in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen. Man muß deshalb zwischen einer untechnischen, d. h. umgangssprachlichen, und einer technischen, d. h. fachwissenschaftlich mehr oder weniger festgelegten, Verwendungsweise des Ausdrucks unterscheiden. Da noch offen ist, ob die juristische Verwendungsweise, jedenfalls was die dogmatischen Theorien betrifft, eine untechnische oder eine technische ist, sei vorab ein Blick auf erstere geworfen. zt So lautet noch bei Hegel die Definition der Philosophie; vgl. ders., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830), § 2, Ausg. Nicotin I Pöggeler, 6. Aufl., Harnburg 1959, S. 33. so H. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen, Reinbek 1963, 287.
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a) Untechnisch und umgangssprachlich meint der Ausdruck "Theorie" jeden Inbegriff von Annahmen (im Grenzfall eine Annahme) über einen Gegenstand, insofern diese Annahmen in vorgegebenen Problemlösungszusammenhängen geäußert werden. Dabei kann für "Annahme" auch Behauptung, Meinung, Vermutung, Ansicht oder Hypothese stehen. Verdeutlichen läßt sich diese umgangssprachliche Wortverwendung am Beispiel kriminalistischer "Theorien". Es handelt sich bei ihnen um singuläre, durch ein noch unaufgeklärtes Verbrechen veranlaBte Vermutungen darüber, wer was wann wo wie und warum getan hat. Ähnliche Beispiele ließen sich mühelos aus anderen Lebensbereichen anführen. Es spricht einiges dafür, daß das Wort "Theorie" auch im dogmatischjuristischen Sprachgebrauch nicht selten in diesem unspezifisch-untechnischen Sinne verwendet wird. Das schließt jedoch nicht aus, diese Verwendungsweise daraufhin zu überprüfen, ob und inwieweit sie in eine technische überführt werden kann. b) Von einer technischen, also fachwissenschaftlich festgelegten Verwendungsweise des Ausdrucks "Theorie" kann freilich nur mit Einschränkungen die Rede sein. Sie findet sich am ehesten im Bereich der Naturwissenschaften, ist aber auch dort noch keineswegs einhellig definiert. Das zeigt die Behandlung des Theoriebegriffs in der analytischen Wissenschaftstheorie, deren Hauptgegenstand nach wie vor die naturwissenschaftliche Theoriebildung ist31 . Doch braucht auf die Detailprobleme naturwissenschaftlicher Theoriebildung hier nicht eingegangen zu werden. Unbeschadet ihrer ist zu konstatieren, daß der technische Theoriebegriff, soweit von einem solchen gesprochen werden kann, heute derjenige ist, den die analytische Wissenschaftstheorie bearbeitet32. 31 Aus der Fülle des einschlägigen Schrifttums seien hier lediglich genannt: K. R. Popper, Logik der Forschung, 5. Aufl., Tübingen 1973, bes. 31 ff.; W. Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und der analytischen Philosophie, 4 Bde., Berlin I Heidelberg I New York 1969 -1974 (bes. Bd. li); H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, 2. Aufl., Tübingen 1969, 47 ff. u. passim; ders. (Hrsg.), Theorie und Realität (oben Fn. 8); W. K. Essler, Wissenschaftstheorie, I - III, Freiburg I München 1970 - 1973 (bes. Bd. li); F. v. Kutschera, Wissenschaftstheorie I-li (mit durchgehender Seitenzählung), München 1972, bes. 252 ff., 297 ff.; H. Seiffert, Einführung in die Wissenschaftstheorie, 1 - 2, München 1969170, passim. 31 Daß die geisteswissenschaftliche Hermeneutik keinen eigenen Theoriebegriff entwickelt hat, wird im folgenden Text noch angemerkt. Von einem spezifisch "dialektischen" Theoriebegriff kann (von den Besonderheiten der Hegeischen Dialektik abgesehen) nur gesprochen werden, insofern für ihn das Postulat integraler Theoriebildung konstitutiv ist. Auch darauf wird zurückzukommen sein. Vgl. dazu vorerst M. Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie (1931), abgedr. in: ders., Traditionelle und kritische Theorie. Vier Aufsätze, FrankfurtiM. 1970, 12 - 56. Im übrigen sei schon an die-
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Das wirft die Vorfrage auf, ob dieser Theoriebegriff, weil und insoweit er vom Modell naturwissenschaftlicher Theoriebildung abgezogen ist, für die Beurteilung juristischer Theorien überhaupt in Betracht kommt. Diese Frage kann nicht schon dadurch negativ beantwortet werden, daß man auf die traditionelle Differenz zwischen Natur- und Geisteswissenschaften verweist und die Rechtswissenschaft den letzteren subsumiert. Denn abgesehen davon, daß die Hermeneutik als Theorie der Geisteswissenschaften keinen spezifisch geisteswissenschaftlichen Theoriebegriff erarbeitet hat, ist die Berechtigung jener Differenz in der neueren wissenschaftstheoretischen Grundlagendebatte gerade zweifelhaft geworden. Im Gegenteil zeichnen sich in dieser Debatte konvergierende Tendenzen ab39 • Sie äußern sich darin, daß die analytische Sprach- und Wissenschaftstheorie mit ihrer "Wende zur Pragmatik" zunehmend Fragestellungen in sich aufgenommen hat, die herkömmlich der Hermeneutik zugerechnet werden, während sich umgekehrt die hermeneutischen Disziplinen im wachsenden Maße des Exaktifizierungspotentials der analytischen Sprach- und Wissenschaftstheorie bedienen. Gewiß wird man sich davor hüten müssen, Resultate der analytischen Wissenschaftstheorie vorschnell auf die Rechtswissenschaft zu übertragen. Doch haben sich heute jenseits überkommener Wissenschaftseinteilungen Kriterien der Wissenschaftlichkeit herausgebildet, die sich im Theoriebegriff der analytischen Wissenschaftstheorie exemplarisch manifestieren. Das belegt nicht zuletzt die Diskussion um die Theorie der Sozialwissenschaften34• ser Stelle bemerkt, daß die marxistische Wissenschaftstheorie, obwohl sie mit Nachdruck auf dem "dialektisch-materialistischen Prinzip der Allseitigkeit der Betrachtung" beharrt, die Ergebnisse der analytischen Wissenschaftstheorie im wesentlichen rezipiert hat. Vgl. z. B. G. Kröber I H. Laitko, Der marxistisch-leninistische Wissenschaftsbegriff, in: H. J. Sandkühler (Hrsg.), Marxistische Wissenschaftstheorie. Studien zur Einführung in ihren Wissenschaftsbereich, FrankfurtiM. 1975, 110-148 (das angeführte Zitat findet sich auf S. 142). s. a. den Art. Theorie in G. Klaus IM. Buhr (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, 2 Bde., Berlin (Ost) 1959, Bd. 2, 1083 -1087. aa Diese sind eindrucksvoll und mit umfassenden Belegen dargestellt bei H. Peukert, Wissenschaftstheorie - Handlungstheorie - Fundamentale Theologie, Düsseldorf 1976. 34 Dazu die Sammelbände Th. W. Adorno u. a., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, FrankfurtiM. 1969; H. Albert (Hrsg.), Theorie und Realität (oben Fn. 8); E. Topitsch (Hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften (1965), 9. Aufi., Köln 1976; ferner z. B. J. Habermas, Logik der Sozialwissenschaften (1967), Neuausg. FrankfurtiM. 1970; ders., Erkenntnis und Interesse (1968), Neuausg. Frankfurt(M. 1973; J. Fijalkowski, Ober einige Theoriebegriffe in der deutschen Soziologie der Gegenwart, KZSS 13 (1961) 88 -109; W.-D. Narr, Theoriebegriffe und Systemtheorie, 3. Aufl., Stuttgart I Berlin I Köln I Mainz 1972; R. Klima, Theorienpluralismus in der Soziologie, in: A. Diemer (Hrsg.), Der Methoden- und Theorienpluralismus in den Wissenschaften, Meisenheim am Glan 1971, 198 - 219. s. a. M. R. Lepsius (Hrsg.), Zwischenbilanz der Soziologie, Verh. des 17. Deutschen Soziologentages, Stuttgart 1976.
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Eine Standarddefinition des Theoriebegriffs der analytischen Wissenschaftstheorie sucht man allerdings vergebens35 • Abstrahiert man von denjenigen Merkmalen, die sich primäre auf naturwissenschaftliche Theorien beziehen, insbesondere vom Gesetzesbegriff im naturwissenschaftlichen Sinne und vom Erfordernis der logisch-mathematischen Zulässigkeit von Aussagen, so wird man wissenschaftliche Theorien als Systeme oder Mengen von Aussagen bestimmen können, zwischen denen Ableitbarkeitsbeziehungen bestehen und die mindestens den Anforderungen der Konsistenz und der Prüfbarkeit genügen. Theorien sind damit im Kern als Aussagensysteme definiert, die bestimmten Anforderungen genügen müssen. Die Formulierung dieser Anforderungen variiert. Definiert man den Begriff des Aussagensystems durch die Existenz von Ableitbarkeitsbeziehungen und die Konsistenz der Aussagen, so ist die oben gegebene Begriffsbestimmung bereits pleonastisch. Ähnliche Zusammenhänge bestehen zwischen den weiteren Anforderungen, die mit unterschiedlicher Akzentuierung an die Rationalität oder Wissenschaftlichkeit von Aussagensystemen, die den Namen "Theorie" beanspruchen, gestellt werden (externe und interne Konsistenz, Widerspruchsfreiheit, Prüfbarkeit, Signifikanz, Fruchtbarkeit, Einfachheit, Klarheit, Deutlichkeit, semantische Homogenität, semantische Geschlossenheit usw.). Es wäre ein Thema für sich, wenn man genauer untersuchen sollte, inwieweit diese Erfordernisse einander interpretieren oder aufeinander zurückgeführt werden können sowie welche von ihnen den Theoriebegriff definieren und welche lediglich Postulate an Theorien sind. Im Rahmen dieses Beitrages genügt es, auf 35 In den meisten Darstellungen der analytischen Wissenschaftstheorie wird eine Definition des Theoriebegriffs stillschweigend vorausgesetzt. Eine systematische Monographie zum Theoriebegriff fehlt. Horkheimer (oben Fn. 32) 12, definiert den traditionellen, vom Modell naturwissenschaftlicher Theoriebildung abgezogenen Theoriebegriff als "Inbegriff von Aussagen, die so miteinander verbunden sind, daß aus einigen von ihnen die übrigen abgeleitet werden können". Weitere Definitionsbeispiele: Haag (oben Fn. 1) 352: "Eine Theorie ist ein System von Aussagen, aus dem sich ,Basisaussagen' formallogisch ableiten lassen"; Klaus I Buhr (oben Fn. 32) 1083: Theorie = "systematisch geordnete Menge von Aussagen bzw. Aussagesätzen über einen Bereich der objektiven Realität oder des Bewußtseins. Die wichtigsten Bestandteile einer Theorie sind die in ihr formulierten Gesetzesaussagen über den Bereich, auf den sie sich bezieht"; Seifiert (oben Fn. 31) 1, 147: Theorie = "Zusammenfassung mehrerer Gesetze zu einem Obergesetz"; K. D. Opp, Methodologie der Sozialwissenschaften, Reinbek 1970, 50: Theorie = "eine Menge von Gesetzen, die durch logische Ableitbarkeitsbeziehungen miteinander verbunden sind (einschließlich der aus diesen ableitbaren Sätzen)"; J. Friedrichs, Methoden empirischer Sozialforschung, Reinbek 1973, 62: "Theorie ist eine Menge logisch miteinander verbundener widerspruchsfreier Hypothesen. Sie enthält eine Reihe unabhängiger Aussagen (Axiome), aus denen weitere Aussagen (Gesetze und Theoreme) mit Hilfe von Regeln abgeleitet werden können." Vgl. ergänzend H. F. Spinner, Theorie, in: Hdbuch philos. Grundbegriffe, Bd. 5, München 1974, 1486- 1514; F. Suppe (Ed.), The Structure of Scientific Theories, Urbana etc. 1974.
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die herausgehobene Stellung der Erfordernisse der Konsistenz und der Prüfbarkeit hinzuweisen. Dabei sollte Konsistenz so verstanden werden, daß sie das Postulat der logischen Widerspruchsfreiheit einschließt, aber nicht auf es beschränkt ist, sondern z. B. bei normativen Theorien das Erfordernis der Wertungskonsistenz umfaßt. Was das Erfordernis der Prüfbarkeit betrifft, so ist es von der analytischen Wissenschaftstheorie vor allem für empirische Theorien ausgearbeitet worden. Hinsichtlich normativer Theorien fragt sich, ob für sie ein vergleichbares, z. B. diskursives Prüfungsverfahren zur Verfügung steht38• Diese Frage kann hier nicht näher diskutiert werden. Es gibt aber gute Gründe dafür, sie beim gegenwärtigen Stand der argumentationstheoretischen Debatte jedenfalls prinzipiell zu bejahen97 • Erwähnt sei noch die Möglichkeit, wissenschaftliche Theorien durch die Angabe ihrer Funktionen zu definieren. Eine solche Definition hätte als zentrales Merkmal den Begriff der Fruchtbarkeit zu präzisieren38. Dazu wären die beiden Hauptfunktionen wissenschaftlicher Theorien zu explizieren: erstens die Erklärung des "Gegebenen" durch seine Zurückführung auf Gesetze oder Prinzipien und zweitens die Ableitung von "Nichtgegebenem" aus eben jenen Gesetzen und Prinzipien99. Beide Funktionen, die explanative wie die innovativ-heuristische, können ihrerseits zur Erläuterung des Erfordernisses der Prüfbarkeit herangezogen werden. Ob und inwieweit juristische, vor allem rechtsdogmatische Theorien diese Funktionen, insbesondere die Erklärungsfunktion erfüllen, wird weiter unten zu erörtern sein. Noch immer umstritten ist die Frage nach dem Status der im Ableitungszusammenhang obersten Aussagen einer Theorie. Als Kandidaten dafür kommen bloße Hypothesen, bewährte empirische oder normative Verallgemeinerungen, intuitiv-evidente Einsichten und willkürliche Festsetzungen in Betracht. Auch die dadurch aufgeworfenen Probleme können hier nicht näher behandelt werden. Doch ist ein Hinweis darauf angebracht, daß sich jene Frage bei verschiedenen Arten von Theorien verschieden stellt. Bereits erwähnt wurde die Unterscheidung zwischen empirischen und normativen Theorien. Sie unterscheiden sich durch den Status ihrer Aussagen, und rnit Bezug darauf ist ihnen als dritte Kategorie die Klasse der analytischen Theorien an die Seite zu 38 Dazu z. B. J. Habermas, Wahrheitstheorien, in: Wirklichkeit und Reflexion, Festschr. für W. Schulz, Pfullingen 1973, 211 - 265. 37 Eine zusammenfassEmde Darstellung und Würdigung der wichtigsten in jener Debatte vertretenen Positionen gibt R. Alexy (oben Fn. 6). 38 Für juristische Theorien expliziert Podlech (oben Fn. 1) 494 f. das Erfordernis der Fruchtbarkeit durch die Kriterien der Vertretbarkeit, der Reichheit und der Signifikanz. 38 Dazu für juristische Theorien Wagner und Haag (oben Fn. 1).
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stellen40 • Als empirische Theorien können Aussagensysteme bezeichnet werden, die Struktur- und Funktionszusammenhänge der empirischen Realität, wie immer diese genauer definiert sei, beschreiben und erklären, als normative Theorien Systeme von Aussagen über gesollte oder positiv bewertete Handlungen oder Zustände, als analytische Theorien rein definitorische bzw. formallogische Aussagensysteme (einschließlich formaler Kalküle). Hinzugefügt sei, daß empirische und normative Theorien regelmäßig auch analytische Theorieelemente aufweisen und insoweit als empirisch-analytische bzw. als normativ-analytische zu qualifizieren sind. 3. Der Versuch einer Verständigung über den Theoriebegriff kann, wie der vorstehende Absatz zeigt, nicht davon absehen, daß es verschiedene Arten von Theorien gibt. Es würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen, insoweit einen auch nur einigermaßen vollständigen und angemessen erläuterten Überblick anzustreben. Einige Unterscheidungen, außer der oben angeführten, sind bereits zur Sprache gekommen, so die nach der gegenständlichen Reichweite (singuläre, partikuläre und universale Theorien) und nach der Art des Objektbezuges einer Theorie (Objekt und Metatheorien). Im folgenden soll aus dem Bereich weiterer möglicher Unterscheidungen nur noch eine genannt werden, weil sie für das Verständnis juristischer, insbesondere rechtstheoretischer Theorien, aber nicht nur für sie, wichtig ist. Es ist die Unterscheidung zwischen segmentären und integralen Theorien. Sie beruht darauf, daß jeder umgangssprachlich bezeichnete und vorwissenschaftlich konstituierte Gegenstandsbereich in verschiedenen Hinsichten zum Objekt wissenschaftlicher Forschung werden kann41 • Jede Wahl einer solchen Problemhinsicht bzw. eines solchen Untersuchungsaspekts (die nicht notwendig schon die Wahl einer bestimmten Methode impliziert) leistet eine spezifische Gegenstandskonstitution, 40 In Bezug auf Handlungstheorien unterscheidet G. Meggle in seiner Einleitung zu ders. (Hrsg.), Analytische Handlungstheorie, Bd. 1, Frankfurt/M. 1977, VII, empirische, normative, rationale und analytische Theorien. Die von ihm gegebene Definition der rationalen Handlungstheorien (z. B. Entscheidungs- und Spieltheorien) erlaubt es jedoch auch, diese dem Begriff der normativen Theorie zu subsumieren. 41 Dazu z. B. K. 0. Hondrich, Entwicklungslinien und Möglichkeiten des Theorievergleichs, in: M. R. Lepsius (Hrsg.), Zwischenbilanz der Soziologie (oben Fn. 34) 14- 36, 21 f. Zur Relevanz des Vergleichsgesichtspunkts der Problemhinsicht bzw. des Untersuchungsaspekts für einen rechtstheoretischen Theorienvergleich s. R. Dreier, Reine Rechtslehre und marxistische Rechtstheorie. Aspekte eines Theorienvergleichs, in: Hans Kelsen-Institut (Hrsg.), Reine Rechtslehre und marxistische Rechtstheorie, Wien 1977 (im Druck). Zur Problematik des Theorienvergleichs s, a. E. Scheibe, Zur Logik des Theorienvergleichs, in: Sprache und Erkenntnis, Festschr. für G. Frey, Innsbruck 1976, 13-25, der sich mit dem logischen Vergleich physikalischer Theorien auf modelltheoretischer Grundlage befaßt.
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durch welche, in der Terminologie der scholastischen Wissenschaftstheorie, das umgangssprachlich bezeichnete Materialobjekt zum Formalobjekt wissenschaftlich Forschung wird. So kann der vorwissenschaftlich konstituierte Gegenstandsbereich Recht etwa in analytischer, ethischer, soziologischer, psychologischer, historischer, ökonomischer, ästhetischer usw. Hinsicht erforscht werden. "Segmentär" oder "aspektuell" können Theorien heißen, die sich auf einen oder wenige der möglichen Untersuchungsaspekte beschränken. "Integrale" Theorien sind dann diejenigen, die eine möglichst "allseitige" oder "ganzheitliche" Erforschung ihres Materialobjekts intendieren. Das Programm einer integralen Theoriebildung hat, wie auf der Hand liegt, das Argument für sich, daß jede nur segmentäre Theorie, weil auf einen oder wenige Aspekte beschränkt, einseitig und unvollständig und insofern der Komplexität ihres Gegenstandes im Sinne eines Materialobjekts unangemessen ist42 • Damit ist zugleich die Differenz zwischen analytischer und dialektischer, insbesondere marxistischer Wissenschaftstheorie angesprochen43. Ihr kann an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden. Doch ist anzumerken, daß sich an jener Differenz erneut und in aller Schärfe das Problem der Unterscheidung zwischen philosophischer· und wissenschaftlicher Theoriebildung stellt, dies jedenfalls dann, wenn man unter philosophischer Theoriebildung eine solche versteht, die dem klassischen Programm der Philosophie als Universalwissenschaft verpflichtet ist. Darauf wird im Rahmen der abschließenden Bemerkungen zur rechtstheoretischen Theoriebildung zurückzukommen sein.
m. Zur Theoriebildung in der Rechtsdogmatik 1. Fragt man nunmehr, ob die in der juristischen Dogmatik sogenannten "Theorien" ihren Namen verdienen, so ist dies zunächst dahin zu präzisieren, daß nach ihrer Qualifikation als Theorien im technischen Sinne, also als wissenschaftliche Theorien, gefragt wird. Diese Frage sollte, wie noch einmal betont sei, nicht von vornherein dadurch abgewehrt werden, daß man für die Rechtsdogmatik ein prudentielles, 42 Wahrheitstheoretisch wäre dieses Argument vor allem im Rahmen einer Kohärenztheorie der Wahrheit auszuarbeiten; vgl. dazu A. R. White, Truth, London I Basingstoke 1970, 109 ff. - Zur Problematik einer universal-integralen Theorie des Rechts (universal, weil gegenständlich auf das Recht insgesamt bezogen, integral, weil methodisch die Hauptaspekte möglicher Rechtsbetrachtung umfassend) vgl. noch unten bei IV 2; s. a. die Bemerkungen zum Begriff der "Supertheorie" bei N. Luhmann, Soziologie der Moral, in: ders. ISt. H. Pfürtner (Hrsg.), Theorietechnik und Moral, FrankfurtiM. 1978, 8- 116, 9 ff. 43 Belege dafür s. o. Fn. 32.
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hermeneutisches und/oder topisches Selbstverständnis reklamiert, dem ein szientistischer Theoriebegriff unangemessen sei. Hier ist nicht der Ort, die vielfältigen Probleme, die die damit angesprochene Kontroverse aufwirft, zu erörtern44 • Auf die konvergierenden Tendenzen, die in der diesbezüglichen wissenschaftstheoretischen Grundlagendebatte zu beobachten sind, wurde bereits aufmerksam gemacht. Im übrigen kommt es im vorliegenden Zusammenhang lediglich darauf an, sich nicht durch überkommene Frontstellungen den Weg zu fruchtbaren Fragestellungen zu versperren. Ob die Frage nach dem Theoriecharakter dogmatischer Theorien fruchtbar ist, muß sich allerdings erst noch erweisen. Ihre Fruchtbarkeit ergibt sich nicht schon daraus, daß der Ausdruck "Theorie" in der Rechtsdogmatik zwar oft, aber in der Regel unreflektiert verwendet wird. Das legt eher die Vermutung nahe, daß die dogmatische Verwendungsweise eine untechnische ist, die keine spezifischen Probleme aufwirft. Fruchtbar ist die Fragestellung aber deshalb, weil sie Veranlassung gibt, über eine bewußtere Verwendungsweise nachzudenken und die untechnische womöglich als technische zu erweisen oder in eine solche umzuwandeln. Dazu sei an die oben geäußerte These erinnert, daß die Frage nach dem Theoriecharakter dogmatischer Theorien in der Sache mit der Frage nach der Wissenschaftlichkeit der juristischen Dogmatik zusammenfällt. Diese Zusammengehörigkeit der Fragen drängt sich nicht nur deshalb auf, weil, wie aus der in Abschnitt I 2 vorgelegten Typenreihe ersichtlich, zu den dogmatischen Theorien, wenngleich als Grenzfall, auch die Rechtsgebietstheorien, also die juristischen Dogmatiken selbst, gehören. Darüber hinaus macht jene Typenreihe vielmehr deutlich, daß der Phänomenbereich dogmatischer Theorien den Gesamtbereich dogmatischer Verfahrensweisen abdeckt. Diese Verfahrensweisen werden traditionell unter den Stichworten Interpretation, Konstruktion und Systembildung45 oder, leicht variiert, unter den Überschriften Interpretation und Rechtsfortbildung sowie juristische Begriffs- und Systembildung erörtert46 • Insofern trifft es zu, daß die mit den dogmatischen Theorien verbundenen Probleme im juristischen Schrifttum unter anderen Titeln abgehandelt werden. Das bedeutet jedoch nicht, daß der dogmatische Theoriebegriff kein spezifisches Problem darstellt. Dieses Problem ist das der Rationalität und/oder Wissenschaftlichkeit der 44 Vgl. dazu K. Larenz (oben Fn. 2) 165 ff.; s. a. R. Dreier, Zum Selbstverständnis der Jurisprudenz als Wissenschaft, Rechtstheorie 2 (1971) 37 - 54 m.w.N. 45 Vgl. z. B. Radbruch (obe.n Fn. 10) 206 ff.
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Larenz 298 ff.
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Rechtsdogmatik47, und weil und insoweit diese nach wie vor umstritten sind, signalisiert die unreflektierte Verwendung des Wortes "Theorie" durchaus ein Defizit an juristischer Metatheorie. Das zeigt sich nicht zuletzt an der noch immer verbreiteten Auffassung, dogmatische Theorien seien keine "echten" Theorien48 • Versteht man unter "echten" Theorien lediglich diejenigen der Naturwissenschaften, so ist jene Auffassung eine Banalität. Versucht man jedoch, wie oben geschehen, unter Abstraktion von den Besonderheiten naturwissenschaftlicher Theorien einen Theoriebegriff zu bilden, der gleichwohl das Prädikat "wissenschaftlich" im Sinne der analytischen Wissenschaftstheorie beanspruchen kann, so läßt sich die Qualifikation dogmatischer Theorien als wissenschaftlicher und insofern "echter" Theorien jedenfalls nicht von vornherein abweisen. Im Gegenteil ist eher zu vermuten, daß die Mehrzahl von ihnen den Anforderungen jenes Begriffs entspricht. Man muß sich dazu allerdings gegenwärtig halten, daß der formulierte Theoriebegriff insofern normativ ist, als er Kriterien der Rationalität und Wissenschaftlichkeit definiert, die von Aussagensystemen, die Theoriequalität beanspruchen, immer nur annäherungsweise erfüllt werden. Das ist aber keine Besonderheit juristischer Theorien, sondern gilt auch für Theorien im naturwissenschaftlichen Bereich. Im übrigen wäre für jede der in der aufgestellten Typenreihe genannten Theoriegruppen gesondert zu prüfen, ob und inwieweit sie den Erfordernissen des Theoriebegriffs genügt. Das kann hier aus Raumgründen nur beschränkt und andeutungsweise geschehen. Dabei empfiehlt es sich, die Reihenfolge umzukehren und mit den Rechtsgebietstheorien, denen alle übrigen dogmatischen Theorien als Teiltheorien eingeordnet sind, zu beginnen. Im Rahmen dessen wird beispielshalber auch bereits der Theoriecharakter dogmatischer Teiltheorien anzusprechen sein. 2. Daß Dogmatiken (im oben bei I 2 g erläuterten Sinne) Theorien, nämlich Rechtsgebietstheorien sind, ist im Selbstverständnis der Jurisprudenz keineswegs ausgemacht; Ihre Qualifikation als Theorien bietet sich aber an, wenn man diese, wie dargelegt, als Systeme von Aussagen definiert, zwischen denen Ableitbarkeitsbeziehungen bestehen und die jedenfalls prinzipiell den Anforderungen der Konsistenz und der Prüfn Zum Verhältnis der Begriffe Rationalität und Wissenschaftlichkeit sei hier nur bemerkt, daß es angemessen sein dürfte, "Wissenschaftlichkeit" gegenüber "Rationalität" durch zusätzliche Regeln bzw. Kriterien, die sich auf die Wissenschaft als institutionalisiertes Handlungssystem beziehen, zu definieren. 48 So z. B. J. Esser in seinem Nachwort zu R. Dubischar, Grundbegriffe des Rechts, Stuttgart I Berlin I Köln I Mainz 1968, 100.
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barkeit genügen. Daß Dogmatiken Aussagensysteme sind, liegt, unbeschadet der Diskussion um die Tragweite des Systembegriffs in der Rechtswissenschaft 49 , auf der Hand. Daß zwischen diesen Aussagen Ableitbarkeitsbeziehungen bestehen, wird schon vom Wortsinn des Ausdrucks "Dogmatik" her nahegelegt. Denn dieser kommt von "Dogma", und als Dogmen werden traditionell die obersten Lehrsätze eines Lehrsystems bezeichnet50 • In der Tat stehen Ableitbarkeitsbeziehungen zwischen den Sätzen der Dogmatik außer Zweifel. Eine andere Frage ist, ob sich Dogmatiken vollständig axiomatisieren lassen51 • Das wäre wünschenswert, ist aber vom Theoriebegriff. nicht gefordert. Auch das Erfordernis der Konsistenz bietet für Dogmatiken keine andere Schwierigkeiten als für Theorien in anderen Disziplinen. Einer näheren Erörterung bedarf dagegen das Erfordernis der Prüfbarkeit. Dieses läßt sich jedoch nicht unabhängig von der Frage nach dem Status und der Funktion dogmatischer Aussagensysteme behandeln. Was ihren Status betrifft, so ist davon auszugehen, daß Dogmatiken auf die Erkenntnis geltenden Rechts gerichtet sind. Die Hauptschwierigkeit einer Theorie der Rechtsdogmatik besteht darin, daß es keine völlige Einigkeit über den Begriff des geltenden Rechts und damit über das Erkenntnisobjekt der Rechtsdogmatik gibt. In der hier gebotenen Kürze sei dazu nur gesagt, daß Rechtsdogmatiken ihren Gegenstandsbereich in aller Regel unter drei verschiedenen Aspekten untersuchen52• Der erste definiert das Recht durch die Tatsache seiner Gesetzheit durch eine kompetente äußere Autorität. Der zweite definiert es durch die Tatsache, daß eine Norm entweder von den Rechtsgenossen befolgt oder bei Nichtbefolgung von den Gerichten angewendet wird. Der dritte definiert es durch Gerechtigkeit und Rechtsvernunft. Demgemäß können drei verschiedene Dimensionen rechts41 Vgl. dazu K. W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Rechtswissenschaft, Berlin 1969. 60 Angesichts des noch immer unausgetragenen Streits um die Wissenschaftlichkeit und den Charakter der Rechtsdogmatik (vgl. dazu z. B. U. Meyer-Cording, Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein?, Tübingen 1973) besteht Veranlassung, an das gewissermaßen klassische und wertneutrale, noch bei Kant (Kritik der reinen Vernunft, Methodenlehre, u. ö.) nachweisbare Wortverständnis von "Dogmatik" als Lehrsystem zu erinnern. Zum Problem s. jetzt auch U. Neumann I J. Rahlf I E. v .. Savigny, Juristische Dogmatik und Wissenschaftstheorie, München 1976. 61 Vgl. dazu E. v. Savigny, Zur Rolle der deduktiv-axiomatischen Methode in der Rechtswissenschaft, in: G. Jahr I W. Maihofer (Hrsg.), Rechtstheorie. Beiträge zur Grundlagendiskussion, FrankfurtiM. 1971, 315- 351; F. Rödig, Axiomatisierbarkeit juristischer Systeme, in: A. Kaufmann (Hrsg.), EDV und Recht, Berlin 1973, 49 - 90. 62 Vgl. zum folgenden R. Dreier, Zum Selbstverständnis der Jurisprudenz als Wissenschaft (oben Fn. 44) 41 ff.; ders., Was ist und wozu Allgemeine Rechtstheorie? (oben Fn. 25) 14 ff., jeweils m. w. N.
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dogmatischer Tätigkeit unterschieden werden. Die erste ist auf die Erkenntnis des Gesetzesrechts, die zweite auf die Erkenntnis des Richterrechts53, die dritte auf die Erkenntnis gerechten oder vernünftigen Rechts gerichtet. Es könnte gezeigt werden, daß sich jede dieser Dimensionen, wenngleich in unterschiedlicher Intensität, in jeder Rechtsdogmatik (womit hier nur die Dogmatiken des neuzeitlichen kontinentaleuropäischen Kodifikationsrechtskreises gemeint sind) nachweisen läßt. Dogmatiken haben folgeweise einen mehrdimensionalen Status. Faßt man den Begriff der Empirie in einem weiten Sinne, so sind Dogmatiken, insofern sie auf die Erkenntnis des Gesetzes- und des Richterrechts gerichtet sind, empirische bzw. empirisch-analytische Theorien54 • Ihre diesbezüglichen Aussagen sind Rechtssatzbehauptungen, die sich an den Sätzen des Gesetzes- und Richterrechts entweder verifizieren oder falsifizieren lassen55 • Eine solche Prüfung ist freilich im strengen Sinne nur möglich, soweit die Dogmatik die Sätze des Gesetzes- und Richterrechts lediglich beschreibend wiederholt und analysiert sowie Mehrdeutigkeiten durch beweisbare Bezugnahmen auf den faktischen Willen des Gesetzgebers bzw. der Spruchpraxis beseitigt. Soweit sie dagegen Mehrdeutigkeiten und Unvollständigkeiten des empirischen Rechts ausgesprochen oder unausgesprochen unter Bezugnahme auf Gesichtspunkte der Gerechtigkeit und Rechtsvernunft ausräumt, hat sie den Status einer normativen bzw. normativ-analytischen Theorie. Die Prüfbarkeit ihrer diesbezüglichen Aussagen hängt davon ab, ob man die rationale oder wissenschaftliche Entscheidbarkeit praktischer Fragen überhaupt bejaht. Da es dafür, wie bemerkt, gute Gründe gibt, kann das Erfordernis der Prüfbarkeit, jedenfalls prinzipiell, auch insoweit bejaht werden. Dogmatiken weisen schließlich, wie schon angesprochen, analytische Theorieelemente auf, insofern sie die Begriffe und Sätze des Rechts logisch und semantisch analysieren. Ihre diesbezüglichen Aussagen unterliegen der Prüfbarkeit gemäß dem Widerspruchsprinzip und den Erfordernissen einer adäquaten, exakten und fruchtbaren Explikation. 63 Genauer: des Richterrechts und des Gewohnheitsrechts, wobei das Richterrecht in den neuzeitlichen Kodifikationsrechtsordnungen, weil und insoweit diese durch die Positivität bzw. die Gesetztheit des Rechts gekennzeichnet sind, als Gesetzesrecht nach Maßgabe seiner richterlichen Konkretisierung und Fortbildung zu definieren wäre. 5' Vgl. die alte Unterscheidung zwischen empirischer und philosophischer bzw. reiner Rechtslehre; z. B. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (1797), Werke, Ausg. Weischedel, Bd. IV, Darmstadt 1966, 336. 55 Vgl. G. Jahr, Zum Verhältnis von Rechtstheorie und Rechtsdogmatik, in: ders., Maihofer (Hrsg.), Rechtstheorie (oben Fn. 51), 303 - 311; E. v. Savigny, Methodologie der Rechtsdogmatik: Wissenschaftstheoretische Fragen, in: Neumann I Rahlff I v. Savigny (oben Fn. 50) 7 - 13.
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Es ist deshalb gerechtfertigt, Dogmatiken im Sinne von Rechtsgebietstheorien als wissenschaftliche Theorien zu qualifizieren. Daß diese Qualifikation umstritten ist, hat, soweit ersichtlich, vor allem zwei Gründe. Der erste liegt darin, daß nach wie vor keine Einigkeit darüber besteht, ob praktische und damit auch rechtsethische Aussagen rational bzw. wissenschaftlich prüfbar sind. Dazu kann nur das oben Gesagte wiederholt werden. Der zweite Grund ist, daß man Theorien durch ihre Erklärungsfunktion definiert und diese der Dogmatik abspricht. Dem liegt die von Dilthey begründete Dichotomie von Erklären und Verstehen und folgeweise ein Erklärungsbegriff zugrunde, der durch Ursache/Wirkung-Relation bestimmt ist. Damit ist abermals die Differenz zwischen Natur- und Geisteswissenschaften angesprochen. Auch dazu sei zunächst auf das bereits Gesagte Bezug genommen. Sodann ist darauf hinzuweisen, daß Erklären im weitesten Sinne nichts weiter als die Angabe von Gründen ist und Gründe nicht nur Ursachen, sondern auch normative Prinzipien sein können5e. Die Angabe eines normativen Prinzips wiederum kann nicht nur eine Begründung im Sinne einer Rechtfertigung, sondern auch eine Begründung im Sinne einer empirisch-analytischen bzw. deskriptiv-analytischen Erklärung sein. Dogmatiken haben Erklärungsfunktion, weil und insoweit sie das empirische Recht deskriptiv-analytisch, d. h. in einer Weise erklären, die die gleiche logische Struktur wie die deduktiv-nomologische Erklärung in anderen empirischen Wissenschaften hat. Das läßt sich vor allem an den Prinzipientheorien exemplifizieren, die hier deshalb angeführt seien, weil sie - ebenso wie die Grundbegriffstheorien - für den Theoriecharakter der Dogmatiken insgesamt charakteristisch und konstitutiv sind. Prinzipientheorien haben ferner die ebenfalls für Dogmatiken insgesamt kennzeichnende Eigenschaft, daß sie sowohl der Erklärung als auch der Rechtfertigung empirischer Normen dienen können. Das sei am Beispiel der Willens- und der Erklärungstheorie als Elementen der Theorie der Willenserklärung verdeutlicht57 • Beide geben unterschiedliche Antworten auf die Frage, ob in den Fällen einer Diskrepanz zwischen Wille und Erklärung (z. B. infolge Irrtums, Täuschung oder geheimen Vorbehalts des Erklärenden) der Wille oder die Erklärung für den Eintritt der intendierten Rechtsfolge maßgebend sei. Die 56 Zum Begriff der Erklärung vgl. z. B. H. Lenk, Art. Erklären, Erklärung, in: Hist. Wb. d. Philos., hrsg. v. J. Ritter, Bd. 2, Basel/ Stuttgart 1972, 690 - 701, m. w. N. - Die Erklärungsfunktion von Rechtsgebietstheorien und dogmatischen Teiltheorien bedürfte im übrigen einer ausführlicheren Analyse, als sie in diesem Beitrag möglich ist. 57 Vgl. dazu Enneccerus I Nipperdey, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, Bd. I (2 Halbbde. mit durchgehender Paragraphen- und Seitenzählung), 15. Aufl., Tübingen 1959, § 145 I Au. § 164.
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Willenstheorie behauptet den Vorrang des Willens, die Erklärungstheorie den Vorrang der Erklärung. Beide Theorien formulieren somit ein normatives Prinzip, die Willenstheorie das Prinzip des Vorrangs des Willens, die Erklärungstheorie das Prinzip des Vorrangs der Erklärung. Die in ihnen enthaltene Geltungsbehauptung kann sowohl empirisch als auch normativ begründet sein. Sie ist empirisch begründet, wenn behauptet wird, daß eines dieser Prinzipien den einschlägigen gesetzlichen Vorschriften des BGB tatsächlich (als vom Gesetzgeber gewollt) zugrundeliegt. Der Ausdruck "normatives Prinzip" ist dann deskriptiv gemeint. Dagegen ist die Geltungsbehauptung normativ begründet, wenn eines jener Prinzipien als vernünftig oder richtig gerechtfertigt wird. Dazu bedarf es, wie hier nicht weiter ausgeführt werden soll, einer bewertenden "Abwägung" der in den möglichen Fällen einer Diskrepanz zwischen Wille und Erklärung typischerweise kollidierenden Interessen des Erklärenden, des Erklärungsgegners und der Sicherheit des rechtsgeschäftliehen Verkehrs. Im Falle einer empirischen Begründung des Prinzips hat die es formulierende Theorie den Status einer empirischen Theorie, im Falle der normativen Begründung den Status einer normativen Theorie. Da aber in beiden Fällen zur vollständigen Formulierung der Theorie nicht nur die Angabe des Prinzips, sondern, losgelöst von den positiv-gesetzlichen Einzelvorschriften, auch die analytische Entfaltung seiner weiteren möglichen Ableitungen gehört, haben die Theorien näherhin den Status einer empirisch-analytischen oder einer normativ-analytischen Theorie. Nun läßt sich im BGB für jedes der genannten Prinzipien eine Reihe gesetzlicher Vorschriften anführen. Diese Vorschriften können somit auf das Prinzip, als dessen Ableitungen sie sich darstellen, "zurückgeführt" und durch die dementsprechende Theorie "begründet" werden58. Diese Begründung ist je nach dem Status der Theorie entweder eine empirisch-analytische "Erklärung" oder eine normativ-analytische "Rechtfertigung". Beide Prinzipien lassen sich indessen nicht nur zu Erklärung und/oder Rechtfertigung geschriebener Gesetzesvorschriften, sondern vermöge der Ableitung weiterer, bisher nicht positivierter Normen auch zur Lückenfüllung heranziehen. Diese lückenfüllende, innovativ-heuristische Funktion stellt sich aber ebenfalls je nach dem Status der Theorien unterschiedlich dar. Hat man eines der beiden Prinzipien als kraft seiner Vernünftigkeit, d. h. rechtsethisch geltend ausgewiesen, vertritt man also eine normative Prinzipientheorie, so impliziert das die Behauptung rechtsethischer Geltung aller seiner Ableitungen. Das Problem ist dann nur, eine Theorie der Lückenfüllung zu entwickeln, die den Rückgriff auf rechtsethisch begründete Prinzi58 Das logische Schlußschema dieser und ähnlicher Ableitungen kann hier nicht näher analysiert werden.
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pien erlaubt. Vertritt man dagegen eine empirisch-analytische Prinzipientheorie, so sind deren Ableitungen, soweit sie nicht gesetzlich positiviert sind, noch nicht als geeignete Kandidaten sinnvoller Lükkenfüllung erwiesen - dies insbesondere dann nicht, wenn man der Auffassung ist, daß sich der Gesetzgeber des BGB für keine der beiden hier diskutierten Prinzipien eindeutig entschieden hat. In diesem Falle bedürfte es zusätzlicher Argumente, etwa einer Gesetzesanalogie, um eine Lückenfüllung zu rechtfertigen. Man kann aber auch zu der Auffassung gelangen, daß sich der Gesetzgeber im Grundsatz für das Willensprinzip entschieden und dieses nur ausnahmsweise zugunsten des Erklärungsprinzips durchbrochen habe. Die Willenstheorie kann dann bei Wahrung ihres empirisch-analytischen Status im Regelfall ohne zusätzliche Argumente lückenfüllende Funktionen übernehmen, nämlich weil und insoweit sich für die aus ihr abgeleiteten Normen behaupten läßt, daß sie vom Willen des Gesetzgebers gedeckt sind. Im übrigen ist es natürlich möglich und sogar die Regel, daß sich ein Prinzip sowohl als vernünftig rechtfertigen als auch als vom Gesetzgeber gewollt behaupten läßt. Die Theorie, die dieses Prinzip formuliert und expliziert, hat dann sowohl den Status einer empirisch-analytischen als auch einer normativ-analytischen Theorie, und ihre Funktionen können sowohl erklärend als auch rechtfertigend als auch innovativ sein. Schon diese grobe und unvollständige, die Dimension der richterlichen Spruchpraxis außeracht lassende Skizze macht deutlich, wie kompliziert und vielschichtig eine genauere Analyse des Status und der Funktion dogmatischer Theorien ist. Im vorliegenden Zusammenhang mag das Beispiel genügen, um zu zeigen, daß es auch funktionell gerechtfertigt ist, den juristischen Dogmatiken den Charakter wissenschaftlicher Theorien zuzusprechen. Im übrigen ist es eine weitere Frage für sich, ob Dogmatiken ihrer Aufgabe, der Erkenntnis des geltenden Rechts, gerecht werden, wenn sie das Recht lediglich deskriptiv-analytisch im gekennzeichneten Sinne erklären und ggf. normativ rechtfertigen, aber auf kausalgesetzliche, insbesondere ökonomische, soziologische, psychologische und historische Erklärungen verzichten. Anders ausgedrückt ist das die Frage, ob und inwieweit Dogmatiken um ihrer Aufgabe Willen die Qualität integraler Theorien haben sollten. Diese Frage ist der Sache nach im Streit zwischen Begriffsjurisprudenz und soziologischer Jurisprudenz sowie in der Debatte um eine kritische Theorie der Rechtswissenschaft lebhaft erörtert worden. Zu ihrer Beantwortung bedürfte es insbesondere einer näheren Analyse des Praxisbezuges der Rechtsdogmatik. Darauf muß hier verzichtet werden. Nur am Rande sei dazu darauf hingewiesen, daß das jüngst von Niklas Luhmann an die Rechtsdogmatik gerichtete Postulat, sie
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habe "gesellschaftsadäquate Rechtsbegriffe" zu bilden59, als Postulat integraler Theoriebildung, vor allem hinsichtlich der dogmatischen Grundbegriffs- und Institutstheorien, interpretiert werden kann. 3. Hier fehlt der Raum, den Theoriecharakter der dogmatischen Teiltheorien über die bereits gegebenen Erläuterungen hinaus ausführlich zu erörtern. Doch seien zumindest einige Thesen dazu geäußert. Eine erste These ist, daß mit den vorstehenden Bemerkungen zum Theoriecharakter der Rechtsgebietstheorien die Entscheidung zugunsten des Theoriecharakters der dogmatischen Teiltheorien bereits gefallen ist. Zur weiteren Prüfung empfiehlt es sich, die verbleibenden Theorietypen in zwei Klassen zu unterteilen. Zur ersten sollen diejenigen Theorien gezählt werden, die sich direkt oder indirekt auf eine Mehrheit von Normen beziehen. Hierin gehören die Grundbegriffs-, die Prinzipien-, die Instituts- und die Qualifikationstheorien. Sie können, obwohl der Ausdruck für die Grundbegriffs- und die Prinzipientheorien mißverständlich ist, "Theorien mittlerer Reichweite" heißen. Für die zweite Klasse bleiben dann die normvorschlagenden und die interpretativen Theorien. Ihre Gemeinsamkeit besteht darin, daß sie sich auf jeweils eine Einzelnorm beziehen. Sie können daher "singuläre Theorien" heißen. a) Was die Theorien mittlerer Reichweite betrifft, so dürfte es sich unschwer zeigen lassen, daß sie strukturell und funktionell den Anforderungen des Theoriebegriffs genügen. Als Beleg dafür sei auf die obigen Ausführungen zum Status und zur Funktion der Prinzipientheorien hingewiesen. Im übrigen bedürfte es einer Monographie für sich, um den mannigfachen Einzelfragen nachzugehen, die die hier einschlägigen Theorien nicht nur nach Status und Funktion, sondern auch nach Konsistenz und Prüfbarkeit sowie Konkurrenz und funktionaler Äquivalenz aufwerfen60 • Der breite Bereich juristischer Analyse, der sich hier eröffnet, ist noch wenig erforscht. Doch dürfte sich die Fruchtbarkeit der Frage nach der Theoriequalität dogmatischer Theorien nicht zuletzt daran erweisen, daß sie Veranlassung gibt, die Kriterien der Rationalität, die die juristische Theoriebildung immer schon anstrebt, präziser zu fassen und an Einzeltheorien zu überprüfen. b) Zweifel an der Theoriequalität dogmatischer Theorien erheben sich insbesondere hinsichtlich der singulären, also der normvorschlagenden und interpretativen Theorien. Sie ergeben sich daraus, daß diese Theorien prima facie nicht Aussagensysteme sind, sondern sich 59 Vgl. N. Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, Stuttgart I Berlin I Köln I Mainz 1974, 49 ff. eo Zum Problem der Äquivalenz zweier dogmatischer Theorien vgl. Haag (oben Fn. 1).
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in einem konkreten Norm- bzw. Interpretationsvorschlag erschöpfen. Systeme von Aussagen sind sie freilich dann, wenn man diese Vorschläge mit ihren Begründungen oder Rechtfertigungen zusammennimmt. Der Wortgebrauch legt es indessen nahe, nur den Vorschlag oder die Hypothese und nicht auch deren Begründung "Theorie" zu nennen; das schon deshalb, weil die Theorie richtig und ihre Begründung falsch sein kann. Doch mag dies hier auf sich beruhen. Unterteilt man im übrigen die Tätigkeit der juristischen Dogmatik, insofern diese als empirische Wissenschaft verfährt, nach dem Modell anderer empirischer Wissenschaften in die Arbeitsphasen der Deskription, der Hypothesenbildung und der Theorienkonstruktion61 , so scheint die Bildung interpretativer und normvorschlagender "Theorien" ins Vorfeld technischer Theorienkonstruktion zu gehören. Dennoch gibt es Gründe, die den eingebürgerten Wortgebrauch rechtfertigen. Denn auch jene singulären Vorschläge bzw. Hypothesen haben lmplikationen, deren Ausformulierung zur Theorie gehört und an die die Anforderungen der Konsistenz (nicht zuletzt der externen Konsistenz) und der Prüfbarkeit zu stellen sind. Berücksichtigt man dies, so lassen sich auch die normvorschlagenden und interpretativen Theorien als Theorien im technischen Sinne qualifizieren.
IV. Zur Theoriebildung in der Rechtstheorie Eine Untersuchung zur Theoriebildung in der Jurisprudenz bliebe unvollständig, wenn sie nicht auch einen Blick auf den Komplex rechtstheoretischer Theoriebildung (der Ausdruck "rechtstheoretisch" im oben definierten weiten Sinne verstanden) werfen würde. Die abschließenden Bemerkungen hierzu müssen sich aus Raumgründen auf wenige Sätze beschränken. Diese sind aber angebracht, um den Zusammenhang zwischen rechtsdogmatischer und rechtstheoretischer Theoriebildung zu verdeutlichen. 1. Es wurde schon darauf aufmerksam gemacht, daß etliche der dogmatischen Theorien bzw. Theoriegruppen, wenngleich auf höherer Abstraktionsebene, im Bereich der Rechtstheorie wiederkehren, d. h. nicht nur den Status rechtsdogmatischer, sondern auch rechtstheoretischer Theorien haben. Das gilt insbesondere für die Instituts-, die Prinzipien- und die Grundbegriffstheorien, also etwa die Theorien des Eigentums, des Rechtsstaats, des subjektiven Rechts und der juristischen Person. Es liegt deshalb nahe, die Rechtstheorie, soweit sie Objekttheorie des Rechts ist, als "allgemeine Rechtsdogmatik" (im wissenschaftstheoretischen wie im disziplinären Sinne) aufzufassen, d. h. als eine Theorie e1
Dazu v. Kutschera (oben Fn. 31) I 253.
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oder Disziplin, die sich von den "besonderen Rechtsdogmatiken" lediglich durch die Erweiterung ihres Gegenstandsbereichs über eine bestimmte Rechtsordnung hinaus und folgeweise durch den Abstraktionsgrad ihrer Begriffsbildung unterscheidet62• Das wird auch dadurch nahegelegt, daß sich die Rechtstheorie im engeren und spezüischen, von der klassischen Rechts- und Sozialphilosophie abgelösten Sinne im deutschen Sprachgebrauch zuerst als "allgemeine Rechtslehre" herausgebildet und durch diese Selbstbezeichnung von der Rechtsdogmatik als "besondere Rechtslehre" unterschieden hat. Dem steht nichts entgegen; im Gegenteil. Jene Auffassung hebt die enge Wechselwirkung zwischen rechtsdogmatischer und rechtstheoretischer Theoriebildung ins Bewußtsein. Allerdings wäre dann weiterhin je nach dem Umfang des Gegenstandsbereichs zwischen Rechtstheorien verschiedener Allgemeinheitsstufen zu unterscheiden. Wichtiger ist jedoch, sich zu vergegenwärtigen, daß sich die Rechtstheorie als allgemeine Rechtslehre von vornherein zwar gegenständlich extensiv, aber aspektuell restriktiv definiert hat63 • Sie begriff sich, in der Terminologie Nawiaskys64, als "Rechtsformenlehre" und setzt sich damit sowohl von der klassischen Rechtsphilosophie als "Rechtswertlehre" als auch von der neueren Rechtssoziologie als "Rechtsgesellschaftslehre" ab. M. a. W.: Das Fach Rechtstheorie im engeren Sinne konstituierte sich mit einem restriktiven Theorieverständnis, nämlich als deskriptiv-analytische Theorie des positiven als gesetzten Rechts. Damit fragt sich im Blick auf die Rechtstheorie im weiteren Sinne, d. h. als Inbegriff der systematischen juristischen Grundlagendisziplinen, ob es für sie beim unverbundenen Nebeneinander unterschiedlicher, insbesondere segmentärer Theorietypen bleiben muß oder ob in ihr Möglichkeiten reintegrierender, d. h. integraler Theoriebildung bestehen. 2. Bei der Prüfung des Theoriecharakters der Rechtsgebietstheorien wurde bereits die Frage aufgeworfen, ob und inwieweit juristische Dogmatiken um ihres Praxisbezuges willen den Status integraler Theorien haben sollten. Diese Frage dürfte, wie hier nicht näher erörtert werden kann, mit der Maßgabe zu bejahen sein, daß Dogmatiken ihren Gegenstand, das positive Recht, zwar nicht unter allen erdenklichen, aber doch unter denjenigen Aspekten zu untersuchen haben, die für die juristische Praxis wichtig sind, also auch in rechtssoziologischer und rechtsethischer Hinsicht, weil und insoweit ohne diese die Struktur ez Vgl. G. Jahr (oben Fn. 55) 307 f. ea Zur Geschichte der Rechtstheorie vgl. die Bemerkungen bei Dreier, Was ist und wozu Allgemeine Rechtstheorie? (oben Fn. 25) 7 ff. " H. Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre als System der rechtlichen Grundbegriffe, 2. Aufl., Einsiedeln I Zürich I Köln 1948, 1 ff.
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und die Funktion des positiven Rechts, insbesondere der Vorgang richterlicher Gesetzeskonkretisierung, nicht angemessen verstanden werden kann86• Definiert man die Aufgabe der Rechtstheorie im weiteren Sinne durch ihren Dogmatikbezug, so ist damit auch für die das Postulat integraler Theoriebildung grundsätzlich gegeben. Das bedeutet freilich noch nicht, daß dieses Postulat auch wissenschaftlich einlösbar ist. Die analytische (ebenso wie Teile der realistischen, d. h. soziologischen und psychologischen) Rechtstheorie behauptet, wie hier als bekannt vorausgesetzt werden soll, ihr restriktives Selbstverständnis gerade um der Wahrung ihrer Wissenschaftlichkeit im Sinne des neuzeitlichen, vom Modell der mathematischen Naturwissenschaften abgezogenen Wissenschaftsbegriff willen. Inzwischen gibt es jedoch Anzeichen dafür, daß die restriktiven Tendenzen des Fachs rückläufig sind66. Vier solcher Anzeichen lassen sich thesenförmig anführen67 • Erstens hat das immer spürbarer werdende Bedürfnis nach Spezialisierung gleichsam im Gegenzuge ein wachsendes Bedürfnis nach universal-integraler Theoriebildung erzeugt. Zweitens hat die wissenschaftstheoretische Grundlagendebatte der letzten Jahrzehnte, insbesondere die Diskussion des Abgrenzungskriteriums, die Grenze zwischen wissenschaftlicher und philosophischer Theoriebildung zunehmend unscharf werden lassen. Drittens hat die schon erwähnte "Wende zur Pragmatik" innerhalb der analytischen Sprach- und Wissenschaftstheorie deren Differenz zur Hermeneutik fortschreitend in Frage gestellt. Und viertens hat die vieldiskutierte "Rehabilitierung der praktischen Philosophie" jedenfalls im Ansatz den Grund beseitigt, der zur Loslösung der neueren Rechtstheorie von der klassischen Rechts- und Sozialphilosophie geführt hatte. Wenn diese Anzeichen nicht täuschen, so ist zu vermuten, daß der Bereich rechtstheoretischer Theoriebildung in Zukunft verstärkt von Reintegrationspostulaten, insbesondere vom Postulat universal-integraler Theoriebildung beherrscht sein wird68• Daß sich damit verschärft das Problem wissenschaftlicher Verantwortbarkeit, vor allem rationaler Prüfbarkeit solcher Theoriebildung stellt, liegt auf der Hand, 05
Zur Relevanz und Problematik des soziologischen Aspekts vgl. H.
Schelsky, Nutzen und Gefahren sozialwissenschaftlicher Ausbildung von
Juristen, JZ 1974, 410 - 416. 80 Als Belege seien hier nur das anspruchsvolle Konzept von A. Podlech, Architektonik einer möglichen Rechtstheorie, Rechtstheorie 7 (1976) 1 - 21, und die oben in Fn. 1 zitierte Arbeit von W. Krawietz genannt. 87 Belege dazu bei R. Dreier, Rechtstheorie und Rechtstheologie, in: U. Nembach (Hrsg.), Rechtstheologie heute, Göttingen 1978 (Göttinger Theologische Arbeiten, hrsg. v. G. Strecker; im Druck). os Vgl. die Hinweise auf diese Tendenz bei H. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit (oben Fn. 30) 284 ff., bes. 286 f. 9•
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ebenso, daß dies nicht zuletzt ein Problem der Abgrenzung zwischen wissenschaftlicher Theoriebildung und weltanschaulicher Sinnproduktion ist. Die Debatte um das Dilemma "rechter" und "linker" Theoriebildung zeigt an, vor welchen Schwierigkeiten jeder Versuch steht, jenes Postulat zu realisieren69• 3. Die damit angedeutete Problematik kann im Rahmen dieses Beitrages nicht mehr behandelt werden. Das gilt auch für die Frage, welche Theorien bzw. Theorieansätze als Anwärter für eine Basistheorie rechtstheoretischer Theoriebildung in Betracht kommen70 sowie ob und inwieweit hinsichtlich ihrer ein "echter" oder ein "unechter" Theorienpluralismus vorliegt71 • Näherhin wäre dazu auf die Diskussion zur Theorie der SozialWissenschaften im allgemeinen wie zur theoretischen Rechtssoziologie im besonderen einzugehen. Dazu sei hier abschließend nur noch auf die einschlägigen Arbeiten hingewiesen, die der Jubilar dieser Festschrift dem angesprochenen Fragenkreis gewidmet hat, insbesondere auf sein Programm einer "transzendentalen Theorie der Gesellschaft" 72, seine Ausarbeitung eines "personenfunktionalen Ansatzes" der theoretischen Rechtssoziologie73 und sein metasoziologisches Konzept einer "Anti-Soziologie" 74 • Es wäre nochmals ein Thema für sich, diese Arbeiten auf die Konstanz ihrer Grundgedanken und auf die Modifikationen in der Ausführung derselben zu untersuchen.
88 Zur Debatte um die "linke Theorie" vgl. K. Sontheimer, Das Elend unserer Intellektuellen. Linke Theorie in der Bundesrepublik Deutschland, Harnburg 1976; H. Schelsky, Die Arbeit tun die anderen (oben Fn. 27). 70 In der einzigen Plenarveranstaltung des 17. Deutschen Soziologentages 1974 in Kassel wurden im Rahmen eines Theorienvergleichs folgende Theorieansätze präsentiert und diskutiert: der kommunikationstheoretische (Habermas), der systemtheoretische (Luhmann), der handlungstheoretisch-interaktionistisch-phänomenologische (Matthes), der verhaltenstheoretische (Opp) und der historisch-materialistische (Tjaden); vgl. die Dokumentation in Lepsius (Hrsg.), Zwischenbilanz der Soziologie (oben Fn. 34) 14 - 82. 71 Zu dieser Unterscheidung R. Klima, Theorienpluralismus in der Soziologie (oben Fn. 34) 198 ff. 72 H. Schelsky, Ortsbestimmung der deutschen Soziologie (1959), 3. Aufl., Düsseldorf I Köln 1967, 93 ff.; vgl. ergänzend Schelskys Ansatz zu einer Theorie der Wissenschaften, in: ders., Einsamkeit und Freiheit (oben Fn. 30) 278ff. 71 H. Schelsky, Systemfunktionaler, anthropologischer und personfunktionaler Ansatz in der Rechtssoziologie, JbRSozRTh 1 (1970) 39 - 89, bes. 69 ff.; vgl. ergänzend ders., Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, Köln I Opladen 1961, auch abgedr. in: ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf!Köln 1965, 439 - 480. n H. Schelsky, Die Arbeit tun die anderen (oben Fn. 27), 251 ff.
Law and positive morality By Hendrik J an van Eikema Hommes 1. The relation of law and positive morality is one of the most difficult problems of legal philosophy. The famous German jurist Rudolf von Jhering (1818 -1892) spoke of the "Cape Horn" of legal philosophy.
Very influential became the way in which Christian Thomasius, a well-known natural law theorist from the 17th and the first part of the 18th century (1655 -1728), distinguished between law and (positive) morality. He taught that the purpose of morality is inner peace (pax interna); that its norms have validity for man's inner disposition, not for his external behaviour; that its norms can not be maintained by external sanction. By contrast, the purpose of law is the external peace within the state, achieved by the prohibition of infractions of the legal interests of others; its norms concerned external behaviour and can be maintained by external sanction. See Fundamenta juris naturae et gentium (1705), I, 6 § 40, 42. This distinction was the foundation of Kant's (1724- 1804) distinction between "Morality" and "Legality". Morality, Kant said, requires compliance with a duty on the sole ground of the idea of duty. Formulated differently, out of respect for the norm. According to Kant, morality rules out actions, even when they are in agreement with the norm, when they arenot also inspired by respect for the norm; when, for instance, someone acts in agreement with the norm for fear of punishment, or because he hopes to gain something. Such "empirical" motives - motives derived from experience - actually corrupt morality. True morality, behaviour really in harmony with the norm, may only take place out of the motive of duty. Legal norms, on the other hand, only require compliance with the rule as an external act. As long as the act is in external agreement with the rule, this is legally sufficient. Law is not interested in the inner motives. It is not necessary to comply with the rule from the motive of duty. It is all right, if you do so from fear of punnishment. This ist what Kant calls "legality". Further, Kant remarks that legal rules are related to man's external behaviour and must be determined by the
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state in its legislation. The state is a center of power outside the individual man, ordering the statutes from a higher position, in a heteronomaus way. Morality on its part, is identical with the moral freedom or the "practical reason" of man. Its norms are related to the human disposition and are autonomous. Man is his own morallegislator. True, man must always ask hirnself whether the maxim which he designs as a moral norm can without contradiction have validity as a general norm for all people of the world. If this is the case, the rule is a truly moral norm, a categorical imperative. See M. d. S. 214, 219 ff. In modern times there are many legal philosophers such as the Russian Leon Petrazycki, the Italian Giorgio del Vecchio, The German Gustav Radbruch et. al., who add still another criterion to those mentioned above. They say that morality only contains obligations and does not admit of rights or claims corresponding to these Obligations, while law always connects the obligations with rights and claims. Morality is imperative; law is imperative-attributive. "Imperative" means commanding, imposing obligations; "attributive" means allocating rights. 2. Is this a good way to distinguish legal norms from moral norms? I don't think so. All the characteristics mentioned try to dinstinguish law and morality in an external and formal way. None of them gets at the inner structure of law and morality. Even if these external and formal characteristics did have a real significance for law and morality, they would actually presuppose the existence of legal and moral norms and the inner distinction between them. As it is, the characteristics are in fact incorrect. Is it true, that morality contains only obligations and that law in addition to obligations allows rights or claims? Not at all! Morality too knows moral claims or rights in correlation with moral Obligations. For instance, a wife has a moral claim to the love of her husband; parents have a moral claim to the love of their children, and vice versa. Moral Obligations and claims are correlatives. Moral norms are just as imperative-attributive as legal norms are. The imperative-attributive character does not distinguish law from morality. Rather, the correlation of obligations and claims presupposes the inner structure of law and morality. In morality, we are concerned only with moral obligations and moral claims. We can only speak about moral obligations and claims, when we presuppose the inner structure and proper nature of morality. The same holds for sanction as distinguishing characteristic. It is not true that only legal norms know sanction in case of non-observance of
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its rules, and that moral norms don't. In morality we encounter typical moral sanctions as repentance, regret, remorse. These moral sanctions do force us to make good our moral faults. Also it is not true that all legal norms are maintained by sanctions. The highest constitutional rules in the state, for example, are not maintained by legal sanctions as repair of damages, punishment, etc. Sanction in a moral sense presupposes morality; sanction in a legal sense presupposes law. In other words, the proper structure of law and morality precedes the distinguishing feature of sanction and determines the sanction as moral or legal sanction. The imperative-attributive character, the sanction etc. are external features. They derive their proper normative meaning from the internal structure of law and morality. The external character of these features reveals itself in their equivocality. If we speak about obligation, claim, sanction etc., we always have to ask: what sense is intended here? Does it concern a moral obligationoralegal obligation? A moral oralegal claim? A moraloralegal sanction? In this context I wish to stress the fact that it is clearly incorrect to restriet morality to the internal sphere of human life (man's disposition) and legality to the external sphere of human behaviour. Morality is an aspect also of external behaviour. In addition to personal morality there is social morality. Law is concerned also with the inner disposition of man. Think of good faith (bona fides) in the law of contracts; the principle of mens rea in criminal law. How could we even distinguish between culpa levis and dolus malus without considering the inner disposition of the actor. Distinguishing morality and law in terms of autonomy and heteronomy respectively is not very helpful either. Man's practical reason is not the autonomaus legislator of morality. Just like legal norms, moral norms must be positivized by morally competent authorities. Moral norms too, like the legal ones, are based upon super-arbitrary principles. Thus, the christian churches and other spiritual organisations are important moral authorities, which positivize the moral principles of the love of neighbours, of mercifulness, fidelity, truthfulness, humility etc. in order to make them into positive moral norms. 3. Now the question arises: how is the relation between law and morality? What is their difference and what their coherence? By "law" and "morality" I do not mean in this context a particular legal system (f. e. the Dutch public and civil law) or a particular system of positive morality (f. e. christian or mohammedan morality). I mean the general legal aspect and moral aspect of our temporal experience.
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These aspects I think of as fundamental modes of experience, the foundation on which all concrete positive norms - legal or moral, as the case may be - are based. How do we know that Indonesian law, Australian law, American and Dutch law are really law? Because all these kinds of positive law are founded on the same legal aspect, by which these legal systems can come to existence and can be experienced as legal orders. The same holds for the moral aspect in relation to systems of positive morality. Perhaps you will ask me: why talk about a fundamental legal and moral aspect? Practically, we only have to do with positive law and positive morality. The latter proposition, we must say, is completely true, indeed. We never experience the legal and moral aspect as such! We only experience in our spontaneous every-day-life, positive legal and moral norms. But, in these positive legal and moral norms the fundamental legal and moral aspect is implied. The legal aspect contains fundamentals and basic principles of every possible, positive law. These basic principles as such are not valid or binding law, but they need legal formgiving and positivizing by competent legal organs in order to become valid law. The principles are not all of them ready for positivization at every time and in all places. Many legal principles urge themselves upon the legal consciousness of the competent legal organs only when the time is ripe for it. A single example: the basic principles of civil freedom and equality, the constitutional freedoms etc. presuppose a highly developed society, in which a national state has come to existence. For a national state alone is able to positivize a bill of rights in its constitutional law, and only the state can positivize civillaw within the bounds of its territory. These foundational principles are, therefor, not to be understood as "natural law", in the traditional sense of the word. Natural law in that sense conceives of the legal principles as really valid law at all times and in all places, having legal force per se independently of human positivization. The legal principles as I see them are neither fixed nor static, as in the traditional natural law theory, but rather dynamic. They are the pushing powers of legal formgiving and inspire legislative bodies to making an ever newer and better law, while they simultaneously disclose their juridical meaning ever deeper and richer in this process of renewal and correction of existing law. See my De samengestelde grandbegrippen der rechtswetenschap, 1976, p. 25 ff. A corresponding situation is to be found in the field of morality. Moral principles are not of all times and places. In undeveloped peoples we do not find the principle of compassion, this is only actualized at a higher Ievel of development.
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4. How are the legal aspect and the moral aspect in fact mutually related; how do they fit together?
Two theses are significant in this context. (For the following. I may refer the reader to my De elementaire grandbegrippen der rechtswetenschap, 1972, p. 488 ff.) In the first place: the legal aspect has an irreducible proper meaning with regard to the moral aspect, and vice versa; Secondly: the moral aspect is founded upon the legal aspect, while conversely the legal aspect is disclosed and deepened by anticipations upon the moral aspect (at least in a developed society). Adl. It is often supposed that the legal aspect is part of the moral aspect. An example of this is the natural law theory of Thomas Aquinas. In his view natural law is a department of natural morality. Naturallaw is related here to the moral virtue of justice, in the sense of giving each his due. The antinomy resulting from this view, can be shown as follows: positive law is either derived from natural law (derivatio) or is a specific time-place determination of it (determinatio). Positive law, then, should never be in conflict with naturai law. If somehow there is a conflict, positive law must be changed. At the same time, natural law is founded in the nature of every human being, so that every normal person can determine when and where positive and natural law clash. And every normal person can, therefor, deny the legal force of any positive law that conflicts with natural law. But the moment you allow this, legal certainty is, to say the least, seriously threatened.
In legal life we always find the principle of formal legal force. This requires that a legislation, which has come to existence in a formally correct way (i. e. in harmony with the constitutional and other rules concerning the legislative machinery) must be accepted as legally valid law as long as the legislator has not withdrawn the statute, or the judge in his judication has not refused to apply the statutory rule (contra legem-judication). In other words the nullity of statutes, decrees etc. is not a matter of individual opinion, but must be determined by competent legal bodies in their dynamic process of legal formgiving. Thomas admits this. For according to him, a statute which is in conflict with naturallaw has binding force, even in conscience (!), because otherwise scandals and disorders would result, which are unacceptable in an ordered society (propter vitandum scandalum vel turbationem. S. Th. I. II. q. 96, a. 4).
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In other words Thomas is forced to recognize the proper and irre~ ducible character of positive law in relation to the moral sphere of natural law. This becomes also clear from the fact that he relates the positive-legal determination of naturallaw according to time and place (determinatio) to the formal legal force (ex sola lege humana vigorem habent, S. Th. I. II. q. 95, a. 2). In summary, Thomas' antinomy results in this: if the legal aspect is a part of the moral aspect, positive law may never be in conflict with natural morality. But the irreducible character of the legal aspect forces him to recognize that positive law is valid law even when it conflicts with natural morality. If we want to avoid antinomies such as these, we had better start from the irreducible character of the legal aspect in relation to the moral aspect.
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But this does not mean that the legal aspect and the moral aspect are completely isolated spheres. There is an external and internal coherence. The external coherence reveals itself in the fact that the legal aspect is foundational to the moral aspect. That explains why the positive morality of a people develops on the basis of its positive law. A single example: in a modern state civil law breaks through - a law, in which civilliberty and equality is extended to all men regardless of their nationality, race, religion, social status etc. In this case an elite-morality or caste-morality can no Ionger be acceptable in such a country. Thus, a general public morality originates, in which all people in public life are considered as equals in a moral sense. The external coherence between law and morality expresses itself also in the fact, that the state in its legislation must maintain the public morals. Every civilized country has to combat prostitution, pornography etc. and hold these phenomena within certain limits, in order to protect feelings of decency of the population, especially the young people. In addition to such external coherence there is also an internal coherence between the legal and the moral aspect. In the irreducible structure of the legal aspect itself the coherence with the positive morality is visible in the socalled juridical morality or the legal-ethical principles. These are the principles of reasonableness and fairness, of good faith, of mens rea and strict liability etc. These principles are what the Germans call "Generalklauseln". They have a deepening, refining and disclosing function in legal life. Their juridical meaning
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can never be determined in a general sense, as is the case with normal statutes. These principles of juridical morality are concretizing and individualizing. They express themselves exclusively in the application of more or less general rules in a concrete situation, whereby all individual circumstances of the case must be taken into account. But, although these principles of legal morality express the inner coherence of the legal aspect with the moral aspect, they retain their juridical character and cannot be assigned to morality in the strict sense. This ist, I think, the mistake made by the famous French jurist Georges Ripert in his book La regle morale dans les Obligations civiles (The moral rule in the civil obligations) (1949). He counts the legal morality in law of contracts and civil obligations as belonging to the moral rules in the original moral sense. Let us give an example of this state of affairs, namely the principle which forbids abuse of a legal right (ius in re, "subjektives Recht"). In the Netherlands the High Court of Justice had to adjudicate the following Iitigation (H. R. 2 dec. 1937, N. J. 1938, 353). Two neighbourwomen are quarrelling. Their houses are at a distance of 5 meters from each other, separated by the garden belonging to one of the neighbours, Mister X. In the side-wall of the other neighbour's house (Mister Y) there are two windows, through which enter daylight and fresh air. The owner of this house has a view over his neighbour's property, although he does not possess a servitude of view. A female inhabitant of Y's house and the spouse of Mr. X are quarrelling repeatedly out of their respective houses. Mr. X constructs at a distance of 25 cm. from Mr. Y's house a wooden fence just as high as Y's house. Day-light, fresh air and view are lost. Mr. Y claims removal of the fence, since Mr. X has constructed it without reasonable interest and with the explicit intention to annoy his neighbour. The lower Court which had to judge the case in a former instance considered that the owner had promoted a reasonable interest and in that case was nog legally bound, while constructing the fence (supposing that there was no conflict with a statutory rule nor a violation of a legal right of the neighbour) to give up a particular way of constructing, which he desired, only because of the fact that his neighbour would suffer disadvantage. The legal carefulness, obtaining in social intercourse with regard to another person and property, does not go so far that he, while acting, had to weigh out continually his proper interest and those of others. Our High Court confirmed these considerations. This means that the owner did not act contrary to the principles of legal morality, of legal reasonableness and fairness. There was no abuse of property in a legal sense. This is connected with the principle
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of civilliberty, which implies that the owner has a right of free disposal and use of the object of his property and may make it subservient to all permitted private purposes. Within these Iimits the disposal of his property is never at variance with civil-legal carefulness, even if it is obnoxious to a neighbour. But, should we say that the owner acted correctly from the original moral point of view? In my opinion it was evidently in conflict with the moral love-commandment, which too obtains in the relation between neighbours. In other words, the legal morality must be distinguished from morality in the original sense of the word, although they display an inner coherence.
Der kooperative Verfassungsstaat Von Peter Häberle
Obersicht I. Problem, Begriff, Ausgangsthesen
1. Möglichkeiten, Wirklichkeit und Notwendigkeiten kooperativer Strukturen in den "Staatswissenschaften"
2. Verfassungsstaat und "kooperativer Verfassungsstaat" a) Begriffliches b) Der Wandel von Völkerrecht und Verfassungsstaat im Zeichen der Kooperation c) Erscheinungsformen und verfassungstextliche Anknüpfung 3. Ursachen und Hintergründe 4. Grenzen und Gefährdungen II. Elemente einer Bestandsaufnahme 1. Koordinations-, Koexistenz- und Kooperationsvölkerrecht: Verfassende Elemente der Völkerrechtsgemeinschaft a) Die Organisation der Staatengemeinschaft b) Regionale Formen intensivierter Kooperation c) Ansatzpunkte eines "humanitären" und "sozialen" Völkerrechts d) Staatsübergreifende Kooperation von privater Hand: Die internationale Gesellschaft 2. Vom souveränen Nationalstaat zum kooperativen Verfassungsstaat a) Völkerrechtsoffenheit in Verfassungstexten b) Das Internationale Privatrecht als Ausdruck offener Rechtsstrukturen III. Verfassungstheoretische Konsequenzen 1. Neuorientierung derRechtsquellen-und Interpretationslehre
2. "Gemeines Kooperationsrecht": Integration von Staats- und Völkerrecht 3. Kooperative Grundrechtsverwirklichung 4. Schluß - Zusammenfassung - Ausblick
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I. Problem, Begriff, Ausgangsthesen 1. Möglichkeiten, Wirklichkeit und Notwendigkeiten kooperativer Strukturen in den "Staatswissenscbaften"
Der Typus des westlichen freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaates1 ist als solcher nicht unwandelbar. Jahrhunderte haben an seinem "ensemble" von rechtsstaatliehen und demokratischen, grundrechtlichen und zuletzt sozial- und kulturstaatlichen Elementen gearbeitet, und die Zukunft wird ihn weiter entfalten. Die einzelnen ihn konstituierenden Merkmale sind von der Verfassungslehre in wirklichkeitsnaher Begriffsbildung zu konzipieren2 ; andere Wissenschaften, etwa die (Volks- und Welt-)Wirtschaftswissenschaften sowie die Lehre von den internationalen Beziehungen haben "Zubringerarbeit" zu leisten. Vieles deutet darauf hin, daß der Verfassungsstaat vom Völkerrecht her in eine neue Phase getreten ist: das "Geflecht" internationaler Beziehungen, Gegenstand der Basler Staatsrechtslehrertagung von 1977a, hat eine solche Intensität, Breite und Tiefe gewonnen, daß der westliche Verfassungsstaat in seinem Selbstverständnis darauf angemessen reagieren muß: In diesem Sinn wird der Begriff des kooperativen Verfassungsstaates vorgeschlagen. Der westliche Verfassungsstaat wird als heutiger Typus konzipiert, es gibt ihn als solchen, er läßt in diesem Rahmen Abwandlungen in beträchtlicher Variationsbreite zu: entscheidend ist seine verfaßte, d. h. rechtlich begrenzte, und entscheidend ist seine - nach innen und außen -offene Struktur4• Sie wird garantiert durch pluralistische Demokratie, Grundrechte, Elemente der Gewaltenteilung, die in den gesellschaftlichen Bereich hinein zu erweitern sind5, und durch unabhängige Rechtsprechung. Die ideell-moralische Seite (ausgedrückt durch Verfassungssätze wie "internationale Zusammenarbeit" bzw. "Verantwortung", "Friede in 1 Zu seinen Strukturmerkmalen s. etwa: Badura, Evang. Staatslexikon, 2. Auf!. 1975, Sp. 2708 ff.; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 10. Auf!. 1977, S. 5 ff., 85 ff. 2 Dazu P. Häberle, AöR 99 (1974), S. 437 ff. (bes. S. 442 ff.); 100 (1975). S. 333 (337 f.); 102 (1977), s. 27 ff. s Berichte von Tomuschat und R. Schmidt, VVDStRL 36 (1978)> S. 7 ff.; s. auch Bernhardt und Zuleeg, DÖV 1977, S. 457 ff., 462 ff.; Grabitz, DVBI. 1977, &~tt . t Verfassungsgrundsatz der "offenen Staatlichkeit": Klaus Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, 1967, S. 36 ff.; Zuleeg, DÖV 1977, S. 462 (465). s. auch Isensee, VVDStRL 32 (1974), S. 49 (57 f.). & Dazu der Jubilar Schelsky, Systemüberwindung, Demokratisierung und Gewaltenteilung, 1973, S. 55 ff. und meine Bespr. in AöR 100 (1975), S. 645 (648 f.).
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der Welt", "Grundrechte als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft", Art. 1 Abs. 2 GG, universale(!) Erklärung der Menschenrechte usw.) ist mit der soziologisch-wirtschaftlichen, "staatswissenschaftlich" zu erfassenden6, vielfältig verknüpft: der Meeresboden als "gemeinsames Gut der Menschheit" 7, die Knappheit des wirtschaftlichen "Substrats" (Rohstoffe, Energie, Lebensmittel), der Ressourcen und die soziale Situation der Menschen in Entwicklungsländern zwingt die Staaten in gemeinsame Verantwortung. Der Verfassungsstaat begegnet ihr "innen wie außen" mit wachsender, sich verbreitender und intensivierender Kooperation. Kooperation wird für den Verfassungsstaat ein Teil seines Selbstverständnisses, das er im Interesse der "Verfassungsklarheit" nicht nur praktizieren, sondern in seinen Rechtstexten, besonders in den Verfassungsurkunden, auch dokumentieren sollte. Ein Vergleich der Verfassungsstaaten zeigt, daß sie in dieser Hinsicht noch sehr unterschiedlich "kooperativ" sind8 • "Kooperativer Verfassungsstaat" ist der Staat, der seine Identität gerade auch im Völkerrecht, im Geflecht internationaler und supranationaler Beziehungen, in der Wahrnehmung internationaler Zusammenarbeit und Verantwortung sowie in der Bereitschaft zur Solidarität findet 9• Er entspricht damit weltweiten friedenspolitischen Notwendigkeiten.
Unten bei Anm. 42. Zum Problem vgl. Graf Vitzthum, Der Rechtsstatus des Meeresbodens, 1972; J. Westphal, Neues Seerecht - nicht ohne Schlagseite? in: FAZ v. 31. Okt. 1977, S. 9; Dicke, in: Ged. Schrift f. Klein, 1977, S. 65 ff. s Vgl. die Aufzählung "kooperationsoffener" Verfassungen unten bei Anm. 123 ff. t Ansätze hierzu finden sich aus der Sicht des Völkerrechts bei der Qualifikation der Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten von 1974, zu der etwa Tomuschat, ZaöRV 36 (1976), S. 444 (453) feststellt, sie erkenne "ein Prinzip weltweiter Solidarität an, indem sie den entwickelten Staaten eine allgemeine Verantwortung für die EL (sc.: Entwicklungsländer) zuspricht"; dazu auch Petersmann, ZaöRV 36 (1976), S. 492 (496): "Das neoliberale Wirtschaftsvölkerrecht soll damit durch redistributiv-solidarisches Gemeinschaftsrecht (z. B. auch völkerrechtliche Sicherung « kollektiver wirtschaftlicher Sicherheit» bei der Energie- und Nahrungsmittelversorgung) ergänzt und eine entwicklungspolitische Völkerrechtsentwicklung eingeleitet werden, die der vorangegangenen Entwicklung vom liberalen ,Nachtwächterstaat' zum sozialen Wohlfahrtsstaat sowie der Ergänzung bürgerlicher und politischer durch wirtschaftliche und soziale Menschenrechte komplementär verläuft und teils eine notwendige Abhängigkeit des Wirtschaftsvölkerrechts vom nationalen Wirtschaftslenkungsrecht ist". Daß der Gedanke der internationalen Solidarität nicht neu ist, zeigt Scheuner, 50 Jahre Völkerrecht, in: Fünfzig Jahre Institut für internationales Recht an der Universität Kiel, 1965, S. 53 f. 8
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2. Verfassungsstaat und .,kooperativer Verfassungsstaat"
Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die Vorstellung vom kooperativen Verfassungsstaatl 0 als einer Form des westlichen Verfassungsstaates, die diesen als Typus und als relatives Ideal in die Völkerrechtsgemeinschaft so eingliedert, daß er ihren gegenwärtigen und zukünftigen Aufgaben elastisch gerecht zu werden vermag.
a) Begriffliches Die Begriffsbildungen einer Verfassungslehre sollen nicht nur Wirkliches, schon sicher Erreichtes widerspiegeln, sie sollen als "Vor- und Nachformung" politischer Entwicklungen (i. S. "wissenschaftlicher Vorratspolitik") auch in der Lage sein, mögliche künftige Entwicklungen rechtzeitig aufzufangen und zu verarbeiten. Der kooperative Verfassungsstaat ist nicht nur eine mögliche (künftige) Entwicklungsform des Typus "Verfassungsstaat"; er hat tendenziell schon heute in der Wirklichkeit Gestalt angenommen und er ist vor allem notwendige Form legitimer Staatlichkeit von morgen11 • Der Begriff "Verfassungsstaat" kann hier nur skizziert werden: als Staat, in dem die öffentliche Gewalt rechtlich konstituiert und begrenzt ist durch materielle und formelle Verfassungsprinzipien: Grundrechte, sozialer Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Unabhängigkeit der Gerichte, und in dem sie demokratisch legitimiert ist und pluralistisch kontrolliert wird. Es ist der Staat, in dem auch gesellschaftliche Macht (wachsend) begrenzt wird12 durch "Grundrechtspolitik" und gesellschaftliche (z. B. "publizistische") Gewaltenteilung 13 • Verfassungsstaat ist idealtypisch der Staat der "offenen Gesellschaft" 14• Offenheit hat zunehmend auch eine internationale bzw. "übernationale" Dimension - ihr korrespondiert Verantwortung. Der kooperative Verfassungsstaat betreibt aktiv die Sache der anderen Staaten, der internationalen und supranationalen Einrichtungen und der "fremden" Bürger: seine "Umweltoffenheit" ist "Weltoffen10 Zu diesem Begriff mein Diskussionsbeitrag in VVDStRL 36 (1978), S. 129 f., 163; zust. u. a.: Kopp, H.-P. Schneider, ebd.; Tomuschat hielt den Begriff in der Diskussion ebd. für "erwägenswert". 11 Zum Zusammenwirken von Möglichkeits-, Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenken mein Beitrag: Demokratische Verfassungstheorie im Lichte des Möglichkeitsdenkens, AöR 102 (1977), S. 27 ff. 11 Vgl. meine Besprechung Loewenstein, JZ 1970, S. 196 f. und VVDStRL 30 (1972), s. 43 (56). 13 Vgl. Schelsky (Anm. 5), S. 84 ff., und meine Besprechung AöR 100 (1975), s. 645 (648 f.). u Dazu im Anschluß an Popper mein Beitrag, JZ 1975, S. 297 ff., DÖV 1976, s. 73 ff.
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heit" (vgl. Art. 4 Verf. Jura) 15. Kooperation vollzieht sich politisch und rechtlich. Sie ist vor allem ein Moment der Gestaltung. Der kooperative Verfassungsstaat "entspricht" Entwicklungen zum "kooperativen Völkerrecht"18.
Idealtypisches (z. T. noch "rea1typisches"!) Gegenstück zum kooperativen Verfassungsstaat ist- innerhalb des Spektrums des Typus Verfassungsstaat - der "egoistische", selbstbezogene und nach außen "aggressive" Verfassungsstaat, außerhalb dieses Spektrums der totale Staat mit "geschlossener Gesellschaft" (Sowjetunion oder Chile) und/oder der "wilde" Staat (Entwicklungsländer wie z. Z. Uganda). Insofern das Modell vorbildliche Elemente (hier: der Kooperation) enthält, übt es durch seine ideelle Konzipierung in der Wirklichkeit unmittelbar eine positive (Vorbild-)Wirkung aus, auch wenn es dieser Wirklichkeit partiell noch "voraus" ist. Dieses "gedämpft" optimistische Verfahren11 ist auch unter wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten legitim, sofern es nur rationalisiert wird und nicht einem "euphorischen Optimismus" anheimfällt - der bekanntlich oft ins Gegenteil "guter" Leitbilder und Institute umzuschlagen droht. In vielem ist der kooperative Verfassungsstaat "noch" nicht zur vollen Wirklichkeit gelangt; manches an kooperativen Strukturen, Verfahren, Aufgaben und Kompetenzen ist erst in nuce erkennbar, fragmentarisch ausgebildet oder gefährdet und prekär. Indes ist das kein Hindernis, sondern eher Ansporn zur künftigen Arbeit an dem "Modell" eines kooperativen Verfassungsstaates - einem Modell freilich, das auch Gefährdungen von seitenungebändigter ("wilder") Staaten, autoritärer, antidemokratischer Gebilde ausgesetzt ist, die eine Ambivalenz im Verhältnis Verfassungsstaat und internationale Beziehungen sichtbar werden lassen18.
1a Vgl. unten vor Anm. 136. Hierzu etwa Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, 1975, S. 83 ff.; Verdross I Simma, Universelles Völkerrecht, 1976, S. 59 f., 251 ff. 17 Anders freilich der Jubilar (Anm. 5), S. 17 f.; dazu meine Vorbehalte, AöR 100 (1975), S. 645 (650); zum Problem auch Stolleis, VerwArch 1974, S. 1 (15 mit Anm. 69).- Wie es "utopischen Denkens" für die Überwindung des "wilden" Staates zum "Verfassungsstaat" hin (Th. Morus) bedurfte, bedarf es seiner auch zur Relativierulllg des "Verfassungsstaats" als nationalem Verfassungsstaat: vgl. Grabitz, DVBl. 1977, S. 786 (794). 18 Auf die Gefahren dieses "Gefälles" hat vor allem Zacher in der Basler Diskussion hingewiesen: VVDStRL 36 (1978), S. 134 ff.; vgl. auch den Austritt der USA aus der ILO (F AZ v. 1. 12. 1977). 18
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b) Der Wandel von Völkerrecht und Verfassungsstaat im Zeichen der Kooperation Das aktive Moment der und in der Kooperation hat eine formellverfahrensrechtliche Seite: das Procedere (Bereitschaft zu gemeinsamem Handeln, zu "Abstimmungen", zu Arrangements bis hin zu Verträgen und festen Einrichtungen), und es hat eine materielle (-rechtliche) Seite: solidarische sachliche Ziele wie "Friede in der Welt", "soziale Gerechtigkeit", Entwicklung von anderen Ländern, Menschenrechte19. Beides gehört zusammen. Oft muß das kooperative Verfahren vorausgehen, oft ist es der alleinige Nenner, auf dem kooperiert wird und Einigung möglich ist: der Dissens über die sachlichen Ziele ist (noch) zu groß. Darum ist die "formelle" Seite hoch einzuschätzen. Kooperation beginnt beim punktuellen Kontakt, z. B. Sprechen, geht über das ständige "Sich-Vertragen" und endet im "Füreinander-Da-Sein" (im Kontrakt). Die begrenzte "Anlehnung" an den Begriff des "kooperativen Föderalismus" liegt nahe20• In manchem deutet der kooperative Verfassungsstaat auf Vorformen bundesstaatlicher Strukturen, Verfahren, Kompetenzen und Aufgaben. Doch dürfen solche Analogien angesichts des utopischen Charakters eines "Weltbundesstaates" nur höchst behutsam gezogen werden. Der kooperative Verfassungsstaat lebt aus der Kooperation mit anderen Staaten, Staatengemeinschaften und internationalen Organisationen. Er bewahrt und bewährt dessen ungeachtet aber seine Identität auch gegenüber diesen Gebilden. Er nimmt die verfassenden Strukturen der Völkerrechtsgemeinschaft in sich auf, ohne seine eigenen Konturen völlig zu verlieren oder verfließen zu lassen. Er treibt die "Verfassung" der Völkerrechtsgemeinschaft voran, ohne deren Möglichkeiten zu überschätzen. Er nimmt mit den anderen Staaten z. B. im "Nord/Süd-Dialog" Verantwortung "zur gesamten Hand" wahr, ohne seine individuelle Verantwortung dadurch bequem verdecken zu wollen und zu können. Er entwickelt vor allem - schon textlich - "interne" Verfahren, Kompetenzen und Strukturen und stellt sich Aufgaben, die der Kooperation mit "Außenkräften" gerecht werden, und er öffnet sich ihnen so, daß das Trennungsschema von "Außen" und "Innen", die Ideologie der Impermeabilität und des etatistischen Rechtsto Die Sowjetunion diskreditiert sich z. B. als nur beschränkt kooperativ u. a. dadurch, daß sie sich von internationalen Entwicklungsprojekten zugunsten der Dritten Welt ausschließt. ao Dazu etwa Kisker, Kooperation im Bundesstaat, 1971; ders., Kooperation zwischen Bund und Ländern in der Bundesrepublik Deutschland, DÖV 1977, S. 689 ff.; K. Hesse (Anrn. 1), S. 90 ff. (95 f.); meine Bespr. in DVBl. 1977, S. 869 (870); Esterbauer, Kriterien föderativer und konföderativer Systeme,
1976,
s. 41 ff.,
97 ff.
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147
quellenmonopols21 fragwürdig werden. Er arbeitet an der Entwicklung eines "kooperativen Völkerrechts" mit22 : auf dem Weg zum "gemeinen Kooperationsrecht". Kooperativer Verfassungsstaat ist die innere Antwort des westlichen freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaates auf den Wandel im Völkerrecht und dessen Herausforderung, der zu Kooperationsformen geführt hat. Er ist Verfassungswandel "von außen her", wenn das Bild nicht wegen seines Innen-/Außenschemas bedenklich wäre. Verfassungsstaaten und Völkerrecht bzw. internationale Beziehungen beeinflussen sich heute auch in ihrem Wandel gegenseitig - die "ZweiWelten-" oder "Zwei-Reiche-Lehre" ist fragwürdig geworden! 23 - und sie sind beide zugleich Subjekt und Objekt dieses Wandels. Der offene Verfassungsstaat kann auf Dauer nur kooperativ sein, oder er ist kein "Verfassungs"staat! Offenheit nach außen heißt Kooperation. Umgekehrt führt diese Verknüpfung im guten Fall dazu, daß sich die Staaten ihrerseits zunehmend verfassen: weil sie dem Druck der verfaßten - und sich weiter verfassenden - Völkerrechtsgemeinschaft und der "werbenden" Kraft des Verfassungsstaates 2' ausgesetzt sind, un,beschadet der erwähnten- negativen- "Gefällesituation". Insofern wandeln sich heute Verfassungsstaat und Völkerrecht gemeinsam. Verfassungsrecht beginnt nicht dort, wo Völkerrecht aufhört. Auch das Umgekehrte gilt: Das Völkerrecht hört nicht dort auf, wo das Verfassungsrecht anfängt. Die Verschränkungen und Wechselwirkungen sind viel zu intensiv, als daß diese äußere Form der Komplementarität ein zutreffendes Bild ergäbe. Es entsteht "gemeines Kooperationsrecht". 11 Dazu kritisch P. Häberle, Zur gegenwärtigen Diskussion um das Problem der Souveränität, AöR 92 (1967), S. 259 ff. (271, 283). tz Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, 1975, S. 83 ff. (Funktion und Zielsetzung des gegenwärtigen Völkerrechts: Frieden und Zusammenarbeit), S. 88: "So mündet letztlich auch das Koexistenzrecht in das Recht der friedlichen Zusammenarbeit."- mit dem Hinweis (S. 86) auf W. Friedmann, The Changing Structure of International Law, London 1964, S. 60 ff. und dessen Begriff: "Völkerrecht der Zusammenarbeit"; s. auch Krieles Votum für ein "System globaler Kooperation" (Einführung in die Staatslehre, 1975, S. 13). 2 3 Vgl. Scheuner, VVDStRL 19 (1961), S. 152 (Diskussion): Völkerrecht "als gemeines unter den Staaten geltendes Recht" (im Gegensatz zur dualistischen Lehre, wonach Völkerrecht und Staatsrecht "zwei getrennte Welten" sind); s. auch J. H. Kaiser, ebd., S. 151: "gemeinsamer Rechtsboden", der sich über die Grenze von Völkerrecht und nationalstaatlichem Recht erstreckt. 2' Dazu R. Schmidt, VVDStRL 36 (1978}, S. 67; s. auch Scheuner (Anm. 9), S. 53: "Die Internationale Rechtsordnung wirkt stärker auf die einzelnen Staaten, sogar in gewissem Umfang auf ihre innerstaatliche Ordnung, ein. Daneben vermögen aber auch die Kräfte des innerstaatlichen Bereichs heute in ausgedehnterem Maße unter sich Verknüpfungen über die Staatsgrenzen hinweg herzustellen und Einfluß auf Fragen der internationalen Rechte zu nehmen."
10•
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Der kooperative Verfassungsstaat kennt nicht die Alternative eines "Primats" von Staatsrecht oder Völkerrecht25 ; er macht mit den beobachteten Wechselwirkungen zwischen Außenbeziehungen bzw. Völkerrecht und innerer (nationaler) Verfassungsordnung 26 so ernst, daß Teile des Völkerrechts und innerstaatlichen Verfassungsrechts zu einem Ganzen zusammenwachsen. Darum ist es auch nicht voll geglückt, internationale Menschenrechtsabkommen in bezug auf das GG nur als eine "völkerrechtliche Nebenverfassung" zu bezeichnen27 . Denn diese "Neben-Verfassung" ist in Wirklichkeit integrierender Bestandteil der staatlichen Verfassung des GG, sie steht nicht "neben" ihr. Der kooperative Verfassungsstaat westlicher Prägung ist von vornherein auf Kooperation im internationalen Feld angelegt. Art. 24 GG ist sein adäquater, immanenter Ausdruck, ]st als Regel, nicht als Ausnahme2s zu denken.
c) Erscheinungsformen und verfassungstextliche Anknüpfung ~ie Erscheinungsformen der Kooperation sind vielfältig: Sie reichen von "lockeren" (z. B. "abgestimmtem Verhalten") zu "dichteren": der Konzipierung und kooperativen Erfüllung von "Gemeinschaftsaufgaben" in gemeinsamen Verfahren und Einrichtungen oder der Begründung supranationaler Gebilde usw. Viele Kooperationsformen begegnen noch in der nur vage greifbaren Form des "soft law" 2D oder seinen ganz unverbindlichen Vorformen. Die reiche Stufenfolge möglicher Instrumente der - unterschiedlich intensiven - Einbeziehung des Völkerrechts ins innerstaatliche Recht gehört hierher.
Die Verfassungstexte geben nur erste Anhaltspunkte: Obgleich sie oft hinter der Entwicklung herhinken und die Verfassungs- bzw. Staatspraxis und völkerrechtliche Kooperations- (nicht nur Vertrags-)Praxis oft "weiter" sind, müssen sie in die Diagnose als "Textstufen" einbezogen werden.
Verfassungstextlich dürfte der kooperative Verfassungsstaat wie folgt auf den Begriff und in die juristische Sprache zu bringen sein: Dazu mein Diskussionsbeitrag, VVDStRL 36 (1978), S. 129 f. Dazu Tomuschat, VVDStRL 36 (1978), S. 7 ff., LS V, VI. z1 So aber Tomuschat, ebd., LS 13 a. 28 Zur Bedeutung von Art. 24 GG: BZeckmann, Europarecht, 1976, 8.170 ff. Wegweisend: K. Voget (Anm. 4); Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 52 ff.: " ... tragendes ... Element der grundgesetzliehen Verfassungsentscheidung für die Öffnung der deutschen Staatlichkeit". 29 Dazu die Berichte und Diskussionen in Basel: VVDStRL 36 (1978), S. 7 ff.; Tomuschat, LS 8; R. Schmidt; Kritik durch K. Vogel, ebd. 25
26
Der kooperative Verfassungsstaat
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1. durch allgemeine Bekenntnisse zu "Weltoffenheit", "Solidarität", internationaler Zusammenarbeit und (Mit-)Verantwortung: vgl. Art. 4 Verf. Jura (1977), Art. 24, 26 GG sowie "Dienst" am Frieden (GGPräambel) und Völkerverständigung (Art. 9 Abs. 2 GG) 2. durch spezielle - abgestufte Abs. 1, 2 und 3 GG
Kooperationsformen wie Art. 24
3. durch allgemeine universelle Grund- und Menschenrechtserklärungen: Art. 1 Abs. 2 GG: "Grundlage jeder(!) menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt"
4. durch spezielle Grund- und Menschenrechtsbestimmungen mit "Außenwirkung" (z. B. Art. 2 Abs. 1 GG) 5. durch - abgestufte - Einbeziehung des internationalen Rechts ("Modell Holland" 30 bis "Modell Österreich" 31): Vollzugslehre oder Transformation mit der Zwischenform in Art. 25 GG 6. insgesamt durch die Thematisierung von "Gemeinschaftsaufgaben" (Menschenrechte einerseits Entwicklungshilfe, Umweltschutz, Rohstoffversorgung, Terroristenbekämpfung32, Sicherung des Weltfriedens andererseits). Entscheidend wird die Differenzierung: Kooperation ist der jeweiligen Aufgabe, dem jeweiligen Sachgebiet und der jeweiligen (äußeren) "Lage" des Verfassungsstaates gemäß zu verstehen und textlich zu formulieren. Das "Kooperative" am Verfassungsstaat läßt sich nicht abschließend umschreiben oder gar "katalogisieren": dies widerspräche seiner Offenheit und der Freiwilligkeit der einzelnen Kooperationsformen. Intensität und Grad, Materien, Verfahren und Instrumente der Kooperation besitzen eine beträchtliche Variationsbreite. Zwar gibt es Verfassungsstaaten, die sich der Kooperation auch textlich schon so weitgehend (und weiter) stellen wie das GG33 ; es finden sich aber auch Staaten, die selbstbezogener, "souveräner" konzipiert sind und praktisch entsprechend "egozentrisch", weniger völker(rechts)freundlich und offen agieren (wie Frankreich)34 • Nach all dem begegnen unterschiedliche ao Vgl. Art. 66, 58 Abs. 2, 60 Nieder!. Grundgesetz. Art. 50 Abs. 3 i. V. m. Art. 44 Abs. 1 Bundesverfassungsgesetz Öster-
31
reichs: Völkerrechtliche Verträge mit Verfassungsrang. 32 Vgl. Bartsch, NJW 1977, S. 1985 ff. (über das Europäische übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus); s. auch: wib v. 2. Nov. 1977, S. 3; SZ v. 5./6. 11. 1977: "UNO verurteilt Luftpiraterie." 13 Vgl. die Aufstellung der "außengerichteten" Grundsätze nationaler Verfassungen bei Anm. 123 ff. -Zur Schweiz vgl. Schlußbericht der "Wahlenkommission" VI 1973, S. 637 ff.
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Stufen und Grade der kooperativen Staatlichkeit, was jeweils besondere historische Gründe hat. Entscheidend ist, daß die Tendenz als solche bewußt wird und die Verfassungsdogmatik "vorbereitet" ist auf die Intensivierung und Differenzierung der Kooperation: Sie stellt begriffliche Apparaturen zur Verfügung- entwirft sie vor-, die den weiteren Weg zur Kooperation steuern, ja beschleunigen können. Ein Wort zur Frage der "Grob- und Feineinstellung" des kooperativen Verfassungsstaates auf die internationalen Verflechtungen. Hier müssen Institute und Instrumente überprüft, neue entwickelt oder bekannte verfeinert werden. Begriffe wie "Souveränität" 35, Impermeabilität, das Innen-/Außenschema38, der alte Rechtsquellenkanon (das Verständnis des Völkerrechts) sollten in Frage gestellt werden. Das weltwirtschaftliche Außenverhältnis des Verfassungsstaates ist ein Teil seines Innenverhältnisses geworden! Zu überlegen ist, wie der (kooperative) Verfassungsstaat auf die Verflechtungen hin typusgerecht fortentwickelt werden kann37, durch z. T. neue Inhalte, neue Verfahren (z. B. Öffentlichkeit) und neue Organe wie den Beirat für Handelsfragen88, um den Kompetenzverlust des Parlaments wettzumachen (etwa durch Informationspflichten) 39 • Ferner wäre zu prüfen, wie der (kooperative) Verfassungsstaat in künftigen Verfassungen textlich auf das Thema "internationale Beziehungen" tiefer, breiter, genauer und elastischer eingestellt wird, auch in den Methoden der Verfassungsinterpretation; hier gibt es freilich Grenzen der Verrechtlichung. Auf der Basis verfassungstheoretischer "Vorleistungen" ist verfassungspolitische Arbeit zu erbringen. Zu vergleichen sind die Verfassungen des 34 Vgl. Art. 52 ff. der franz. Verf. v. 1958, vgl. aber Art. 55; s. auch das französische IPR: Das fremde Recht wird als Tatsache angewendet, nicht als Recht, dazu Kegel, Internationales Privatrecht, 4. Aufl. 1977, S. 91 f., 228. u Vgl. Grabitz, DVBl. 1977, S. 786 (790): Menschenrechte als negative Kompetenzvorschriften im Verfassungsstaat; Verabschiedung der Theorie staatlicher "Kompetenz-Kompetenz"! 31 Vgl. P. Häberle, AöR 92 (1967), S. 259 (268 ff.). "Außenpolitik" wird zur "Weltinnenpolitik": Staatengemeinschaft i. S. einer verfaßten Einheit als Aufgabe (Integration!). 37 Vgl. z. B. R. Schmidt's geglückten Begriff der "parlamentarischen Regierung" (VVDStRL 36 (1978), LS 23), der im Blick auf die internationalen Verflechtungen die Zusammengehörigkeit von Parlament und Regierung herausstellt bzw. die parlamentarisch-demokratische Legitimierung der Regierung betont. as Dazu R. Schmidt, VVDStRL 36 (1978), S. 100 f. 30 Vgl. dazu Art. 2 des dt. Zustimmungsgesetzes zum EWG-Vertrag, nach dem der Bundestag über jeden geplanten europäischen Gesetzgebungsakt informiert werden muß, dazu: Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 276, m. N. Insgesamt stellt sich hier die Legitimationsfrage bei Entscheidungen internationaler Organisationen, jedenfalls soweit sie verbindlichen Charakter haben sollen.
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westlichen Typus von deutlicher "verflochtenen" offenen Staaten wie Holland hier mit noch stärker "in sich gekehrten" Nationalstaaten dort. Vielleicht können die europarechtlichen Strukturen und Verfahren Hinweise geben. Hic et nunc sind jedenfalls die einzelnen Konsequenzen zu ziehen i. S. eines auf dem Wege "nach außen" kooperativen (verantwortlichen) Verfassungsstaates. 3. Ursachen und Hintergründe
Die Ursachen und Hintergründe der Entwicklung zum kooperativen Verfassungsstaat sind komplex. Vornehmlich zwei Faktoren stehen im Vordergrund: die soziologisch-wirtschaftliche Seite - und die ideellmoralische Seite. Herausragender Faktor und Motor der Tendenz zur Kooperation ist die wirtschaftliche Verflechtung der (Verfassungs-)Staaten40 • Läßt sich vom "europäischen Staat" sagen, er komme von der Wirtschaft her41 , so gilt dies erst recht für den kooperativen Verfassungsstaat. Er wird bewirkt durch die wirtschaftlichen Verflechtungen und er bewirkt diese mit. Die Erkenntnis der wirtschaftlichen Kooperationsformen und ihre "Umsetzung" in adäquate juristische Begriffe, Verfahren und Kompetenzen verlangt die Anknüpfung an Methoden und Gegenstand der "Staatswissenschaften"42. Die ideell-moralischen Hintergründe der Entwicklung zum kooperativen Verfassungsstaat lassen sich nur andeuten: Sie sind zum einen Ergebnis seiner Konstituierung durch Grund- und Menschenrechte. Die "offene Gesellschaft" verdient dieses Prädikat nur dann, wenn sie auch die international offene Gesellschaft ist. Grund- und Menschenrechte verweisen den Staat und "seine" Bürger auch auf das "Andere", sog. "Fremde", d. h. andere Staaten mit ihren Gesellschaften bzw. die "fremden" Bürger43 • Der kooperative Verfassungsstaat lebt von wirtschaftlichen, sozialen und humanitären Kooperationsbedürfnissen sowie - anthropologisch - vom Kooperationsbewußtsein (Internationa40 Dazu die Analyse von R. Schmidt, VVDStRL 36 (1978), S. 68 ff. s. auch Oppermann, VVDStRL 27 (1969), S. 95 f. (Diskussion). 41 So Dagtoglou, VVDStRL 23 (1966), S. 127 (Diskussion); vgL auch R. Schmidt, VVDStRL 36 (1978), S. 65 (67). 41 Dazu Friauf, VVDStRL 27 (1969), S. 111; H. Wagner, ebd., S. 91 f.; Ipsen, AöR 97 (1972), S. 375 (409); P. Häberle, VVDStRL 36 (1978), S. 129 f. (Diskussion). - Vgl. noch Scheuner, VVDStRL 31 (1971), S. 7 (10f.); Oppermann, JZ 1967,
s. 725 ff.
43 Zum Problem: Doehring I Isensee, VVDStRL 32 (1974), S. 1 ff. und die Diskussion, ebd., S. 107 ff.
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lisierung der Gesellschaft, des Datennetzes, Weltöffentlichkeit, Demonstrationen mit außenpolitischen Themen, Legitimation von außen). 4. Grenzen und Gefährdungen
Der westliche Verfassungsstaat ist zahlenmäßig nur ein relativ seltener Staatstypus. Er konkurriert mit den sog. "sozialistischen" Staaten einerseits, autoritären bzw. totalitären Staaten in Europa, Afrika, Lateinamerika und Asien andererseits. Es wäre kurzsichtig, ja gefährlich, wenn die Verfassungsdogmatik diesen Tatbestand nicht sähe, wenn sie- begeistert vom eigenen "Modell" - europäische Kooperationsformen konstruierte, die die eigenen Staaten so öffnen, daß sie Gefahren durch die "wilden" Staaten (die ja ihrerseits Subjekte des Völkerrechts sind) ausgesetzt werden. Gewiß, die "werbende Kraft" (und der Erfahrungsschatz) des westlichen Verfassungsstaates4 4 im groß, und sie dürfte sich in der Weltöffentlichkeit in dem Maße steigern, wie mit der Kooperation noch ernster gemacht wird. Doch ist nicht zu übersehen, daß verfassungsstaatliche Errungenschaften wie rechtsstaatliche Formelemente oder der Rechtsbegriff45 bedroht sind und die teilweise sehr andere Wertstruktur (und Identität) dritter Staaten sich dem verfassungsstaatlichen Modell weder anpassen kann noch will. Auch mit ihnen muß aber (begrenzte) Kooperation möglich sein. Es liegt also eine Ambivalenz im Thema "Verfassungsstaat und internationale Verflechtungen". Einerseits birgt die Möglichkeit der Kooperation große Chancen und Herausforderungen: die konstituierenden Elemente des Verfassungsstaates (wie rechtsstaatlich-demokratische Verfahren, Gerichtsbarkeit, Menschenrechte) können "exportiert" werden, um die Staatengemeinschaft zu verfassen. Andererseits sind die Gefahren aus dem "Import" offenkundig. Es kommt zu Rückwirkungen und Sachzwängen: der Verfassungsstaat als Typus droht in seinen dogmatisch-rechtsstaatliehen Elementen, etwa in Währungsfragen, in eine Gefahrenzone für seine - freilich wandlungsoffene - Identität zu geraten: die Verflechtung mit Nicht-Verfassungsstaaten wie einigen Entwicklungsländern, wohl auch mit multinationalen und privaten, nichtstaatlichen Organisationen kann zu einer negativen Sogwirkung führen. Es kommt zu Reibungen zwischen dem Verfassungsstaat und Dazu R. Schmidt, VVDStRL 36 (1978), LS 32. Hier liegt die Problematik des "soft law"; dazu Tomuschat und R. Schmidt, a.a.O.; es ist mit Vorsicht zu "begreifen" (aus der Diskussion K. Vogel, ebd.), es ist eine Art "verformender" und "vorgeformter" Gewohnheitsrechtsbildung, ein bestimmter Argumentations- und Verfahrensstil, dem Faktischen nahe, der durch seine Konturenlosigkeit und Unberechenbarkeit rechtsstaatliche Elemente des Verfassungsstaates gefährdet (zu Gefahren R. Schmidt, ebd. LS 24). 44
4G
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dem völkerrechtlichen Staatsbegriff48, zwischen verschiedenen Wirtschaftsverfassungsmodellen, zu Rückwirkungen auf die nationalen Wirtschaftsverfassungen. Es kann zu Erosionen des Verfassungsstaates kommen, zu deren Verhinderung sich die Dogmatik und Politik des Verfassungsstaates einiges einfallen lassen muß. Doch ist auch eine "Aktivbilanz" denkbar: i. S. eines Wettbewerbs zwischen den Staaten in bezug auf die bedingt auswechselbaren und übertragbaren Elemente ihrer Verfassungsstaatlichkeit auf dem Weg zu einem optimalen "Modell" von kooperativer Verfassungsstaatlichkeit. D. Elemente einer Bestandsaufnahme
Mit der Fortentwicklung und Perfektionierung von Verkehrs- und Kommunikationsmitteln rund um den Erdball bzw. dem "Näherrükken" der Staaten (und Menschen) zueinander werden die insbesondere ökonomischen Ungleichgewichte zwischen ihnen zunehmend sichtbar. Dem tatsächlich noch immer wachsenden Abstand zwischen reichen und armen Ländern ("widening gap") 47 steht die immer bedingungsloser vertretene Forderung der Entwicklungsländer nach einem internationalen wirtschaftlichen Ausgleich in einer neuen Weltwirtschaftsordnung gegenüber. Verstärkte Kooperation zwischen den Staaten im beschriebenen Sinne ist die einzige Alternative zu einer sonst unausweichlichen Konfrontation angesichts dieses Widerstreits. Tendenzen, die dieser Notwendigkeit Rechnung tragen, sind sowohl in der Entwicklung des Völkerrechts als auch in der Entwicklung des Verfassungsrechts vieler Staaten nachweisbar. Die Erkenntnis der sozialen Verantwortung der Staaten nach innen und außen steht im Mittelpunkt eines in Ansätzen bereits vollzogenen grundlegenden Wandels im (rechtlichen) Verhältnis der Staaten zueinander. 1. Koordinations-, Koexistenz- und Kooperationsvölkerrecht: Verfassende Elemente der Völkerrechtsgemeinschaft
a) Die Organisation der Staatengemeinschaft Schon in der Völkerbundsatzung (1919) 48, der "Verfassung" der ersten umfassenden politischen Organisation der Staatengemeinschaft", 48 Zu ihm Kriete, Einführung in die Staatslehre, 1975, S. 81 ff. Zu diesem Dilemma mein Besprechungsaufsatz in AöR 102 (1977), S. 284 (288, 296 Anm. 54). 41 Vgl. dazu Petersmann, Zur Inkongruenz zwischen völkerrechtlicher und tatsächlicher Weltwirtschaftsordnung, Die Friedenswarte 59 (1976), S. 5 ff. 48 Abgedr. in: Berber, Völkerrecht, Dokumentensammlung Bd. I, Friedensrecht, 1967, S. 1 ff. 40 Vgl. Verdross I Simma, Universelles Völkerrecht, 1976, S. 77 f.; s. auch
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wird von der "Förderung der Zusammenarbeit unter den Nationen" gesprochen. Sie gilt neben der "Gewährleistung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit" als Ziel des Völkerbundes. Die in der Präambel dieser Satzung wie auch in den 26 Artikeln angegebenen Mittel zur Verwirklichung dieses Friedenszieles aber sind die typischen Verpflichtungen einer als Koordinationsrecht verstandenen Völkerrechtsordnung (Abrüstung, Besitzschutz, Kriegsverbot und friedliche Streiterledigung)50• Wie die Gründung des Völkerbundes war auch die der Vereinten Nationen (1945) eine Reaktion auf die Erschütterungen und Leiden des vergangenen Krieges. Anders als in der Satzung des Völkerbundes wird jedoch in der Charta der Vereinten N ationen die Zusammenarbeit zwischen den Völkern nicht als Ziel sondern als Mittel angegeben, "um internationale Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art zu lösen und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen" (Art. 1 Abs. 3 Charta der VN) 61 • So bekräftigt auch die Präambel der Charta die Entschlossenheit der Gründerstaaten der Vereinten Nationen, "internationale Einrichtungen in Anspruch zu nehmen, um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker zu fördern". Ausdrücklich wird in Art. 13 die Generalversammlung mit der Durchführung von Untersuchungen und der Abgabe von Empfehlungen beauftragt, "a) um die internationale Zusammenarbeit auf politischem Gebiet zu fördern und die fortschreitende Entwicklung des Völkerrechts sowie seine Kodifizierung zu begünstigen; b) um die internationale Zusammenarbeit auf den Gebieten der Wirtschaft, des Sozialwesens, der Kultur, der Erziehung und der Gesundheit zu fördern und zur Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion beizutragen". Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, 1926, und ders., Die Quellen des universellen Völkerrechts, 1973, S. 21: "Eine völkerrechtliche
Verfassungsurkunde bildet erst die Satzung des Völkerbundes, die nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Satzung der Vereinten Nationen ersetzt wurde." Zum Thema "Verfassungselemente der Völkerrechtsgemeinschaft" s. auch Mosler, ZaöRV 36 (1976), S. 31 f!. 1° Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, 1975, S. 68 f. spricht schon hier (insbes. wegen Art. II der Satzung) von einer epochalen Wendung: "Damit war der Grundpfeiler des klassischen Völkerrechts, nämlich die Souveränität und das aus ihr fließende Recht der souveränen Staaten zum Krieg (ius ad bellum) zum Einsturz gebracht worden." Der Obergang vom partiellen zum generellen Kriegsverbot erfolgte durch den "Briand-Kellogg-Pakt" vom 27. August 1928 (Berber, Anm. 48, Bd. 2, S. 1674 ff.). 51 Abgedr. in Berber (Anm. 48), S. 13 ff. Zur Bedeutung des Menschenrechtsschutzes und der Zusammenarbeit als Mittel der Friedenssicherung vgL Verdross I Simma, Universelles Völkerrecht, 1976, S. 83 f.
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Daß die Charta der Vereinten Nationen, anders als die Satzung des Völkerbundes, in der Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet zwischen den Staaten ein Kernelement der Friedenssicherung sieht52, ist vor allem Art. 55 zu entnehmen: "Um jenen Zustand der Stabilität und Wohlfahrt herbeizuführen, der erforderlich ist, damit zwischen den Nationen friedliche und freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen herrschen, fördern die Vereinten Nationen a) die Verbesserung des Lebensstandards, die Vollbeschäftigung und die Voraussetzungen für wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt und Aufstieg, b) die Lösung internationaler Probleme wirtschaftlicher, sozialer, gesundheitlicher und verwandter Art sowie die internationale Zusammenarbeit auf den Gebieten der Kultur und der Erziehung, c) die allgemeine Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion." Die Förderung wirtschaftlicher und sozialer Kooperation zwischen den Staaten gewinnt in der Arbeit der Vereinten Nationen zunehmend an Gewichtn. Betrachtet man die Satzung des Völkerbundes ebenso wie die Charta der Vereinten Nationen mit Verdross 5' als völkerrechtliche Verfassungsurkunden, so wird die Gewichtsverlagerung von Mosler zutreffend damit beschrieben, daß der "allgemeinen Friedenspflicht" als materiellem Verfassungselement der Völkerrechtsordnung die "Kooperationspflicht" hinzuzufügen sei55• Die umfassende Rechtsetzungstätigkeit der Vereinten Nationen durch Kodifikationen58, Deklarationen und Resolutionen57 zur Schaffung formaler Voraussetzungen (Wiener 52 Zur Wandlung des Friedensbegriffs in der UNO gegenüber dem Völkerbund vgl. auch Petersmann, Die Friedenswarte 59 (1976), S. 30 f. 53 Vgl. Scheuner, Aufgaben und Strukturwandlungen in den UN, in: Kewenig (Hrsg.), Die Vereinten Nationen im Wandel, 1975, S. 209. 5' Verdross, Die Quellen des universellen Völkerrechts, 1973, S. 21. 51 Mosler, Völkerrecht als Rechtsordnung, ZaöRV 36 (1976), S. 33; ähnlich Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, 1975, S. 196: "Neben dem Gewaltverbot ist es die Pflicht der Staaten zur internationalen Zusammenarbeit, die das ,neue Völkerrecht' kennzeichnet und vom klassischen Völkerrecht abhebt." zuletzt: Mosler, Festrede, in: Heidelberger Akad. d. Wiss. 1976
(1977),
s. 77 ff.
Vgl. insbes. zum Kodifikationsverfahren: Geck, Völkerrechtliche Verträge und Kodifikationen, ZaöRV 36 (1976), S. 96 (108 ff.) m. N. 57 Vgl. die Beispiele bei Verdross I Simma, Universelles Völkerrecht, 1976, S. 329 ff. (m. N.) unter der Fragestellung ihrer Rechtsquelleneigenschaft im Völkerrecht; s. auch Frowein, Der Beitrag der internationalen Organisationen zur Entwicklung des Völkerrechts, ZaöRV 36 (1976), S. 147 (149 ff.). 51
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Vertragsrechtskonvention (1969), Wiener diplomatische Konvention (1961)) 58 sowie zur Festlegung materieller Verhaltenspflichten und Zielbestimmungen der internationalen Kooperation69 zeigen, daß sie ihre Verpflichtungen aus der Charta ernst nehmen. Die in der Präambel der Charta der Vereinten Nationen proklamierte Entschlossenheit der Staaten, "unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen", gewinnt durch die Deklarationen und Pakte zum kollektiven Schutz der Menschenrechte60 sowie durch die Bemühungen um internationale wirtschaftliche und soziale Solidarität61 klarere Konturen. Die Menschenrechtsfrage wird zur internationalen Angelegenheit.
b) Regionale Formen intensivierter Kooperation Weiter als auf universeller Völkerrechtsebene ist die Konstitutionalisierung der Völkerrechtsgemeinschaft auf regionaler Ebene fortgeschritten. Abgesehen von den Regionalen Organisationen und Systemen kollektiver Sicherheit nach Kap. VIII der Charta der Vereinten Nationen, etwa der OAS, der WEU, der NATO oder des Warschauer Paktes82, &s Wiener Konvention über das Recht der Verträge v. 23. Mai 1969, dazu: Das Wiener übereinkommen über diplomatische Beziehungen v. 18. 4. 1961 (BGBI. 1964 II 958, abgedr. in: Berber, Völkerrecht, Dokumentensammlung, Bd. I, S. 865 ff.), ist am 24. April1964 in Kraft getreten. 60 Vgl. etwa die Deklaration der Grundprinzipien des Völkerrechts über die freundschaftlichen Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen den Staaten ("Declaration on principles of international law concerning friendly relations and cooperation among States in accordance with the Charter of the United Nations") v. 24. 10. 1970, dazu: Frowein, EA 1973, S. 70 ff.; Graf zu Dohna, Die Grundprinzipien des Völkerrechts über die freundschaftlichen Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen den Staaten, 1973. s. auch die Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten vom 12. 12. 1974, wiedergegeben in: Die Friedenswarte 59 (1976), S. 71 ff., dazu: Tomuschat, ZaöRV 36 (1976), S. 444 ff. 60 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10.12. 1948 (in: Berber (Anm. 58), S. 917 ff.); Internationaler Pakt über die bürgerlichen und politischen Rechte, in Kraft seit 23. 3. 1976, einschließlich des Fakultativprotokolls, BGBl. 1973 II, S. 1534; vgl. dazu: Meißner, Die Menschenrechtsbeschwerde vor den Vereinten Nationen, 1976; Tomuschat, Vereinte Nationen 1976, S. 166 ff.; Bartsch, Die Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes, NJW 1977, S. 474 ff.; H. Lauterpacht, International Law and Human Rights, 1973. Skeptisch Geck, in: FAZ v. 21.11.1977, S. 9 f. 81 Vgl. etwa die Deklaration über die Errichtung einer neuen Weltwirtschaftsordnung v. 1. 5. 1974, UN. Doc. GA Res. 3201 (S-VI) v. 9. 5. 1974; vgl. dazu K. Ipsen, Entwicklung zur "Collective economic security" im Rahmen der Vereinten Nationen? in: Kewenig (Hrsg.): Die Vereinten Nationen im Wandel, 1975, S. 11 ff., sowie unten bei Anm. 87 ff. Verdross I Simma (Anm. 57), S. 345 ff. -
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gilt dies besonders für die Europäische Gemeinschaft, deren "Verfassung"03 die Verträge von Paris und Rom sind04. Ein partieller Souveränitätsverzicht05 zugunsten der "Gemeinschaftsgewalt" der EG in Verbindung mit der in Art. 5 EWGV verankerten grundlegenden Solidaritätspflicht der Mitgliedstaaten war und ist Voraussetzung für die Verwirklichung der Vertragsziele, insbesondere der Wirtschaftsintegration, der Regional- 66 und der Sozialpolitik durch unabhängige rechtsetzende und rechtsprechende Organe. Die Herstellung unmittelbarer Legitimation der Gemeinschaftsorgane durch ein direkt gewähltes europäisches Parlament67 dürfte das Dogma der nationalen Souveränität zugunsten einer sachlich begründbaren Aufgabenverteilung zwischen Staat und übernationaler Organisation zurücktreten lassen. Die Annahme einer neuen "europäischen" Identität08 bahnt der Ausübung "sozialer Verantwortung" reicher Regionen gegenüber ärmeren und der allgemeinen Hebung des Lebensstandards08 den Weg. Integration als 62 Vgl. dazu: R. Pernice, Die Sicherung des Weltfriedens durch Regionale Organisationen und die Vereinten Nationen, 1972, insbes. S. 42 ff. 13 H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 64 ff.; vgl. BVerfGE 22, 296: "Der EWG-Vertrag stellt gewissermaßen die Verfassung dieser Gemeinschaft dar." 64 EGKS-Vertrag v. 18. 4. 1951, in: Berber (Anm. 48), S. 391 ff.; EWG-Vertrag v. 25. 3.1957, ebd., S. 441; EAG-Vertrag v. 25. 3.1957, ebd., S. 519; Fusionsvertrag für die drei Gemeinschaften (Vertrag über die Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission der Europäischen Gemeinschaften) v. 8. 4. 1965, ebd., S. 656. 65 Zu den entsprechenden Verfassungsbestimmungen der Mitgliedstaaten s. unten bei Anm. 125 ff.; s. auch Wildhaber, Treaty-Making-Power and Constitution, 1971, S. 384 ff. 6t Vgl. hierzu etwa den ersten Jahresbericht des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (1975), Bull. EG Beil. 7/76. 17 s. dazu etwa: Bangemannt Bieber, Die Direktwahl Sackgasse oder Chance für Europa? Analysen und Dokumente, 1976; Müller-Graff, Die Direktwahl des Europäischen Parlaments (Recht und Staat, H. 468/469), 1977; Oppermann, Juristische Fortschritte durch die europäische Integration, in: Tradition und Fortschritt, Festschrift zum 500-jährigen Bestehen der Tübinger Juristenfakultät, 1977, S. 426 ff. es Vgl. die Erklärung der Präsidentschaft am Schluß der Gipfelkonferenz der EG von Kopenhagen (Dez. 1973), Bull. EG Beil. 12/1973, S. 9 ff.: "Die neun Länder bekräftigen ihren gemeinsamen Willen, dafür Sorge zu tragen, daß Europa in den wichtigen Angelegenheiten der Welt mit einer Stimme spricht. Sie haben die Erklärung über die europäische Identität verabschiedet, die in dynamischer Perspektive die Grundsätze für ihr Handeln näher bestimmt." Vgl. auch Grabitz, DVBl. 1977, S. 786 (791): "Die direkte Wahl des Europäischen Parlaments wird wesentliche Konstitutionsbedingungen dessen hervorbringen, was in den Europäischen Gemeinschaften noch nicht existiert -eine europäische Nation." Bericht von Leo Tindemans über die Europäische Union, Bull. EG Beil. 1/76, S. 11 ff. 88 Vgl. Art. 2 EWGV sowie Abs. 5 der Präambel: "In dem Bestreben, ihre Volkswirtschaften zu einigen und deren harmonische Entwicklung zu fördern, indem sie den Abstand zwischen einzelnen Gebieten und den Rückstand weniger begünstigter Gebiete verringern ... "
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Steigerungsform der Kooperation kann damit als Perspektive auch internationaler Kooperationsbestrebungen angesehen werden7o. Die europäische Integration nahm ihren Anfang bereits mit der Gründung des Europarats (1949). Seine Satzung71 wurde in der Überzeugung angenommen, "daß die Festigung des Friedens auf den Grundlagen der Gerechtigkeit und internationalen Zusammenarbeit für die Erhaltung der menschlichen Gesellschaft und der Zivilisation von lebenswichtigem Interesse ist". Neben der Verwirklichung der Werte der persönlichen und politischen Freiheit der Demokratie stehen nach der Präambel sowie nach Art. 1 der Satzung des Europarats die Förderung des sozialen und wirtschaftlichen Fortschritts im Vordergrund. Nach Art. 1 b erfüllt der Rat seine Aufgaben "durch Beratung von Fragen von gemeinsamem Interesse, durch den Abschluß von Abkommen und durch gemeinschaftliches Vorgehen auf wirtschaftlichem, sozialem, kulturellem und wissenschaftlichem Gebiet und auf den Gebieten des Rechts und der Verwaltung sowie durch den Schutz und die Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten" 72 . Mit der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 195073 und der Errichtung der Europäischen Kommission74 bzw. des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte76 wird den Angehörigen der Unterzeichnerstaaten unmittelbarer Grundrechtsschutz durch eine übernationale Instanz eingeräumt78. Für die Kodifizierung sozialer Rechte 70 Vgl. dazu auch das Stichwort bei Oppermann (Anm. 67), S. 417: "über die Vereinigten Staaten von Europa auf dem Wege zum künftigen Weltstaat der Vereinten Nationen", und seinen Hinweis auf eine mögliche Übertragbarkeit des Ansatzes des EuGH zum europäischen Grundrechtsschutz auf einen internationalen Menchenrechtsschutz über Art. 38 c des Statuts des Internationalen Gerichtshofs (S. 431). 71 Wiedergegeben in: Berber (Anm. 48), S. 357 ff. 7Z Zu den zahlreichen, auf Betreiben des Europarats zustandegekommenen Verträgen und Konventionen vgl. Council of Europe: Conventions and agreements concluded within the Council of Europe and which concern the European Committee on Legal cooperation, 1974; s. auch Lenz, Die unmittelbare innerstaatliche Anwendbarkeit der Europaratskonventionen unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Rechts, 1971. 71 Wiedergegeben in: Berber (Anm. 48), S. 955.- Zum Stand der Ratifikationen und zum Rechtsschutzsystem allg. vgl. Bartsch, NJW 1977, S. 477 ff.; s. im übrigen: Partsch, Die Rechte und Freiheiten der europäischen Menschenrechtskonvention, in: Bettermann I Neumann I Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. I 1 (1966), S. 235 ff. n Verfahrensordnung der Europäischen Kommission für Menschenrechte vom 1./5. 8. 1960, in: Berber (Anm. 48), S. 975 ff. n Verfahrensordnung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 1./5. 8. 1960, in: Berber (Anm. 48), S. 993 ff. 7' Vgl. etwa: Rogge, Der Rechtsschutz der Europäischen Menschenrechtskonvention, EuGRZ 1975, S. 117 ff. und den Überblick von Robertson, Die Menschenrechte in der Praxis des Europarats, 1972.
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richtungweisend ist die Europäische Sozialcharta mit einem besonderen, kooperativen Kontrollverfahren77. Speziell der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen den Europäischen Staaten unter Einbeziehung auch einiger außereuropäischer Staaten wie der USA und Japans gewidmet ist das Übereinkommen über die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) von 1960. Diese Organisation wurde nach der Präambel unter anderem "in der Überzeugung (sc.: gegründet), daß eine umfassendere Zusammenarbeit entscheidend zur Förderung friedlicher und harmonischer Beziehungen zwischen den Völkern der Welt beitragen wird" und "daß die wirtschaftlich weiter fortgeschrittenen Nationen zusammenarbeiten müssen, um die Entwicklungsländer nach besten Kräften zu unterstützen"78 • Eine Sonderstellung unter den Formen verstärkter, jedoch regional begrenzter Kooperation nimmt die Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa von 1975 (KSZE) ein70• Entscheidend ist hier nicht so sehr die Rechtsform und mögliche völkerrechtliche Verbindlichkeit der Erklärungen80, sondern die durch diese Akte veranschaulichte innere Beziehung zwischen militärischer und allgemeiner Sicherheit und verstärkter Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem, sozialem, wissenschaftlichem, technischem, kulturellem usw. Gebiet. Die Schlußakte, an der auch die osteuropäischen Staaten beteiligt waren, dokumentiert mit ihren Grundsatz- und Absichtserklärungen ein für die Weiterentwicklung des Völkerrechts und des internationalen Menschenrechtsschutzes81 wesentliches Kooperationsbewußtsein der Staaten. Auf amerikanischem Boden zu nennen ist insbesondere die "Organization of American States" (OAS), deren revidierte Charta von 1970 Ansätze zu einem dem Grundrechtsschutz durch den Europarat ähn77 Europäische Sozialcharta v. 18.10. 1961, in: Berber (Anm. 48), S. 1270 ff.; vgl. auch den Diskussionsbeitrag von Zacher, VVDStRL 30 (1972), S. 151 (153) sowie vom Verf. ebd., S. 187. 18 Organization of Economic Cooperation and Development, in: Berber (Anm. 48), S. 650 ff. (Hervorhebung v. Verf.). 71 Wiedergegeben in: Archiv des Völkerrechts 1977, S. 84 ff. 80 Vgl. dazu: Schweisfurth, Zur Frage der Rechtsnatur, Verbindlichkeit und völkerrechtlichen Relevanz der KSZE-Schlußakte, in: ZaöRV 36 (1976), S. 681 ff.; Delbrück, Die völkerrechtliche Bedeutung der Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, in: Bernhardt I v. Münch I Rudolf (Hrsg.), Drittes deutsch-polnisches Juristen-Kolloquium, 1977, S. 31 ff. Zuletzt Blumenwitz, in: Die KSZE und die Menschenrechte, 1977, s. 53 ff. 81 Vgl. etwa den Vorschlag der EG-Staaten und 5 anderer Länder auf der Belgrader KSZE-Folgekonferenz zur Verwirklichung der Menschenrechte, SZ v. 5./6. Nov. 1977, S. 2: "Westen fordert Schutz der Bürgerrechtler."
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liehen System enthält82 • Teils den europäischen Gemeinschaften, teils der EFTA nachgebildet, tragen auch die auf außereuropäischem Raum gegründeten Organisationen zur - vorwiegend - wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen den Staaten zur weiteren Verbreitung des Kooperationsgedankens bei. Der durch den Vertrag von Managua gegründete Zentralamerikanische gemeinsame Markt (1960), die lateinamerik~mische Freihandelszone (1960), der mit dem Vertrag von Bogotil vereinbarte gemeinsame Markt der Andenländer, die ~aribische Freihandelszone, der ostkaribische gemeinsame Markt, der 1966 gegründete asiatische und pazifische Rat sowie die "Regional Cooperation for Development" von 1964 zwischen Iran, Pakistan und der Türkei mögen hier als Beispiel dienensa.
c) Ansatzpunkte eines "humanitären" und "sozialen" Völkerrechts Der Schutz der Menschenrechte, eines der wesentlichen Ziele der Vereinten Nationen, wurde bereits 1948 durch die allgemeine Erklärung der Menschenrechte bekräftigt und konkretisiert84• Art. 22 dieser Erklärung dokumentiert die Abhängigkeit der Verwirklichung der Menschenrechte von den wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen ihrer Ausübbarkeit und damit von der internationalen Kooperation: "Jeder Mensch hat als Mitglied der Gesellschaft Recht auf soziale Sicherheit; er hat Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit unter Berücksichtigung der Organisation und der Hilfsmittel jeden Staates in den Genuß der für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen." Rechtliche Verbindlichkeit erhält der internationale Menschenrechtsschutz jedoch erst in den 1976 in Kraft getretenen internationalen Pakten über bürgerliche und politische Rechte bzw. über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationen von 196685 • Ein 8! Vgl. dazu: Buergenthal, The revised OAS Charter and the protection of human rights, in: AJIL 69 (1975), S. 828 ff.; Tardu, The protocol to the United Nations Covenant on civil ·and political rights and the inter-American system: A study of co-existing petition-:prooedures, in: AJIL 70 (1976)1 S.
778ff.
aa Vgl. zu diesen Organisationen den Überblick bei Petersmann, Wirtschaftsintegrationsrecht und Investitionsgesetzgebung der Entwicklungsländer, 1974, S. 55-87. u Text in: Berber (Anm. 48), S. 917 ff.; vgl. auch Schaumann, Der völkerrechtliche Schutz der Menschen- und Freiheitsrechte in seiner Verwirklichung durch die Vereinten Nationen, JIR 13 (1967), S. 133 ff. Zur "intervention d'humanite" s. Perez-Vera, in: La protection internationale des droits de l'homme, 1977, S. 7 ff. 8& Beide Pakte, einschließlich des Fakultativprotokolls, nach dem Staatenund Individualbeschwerden möglich sind, sind 1976 in Kraft getreten, vgl. dazu Bartsch, NJW 1977, S. 474 ff.
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international besetzter Ausschuß für Menschenrechte sowie eine Kommission sind dazu bestimmt, die jährlich von den Unterzeichnerstaaten vorgelegten Berichte zu überprüfen und, soweit sie sich dem unterworfen haben, selbst Staatenbeschwerden und Individualbeschwerden entgegenzunehmen86. Diese Verlagerung des Schwerpunkts der Arbeit der UNO von der Aufrechterhaltung eines bloßen negativen Friedens (i. S. der Abwesenheit von militärischer Gewalt) auf die Schaffung einer wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Infrastruktur für einen "positiven Frieden" durch größere soziale Gerechtigkeit87, führt die völkerrechtliche Entwicklung hin zu einem Kooperationsrecht im materiellen Sinne88. So heißt es in der am 24. Oktober 1970 von der Generalversammlung verabschiedeten Erklärung zu den Grundprinzipien des Völkerrechts über die freundschaftlichen Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen den Staaten, daß Staaten ungeachtet ihrer Unterschiede im politischen, wirtschaftlichen und sozialen System zur Zusammenarbeit auf den verschiedenen Ebenen der internationalen Beziehungen verpflichtet sind, um den internationalen Frieden und die Sicherheit zu erhalten, wirtschaftliche Stabilität und wirtschaftlichen Fortschritt voranzutreiben, ebenso wie die allgemeine Wohlfahrt der Staaten und die internationale Zusammenarbeit, frei von jeder Diskriminierung, die auf solchen Unterschieden beruht8D. War die internationale Wirtschaftsordnung zunächst von klassischliberalen Ordnungsideen geprägt und die Zusammenarbeit der Staaten von Institutionen und Organisationen wie der Weltbank90 , dem ins& Dazu im einzelnen: Meißner, Die Menschenrechtsbeschwerde vor den Vereinten Nationen, 1976; Eissen, Convention europeenne des Droits de l'Homme et Pacte des Nations Unis relatif aux droits civils et politiques: problemes de "coexistence", ZaöRV 30 (1970), S. 236 ff. und 646 ff.; Tardu, The protocol to the United Nations Covenant on civil and political rights and the inter-American System: A study of co-ex:isting peti.tion-procedures, AJIL 70 (1976), S. 778 ff. 87 Vgl. Tomuschat, ZaöRV 36 (1976), S. 459 f.; Petersmann, Die Friedenswarte 59 (1976), S. 30 ff.; Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, 1975, s. 196 ff. 88 Vgl. Scheuner (Anm. 9), S. 55; für ihn erscheinen die Verträge, in denen sich die Staaten zu wirtschaftlicher Kooperation zusammenschließen, "insgesamt als ein Ausdruck kooperativer internationaler Gesinnung und Aktivität, in der die nationale Vereinzelung zugunsten einer zwischenstaatlichen Zusammenarbeit überwunden wird". 88 Declaration on principles of international law concerning friendly relations and co-operation among States in accordance with the Charter of the United Nations, Text in: Graf zu Dohna, Die Grundprinzipien des Völkerrechts über die freundschaftlichen Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen den Staaten, 1973, ·S. 267 ff. (273). 80 Vgl. das Abkommen über die Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung v. 27. 12. 1945 (BGBl. 1952 II 664), in: Berber (Anm. 48),
s. 132 ff.
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ternationalen Währungsfonds81 sowie dem GATT92 repräsentiert, so zeichnet sich mit der Schlußakte der ersten Welthandels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen (UNCTAD 1) 93 in Genf eine grundlegende Wende von der liberalen zu einer sozialen Ordnung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen ab 94• Die hier erhobenen Forderungen der Entwicklungsländer an die entwickelten Staaten werden in der Deklaration über die Errichtung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung96 , in dem Aktionsprogramm über die Errichtung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung 98 und in der Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten, verabschiedet durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 12. 12. 1974, präzisiert und verstärkt97 • Es tritt, mit den Worten Scheuners, "das Bestreben hervor, in der Völkergemeinschaft den Gedanken einer internationalen Solidarität der Nationen zur Geltung zu bringen, aus dem sich die Folge eines auf Ausgleich der Situation gerichteten Handeins und sogar Pflichten der Industriestaaten ableiten lassen, durch Gewährung von Präferenzen, finanziellen Beiträgen zur Stabilisierung der Rohstoffpreise und andere Mittel zu einer solchen breiteren Wohlfahrt aller Völker beizutragen. Im Grunde sucht diese Konzeption Gedanken sozialer Gerechtigkeit, wie sie heute innerhalb der nationalen Gemeinschaft vielfach im modernen Wohlfahrtstaat verwirklicht werden, auf die internationale Ebene zu übertragen"Ds. 81 Abkommen über den Internationalen Währungsfonds v. 27. 12. 1945 (BGBl. 1952 II 638), in: Berber (Anm. 48), S. 161 ff., dessen Ziel es nach Art. 1 (i) u. a. ist, "die internationale Zusammenarbeit (!) auf dem Gebiet der Währungspolitik durch eine ständige Einrichtung zu fördern, die als Apparat für Beratungen und die Zusammenarbeit bei internationalen Währungsproblemen zur Verfügung steht". 92 Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen (GATT) v. 30. 10. 1947 (BGBl. Anlage I 1951, S. 4), in: Berber (Anm. 48), S. 1182 ff. va Schlußakte der I. Welthandels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen (UNCTAD I) in Genf v. 16. 6.1964, in: Die Friedenswarte 59 (1976), S. 65 ff. (auszugsweise). 9 ' Vgl. Ruge, Der Beitrag von UNCTAD zur Herausbildung des Entwicklungsvölkerrechts, 1976. U5 Zur auf der 6. Sondertagung der Generalversammlung (Weltrohstoffkonferenz) durch Akklamation angenommenen "Declaration of a New International Economic Order" v. 1. Mai 1974 (GA Res. 3201 (S- VI), dt. Übers. in: Deutsche Außenpolitik 1974, S. 1255 ff.) sowie zum Bericht des UN Generalsekretärs zur "Collective economic security" v. 5. Juni 1974 (UN Doc. E/5529) vgl. K. Ipsen (Anm. 61), S. 12- 20. ue GA Res. 3202 (S- VI) v. 1. 5. 1974, dt. Übersetzung in: Deutsche Außenpolitik 1974, S. 1238 ff. 97 Vgl. Tomuschat, Die Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten, ZaöRV 36 (1976), S. 460: "Die Charta sollte als ergänzender Rechtsakt die Völkerrechtsgemeinschaft endgültig als Solidargemeinschaft konstituieren." us Scheuner, Aufgaben und Strukturwandlungen im Aufbau der Vereinten Nationen, in: Kewenig (Hrsg.), Die Vereinten Nationen im Wandel, 1975,
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Die formelle Rechtsqualität dieser Erklärungen der Vereinten Nationen, die in der Regel von den Industriestaaten nicht unterstützt wurden99, ist noch ungeklärt100• Ob man von einem "pre-droit" 101 oder von einem "soft law" 102 ausgeht, ob man ihre Verbindlichkeit aus dem allgemeinen Vertrauensprinzip im Völkerrechtt08 herleitet oder aber gänzlich verneint1°4, kann an ihrer Leitbildfunktion bzw. ihrem Appellcharakter für die künftige Entwicklung des Völkerrechts insbesondere des Vertragsvölkerrechts als "Kooperationsvehikel" nichts ändem105• Die Tatsache, daß sie als Grundsatzerklärung einer überwältigenden Mehrheit der in den Vereinten Nationen vertretenen Staaten gemeinsam erarbeitet und verabschiedet wurden, kann auch von den Industriestaaten, selbst wenn sie Vorbehalte angemeldet haben, nicht als rechtlich irrelevant abgetan werden. Allein die Einseitigkeit der hier proklamierten Interessen108, die Unausgewogenheit der bezeichneten Rechte und Pflichten der Staaten, die fehlende "Einsicht in die notwendige Gegenseitigkeit einer geforderten Solidarität" (Scheuner) 107 hindert es, die Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten bereits als "Verfassung der ,neuen' Weltwirtschaft" zu bezeichnen: S. 189 ff. (210 f.); ähnl. Tomuschat, Diskussionsbeitrag, ebd., S. 48: "Im Grunde ist es das Sozialstaatsprinzip, das nun auch auf Weltebene in den Vordergrund drängt"; ders., ZaöRV 36 (1976), S. 460. 88 Zum Abstimmungsverhalten vgl. Tomuschat, ZaöRV 36 (1976), S. 444 f.; s. auch die knappe Zusammenstellung bei Hett, Die Friedenswarte 59 (1976); S. 63 ff.; Frowein, ZaöRV 36 (1976), S. 162 f. too Vgl allgemein dazu: Petersmann, Die Friedenswarte 59 (1976), S. 7 f. m. N.; ausführ!.: Tomuschat, ZaöRV 36 (1976), S. 460 ff.; Frowein, ZaöRV 36 (1976), s. 149 ff., 161 ff. tot So etwa Virally, in: Pays en voie de developpement et transformation du droit international, Socil~te Francalse pour le Droit International, Colloque d'Aix en Provence, 1974; s. auch ders., Resolutions et recommandations dans le processus decisionnel de 1'Assemblee Generale et du Conseil economique et social, in: Les resolutions dans la formation du droit international du developpement, 1971, S. 59 ff.; ebenso: Cotliard, Institutions et relations internationales (6. Aufl.), 1974, S. 276. toz R. Schmidt, VVDStRL 36 (1978), LS 18; in bezug auf die KSZE-Schlußakte vgl. auch Tomuschat, ebd., LS 8 a) aa). toa Im Anschluß an die Ergebnisse der Untersuchung von J. P. Müller, Vertrauensschutz im Völkerrecht, 1971, in diesem Sinne etwa Frowein, ZaöRV 36 (1976), S. 154 ff.; s. auch Tomuschat (Anm. 100), S. 479 f. m. N. to' So wohl Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, 1975, S. 172 f.; Verdross I Simma, Universelles Völkerrecht, 1976, S. 329 ff.; Scheuner, Aufgaben- und Strukturwandlungen in den UN, in: Kewenig (Hrsg.), Die Vereinten Nationen im Wandel, 1975, S. 211. toG Hierüber besteht bei den soeben zitierten Autoren weitgehend Einigkeit (vgl. Anm. 100 - 104). 108 Dazu ausf.: Petersmann, Die Dritte Welt und das Wirtschaftsvölkerrecht, "Entwicklungsland" als privilegierter Rechtsstatus, ZaöRV 36 (1976), s. 492 ff. (536 ff.). tor Scheuner (Anm. 98), S. 211.
u•
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"Die gegenwärtige Situation der faktischen Ungleichheit darf ... kein Anlaß sein, ein neues Völkerrecht der Ungleichheit ausschließlich zu Lasten der Industriestaaten zu entwickeln" (Tomuschat)1° 8 • Unklar bleibt auch, wie sich der Appell an die Solidarität und "soziale Verantwortung"108 der Industriestaaten mit dem gerade auch von den Entwicklungsländern unablässig bekräftigten Prinzip der "souveränen Gleichheit der Staaten" 110 verträgt. Diese Verantwortung ohne Befugnis läuft auf Funktionen des blinden Zahlmeisters hinaus und hat mit den humanitären Zielen sozialer Kooperation nur wenig zu tun111 . Trotz dieser Vorbehalte setzen die genannten Deklarationen und Resolutionen wesentliche Akzente für die Entwicklung eines sozialen Kooperations-Völkerrechts, in dem das Prinzip der "kollektiven wirtschaftlichen Sicherheit" 112 zugleich Handlungsnorm und Mittel für die Verwirklichung der Menschenrechte der gesamten Weltbevölkerung ist. Der Übergang von bilateraler zur multilateralen Entwicklungshilfe, sei es durch regionale Organisationen, wie die EG113, sei es über einen Entwicklungsfonds der Vereinten Nationen114, ermöglicht eine von den Tomuschat, ZaöRV 36 (1976), S. 490. Vgl etwa Art. 6 S. 2 und 7 S. 1, 2 sowie Art. 9 der Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten, abgedr. in: Die Friedenswarte 59 (1976), S. 76 f.; Art. 9 lautet: "All States have the responsibility to cooperate in the economic, social, cultural, scientific and technological fields for the promotion of economic and social progress throughout the world, especially that of the developing countries." 11 0 Nach der Ansicht von Petersmann, ZaöRV 36 (1976), S. 537 "fordern die Entwicklungsländer eine materielle Auffüllung der völkerrechtlichen Souveränitäts- und Gleichheitsgrundsätze in den Nord-Süd-Beziehungen und interpretieren den Souveränitätsgrundsatz häufig nicht allein als Rechtsgrundlage für Freiheits-, Schutz- und Abwehrrechte, sondern zugleich für Teilhaberechte (z. B. an der multilateralen UN-Entwicklungshilfe) und für ein droit au developpement und präferenzielles Entwicklungsvölkerrecht tos toD
(droit du developpement)". 111 Zum Problem: Flory, Souverainete des Etats et cooperation pour le developpement, RdC 1974, S. 255 ff.
112 Von Brasilien eingeführter und zum Leitprinzip der Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten erhobener Gedanke (vgl. Tomuschat, ZaöRV 36 (1976), S. 456 m. N.). Vgl. dazu den Bericht des UNGeneralsekretärs vor dem Wirtschafts- und Sozialrat auf dessen 57. Tagung am 6. 6. 1974 (UN Doc. E 5529) und K. Ipsen (Anm. 61), S. 11 ff. 113 Vgl. dazu neuestens: Grabitz, Die Entwicklungspolitik der Europäischen Gemeinschaften. Ziele und Kompetenzen, EuR 1977, S. 217 ff.; s. auch: Schifjler, Das Abkommen von Lome zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und 46 Staaten Afrikas, des karibischen und des pazifischen Raumes, JIR 18 (1976), S. 320 ff. sowie die Veröffentlichungen der Kommission der EG: Entwicklungshilfe, Skizze der Gemeinschaftsaktion von morgen, in: Bull. EG Beil. 8/74; u. dies.: Entwicklung und Rohstoffe Aktuelle Probleme, Bull. EG Beil. 6/75. 114 Zum "United Nations Development Program" (UNDP) und zur "United Nations Industrial Development Organization" (UNIDO) vgl. die Nachw. bei Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 197 f.; s. auch Morse, Zur
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einzelstaatlichen wirtschaftlichen Interessen unabhängigere und damit gerechtere Verteilung der Hilfsleistungen auf die verschiedenen Gruppen von Entwicklungsländern, insbesondere dann, wenn auch die Empfängerstaaten mit an der Formulierung der Entwicklungsprogramme beteiligt sind.
d) Staatsübergreifende Kooperation von privater Hand: Die internationale Gesellschaft Internationale Zusammenarbeit beschränkt sich nicht nur auf die Kooperation von Staaten. Verbesserte Verkehrs- und Kommunikationsmittel sind auch und gerade auf gesellschaftlicher Ebene Ursachen der Überwindung nationaler Grenzen und der Konstituierung der internationalen Gesellschaft115• Der kooperative Verfassungsstaat hat sich der Herausforderung internationaler Kooperation auch von privater "gesellschaftlicher" Ebene zu stellen. Die Überlagerung (und gelegentlich auch Kompromittierung) staatlicher Entwicklungs- und Wirtschaftspolitiken durch anders gerichtete Geschäftspolitiken multinationaler Unternehmen116 kann nur durch die internationale Zusammenarbeit der Staaten sozial eingebunden und auf das Ziel der kollektiven wirtschaftlichen Sicherheit verpflichtet werden. Die Bemühungen um einen "Verhaltenskodex für multinationale Unternehmen" im Rahmen der OECD sind ein erster Ansatz zur Verwirklichung dieses Postulats. Soweit sie zur Übernahme der ihrem Einfluß entsprechenden sozialen Verantwortung auf internationaler Ebene bereit sind, sollten sie als Faktoren privater Wirtschaftsintegration nicht mehr als Störfaktoren des internationalen Wirtschaftslebens bekämpft, sondern als Ergänzung staatlicher Kooperation auf gesellschaftlicher Ebene gefördert werden. Rolle des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen - Sieben Charakteristika der multilateralen Hilfe, in: Vereinte Nationen 1977, S. 104 ff. 113 Zum Begriff der "Internationalen Gesellschaft" vgl. P. Häberle, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (63); J. H. Kaiser, Art. "Staatslehre", Staatslexikon, 6. Auf!. VII (1962), Sp. 589 (595). 118 Vgl. dazu: United Nations, Multinational Corporations in World Development, Report by the Dep. of Economic and Social Affairs of the U. N. Secretariat, New York, 1973, STIECN190. Vgl. auch die Mitteilung der Kommission der EG an den Rat über: Die multinationalen Unternehmen und die Gemeinschaft, Bull. EG Beil. 15/73; Feltham I Rauenbusch, Canada and the Multinational Enterprise, in: Hahlo I Smith I Wright (Hrsg.), Nationalism and the Multinational Enterprise, 1974, S. 45: "The peculiar characteristic of the multinational enterprise in this world of economic integration is that many such enterpr,ises have achieved transnational integration and COordination in much higher degree than any of the political organizations." Zum Thema "Völkerrecht und multinationale Unternehmen" s. auch Petersmann, Die Friedenswarte 59 (1976), S. 16- 23; zum wettbewerbsrechtlichen Aspekt: Meessen, Völkerrechtliche Grundsätze des internationalen Kartellrechts, 1975. s. auch die OECD-Declaration on International Investment and Multinational Enterprises-Guidelines for Multinationals, in the OECD-Observer No. 82 I July/August 1976, S. 9 ff.
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Besondere Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang die Organisation des Roten Kreuzes, dessen internationales Komitee sogar Völkerrechtssubjektivität besitzt117• Unter den übrigen (ca. 2000 118) "nichtstaatlichen internationalen Organisationen", die in praktisch allen Bereichen des gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens tätig sind, ist besonders hervorzuheben die Organisation der mit dem Friedensnobelpreis von 1977 ausgezeichneten Amnesty International 119• Ihre Arbeit macht ebenso wie diejenige des Internationalen Roten Kreuzes deutlich, daß humanitäre Aktionen und der effektive Schutz der Menschenrechte weder allein staatliche Aufgaben sind, noch der Kooperation zwischen Staaten überlassen werden können, sondern der Ergänzung, der Mitwirkung und oft auch der - privaten - Initiative aus der internationalen Gesellschaft heraus bedürfen: durch Menschen um der Menschen willen120• Nichtstaatliche internationale Organisationen haben auch in der Charta der Vereinten Nationen Anerkennung gefunden. Nach Art. 71 kann der Wirtschafts- und Sozialrat121 "geeignete Abmachungen zwecks Konsultation mit nichtstaatlichen Organisationen treffen, die sich mit Angelegenheiten seiner Zuständigkeit befassen. Solche Abmachungen können mit internationalen Organisationen und, soweit angebracht, nach Konsultation des betreffenden Mitglieds der Vereinten Nationen auch mit nationalen Organisationen getroffen werden". Die Anerkennung und Förderung der Arbeit dieser Organisationen gehört mit zu den Hauptaufgaben des kooperativen Verfassungsstaates, selbst wenn oder gerade weil hiermit die Introvertiertheit nationalen Souveränitätsdenkens in Frage gestellt wird. 117 Vgl. etwa: W. v. Starck, Internationale und nationale Rechtsstellung des Roten Kreuzes, JIR 13 (1967), S. 210 ff.; Verdross I Simma, Universelles Völkerrecht, 1976, S. 219; Knitel, Le röle de la Croix-Rouge dans la protection internationale des droits de l'homme, in: La protection internationale des droits de l'homme, Bruxelles 1977, S. 137 ff. 118 So Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, 1975, S. 125 f.; Scheuner, Nichtstaatliche Organisationen und Gruppen im soziologischen und rechtlichen Aufbau der heutigen internationalen Ordnung, Jahrbuch des Landesamts für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen 1966, S. 584 ff. 118 Vgl. dazu die Dokumentation von Claudius I Stephan, Amnesty International- Portrait einer Organisation, 1976; M. Frise, Die machtlose Schutzmacht der Menschenrechte, FAZ v. 22.10.1977. 120 Vgl. hierzu ansatzweise: H. Lauterpacht, International Law and Human Rights, 1973, S. 27 ff., 69 ff.; Verdross I Simma, Universelles Völkerrecht, 1976, s. 583 ff. 121 Vgl. H. Lauterpacht, International Law and Human Rights, 1973, S. 23 ff.
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2. Vom souveränen Nationalstaat zum kooperativen Verfassungsstaat
In dem Maße, wie aus der völkerrechtlichen Perspektive die Kooperation zwischen den Staaten an die Stelle der bloßen Koordination und der bloßen Ordnung der friedlichen Koexistenz122 (d. h. der Abgrenzung nationaler Souveränitätsbereiche voneinander) tritt, sind im Felde des nationalen Verfassungsrechts Tendenzen erkennbar, welche die Aufweichung des strikten Innen-/Außenschemas zugunsten einer Völkerrechtsoffenheit bzw. -freundlichkeit anzeigen.
a) Völkerrechtsoffenheit in Verfassungstexten Als älteste noch heute geltende geschriebene Verfassung enthält diejenige der Vereinigten Staaten von Amerika vom 17. September 1787, abgesehen von einigen Bestimmungen über die auswärtige Gewalt (Art. 1 Sektion 8 Abs. 3 und 10 sowie Art. 2 Sektion 2 Abs. 2) 123, keinerlei Aussagen über das Verhältnis der Vereinigten Staaten zu anderen Nationen. Andere ältere Verfassungen, wie diejenige Norwegens von 1814124, der Niederlande von 1815125, Belgiens von 1831 126 und Luxemburgs von 1868127 haben sich gegenüber ihrer ursprünglichen Introvertiertheit erst durch jüngste Verfassungsänderungen dem Völkerrecht geöffnet. Indem die neueingefügten Verfassungsartikel im Hinblick auf die europäische Integration die Übertragung von Hoheitsgewalt auf überstaatliche oder völkerrechtliche Organisationen und Einrichtungen gestatten128, dokumentieren sie die Bereitschaft zu einem Souveränitätsverzicht, der dem traditionellen Völkerrecht fremd war. Erstmalig sind entsprechende Bestimmungen in der Verfassung Italiens von 1947 (Art. 11)129 und im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland von 1949 (Art. 24 Abs. 1) niedergelegt worden. Die neue griechische Verfassung von 1975 enthält sie in Art. 28 Abs. 21 30. Daß sich hier ein mög122 Zum Inhaltswandel dieses von der sozialistischen Völkerrechtslehre entwickelten Prinzips vgl. die Nachw. bei Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, 1975, S. 87 f. (insbes. Fn. 12). 128 Text in: Franz, Staatsverfassungen, 1964, S. 10 ff. 124 Text in: Mayer-Tasch, Die Verfassungen der nicht-kommunistischen Staaten Europas, 2. Aufl. 1975, S. 404 ff. m Ebd., S. 367 ff. 128 Ebd., S. 40 ff. 127 Ebd., S. 348 ff. us Vgl. § 93 Abs. 1 Norweg. V.; Art. 67 Abs., 1 Nieder!. GG.; Art. 25 bis Belg. V.; Art. 49 bis Luxemb. V. 129 Text in: Mayer-Tasch (Anm. 124), S. 314 ff. 130 "To serve an important national interest and to promote cooperation with other States, competences under the Constitution may be granted by treaty or agreements to organs of international organizations ..." Vgl. dazu: Fatouros, International law in the new Greek constitution, in: AJIL 70
(1976),
s. 492 ff.
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Peter Häberle
lieherweise allgemeiner grundlegender Wandel im Selbstverständnis souveräner Staaten anzeigt, läßt die neue Verfassung des Königreichs Schweden von 1975131 vermuten, die im Gegensatz zur Verfassung von 1809 132 trotz der unveränderten Neutralität Schwedens in Kapitel 10 § 5 Abs. 2 bestimmt, daß Aufgaben der Rechtsprechung und der Verwaltung "einem anderen Staat, einer zwischenstaatlichen Organisation oder einer ausländischen oder internationalen Einrichtung oder Gemeinschaft übertragen werden" können. Die Möglichkeit, einem System kollektiver Sicherheit beizutreten, sehen Art. 24 Abs. 2 GG sowie Art. 6 Abs. 4 der Verfassung der DDR von 1968 vor. Bekenntnisse zur internationalen freundschaftlichen Zusammenarbeit sind vorwiegend in jüngeren Verfassungen enthalten. So bekräftigt Irland nach Art. 29 seiner Verfassung von 1937 "seine Ergebenheit gegenüber dem Ideal des Friedens und der freundschaftlichen Zusammenarbeit unter den Völkern auf der Grundlage internationaler Gerechtigkeit und Moral". Das japanische Volk erklärt sich nach der Präambel seiner Verfassung von 1947 entschlossen, "die Früchte friedlicher Zusammenarbeit mit allen Völkern . . . zu erhalten"133. Ähnlich betont die Präambel der Verfassung Polens von 1952134 den Willen, die Freundschaft und die Kooperation zwischen den Staaten zu stärken. Besonders ausführlich geht die Verfassung Jugoslawiens von 1974135 in ihrem Grundprinzip VII auf die internationale Zusammenarbeit ein: Ausgehend von der Uberzeugung, daß friedliche Koexistenz und aktive Kooperation zwischen den Staaten und Völkern unbesehen der Unterschiede in ihrem sozialen System unerläßliche Bedingungen sind für Frieden und sozialen Fortschritt in der Welt, soll die sozialistische föderalistische Republik von Jugoslawien ihre internationalen Beziehungen auf die Grundlage der Prinzipien des Respekts für nationale Souveränität und Gleichheit, Nichteinmischung in innere Angelegenheiten ... stellen. Bemüht um umfassende politische, wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit mit anderen Nationen und Staaten, wird die sozialistische föderalistische Republik Jugoslawien als sozialistische Gemeinschaft von Nationen nicht aus den Augen verlieren, daß die Zusammenarbeit beitragen sollte zu einer Schaffung solcher demokratischer Formen einer Bindung zwischen den Staaten, Nationen und Völkern, wie sie den Interessen der Nationen und dem sozialen Fortschritt und damit dem Respekt einer offenen Gesellschaft entspricht. 131 Mayer-Tasch (Anm. 124), S. 580 ff. 132 Ebd., S. 554 ff. 1" Text in: Franz, Staatsverfassungen, 1964, S. 542 ff. 134 Text in: Peaslee, Constitutions of Nations, Vol. III-Europe, 3. Aufl. 1968, S. 710 (Präambel, letzter Absatz). 135 Engl. Text in: Blaustein I Flanz, Constitutions of the Countries of the World, Bd. XIV, vgl. D. Kulic, JÖR NF 25 (1976), S. 211 (216 f.).
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Nach Art. 281 Abs. 7 soll der Bund weiterhin durch seine Behörden "die Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern vorantreiben und stimulieren sowie die Möglichkeiten der Weiterentwicklung wirtschaftlicher Kooperation mit diesen Ländern sichern". Wie hier in der jugoslawischen Verfassung positive Erfahrungen in der Zusammenarbeit zwischen den Gliedstaaten einer Föderation von Verfassungs wegen auf die Grundsätze der Außenpolitik übertragen werden, findet die Idee des kooperativen Verfassungsstaates vorbildlich textlichen Ausdruck in der Verfassung des neugebildeten Schweizer Kantons und der Republik Jura (1977). Ihr Art. 4lautet: 1. Die Republik und der Kanton Jura arbeiten mit den anderen Kantonen
der Schweizerischen Eidgenossenschaft zusammen. 2. Sie ist bestrebt, mit ihren Nachharn eng zusammenzuarbeiten. 3. Sie ist weltoffen und arbeitet eng mit den um Solidarität bemühten Völkern zusammen. Das aktive Moment ist schon sprachlich erkennbar: im Wort "arbeiten". Das Moment des Kooperativen prägt sich bundesstaatlich aus in Abs. 1 - Zusammenarbeit mit den anderen Kantonen-, aber auch darüber hinausgreifend: in bezugauf die Zusammenarbeit mit den "Nachbarn" und den "um Solidarität bemühten Völkern". Weltoffenheit und Solidarität sind Schlüsselworte des kooperativen Verfassungsstaatesdaß seine Wirklichkeit ein entsprechendes Bemühen verlangt, formuliert Abs. 3 sogar wörtlich; die Stufung der Kooperation von der bundesstaatliehen zur völkerrechtlichen Ebene könnte nicht evidenter sein. Schon der kurze Streifzug durch die europäischen und einige außereuropäische Verfassungen läßt eine Tendenzwende vieler (Verfassungs-)Staaten zur internationalen Kooperation erkennen, wobei in den sozialistischen Staaten teilweise das kooperative Element dem verfassungsstaatlichen vorauseilt. Die Analyse von über 100 anderen heute geltenden Verfassungen auch der Entwicklungsländer dürfte diese Tendenz nur bestätigen138 • Ob und wie sie anhält, werden die neuen Verfassungen Portugals, Spaniens und der Sowjetunion zeigen. 138 Vgl. z. B.: Verfassung der Republik Niger (1960), Präambel, Abs. 2: "They affirm their determination to cooperate in peace and friendship with all peoples who share this ideal of Justice, Liberty, Equality, Fraternity and Human Solidarity" (in: Blaustein I Flanz: Constitutions of the Countries of the World, Bd. IX); ebd., Bd. XIV: Verf. der Rep. Zaire v. 24. 6.1967, Art. 69: "For the purpose of promoting African Unity, the Republic may conclude treaties and Agreements of affiliation involving partial abandonment of sovereignty": Verfassung der Volksrepublik Bangladesh v. 4. Nov. 1972, Präambel, Abs. 4: " ... make our full contribution towards international peace and cooperation in keeping with the progressive aspirations of mankind", ebd. Bd. II.
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b) Das Internationale Privatrecht als Ausdruck offener Rechtsstrukturen Auch das Internationale Privatrecht ist als Ausdruck der und Mittel zur Verflechtung der Staaten bzw. ihrer "Gesellschaften" staats- und verfassungstheoretisch hier einzubeziehen, in seinen Fragestellungen und in seinen Entwicklungstendenzen. Zum einen fragt sich, welches verfassungsstaatstheoretisch die optimale Lösung für die Ausgestaltung des IPR ist. Eindrucksvollerweise kann und will es sich der deutsche Staat - zumal nach dem allmählichen Ausbau einseitiger Kollisionsnormen zu allseitigen137 - leisten, fremdes Recht durch seine eigenen staatlichen Richter anzuwenden. Es ist wohl kein Zufall, daß der deutsche Richter das fremde Recht als "Recht" anwendet, während die französische Theorie hier zurüclthaltend von "Tatsachen" ausgeht1 38 - das dürfte eine Nachwirkung des Souveränitätsdogmas sein, wobei freiliich Batiffols Theorie139 als französische Selbstkritik aufzugreifen wäre. Die Anwendung "fremden" (Privat-)Rechts durch deutsche Richter ist ein bestes Stück Kooperation der Staaten und Privaten. (Man denke auch an das (privatrechts-)kooperationsfördernde internationale Kaufrecht.) Die Achtung vor der Identität fremder Verfassungs- und Rechtskultur bleibt freilich auch für den kooperativen Verfassungsstaat Gebot. Zum anderen geht es um die Frage, inwieweit das GG140, insbesondere die Grundrechte141, im IPR gelten und wie es mit dem "ordre public" steht. Ein sich bewußt in der internationalen Verflochtenheit sehender Dazu Kegel, Internationales Privatrecht, 4. Aufl. 1977, S. 125 ff. Vgl. Makarov, Der allgemeine Teil des internationalen Privatrechts im neuen französischen Kodifikationsentwurf, in: Multitudo legum jus unum, Wilhelm Wengier zu seinem 65. Geburtstag, 1973, Bd. II, S. 505 (510 f.). 13' Dazu Kegel (Anm. 137), S. 90 f. 140 s. etwa Sonnenberger, Die Bedeutung des Grundgesetzes für das deutsche internationale Privatrecht, Diss. München 1962. 1' 1 Vgl. etwa BGHZ 41, 136 (150 f.): Keine Eheschließung katholischer Spanier mit geschiedenen Deutschen, trotz Art. 6 I GG: "Das Grundrecht auf Freiheit der Eheschließung kann nur im Rahmen der Gesetze, zu denen auch die von unserem Kollisionsrecht bezeichnete fremde Rechtsordnung gehört, ausgeübt werden." Nach BGHZ 42, 7 (13 f.) "greift der Grundsatz des gemeinen Völkerrechts durch, daß jedes Mitglied der Völkerrechtsgemeinschaft die Rechtsordnungen der anderen Mitglieder anerkennen muß . . . Dem würde es widersprechen, wenn die Anwendbarkeit der Rechtssätze fremder Rechtsordnungen, die nach dem internationalen Privatrecht maßgebend sind, von vornherein von ihrer Vereinbarkelt mit den Vorschriften des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland abhängig gemacht würde" (m. w. N. dagegen zu Recht BVerfGE 31, 58 (70 ff., 72 f.): "Diese Auffassung wird dem Vorrang der Verfassung und der zentralen Bedeutung der Grundrechte nicht gerecht"). s. auch Dölle, Internationales Privatrecht, 2. Aufl. 1972, S. 20 ff.; Kegel (Anm. 137), S. 240 ff.; Jayme I Meessen, Staatsverträge zum Internationalen Privatrecht, 1975, S. 13 ff., 58 ff. 137
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Verfassungsstaat wird sich dem fremden Recht stärker öffnen als der "selbstherrliche" Staat.
m. Verfassungstheoretische Konsequenzen 1. Neuorientierung derRechtsquellen-und Interpretationslehre
Im Rahmen dieser Verfassungsstaaten und internationale Beziehungen, Verfassungsstaat und benachbarte (Verfassungs-)Staaten "zusammendenkenden" Sicht ist die herkömmliche Rechtsquellenlehre in Zweifel zu ziehen. Die Ideologie vom etatistischen RechtsquellenmonopoP'2 wird dem Verfassungsstaat in dem Maße fremd, wie er sich zum kooperativen Verfassungsstaat wandelt. Er nimmt kein Monopol bei Rechtssetzung und Interpretation mehr in Anspruch: er öffnet sichgestuft- völkerrechtlichen bzw. internationalen Rechtsetzungsverfahren und -interpretationsvorgängen. Gewiß, formalließe sich sein Rechtssetzungs- und Interpretationsmonopol noch begründen, d. h. auf die "souveräne" Entscheidung für eine internationale Zusammenarbeit zurückzuführen, der Sache nach und realistischerweise geht es um komplexe Rechtssetzungs- und Interpretationsvorgänge mit vielen Beteiligten: die einseitige Setzung entwickelt sich in Richtung auf konzertierte, kooperierende Aktionen. Die Kooperation der Verfassungsstaaten in internationalen Organisationen, die gemeinsame Ausarbeitung umfassender Kodifikationswerke, welche Form und Verfahren ihrer Zusammenarbeit regeln143 , und die Ausdehnung einer internationalen Gerichtsbarkeit, zu deren Rechtsmaterial u. a. "die von den zivilisierten Staaten anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze" gehören144, bilden die Grundlage einer wechselseitigen Einflußnahme von nationaler und internationaler Rechtsordnung: Rechtsstrukturen und Gerechtigkeitsideen aus den verschiedenen Staaten der Völkerrechtsgemeinschaft wirken auf den völkerrechtlichen Rechtsbildungsprozeß ein145 ; Grundsätze und Einzelregelungen des Völkerrechts setzen ihrerseits Maßstäbe für die innerstaatliche Rechtsentwicklung. Die Rechtsvergleichung ist hier das typische Medium146 • Das völkerrechtliche Fremden- bzw. das innerstaatu! Dazu meine Kritik, AöR 92 (1967), S. 259 (271). Vgl. etwa die Wiener Konvention über das Recht der Verträge vom 22. Mai 1969, dazu Verdross I Simma, Universelles Völkerrecht, 1976, S. 345 ff. 1" Art. 38 c IGH-Statut; vgl. dazu Verdross, Die Quellen des universellen Völkerrechts, 1973, S. 120 ff. (126 ff.); Hailbronner, Ziele und Methoden völkerrechtlich relevanter Rechtsvergleichung, in: ZaöRV 36 (1976), S. 205 ff. 141 Vgl. etwa Strebel, Einwirkungen nationalen Rechts auf das Völkerrecht, in: ZaöRV 36 (1976), S. 168 ff. 1" Dazu Bothe, Die Bedeutung der Rechtsvergleichung in der Praxis internationaler Gerichte, in: ZaöRV 36 (1976), S. 280 ff. 143
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liehe Ausländerrecht und die Entwicklung des Menschenrechtsschutzes147 mögen als Beispiele dienen. Neben dieser Durchdringung der verschiedenen Rechtsordnungen in sachlicher Hinsicht ist das personale Element, die "Beteiligtenfrage", von entscheidender Bedeutung. Die internationale Besetzung der für die Abfassung der einzelnen Kodifikations-, Deklarations- und Resolutionsentwürfe zuständigen Gremien148 sowie des IGH gewährleistet die Berücksichtigung der verschiedenen Rechtsvorstellungen auch in institutioneller Hinsicht. Die intensivierte Form internationaler Kooperation bei der Rechtschöpfung und -auslegung in der EG149 deutet die Richtung einer möglichen Weiterentwicklung auch auf globaler Ebene an. Die "offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" 150 wird international. 2. "Gemeines Kooperationsrecllt": Integration von Staats- und Völkerrecllt
Ausdruck, Voraussetzung und Folge der Kooperation zwischen den (Verfassungs-)Staaten ist die Entwicklung gemeinen Rechts. Es soll "Kooperationsrecht" heißen. Zwischen den Verfassungsstaaten untereinander ist solches gemeines Kooperationsrecht durchaus erkennbar. Das zeigt der typologische Überblick. Typische völkerrechtsfreundliche Normen, Verfahren und Kompetenzen, Ziele und Gehalte haben sich hier schon bemerkenswert weit verdichtet: es entsteht ein "gemeinsamer" Bestand an kooperationsrechtlichen Formen und Normen, den die Verfassungsvergleichung weiter zu präzisieren hat. Solches gemeines Kooperationsrecht zwischen den Verfassungsstaaten dürfte sich auch in dem Maß entwickeln, wie die Verfassungsgerichtsbarkeit vordringt. Besonders sie kann als "Kooperationsvehikel" wirken so wie der EuGH als Integrationsfaktor im Bereich der EG aktiv ist. "Kooperation" ist insofern eine Vorform, eine Vorstufe solcher (europäischen) Integrationsrechte. Darum ist der Erfahrungsschatz der EG für den Aufbau und Ausbau von überregionalem Kooperationsrecht zwischen den Verfassungsstaaten zu nutzen. (Man denke an die Grundrechte, allgemeine Rechtsgrundsätze, die Gerichtsbarkeit als Integrationsmotor151.) 147 Vgl. Strebel, ZaöRV 36 (1976), S. 176 f.; allg.: Verdross I Simma, Universelles Völkerrecht, 1976, S. 583 ff. 148 So bestand die Arbeitsgruppe für die Abfassung der "Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten" von 1974 aus Vertretern von 31 bzw. 40 Staaten; vgl. dazu Tomuschat, ZaöRV 36 (1976), S. 444 (446). 149 Vgl. dazu meinen Beitrag in BayVBl. 1977, S. 745 (751). 150 Dazu P. Häberle, JZ 1975, S. 297 ff.
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Kooperationsrecht ist jedoch auch zwischen solchen Staaten bzw. Verfassungsstaaten zu entwickeln, die nicht regional bezogen sind: die z. B. in verschiedenen Kontinenten liegen; m. a. W.: Die "Einheit der Völkerrechtsgemeinschaft" darf nicht durch unterschiedlich rasches Wachstum von regionalem Kooperationsrecht gesprengt werden. Kooperationsrecht im hier verstandenen Sinne wird zwar immer unterschiedlich dicht sein und es wird unterschiedlich rasch entwickelt. Gleichwohl sollten die Elemente und Institute dieses Kooperationsrechts "gemein" sein: um eine allmähliche Gesamtentwicklung aller Staaten in Richtung auf Kooperationsrecht zu verstärken, das den "Überbau" bzw. "Unterbau" von gemeinsamem Völkerrecht und Staatsrecht liefert, welches sich der Alternative "Völkerrecht oder Staatsrecht" entzieht und beides integriert152 • "Gemeines Kooperationsrecht" ist der nicht nur terminologische Versuch, aus dieser Alternative mitsamt dem Dualismus/Monismusstreit "herauszuspringen". 3. Kooperative Grundrechtsverwirklichung
Kooperative Grundrechtsverwirklichung ist eine weitere Konsequenz des kooperativen Verfassungsstaates und "seines" gemeinen Kooperationsrechts sowie des Kooperationsvölkerrechts. Der Begriff entstammt dem Innovationspotential bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsprechung153; er findet - weit über den Bereich des kooperativen Föderalismus hinaus - wachsenden und vielfältigen Ausdruck: von der vergleichsweise "festen" und intensiven (auch leistungsstaatlichen) Kooperationsform im Bundesstaat, über regionale Menschenrechtskonventionen wie die MRK bis hin zu den weniger dichten universalen Menschenrechtspakten von 1966 bzw. 1976 oder dem "Korb 3" der KSZE. Kooperative Grundrechtsverwirklichung ist der Auftrag des (kooperativen) Verfassungsstaates, in seinem Verhalten "nach außen", in der Völkerrechtsgemeinschaft ein Mindestmaß an materieller und prozessualer Grundrechtswirklichkeit für "Fremde" und Staatenlose "bei 151 Vgl. zur entspr. Rolle des EuGH: H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 374; Lecourt, L'Europe des Juges, 1976, S. 219, 309; Schlochauer, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften als Integrationsfaktor, in: Festschrift für Walter Hallstein, 1966, S. 431 ff. m Anders als das Kooperationsvölkerrecht bzw. das "völkerrechtliche Kooperationsrecht" (vgl. Petersmann, ZaöRV 36 (1976), S. 517) umfaßt das "gemeine Kooperationsrecht" per se auch Teile des Verfassungsrechts der Staaten. 153 Vgl. etwa das erste "Numerus-Clausus"-Urteil des BVerfG in E 33, 303 (357) zur "Mitverantwortung" der Bundesländer "für eine kooperative Verwirklichung des Grundrechtsschutzes", und P. Häberle, DÖV 1972, S. 729 (739 f.).
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sich" zu schaffen. Das gilt auch für seine auswärtige Gewalt154 und hat Konsequenzen für das Internationale Privatrecht. Freilich gibt es keine Patentrezepte und -formeln, weder für die einzelnen Grundrechte, noch für die Mittel und Verfahren ihrer Anwendung. So ist Art. 1 Abs. 2 GG Kompetenz und Auftrag zur kooperativen Grundrechtsverwirklichung ebenso wie zur menschenrechtliehen Ausgestaltung einzelner Grundrechte im Ausländerrecht156 • Selbst der (mehr oder weniger verborgene) "Menschenhandel" der Bundesrepublik Deutschland mit der DDR (Freikauf politischer Gefangener) ist ein Stück kooperativer Grundrechtsverwirklichung, übrigens durch die "geschlossenste" Grenze hindurch. Kooperative Grundrechtsverwirklichung ist nicht auf eine Grundrechtsdogmatik beschränkt: m. a. W. die abwehrrechtliche Grundrechtsseite ist eine, aber nicht die alleinige "Seite" grundrechtlicher Freiheit, die sich der kooperative Verfassungsstaat zur Richtschnur seines Handeins zu machen hat. Andere Grundrechts-"Seiten" kommen hinzu158• Leistungsstaatliche Grundrechtsaktivitäten sind nicht minder wichtige grundrechtseffektivierende Kooperationsformen. In nuce finden sie sich schon in der ausländer(rechts)freundlichen Auslegung des Art. 19 Abs. 4 GG durch das BVerfG, man denke auch an "armenrechtliche" Konsequenzen; die "Integration by Jurisprudence" im EG-Bereich (Grundrechte als "allgemeine Rechtsgrundsätze") 167 ist eine weitere Stufe, auch und soweit sie leistungsrechtliche Perspektiven enthält168. Vor allem aber deutet der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte auf "leistungsstaatliche Grundrechtspflichten"169 und "Grundrechtspolitik". Gerade sie geben der Staatlichkeit heute neuen Rang. Auch in sonstigem Rechtsmaterial zur "Internationalisierung" von Grundrechten dürften leistungsstaatliche Momente nachweisbar sein. Das bedeutet keine vorschnelle Ausdehnung nationaler (hier aG-introvertierter) Grundrechtsdogmatiken auf 1" Dazu die Kontroverse in Basel zwischen Geck und Grabitz: VVDStRL
36 (1978),
s. 142 ff., 159 ff.
m Zur Effektivierung des Art. 19 Abs. 4 GG für sprachunkundige Ausländer durch das BVerfG meine Nachw. in: Schmitt Glaeser (Hrsg.), Verwaltungsverfahren, 1977, S. 47 (61 f.). 15 8 Zur variablen - Kombination mehrerer Grundrechtsseiten mein Mitbericht VVDStRL 30 (1972), S. 43 (75 f.) sowie z. B. in DÖV 1976, S. 538 (Besprechung Krebs), JZ 1978, S. 79 (Besprechung Willke). m Rspr. des EuGH seit Urt. v. 12. 11. 1969, Rs. 29/69 (Stauder), Slg. 1969, 419 (425, Rn. 7); s. auch Urt. v. 14. 5.1974, Rs. 4/73 (Nold), Slg. 1974, 491 (507). Zum Begriff der "Integration by Jurisprudence" vgl. Deringer! Sedemund, NJW 1977, S. 1997. 1 58 158
Dazu I. Pernice, JZ 1977, S. 777 (779 ff.). Zur Terminologie mein Mitbericht, VVDStRL 30 (1972), S. 103 ff.
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die "internationale Familie der Verfassungsstaaten". Gewiß wird man vorsichtig sein müssen, grundrechtstheoretische Kontroversen aus dem deutschen Binnenbereich "nach außen" zu verlagern - so sehr etwa die französische Doktrin die Problematik der "Leistungsgrundrechte" diskutiert1 60• Dennoch können sich die Konturen einer Übereinstimmung der Verfassungsstaaten hinsichtlich eines Minimums an "Multüunktionalität" der Grundrechte abzeichnen, die über die "klassische" Grundrechtswirkung hinausreicht. Es dürfte auch Bereiche geben, in denen die (wahrlich nicht unterentwickelte) deutsche Grundrechtsdogmatik von der ausländischen "lernen" kann. "Kooperative Grundrechtsverwirklichung" umfaßt die Menschenrechtsproblematik, geht aber über sie hinaus. Zu denken ist an die kooperative Grundrechtserstreckung von Bürgerrechten auf Angehörige benachbarter (Verfassungs-)Staaten; so reichen gewisse MRK-Freiheiten und Grundrechte der EG-Marktbürger über das menschenrechtliehe Minimum hinaus181. Die "werbende Kraft" des Typus Verfassungsstaat ist auf keinem Feld so groß wie auf dem der kooperativen Grundrechtsverwirklichung. Seine Grundrechtskataloge werden in der Weltöffentlichkeit in doppelter Hinsicht zum Vorbild: als Hoffnung der "Staatsangehörigen" dritter Staaten auf Grundrechte für sich selbst162 und als Hoffnung auf grundrechtliche Besserstellung der Menschen als "Fremde" in diesen Staaten. Das Ansehen des Verfassungsstaates wächst mit seiner Kraft zur kooperativen Grundrechtsverwirklichung. Staatlichkeit gewinnt hier eine neue Legitimationsebene. Das "gemeine Kooperationsrecht" erfährt von den Grundrechten her die stärksten Impulse, es integriert sie zu "Gemeinschaftsaufgaben" und hat in ihnen einen verläßlichen Garanten.
uo Vgl. etwa: Rivero, Les libertes publiques, 1973, S. 100 ff.: "droits a des prestations"; Burdeau, Les libertes publiques, 1961, S. 21: "droits-creances"; s. auch Stahl, Die Sicherung der Grundfreiheiten im öffentlichen Recht der 5. französischen Republik, 1970, S. 17, 22 ff., 35 f. 161 Vgl. etwa die im EWG-Vertrag als "Grundlagen der Gemeinschaft" ausgestalteten Marktfreiheiten: freier Warenverkehr (Art. 9 ff.), Freizügigkeit (Art. 48 ff.), Niederlassungsfreiheit (Art. 52 ff.), freier Dienstleistungs(Art. 59 ff.) und Kapitalverkehr (Art. 67 ff.). Beispielhaft ist auch die Ausgestaltung des in Art. 119 EWGV verankerten Grundsatzes der Lohngleichheit für Männer und Frauen als Grundrecht mit Drittwirkung durch den EuGH im Urt. v. 8. 4. 1976, Rs. 43/75 (Defrenne), Slg. 1976, 455 (472- 476). Zur MRK s. auch: Robertson, Die Menschentrechte in der Praxis des Europarats, 1972. 162 Der Begriff "Staatsangehöriger" ist in der Perspektive des Verfassungsstaates fragwürdig, weil die Bürger nicht ihrem Staat, sondern umgekehrt der demokratische Staat ihnen gehört.
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4. Scbluß - Zusammenfassung - Ausblick
Der kooperative Verfassungsstaat ist noch kein erreichtes Ziel, er ist erst "auf dem Weg". Ihn begrifflich-dogmatisch weiter auf den Weg zu bringen (und zu halten), ihn als "Möglichkeit" voll zur "Wirklichkeit" werden zu lassen, ist Sinn dieser Zeilen. Was ist das "Eigene" am "Kooperativen Verfassungsstaat"? Hier eine Zusammenfassung: Es ist
-
Offenheit für internationale Bindungen mit Durchgriffswirkung in den innerstaatlichen Bereich (Permeabilität), auch im Zeichen der (nicht mehr in den domaine reserve eingeschlossenen) weltöffentlichen Menschenrechte und ihrer "kooperativen" Verwirklichung
-
aktives, zielgerichtetes Verfassungspotential (und gestufte Einzelelemente) für "gemeinsame" internationale Aufgabenbewältigung als Gemeinschaftsaufgaben der Staaten, prozessual und materiell
-
leistungsstaatliche Solidarität, Kooperationsbereitschaft über die Staatsgrenzen hinaus: Entwicklungshilfe, Umweltschutz, Terroristenbekämpfung, Förderung internationaler Kooperation auch auf privatrechtlicher Ebene (Rotes Kreuz, Amnesty International).
Der kooperative Verfassungsstaat rückt an die Stelle des nationalen Verfassungsstaates. Er ist die verfassungsstaatsrechtliche Antwort auf den Wandel des Völkerrechts vom Koexistenzrecht zum Kooperationsrecht in der zunehmend verflochtenen und verfaßten Staatengemeinschaft (nicht mehr "-gesellschaft")1 83 und entwickelt mit ihr und in ihr "gemeines Kooperationsrecht". Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten wird international! Im kooperativen Verfassungsstaat wird das nationalstaatliche Element relativiert und der Mensch ("idem civis et homo mundi")- über die Staatsgrenzen hinaus - in den Mittelpunkt (gemeinsamen) staatlichen (und zwischen- bzw. überstaatlichen) Handelns, der "kooperativen Grundrechtsverwirklichung" gerückt (Art. 1 GG). Heute stehen weltweite, über die Staaten als selbständige Einheiten hinausführende "Gemeinschaftsaufgaben" der Menschheit des "blauen Planeten" an. Es mag sein, daß viele Staaten in ihrem Selbstverständnis, in ihrer politischen und wissenschaftlichen (rechtsdogmatischen) Literatur und in ihren "Verfassungstexten" z. T. nur Lippenbekenntnisse zur Kooperation ablegen - im übrigen aber sich auf t&a Vgl. Kimminich, Völkerrecht, 1975, S. 83 f. im Anschluß an die soziologische Unterscheidung bei und seit F. Tönnies.
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"Souveränität" und "innere Angelegenheiten", den domaine reserve 164, berufen, um der gemeinsamen Verantwortung auszuweichen. Das ist - politisch - ihre Sache. Die Wissenschaft des freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaates hat ihren eigenen Auftrag: Sie kann vor sich selbst nur bestehen, wenn sie begrifflich-dogmatisch weltweite und regionale staatsübergreifende Verantwortung wahrnimmt - das ist ihr verfassungsethischer Auftrag! Ihm sucht die Idee des "kooperativen Verfassungsstaates" und des "gemeinen Kooperationsrechts" gerecht zu werdenlus.
1114 Dazu P. Häberle, AöR 92 (1967), S. 259 (286 f.) m. w. N.; Verdross I Simma, Universelles Völkerrecht, 1976, S. 155 ff.; Ch. Rousseau, Droit international public, 7. Aufl. 1973, S. 297 m. N.; Delbez, Les principes g{meraux
du droit international public, 3. Aufl. 1964, S. 180 ff. 105 Ein herausragendes Plädoyer für Notwendigkeit und Grenzen globaler Kooperation hielt jüngst Z. Brzezinski in seiner Rede vom 25. 10. 1977 vor der Trilateral Commission (FAZ vom 17. 11. 1977, S. 11 f.): Grundpriorität: "bei der Gestaltung eines umfassenden und kooperativen Weltsystems mitzuhelfen", s. auch: "Eine sichere und zusammenarbeitende Gemeinschaft der modernen demokratischen Industriestaaten ist die notwendige Quelle der Stabilität für ein breites System der internationalen Zusammenarbeit" ... "muß ein umfassenderes und kooperatives Weltsystem auch jenen Teil der Welt miteinbeziehen, der von kommunistischen Regierungen beherrscht wird ... und diese Staaten müssen ... in das größere Netz globaler Kooperation miteingegliedert werden. Das Ziel ... , die Ost-Westbeziehungen in einen erweiterten Rahmen der Kooperation mit einzubeziehen ... Zu den Ost-WestBeziehungen gehören Elemente sowohl des Wettstreits als auch der Kooperation". s. auch den Begriff der "globalen Gemeinschaft". 12 Festschrift für Helmut Schelsky
Individuum und Gesellschaft Von Peter Hartmann Der Beitrag verfolgt mehrere Ziele und Absichten. Die Ziele haben Bezug zur Sprachwissenschaft und sind: An der Gewinnung eines neuen und besseren, weil umfassenderen und leistungsfähigeren SprachbegrUfs mitzuarbeiten; die hierzu nötigen Gesichtspunkte und Vorgehensweise anband einer bestimmten Fragestellung exemplarisch anzuwenden. Die Absichten beziehen sich auf die wissenschaftliche Umwelt, wobei im Sinne der Festschrift die Soziologie als Nachbardisziplin im Blick steht: es soll eine Begründung für interdisziplinäre Arbeit und ein Beispiel für die Art des Zugangs zu nur gemeinsam zu lösenden Fragestellungen gegeben werden; aus dem Blickwinkel der Sprachwissenschaft soll ein Hinweis erfolgen auf etwas, was auch für die Soziologie wichtig und vielleicht nützlich ist: Daß sich aus einer bestimmten sprachwissenschaftlichen Position heraus das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft als ein ziemlich unfestes herausstellt, indem vom Individuum zur Sprache sowie von der Gesellschaft zur Sprache sehr unterschiedliche Relationen bestehen bzw. eingenommen werden können. Alles zusammen soll dem Jubilar, der vielfach über etablierte Fächergrenzen hinweg gearbeitet und Anregungen gegeben hat, zeigen, daß und wie der von ihm vertretene Wissenschaftsstil auch in anderen Disziplinen auf Interesse gestoßen ist.
1. Positionsbestimmung Wenn sich ein Sprachwissenschaftler unter Vertretern eines insgesamt doch anders orientierten Wissenschaftsbereichs äußern will - in diesem Fall wohl vor allem unter Soziologen, die für das Folgende jedoch als Nachbardisziplin angesehen werden- so empfiehlt es sich für ihn, von einer kurzen Charakteristik der derzeitigen Sprachwissenschaft aus, die eigene Ausgangsposition klar zu machen. Es ist nämlich nicht als selbstverständlich anzunehmen, daß die Vertreter einer Nachbardisziplin, auch wenn dort in zunehmendem und erfreulichem Ausmaß Fragen der Sprache bzw. der sprachlichen Kommunikation zum Gegenstand gemacht und als Mittel zur - hier: soziologischen - Erkenntnisgewinnung gebraucht werden, den Zustand und die Untergliederung der heutigen Sprachwissenschaft voll übersehen. Andererseits wird eine Skizze der derzeitigen Lage. zugleich mit dazu beitragen, den Hintergrund und die Motivation für die im folgenden dann eingenommene Ausgangsposition zu verdeutlichen. 12•
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Die für diesen Abschnitt maßgebenden Thesen sind im 4. Abschnitt unter Nr. (1) bis (4) zusammengestellt. 1.1 Derzeitiger Status der Sprachwissenscllaft
Um es in aller Kürze zu sagen kann man feststellen, daß heute mehrere in sich jeweils umfänglichere Sach- und Interessenbereiche innerhalb der Sprachwissenschaft verfolgt werden, so daß sich insgesamt ein reich gegliedertes Spektrum ergibt. Schon ein kurzer Überblick zeigt, daß sich bei vielen Fragestellungen der Interessenhorizont erweitert bzw. verschoben hat, und zwar von einer reinen Materialanalyse hin zur Einbeziehung auch der außerhalb der eigentlichen Spracherscheinungen liegenden Bedingungen für das Vorkommen und Funktionieren der Sprache im Rahmen der zwischenmenschlichen Kommunikation. Diese Interessenerweiterung findet in dem Sinne statt, daß nicht mehr die betreffende Art der Spracherscheinungen als solche, ihre Besonderheit, die in ihr erkennbaren Strukturen usw. als ausreichender Gegenstand für Aufnahme, Analyse und Beschreibung angesehen werden: immer dann nämlich nicht, wenn man auf (Erklärungs-)Gründe kommen will oder Fragen der Anwendung bemüht, wobei man regelmäßig alsbald auf, hinter oder vor der betreffenden Spracherscheinung liegende Bedingungen (Situationen, Kontexte, Motivationen, Wirkungen) stößt. Sehr global skizziert umfaßt das Gebietsspektrum folgende Gegenstandsbereiche bzw. Richtungen: -Die von früher her bekannte Erforschung der Geschichte und Vorgeschichte bestimmter Einzelsprachen und Sprachgruppen, dies allerdings zunehmend unter dem Gesichtspunkt des Sprachwandels, der Durchverfolgung einer Entwicklungs- und Veränderungslinie im Rahmen (Bereich) einer grosso modo als identisch-homogen bleibend bestimmten Sprache oder Sprachfamilie. Hierbei werden in zunehmendem Maß auch die für den Wandel bestimmenden Bedingungen (Gründe, Ursachen) für wichtig gehalten und einzubeziehen versucht. -
Die Vergleichung von Sprachen, die früher zur Aufstellung von Sprachgruppen und Sprachfamilien bis hin zur Sprachtypologie führte und heute unter dem Gesichtspunkt der praktischen Anwendung als Kontrastive Grammatik betrieben wird; als neueren Annex dieser Interessenrichtung kann man die Arbeiten zur Übersetzungswissenschaft hier anschließen.
-'- Die Universalienforschung, die als generalisierende Auswertung des Sprachvergleichs anzusehen ist und sich auf sprach-, sprachbereichsübergreifende Gemeinsamkeiten richtet; sie ist als die Basis der Erarbeitung konkreter Daten (Sachverhalte) für die früher so genannte Allgemeine Sprachwissenschaft anzusehen. Auch hier ist der Übergang zu bzw. die Einbeziehung von außerhalb der Spracherscheinungen selbst liegenden ("pragmatischen") Gegebenheiten zu vermerken.
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Die seit langem betriebene und weit entwickelte Phonetik, die sich heute bis in die Digitalisierung, Speicherung und künstliche Erzeugung von Lauten, Wortketten usw. erstreckt, außerdem auch an Subsidiärinstrumenten (Prothesen) für Gehörlose arbeitet. Die auch schon früher vorhandene, jedoch in neuerer Zeit stark weiterentwickelte struktur- und systemorientierte Anatyse und Beschreibung von Einzelsprachen vor allem unter grammatikbildendem und grammatiktheoretischem Blickwinkel; für das hier entstandene ganze Bündel von Zugangsweisen (Theoriebildungen) kann man pauschal das bekannte Wort ,Strukturalismus' verwenden, wenn man im Auge behält, daß es sehr unterschiedliche Richtungen (Grammatiktypen) umfaßt und bis zur algebraischen Linguistik und anderen Vorstufen der maschinellen (Sprach) Datenverarbeitung reicht. Die vor allem in neuester Zeit stark ausgebaute, nicht mehr strukturalistische, sondern logikorientierte Sprachanatyse, die zuweilen als Formale Sprachwissenschaft, besser aber als Theoretische Sprachwissenschaft im engeren Sinne verstanden wird; auch hier liegen, und zwar in Form der jeweils zugrundegelegten (angewandten) Logik(en), entsprechende mathematische (metastrukturelle) Gesichtspunkte und Methoden zugrunde; die bisher erkennbare Leistung dieser Richtung(en) ist nicht nur in der durch sie erreichten stringenteren Grammatikform zu sehen, sondern darin, daß mit der Einbeziehung der Logik z. B. in die Bedeutungslehre (Semantik) an diesem Punkt über die Behandlung der "bloßen" Spracherscheinungen hinausgegangen wird, und zwar in Richtung auf eine Analyse der Sprachverwendung. Die Analyse und Bewertung der Sprachvariation, d. h. der Tatsache, daß sich innerhalb einer (jeder) Sprache- die dann bzw. zu diesem Zweck als homogene Gesamtsprache (auch Gemeinsprache) gesehen wird - Unterschiede finden, die sich nach Gruppe, Stand, Beruf usw. identifizieren lassen. Es ist dies heute das Gebiet der Fach- und Sondersprachen, doch hat es seinen Vorläufer in der Dialektologie, die zahlreiche hierhergehörige Gesichtspunkte, Methoden und Arbeitspraktiken bereits seit langem entwickelt hat und bereithält.
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Die insgesamt als kommunikationsorientiert zu bezeichnenden Zugangsweisen, für die durchgehend charakteristisch ist, daß sie die Sprachäußerung mit Blick auf deren Wirkung, Effekt behandeln, wobei sich vor allem zeigt, daß es nicht die Sprache allein ist und sein kann, die hier zu Wirkungen führt oder die Äußerungsmotivation bestimmt. Wiederum pauschal gesprochen, kann man hierunter einmal die sich direkt als Kommunikationsforschung bezeichnende Richtung subsumieren, zum anderen aber auch solche Ansätze, die derzeit unter dem Titel ,Pragmatik' und der Sprechakttheorie verfolgt werden.
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Die Erforschung des Erternens und des Lehrens von Sprache (Sprachlehrlernforschung), unterschieden nach dem Erwerb der Erstsprache oder Muttersprache (früher meist unter dem Titel ,Kindersprache' behandelt) und dem Erwerb von Zweit- bzw. Fremdsprachen; hier gibt es dann die Ausgriffe in die Praxis (Sprachvermittlung in der Schule, Deutsch für Ausländer, Fremdsprachenunterricht), wie sie für die eine Angewandte Sprachwissenschaft naheliegend sind.
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Diejenigen Richtungen, die sich mit der Analyse und Behebung von gestörter Sprache befassen (Sprachpathologie, Sprachtherapie), wobei ins-
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besondere die verschiedenen Formen der Aphasie, aber zunehmend auch der Schizophrenie erforscht werden; das Gebiet reicht bis in die Neurolinguistik, also bis in die gehirntechnischen Voraussetzungen von Vorhandensein, Erlernung und Funktionieren der Sprache. Genauere Nachzeichnung würde noch eingehen auf Zwischenbereiche wie Sprachinterferenzen, Bilingualismus oder auf die Behandlung umfänglicherer Spracherscheinungen wie Textanalyse, Dialoganalyse. Doch dies ist hier nicht nötig. Die deutlich festzustellende, die Spracherscheinungen selbst transzendierende Blickrichtung beginnt auch gewisse Konsequenzen zu zeigen: nicht nur der Art, daß frühere Arbeitsrichtungen oder Arbeits: weisen als zu eng oder zu unergiebig kritisiert werden, sondern auch dahingehend, daß sich gelegentlich die Frage meldet, wie es eigentlich mit dem für Sprachwissenschaft maßgeblichen Sprachbegriff bestellt ist: ob man nicht, sofern man sich um so etwas wie Bedingungen, Erklärungen oder gar Anwendungen kümmern will, einen die Sprache d. h. hier: die Sprachvorkommen - tTanszendieTenden Sprachbegriff haben müßte. Für jemand, der sich, etwa von Gesichtspunkten der Allgemeinen Sprachwissenschaft ausgehend, den ja auch zahlreichen Aussagen der Sprachphilosophie(n) oder der (Sprach-)Psychologie nicht rundweg verschlossen hat, hat diese Frage nichts Erschreckendes, seine Wissenschaft Erschütterndes oder gar Umstürzendes an sich. Er wird vielmehr auf entsprechende Erkenntnisse von anderer - oft breiter fundierter- Seite gespannt sein, und eine solche Seite kann und wird für ihn gerade auch die Soziologie sein. Ein Pendant zu dieser begriffsanalytisch motivierten Öffnung zur Nachbardisziplin bilden im Bereich der spraChwissenschaftlichen Praxis die zahlreichen Hinwendungen zur Soziologie, die allerdings oft zunächst programmatischer Natur waren. Auch wenn es im jetzigen Zusammenhang ein nur sprachwissenschaftliches Methodenproblem ist, muß man ehrlicherweise auch sehen, was mit der soeben genannten Frage nach der Zureichendheit des bisherigen oder eines besseren Sprachbegriffs an Folgeproblemen (Aufgaben) verbunden ist. Denn lediglich gestellt und vielleicht auch - programmatisch - bejaht, erbringt sie noch nicht allzuviel: es gilt, sie praktisch werden zu lassen, d. h. für wissenschaftschaffende Prozeduren· zu einem Steuerungsfaktor zu machen. Eben dies dürfte aber auf neue, eigens zu lösende Probleme führen. Denn man muß klar sehen, daß die sich in den skizzierten Gebieten mit Interessenerweiterung stellenden Forderungen an Theorie und Methode immer schwieriger werden, je mehr an Bedingungen berücksichtigt werden soll - jedenfalls gilt das für den in ihm neue Bereiche vordringenden Sprachwissenschaftler, etwa wenn Bedingungen in der Sozialität, im Partnerbezug usw. liegen und nicht mehr nur im Sprachsystem. Für ihn ist es die schlichte Frage, ob und wie man weiterkommt, wenn der bisher geübte und zum Teil unbezweifelbar erfolgreiche Wissenschafts-, Arbeits- und Denkstil der Sprachwissenschaft beibehalten, jedoch durch Erweiterung um jetzt zusätzlich nötige Dimensionen so hochgradig komplex (wenngleich in
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systematischer, wissenschaftlicher Hinsicht befriedigend) wird, daß die dazu nötige Einzelarbeit kaum geleistet und das Ganze kaum noch praktisch gemacht werden kann. Denn es ist abzusehen, das Gelingen der Aktion einmal vorausgesetzt, daß jedem Mini-Phänomen eine noch aufwendigere Maxi-Beschreibung als jetzt schon zugeordnet werden muß (wodurch sich konsistent-theoriegerechte Gesamtdarstellungen sozusagen von selbst verbieten werden und Exemplarität das Höchst-Erreichbare werden wird), daß dadurch aber zugleich die wichtige Frage der Anwendung, ja der Anwendbarkeit (die eigentlich das Motiv für die Komplizierung bildet und sich also mit zunehmender Brisanz stellen müßte), sozusagen verschwindet hinter den sich steigernden Notwendigkeiten, vielfältiges Spezialistenwissen zu berücksichtigen, das dazu noch in die Form einer neuen Spezialsystematik (Integrierte Theorie} gebracht werden müßte.
Betrachtet man die skizzierte Entwicklung in der heutigen Sprachwissenschaft wissenschaftsgeschichtlich, so wird inan in den Strömungen bzw. Gründen, sich nicht mehr mit den beobachtbaren Spracherscheinungen selbst zu begnügen, sondern diese in Richtung auf ihre Bedingungen und Konsequenzen zu transzendieren, nichts direkt Neues sehen. Denn gerade schon die früheste- im heutigen Verständnis allerdings noch weitgehend vorwissenschaftliche- Sprachforschung des beginnenden 19. Jahrhunderts begegnete ihrem Gegenstand, der Sprache, unter einem stark inklusiven, "den ganzen Menschen" einbeziehenden Blickwinkel. Dieser breite, und für eine erst beginnende Bearbeitung sicherlich zu breite Ansatz ließ sich nicht durchverfolgen, sondern es wurden mit zunehmender Verwissenschaftlichung und Herausbildung zu einer eigenen Disziplin SprachwissensChaft mehr und mehr "nicht dazugehörige" Bereiche abgespalten und anderen Disziplinen überlassen (Philosophie, Psychologie, Soziologie) - zumal innerhalb der innerdeutschen Sprachwissenschaftsentwicklung. 1.2 Die weitere Motivation ·
Die geschilderten jüngsten Entwicklungen kö:i:men als Indiz dafür aufgefaßt werden, daß man - zumindest gelegentlich -'- wohl wieder einem anspruchsvolleren Erklärungsbegriff zustreben muß, eben einem, der auch die Bedingungen mitumfaßt. Und es ist wichtig hinzuzufügen -weil hier Unterschiede zu früheren Phasen der Disziplin bestehendaß diese Notwendigkeit im Rahmen bzw. infolge einer stärkeren Hinwendung zu faktischer Anwendung in der Praxis bemerkt oder erfahren wird. Denn der Sprachwissenschaftler steht sozusagen vor folgender Tatsache: Wenn er etwas zur Sprache so sagen will, daß andere davon etwas haben bzw. bestimmte Praxisprobleme gelöst werden können, dann müßte er in einer umfassenderen (und auch: anderen?) Weise über seinen Wissenschaftsgegenstand Bescheid wissen als es im
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Zuge der Konsolidierung zur eigenen Disziplin üblich oder auch zeitgemäß war und späterhin noch weiter entwickelt wurde. Um jedoch die sich damit stellende Aufgabe - die Einbeziehung anderer (reeller) Dimensionen zwecks umfassenderer, lebensnäherer Erklärungsmöglichkeiten- wirklich erfüllen zu können, reicht das, was aus den geschilderten Charakteristika (der wissenschaftsimmanenten Horizonterweiterung) heutiger Sprachwissenschaft an Motivation zu veränderter Arbeitsweise abgeleitet werden kann und zum Teil auch schon abgeleitet wurde, allein noch nicht aus. Es fehlt noch, um die für diese Aufgabe heute nötige Wissenschaftshaltung herbeizuführen, die Einbeziehung von heute verfügbarem zeitgenössischem - außerhalb der Sprachwissenschaft gewonnenem - Wissen. Das aber bedeutet, daß abgesehen von einer Ausdehnung des Erkenntnisinteresses auf erklärung-gebende Bedingungen (Transzendentalien), auch noch der Wandel und Zuwachs an Hintergrundwissenin welcher Funktion wir die Ergebnisse anderer Wissenschaften hier einmal sehen wollen- zu berücksichtigen ist, der sich in der Zeit bis heute vollzogen hat und der - als "Ansatz" - eine neue Einstellung rechtfertigt bzw. erzwingt. Wobei allerdings sogleich zu bemerken ist, daß die damit angesprochene und bewußt berücksichtigte Korrelation von Wissenschaft und Zeitgeist als Grundtatsache der Wissenschaftsentwicklung weder neu noch ungewöhnlich ist: Die Sprachwissenschaft hat, wie wohl jede Wissenschaft, in ihren verschiedenen Phasen stets Reflexe aus dem sie umgebenden Zeitgeist-Wissen gezeigt und ausgenutzt, und auch in der Anfangsphase des frühen 19. Jahrhunderts war es ein solcher Hintergrund aus damals maßgeblichen Philosophemen z. B. über Mensch, Geist, Sprache, Kultur usw., vor dem sich die frühe Sprachforschung zunächst artikulierte und in ihrem spezifischen Zu• schnitt ausrichtete (wobei man nach genauerem Hinsehen nicht sagen kann, daß damals "pragmatische", das Individuum überschreitende Gesichtspunkte gefehlt hätten). Was aufgrund der heutigen Wissensgesamtlage - zu der unter anderem die Soziologie erhebliche Anteile beigesteuert hat - in der Sprachwissenschaft, soweit sie material-transzendierend zu arbeiten gedenkt, mitzuberücksichtigen ist, sind die Erkenntnisse bezüglich der dialektisch aufzufassenden Korrelation zwischen Individuum und Gesellschaft: die Gesellschaft als die individuelle Existenz ermöglichend, das Individuum als die gesellschaftliche Entwicklung ermöglichend, um es für jetzt bei einer solchen Kurzformel zu belassen. Sind hierbei einerseits alle realen und objektiven Strukturen, die innerhalb einer Gesellschaft bestehen und in deren Rahmen die diese Gesellschaft bildenden Individuen existieren, eingeschlossen, so sind andererseits zwecks gleichgewichtiger und realitätsgerechter Sicht die dem Indivi-
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duum innewohnenden Strukturen einzubeziehen und in ihrer Aktion und Reaktion steuernden Organisation zu verfolgen. Bezieht man, was ebenfalls nötig ist, noch die Gesichtspunkte der gesellschaftlichen und der individuellen Historizität, also den Wandel in Abhängigkeit und Relativität mit ein, so kommt man zu einem ganzen Netz von Gesichtspunkten und Kriterien, die den mit gesellschaftlichen Lebensfakten (historischen Prozessen) in Korrelation stehenden sprachlichen Vorkommensfakten (sprachlichen Prozessen) zugeordnet werden können und müssen. Für den Sprachwissenschaftler ist diese Individuum-GesellschaftKorrelation deshalb wichtig, weil sich die von ihm aufzusuchenden Bedingungen für die Sprache ebenfalls in diesem Bereich manifestieren: einmal als solche, die im Verhältnis Individuum- Sprache(- Gesellschaft) zu suchen sind, zum anderen diejenigen, die im Verhältnis Gesellschaft- Sprache(- Individuum) begründet sind. Für den Sprachwissenschaftler, der Erklärungen unter Einschluß der Bedingungen sucht, steht damit fest, daß es im Sinne eines reicheren und realitätsnäheren Sprachbegriffs nicht mit einem Übergang von der "bloßen" Sprache zum Verhältnis "Das Individuum und seine Sprache" getan ist, sondern daß es in der jeweiligen Sprache, soweit diese von gesellschaftlichen Verhältnissen her Form und Funktion erhält, auch Reflex und Auswirkung gesellschaftlicher ("objektiver") Verhältnisse zu erkennen gilt. Mit dieser Feststellung sind sowohl Hintergrund als auch Motive für die hier eingenommene Ausgangsposition, also deren Bedingungen, dargelegt und es kann nunmehr eine zusammenfassende Formulierung erfolgen. 1.3 Ausgangsposition
Der Sprachwissenschaftler, der seine Wissenschaft möglichst allseitigbewußt ausüben oder wenigstens einschätzen will, steht angesichts der sich aufdrängenden Notwendigkeit, den Horizont und den Gegenstandsbereich, die Methodenkomplexität und die Anwendbarkeit und als Grundlage all dessen den Sprachbegriff zu erweitern, vor der Frage: wie er es mit der Umorientierung seines Denkens in bezug auf die Sprache halten soll, anders gesagt, wo er mit der Neudimensionierung seines Sprachbegriffs - das ist zunächst seines voranalytischen Wissens über die Sprache- beginnen soll. Angesichts der Ungewißheit, ob sich eventuelle Erweiterungen des Blickfeldes überhaupt in die bislang gehandhabten Methodenformen so werden übertragen lassen, daß diese weiter und zum Nutzen einer Anwendung handhabbar bleiben, empfiehlt sich als Arbeitsmaxime, zu-
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nächst heuristisch in dem Sinne vorzugehen, daß er Erfahrung sucht und sein Blickfeld erweitert in die Richtung, aus der ihm die Notwendigkeit einer Berü-cksichtigung von materialtranszendenten Gegebenheiten ("Bedingungen") bemerkbar oder aufgezwungen wurde. Das bedeutet, die N eudimensionierung von da aus anzugehen, von wo aus eine Notwendigkeit hierzu bewußt geworden ist- an solchen Stellen also, wo ihm Bedingungen für das Vorkommen und Funktionieren der Sprache sichtbar werden. Die damit empfahlende Maxime ist relativ einfach und klingt für manchen vermutlich geradezu trivial: Der Sprachwissenschaftler, der merkt, daß er zur adäquaten, realistischen und in die Praxis umsetzbaren Sprachbearbeitung einen materialtranszendenten Sprachbegriff braucht, beginnt hierzu am besten damit, daß er die Gegebenheiten, die für ihn gegenüber der wie immer zum Objekt gemachten Sprache (noch) TranszendentaUen sind, in seinen Erfahrungsraum einbezieht und fortan in seinem Wissenschaftlichen Weltbild (Bild von der Sprachwelt) berücksichtigt. Es mag sein, daß ein solches Vorgehen- verglichen mit der anderswo in der Sprachwissenschaft geübten formal-technischen Methodik - geradezu wie eine Null-Form von wissenschaftlicher Methode überhaupt anmutet. Man sollte aber nicht übersehen, daß dafür dieses Vorgehen durchgehend zweigleisig (mehrdimensional) ist bzw. erfolgen muß: der Material-, Objekt-, Phänomenseite wird stets (mindestens) eine Begründungs-, Bedingungs-, Verstehensseite zugeordnet, einem bestimmten Sprachfaktum also stets seine Voraussetzung(en). Das hat für den so arbeitenden (Sprach-)Wissenschaftler zur Folge, daß er keineswegs mehr eindimensional, d. h. innerhalb des von ihm bzw. seiner Disziplin zum behandelbaren Objekt konstituierten Sach(oder Fach-)bereichs verbleiben kann, sondern sich in der jeweils maßgeblichen, auch der realen Bedingungswelt auskennen bzw. orientieren muß. Ein Ausdruck wie ,Realistische Sprachwissenschaft' bedeutet also eine auf die Realität, so wie diese sich faktisch (z. B. gesellschaftlich) zeigt, bezogene und beziehbare Sprachwissenschaft. Im jetzigen Beispielsfall, wo es um die Einbeziehung sowohl der individuell-operationalen als auch der gesellschaftlich-bewirkten TranszendentaUen gehen soll, ergibt sich aus dem Gesagten eine ziemlich anspruchsvolle Forderung. Es gilt nämlich einerseits, den Tatsachen der Bildung und Ausübung von Bewußtsein (Seite des Individuums) gerecht zu werden, andererseits den Tatsachen der Existenz und Wirkungsweise von Sozialstrukturen (Seite der Gesellschaft), und hier ist ohne eine gründliche und zur Erkenntnis realer Bedingungen fähige Orientierung nicht allzuviel zu machen. Was die zur Beurteilung von Bedingung und Effekt notwendige kritische Komponente im vorgeschlagenen Vorgehen betrüft, so kommt diese dadurch zustande, daß der (Sprach-)Wissenschaftler mit den sein Objekt, die Sprache, bedingenden realen Sachlagen - auf Individuen- und auf der Gesellschaftsseite - soweit erfahrend (existentiell) vertraut wird, daß er zu Urteilen und Einschätzungen fähig wird. Gerade die kritische Komponente in seinem Tun kommt also durch ein Hinausgehen aus seinem spezifischen Wissenschaftsobjekt-Bereich zustande: durch ein Hinausgehen, wenn man so will, in die ihn umgebende außerdisziplinäre Realität bzw. Praxis: ,,Wie
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kommt es, daß eine bestimmte Spracherscheinung so und nicht anders vorkommt/funktioniert/wirkt?" und "Was bringt ein Wissenschaftsergebnis bei dieser oder jener Sachlage?" sind die beiden Hauptfragen. Hinsichtlich einer interdisziplinären Zusammenarbeit würde das Gesagte bedeuten, daß es die Verbindung mit der Soziologie wäre, die dem Sprachwissenschaftler zu realitätskritischem Verhalten in bezugauf die gesellschaftlichen Bedingungen seines Objekts, der Sprache, verhilft. Das Entstehen einer kritischen Komponente durch Berührung mit der Erfahrung der Partnerseite wäre hiernach also als ein wichtiger Effekt interdisziplinärer Zusammenarbeit anzusehen. Welche allgemeine Erklärungsgrundlage (Theorie, Ideologie) sodann schließlich zur abrundenden Systematisierung verwendet wird, dürfte sich danach richten, wieviele der aufgefundenen Bedingungs- und Auswirkungsverhältnisse sie zu verstehen bzw. auch zu ändern erlaubt. Für beide hier interessierenden Seiten stehen da jeweils mehrere Generalansätze zur Verfügung. Sie reichen von idealistischen, über technokratische bis zu materialistischen Zugangsweisen. In den beiden folgenden Abschnitten wird versucht, den empfohlenen Weg zu gehen und vorzuführen. Dargestellt wird zunächst (im 2. Abschnitt) die Potenz des - d. i. jedes gesunden - Individuums, Sprache zu verwenden und sich ihr gegenüber zu distanzieren, als die erste der zu berücksichtigenden, die Sprache - im Sinne des üblichen Sprachwissenschaftsobjekts verstanden - transzendierenden Bedingungen; sodann (im 3. Abschnitt) die Gesellschaft, deren Lebensformen und Strukturen in der Sprache ihren Niederschlag finden, als eine zweite, ebenfalls die Sprache selbst überschreitende Bedingung. Beide Aspekte betreffen je ein wichtiges Bedingungs- und Beziehungsverhältnis, in dem die (jede) Sprache steht; zusammen sollen sie exemplarisch zeigen, wie sich im Sinne eines Sprachwissenschaftler-Weltbildes das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft darstellen könnte. Zur Frage eines solchen, von Wissenschaft zu Wissenschaft variierenden Weltbildes sind hier nur wenig Worte nötig. Gemeint ist damit, daß je nach dem zum Gegenstand gemachten Wirklichkeitsbereich die übrige Welt der außerwissenschaftlichen Realitäten gesehen wird im Hinblick und mit Bezug auf den dominanten Wissenschaftsgegenstand, auf diesen hinorientiert wird. Im Fall des Sprachwissenschaftlers bedeutet das, daß er die Welt sprachorientiert sieht, sich ein sprachorientiertes Bild der Welt machen wird: was nicht zuletzt den Effekt hat, daß ihm seine fachwissenschaftliehen Erfahrungen und Erkenntnisse auch bei der verstehenden Erschließung mancher anderen Begebenheiten dienlich sein können. Die folgenden Abschnitte beruhen auf einem sprachorientierten Weltmodell, in dem zwei Verhältnisse eine wichtige Rolle spielen: 1. Das Individuum in seinem Verhältnis zur Sprache 2. Die Sprache in ihrem Verhältnis zur Gesellschaft. Dabei werden die beiden die Sprache jeweils transzendierenden "Einheiten" oder Bereiche, Individuum bzw. Gesellschaft, als Erfah:...
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rungs- und Erkenntnisbereiche für sprachrelevante Bedingungen betrachtet, in die sprachwissenschaftlich auszugreifen im Sinne eines realistischen Sprachbegriffs notwendig ist. Damit wird das hier thematische objektive (nicht nur symbolische) Verhältnisse von Individuum und Gesellschaft vermittels einer sprachwissenschaftlichen Bedingungsanalyse zerlegt in zwei Bedingungsverhältnisse, von denen jedes eine eigene Untersuchung erfordert, da die zugrunde liegenden Bedingungen je objektiv verschieden sind. Die beiden im folgenden zu besprechenden Bedingungsverhältnisse können so schematisiert werden: Individuum
Bedingungsverhältnis
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Bezugnahme (s. 2. Abschnitt)
Bedingungsverhältnis
Sprache
+--
Einwirkung (s. 3. Abschnitt)
Gesellschaft
Im Rahmen einer Soziologie-Festschrift muß allerdings um Nachsicht dafür gebeten werden, wenn manche der vorgebrachten überlegungen für Soziologen ein Eulen-nach-Athen-bzw.-nach-Münster-Tragen ist; ebenso auch, wenn in diesem Beitrag, der zunächst eine Denkrichtung signalisieren soll, sogenannte einschlägige Zitate und Verweise fehlen. Es kommt eigentlich darauf an, eine eventuelle künftige Interessengemeinschaft interdisziplinär vorzubereiten, nicht aber darauf, eine sich vielleicht zunächst nur verbal anbietende Interdisziplinarität noch vor Klarstellung der nötigen Zugangsweise und vielleicht fälschlicherweise herauszustellen. Außerdem würde sich im jetzigen beschränkten Rahmen ohnehin kein vollständiges Bild der entsprechenden Arbeitslage bei Wege mit zeichnen lassen. Grob gesprochen kann man aber sagen, daß der Bereich, in dem die hier anliegenden Gesichtspunkte heute am konkretesten bemerkt und angegangen werden, die auf Sprache achtende Unterrichtsforschung ist, also ein Bereich, in dem ebenfalls zwei Disziplinen zusammenarbeiten: Pädagogik im weitesten Sinn und Sprachwissenschaft. Einen instruktiven Einblick in den heutigen Stand und die Literatur vermittelt die Zeitschrift Unterrichtswissenschaft 5 (1977) Heft 3, 193- 277.
2. Zum Verhältnis zwischen Individuum und Sprache: Sprache erfahren als Verfremdungszwang Da es sich beim vorliegenden Beitrag darum handelt, eine Anregu_ng für eine ergiebig erscheinende Vorgehensweise zu geben, wurde bisher schon und wird auch weiterhin von dem Individuum in Form eines dafür zureichenden Allgemeinbegriffs (nach Art eines ungegliederten Konstrukts) gesprochen. Auf die für andere Blickrichtungen wichtigen, fast eine eigene Bibliothek ausmachenden Grund- und Spezialfragen zur Individualität, ihrem Zustandekommen und Bestehenbleiben usw. braucht für die jetzige Zielsetzung nicht eingegangen zu werden. Analoges gilt für den unanalysiert verwendeten Begriff der Gesellschaft.
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Die für diesen Abschnitt maßgebenden Thesen sind im 4. Abschnitt unter Nr. (5) und (6) zusammengestellt. 2.1 Das Individuum als Erlebniszentrum
Von der Erarbeitung eines differenzierteren, die Bedingungen miterfassenden und dadurch materialtranszendenten Sprachbegriffs war gesagt worden, daß die für Sprachvorkommen bestehenden beiden Bedingungsseiten, das Individuum und die Gesellschaft, in gleichgewichtiger, gleichwertiger Weise einzubeziehen seien. Es gilt also, das Individuum als einerseits von der Gesellschaft hervorgebracht und durch sie existenzfähig gemacht, aber andererseits auch als eben diese seine Gesellschaft mit-bildend und mit-gestaltend zu berücksichtigen. Hierzu ist davon auszugehen - was sich auch von der Lebenspraxis her bestätigt - daß ein (jedes "gesunde") Individuum aufgrund seiner Bewußtseinsfähigkeit und Eigenständigkeit sich als eine Einheit (Identität, "Größe") zu erfahren und damit sich selbst gegenüber Anderes, es selbst Transzendierendes zu bemerken in der Lage ist. Damit wird das erste der hier zu verfolgenden Bedingungsverhältnisse, das zwischen Individuum und Sprache, sozusagen auf seine Realform gebracht, in seiner faktischen, für Menschen charakteristischen (intellektuellen) Form angesprochen: als Bezugnahme des Individuums auf die ("seine") Sprache. Als "Gegenüber" konstituieren sich nämlich nicht nur "die Anderen", also global gesagt die umgebende Gesellschaft und alles, was zu ihrem Bereich gehört (Partner, Institutionen); als dem Individuum gegenüber stehender Bestand erscheint auch die Sprache -ihrerseits als ein unerläßlicher Faktor bei der Konstituierung der individuellen Erfahrung und Intellektualität wirksam - sobald sie in vergegenständlichender Distanz zum Bezugsgegenstand gemacht wird. Hieraus folgt dann z. B. auch die Fähigkeit zum Vergleich von Aussage und Effekt, zu metakommunikativem Handeln, zu metasprachlichen Aussagen. Es versteht sich, daß in diesem Punkt die Unterschiede von Fall zu Fall, von Individuum zu Individuum erheblich sind, da Erfahrung, Interesse und Bewußtwerdung eng zusammengehen und z. B. auch das Interesse geschult also gelernt - werden kann. Der Sprachwissenschaftler wird sich also hüten, so etwas wie Sprachbewußtheit ohne weiteres und indifferenziert vorauszusetzen. Im jetzigen Zusammenhang geht es jedoch nur um die Feststellung, daß für jeden Sprachbenutzer auch die (seine oder fremde) Sprache zum Erfahrungsgegenstand werden kann und daß er sich gegenüber der Sprache Urteile bilden kann.
Es geht hierbei jetzt nicht darum, diese in Philosophie und Praxis längst als intellektualitätsbedingt gegeben anerkannte Tatsache als gewichtigen Markstein einer Erkenntnis auszugeben. Sie ist für alle, die
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in sprachorientierten Berufen tätig sind (Lehrer, Publizisten, Politiker, Juristen, Geistliche, Wissenschaftler usw.), etwas so Selbstverständliches, daß es schon fast banal wirkt, eigens auf sie hinzuweisen. Denn mehr oder minder leben alle derartigen Berufe davon, Sprache und Sachverhalte miteinander in Beziehung zu setzen und dies so, daß dabei noch Grade der Stimmigkeit unterschieden und korrigiert werden können. Worauf es hier vielmehr ankommt, ist gerade, es nicht bei einem Rekurrieren auf das Selbstverständliche und für den Intellekt Konstitutive bewenden zu lassen. Zwecks Einbeziehung der individuellen Seite in einen transzendentalen Sprachbegriff derart, daß dabei die wirklichen Potenzen des Individuums gewahrt bleiben, genügt es nicht, das Faktum der natürlich längst bekannten vergegenständlichenden Bezugnahme auf die Sprache zu betonen: in all solchen Fällen bleibt es nämlich bei einem von Zwecken bestimmten, instrumentellen Wirtschaften mit der Sprache, die dabei selbst in ihrer Funktion (eben als Bedingung) nicht durchschaut zu werden braucht. 2.2 Sprache als Erlebensbegrenzung .
Es ist also noch ein weiterer, und zwar anderer Schritt zu gehen, der Antwort gibt auf die Frage, was denn ein Individuum, das sich die Sprache in funktionsanalytischer bzw. kritischer Hinsicht vor Augen stellt, als deren Effekt bemerkt, anders ausgedrückt, wofür ihm die Sprache als bedingende Ursache erscheint. Um hierauf eine Antwort zu bekommen, muß man sich nicht um Informationen aus einer bestimmten, auf Expertentätigkeit festgelegten Praxis-Ebene kümmern, sondern einen Bereich aussuchen, in dem zu dieser Frage überhaupt Erfahrungen gemacht werden können, und das wird nicht unbedingt ein Bereich aktiver- Sprache nur instrumentell ("praktisch") verwendender - Expertenpraxis sein. In der Tat werden die hier gemeinten Erfahrungen denn auch, jedenfalls in ihrer wohl deutlichsten Form, anderswo gemacht: im Bereich der bewußten Ausübung künstlerischer Arbeit, bei der Suche nach anders-als-üblichen Wirklichkeitsformen, lebensadäquaten Äußerungsweisen usw. Kurz, es ist der Bereich, wenn man so will, extremster Individualität, in dem, wie sich immer wieder herausstellt, die Sprache nicht nur als ausnutzbares Gedanken- und Informationsvehikel erfahren wird, sondern gerade in dieser· Funktion ebenso als mehr oder minder massive Gegenposition gemessen an der individuellen persönlichen Erlebnisvielfalt. Natürlich ist auch dies keine neue Weisheit, sondern als Erfahrungsart wohl ebenso alt wie die bewußte Beschäftigung mit der Sprache. Aber es ist als ein wichtiges Indiz anzusehen, daß es seit einiger Zeit sozusagen keine Kunstrichtung gibt, die nicht in wie immer theorie-
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orientierten Aussagen Stellung nähme zur Sprache, ihrer besonderen Zeichenart, Wirkungsweise usw. Dieser Erfahrungsbereich darf daher als derjenige Sektor gelten, aus dem derzeit für Gesichtspunkte der Einschätzung von Rolle und Effekt der Sprache mit am meisten zu holen ist. Die in unserem Sinn interessantesten (weil "radikalsten") Positioner~ im sprachkritischen Sektor sind dabei solche, die dem Individuum in seiner distanzierungsfähigen Eigenständigkeit am stärksten sein Recht geben, es (bzw. sich) also tatsächlich der Sprache gegenüber autonom setzen, und folglich in der durch gesellschaftlichen Usus (Konventionen, Normen usw.) weitgehend festgelegten Sprache eine durchaus unangemessene, weil den eigenen Bewußtseinsinhalten nicht entsprechende Festlegung und Festschreibung von Ausdrucks- und Erfahrungsgrenzen erkennen. Diese Positionen führen, ebenfalls folgerichtig, zu einer prinzipiell sprach-skeptischen, ja sprachfeindlichen Haltung. Es mag überraschen, wenn ausgerechnet ein sprachwissenschaftlich orientier ter Beitrag auf Gewährsleute so andersartiger Couleur hinweist und deren Aussagen sogar noch zur Basis zu machen empfiehlt. Es geht aber, wie schon bemerkt, um die Lösung einer echten Aufgabe: zu einem Sprachbegriff zu kommen, der nicht nur wieder alte Einseitigkeiten zuläßt, erzeugt oder rechtfertigt, sondern der dazu veranlaßt, diese zu erkennen und zu vermeiden. Und hierzu ist das Einbeziehen echt kontrastiver alternativer Positionen nötig. 2.3 Beispiele
Es könnten viele Beispiele gegeben werden für die Art und Weise, wie die angesprochenen Positionen sich über die Sprache äußern einerseits also, wie das Individuum über die von ihm auf Distanz gesetzte Sprache als Fremdkörper oder Störfaktor denkt, was sich ihm in der Sprache präsentiert; andererseits, wie es mit der Seite der individuellen Bedingungen für Sprache tatsächlich steht, wie unfest, variabel und frei dieses Bedingungsverhältnis sein kann. In unserem Zusammenhang genügt es, wenn exemplarisch auf zwei neuere Autoren hingewiesen wird. Vergegenwärtigt man sich die zitierten Passagen in Form einer Generalaussage, so resultiert, daß die insgesamt normhaltige Sprache eine - für die Autoren die primäre - Ebene ist, auf der dem Individuum die Gesellschaft - für die Autoren als Fremdes ......, entgegentritt, und zwar immer, genauer gerade auch dann, wenn es sich "nur" um die übliche ("normale") Sprache handelt. Die Beispielzitate stammen aus (1) Oswald Wiener, Die Verbesserung von Mitteleuropa, Harnburg 1972 (rororo 1495); (2) Oswald Wiener, Subjekt, Semantik, Abbildungsbeziehungen, in: Text Bedeutung Ästhetik (Hrsg. S. J.
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Schmidt), München Bayerischer Schulbuchverlag 1970, S. 1 - 14; (3) Hartmut Geerken, Obduktionsprotokoll Lichtenberg, Weingärten 13, 1975. (1)
Wissenschaft und sprache: erkenntnis, was man eben so damit meint, wird nur in der umgangssprache beschafft: nun wird immer prächtiger der formalismus, wirtschaftlichstes modell der phantasie, die möglichkeit auf bahnen. der mathematische apparat, Ökonomie der wahrheitsfindung.... der neue formalismus eine neue alltagssprache ... Sprachschatz der kommenden meinungsbildung? die tatsächlich schäbige erkenntnis wird dann zum bekenntnis ... daß die formein passen, das überzeugt am meisten ... es kommt immer raus, was herauskommen soll (26). Schreibstil der Wissenschaft: diese knappe form, dieser logische aufbau, diese fülle von tatsachen, diese geschlossenheit ... beinah möchte man glauben, daß es wahr ist, dieses rotwelsch ist bestechend ... achte auf den stil des positivismus ... pathos der grundsätze. wissenschaft ist ein zug des spießertums (24). Dichtung und Wissenschaft: ohne korrekte grammatik unmöglich wissenschaft, kein syllogismus ohne prädikat . . . die nachfrage betreffs vorstelJungen ist ungeheuer: erst formulieren, dann formalisieren . . . der spießer steht zu seinem wort, er ist ein ehrenmann (20). Dichtung, grammatik: sich kaprizieren, ein bestimmter satz mit eben diesen warten entspräche also gerade dieser tatsache, gerade dieser nuance, gerade diese schaffst du mit deinem satz, und hinfort wirst du denken, gerade das hast du sagen wollen ... jedes gedieht hat amtscharakter (12). Erfahrung: ... du findest einen ausdruck und suchst dann eine anwendung . . . sätze sind grenzfälle des möglichen, das mögliche ein experiment der grammatik (19) . . . man zwingt die sprache aber sich selbst zwingt man, zwingt die meinung in die sprache, grammatik wahren (17).
In der sprache ist eine naturlehre enthalten, aus einem miesen gedanken . . . euch mit schlagwarten knüppeln, Sprachpolizei (11); der anschein von zwangsläufigkeit in jeder äußerung (12); aber der mensch verständigt sich nun einmal mit hilfe der sprache ... er muß mit warten reden, so wird gemeinschaft ... in der tat ... der staat ist verständlich. die sprache der gesellschaft ist die tat (27). Was ist denn Wirklichkeit? die abbildungder tatsachedurch den satz konstruiert ein bewußtsein ... schlechthin jeder satz ist eine definition ... autorität macht den stil bindend: spracheist die ges. gesch. weltanschauung ... die wirklichkeit ,implicite' mit der Wissenschaft definiert, d. h. in diesem falle also mit der semantik (35). Mathematik angewandt: da denkt sich dauernd in seiner freizeit ein stück mathematik zurecht, dann schafft sich die struktur anwendung, die methode kriegt ihr problem, die zuordnung ist nur eine frage der zeit (24). die wahrhE"it, sobald sie erkannt ist zwingt dazu, ihr gemäß zu handeln. und sie wollen mich noch immer unter die sätze locken (49). wahrheit ist die socialisierung der Wirklichkeit (52). das ist ja das einzig gefährliche an wahrheiten: es sind rechtstitel (53). regiere mit soziologie: mit Wissenschaften mit naturgesetzen die leute steuern! in europa wird die nächste revolution gegen
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die naturgesetze sein (37). der schluß der logik ist politisch, er macht dich argumente anerkennen, früh pringen sie's dir bei: das ist das mittel rler gesellschaft, so wird kongregation ... der kategorische imperativ ... eine proklamation für ganze mengen, ich aber bin der einzelne fall (25). Was man sagen kann - geht die meinung - das kann man auch klar sagen; ich meine aber, was man zu sagen anhebt ist auf die vorrätigen ausdrücke angewiesen: ein klarersatzläßt seineunzulänglichkeitvermuten (41). Die beschränkung durch die sprache ist eine jener unfreiheiten . . . man braucht die konstruktiven: sie schaffen stoff zum verheizen- auch ich bin schöpferisch: ich schöpfe verdacht (51). jeder ausdruck ein verdacht, jeden begriff greife an, zerstöre, er gehört zu dieser weit, jeden satz vernichte, er verbessert die foiter (21) einen ausdruck zurückweisen, nicht verbessern! (17) es geht nicht darum, ob mit etwas bestehendem etwas bestimmtes erreicht werden könne, es ist an dem, daß das bestehende stinkt (31). Obschon ich in der empfindung weit voran bin basteln die sätze ein zentrum (50). die äußerung ein anzeichen ... meine spuren sind es nur, aber ich bin anders . . . unmöglich zwei gedanken zu vergleichen (12); weg mit den symbolen! ... ist denn jede tatsache gleichnis einer anderen? •.. (27) Die sprache, die deinen verstand beengt, wird sich erst recht gegen deine sehnsucht stellen; ein neues ding ersinnen ... die alten relationen ersticken es ja doch (61), lassen den gegenstand in der grammatik erscheinen. sie bilden eine zerlegung des gegenstandes in seine beziehungen (91) die sprache selbst der plan der weit, verwechslung des gemeinten mit der empfindung . . . der dingbegriff ist eine kernverschmelzung von eigenschaftsbegriffen, das ding von der mischung der eigenschaften eine mutation - eine verbindung wie in der chemie. die logistik ist genau in dieser weltanschauung eine formalisierung . . . in der wissenschaft hat eine definition synthetischen charakter (41). Bedeutung: was bedeutet dieser satz ... nur ich verstehe ihn ... diese bedeutung kann nichts auf der welt ihm verleihen ... nur daß ich ihn so fein verstehe gibt ihm gerade diese etwa zwanzig bedeutungen; ich kann dir wirklich nicht sagen was er bedeutet, ich verstehe ihn ganz einfach (13) sollen wir einander verstehen? dies ist nicht erforderlich. im gegenteil. wechselseitiges verstehen macht unruhig, führt zur planung (99).
Die Organisation einer lage durch einen satz lassen wir für den moment gelten - die organisation der Wirklichkeit durch die sprache ist unerträglich. das religiöse konzept der dauerfestigt sich im staat: die sprache ist als institution der prototyp der kultur. wir wollen eine gelegenheitsgesellschaft machen . . . wir wollen das ganze anders machen (52) ich lasse mir den unerbittlichen zwang des logischen muß nicht gefallen ... ich nehme mir die freiheit: abzulehnen, dieablehnungallein ist unbeschränkt. laß dich leben, es geht ohne motiv (24). Die edle oberflächlichkeit beseitigt die glaubwürdigkeit, und mit dieser die bahn zum verständnis . . . [sie] nimmt nicht wahr, sie mißt nicht. sie ist selbstgefühl, nicht einsieht, sie tilgt die struktur ... sie vergißt. sie argumentiert nicht ... ist kein ziel (99 f.) es gibt auch die gemeine Oberflächlichkeit ... [sie] unterscheidet sich von der edlen durch ihre bestimmtheit, durch ihre rotznäsigkeit, durch ihre kohärenz und durch ihre abscheulichkeit. zur gemeinen Oberflächlichkeit zählen wir: die physik, die presse, die biologie, die gewalt, die meinung, die chemie, die ökonomie, das wesen, die mathematik, den 13 Festschrift für Helmut Schelsky
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glauben, die arbeit, das gespräch, die ehe, die kunst, den wahnsinn, das theaterund die häßlichkeit (100). Daß die demokratie den staat auf die sprache stellt, macht sie ja eben zum totalen, und in folge dessen zum totalitären staat. die ,informierte Gesellschaft' ist eben dadurch eine formierte gesellschaft. die nachriebt ist immer gelegenheit der obrigkeit, die information an sich schon instrument der bewahrung, ein steuerimpuls ... information als wirkungsweise der kräfte der ordnung (141). Was tun? die sprache wird gemeinhin als gesellschaftliches bewußtsein, ja als gedächtnis der menschheit bezeichnet. diesen kalauer einmal wörtlich genommen: ein aufstand gegen die sprache ist ein aufstand gegen die gesellschaft . . . bloß versuchen, breschen zu legen, damit man freier atmen kann, als betätigungen gegen eine prästabilierte zukunft. mit einer umwertung der werte, der begriffe ist es niemals getan, ganz abgesehen davon, daß eine solche ja schon wiederorganisationvoraussetzt (144). Ob aber ein schiaraffenland gestaltannehmen kann, wird auch davon abhängen, ob jene die geschichte der Wissenschaften und mithin die sture einheit unseres weltbildes garantierende ,wissenschaftliche methode' aufgelöst werden kann, oder ob sie unserem erleben und unserem leben ein ende bereiten soll. [Insofern] gehört die Vorherrschaft dieser denkmethode heute beseitigt (148) der heillose platonismus der problemlöser deckt uns mit weitformein ein und stillt unseren hunger nach erfahrung mit beweisen. die heuristischen züge der wissenschaftlichen methode, ihre erfolge dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie selber eine radikale ausweitung unserer aufnahmefähigkeit hintanhält (149) die einsieht, daß diese ,erweiterung unserer möglichkeiten' hauptsächlich durch reduktion der Wirklichkeit zustandekommt: statt einer vergrößerung der potenz also die verkleinerung des spielraums (151) freilich genügt jedes alphabet, eine unbeschränkte anzahl von worten zu bilden; es ist aber nicht ausgemacht, daß die weit mit worten gedeckt werden kann (152). (2)
Es ist der ... ,normale' sprachgebrauch, der mich zum mitglied der gesellschaft macht, nicht aber meine methode, meine Sinnlichkeit mit ihm in einklang zu bringen ... die sprache funktioniert in der kommunikation bloß als der geometrische ort einer ungezählten menge von denk-, empfindungsund wahrnehmungsgefügen, als projektleinwandfür unzählige weltarten und auffassungsstile, die ... durch die projektion aber kongruent werden, ,objektiviert'. die kommunikation beeinflußt das weitbild des einzelnen, weil sie ja ,nur' dessen struktur bereitstellt, in einer völlig unkontrollierbaren weise (10 f.).
Jeder versuch der formulierung ist ein abrücken von der direkten sinnlichen erfahrung . . . wenig glaubhaft ist es jedoch, daß die formulierung einer sinnlichenerfahrungderen struktur zu erfassen sich bemühe (11). Als ,normal' ... gilt, wer sich mit der kommunikation - seiner und jener seiner umgebung - identifiziert. so wie nämlich die formulierung ein abstand-nehmen von der erfahrung ist, so gibt es auch ein abrücken von der kommunikation, eine dissoziation zwischen bewußtsein und kommunikation ... ,Identifikation' in meinem sinn liegt vor, wenn eine formulierung (eine wahrnehmung) direkt mit dem corpus der das ,normale' Iebensgefühl ausmachenden bewußtseinsverhältnisse in beziehung gestellt wird. wenn also
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z. B. ein satz 1. unbedenklich verstanden und 2. direkt zu einer adjustierung des bewußtseins verwendet wird (12). sicherlich aber läßt sich die ,Identifikation' einschränken ... weg von der ,normal' funktionierenden kommunikation, [so daß] jene ,identifikation' auch durch rein intellektuelle Ieistungen schwächbar, vielleicht sogar abzuschaffen ist. (die) zeitgenössische Iiteratur ... schreiben [ist] heute ein versuch, die ,identifikation' abzuschaffen (12 f.). (3)
ein wort annehmen heißt noch nicht einen dialog führen ... ein wort akzeptieren heißt den teil eines monologs akzeptieren ein wort geben ist eine sprachliche geste ein wort akzeptieren heißt eine sprachliche geste akzeptieren das akzeptieren einer sprachlichen geste ist nicht möglich in der sprache selbst das akzeptieren einer sprachlichen geste ist eine sache der Sensibilität die gewißheit daß die sprachliche geste akzeptiert ist ist ebenfalls eine sache der sensibilität der sprachliche kontaktist also nur teilweise eine sache der sprache (59). die wortkette läuft hinein in das bild und saugt sich voll mit beschreibung (27) bloß keine beschreibung der töne (124). [sprache ist] buchhaltung, registratur (91; 111) das glück registrieren mathematik (111) ,glück' eine blöde vokabel (52) das glück hat grade also über töne auszudrücken (126) wie lernt man den sprachlichen ausdruck des entzückens (190). wörter sind chemische substanzen bringe zwei entsprechende wörter zusammen und es wird sich eine starke reaktion zeigen bringe entsprechende texte zusammen und du kannst neue weiten bauen (134). schöpfung des alphabets nach dem system des Schöpfers seine anwendung durch dritte personen das heißt anpassung an das system der schreibenden regelung der anwendung durch ortografie das heißt system und norm durchführung der regelung das heißt anpassung der schreibenden an das system (96).
wohin man schaut tritt sprache auf der stelle indem ich die sprache demokratisiere bringe ich sie in fluß ich schmeiße alles raus was überordnet und unterordnet somit hemmt [vgl. kann man eigentlich auch hemmungslos schreiben (187), hemmungslos eins der schönsten wörter die die deutsche sprache besitzt (182)] jedes wort wird mit dem andern gleichgeordnet kaum klammern kommen vor oder aufzählungen nach abcd undsoweiter auch keine abkürzungen undsoweiter wird ausgeschrieben auch zum beispiel sogenannte (37).
eine ziemlich rasche folge von wörtern von da hergeholt und von dort auseinandergesetzt und alles eliminiert was den fortgang stört kein punkt kein komma kein großer buchstabe und kein bindestrieb zitate nicht gekennzeichnet einfach fortfließen lassen ... ich bin gespannt ob man sich durch permanentes lesen in einen höhern bewußtseinszustand hinaufarbeiten kann permanentes lesen ohne unterbrechung durch absätze ... jeder schritt ist nach abgeschlossener bewegung erledigt das geht besonders gut wenn nirgends kommas lauern und punkte und Strichpunkte und bindestriebe und frageund ausrufezeichen und punkt punkt punkt ... das stört die schöpfung (39). wie schön wird die sprache wenn wir uns nicht an ihre regeln halten (158). 13•
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wörter mit bedeutungshöfen die einander überschneiden die Überschneidungen die ineinander übergehen übergänge flächen von wörtem mit verwaschenen rändern ... innen und außen überschneidend (75 f.). es wird sich darum handeln trojanische pferde ins Iager der sprechenden affen zu schmuggeln (55). die einfach so leben daß sie von den bürgerlichen nichts wissen wollen daß sie einfach überleben wollen wie ist egal das verstehen aber nur ganz wenige (25) ich versuche unwillkürlich zu leben (190) absichtslos entdecken (80) nichts entgegensetzen durchdringbar sein (96). anweisung an die völker der erde ihr müßt euch bewußt sein daß ihr das recht habt die schönheit zu lieben ihr müßt euch dazu vorbereiten das leben voll auszuleben natürlich braucht das einbildungskraft aber ihr braucht nicht ausgebildet zu sein um das zu haben ... ihr müßt hören lernen denn durch das hören könnt ihr lernen mit demaugedes geisteszusehen (174).
3. Zum Verhältnis zwischen Gesellschaft und Sprache: Sprachspezialisierung eingesetzt als Entfremdungsmittel Der vorangehende Abschnitt sollte zeigen, wie sich im Rahmen einer Differenzierung des Sprachbegriffs und auf der Grundlage eines sprachorientierten Weltbildes das Bedingungsverhältnis zwischen Individuum und Sprache darstellt, d. h. das Verhältnis zwischen dem Individuum, als der einen auf Sprache Bezug nehmenden Bedingungsseite für Sprache, und den faktisch-materiellen Sprachvorkommen. Es zeigte sich, daß dem dafür sensibilisierten Individuum in der Sprache die Gesellschaft, vermittelt durch gesellschaftsbedingte Festlegungen in der Sprache, entgegentritt, daß aber das Individuum diesem "Angebot" gegenüber distanzierungsfähig und so gesehen frei sein kann. Im Sinne eines gleichgewichtigen material-transzendierenden Sprachbegriffs ist nun noch die andere Bedingungsseite für die Sprache einzubeziehen, die Gesellschaft, die ihrerseits ebenfalls zur Sprache Bezug hat, also das Bedingungsverhältnis zwischen der Sprache und den sie beeinflussenden ("festlegenden") gesellschaftlichen Verhältnissen. Während aber unter ,Individuum' per definitionem Einzelwesen (ein bestimmtes oder alle) angesprochen werden, sich also im Prinzip jeder mit dem über Individuen Gesagten identifizieren, es bestätigen kann oder nicht, umfaßt ,Gesellschaft' eine Vielzahl von Faktoren, Prozessen, Einrichtungen usw., und man könnte mit einem Ausdruck wie "Die Gesellschaft als Bedingung für Sprache", so unspezifiziert belassen, sozusagen nichts aussagen. Aus diesem Grund muß für diesen Bedin gungsbereich der Sprache stets auf bestimmte Einzelheiten (Teilbe reiche) aus der Gesellschaft Bezug genommen werden - sofern auf irgendwelche Bezüge konkret eingegangen werden soll. Im folgenden ist dies die Erscheinung der Sonderfunktionen von Gruppen als Be4
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dingung (Ursache) für Sonderformen der Sprache, Expertengruppen und Expertensprache. -Für das Wort ,Gesellschaft' gilt durchgehend, was schon vom Wort ,Individuum' gesagt wurde: es wird als eine Art unanalysiertes Konstrukt verwendet, weil das für den jetzigen Zweck ausreicht, nämlich eine weitere Art von Bedingungen für die Sprache in den Blick zu rücken. Die Ausdifferenzierung dieser Bedingungen im einzelnen, also die Relationierung von Sprachvorkommen zu gesellschaftlichen Strukturen, Institutionen, Gruppen, Willensbildungen usw., ist eine eigene, aber andere Aufgabe. Die für diesen Abschnitt maßgebenden Thesen sind im 4. Abschnitt unter Nr. (7) bis (10) zusammengestellt. 3.1 Spezialsprachen und Expertenareale
Die Erscheinung von Sonderformen innerhalb einer umfassenderen Gesamtsprache wird hier deshalb zum exemplarischen Gegenstand gemacht, weil sich an ihr besonders gut die bedingende Rolle realer Sachverhalte veranschaulichen läßt, die im gesellschaftlichen Bereich bestehen und insofern die Existenz der Mitglieder dieser Gesellschaft objektiv mitbestimmen. Entsprechend der zuvor verfolgten Frage, als was sich die Sprache dem kritisch-analytischen Individuum präsentiert - die Antwort war: als symbolischer Träger gesellschaftlich-normierter Begrenzungen oder Zwänge - wird jetzt gefragt, was an sie bedingender gesellschaftlicher Realität hinter der Erscheinung von Spezialsprachen erkennbar ist. Man verbleibt damit weiter in dem vorerwähnten Sprachwelt-Modell, in dem die außersprachliche Welt in Form ihrer Reflexe in den sprachlichen Erscheinungen erscheint, wobei nun noch hinzuzufügen ist, daß es außersprachliche Welt-Erscheinungen gibt, die für die Sprach-Erscheinungen bedingenden Charakter haben. Die hinter den Tatsachen der Spezialsprachen stehenden in der Gesellschaft verankerten Bedingungen sollen deutlich werden. Es kommt dabei wieder nicht darauf an, bei der bloßen und allbekannten Tatsache der immer schon vorhandenen und heute besonders hochgradigen Partikularisierung innerhalb relativ homogener Gesamtsprachhereiche stehen zu bleiben, sondern sich deren Bedingungen kritisch zuzuwenden. So dauerhaft interessant die Feststellung und Verfolgung von jeweils relativer Beschränkung und Auswahl an Sprachmaterial bleibt, wie sie seitens der Sprachwissenschaft seit langem und heute intensiv vorgenommen wird, sie bildet dennoch nicht den Bezugspunkt unseres jetzigen Interesses. Die Feststellung, Aufnahme und Dokumentation von Spezial- bzw. Sonist im Rahmen der Sprachwissenschaft nicht neu: vgl. die Behandlung der Sprachvariation, die Dialektologie, Darstellungen der Stu-
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denten-, Soldaten-, Gauner-, Jäger-, Bauern- usw. -Sprachen. Sie bleibt auch heute nicht außerhalb sprachwissenschaftlicher Arbeitsaktivitäten, im Gegenteil: die Dokumentation von Spezialinventaren (Lexika, Grammatiken) ist, nicht zuletzt wegen der fortschreitenden Spezialisierung in Tätigkeitsbereichen und Wissenschaften, sozusagen eine Daueraufgabe geworden. Die Arbeit an Sondersprachformen hat während der letzten Jahre noch dadurch an Bedeutung gewonnen, daß sich einmal im Zuge der Bemühungen um automatische übersetzung das übersetzen von Fachtexten als eher möglich erwies als das übersetzen von freien (umgangssprachlichen) oder elaborierten (kunstwertigen, literarischen) Texten, zum anderen dadurch, daß sich im Zuge zunehmender maschineller Informationsverarbeitung - im MenschMaschine-Dialog - ein gewissermaßen sekundärer Bereich von künstlicher Sondersprache entwickelt hat, die formatierten Ein- und Ausgabe-Texte, sozusagen als maschinennähere Sonderformen von Sprache aus den verschiedensten Bereichen. Weiterhin werden allmählich auch Sprachgebrauchsspezialisierungen in bestimmten Mitteilungsformen (Briefe, Gebrauchstexte usw.) sowie verschiedene Mitteilungsformen in den Informationsmedien zum Gegenstand gemacht. Unser jetziges Interesse richtet sich im Sinne einer allgemeinerender Gesellschaft adäquateren, aber auch kritischen - Blickrichtung auf die Tatsache, daß jede Herausbildung und Benutzung einer Sondersprachform, also einer reglementierten bzw. gegenüber der Normalsprache zusätzlich normierten Sprachform, korreliert mit einer Sonderform an Haltung, Status, Zuständigkeit und Interesse innerhalb desjenigen Rahmens, den eine Gesamtgesellschaft dafür abgibt und bereitstellt. Kurz formuliert: Jeder Form spezialisierten Sprachgebrauchs korreliert eine Form spezialisierter Tätigkeit, jede Art von regulierter Sprache, zuweilen bekanntlich Sprachspiel genannt, reflektiert - als ihre Bedingung- eine bestimmte Lebensform, Handlungsweise usw. Diese wiederum läßt sich bei genauerem Zusehen mit einer bestimmten Anschauungsweise verbinden. Die Aufgabe eines Sprachwissenschaftlers, für den es im Sinne zuvor gemachter Bemerkungen lohnend erscheint, sich einer Differenzierung des Sprachbegriffs zuzuwenden und dabei dem Verhältnis der beobachtbaren Sprachvorkommen zu den sie ermöglichenden Bedingungen Rechnung zu tragen, stellt sich im vorliegenden Fall dann so, daß er den Tatsachen der Sondersprachformen mit Blick auf deren Sonderbedingungen für ebendiese Sprachformen näherzutreten hat. Er wird davon ausgehen- was für Soziologen längst zu den Trivialitäten gehört -daß ein Bestand wie die Gesellschaft bzw. die Tatsache, daß ein wie immer beschaffenes Sprach-Individuum nicht allein existiert sondern in Relationen der Abhängigkeit und Einwirkung zu anderen seiner Art steht - eine der zuvor so genannten sprachtranszendenten Bedingungen für das Verhalten der Sprachindividuen in Sprache und Leben überhaupt ist. Er steht damit in der Tradition auch jener Sprachwissenschaftler, die die Sprache als ein gesellschaftliches Phänomen aufge-
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faßt haben, als etwas, das vonseitender umgebenden Gesellschaft, die ja "älter" ist als jedes ihrer Mitglieder, sozusagen bereitgehalten, angeboten oder, je nachdem, auch aufgezwungen wird. Als eine andere, kaum weniger zentrale. Bedingung für individuelles Verhalten wurde bereits angesprochen: die Fähigkeit zur kognitiven Begegnung mit der Sprache bzw. Gesellschaft und die daraus resultierende Fähigkeit zur Selbststeuerung. Von beidem, dem aktional richtigen Verhalten unter anderen und dem aktional richtigen Kommunizieren mit anderen, läßt sich übrigens eventuell sagen, daß sie mittels Lernprozessen erworben (angeeignet, internalisiert) werden können und müssen, somit also beide nicht von allein gegeben (ererbt) sind. 3.2 Expertensprachen als Entfremdungszwinge
Natürlich wird es soziologisch gesehen wiederum als naiv und von den gesellschaftlichen Realitäten her als geradezu utopistisch erscheinen, wenn man - im Sinne eines kontrastiven Konstrukts - als eine Art von "Normal"- oder Basis-Zustand einmal eine Gesellschaft ansetzt, die zwar nach Interessenbereichen untergliederbar, jedoch nicht in strukturelle und sprachlich eingegrenzte Expertenareale zerteilt ist. Es ist aber klar, daß einer solchen kontrastiv-thetischen Ansetzung nicht mehr an Gehalt oder Wert zukommen kann als der eines- für manche sicherlich mythischen - Denkbildes im Sinne eines real-utopischen Kontrastmodells zur bestehenden Realität. Dennoch wird es als Vergleichsmaßstab benötigt, der Besonderheiten sichtbar macht, und daher hier einmal als Erkenntnismittel in Form einer Gegenhypothese angenommen. Dabei ist jedoch wiederum klar, daß nicht irgendeine verkappte Zielvorstellung im Hintergrund steht, nach der es gilt, möglichst eine diesem Denkbild entsprechende - gruppenfreie, expertenfreie, "entgrenzte" usw.- Gesellschaft unreflektiert anzustreben: was ja zugleich bedeuten würde, zahlreiche Entwicklungsräder der Geschichte zurückdrehen zu wollen. So etwas kann schon deshalb )tein hintergründiges Ziel sein, weil viele Entwicklungen der hier gemeinten Art im strikten Sinne objektiv-notwendig waren und weiter sein werden. Was jedoch, und nicht nur als Hintergrund, mittels des genannten Denkbildes verdeutlicht werden kann und soll, ist die Aufgabe, sich eventuell gewisser damit notwendig werdenden Korrektivmaßnahmen bewußt zu werden und für entsprechende Schritte Sorge zu tragen auch im eigenen Verhalten. Beobachtungen und Erfahrungen, wie sie jeder leicht machen kann, zeigen, daß sich im Bereich der Gesellschaft, je nach Berufs- oder Funktionsstruktur, zahlreiche Sondergruppen entwickelt haben, die wie man sagt, im Rahmen ihrer Funktionsausübung ihre eigene Sprache sprechen. Um dieser Sachlage gegenüber einen Beurteilungs- und
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Bewertungsmaßstab zu bekommen, sollte man - im Sinne eines Sprachwelt-Modells - als Gesichtspunkt die Verstehbarkeit innerhalb der Gesamtgesellschaft einnehmen. Dieser allgemeine Nenner der Verstehbarkeit in der Gesellschaft entspricht dem allgemeinen, auf Kommunikation beruhenden Gesamtgeschehen in der Gesellschaft. Er sollte - als kritisch-analytisches Instrument - angewandt werden, weil, in einer allgemeineren und sagen wir demokratie-theoretischen Sicht, möglichst viel von dem, was im Rahmen einer Gesellschaft geäußert wird, von möglichst vielen ihrer Mitglieder verstanden werden können sollte. Zu bemerken ist aber an dieser Stelle, daß eine Ziel- oder Idealvorstellung (Maxime) solcher Art zwar im Sinne einer sprachwissenschaftlichen Weltvorstellung plausibel, von ihr aus aber nicht unbedingt auch begründet oder begründbar zu sein braucht. Sie ist vielmehr die Konsequenz erst einer bestimmten Demokratie- oder Staatsvorstellung, kann also als subjektiv-persönlich angesehen oder abgetan werden - wie denn auch zahlreiche Gesellschaftsgebilde (Staaten) bestehen, in denen genau gegenteilige Ziele bzw. Maximen leitend sind und befolgt werden. Allerdings umfaßt der damit eingesetzte Begriff des Verstehens mehr als nur ein kognitives ("theoretisches", "logisches", "passives") Begreifen eines jeweils von anderer Seite Gemeinten oder Gewollten. Vielmehr ist etwas im jetzigen Sinne verstanden dann, - d. h. nur dann, erst dann - wenn es so begriffen werden konnte, daß es in eine jeweils zweckadäquate, spezielle eigene Lebensform (Praxis) umgesetzt werden kann. Um ein Beispiel zu geben: Ein sehr wichtiger Bereich, in dem eine solche Verstehensart, also ein so reicher Verstehensbegriff, unerläßlich ist, ist das Einbringen (Umsetzen) von Rechtsvorstellungen "im Leben des normalen Bürgers". Längst bekannt und mit vielfältigen Wegen versucht ist die analoge Aufgabe, religiöse Maximen "verständlich zu machen", d. h. so mitzuteilen (Predigt) oder einzuführen (Mission), daß sie in die entsprechenden, lokalen Gesellschafts- bzw. Handlungsformen übertragen (umgesetzt) werden können. Man sollte sich - auch dies natürlich eine nur subjektive Ansicht als Wissenschaftler hüten, sich bei Diskussion oder Bearbeitung intellektueller Leistungen immer nur auf das zu beschränken, was im Intellekt selbst stattfindet, also etwas überspitzt gesagt, bei der Behandlung der Logik in der Logik zu bleiben, bei der Behandlung von Rechtsfragen im Rechts,.system" zu bleiben usw., kurz gesagt: eindimensional zu verfahren. Stimmt man dem bei, so zeigt sich, daß es hier eigentlich um den Punkt geht, an dem Sprache (Information) und die sie transzendierende Handlung (Konsequenz) so aufeinander bezogen werden können, aber auch müssen, daß erst beide zusammen (Begreifen und Umsetzen) die Auswirkung bzw. den Erfolg einer Äußerung (Mitteilung, Aufforderung) ergeben. Das heißt, sie sollten an diesem Punkt, d. h. im Verstehensbegriff: als tätiges (objektivwerdendes) Verstehen, in der Theorie ebenso zusammengeführt werden Umsetzung als "problemlose" Konsequenz von Begreifen - wie sie es in der üblichen Lebenspraxis sind. Denn im "normalen" Leben, dort wo kein wis-
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senschaftlieber Systematisierungs- oder Problematisierungszwang (Theoriezwang) "dazwischenkommt", sind Anweisung und Folge, also Sender-Sprach"handlung" und Empfänger-Realhandlung in aller Regel problemlos aufeinander bezogen, d. h. konsequentiell verbunden: Wo entsprechendes intendiert ist und zutreffend (zureichend) ausgedrückt wird, führt Sprachverwendung auf der einen stets zu richtigen (gemeinten) Handlungen auf der anderen Seite. Nimmt man die Frage der gesamtgesellschaftlichen Verstehbarkeit ernst, kommt man kaum umhin einzugestehen, daß Sonder-, Fachund Expertensprachen (Jargons) aller Art zwar für den je eigenen Bereich effektive Formulierungs- und Verständigungsmittel sind, eine allgemeinere Verstehbarkeit dadurch aber gerade einschränken, unter Umständen Verstehbarkeitsgrenzen (Sprachbarrieren), die solche Verständigungshereiche zugleich ausgrenzen und absichern, erst schaffen usw. Auch dies ist natürlich keine neue Erkenntnis, sondern bezieht sich nur auf ein Faktum, das vermutlich so alt ist wie die sprechende Menschheit, wie jeder Blick schon auf frühe, alte oder exotische Zustände zeigt. Nur muß man dann eben auch sagen- was jeder Soziologe natürlich längst weiß - daß es immer und überall schon Teile von Gesellschaften (Gruppen) gegeben hat, die sich ihre Experten- oder Medizinmannrolle unter anderem auch sprachlich abzusichern trachteten: Eliten, Minderheiten, Berufsgruppen usw. Niemand wird hierbei eine Legitimität oder bestimmte Notwendigkeiten rundweg bestreiten, es gilt aber, die Tatsache, d. h. die gesellschaftliche Erscheinungsform und ihre Auswirkungen, als solche im Blick zu behalten, auch wenn es "nie anders" oder "immer schon so" war, solange es menschliche Gesellschaften gibt. Auch die so beliebten Hinweise von Verhaltensforschern auf "Parallelen" im Tierreich- die also als "Universalien" die ganze höhere Lebenswelt "bestimmen" sollen - ersparen nicht ein Zurkenntnisnehmen der menschlich-gesellschaftlichen Auswirkungen. Die Frage der Duldsamkeit oder gar Hochachtung solchen jargon-gestützten Gruppierungen (Ständen) gegenüber wird dann wichtig, wenn z. B. Bestimmungen oder Ziele, die von einer Expertengruppe geäußert (vorgeschrieben) wurden, - auch administrative Institutionen stellen Expertenstatus dar - eine allgemeinere Akzeptanz (Mitwirkung, Befolgung) voraussetzen oder erfordern. Man stößt hier sogar auf den Gesichtspunkt des Nutzens oder Schadens für die Gesellschaft, nämlich dann, wenn die Qualität oder Folge einer Mitarbeit (Ausführung) von dem Ausmaß abhängt, in dem etwas von Expertenseite Gewolltes im hier gemeinten Sinne verstanden wurde. Anders gesagt: es würde eine tatsächliche Schädigung der Gesellschaft bedeuten, wenn etwas von Expertenseite in einer Weise mitgeteilt (angeregt, angeordnet) wird, die ein unrichtiges Verstehen -Umsetzung in falsche Objektivität - zur Folge hat. Aus der Sicht der Sprachwissenschaft, die ihrem Weltbild - dem sprachorientierten Weltmodell - folgt, bedeutet die Tatsache exper-
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tenbedingter Sprech- und Sehweisen eine Parzellierung (partielle Inbesitznahme) der für die Gesamtgesellschaft wichtigen, weil in ihr und für sie bearbeiteten Welt in Form von Teil- bzw. Expertenwelten. Das kann nicht durch den Hinweis abgeschwächt werden, daß die die Expertenwelten ausmachenden Kategorien, Systeme, Theorien usw., in denen das eigentliche Wissen "liegt" (symbolisiert ist) ja "nur" einen spezifischen Zusatz (Überbau, neue Welten) über der nicht-systematisierten Normalwelt darstellen und diese somit für "die Anderen" ungestört verbleibt: denn aufgrund der mit der Inbesitznahme zusammengehenden Zunahme an Wissenskompetenz (Zuständigkeit) kommt es doch dazu, daß die expertenhaften Wissens- und Anschauungsformen mittels eben der Expertensprache der Gesellschaft als Rede der Wissenden präsentiert werden. Soziologischer Analyse und Einschätzung bleibt überlassen, festzustellen, wieso und mit welchem Recht es zur Absonderung und Sozialisation bestimmter Funktionsgruppen kommen muß, die hier allesamt unter ,Experten' zusammengefaßt wurden. Der Sprachwissenschaftler, der sich weiterhin auf die sprachliche Seite dieser Tatsache, also auf die durch Expertengruppierungen bedingten Sonderformen von Sprache beschränkt, wird zu analysieren versuchen, was dabei eigentlich geschieht, wie es gemacht und was damit bewirkt wird, etwa wenn zwar legitimerweise jargongestützt theoretisiert und systematisiert (z. B. Wissenschaft betrieben) wird, dann aber unreflektiert oder absichtlich auch in (zu) anderen Gesellschaftsbereichen in analoger Manier gesprochen wird. Fragen dieser Art sind vielleicht nicht ganz ohne Relevanz, wenn man sich vergegenwärtigt, wieviele Sorten von Experten unsere Gesellschaft schon entwickelt hat und wieviele sich laufend anband neuer Fragen - die zuweilen auch in ftie Behandlung von eigentlichen Lebensfragen hineinreichen noch etablieren werden. Dabei ist nochmals zu wiederholen, daß hier nicht die Arten expertenhafter Zugriffe (Behandlung) auf Sachlagen oder Probleme in Wissenschaft und Gesellschaft von vomherein oder als solche "in Frage gestellt" werden: das würde einen eigenen, z. B. erkenntnistheoretisch interessanten Gegenstand ergeben. Im Moment geht es lediglich um die Frage, ab wann und unter welchen Umständen ein sprachlich expertenhaftes Gebaren unnötig, unangemessen oder ablehnenswert wird. Man kann dann auf einen Gesichtspunkt wie Pseudoinformation, Informationsverhinderung, Verschleierung, Manipulation usw. ausgehen und von daher auf bestimmte Korrekturen bei gesellschaftlich wichtigen oder folgenreichen Aktivitäten drängen. Hierzu ist, vor allem seitens gesellschaftskritischer Soziologen, vieles schon bemerkt, analysiert und kritisiert worden. Für die Sprachwissenschaft stellt sich, im Sinne eines die Sprachphänomene transzendierenden Sprachbegriffs, die Sachlage so dar: Der gesellschaftliche, "objektiv" (sachlich und sozial) begründbare Expertenstatus ist die Bedingung für Expertensprache (Fachsprache, J ar-
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gons); die gesellschaftliche Rolle und Funktion der Experten, die in der außersprachlichen Realität verankert sind, sind der faktische (objektive) Ausgangspunkt für Expertentätigkeit(en), deren gesellschaftliche Auswirkungen und damit zugleich Bedingung für die entsprechenden Expertenvorkommen. Da dieser Ausgangspunkt jedoch auf objektiven materiell-gesellschaftlichen, nicht sprachlichen, auf faktischen, nicht symbolischen - Gegebenheiten beruht, können bloße "Maßnahmen", also z. B. Sprach- oder Ausdruckskorrekturen, in der Gesellschaft materiell begründete Strukturprobleme nicht lösen. Aktivitäten, Haltung, Einstellung, Aktionsweise usw. anderer - z. B. von Experten- oder Statusgruppen - können davon ebenso wie von bloßen Sprach(wissenschaftler)überlegungen unberührt bleiben und müßten auf der ihre Existenz tragenden Ebene, also direkt-gesellschaftlich ("politisch") beeinflußt werden. Es ist denn auch nicht die Absicht des vorliegenden Beitrags, aus dem lediglich sprachwissenschaftlichen Blickwinkel heraus eine Art Aufforderung oder Rezept für ganze andere Teile der Welt (Gesellschaft) zu geben, sondern nur - aber deutlich - auf die sich zeigende Arbeits-, Wissens-, Gewaltund Zuständigkeitsteilung (Parzellierung) hinzuweisen. Man kann sogar sagen: Der Verzicht auf irgendwelche global-ausgreifende, in andere Bereiche hineinregierende Angebote oder gar Forderungen ist eine der - hoffentlich vielfachen - Auswirkungen des hier mehrfach betonten erscheinungstranszendenten Sprachbegriffs. Man kommt der Realität zwar näher, wenn man auch die Bedingungen der von der eigenen Wissenschaft zum Gegenstand gemachten Gegenstandsbereiche mit-erlaßt, man merkt auch, woran bestimmte Reflexe in den untersuchten Spracherscheinungen liegen; aber man ist sich auch dessen bewußt, daß die Bedingungen, sofern an ihnen etwas geschehen soll, auf der sie tragenden - gesellschaftlichen Ebene angegangen werden müssen. Es scheint, daß die Propagierung von übergreifend-globalen Angeboten oder Forderungen Kennzeichen und Folge ist von noch bestehender Enge (Beschränktheit) in Erfahrung, Zugangsweise, Theorie oder wissenschaftlichem Blick. 3.3 Belspiele
Es werden zwei Texte auszugsweise wiedergegeben. Der erste, Festvortrag eines Biologen, soll vor allem Duktus und Stil sichtbar machen, wie sie für derartige Äußerungen aus Expertensicht charakteristisch sind: wobei der Duktus (Vorkommen und Mischung der Motive: was angesprochen wird) die Haltung im Expertenstatus widerspiegelt, der Stil (Art der Formulierung: wie gesprochen wird) das Expertenwissen und den Grad des Entgegenkommens anderen gegenüber. Der zweite Auszug soll lediglich den hier angesprochenen Gegenstand von einem anderen Blickwinkel her beleuchten.
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Hans Mohr, Die grünen Revolutionen, Festvortrag gehalten vor der Rotary-Distriktsversammlung am 26. 6. 1976 in Freiburg im Breisgau (Privatdruck). "Im Jahre 1970 wurde der Friedensnobelpreis dem amerikanischen Agrarwissenschaftler und Pflanzenzüchter Borlaug verliehen. Unter den kompetenten Fachwissenschaftlern bezweifelte zwar niemand die außergewöhnlichen, ja genialen fachlichen Leistungen des Weizenzüchters Borlaug; von vielen Intellektuellen jedoch wurde der Zusammenhang zwischen Weizenzüchtung und Frieden, zwischen Ertragsphysiologie und Völkerverständigung weder anerkannt noch ästimiert ...
Die Green Revolution Technology - die Technik der Grünen Revolution geht im wesentlichen auf Borlaug zurück. Man versteht darunter die Züchtung von Kulturpflanzensorten- in erster Linie bei Weizen und Reis- die hohe Erträge bringen, falls man sie mit hohen Dosen an Düngemitteln und Wasser versorgt und mit Mitteln des chemischen Pflanzenschutzes gegen Pilze und Schadinsekten abschirmt. Die immense Leistungsfähigkeit dieser Sorten beruht auf ihrem spezifischen Erbgut, ihrem genetischen Potential. Das hohe Potential kann sich aber nur dann manifestieren, wenn Nährstoffe und Wasser optimal zur Verfügung stehen ... Borlaug hat von Anfang an warnend darauf hingewiesen, daß der Grünen Revolution Grenzen gesetzt sind und daß sie gegenüber Änderungen der Randbedingungen äußerst empfindlich ist ... In seinen Worten: "Das Schlüsselproblem ist das Populationswachstum. Die neuen Sorten geben der Menschheit zusätzliche zwanzig Jahre, in denen sie versuchen muß, mit dem Problem der 'Oberbevölkerung fertig zu werden" ... Bis 1995 müssen wir, wenn sich die Reproduktionsgewohnheiten in der 3. Welt nicht grundsätzlich ändern, mit 6 bis 7 Milliarden Menschen rechnen. Hinzu kommt, daß sich die Voraussetzungen, die Randbedingungen, für die Grüne Revolution in den letzten zwei Jahren entscheidend verschlechtert haben: die Energiekrise und das sogenannte Umweltbewußtsein haben die Sachlage grundlegend verändert ... Die hohen Erträge, von denen wir alle heute leben, sind nur möglich, weil wir große Mengen an Energie, zusätzlich zum Sonnenlicht, in dem Ertragsgut investieren. Im Zusammenhang mit der Grünen Revolution hat sich dieser Energieinput(-einsatz) gewaltig erhöht. Der Hauptteil der Energie wird verbraucht für die Herstellung der Düngemittel, für den Betrieb landwirtschaftlicher Maschinen und für die Aufbereitung und Verteilung von Wasser in Bewässerungsanlagen ... Die Energie, die wir im Ertragsgut investieren, ist fossile Energie: Erdgas, Erdöl, Kohle ... Man hat berechnet, daß für jede Nahrungsmittelkalorie, die wir hier in Deutschland vom Teller zu uns nehmen, 5 Kalorien fossiler Energie aufgewendet werden müssen . . . Zwischen 1940 und 1970 hat sich in den USA der durchschnittliche Flächenertrag beim Weizen etwa verdoppelt, die Verwendung an Nitratdünger ist im gleichen Zeitraum auf das zwanzigfache gestiegen. Diese intensive Düngung, eine unabdingbare Voraussetzung der Grünen Revolution, ist nicht aufrechtzuerhalten, wenn die Versorgung mit fossiler Energie versagt oder wenn die Preise dafür weiter erheblich steigen. Gelegentlich wird bei Umweltdebatten die Forderung erhoben, zum wie es heißt - organischen Landbau überzugehen und die Flächenerträge der Landwirtschaft allmählich wieder auf das Niveau der traditionellen Agrikultur abzusenken. Würde man einem solchen Vorschlag folgen, so
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würde über unzählige Menschen der Stab gebrochen, und zwar nicht nur über die Menschen der fernen 3. Welt ... Das energetische Schlaraffenland, in dem wir bis 1972 mit geradezu pathologischer Sorglosigkeit gelebt haben, wird es nie mehr geben, zumal dann, wenn wir unter dem Druck von "Bürgerinitiativen", denen ein ausgewogenes Urteil abgeht, darauf verzichten, wenigstens für eine Obergangszeit von 20 - 25 Jahren die fossilen Energieträger durch Atomenergie soweit wie möglich zu ersetzen. Langfristig freilich müssen wir auf eine Ökonomie umstellen, die im wesentlichen von Sonnenlicht getrieben wird. Diese Umstellung wird ungeheure intellektuelle und materielle Investitionen und viel Zeit erfordern ... Mit dem übergang zum Ackerbau war eine ungeheure Steigerung des Flächenertrags an Nahrung verbunden ... Es gab zum ersten Mal so etwas wie regionalen Frieden. Drei Konsequenzen waren unausweichlich: 1. Es kam zu einer starken Vermehrung der nunmehr seßhaften Bevölkerung. Die neolithische Bevölkerungsexplosion war ähnlich dramatisch wie die in unseren Tagen. Um 10 000 ·v. Chr., zu Beginn der neolithischen Revolution, zählte die Art Homo sapiens etwa 3 Millionen Exemplare. Um 3000 v. Chr., nach 7000 Jahren Ackerbau, überschritt die Kopfzahl der Menschen die Hundertmillionengrenze. 2. Es kam zu einer Steigerung der genetischen Variabilität innerhalb der menschlichen Populationen. Der nachlassende Selektionsdruck machte die Populationen bunter. Auch der Grübler, der Erfinder, der Architekt, der Künstler, der theoretische Denker konnten sich jetzt in der Population durchsetzen, nicht nur der erfolgreiche Jäger. Ein breites Begabungsspektrum tat sich auf; die Arbeitsteilung wurde üblich; es kam zur Gründung von Städten mit hoher Organisation und Infrastruktur ... Aber ... : 3. Es zeigten sich bald gravierende Regreßerscheinungen, es kam allenthalben zur Umweltkrise. Zu weitgehende Eingriffe in die natürlichen Ökosysteme, vor allem die Zerstörung der Wälder durch Axt, Feuer und Beweidung, führten zu Bodenerosion, zur Veränderung der Wasserführung und zu massiven Änderungen des Mikroklimas. Die Menschen versuchten durch geniale Erfindungen den Regreßerscheinungen zu begegnen, z. B. durch bewundernswerte Bewässerungssysteme, aber immer wieder terminierten Bevölkerungsexplosion und Umweltkrise die kurzen Blütezeiten der regionalen Hochkulturen ... Die Umweltkrise ist das Pendant jeder Kultur. Der bewußte, zielgerichtete Eingriff, die Störung, ja Vernichtung der natürlichen Ökosysteme ist ein Merkmal menschlicher Kultur. Die natürlichen Ökosysteme, damit meine ich die Naturverhältnisse, die sich ohne die bewußte Zwecktätigkeit des Menschen eingestellt haben, bringen keinen Ertrag, da sich zumindest mittelfristig Auf- und Abbau organischer Substanz die Waage halten. Um Ertragsgut zu erzielen, müssen die natürlichen Ökosysteme in anthropogene vom Menschen bestimmte - Ökosysteme umgewandelt werden. Dies ist die Essenz der Agrikultur ... Kultur ist stets auf anthropogene Ökosysteme gegründet, nicht auf die Natur ... Es kann sich deshalb beim Umweltschutz auch nicht darum handeln, die natürlichen Ökosysteme zu regenerieren; es geht vielmehr darum, die bewährten anthropogenen Ökosysteme ... mit den Anforderungen unserer Zeit in Einklang zu bringen ... Die Realisierung dieses Wunsches erfordert heutzutage nicht nur ein unerhörtes Maß an Disziplin und Verzichtbereitschaft, z. B. Investitionen ohne momentane Rendite, sondern vor allem Einsicht in die Dynamik und in die Gesetzmäßigkeit der kulturellen Evolution ...
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Durch den Obergang zum Ackerbau, durch die Schaffung von Agrikultur, durch die Gründung fester Siedlungen und Städte, wurde dieses Gleichgewicht [der Naturlandschaft des Waldes oder der Steppe] gestört. Mit jeder Ernte, beim Abtransport von Ertragsgut, werden dem Boden ständig Nährstoffe entzogen, von denen nur ein Teil. mit den Ernterückständen und mit den Exkrementen von Tier und Mensch auf den Acker zurückgelangt. Je urbaner sich eine Kultur gestaltet, um so höher wird der Anteil der Nährstoffe, der dem Ackerboden für immer verlorengeht. Die Nährstoffe werden in Abfallgruben und auf Friedhöfen konzentriert oder auf den verschiedensten Wegen als Salze dem Meer zugeleitet ... Die Nährstoffvorräte des Bodens ... müssen also zwangsläufig abnehmen; und die Erträge müssen früher oder später ebenso zwangsläufig abnehmen. Das Früher oder Später hängt von den Nährstoffreserven der unterschiedlich fruchtbaren Böden ab ... Vielleicht erwarten Sie noch eine Äußerung zu der Frage, wie es unter diesen Umständen mit uns Menschen eigentlich weitergehen soll. Ich werde diese Frage indessen nicht aufnehmen ... Die realen Sorgen werden exponentiell steigen. Die Schlaraffenlandideologie der späten 60er und ersten 70er Jahre, in die ich die überzogene Bildungseuphorie und die Thesen zum Thema "Jenseits der Leistungsgesellschaft" einbeziehe, wird uns in wenigen Jahren als makabrer Witz erscheinen. Ein Oberlebensmodell der menschlichen Species wird schwieriger von Jahr zu Jahr ... Zwar wäre es blanke Illusion, im Stil der Marxisten auf einen "neuen Menschen" zu hoffen. Wir wissen, daß jede künftige Ordnung mit dem alten Menschen rechnen muß, mit seinen Schwächen, mit seiner unwandelbaren, gefährlichen, brutalen Natur, deren genetische Grundlagen während der Eiszeiten entstanden sind. Das Oberlebensmodell kann jedoch auch mit den bewährten Fähigkeiten des Menschen rechnen, und die Fähigkeiten (die Vernunft, Leistung, Opfer und Verzicht einschließen) sind ungeheuer, sofern ein Ziel gesetzt ist, dessen Glanz die Fähigkeiten aktiviert. Unser Kardinalproblem ist die Krise der Sinngebung und Zielsetzung menschlicher Existenz in einer säkularisierten Welt. Die moderne Wissenschaft und die aus ihr entstandene Technologie sind potentiell eminent leistungsfähig ... falls man ihr nicht die Flügel stutzt und den Mut nimmt. Nostalgisch-vornehme Resignation und ideologisch-verkürzte Fehleinschätzungen der Realität wirken hier gleichermaßen hemmend. Wir müssen, wenn wir weiterleben wollen, die äußeren Regreßerscheinungen unserer Kultur durch wissenschaftlich-technischen Progreß und die inneren Regreßerscheinungen unserer Kultur durch Sinngebung, durch Leitbilder überkompensieren ... Der hier abgedruckte Festvortrag stellt keine wissenschaftliche Abhandlung dar. Es handelt sich vielmehr um die Analyse eines allgemeinen Problems aus der (möglicherweise subjektiven) Sicht eines Fachwissenschaftlers." In diesem Text erscheinen als charakteristisch: Für den Duktus: Der Fachvertreter, die Wissenschaft allein weiß wiTktich Bescheid; nach anderer Seite hin, gesellschaftsbezogen, erfolgen Seitenhiebe: gegen Intellektuelle, sogenanntes Umweltbewußtsein, "Bürgerinitiativen", Marxisten; dahinter steht: anderweitige, außerfachliche, politische Initiativen sind unangemessen, falsch.
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Für den Stil: Soweit Menschen oder ihr Verhalten erwähnt werden, erscheinen terminologisch nüchterne amtliche Ausdrücke: Exemplare, Kopfzahl, Populationswachstum, Reproduktionsgewohnheiten, Bevölkerungsexplosion, genetische Variabilität, Populationen, Eingriff, Abtransport von Ertragsgut. In den Termini oder vergleichbar sachkundigen Ausdrücken bildet sich
Strukturerkenntnis ab, in Gesamtklassifikationen die wissenschaftsgemäße Abstraktion; und wie unwiderlegbar wird alles, wenn erst noch mit konkreten Daten aufgewartet würde; Anlehnung an ähnlich abstrakte
Disziplinen, z. B. die Ökonomie (Investieren, Regreß, Progreß); das Menschliche wird betont (anthropogen, kulturell, Sinngebung), zugleich aber erfolgt übergang zu Allgemeinaussagen mit (Natur-?)Gesetzesanspruch (Der Mensch ist seit der Eiszeit unwandelbar, gefährlich, brutal). (2)
Neue Zürcher Zeitung vom 16.2.1977 (Nr. 39), S. 39: Sprache und Sport-
Ein Podiumsgespräch im Stadthaus
"Ist die Sprache der Sportjournalisten defizitär? Das war eine der Hauptfragen, gegen deren Formulierung später in der Diskussion Einspruch erhoben wurde; das Wort "defizitär" mag nicht sehr glücklich gewählt sein, es kann durch "arm" oder "verarmt" ersetzt werden. Während von der einen Seite die einfache Sprache als dem Sportjournalismus adäquat gelobt wurde, wehrte man sich von anderer Seite gegen die dabei häufig benutzten Klischees, abgenützten Formulierungen und das Einfließen von Ausdrücken aus der Umgangssprache. Wie weit dabei die Rücksicht auf das Zielpublikum, das gerade bei der Sportberichterstattung sehr vielfältig ist, eine Rolle spielen soll, konnte nicht restlos geklärt werden. Um klare Ergebnisse mag es bei solchen Veranstaltungen auch nicht in erster Linie gehen ... Als wichtig stellte sich heraus, daß der Ausbildung des Journalisten mehr Beachtung geschenkt werden sollte, daß ihm ein größerer Fundus an Sachkenntnissen und Informationen zu reicherer Sprache verhilft (wobei allerdings die Gefahr einer nicht mehr allgemein verständlichen Fachsprache gerade bei komplizierten Sportarten im Hintergrund lauert) und daß ganz allgemein das kritische Verhältnis zur Sprache gefördert werden
muß ...
. . . allein die Tatsache, daß man sich mit dem Problem beschäftigt hatte, gab der Veranstaltung ihren Wert, auch wenn sich deutlich zeigte, daß die angeschnittenen Fragen keineswegs nur die Journalisten vom Ressort Sport betreffen: Sie stellen sich, im Detail abgewandelt, für den gesamten mit Aktualitäten beschäftigten Journalismus."
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Peter Hartmann 4. Zusammenfassung
Abschließend werden die dem Beitrag zugrundeliegenden Grundannahmen in Thesenform zusammengesetllt. Zum 1. Abschnitt: (1) Eine Hinwendung der Sprachwissenschaft zur praktischen Brauchbarkeit (Praxis) erfordert eine realitätsbezogene (realistische) Einstellung und Arbeitsweise, für die die Realbedingungen für Einsatz, Vorkommen und Wirkung der Sprache nicht außerhalb des zugrundeliegenden Sprachbegriffs bleiben dürfen. (2) Eine Neudimensionierung des Sprachbegriffs erfordert die Einbeziehung der für Sprachmanifestationen notwendigen Bedingungen, also ein Transzendieren der beobachtbaren Sprachvorkommen. Hierfür ist die Berücksichtigung des Verhältnisses zwischen Individuum und Sprache unerläßlich, da einerseits die Sprache ein Faktor jeder individuell-intellektuellen Entwicklung und Ausprägung ist, andererseits die Sprache nur gesellschaftlich (sozial-kommunikativ) existieren kann. (3) Zur sprachwissenschaftlichen Behandlung des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft empfiehlt sich die Abbildung dieses Verhältnisses im Rahmen eines sprachorientierten Weltmodells. (4) Es gilt, alle Bedingungsseiten der Sprachvorkommen gleichgewichtig zu berücksichtigen, gegenüber der bisherigen Forschung also je nachdem die individuelle Seite oder die gesellschaftliche Seite stärker in den Blick zu rücken. Zum 2. Abschnitt: (5) Das Individuum kann sich der Sprache gegenüber desinteressiert, naiv, kritisch, skeptisch oder feindlich usw. verhalten. Bei sprachkritischer Einstellung erfährt es in (anläßlich) der Sprache einen auf der symbolischen Ebene liegenden Kontakt mit der Gesellschaft in Form von außer ihm selbst ("in der Sprache") liegenden Zwängen: mit Festlegungen, Normierungen, Begrenzungen, Einschränkungen im Verhältnis zu dem, was seine eigene Erlebniswelt, Haltung usw. ausmacht. (6) Mittels seiner Einstellung gegenüber der Sprache kann das Individuum seinerseits das Verhältnis der Gesellschaft zu ihm beeinflussen, d. h. Einfluß nehmen auf die Wirkung der gesellschaftlich bedingten Sprache auf es selbst. Absicht und Auswirkung brauchen
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im sprachsymbolischen Raum ebensowenig im 1 :I-Verhältnis zu stehen wie Zeichen und Bedeutung. Das unfeste ("offene") Verhältnis ist Ausdruck der Freiheit des Individuums gegenüber der Sprache und damit gegenüber den sich in dieser manifestierenden gesellschaftlichen Absichten, Einwirkungsmotiven usw. Zum 3. Abschnitt: (7) Um den Einfluß der Gesellschaft auf die Sprache und mittels der Sprache auf Individuen konkret zu erfassen, gilt es die tatsächlichen Ausgangspunkte (Bedingungen) für gesellschaftlich-bedingte Einwirkungen auf die Sprache in den Blick zu bekommen. (8) Die Gesellschaft ist untergliedert in Funktions-, Handlungs-, Einflußbereiche (Gruppen, Stände, Institutionen), von denen für ein sprachorientiertes Weltmodell die der Experten (auf Spezialwissen gegründete Gruppen) besonders interessant sind: sie erscheinen dort als verantwortlich und also als tatsächlicher Ausgangspunkt für bestimmte reglementierte (übernormierte) Sprach-Usancen bzw. Sondersprach-Verwendungen. (9) Je "gebundener" spezifische Gruppen eingestellt, organisiert oder institutionalisiert sind, desto konsistenter wird auch ihr Sprachgebrauch und desto mehr streben sie danach, ihn auch für andere verbindlich werden zu lassen. Die Expertensprachen sind somit der Ort, wo die Einwirkung von gesellschaftlicher Seite auf die Sprache und mittels der Sprache auf die Individuen am deutlichsten und bandfestesten in Erscheinung tritt. Eine Untersuchung von Zuschnitt, Vorstellungsgehalt, Tendenz und Auswirkung ist also angebracht. (10) Das Verhältnis des Individuums zur Sprache ist der Ort einer symbolischen Verbindung und Abhängigkeit zwischen Individuum und Gesellschaft. Aufgrund der Freiheit ("Offenheit") in bezug auf sprachliche Angebote oder Einwirkungen kann sich das Individuum kritisch auch zu objektiv-gesellschaftlich begründeten (bedingten) Kommunikationsformen, Informationen, Aufforderungen usw. ver~ halten. Eine entsprechende Einschätzung, auf objektiv-individueller ("subjektiver") Einstellung beruhend, kann dazu führen, daß gerade gegenüber Expertensprachen und den in ihr angelegten Festlegungen (Zumutungen) Skepsis angemeldet wird.
Zur Rechtserheblichkeil des Normirrtums in juristischer und soziologischer Sicht Von Ernst E. Hirsch
I. Realitäts- und Sollensaspekte Diese unter dem Rahmenthema "Recht und Gesellschaft" stehende Festschrift ist Helmut Schelsky gewidmet, einem Vorkämpfer für interdisziplinäre Wissenschaftspflege, der nicht nur postuliert, sondern auch dem Postulat entsprechend gehandelt hat, "den Streit zwischen den Realitäts- und Sollensaspekten unserer Welt als Kooperation der Wissenschaften auszutragen" 1• Dies verlangt von demjenigen, der einen Beitrag zu dem genannten Thema leisten will, Beachtung und Betrachtung beider Aspekte mit Hilfe des für jeden von ihnen zur Verfügung stehenden speziellen "Handwerkszeugs" und den Versuch einer koordinierenden Zusammenschau der auf verschiedenen Wegen ("Methoden") ermittelten Erkenntnisse. Dies ist für einen Juristen, der die Befähigung zum Richteramt erworben und in der Rechtsanwendung Praxis-Erfahrungen gesammelt hat, leichter zu bewerkstelligen als für einen rein theoretisch eingestellten Soziologen, auch wenn dieser empirisch forscht; denn ein Jurist kann den Sollensaspekt einer zwischenmenschlichen Beziehung, eines sozialen Vorgangs, eines gesellschaftlichen Verhältnisses nur dann erkennen und bestimmen, wenn er zuvor den Realitätsaspekt des ihm zur rechtlichen Beurteilung überlassenen Sachverhalts festgestellt hat. Die genaue Ermittlung des "Tatbestandes" ist oft weit schwieriger und langwieriger als die rechtliche Beurteilung; denn der Jurist ist hierbei auf die Unterrichtung durch andere Personen (Prozeßparteien, Zeugen, Sachverständige) angewiesen, deren Aussagen und Darstellungen von ihm als "richtig", d. h. als der Realität entsprechend hingenommen werden, soweit sie miteinander vereinbar sind oder nach der Lebenserfahrung eine hohe Wahrscheinlichkeit für sich in Anspruch nehmen können. Rein soziologische Untersuchungen z. B. über ,;Entscheidungsprozesse" in der Justiz nehmen oft nicht zur Kenntnis, 1 Vgl. seine "Soziologiekritischen Bemerkungen zu gewissen Tendenzen von Rechtssoziologen", in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie III (1972), S. 603 - 611.
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daß die Richter hinsichtlich der Aufklärung und Feststellung der Realitätsaspekte normative Grenzen einzuhalten haben; so gilt z. B. im Zivilprozeß die sog. Verhandlungsmaxime, d. h. die Regel, daß es allein Sache der Parteien ist, darüber zu entscheiden, welche Tatsachen sie dem Gericht unterbreiten und welche sie ihm nicht zur Kenntnis bringen wollen, welche Tatsachen sie bestreiten und damit beweisbedürftig machen wollen und welche Tatsachenbehauptungen sie durch Nichtbestreiten als unstreitig oder zugestanden zu akzeptieren bereit sind. Einschränkungen und Ausnahmen von dieser Regel gelten in Eheprozessen sowie in Kindschafts- und Entmündigungssachen. Hier ist ebenso wie in allen anderen gerichtlichen Verfahrensarten, insbesondere im Straf-, Verwaltungs- und Steuerverfahren, die sog. Untersuchungsmaxime maßgebend, d. h. die Regel, daß das Gericht die für die Entscheidung des Einzelfalles erheblichen Tatsachen von Amts wegen zu ermitteln, in den Prozeß einzuführen und ihre Realitätsaspekte festzustellen hat. Aber auch in diesen Verfahren gibt es rechtliche und tatsächliche Schranken der Aufklärungsmöglichkeit von Fakten. Zahlreiche Personen haben nach den Prozeßgesetzen ein Zeugnisverweigerungsrecht. Wer wegen einer angeblich begangenen Straftat rechtlich verantwortlich gemacht wird, kann von der ersten polizeilichen Vernehmung ab bis zum Ende des Verfahrens sich in Schweigen hüllen und den Strafverfolgungsbehördendie Aufklärung und Feststellung der Fakten überlassen. Ein Beamter darf über Vorgänge, die amtlich zu seiner Kenntnis gelangt sind, nur aussagen, wenn er von seiner vorgesetzten Dienstbehörde die Aussagegenehmigung erhält. Steuerbeamte und Richter haben ein besonders hohes Maß von Amtsverschwiegenheit zu wahren. Tatsächliche Schranken der Aufklärungsmöglichkeit ergeben sich aus der Kompliziertheit der Lebensverhältnisse, die nur unter Heranziehung von Sachverständigen auf ihre Realitätsaspekte hin zu klären sind, derart daß der Richter dem Sachverständigen die Aufgabe zuweist, kraft seiner besonderen Fachkunde festzustellen, ob im konkreten Fall bestimmte Tatsachen oder Sachzusammenhänge vorliegen, welche für die rechtliche Beurteilung wichtig sind. Entsprechendes gilt bei fremdsprachlichen Erklärungen oder Urkunden und für den Nachweis ausländischen Rechts, falls es darauf für die rechtliche Beurteilung durch den inländischen Richter ankommt. Eine tatsächliche Schranke für die Erfassung der Realitätsaspekte ist schließlich die Deutung des menschlichen Innenlebens. Auch wenn es in einem alten römischen Sprichwort heißt: de internis non judicat praetor, so gehört doch auch das Innenleben des Menschen, jenes Labyrinth seines Glaubens und Wissens, seiner Gedanken, Vorstellungen, Gewissensregungen, Gefühlsempfindungen und Erinnerun-
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gen, zur "Realität" und ist in dem Umfang auch faßbar, als es sich in Äußerungen irgendwelcher Art zu erkennen gibt. Jahrhunderte lang galt das Geständnis als Krone des Beweises, selbst wenn es durch die damals rechtlich zulässige Folter erpreßt war. Die heute als Museen zugänglichen Folterkammern mit ihren Werkzeugen lehren nicht nur das Gruseln, sondern sind der augenscheinliche Hinweis darauf, wie sehr die Interna des Menschen als realiter erfaßbar schon damals gegolten haben. Diese Auffassung und Einstellung ist auch heute trotz weitverbreiteten Verbots der Folter, trotz Erklärung der Menschenwürde zum höchsten Wert und trotz aller rechtlichen Bemühungen zum Schutze der Persönlichkeit in den zwar ausdrücklich untersagten2 , aber nichtsdestoweniger ab und zu ruchbar werdenden zeitgenössischen Vernehmungsmethoden erkennbar. Die Feststellung derartiger Interna als Fakten mit bestimmten Rechtsfolgen bereitet zwar manchmal Schwierigkeiten wie z. B. bei der Verweigerung des Wehrdienstes mit der Waffe aus Gewissensgründen oder bei der Frage nach der Verfassungstreue von Beamtenanwärtern. In manchen Fällen hilft der Gesetzgeber im Interesse der Rechtssicherheit durch Tatsachen- oder Rechtsvermutungen, die widerlegbar oder unwiderlegbar sind. Von diesen Fällen abgesehen bleibt die Frage nach der Beachtlichkeit von ignorantia juris - sei es als Unkenntnis rechtserheblicher Tatumstände oder als Irrtum darüber, sei es als Unkenntnis von Gebots- oder Verbotsnormen oder als Irrtum darüber - ein soziales Problem, bei dessen Lösung Realitäts- und Solleusaspekte miteinander aufs engste verwoben sind.
n. lgnorantia juris 1. Zur Veranschaulichung der Bedeutung des Problems gehe ich von einem praktischen Fall3 aus. Unter Weglassung aller für den vorliegenden Zweck unerheblichen Einzelheiten läßt sich der tatsächliche Vorgang dahin zusammenfassen:
a) Ein in der Bundesrepublik Deutschland tätiger türkischer Gastarbeiter A ist mit Frau A verheiratet. Drei Kinder aus dieser Ehe leben in der Türkei. Er hat sich von seiner ebenfalls in Deutschland als Gastarbeiterin tätigen Ehefrau getrennt und lebt seit einigen Jahren zusammen mit einer unverehelichten Frau U, die ebenfalls türkische Staatsangehörige ist. Auch aus dieser Verbindung sind zwei, 2 Vgl. Art. 3 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte;§§ 136 a, 163 a Abs. 3- 5; § 69 c Abs. 3 StPO. 1 Rechtsgutachten des Instituts für internationales und ausländisches Privatrecht an der Universität Köln, in: IPR 1974, Tübingen 1975, Nr. 24, s. 237-249.
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in der Türkei als ehelich registrierte Kinder hervorgegangen. Als Frau U in einem deutschen Krankenhaus von einem dritten Kind entbunden wurde, hat die Krankenhausverwaltung die ihr von A und U gemachten Angaben dahin verstanden, daß das Neugeborene das Kind des A und seiner Ehefrau A sei. Auf eine entsprechende Anzeige der Krankenhausverwaltung wurde das Kind als eheliches Kind des A und seiner Ehefrau A in das Geburtsregister eingetragen. Die Entbindungskosten wurden von der Betriebskrankenkasse des Unternehmens bezahlt, bei dem A beschäftigt ist. Als sich herausstellte, daß nicht die Ehefrau A, sondern Frau U die Mutter des Kindes ist, wurde gegen A und U Anklage wegen Personenstandsfälschung, Betrugs und mittelbarer Falschbeurkundung (§§ 169, 263, 271 StGB) erhoben. In der Hauptverhandlung vor dem Schöffengericht beriefen sich beide Angeklagten darauf, ihre Angaben gegenüber der Krankenhausverwaltung entsprächen dem geltenden türkischen Recht. b) Abstrakt formuliert handelt es sich somit realiter um die Abgabe einer Erklärung, die zur Eintragung eines im räumlichen Bereich der Bundesrepublik Deutschland geborenen nichtehelichen Kindes eines verheirateten türkischen Gastarbeiters und einer unverheirateten türkischen Frau als eheliches Kind des Vaters und seiner Ehefrau im deutschen Geburtsregister geführt hat. Man wird mir vielleicht entgegenhalten, ich hätte den Realitätsaspekt bereits mit normativen Gesichtspunkten vermengt, da ich den Geburtsort und das Geburtsregister des Standesamts räumlich durch den Hinweis auf die Bundesrepublik Deutschland, d. h. auf deren Rechtsordnung lokalisiert und durch die Angabe der Staatsangehörigkeit und des Familienstandes von Vater und Mutter des Kindes rechtlich qualifiziert hätte. Ein derartiger Einwand wäre nicht stichhaltig: Als Anknüpfungsgesichtspunkte für rechtliche Folgen sind der Geburtsort des Kindes und der rechtliche Status von Vater und Mutter ebensolche Faktizitäten wie der Geburtsakt als solcher, sobald dieser seinem Wesen nach biologische Sachverhalt der Geburt eines Menschen als sozialer Sachverhalt betrachtet wird: Spielt er sich doch im Rahmen eines konkreten Gesellschaftsintegrats ab, das räumlich, zeitlich, gegenständlich und personell durch rechtlich normierte Merkmale von anderen Gesellschaftsintegraten abgegrenzt ist. Mit anderen Worten: Sobald das biologische Faktum "Geburt eines Menschen" als gesellschaftlicher Sachverhalt im Rahmen eines realen Interaktionensystems betrachtet wird, impliziert dieser Rahmen bestimmte Strukturelemente, die, obwohl normativer Herkunft, nicht aus dem Sollensaspekt, sondern aus dem Realitätsaspekt zu beurteilen sind. Gerade dadurch, daß reales Sein oder Geschehen wie Geburt, Leben und Tod eines Menschen nicht bloß als biologische, d. h. natürliche Fakten und Prozesse von der Gesellschaft, innerhalb deren sie
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angetroffen werden, abstrahiert werden, sondern als in die konkrete Gesellschaft integrierte soziale, d. h. kulturelle Fakten und Prozesse vorgestellt werden, wird durch die Änderung der Betrachtungsweise lediglich die Richtung der wissenschaftlichen Untersuchung verändert, während die Fakten und Prozesse als solche unverändert bleiben. c) Die Staatsanwaltschaft ist bei Erhebung ihrer Anklage von dem oben formulierten sozialen Sachverhalt ausgegangen und hat den beiden Angeschuldigten vorgeworfen, sich in der konkreten Situation nicht so verhalten zu haben, wie es nach Maßgabe der einschlägigen Rechtssätze gefordert, d. h. "von Rechts wegen" erwartet wird. Das Amtsgericht hat durch seinen Beschluß über die Eröffnung des Hauptverfahrens vor dem zuständigen Schöffengericht zu erkennen gegeben, daß A und U "einer Straftat dringend verdächtig erscheinen" (§ 203 StGB). Staatsanwaltschaft und Gericht sind davon ausgegangen und durften und mußten davon ausgehen, daß nach § 3 StGB das deutsche Strafrecht für Taten gilt, die im Inland begangen werden, ohne daß es auf die Staatsangehörigkeit der Täter arikommt. d) In der Hauptverhandlung haben die Angeklagten das ihnen zur Last gelegte tatsächliche Verhalten nicht bestritten, aber sich zu ihrer Verteidigung darauf berufen, ihr Verhalten entspräche ihrem Heimatrecht, d. h. der ihnen aus eigener (zweimaliger) Erfahrung bekannten türkischen Rechtsordnung. Mit anderen Worten: Die Anmeldung eines nichtehelichen Kindes als eheliches Kind zum Geburtsregister sei nach türkischem Recht angesichts ihrer persönlichen Situation zulässig und nicht mit Strafe bedroht. Die Angeklagten wollten also darauf hinweisen, daß ihnen als türkischen Staatsangehörigen ein Vorwurf deshalb nicht gemacht werden könne, weil nach den für sie (als Mitgliedern der türkischen Rechtsgemeinschaft) üblichen Rechtsvorstellungen ihr Verhalten kein kriminelles "Unrecht" gewesen sei. Wie steht es nun hinsichtlich dieser Einlassung mit den Realitäts- und Sollensaspekten? 2. Aus dem Gesichtspunkt der sozialen Realität ist es für die Verbindlichkeit einer Rechtsnorm unerheblich, ob diejenigen, auf die sie gemünzt ist, von ihr positive Kenntnis haben. Niemand ist imstande, die Gesamtheit der innerhalb eines konkreten Gesellschaftsintegrats zu einem bestimmten Zeitpunkt geltenden Rechtssätze zu kennen4 • Trotz weitestgehender Unkenntnis der Rechtsnormen und ihres Inhalts wird in den meisten Fällen normgemäß gehandelt. Rechtmäßiges und rechtswidriges Verhalten sind nicht so sehr von der Gesetzeskenntnis ' Vgl. hierzu vor allem Manfred Rehbinder, Rechtskenntnis, Rechtsbewußtsein und Rechtsethos als Problem der Rechtspolitik, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie III (1972), S. 2:; - 46.
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oder-unkenntnis, als vielmehr von dem Umfang an anerzogenem Wissen und an Erfahrungswissen hinsichtlich dessen bestimmt, welches typisches Verhalten in typischen Situationen innerhalb eines bestimmten Gesellschaftsintegrats erwartet wird. Jeder Mensch ist großenteils das, was in ihm als Reaktionen seiner eigenen Erfahrungen bewußt oder unbewußt als Erinnerung gespeichert ist, aber auch das, was während seines Wachstums durch Familienleben, Nachbarschaft, Schule, Arbeitstelle, Presse, Rundfunk, Fernsehen u. a. m. aus ihm "gemacht" worden ist und auch nach Beendigung seiner Wachstumsperiode unaufhörlich aus ihm "gemacht" wird. a) Ich habe mehrfach zu zeigen versucht5, daß die rechtliche Realordnung eine "Funktion" des jeweiligen Gesellschaftsintegrats ist, Funktion im mathematisch-physikalischen Sinne verstanden. Die Verschiedenheit der rechtlichen Zustände nach Ort und Zeit in den einzelnen Gesellschaftsintegraten ist nichts weiter als der Ausdruck dafür, daß der Mensch als körperlich-geistig-seelisches Wesen kraft seiner Zugehörigkeit zur Spezies "Mensch" zwar Eigenschaften hat, die als konstante, d. h. von Ort und Zeit unabhängig gedachte Faktoren für das Sozialleben (und damit zwangsläufig für seine Ordnung) bedeutsam sind, daß aber jeder Mensch als Individuum in seinem Verhalten durch die materiellen und immateriellen Bedingungen des Soziallebens der Gruppe beeinflußt wird, deren Element er ist. b) Betrachtet man aus diesem Gesichtspunkt der sozialen Realität die oben mitgeteilte Einlassung der Angeklagten, daß sie sich als türkische Staatsangehörige aufgrund ihres in der Türkei gemachten Erfahrungswissens auch in Deutschland so verhalten hätten, wie es in der Türkei Rechtens sei, so muß man beachten, daß innerhalb des Gesellschaftsintegrats "Bundesrepublik Deutschland" die türkischen Gastarbeiter eine eigene soziale Gruppe bilden. Die Angehörigen dieser Gruppe nehmen im Verhältnis sowohl zu der deutschen Bevölkerung als auch zu den anderen Fremdarbeitsgruppen die gesellschaftliche Sonderstellung einer Minderheit ein, deren Gruppenmerkmale faktisch durch Sprache, Religion, Volkssitten und Nationalität einerseits, rechtlich durch Beschränkungen hinsichtlich der Aufenthaltsdauer, der Berufsausübung, der staatsbürgerlichen (politischen) Rechte andererseits bestimmt werden. Typologisch betrachtet gehört diese Minderheit zu den "zeitweiligen", "großen", "unfreiwilligen", "offenen", "egalitären", "unorganisierten" Gruppen, deren Mitglieder sich zwar zu einzelnen Interessenvereinigungen kultureller oder wirtschaft5 Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge, Berlin 1966, S. 315-345 (339 ff.) und: Rechtssoziologie, in: G. Eisermann (Hrsg.), Die Lehre von der Gesellschaft, 2. Aufl. Stuttgart 1973, S. 147-217 (200 f.).
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licher Art zusammenschließen können, aber abgesehen von den manchmal gettoartigen Wohngebieten keine umfassende soziale Lebensgemeinschaft bilden. Sie besitzen keinen eigenen sozialen Status innerhalb der sozialen Schichtung der deutschen Bevölkerung, wobei besonders zu beachten ist, daß eine Assimilation an das deutsche Wirtsvolk von keiner der beiden Seiten beabsichtigt oder nur als erwünscht betrachtet wird. Die fortdauernde äußerliche und innerliche Bindung an die türkische Heimat und das Nichtaufgehen im deutschen Milieu kommt vor allem in den in Deutschland erscheinenden Nebenausgaben zahlreicher türkischer Tageszeitungen zum Ausdruck, deren regionaler Teil sich sogar fast ausschließlich auf "Türkisches" in Politik, Wirtschaft, Kultur, Sport bezieht. Die gesellschaftlichen Kontakte zu deutschen Bevölkerungskreisen sind so gering, daß die Möglichkeit des Erlernens des in typischen Situationen erwarteten typischen Verhaltens auf dem Weg über Erziehung und persönliche Erfahrung nicht sehr groß ist. Vor allem die Schwierigkeiten der sprachlichen Verständigung sind erheblich und können leicht zu Mißverständnissen und Irrtümern führen, ein Sachverhalt, der im vorliegenden konkreten Fall durchaus möglich gewesen ist, und zwar auf beiden Seiten: Die Erklärung der Angeklagten, das Neugeborene sei ein eheliches Kind des A, kann die Krankenhausverwaltung zu dem für deutsche Verhältnisse richtigen Rückschluß veranlaßt haben, die Mutter des Kindes für die Ehefrau des A zu halten, während andererseits die Angeklagten aufgrund ihrer in der Türkei gemachten Erfahrungen davon ausgingen, daß auch nach deutschem Recht ein nichteheliches Kind ohne besondere Formalitäten als eheliches Kind des Vaters ins Geburtsregister eingetragen werden könne. c) Wir haben es hier also, soziologisch gesehen, mit einer Spielart des "abweichenden Verhaltens" zu tun, d. h. mit einem "Verhalten, das von den gesamtgesellschaftlich akzeptierten und gültigen Normen abweicht, auch dann, wenn es nach den gruppenspezifischen Mustern konformes Verhalten ist"'; denn die Gruppe "türkische Gastarbeiter" besitzt ihr gruppenspezifisches subkulturelles Normen- und Wertsystem im Verhältnis zu dem gesamtgesellschaftlich ausgerichteten Normen- und Wertsystem des Gesellschaftsintegrats Bundesrepublik Deutschland. Für das Schöffengericht, das sich dieser Einlassung gegenübersah, war zunächst zu entscheiden, ob nach geltendem deutschen Strafrecht die Schutzbehauptung der Angeklagten über ihr gruppenspezifisches abweichendes Verhalten zu beachten war.
' Fritz Sack unter dem Stichwort "Abweichendes Verhalten", in: Bernsdorf (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, 2. Aufl. Stuttgart 1969 = Fischer Handbücher Bd. 1, Frankfurt (M) 1972.
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Dies ist eine juristische Frage, die allgemein, also ohne Berücksichtigung des Wann-Wo-Wie gestellt, den Sollensaspekt betrifft und eine Antwort erheischt, ob ignorantia juris vom Richter zu beachten ist. In dieser Form handelt es sich um ein bekanntes Problem, für dessen Lösung schon Platon und Aristoteles Vorschläge gemacht haben. Für den Richter im konkreten Fall dagegen ist die vom Gesetzgeber getroffene Regelung ein Faktum, das er entsprechend seiner Bindung an Gesetz und Recht in der Regel hinzunehmen hat7. Für ein deutsches Gericht ist die Bestimmung von § 17 StGB eine Realität: "Fehlt dem Täter bei der Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun, so handelt er ohne Schuld, wenn er diesen Irrtum nicht vermeiden konnte. Konnte der Täter den Irrtum vermeiden, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden." Der deutsche Jurist weiß, daß diese Beurteilung der ignorantia juris im Bereich des deutschen Strafrechts erst seit dem 1. Januar 1975 gesetzliche Geltung beanspruchen kann, während sie zuvor seit 1952 nur Richterrecht war. Im vorliegenden Fall war somit die Einlassung der Angeklagten relevant: Das Gericht mußte aufklären, ob die aus der nichtehelichen Lebensgemeinschaft der beiden Angeklagten bereits früher in der Türkei geborenen Kinder als eheliche Kinder des Angeklagten A und seiner Ehefrau in ein türkisches Geburtsregister eingetragen worden waren und ob dies der türkischen Rechtsordnung entsprach. Auch dieses Problem betrifft aus dem Gesichtswinkel des Gerichts nicht den Sollensaspekt, sondern den Realitätsaspekt: Der Satz "jura novit curia" bedeutet lediglich, daß die anzuwendenden Rechtsnormen bei dem Gericht offenkundig sind, also keines Beweises bedürfen. Diese praesumptio juris et de jure bezieht sich aber allein auf das räumlich, sachlich, zeitlich und personell geltende Recht desjenigen Gesellschaftsintegrats, in dem und für das im konkreten Fall die Gerichtsbarkeit ausgeübt wird. Das in einem anderen Staat geltende Recht bedarf aber ebenso wie eine bei dem Gericht nicht offenkundige Tatsache des Beweises insofern, als es dem Gericht unbekannt ist. Selbst im Zivilprozeß kann das Gericht von Amts wegen die ihm zweckmäßig erscheinenden "Erkenntnisquellen" benutzten und zum Zweck einer solchen Benutzung das Erforderliche anordnen (§ 293 ZPO). 3. Dies hat das Schöffengericht getan, indem es von einem deutschen Universitätsinstitut für internationales und ausländisches Recht ein Rechtsgutachten über folgende Fragen erbat8 : 7 über die Ausnahmen von dieser Bindung vgl. meinen Aufsatz: Vom Kampf des Rechtes gegen die Gesetze, in AcP 175 (1975), S. 471 (482 ff.). s Siehe Fn. 3.
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1. Ist die Mehrehe in der Türkei noch gestattet?
2. Falls ja, welchen Namen erhalten die Kinder der Nebenfrau? 3. Ist es nach Recht oder Gewohnheit in der Türkei zulässig und üblich, daß nichtehelich geborene Kinder als ehelich geboren registriert werden, damit sie in den Genuß des Erbrechts nach ihrem Vater kommen? a) Es lohnt sich, diesen Beweisbeschluß sprachlich und inhaltlich näher zu betrachten: Erbeten wird ein Rechtsgutachten, d. h. eine sachverständige Auskunft darüber, in welcher Art ~nd Weise bestimmte zwischenmenschliche Beziehungen und damit zusammenhängende gesellschaftliche Vorgänge heutzutage innerhalb des als "Türkei" bezeichneten Gesellschaftsintegrats rechtlich geordnet sind. Da der Sachverständige keine rechtliche Entscheidung fällen soll, sondern nur als "Erkenntnisquelle" benutzt wird, muß er entsprechende Feststellungen darüber treffen, was ist, nicht darüber, was sein soll. Es handelt sich trotz des rechtlichen Gegenstandes also um den Realitätsaspekt, nicht um den Sollensaspekt. Rechtssätze erscheinen in der äußeren Form sprachlicher Gebilde. Diese enthalten Fachwörter ("termini technici") zwecks Bezeichnung von Rechtsbegriffen, deren Gegenstand, Inhalt und Umfang durch die jeweils in Geltung befindliche Rechtsordnung festgelegt sind. Die in Betracht kommenden Rechtssätze sind somit Quellen der Rechtseinsicht nur für denjenigen, der außer der Sprache auch die juristische Terminologie beherrscht und außerdem den Stellenwert kennt, den diese Rechtssätze in der Rechtswirklichkeit, d. h. in der Rechtspraxis der Türkei haben. Die Formulierung der ersten Frage zeigt, daß die Mitglieder des Schöffengerichts und der Staatsanwalt..; schaft gelegentlich gehört oder gelesen haben, daß die Türkei das Schweizer ZGB und damit das Prinzip der Einehe vor dem staatlichen Standesbeamten übernommen haben. Deshalb das Wörtchen "noch" in der Fragestellung, ob die "Mehrehe in der Türkei noch gestattet" sei. Hätte der Gutachter nur nach dem Wortlaut der Frage und der Regelung des Eherechts im türkischen ZGB geantwortet, so hätte er die Frage unter Hinweis auf die Bestimmungen in Art. 93 und 112 des genannten Gesetzes verneinen müssen. Damit wären die weiteren Fragen des Gerichts gegenstandslos geworden. Es war voreilig, die sozialen Beziehungen zwischen einem Mann, der mit mehreren Frauen in Gemeinschaft lebt, aber nur mit einer von ihnen standesamtlich getraut ist, als "Mehrehe" rechtlich zu qualifizieren. Die Frage hätte lauten müssen: "Wie ist das Verhältnis zwischen einem in Einehe verheirateten Mann und einer anderen, mit ihm lebenden, ihm aber standesamtlich nicht angetrauten Frau und den mit dieser gezeugten Kindern zu beurteilen?" Nur dann wären die in den Fragen 2 und 3
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gebrauchten Ausdrücke "Nebenfrau" und "nichteheliches" Kind, die ja bereits rechtliche Qualifizierungen und Wertungen enthalten, am Platz gewesen. Wäre die Mehrehe in der Türkei noch gestattet, so gäben die Begriffe "Nebenfrau" und "nichteheliches" Kind keinen Sinn. Man ersieht aus diesen Erwägungen, wie schwierig es ist, eine Rechtsvergleichung durchzuführen, wenn ein zwischenmenschliches Verhältnis innerhalb eines fremden (ausländischen) Gesellschaftsintegrats nicht als soziale Beziehung, d. h. als Faktum betrachtet wird, sondern von vornherein mit denselben rechtlichen Maßen untersucht wird, mit denen ein entsprechendes zwischenmenschliches Verhältnis iin eigenen (inländischen) Gesellschaftsintegrat rechtlich beurteilt wird9 • b) Für den praktischen Juristen, der einen konkreten sozialen Sachverhalt rechtlich beurteilen soll, ist das als Beurteilungsgrundlage dienende Normensystem in seinem Dasein und seinem Sosein eine gegebene Größe, ein Faktum. Die Positivität einer heute-hier-so geltenden Rechtsordnung ist eine notwendige Bedingung für die normative Beurteilung eines sozialen Sachverhalts. Jedoch ist zu beachten, daß die Erwartungen, die der Gesetzgeber an die Regulierungswirkung seiner Gesetze geknüpft hat, sich gelegentlich nicht erfüllen, weil die Adressaten der Gesetzessätze sich anders verhalten, als sie sich verhalten sollen. Entweder sind die Wertvorstellungen der Bevölkerung andere als diejenigen des Gesetzgebers. Oder die Umweltbedingungen, d. h. die Gegebenheiten des Soziallebens sind stärker und mächtiger als der gesetzgeberische Wille und die Bemühungen des Rechtsstabes, diesem Willen Geltung zu verschaffen. Beide Ursachenreihen können auch nebeneinander wirksam sein. Und sie sind es nach der Übernahme des schweizerischen ZGB in der Türkei gewesen. c) Dies an dieser Stelle im einzelnen darzustellen, dürfte angesichts der darüber auch in deutscher Sprache im Laufe der letzten vier Jahrzehnte erschienenen und allgemein zugänglichen Veröffentlichungen überflüssig sein10• Ich begnüge mich mit folgenden Angaben: An die Stelle des bis zum 3. 10. 1926 seit Jahrhunderten für die islamische Bevölkerung des Osmanischen Reichs und seines Restbestandes Türkei in Geltung gestandenen islamischen Eherechts, das die Mehr8 Vgl. zu diesem Problembereich insbesondere Ulrich Drobnig I Manfred Rehbinder (Hrsg.), Rechtssoziologie und Rechtsvergleichung, Berlin 1977, insbesondere M. Rehbinder, Erkenntnistheoretisches zum Verhältnis von Rechtssoziologie und Rechtsvergleichung, S. 56 -71, und Andreas Heldrich,
Sozialwissenschaftliche Aspekte der Rechtsvergleichung, S. 178 - 192. 10 Vgl. außer den Nachweisen in dem oben in Fn. 3 erwähnten Rechtsgutachten die zeitlich später erschienenen und mit zahlreichen Hinweisen auf das Schrüttum versehenen Aufsätze in Z. f. Schweiz. Recht, N. F. 95 I (1976), s. 221-341.
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ehe (und zwar nach Art. 14 des osmanischen Familienrechtsgesetzes von 1917 bis zu vier Frauen) zuließ, ist am 4. 10. 1926 das aus der Schweiz übernommene Türkische Zivilgesetzbuch (TZGB) getreten. Danach soll die vor dem staatlichen Standesbeamten abzuschließende monogame Zivilehe die allein als rechtlich legitim anerkannte Organisationsform der Lebensgemeinschaft von Mann und Frau sein. Nur die aus einer solchen Lebensgemeinschaft stammenden Kinder haben die Rechtsstellung eines ehelichen Kindes, alle anderen Kinder dagegen sind nichtehelich. Ein sehr großer Teil der Bevölkerung vor allem auf dem Lande lehnte diese "Idealordnung" nicht nur unter Berufung auf Religion und Tradition, sondern auch aus sozialen und wirtschaftlichen, in den Gegebenheiten des Landes wurzelnden Gründen ab. Die Eheschließung erfolgte vielfach nach altem Brauch in der Form der sog. "lmam"-Ehe, ohne daß hierbei die zwingenden Vorschriften der Art. 93 und 110 TZGB (Verbot der Mehrehe, Verbot der religiösen Trauung vor der standesamtlichen Eheschließung) beachtet wurden. Die zivilrechtlich vorgesehenen Folgen (absolute Nichtigkeit der Ehe, Nichtehelichkeit der Kinder) und auch zahlreiche einschlägige Strafdrohungen erwiesen sich nicht nur als wirkungslos, sondern wurden in den betroffenen Bevölkerungskreisen als ungerecht empfunden. Entsprechend den alt überkommenen Sitten und Gewohnheiten wurden im sozialen Leben der Dorfgemeinschaften die zweite, dritte, vierte Frau eines Mannes nicht als "Nebenfrau" und deren Kinder nicht als nichtehelich, sondern als zur Familiengemeinschaft des Mannes gehörig betrachtet, zumal sie auch innerhalb der häuslichen Gemeinschaft in diesem Rahmen faktisch lebten. Erst bei der durch den Tod des Mannes und Vaters eintretenden gesetzlichen Erbfolge trat das "gesetzliche Unrecht" zu Tage, daß entgegen dem früheren, aber 1926 gesetzlich aufgehobenen islamischen Erbrecht die zweite, dritte, vierte Frau und deren Kinder nicht erbberechtigt waren. Hinzu kam, daß selbst monogame Lebensgemeinschaften, die nicht vor dem Standesbeamten abgeschlossen waren, nicht als Ehen anerkannt und zahlreiche Geburten überhaupt nicht oder unrichtig in das Geburtsregister eingetragen wurden. d) Um der Sicherung des sozialen Friedenswillen sah sich der türkische Gesetzgeber veranlaßt, in den Jahren 1933, 1945, 1950, 1956, 1965 und letztmals 1974 jeweils zeitlich befristete, im wesentlichen gleichlautende Gesetze "Über die straflose Registrierung von nichtregistrierter Verbindungen und den daraus hervorgegangenen Kindern" zu erlassen. Der wesentliche Inhalt dieser Gesetze läßt sich dahin zusammenfassen, daß monogame, auf Dauer angelegte faktische Lebensgemeinschaften zwischen einem Mann und einer Frau bei dem örtlich zustän-
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digen Standesamt als vom Beginn des Zusammenlebens ab gültige Ehen registriert werden können mit der Folge, daß durch die Registrierung die aus derartigen Lebensgemeinschaften stammenden Kinder von ihrer Geburt ab als eheliche Kinder gelten. Ist der Mann bereits eine Zivilehe eingegangen und steht er außer mit seiner Ehefrau noch mit einer oder mehreren anderen Frauen in einer auf Dauer angelegten faktischen Lebensgemeinschaft, so dürfen diese faktischen Gemeinschaften zwar nachträglich nicht als Ehen registriert werden; jedoch können Kinder aus derartigen Verbindungen auf Antrag als eheliche Kinder ihres Vaters registriert werden, so daß sie die Rechtsstellung eines ehelichen Kindes auch in erbrechtlicher Hinsicht erlangen, unheselladet ihrer entsprechenden Rechtsstellung gegenüber ihrer Mutter, nicht aber gegenüber der Ehefrau ihres Vaters. Da die Geltung der erwähnten Sondergesetze zeitlich beschränkt ist, läßt sich· die "Realordnung" {law in action} dahin bestimmen, daß die im TZGB vorgesehene, zivilrechtlich vor dem Standesbeamten geschlossene Einehe als Regel aufrechterhalten bleibt, daß aber auch sog. "Imam-Ehen" ohne Nachholung der zivilen Eheschließung vor dem Standesbeamten lediglich durch nachträgliche Registrierung zu echten Ehen werden können, wenn es sich um faktische monogame Lebensgemeinschaften handelt, während Lebensgemeinschaften eines Mannes mit mehreren Frauen nur als Konkubinate geduldet werden. Trotzdem aber können die Kinder auch aus diesen Konkubinaten durch Registrierung die Stellung eines ehelichen Kindes ihres Vaters erwerben. Die Durchführung derartiger Registrierungen hat, wie sich aus dem Gutachten (vgl. Fn. 3} ergibt, wiederum zu einer Abweichung der Realordnung von der Idealordnung geführt. Während nach Wortlaut und Sinn der Sondergesetze Kinder aus einer Lebensgemeinschaft eines verheirateten Mannes mit einer unverheirateten Frau lediglich als eheliche Kinder des Mannes zu registrieren sind, nicht aber als eheliche Kinder des Mannes und seiner Ehefrau, weil dies auch nach türkischem Recht strafbare Kindesunterschiebung wäre, ist die türkische Verwaltungspraxis in dieser Frage sehr "großzügig". Nach dem erwähnten Gutachten "muß davon ausgegangen werden, daß in praxi die bloße Behauptung des Vaters, das Kind sei von seiner Ehefrau geboren worden, ausreicht, um ein Kind als eheliches Kind der. Eheleute (und nicht des Ehemannes und der Konkubine} in das Personenstandsregister einzutragen. Nähere Untersuchungen durch die Personenstandsbehörden werden regelmäßig nicht angestellt, um keinen der Beteiligten (Eheleute wie Kindesmutter} zu kompromittieren. Es kann deshalb nicht ausgeschlossen werden, daß der Angeklagte A seine von der Angeklagten U in der Türkei geborenen Kinder in seiner Heimatgemeinde ... als Kinder seiner Ehefrau hat registrieren lassen, ob gleich dies unzu-
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lässig ... und gemäß Art. 445, 447 TStGB strafbar ist, ohne daß die Personenstandsbehörden daran Anstoß genommen haben" 11 • e) Man kann die erwähnten Regelungen durch Sondergesetze als "Kapitulation vor der Volksmeinung" 12 bezeichnen. Man kann mit Hilmar Krüger 13 beklagen, daß die "wichtigsten Ursachen der Misere eine höchst unzureichende Organisation des Personenstandswesens, bürokratische Schikanen der zuständigen Behörden, die informelle Art der Ziviltrauung und schließlich die kaum verhängten oder nur sehr geringen Strafen für Geistliche, die contra legem zivile Ehen schließen - ... nicht beseitigt" werden, so daß zu befürchten steht, daß sich der heutige Zustand des Ehe- und Kindschaftsrechts in der Türkei nicht ändern wird. Man kann nach den Ursachen für den Abstand zwischen Gesetzestext und Rechtspraxis forschen, wie es Mary Zwahlen in ihrem Aufsatz "L'application en Turquie du Code civil regu de la Suisse" und Zafer Gören-Ataysoy in ihrem Aufsatz "Die Fortbildung rezipierten Rechts" 14 getan haben. Wesentlich ist allein die Feststellung, daß das aus der Schweiz importierte staatliche Familienrecht auf bestimmte Widerstände gestoßen ist, die im Laufe von 50 Jahren bei einem Großteil der Bevölkerung nicht beseitigt werden konnten und die zu beseitigen weder der Gesetzgeber noch die vollziehende Gewalt durch entsprechende Regelungen und Maßnahmen bisher gewagt haben. Die Internalisierung der gesetzlichen Vorschriften auf den Wegen der Eigenerfahrung oder der Nachahmung fremder Erfahrungen und Verhaltensweisen ist blockiert durch überkommene Vorstellungen, ohne daß die zuständigen Behörden daran auch nur zu rühren wagen. 4. Wenn der Gesetzgeber und die Behörden durch zeitlich befristete amnestieartige Sondergesetze bzw. durch eine nicht am Gesetz, sondern an der Volksmeinung orientierte Verwaltungsübung lediglich zu pardonnieren und zu rehabilitieren suchen, was angesichts des Gesetzes widerrechtlich, aber nach der Volksmeinung rechtmäßig ist, so fallen diese Fakten bei der Beantwortung der Frage nach der Erheblichkeit eines Normirrtums stärker ins Gewicht als die diesbezüglichen Rechtssätze. "Das" Recht ist nicht so, wie es im Gesetz gefordert, sondern wie 11 Vgl. nähere Ausführungen zu diesem Problem in meinem Aufsätzen: Das Schweizerische ZGB in der Türkei, Schweiz. Juristenzeitung 50 (1954), S. 337 ff. = Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge, Berlin 1966, S. 122 ff., jeweils unter IV A b; Die Gesetzgebung in der Türkei auf dem Gebiete des Privatrechts 1939-1956, in RabelsZ 23 (1958), S. 81 ff. (86 Nr. 5); vgl. auch neuestens Hilmar Krüger, Fragen des Familienrechts: Osmanisch-islamische Tradition versus Zivilgesetzbuch, in ZSR (Fn. 10), S. 287 ff. 11 Pritsch, ZvglRWiss. 59 (1957), S. 178. 13 Fn. 11, S. 299. 14 Fn. 10, S. 249 ff. (258 f.) und S. 285 ff. (278 f.).
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es in der Wirklichkeit unter ausdrücklicher oder stillschweigender Duldung der zuständigen Mitglieder des Rechtsstabes praktiziert wird. a} Man kann einwenden, das möge in der Türkei so sein; aber für die Anwendung von § 17 des deutschen StGB über die Beachtlichkeit des Normirrtums könne das Erfahrungswissen eines in Deutschland tätigen türkischen Gastarbeiters angesichts der Übereinstimmung in der gesetzlichen Beurteilung einer Personenstandsfälschung in der Türkei und in Deutschland keine Bedeutung haben; denn die Gleichheit vor dem Gesetz gelte als Prinzip in der Türkei nach Art. 12 der Verfassung von 1961 ebenso wie nach Art. 3 GG. Ebensowenig wie ein wegen Personenstandsfälschung in der Türkei angeklagter Türke sich vor einem türkischen Strafgericht auf falsche und gesetzwidrige Verwaltungsübung in der Türkei zur Begründung eines Normirrtums berufen könne, dürfe ihm dies hier in Deutschland als Schutzbehauptung abgenommen werden. Aus der Sicht des Juristen mag dies dem Postulat der Allgemeinverbindlichkeit des Gesetzes vor allem unter der Voraussetzung entsprechen, daß ein bestimmter Sachverhalt im Heimatland des Angeklagten gesetzlich in derselben Weise beurteilt wird wie im Gastland. Ob im konkreten Fall das Schöffengericht aufgrund des ihm erstatteten Gutachtens zu diesem Ergebnis gekommen ist und die Angeklagten verurteilt hat, oder ob es einen Normirrtum zugunsten der Angeklagten als erwiesen angesehen hat, ist mir nicht bekannt. b} Gerade das letztgenannte Ergebnis läßt sich nämlich rechtfertigen, wenn man das Spannungsverhältnis berücksichtigt, das zwischen Idealordnung und Realordnung besteht und hinsichtlich des Personenstandswesens in Deutschland ein anderes ist als in der Türkei. Die obligatorische Zivilehe vor dem staatlichen Standesbeamten als zwingende, mit Strafandrohung bewehrte Vorbedingung für die erst danach zulässige religiöse (kirchliche} Eheschließung wurde während des sog. Kulturkampfes zwischen dem preußischen Staat und der katholischen Kirche vor rund hundert Jahren zunächst durch ein preußisches Gesetz von 1874 und dann durch ein Gesetz des Deutschen Reiches von 1875 eingeführt. Diese Regelung ist in allen Kreisen der Bevölkerung bekannt und anerkannt. Die Gefahr von Fälschungen des Personenstandes anläßlich von Geburten ist gering, weil Wöchnerinnen heute in der Regel in Krankenhäusern entbunden werden und die Krankenhausverwaltungen für richtige Angaben gegenüber dem Standesamt zu sorgen wissen. Hinzukommt, daß uneheliche Geburt kaum mehr als sozialer Makel empfunden wird und die in Art. 6 GG vorgesehene rechtliche Gleichstellung nichtehelicher Kinder mit ehelichen Kindern durch das entsprechende Änderungsgesetz zum BGB vom 19. 8. 1969 realisiert worden ist. Man kann deshalb davon ausgehen, daß hinsichtlich der rechtlichen
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Ordnung des Personenstandswesens zwischen der gesetzlich vorgesehenen Idealordnung und der faktisch bestehenden Realordnung kein Spannungsverhältnis besteht, soweit die deutsche Bevölkerung in Betracht kommt. Niemand würde sich auf ein Nichtwissen oder einen Irrtum über den Inhalt der Begriffe "Ehe", "Ehelichkeit", "Nichtehelichkeit", "Personenstand" berufen, auch wenn er die einschlägigen Gesetzesnormen niemals gelesen hat, geschweige denn im einzelnen kennt. Ganz anders steht es damit in der Türkei: Das Ziel der maßgebenden Politiker, die im Jahre 1926 die Übernahme des in die türkische Sprache übersetzten schweizerischen ZGB als türkisches ZGB in der gesetzgebenden Versammlung durchsetzten, bestand nach einem Worte Atatürk's darin, die türkische Gesellschaft auf die Höhe der zeitgenössischen Zivilisation Westeuropas zu heben. Vor allem das Verbot der Mehrehe und der jederzeitigen Scheidungsmöglichkeit des Mannes von der Frau sowie der Grundsatz der Eheschließung vor einem staatlichen Beamten sollten diesem Zwecke dienen, was 35 Jahre später ausdrücklich in Art. 153 Ziff. 4 der türkischen Verfassung von 196P5 erneut besonders hervorgehoben wurde. Aber die einschlägigen Rechtssätze als Richtschnur und Hebel für den sozialen Wandel gedacht und bestimmt, entsprachen - und entsprechen auch heute noch - nicht den Lebensvorstellungen und Lebensweisen von Millionen von Menschen. Eine tiefgreifende Wandlung darin kann sich, wenn überhaupt, nur im Laufe von Generationen bei Anwendung geeigneter Mittel entwickeln. Mögen die Verhältnisse bei der - allein aus wirtschaftlichen Zwängen - schon zur osmanischen Zeit monogam lebenden Bevölkerung der türkischen Groß- und Mittelstädte den diesbezüglichen deutschen Verhältnissen bis zu einem gewissen Grade entsprechen, so ist dies hinsichtlich der Bevölkerung in den türkischen Dörfern und Kleinstädten, aus denen die Schar der Gastarbeiter überwiegend stammt, nicht der Fall. Die oben erwähnten sechs Sondergesetze zeigen mit aller Deutlichkeit, daß die gesetzlichen Bestimmungen des TZGB über die obligatorische Eheschließung vor einem staatlichen Beamten und über das Verbot der Mehrehe in weiten Teilen der türkischen Bevölkerung noch nicht die Qualität von "Recht" gewonnen haben. In den Sitten und Gebräuchen der ländlichen Bevölkerung lebt noch als "Recht", was durch eine ausdrückliche Gesetzesbestimmung vor rund fünfzig Jahren seine rechtliche Verbindlichkeit verloren hat, während die mit Allgemeinverbindlichkeitsanspruch erlassenen gesetzlichen Vorschriften für diesen Teil der Bevölkerung lettres mortes sind. Die staatliche 11 Deutsche Obersetzung nebst Erläuterungen in meinem in der Schriftenreihe "Die Staatsverfassungen der Welt" als Band 7 erschienenen Buch "Türkei", Frankfurt (M.) 1966.
15 Festsehr1ft für Helmut Schelsky
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Idealordnung ist insoweit nicht zur Realordnung geworden. Dies vor allem auch deswegen nicht, weil die Sondergesetze den zwingenden Charakter des TZGB hinsichtlich der Einehe, die vor dem staatlichen Beamten zu schließen ist, in den Vorstellungen der Bevölkerung keineswegs stärken, sondern im Gegenteil ins Zwielicht geraten lassen16• Die durch diese Sondergesetze gegebene Möglichkeit, nichteheliche Kinder durch bloße Registrierung zu ehelichen Kindern ihres Vaters zu machen, ohne aber der Mutter zugleich die Qualität einer "Ehefrau" zu geben, widerspricht so sehr den überkommenen Vorstellungen, daß es durchaus naheliegt, wenn der Mann bei der Anmeldung eines von einer anderen Frau als seiner Ehefrau geborenen Kindes dieses als sein "eheliches" Kind und bei der Frage nach der Mutter den Namen seiner Ehefrau nennt. An anderer Stelle17 habe ich darauf hingewiesen, daß ein Normirrtum nur in solchen Gesellschaftsintegraten einen "Schuld- oder Unrechts-Ausschließungsgrund" bilden kann, deren soziale Struktur sehr differenziert und deren Sozialleben diskontinuierlich, labil und unübersehbar ist, so daß wegen der faktischen Schwierigkeiten in der Koordination des Verhaltens die Unbeachtlichkeit des Rechtsirrtums als unvereinbar mit Billigkeit und Gerechtigkeit erscheint. Diese Voraussetzung ist nach der türkischen Realordnung gegeben, so daß es unter Berücksichtigung der mangelnden Integration türkischer Gastarbeiter in das gesellschaftliche Leben der Bundesrepublik Deutschland gerechtfertigt gewesen wäre, die Bestimmung von § 17 des deutschen StGB über die rechtlichen Folgen des Normirrtums im gegebenen Fall anzuwenden. Betrachtet man den Normirrtum aus dem Gesichtspunkt des Sollens, so steht seiner Beachtlichkeit die jeder Rechtsordnung immanente Allgemeinverbindlichkeit der Gesetze und die verfassungsrechtlich garantierte Gleichheit vor dem Gesetz entgegen. Ignorantia juris nocet. Normative Ausnahmen von dieser Regel können infolgedessen juristisch nur gerechtfertigt werden, wenn der Gleichheitssatz im Sinne eines Willkürverbots ausgelegt wird derart, daß Gleiches gleich zu behandeln ist, Ungleiches aber ungleich behandelt werden darf, falls dies aus ethischen Gründen oder aus Opportunitätsrücksichten zu rechtfertigen ist. Betrachtet man dagegen den Normirrtum aus dem Gesichtspunkt der Rechtsrealität, so ist er dann beachtlich, wenn das generell miß1' Nach der wohl zutreffenden Meinung von Krüger (Fn. 11, S. 300) sind energische Maßnahmen zur Durchsetzung und Erzwingung der monogamen obligatorischen Zivilehe nicht zu erwarten, weil die politischen und sozialen Verhältnisse offenkundig entgegenstehen. Auch dies ist eine "Sperre" der Verhaltenstransparenz im Sinne von Heinrich Popitz, Über die Präventivwirkung des Nichtwissens (Recht und Staat, Heft 350), Tübingen 1968, s. 7 ff. 17 Vgl. meine Rechtssoziologie bei Eisermann (Fn. 5), S. 182.
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billigte Verhalten des Individuums als Ausdruck eines gruppenspezifisch entstandenen und vorhandenen abweichenden Verhaltens zu qualifizieren ist, was dem einzelnen Gruppenmitglied nicht als persönliche "Schuld" oder persönliches "Verschulden" anzulasten ist. Für diese Fälle gilt der Ausnahmesatz: lgnorantia juris non nocet.
Die menschliche Gemeinschaft und das Prinzip der Mehrheitsregel* Von AntonyM. Honore Im folgenden möchte ich gewisse sehr allgemeine und unbequeme Fragen stellen, die sich auf die Menschenrechte beziehen. Jedoch behaupte ich nicht, daß ich sie beantworten kann noch daß man sie überhaupt zu beantworten vermag. Meine Fragen drehen sich um die Existenz einer Gesellschaft der gesamten Menschheit, einer menschlichen Gemeinschaft, einer Brüderschaft aller Menschen. Diese Ausdrücke werden stets im Munde geführt von denjenigen, die auf internationalen Versammlungen reden. Aber sind sie überhaupt mehr als eine höfliche Metapher? Denn wenn sie mehr sind, scheinen sich daraus wichtige Folgerungen zu ergeben für die Führung internationaler Angelegenheiten und für die politischen Prinzipien, welche die Weltgemeinschaft beherrschen sollten. Das bedarf der Erläuterung. In Gesellschaften, in denen die Mitglieder als gleich oder nahezu gleich gedacht werden, stimmen Rechtsgelehrte mit politischen Theoretikern in der Annahme überein, daß wichtige Fragen nach dem Willen der Mehrheit entschieden werden sollten. Unter Gleichen oder fast Gleichen ist das Recht der Mehrheit die Regel. Das gilt gleichermaßen nach Auffassung der Rechtsgelehrten hinsichtlich dessen, was man freiwillige Vereinigungen1 nennt, Gruppierungen, deren Mitglie-
* The Human Community and the Principle of Majority Rule. Unverändertes Vortragsmanuskript. Weltkongreß für Rechts- und Sozialphilosophie "Law and the Future of Society" in Sidney/Canberra vom 14. bis 21. August 1977. Aus dem Englischen übertragen von KatTin Krawietz. 1 z. B. (UK) Partnership Act 1890 s. 24 (8): ". . . any difference arising as to ordinary matters connected with the partnership business may be decided by a majority of the partners but no change may be made in the nature of partnership business without the consent of all partners"; Halsbury's Laws of England, 4. Aufl., 9. 765 s. 1300 "Proceedings at meetings": "Prima facie, in all acts done by a corporation aggregate, the decision of the majority binds the minority, and may be enforced against them by the court; but in cases of fraud, the minority may be entitled to obtain relief on application to the court." Vgl. ferner: ebd. 9. 766 s. 1302: "A majority, however !arge, cannot bind a dissentient minority, however small, to do that which is not authorised by the constitution." Zwischen Kanonisten und Zivilisten bestand eine Meinungsverschiedenheit über die praktische Anwendung der Mehrheitsregel auf Körperschaften und private Vereinigungen, wobei die Kano-
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dem es freisteht, je nach Wunsch einzutreten oder auszutreten2, wie nach Auffassung der politischen Theoretiker hinsichtlich demokratischer Staaten3 • Es ist wahr, daß einfache Mehrheitsmeinungen nicht mehr so populär sind, wie sie es einmal waren. Die Mehrheit kann die Minderheit unterdrücken, seien es nun Aktionäre oder Angehörige einer anderen Kultur. Sie kann sich über die Rechte des Einzelnen hinwegsetzen. Dennoch ist es im Grunde ein Axiom unserer Zeit, daß die Mehrheit herrschen sollte, wie die Diskussionen über die politische Zukunft Südafrikas beweisen. Nehmen wir an, es gäbe eine menschliche Gemeinschaft, eine Brüderschaft aller Menschen, in einem wirklichen, nicht bloß rhetorischen Sinne. Wenn dies eine Gemeinschaft von Gleichen ist, wäre es dann nicht richtig, daß die Angelegenheiten dieser weltweiten Gemeinschaft nach den Wünschen der Mehrheit entschieden werden sollten? Und wenn die existierende internationale Struktur dieses Prinzip nicht widerspiegelt (und sie tut es nicht), sollte sie dann nicht abgeändert werden? Wenn es aber andererseits keine umfassende menschliche nisten die Auffassung vertraten, daß die Entscheidung durch die Mehrheit der Anwesenden getroffen werden sollte, während die Zivilisten an der Regel festhielten, die aus dem römischen Recht für die Dekurionen abgeleitet war, daß zwei Drittel der gesamten Körperschaft bei dem Treffen anwesend sein müssen, auf dem die Abstimmung stattfindet (nicht, daß dort eine Zweidrittelmehrheit bestehen müsse): 0. von Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, 1881, 3. 322. Die Auffassung, daß diejenigen, die nicht teilnehmen, auch nicht zählen, hat sich vorwiegend in der Neuzeit durchl!:esetzt: National Labour Relations Board v. Standard Lime & Stone Co. (1945) 149 Fed. 2 d 435, 437; Virginian R. Co. v. System Federation no. 40 (1931) 300 US 515, 57 SC 592. Die Fälle, in denen das Common Law Einstimmigkeit fordert (Ermessensentscheidungen von Treuhändern einer nicht gemeinnützigen Vereinigung, Entscheidungen der Jury), erklären sich aus besonderen Gründen: im ersten Falle führt der Wunsch, die Treuhänder gemeinsam verantwortlich zu machen, zur Forderung nach Einstimmigkeit, im zweiten Falle wies der Gedanke, daß der Urteilsspruch der Jury derienige des Volkes und daher unanfechtbar ist, auf die J!leiche Regel hin: Pollock I Maitland, The History of English Law, 2. Aufl. 1952, Bd. 2, S. 622- 627. Dies sind natürlich beides Körperschaften, die Angelegenheiten von Nichtmitgliedern entscheiden. Ohne Zweifel kann man F. W. Maitland, Township and Borough, 1898, S. 30 f. zustimmen, wenn er sagt: "one of the great books that remain to be written is the history of the majority." Aber es ist klar, daß eine der Entwicklungen der modernen Gesellschaft vom Vertrag zur Mehrheitsregel verlaufen ist, d. h. von einer Situation, in der autonome Individuen miteinander Vereinbarungen treffen, zu einer anderen, in der Einheiten, seien es geschäftliche Vereinigungen, Körperschaften oder Gewerkschaften, die intern im Wege der Mehrheitsbildung zu ihren Entscheidungen gelangen, miteinander Vereinbarungen treffen derart, daß sie ihre Mitglieder verpflichten und so zugleich selbst an Macht gewinnen und die Autonomie des Individuums schwächen. 1 S. J. Stoljar, Groups and Entities, 1973, S. 39. 3 E. G. J. Rawls, A Theory of Justice, 1972, S. 356 f.
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Gemeinschaft gibt, wenn die Gesamtheit des Menschengeschlechts keine derartige Gemeinschaft bildet, wie ist es dann möglich, die Existenz von Menschenrechten zu verfechten? Bürger und Staaten können Rechte haben, auch wenn eine derartige menschliche Gemeinschaft fehlt, aber wie können menschliche Wesen als solche sie besitzen? Sie können sie zwar fordern, aber an wen soll diese Forderung gerichtet werden? Und wenn es keine umfassende menschliche Gemeinschaft gibt, an die man appellieren kann, wie soll dann die Forderung nach Menschenrechten gerechtfertigt werden? Und schließlich, wenn es eine menschliche Gemeinschaft gibt, auf die das Prinzip der Mehrheitsregel aber nicht anwendbar ist, läßt das nicht den Anspruch zweifelhaft erscheinen, daß die Mehrheitsregel ein angemessenes Prinzip ist, das sich zur Anwendung in Teilbereichen der Erde eignet? Werden wir nicht finden, daß die Leugnung der Geltung dieses Prinzips auf globaler Ebene uns dahin führt, auch seine Geltung auf lokaler Ebene zu unterminieren? Oder gibt es irgendeinen Grundsatz zur Differenzierung, der uns in die Lage versetzt, diesem Prinzip in dem einen Falle beizupflichten und in dem anderen nicht? Das sind die Fragen, mit denen sich die folgende Untersuchung beschäftigt. Ich werde darzulegen versuchen, was in den politischen Prinzipien, nach denen die Weltangelegenheiten abgewickelt werden, als ein gewisser Widerspruch erscheint. Ich tue dies teilweise deswegen, um ein Ungleichgewicht zu korrigieren. Neuere westliche Autoren auf dem Gebiete der Politischen Philosophie und Rechtstheorie haben nämlich angenommen, ihre Aufgabe sei darauf beschränkt, nur die Angelegenheiten einzelner Staaten, z. B. der USA, ins Auge zu fassen. Sie haben wenig oder gar nichts über die internationale Gemeinschaft gesagt4• Aber auch internationale Rechtsgelehrte haben bestimmte unbequeme Fragen unter den Teppich gekehrt. Seit dem Triumph der Theorie oder Fiktion einer Staatssouveränität im späten 18. Jahrhundert haben sie sich gesträubt, ihre Aufmerksamkeit auf die Realitäten zu lenken, die hinter der Fiktion einer Gleichheit der Staaten liegen. Es gibt so etwas wie eine Lücke. Beginnen wir damit zu überlegen, wie sie ausgefüllt werden könnte. Wir können mit einer Tatsache anfangen. In der Praxis werden internationale Angelegenheiten nicht auf der Grundlage der Mehrheitsregel erledigt. Sie werden nicht einmal nach den Wünschen der Mehrheit der Staaten durchgeführt, ganz zu schweigen von denen der ' Rawls, a.a.O., S. 377 - 378 bietet eine Seite zu diesem Thema, wobei er die Fiktion der Gleichheit der Staaten übernimmt. Die internationale Gesellschaft und die Weltgesellschaft spielen keine Rolle bei R. Nozick, Anarchy, State and Utopia, 1974 und R. Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977.
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Mehrheit der Menschen. Man kann sich kaum etwas vorstellen, das weniger demokratisch ist als die internationale Verfassung. Indien mit seiner rasch wachsenden Millionenbevölkerung - nach der Statistik der Vereinten Nationen von 1975 sind es 548 Millionen- wird gleichgestellt mit Barbados und seiner Bevölkerung von 230 000 Menschen. Obwohl Indien eine Bevölkerung hat, die fast achtzigmal so groß ist wie die des benachbarten Saudiarabien, besitzt es doch keine verfassungsmäßigen Mittel, um Saudiarabien zu zwingen, ihm sein Öl oder wenigstens einen Teil davon abzutreten zum Wohle dieser verarmten Volksmassen. Denn das Recht der internationalen Gemeinschaft ist nicht das der Mehrheit (Pleonomie), sondern - abgesehen von wenigen Ausnahmen - das der souveränen Staaten, die einstimmig handeln (Sympantonomy, d. h. das Recht aller Staaten zusammen). Ganz anders wäre die Lage, wenn die Mehrheitsregel der Staaten oder gar der Völker akzeptiert wäre. Die Mehrheit der Menschheit könnte sich in der Tat bei verschiedenen Fragen auch verschieden zusammensetzen, aber sicherlich würden die Völker Asiens eine natürliche Gruppierung bilden. Nach der Statistik der Vereinten Nationen von 1975 machen die Völker Asiens - ohne die Sowjetunion - 54,8 °/o der Weltbevölkerung aus (1844,7 Mill. von insgesamt 3346,7 Mill.). Daher könnte Asien den Rest der Welt überstimmen, wenn die Weltangelegenheiten auf der Grundlage der Mehrheitsregel abgewickelt werden würden. Die Asiaten hätten darüberhinaus viele Gründe, eine politische Gruppierung zu bilden, welche die Neuverteilung aller Ressourcen der Welt anstrebt, vorausgesetzt sie hätten die freie Wahlmöglichkeit. Sie sind relativ arm, sie haben alte Kulturen, sie weisen einige abstammungsmäßige Gemeinsamkeiten auf, und sie leben auf einem Kontinent. Warum sollten sie nicht gemeinsame Sache machen? Warum sollten nicht zu ihrem Vorteil die reichen Völker anderer Kontinente besteuert werden, genauso wie in demokratischen Staaten die Reichen gewöhnlich mit Steuern belegt werden, damit es den Ärmeren besser geht5? Tatsächlich werden Auffassungen dieser Art häufig auf internationalen Versammlungen ausgesprochen, wenn sie auch nicht ganz so scharf formuliert werden, wie ich es hier tue, da auf Weltebene die notwendigen Institutionen, wie beispielsweise diejenigen für eine umverteilende Besteuerung, nicht existieren. Aber die Idee selbst ist durchaus vertraut. Wir scheinen vor einem Dilemma zu stehen. Wie kann es rechtens sein zu behaupten, das Prinzip der Mehrheitsregel sei auf Angelegen5 R. W. Tucker, The Inequality of Nations, 1977 wendet sich gegen die Schließung der Kluft zwischen Reich und Arm mit der Begründung, daß dies zur Ausbreitung der nuklearen Macht führen würde. Aber dies ist höchstens ein praktischer Einwand, kein prinzipieller.
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heiten anzuwenden, die nach globalem Maßstab bloß lokale Angelegenheiten sind, wie etwa die Vorgänge in Südafrika oder Irland, um zwei prominente Beispiele zu nennen, und zugleich zu behaupten, es sei unrecht, diesen Gedanken auf die Welt als ganze anzuwenden? Selbstverständlich können die praktischen Schwierigkeiten, die Welt der Mehrheitsregel zu unterwerfen, unüberwindlich sein. Sicherlich ist es jedoch unsere Aufgabe, wenn möglich zuerst zu korrekten politischen Prinzipien zu gelangen und erst dann zu sehen, wie sie verwirklicht werden können. Denn allem Anschein nach führen die korrekten Prinzipien dazu, entweder die moralische Position der Minderheiten oder die der Mehrheiten zu unterminieren. Es läßt sich zeigen, daß entweder globale Minderheiten, wie beispielsweise die Industrieländer, sich an ihren Reichtum und ihren Besitz klammern ohne jede moralische Rechtfertigung oder daß lokale Minderheiten, wie die weißen Südafrikaner und die protestantischen Iren bei ihrer Weigerung, sich den Diktaten der Mehrheit in ihren Gebieten zu unterwerfen, als gerechtfertigt erscheinen. Was dem einen recht ist, sollte aber sicherlich dem anderen billig sein. Mein Vorgehen besteht im folgenden darin, nach einer kurzen Darlegung der wohlbekannten Argumente zugunsten des Mehrheitsprinzips danach zu fragen, welche Einwände gegen seine Anwendung auf die Weltgemeinschaft vorgebracht werden können. Wie stichhaltig sind diese Einwände? Wolche Folgerungen ergeben sich aus ihnen für die Anwendung der Mehrheitsregel in lokalen Bereichen und auf subglobale Vereinigungen? Es wird am allgemeinen am besten sein, sich für eine bestimmte Entscheidung oder Maßnahme der Zustimmung aller Mitglieder einer Gemeinschaft zu versichern, falls das möglich ist. Die Mehrheitsregel ist bestenfalls ein Notbehelf. Nichtsdestoweniger werden sich im Laufe der Zeit und vielleicht recht häufig Streitigkeiten ergeben, bei denen Einstimmigkeit nicht erzielt werden kann, auch nicht nach reichlicher Gelegenheit zur Debatte und Diskussion und zum Abwägen der Entscheidungsgründe, die denjenigen klargemacht werden müssen, die mit der Mehrzahl der Mitglieder nicht übereinstimmen. Was soll in diesem Fall geschehen? Wenn die Angelegenheit nicht von größter Bedeutung ist, kann man sie vielleicht auf die lange Bank schieben, aber in manchen Fällen wird eine Entscheidung in dem einen oder anderen Sinne notwendig oder zumindest höchst wünschenswert sein8 • Andernfalls werden die Zwecke der Vereinigung zunichte gemacht. Daher muß 1 Grotius, De iure belli et pacis, 2.5.17; Vitoria, De potestate civili, no. 14: ut ratio aliqua sit expediendi negotia; Locke, Second Treatise on Government, s. 95 - 98.
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irgendein Weg gefunden werden, um zu einer abschließenden Entscheidung zu gelangen. Wenn man sich die Mitglieder als gleich denkt, dann besteht die einfachste Methode und diejenige, die zugleich mit geringster Wahrscheinlichkeit Zwietracht verursacht, darin, alle Mitglieder im Hinblick auf die zu entscheidenden Angelegenheiten als gleich zu behandeln. Daher sollte jeder bei der Entscheidung gleiches Stimmrecht haben. Aber dies bedeutet, daß die Ansicht der Mehrheit sich durchsetzen wird, denn wenn jeder Meinungsäußerung gleiches Gewicht zugestanden wird, dann muß die Meinung von mehr als der Hälfte ein größeres Gewicht haben als die Meinung von weniger als der Hälfte. Dies ist das ursprüngliche Argument zur Entscheidung von Streitigkeiten über Angelegenheiten einer Gemeinschaft nach Maßgabe der Meinungen der Mehrheit. Es gibt ein weiteres Argument, das zum gleichen Ergebnis führt. Von einer Person, die sich einer Gemeinschaft von Gleichen anschließt, darf erwartet werden, daß sie die gewohnheitsmäßig praktizierten Verfahrensweisen zur Entscheidung gemeinsamer Angelegenheiten kennt oder wenigstens das ursprüngliche Argument versteht und deshalb zustimmt, durch die Meinung der Mehrheit gebunden zu sein oder jedenfalls nicht von der Auffassung abweicht, daß die Mehrheitsmeinung für sie verbindlich ist. Diese beiden schlichten Argumente lassen naturgemäß viele Einzelheiten offen. Wie soll die Mehrheit ihre Ansicht zum Ausdruck bringen? Sollte sie dies direkt in einer Versammlung aller tun oder indirekt durch Repräsentanten? Sollte die Entscheidung der Mehrheit in allen die Gemeinschaft betreffenden Angelegenheiten überlassen werden oder nur bei den wichtigsten, wie beispielsweise bei der Wahl der Gouverneure oder bei einer Verfassungsänderung? Sollte die Mehrheit eine entscheidende Meinungsäußerung schon bei der ersten Gelegenheit zum Ausdruck bringen, bei der die Angelegenheit diskutiert wird, oder erst nach zwei oder mehreren Diskussionsrunden, die vielleicht über einen Zeitraum verteilt werden? Diese Einzelheiten können im vorstehenden Zusammenhang außer Betracht bleiben. Es sind Modalitäten der Mehrheitsregel, die das Prinzip nicht berühren. Betrachten wir nun einige Argumente gegen die Anwendung des Prinzips der Mehrheitsentscheidung auf die Weltgemeinschaft. Ich werde mich mit sieben Punkten befassen, die sämtlich wohlbekannt sind, aber prima facie beachtenswert erscheinen. Sie besagen: 1. daß die internationale Gemeinschaft in Wirklichkeit auf der Grundlage der Staatssouveränität organisiert ist;
2. daß die Mehrheit der Menschheit durch schlechte Herrscher regiert wird, denen die Mehrheitsregel zu große Macht verleihen würde;
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3. daß es überhaupt keine Weltgemeinschaft gibt; 4. daß das Prinzip der Mehrheitsregel sich nicht auf die Weltgemeinschaft anwenden läßt, weil ihre Mitglieder sie nicht verlassen können; 5. daß die Weltgemeinschaft keine Gesellschaft von Gleichen ist; 6. daß die Mitglieder der Weltgemeinschaft kein gleiches Interesse an den Angelegenheiten dieser Gemeinschaft haben; 7. daß es keinen Raum für die menschliche Autonomie und daher auch keinen Raum für die Menschenrechte gäbe, wenn die Mehrheit der Menschheit das Recht besäße, die Angelegenheiten der Welt zu regeln - das gleiche würde zutreffen für Gruppenautonomie und Gruppenrechte. Diese Einwände sind selbstverständlich nicht ganz unabhängig voneinander.
1. Der Status quo Der erste Einwand ist ein konservativer. Tatsächlich ist die internationale Gesellschaft eine Gruppe, die sich aus souveränen Staaten zusammensetzt. Sie sind daran gewöhnt, ihre Angelegenheiten auf dieser Basis abzuwickeln, und sie würden die Einführung der Mehrheitsregel als schwere Beeinträchtigung ansehen. Jeder Versuch, diese Regel auf die internationalen Angelegenheiten anzuwenden, würde Unordnung schaffen und den begrenzten Schutz individueller Rechte beschneiden, die die bestehende Ordnung souveräner Staaten gewährleistet. Dieser Einwand ist keineswegs stichhaltig. Kein Zweifel, daß die Regierungen der Staaten über das neue Regime wenig glücklich wären, weil dadurch im Ergebnis ihr eigener Status beeinträchtigt werden würde. Aber vom Standpunkt der Bürger der Staaten könnte ein Abwägen der Vor- und Nachteile anders aussehen. Es trifft zu, daß das Prinzip der Staatssouveränität den Bürgern ein Gefühl der Dazugehörigkeit verleiht, das Gefühl gemeinsamer Identität, daß den meisten von uns vertraut ist. Aber zugleich verhindert es die Art von Umverteilung des Reichtums, die- zumindest allem Anschein nachim Interesse des ärmeren Teils der Menschheit liegen würde. Die meisten Inder wären beispielsweise wohl besser daran unter einer Weltverfassung, die dem Mehrheitsprinzip Wirksamkeit verschafft. Eine derartige Verfassung würde die Autonomie des Staates nicht notwendigerweise außer Kraft setzen, zumindest nicht in bestimmten Angelegenheiten. Denn diejenigen Angelegenheiten, auf welche die
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Weltmehrheitsregel anzuwenden wäre, könnten ihrem Umfange nach recht begrenzt sein. Sie könnten darüberhinaus durch die Regierungen der Staaten entschieden werden derart, daß diese nicht als Souveräne handeln, wie gegenwärtig, sondern als Repräsentanten ihrer Völker gemäß ihrer jeweiligen zahlenmäßigen Stärke. Dazu wäre nur erforderlich, sich vorzustellen, daß die Staaten in doppelter Eigenschaft tätig werden können, ähnlich wie im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland die Gewerkschaften in einigen Angelegenheiten, beispielsweise bei Tarifverhandlungen, als autonome Einheiten handeln und in anderen, beispielsweise bei Wahlen auf dem Gewerkschaftskongreß, als Repräsentanten ihrer Mitglieder gemäß ihrer zahlenmäßigen Stärke.
2. Die Verderbtheit der Regierungen Der zweite Einwand gegen die Weltmehrheitsregel besteht darin, daß die volkreichen Nationen durch Regierungen repräsentiert werden, die ihre Macht mißbrauchen oder jedenfalls undemokratisch sind, so daß die erzielten Entscheidungen auf eine Unterdrückung hinauslaufen. Das ist sicherlich ein gewichtiger und bedeutsamer praktischer Einwand. Die meisten Staaten werden nicht demokratisch regiert, sondern durch Parteidiktaturen oder Militärjuntas. Die Staaten, die auf diese Weise regiert werden, gehören zu den volkreichsten der Erde. Wenn ihnen die internationale Verfassung eine Rechtsmacht verliehe, die nach Maßgabe der zahlenmäßigen Stärke ihrer Untertanen auszuüben wäre, so wäre es keineswegs sicher, daß sie auch weise gebraucht würde. Aber dieser Einwand bezieht sich hauptsächlich auf die Praktikabilität einer Einführung der Weltmehrheitsregel unter den bestehenden Bedingungen. Er berührt kaum die Frage, ob es rechtens wäre, das Mehrheitsprinzip zu übernehmen, sofern es gelänge, ein Beteiligungsschema zu entwickeln, das den Völkern der Welt gestattet, ihre Meinung sehr viel unmittelbarer zum Ausdruck zu bringen, oder die Regierenden auf irgendeine Weise gezwungen werden könnten, ihre Untertanen auch wirklich zu befragen, bevor sie ihre Stimme abgeben. Selbst wenn man unterstellt, daß es gelänge, die Mehrheitsregel zu einem anerkannten Prinzip internationaler Politik zu machen, wird niemand vermuten, daß es rasch in eine institutionelle Form umgesetzt werden könnte. Zunächst würde es, wie der Antikolonialismus, als ein wirksames moralisches Argument und als ein Rechtfertigungsgrund dienen bei der Anwendung bestimmter Arten von Pression oder Gewalt durch einen Staat gegenüber einem anderen.
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3. Eine nirhtexistierende Gemeinsrhaft Gegen den Gedanken der Weltmehrheitsregel kann ein viel ernsthafterer Einwand erhoben werden. Gibt es denn überhaupt eine Weltgemeinschaft der Menschen, eine Gemeinschaft, die die ganze Menschheit umfaßt? Oder gibt es nur eine internationale Gemeinschaft, die aus souveränen Staaten besteht? Wenn nämlich die Weltgemeinschaft nicht mehr ist als eine Gemeinschaft souveräner Staaten, dann werden die Argumente für die Mehrheitsregel nicht eben gestärkt. In erster Linie werden diese Argumente darauf gerichtet sein zu zeigen, daß innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft eine Mehrheit von Staaten die Minderheit binden sollte. Das bedeutet ganz einfach, daß kleine Staaten mit geringer Bevölkerung, die zahlreicher sind als große Staaten, in der Lage wären, in Weltangelegenheiten eine beherrschende Rolle zu spielen und Entscheidungen zugunsten einer Minderheit der Menschheit herbeizuführen, die in einer Mehrzahl kleiner Staaten lebt. Auf jeden Fall sind die Argumente für die Mehrheitsregel nicht zwingend, soweit die Staaten hiervon betroffen werden. Staaten sind ihrer Natur nach nicht gleich, was immer gewisse Naturrechtstheoretiker behauptet haben7 • Sie unterscheiden sich stark nach Größe, Bevölkerung, Reichtum und Macht, und zwar weit mehr als menschliche Wesen. Indien hat eine mehr als zweitausendmal so große Bevölkerung wie Barbados. Wenn Iwan zweitausendmal so groß und stark wäre wie Piere, könnte man kaum behaupten, die Menschen seien von Natur aus gleich. Die Gemeinschaft der Staaten ist eine Vereinigung von Natur aus Ungleicher, die aufgrund einer Fiktion als gleiche und autonome Souveräne behandelt werden. Natürlich kann man Fiktion auf Fiktion häufen, wenn man das will. Christian Wolff, der Fiktionen liebte und ihren Gebrauch damit rechtfertigte, daß Astronomen angeblich die Bewegung der Planeten mit Hilfe von Fiktionen berechnen8, folgerte aus der fiktiven Freiheit und Gleichheit der Staaten, daß die internationale Gemeinschaft, die maxima civitas, gebunden ist an den Willen der Mehrheit der Staaten, der in der Form dessen zum Ausdruck gelangt, was er das freiwillige Recht der Nationen nennt und dessen Inhalt aus den Anschauungen der zivilisierteren Völker abgelesen werden kann9 • Wir sollten aber nicht bestrebt sein, den Umfang der fiktiven Gleichheit der Staaten auszudehnen, außer im Rahmen rechtmäßiger Interpretation, und selbst dann ist dies durchaus nicht unbedenklich. Denn in einer Gesellschaft von Ungleichen werden die Argumente für die Mehrheitsregel nicht gerade gestärkt. Welches Mittel man auch anwen7
8 8
Chr. Wolff, Jus Gentium methodo scientifica pertractatum, 1794, 1.16. Wolff, Jus Gentium, 1.21. Wolff, Jus Gentium, 1.20.
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det, die Minderheit von Ungleichen kann größeres Gewicht besitzen als die Mehrheit. Das Argument für die Weltmehrheitsregel muß deshalb gestützt werden auf die Annahme der Existenz einer Weltgemeinschaft von Männern und Frauen, aber nicht von Staaten. Gibt es eine derartige Gemeinschaft? Wenn es sie nicht gibt, ist der Status der Menschenrechte in der Tat gefährdet. Denn in diesem Falle können die Menschen keine Rechte haben, außer als Bürger eines besonderen Staates. Die Staaten selbst besitzen Rechte als Mitglieder der internationalen Staatengemeinschaft. Aber die Menschen als solche haben überhaupt keine eigenen Rechte, es sei denn abgeleitete, d. h. nur insofern, als Staaten willens sind, sie ihren eigenen Untertanen einzuräumen oder den Untertanen anderer Staaten zu gewähren. Die sogenannten "Menschen"Rechte stehen in diesem Falle so viel mehr unter der Kontrolle der Staaten als unter derjenigen der Menschen, daß man sie viel genauer als staatliche und nicht als Menschen-Rechte bezeichnen kann. Und dies ist eine zutreffende Widerspiegelung des aktuellen Status der Menschenrechte in der Welt von heute. Im Prinzip muß augenscheinlich jedes Recht, das von jemand geltend gemacht wird, von demselben als Mitglied einer bestimmten Gemeinschaft geltend gemacht werden. Im Naturzustand kann jemand Rechtsansprüche erheben, aber wer soll ent· scheiden, ob sie gerechtfertigt sind oder nicht? Nach Maßgabe dieser Terminologie, die hier zugrunde gelegt wird und die zweifellos eine positivistische ist, sind die Rechte jeweils Bestandteile einer bestimmten Gemeinschaft, welcher der vorgebliche Rechtsträger als Mitglied angehört. Bloße Forderungen sind dies nicht. Gibt es nun eine Gemeinschaft, welche die ganze Menschheit umfaßt, eine Weltgemeinschaft? Gewiß ist oft behauptet worden, daß es sie gibt. Alle Männer sind Brüder, alle Frauen sind Schwestern. Aber die rhetorische Behauptung ist noch kein Beweis. Wenn es diese Gemeinschaft überhaupt gibt, dann bilden die Menschen in ihrer Gesamtheit eine Gruppe. Um welche Art Gruppe handelt es sich dabei? Worin bestehen ihre gemeinschaftlichen Absichten und Aktivitäten? Welches sind ihre gemeinschaftlichen Regeln oder Konventionen? Die magna societas, wie Christian Wolff sie nennt1°, die umfassende Gesellschaft, muß, wenn überhaupt etwas, dann eine Sekundärgruppe sein: eine Gruppe 11, die sich nicht zusammensetzt aus Personen, die alle miteinander in Interaktion treten wie eine Fußballmanschaft, sondern die - wie walisische Sprecher oder Fußballspieler im allgemeinen - in einer Kette von Interaktionen verknüpft sind derart, daß 10 11
Wolff, Jus Naturae, 7.1.142. Honore, What is a Group? ARSP 61 (1975), S. 161 -180, 161, 177.
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jeder in Interaktion mit einigen Mitgliedern der Gruppe steht, aber niemand mit allen anderen. So weit, so gut. Zweifellos haben alle Menschen mit einigen anderen Kontakt, und alle Grenzen, seien es nationale, rassische oder kulturelle, sind an irgendeinem Punkt durchlässig. Wie sieht es nun mit den gemeinschaftlichen Zielen und Aktivitäten aus? W olff bemerkt hierzu, das Ziel der umfassenden Gesellschaft der Menschheit sei gegenseitige Hilfe. Ihre von der Natur abgeleiteten Hauptregeln bestehen darin, die Eintracht zu gewährleisten und Zwietracht zu vermeiden, und sie gibt jedem Mitglied das Recht, sich denjenigen Handlungen zu widersetzen, die Unfrieden schaffen würden. Sie wird nicht verdrängt durch die Ausbildung der bürgerlichen Gesellschaft. Ich bin der Darstellung von Wolff gefolgt, weil er derjenige Theoretiker ist, von dem man am ehesten Hilfe erwarten darf bei der Diskussion über die Existenz der umfassenden Gesellschaft der ganzen Menschheit. Obgleich seine Auffassungen von VatteP 2 zurückgewiesen wurden und auch bei internationalen Rechtsgelehrten späterer Generationen keinen Widerhall fanden, bedeutet dies lediglich, daß seine Nachfolger gewisse unangenehme Fragen unter den Teppich gekehrt haben. Wenn es eine Gemeinschaft der ganzen Menschheit gibt, sagt W olff, dann muß sie eine Demokratie sein, ein status popularis 13, und sie muß daher auch durch die Mehrheitsregel beherrscht sein. Aus wie man wohl sagen kann - technischen Gründen, wie etwa der Tatsache, daß die ganze Weltbevölkerung sich nicht an einem Platz versammeln kann, um Angelegenheiten von öffentlichem Interesse zu diskutieren14, vertrat er die Auffassung, daß die von ihm als Gesellschaft Gleicher gedachte Staatengemeinschaft für die Gemeinschaft aller Menschen handelt und - wie W olff sagt - selbst an die Meinungen der Mehrheit gebunden ist. Die Meinungen der Völker bilden eine Art Naturrecht und sollen durch Beachtung der Auffassungen der zivilisierteren unter ihnen festgestellt werden. Es mag sein, daß Wolff unter den modernen Bedingungen, unter denen sich Kommunikationen und Tech12 E. de Vattel, Le Droit des Gens ou Principes de la Loi Naturelle, 1758, Vorwort, S. 9. Was Vattel wirklich meint, ist folgendes: "Ich kann keine andere natürliche Gemeinschaft unter den Nationen anerkennen als die, welche die Natur unter allen Menschen geschaffen hat. Es ist für jede bürgerliche Gesellschaft (civitas) wesentlich, daß jedes Mitglied einen Teil seiner Rechte an die Gesamtheit abtritt und daß es eine Autorität gibt, die in der Lage ist, allen Mitgliedern Befehle zu erteilen, Gesetze zu geben und gegen jene Zwang anzuwenden, die den Gehorsam verweigern. Eine ähnliche Vorstellung kann hinsichtlich der Nationen nicht gelten. Jeder souveräne Staat beansprucht, von allen anderen Staaten unabhängig zu sein und ist es auch." Vattel gesteht daher zumindest formell die Existenz einer natürlichen Gemeinschaft aller Menschen zu. 13 Wolf/, Jus Gentium, 1.19.20. 14 Wolff, Jus Gentium, 1.20.
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nologie so weit entwickelt haben, die Auffassung vertreten hätte, die Meinungen der Mehrheit der Menschen sollten eher die Oberhand gewinnen als die der Staaten und daß das Recht der umfassenden Gemeinschaft nicht bloß von Natur, sondern aufgrund von Vereinbarung gelte. Wenn wir seinen Gedankengang auf diese Weise rekonstruieren, lassen sich dann Fehler in seiner Beweisführung nachweisen? Sicherlich ist sie angreifbar. Menschen hassen einander ebensosehr wie sie einander lieben. Die Liebe zu Ausländern, Ungläubigen oder Dissidenten ist sicherlich kein Merkmal subglobaler menschlicher Gemeinschaften. Es mag sein, daß nichts nützlicher ist für den Menschen als ein anderer Mensch und nichts nützlicher ist für ein Volk als ein anderes Volk15, aber sind sie sich dessen bewußt? Empfinden sie die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit? Viele werden denken, daß Wolff in seiner Auffassung vom Menschen einen Standpunkt bezieht, der- je nach ihrer eigenen Auffassungentweder zu optimistisch oder zu pessimistisch ist. Beide Einstellungen sind vertretbar, denn wenn alle Menschen verpflichtet sind, allen anderen zu helfen, so werden wir mit einer verwirrenden Fülle von Pflichten belastet und werden uns vielleicht wie Eremiten nach einem Leben in Einsamkeit sehnen18 • Die Lage wäre ungleich schwieriger, wenn jemand den Gedanken wirklich ernst nähme, alle Menschen seien Brüder. Aber angenommen, daß das 18. Jahrhundert das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit aller Menschen zu stark betonte, so erscheint die Vermutung doch angebracht, daß seither, insbesondere in den letzten 30 Jahren, das Zusammengehörigkeitsgefühl tatsächlich gewachsen ist. Bei der Ausbeutung der Erde und des sie umgebenden Weltraums zu ihrem eigenen Vorteil sind sich die Menschen zunehmend ihrer Verantwortung bewußt. Ihr gemeinschaftliches Interesse besteht darin, die Schätze der Erde, ihre Bodenschätze, Tiere und Pflanzen, zum Wohle der Menschheit zu nutzen. Sie wissen, daß wir uns gegen Gefahren verteidigen müssen, die der Allgemeinheit drohen, insbesondere gegen die Bedrohung durch Bakterien und Viren, die Krankheiten in weltweitem Ausmaß verursachen können. Sie wissen, daß natürliche und künstlich erzeugte Strahlung das Überleben der Menschheit gefährden und nur Zusammenarbeit diese Gefahren abwehren kann. Sie sehen die Notwendigkeit, die Versehrnutzung von Luft und Wasser zu verhindern. Es ist nicht zu weit hergeholt zu vermuten, daß die Menschen Wolff, Jus Gentium, 1.8. Jus Naturae, 7.1.139 leugnet das Recht des Menschen, das Leben eines Einsiedlers zu führen. Aber im Hinblick auf welche sozialen Schranken könnte ihm dieses Recht abgesprochen werden, wenn man einmal annimmt, daß der Mensch in der Lage ist, ein solches Leben praktisch zu verwirklichen? 15
1a Wolff,
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insbesondere, aber nicht ausschließlich die gebildeteren - sich der gemeinschaftlichen Interessen aller an der Erhaltung der Erde als Heimstatt der Menschen bewußt sind.
~
Wenn sich nun in dem einen Falle sagen läßt, daß Menschen gemeinsame Ziele haben, so fragt es sich, ob wir unter diesem Fall auch ihre Existenz als Gruppe erfassen können, indem wir auf gemeinschaftliche Vereinbarungen oder Regeln hinweisen, die sich auf die Verwirklichun~ solcher Ziele beziehen. Auch hier ist Zweüel angebracht, aber ich denke an zwei Konventionen, die sich als Prinzipien für die Lebensführung der Weltgemeinschaft eignen mögen. Die eine besteht darin, daß Menschen übereinstimmend die Interessen ihrer eigenen Art denjenigen der Tiere, Pflanzen und unbelebten Natur vorziehen, außer soweit letztere von Nutzen für Menschen sind. Wir stimmen darin überein, unsere eigenen Interessen vorrangig zu behandeln und die Interessen anderer Arten gegenüber unseren eigenen Interessen hintanzustellen, obgleich diese einen untergeordneten Wert haben mögen. Und warum auch nicht? Denn wir besitzen größere Fähigkeiten zu intelligentem und autonomem Verhalten als Tiere oder Pflanzen. Die andere besteht darin, daß wir übereinstimmend die Notwendigkeit bejahen, auch künftigen - und nicht nur den jetzt lebenden - Generationen Rechnung zu tragen. Das gilt nicht nur bezüglich des Problems der Umweltverschmutzung und der Gefahr von Strahlenschäden, sondern auch für die alltägliche Praxis, z. B. für die Landwirtschaft der ganzen Welt. Es gibt also eine- wenn auch zweifellos recht unbestimmte- Norm, die das Überleben der Menschheit begünstigt. Letztendlich anerkennen wir alle eine Kategorie von Feinden der Menschheit, von Personen, deren Taten die Zukunft des Planeten bedrohen oder eine Verachtung des Menschengeschlechts an den Tag legen, wie z. B. Hitler oder Amin. Wir würden ihre Beseitigung als eine Wohltat für die Menschheit ansehen. Allem Anschein nach läßt sich daher in diesem Falle mit vertretbaren, aber nicht zwingenden Gründen sagen, daß eine umfassende Gemeinschaft aller Menschen in Wirklichkeit existiert und daß sie den Anforderungen genügt, die im Falle subglobaler Gemeinschaften gestellt werden, um den Nachweis zu führen, ob eine Gruppe existiert. Wenn das so ist, dann hat das weitreichende Konsequenzen, weil diese Gruppe unabhängig von den Staaten besteht, denen ihre Mitglieder gleichfalls angehören. Die Staaten könnten höchstens als diejenigen auftreten, welche die Interessen der umfassenden Gemeinschaft der Menschen in ihrem jeweiligen lokalen Bereich repräsentieren. In der Hauptsache finden die Aktivitäten der Weltgesellschaft direkt und ohne die Vermittlung des souveränen Staates statt. Unser eigener Weltkongreß ist selbstverständlich ein Beispiel für diesen direkten Kontakt, denn er ist auf die Verwirklichung des Friedens und die Vermeidung von Konflikten unter 16 Festschrift für Helmut Schelsky
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den Menschen gerichtet, also auf Ziele, die Christian W olff vollauf gebilligt hätte. Aber wenn die Ziele der Weltgemeinschaft eher begrenzter Art sind, wie vorgeschlagen worden ist, und nicht den ambitiöseren Charakter tragen, den sie für Wolff besaßen, dann muß der Anwendungsbereich des Prinzips der Mehrheitsregel in der maxima civitas in ähnlicher Weise begrenzt sein. Denn die Mehrheitsregel gilt nur für die Entstheidung von Fragen in Angelegenheiten der besonderen Gemeinschaft, deren Mitglieder Teil dieser Gemeinschaft sind, nicht in jeder beliebigen Angelegenheit, welche die Mitglieder zu debattieren wünschen. Die Mehrheitsideologie kann das ultra vires-Prinzip nicht außer Kraft setzen. Eine Gemeinschaft kann nur innerhalb der Ziele tätig werden, die ihre Mitglieder ihr gesetzt haben. Das wird leicht übersehen, weil die souveränen Staaten sich selbst weitgehend von den Fesseln des ultra vires-Prinzips befreit haben und eine uneingeschränkte Hoheitsgewalt über die Interessen ihrer Untertanen geltend machen. Aber das zeigt bloß, daß Menschen mit Hilfe eines ausschließlichen oder nahezu ausschließlichen Machtmonopols in der Lage sind, Zwang auf andere Menschen auszuüben, aber nicht, daß sie gerechtfertigt sind, dies zu tun.
4. Die Unmöglicllkeit des Austritts Die Auffassung, daß die Mitglieder einer Gemeinschaft in Gemeinschaftsangelegenheiten an die Entscheidungen der Mehrheit gebunden sind, wirkt überzeugender, wenn es den Mitgliedern freisteht, aus der Gemeinschaft auszutreten. Die Minderheit der Mitglieder einer freiwilligen Vereinigung ist gebunden, weil sie durch ihren Nichtaustritt bekundet, daß sie mit der Bindung einverstanden ist. Grotius weist darauf hin, in politischen Vereinigungen, wie etwa den Staaten, sei es in der Regel so, daß Mitglieder austreten dürfen, aber er räumt ein, es gebe Völker, wie das der Moskowiter, bei denen dies nicht gelte17• Bedauerlicherweise kann nicht berichtet werden, daß die Moskowiter ihre Gepflogenheiten geändert haben. Vielmehr hat sich ihnen eine große Schar von Nachahmern angeschlossen. Nun ist die Weltgemeinschaft ein schlagendes Beispiel für eine Gesellschaft, die von ihren Mitgliedern nicht freiwillig verlassen werden kann, es sei denn auf dem drastischen Wege des Selbstmordes. Daraus folgt nicht, daß die einzelnen Mitglieder der Weltgemeinschaft oder der Staaten, die ihren Staatsangehörigen den Austritt verbieten, darin übereinstimmen oder es ruhig hinnehmen, an die Entscheidungen der Mehrheit ihrer Gesellschaften oder überhaupt an irgendwelche EnttT
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scheidungen ihrer Gesellschaften gebunden zu sein, wie immer sie zustande kommen mögen. Angesichts dieser Sachlage sind Argumente, die sich auf einen Gesellschaftsvertrag oder einen Quasi-Vertrag stützen, wie Wolff es tut, völlig irrelevant, ein Umstand, der ihre Wiederbelebung durch einige angesehene moderne Theoretiker nicht verhindert hat1 8 • Aber die Tatsache, daß die Mitglieder dieser geschlossenen Gesellschaften nicht darin übereinstimmen, durch Mehrheitsentscheidungen oder überhaupt durch irgendwelche Entscheidungen gebunden zu sein, beweist nicht, daß sie in Wirklichkeit nicht doch an sie gebunden sind. Die Vorstellung, wir seien nur gebunden, wenn wir darin übereinstimmen, gebunden zu sein, ist die Quelle endloser Mißverständnisse in der Rechts-, Moral- und Politischen Philosophie. Abgesehen vom Konsens müssen wir, nach Modestinus 19 , das Gewohnheitsrecht und gewisse Sachzwänge als grundlegende soziale Bande berücksichtigen. Der einzig mögliche Prätendent, der für die Weltgemeinschaft streitet, ist die Notwendigkeit (necessitas). Die Angelegenheiten der Weltgemeinschaft müssen irgendwie entschieden werden; und da die Erhaltung unseres Planeten als Heimstatt der Menschen für alle Bewohner der Erde von gleicher Bedeutung ist, erscheint es vernünftig, ihnen für die Entscheidung in diesen Angelegenheiten gleiche Rechte einzuräumen. Deshalb sollte die Mehrheit der Menschen den Sieg über die Minderheit davontragen. Aber da die Notwendigkeit und nicht der Konsens die Quelle der Verpflichtung ist, daß die Minderheit sich beugt, erscheint es als vernünftig, diese Verpflichtung auf diejenigen Fragen zu beschränken, die im Hinblick auf die Ziele der Gemeinschaft von uns notwendigerweise entschieden werden müssen. Wir sind dieser Gemeinschaft nicht freiwillig beigetreten, und wir können sie auch nicht verlassen, ausgenommen bei unserem Tode. Wir sind verpflichtet, uns jenen Maßnahmen zu unterwerfen, die die Mehrheit als notwendig ansieht, um die Erde als Heimstatt des Menschengeschlechts zu erhalten und die unbelebte Natur zu schützen. Aber wir unterwerfen uns nicht jener Art von unbegrenzter Regulierung und Zwang, die der souveräne Staat gegenüber seinen Untertanen mit Erfolg geltend macht20 •
z. B. Rawls, A Theory of Justice, S. 11 f. Mod. D. 1.3.40.: ergo omne ius aut consensus fecit aut necessitas constituit aut firmavit consuetudo. 20 Grotius, De iure belli et pacis, 2.5.23 verteidigt diese unbegrenzte Hoheitsgewalt und beruft sich auf Aristoteles. 18
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Antony M. Honore 5. Eine Gesellschaft von Ungleichen?
Die voraufgehende Diskussion setzt voraus, daß die Weltgemeinschaft eine Gesellschaft von Gleichen ist und daß deshalb der Schluß gezogen werden könnte, die Mehrheitsentscheidung sei die "natürliche" Methode, um strittige Probleme zu lösen. Aber das heißt selbstverständlich eine Menge vorauszusetzen. Obwohl man den Gedanken der Gleichheit aller Menschen allenthalben auf den Lippen führt, wird er in der Praxis von einer großen Anzahl von Menschen nicht als Richtschnur ihres Verhaltens akzeptiert. Sicherlich stünde die Behauptung der Existenz einer weltweiten Gesellschaft von Gleichen auf tönernen Füßen, wenn die Menschheit hinsichtlich ihrer Stärke, ihrer Intelligenz und ihrer sonstigen Fähigkeiten so verschieden wäre wie die Staaten. Die internationale Gemeinschaft ist keine Gesellschaft von Gleichen, es sei denn kraftrechtlicher Fiktion. Um die Argumentation zugunsten von Mehrheitsentscheidungen zu unterstützen, ist es jedoch nicht notwendig, daß unsere Fähigkeiten genau gleich sein müßten. Eine ungefähre Annäherung an gleiche Fähigkeiten ist hinreichend, weil die Schwierigkeiten, die mit der Bestimmung des exakten Befähigungsgrades jedes Menschen verbunden sind, mehr als aufgewogen werden durch die Auseinandersetzungen, die jeder derartige Vorgang verursacht, sofern nicht der Kontrast so deutlich ist, daß die weniger Befähigten nicht mehr in der Lage sind, den Unterschied zu leugnen bzw. zu protestieren. Die Gewichtung von Stimmen und die Feststellung der besseren Gründe sind ein zu schwieriger und zu vielfältigen Unterteilungen führender Vorgang, um ihn bei Fehlen klarer und unstreitiger Kriterien der Gewichtung oder Vorrangigkeit durchzuführen11. Wenn wir die irdische Szenerie als unvoreingenommene Beobachter zu überblicken versuchen, so können wir zu der Schlußfolgerung gelangen, daß - obwohl eine tiefe Kluft zwischen den Fähigkeiten der Menschen und selbst der fähigsten Tiere besteht - die Unterschiede innerhalb des Menschengeschlechts sich in relativ engen Grenzen halten, wenn man von denjenigen Personen einmal absieht, die an ungewöhnlichen Krankheitszuständen leiden. Es ist sicherlich nicht notwendig, die Existenz genetischer oder kultureller Unterschiede zwischen den Menschen zu leugnen, um zu dem Ergebnis zu gelangen, daß für die Zwecke der Aufstellung eines geeigneten Entscheidungsverfahrens die menschliche Gleichheit eine feste Größe ist. Es besteht insbesondere kein Grund für die Vermutung, die meisten Menschen seien nicht fähig, sich ein Urteil zu bilden über Fragen, welche die Zukunft der Erde und ihre Erhaltung als Heimstatt für sie und ihre Nachkommen betreffen. Ich beziehe mich dabei selbstverständ11
Wolf/, Jus Naturae, 7.1.72 -73, 76-77.
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lieh nicht auf die Lösung technischer Rätsel, sondern auf die allgemeinen Grundsätze, die hier zu verfolgen sind. Wir brauchen nicht die physikalischen Gesetze der Radioaktivität zu kennen, um die Notwendigkeit einzusehen, die Verseuchung von Luft und Wasser auf ein Minimum zu beschränken. 6. Ungleiche Interessen?
Es gibt keine Garantie dafür, daß bei der Entscheidung der Belange einer Gemeinschaft durch die Mehrheit das Ergebnis darin besteht, den Nutzen zu maximieren22• Wenn in einer bestimmten Angelegenheit das Interesse der Minderheit im ganzen vordringlicher ist als das der Mehrheit, kann die Entscheidung im Sinne der Mehrheitsmeinung zu einem Verlust für die Minderheit führen, der schwerer wiegt als jeder Gewinn für die Mehrheit. Nur wenn die zur Entscheidung stehende Angelegenheit für alle mehr oder weniger gleich bedeutsam ist, wird die Mehrheitsentscheidung mit einiger Wahrscheinlichkeit zu einem Ergebnis führen, das den Nutzen maximiert. In der Tat ist dies einer der Gründe, warum die Mehrheitsregel zur Unterdrückung führen kann. Die Gefahr wächst, wenn die Minderheitskonstellation sich nicht auf eine bestimmte Angelegenheit beschränkt, sondern in einer Vielzahl von Fällen fortsetzt, das heißt, wenn es eine tiefe und relativ dauerhafte Teilung der Gesellschaft in eine größere und eine kleinere Gruppe gibt, wofür das politische Leben viele Beispiele liefert. Dieser Einwand wäre überzeugend, wenn die Weltgemeinschaft so organisiert wäre, daß beispielsweise die nicht erdölproduzierenden Länder in der Lage wären, das Öl der produzierenden Länder ohne Entschädigung zu enteignen. Aber er ist nicht annähernd so überzeugend, wenn das, was man ins Auge faßt, eine Gemeinschaft ist, die sich um die Erhaltung unseres Planeten als gemeinsames Zuhause der Menschen kümmert, was unter anderen Maßnahmen auch die Erhaltung seiner Erdölressourcen beinhalten kann. Der Umstand, daß die Interessen der Minderheit stärker sein können, liefert höchstens einen Grund dafür, daß der Beratungsprozeß, der durchlaufen werden muß, bevor eine Entscheidung durch die Mehrheit der Menschheit getroffen wird, ein sehr gründlicher sein sollte, in dem alle Argumente über etwaige Vor- und Nachteile geprüft werden, bevor die endgültige Entscheidung gefällt wird.
21 Einige dieser vielschichtigen Probleme werden diskutiert von: Sir John Hicks, The Rationale of Majority Rule: An Economist's Approach
(im Druck).
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7. Ist die Weltmehrheitsregel unvereinbar mit der Autonomie von Individuum und Gruppe? Die Mehrheitsregel erzeugt Verpflichtungen, die nicht auf dem Konsens aller basieren, und bindet die Minorität gegen ihren Willen. Folglich stellt sie eine Bedrohung der Autonomie des Menschen und der Menschenrechte dar. Während jedem Mitglied der Gemeinschaft das Recht eingeräumt wird, sich an gewissen Entscheidungen in gleicher Weise zu beteiligen, setzt ihn das Mehrheitsprinzip der Gefahr aus, auch ohne seine Zustimmung gebunden zu werden. Tatsächlich beinhaltet auch das Prinzip der Einstimmigkeit, aufgrund dessen die internationale Gemeinschaft vorwiegend operiert, Beschränkungen der Autonomie ihrer Einheiten, daß Staaten, die sich einer einstimmigen Vereinbarung angeschlossen haben, dann nicht mehr hinter diesen Zustand zurückkehren können, während im Zustand reiner Autonomie eine heute getroffene Vereinbarung morgen nicht mehr bindet (vgl. hierzu die Doktrin der Parlamentssouveränität, wie sie im Vereinigten Königreich verstanden wird). Auch die Sympantonomie ist eine Beschränkung der Autonomie der einzelnen Einheiten: tatsächlich sind die Autonomie, die Sympantonomie und die Pleonomie (oder Mehrheitsregel) Punkte auf einer Skala der Freiheit der einzelnen Einheiten, die sich um das Recht der Minderheit und die Autokratie erweitern ließe. Wir haben ein Bedürfnis nach persönlicher Freiheit und Gruppenautonomie, und eine zufriedenstellende politische Struktur muß beides garantieren. Wir haben das Bedürfnis, uns irgendwo heimisch zu fühlen. Aber diese Behaustheit des Menschen ist durchaus relativ. Der Mensch fühlt sich in durchaus unterschiedlichem Grade zu Hause in seiner Familie, unter seinen Mitbürgern, unter seinen Landsleuten, in seiner Gewerkschaft. Die Gruppen, denen er angehört, stellen ihm gegenüber unter anderem die Garanten einer vikariierenden Autonomie dar, die er als Mitglied einer Gruppe genießen kann, in der er sich geborgen fühlt und die eine scharfe Trennlinie zieht zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern, d. h. gegenüber denjenigen, die nicht zu der in Frage stehenden Familie, Gemeinde oder staatlichen Gemeinschaft gehören. Die Stärke des Nationalismus in diesem Jahrhundert zeigt, im Gegensatz zu den Erwartungen der Theoretiker des 19. Jahrhunderts, wie wichtig es in psychologischer Hinsicht für die Menschen ist, ein Gefühl relativer Geborgenheit zu besitzen, auch im Hinblick auf eine sehr große Gruppe. Niemand von uns möchte ganz ohne Familie sein. Wir würden jedoch ein starkes Gefühl der Unterdrückung empfinden, wenn die Weltinstitutionen jene Art unbegrenzter Hoheitsgewalt entwickeln würden, die der Staat zu erlangen vermochte. Denn wir brauchen auch die Freiheit von unseren Familien, im buchstäblichen wie im
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übertragenen Sinne, und von unseren Nationalstaaten. Daher brauchen Weltinstitutionen nicht unterdrückerisch zu sein, sofern sie- wie kleinere Gruppen, allerdings mit der bemerkenswerten Ausnahme des Staates - eine Hoheitsgewalt gewährleisten, die durch die Aufgaben der Weltgemeinschaft begrenzt wird. Die einzig annehmbare Form der Weltverfassung oder maxima civitas wird dem Muster eines Föderalismus der Staaten folgen. Zum Abschluß möchte ich einige recht allgemeine Schlußfolgerungen zusammenfassen. Obwohl man darüber streiten kann, gibt es offensichtlich eine menschliche Gemeinschaft mit begrenzten Zielen, die sich auf die Erhaltung der Erde als Heimstatt des Menschengeschlechts richten. Es gibt keinen Grund, warum die menschlichen Angelegenheiten, die sich auf diese Ziele beziehen, nicht durch die Mehrheit der Menschheit entschieden werden sollten. Aber das Beispiel der souveränen Staaten weist auf zwei Gefahren hin. Die eine erhebt sich dort, wo die Mehrheit in einem Staate eine Macht erlangt hat, die nur durch Argumente gerechtfertigt werden kann, welche sich aus der menschlichen Gleichheit ableiten, aber dann aufhört, die menschliche Gleichheit zu respektieren und die Minderheit nachhaltig unterdrückt, insbesondere eine dauerhafte rassische, religiöse, sprachliche oder kulturelle Minderheit. Die zweite Gefahr besteht darin, daß die Regierenden einer Gemeinschaft, die sich zur Verfolgung eines begrenzten Zieles formiert hat, das ultra vires-Prinzip mißachten und eine unbegrenzte Kompetenz beanspruchen, die Angelegenheiten ihrer Mitglieder zu kontrollieren, indem sie sich bei ihrem Tun auf ein ausschließliches oder doch fast ausschließliches Machtmonopol stützen. Die Menschenrechte haben nur dann eine Zukunft, wenn Wege gefunden werden können, um auf seiten der Staaten ein derartiges Verhalten zu verhindern, und auf seiten der demnächst zu schaffenden Weltinstitutionen zu verhüten, daß diese sich ähnlich verhalten. Ich weiß nicht, ob und wie das getan werden kann. Aber dessen bin ich gewiß: die einzigen Vorkehrungen, aufgrundderen die Weltgemeinschaft in der Lage sein wird, in Harmonie und Glück zu leben, werden jene sein, die einerseits von der menschlichen Gleichheit und der mit ihr verknüpften Mehrheitsregel ausgehen und andererseits unseren Bedürfnissen nach einem Gemeinschaftsleben Rechnung tragen, daß die Autonomie der menschlichen Persönlichkeit und der Gruppe berücksichtigt.
Der Begriff des Eigentums in geschichtlicher und gegenwärtiger Betrachtung im Bereich der öffentlichen Planung Von Stig J "rgensen Der dänische Philosoph S"ren Kirkegaard, sagte einmal Mitte des vorigen Jahrhunderts: "Alle betrachten es als ihre Aufgabe, ihren Mitmenschen das Dasein zu erleichtern, deshalb meine ich, daß meine Aufgabe darin bestehen muß, es ihnen zu erschweren." Die Aufgabe des Philosophen ist es mit anderen Worten, den Menschen lästige Fragen zu stellen, so daß man sie zwar nicht am Sünden hindert, doch aber vielleicht daran, in der Sünde zu sterben. Die Funktion der Philosophie ist hermeneutisch. Ihre Aufgabe ist es, klarzulegen, wovon wir sprechen, und weshalb wir uns der Worte und Begriffe bedienen, die wir anwenden. Insoweit können wir feststellen, daß die Philosophie kritisch ist, oder wie Adorno es ausdrückte, negativistisch. Sie fragt also "weshalb" und "weshalb nicht". Wenn man Eigentum und öffentliche Planung zum Thema gewählt hat, wird dies wohl den meisten als ein ganz natürliches Diskussionsthema vorkommen. Vor bloß 100-150 Jahren aber wäre ein solches Thema am ehesten sinnlos gewesen1 • Jedenfalls hätte man es für eine Vermischung von Problemen des öffentlichen und des privaten Rechts gehalten. Wenn wir uns heute des Begriffs Eigentum und öffentliche Planung bedienen, setzt dies also voraus, daß es sowohl ein öffentliches als auch ein privates Recht und im privaten Recht "subjektive Rechte" gibt. Die wenigsten werden sich heute wohl klarlegen, daß eine solche Problemstellung verhältnismäßig neuen Datums ist, und daß die Juristen früherer Zeiten einen ganz anderen Gedankengang hatten. Eine philosophische Analyse, die die Voraussetzungen unseres Daseins analysiert, muß deshalb in der Geschichte Hilfe suchen, um die sozia1 Von Theorien des Rechtsbegriffes im allgemeinen, siehe Alf Ross, Virkelighed og gyldighed i retsl~ren (1934) Kap. VIII- XII (p. 168 ff.); Karl Olivecrona, Law as fact (2. ed.) 1971, Ch. 6 (p. 135 ff.); R. Dubischar, Grundbegriffe des Rechts (1968) Kap. 4 (p. 30 ff.); von Begriffen im allgemeinen, siehe Stig Jergensen, Typologie und "Realismus" in der neueren Rechtswissenschaft (1971); siehe auch ders., in: Recht und Gesellschaft (1970) p. 16 ff., und in der Geschichte des Privatrechts, ders., Vertrag und Recht (1968) p. 49ff.
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len Einrichtungen, die zu diesen gehörenden Begriffe und deren Funktion unter den jeweiligen Gesellschaftsverhältnissen zu veranschaulichen. Dabei kann man auch nicht umhin, die politische Funktion der Einrichtungen und der Begriffe darzulegen. Im Folgenden werde ich es versuchen, auf den Begriff des Eigentums, dessen geschichtliche Entwicklung und Zusammenhang mit den Gesellschaftsverhältnissen und der politischen Organisation ein Streiflicht zu werfen. In der äußeren Umwelt gibt es das Eigentum nicht, weder als bestimmte Objekte, noch als Eigenschaften der Objekte. Das Eigentum ist eine sogenannte "institutionelle Tatsache", d. h. eine Mehrheit von Elementen, die mit Hilfe von Regeln organisiert sind, die von einem sich in menschlichen Bedürfnissen und Überlegungen begründenden Zweck gesteuert werden. Wir müssen also unterscheiden zwischen den tatsächlichen Verhältnissen, d. h. den menschlichen Bedürfnissen und Tätigkeiten im Vergleich zur Umwelt, und den Vorstellungen, die sich die Menschen darüber machen2 • Machen wir uns diese Unterscheidung klar, so werden wir auch verstehen, weshalb es grundsätzlich falsch ist, von Eigentum in einer langen geschichtlichen Perspektive zu sprechen, und weshalb es doch sinnvoll ist, dies zu tun. Das fundamentale Bedürfnis der Menschen, Gegenstände ihrer Umwelt zur Befriedigung ihrer Zwecke zu verwenden, muß wahrscheinlich durch alle Zeiten hindurch verhältnismäßig unverändert gewesen sein. Die Menschen haben sich ebenso wie die Tiere Nahrung und andere Gegenstände angeeignet, wie sie auch individuell oder gruppenweise ein Gebiet abgegrenzt und bewahrt haben, das die materielle Grundlage der Existenz des Individuums oder der Gruppe darstellte. Darüber hinaus war der Mensch aber fähig, Objekte für Geräte und sonstigen dauernden Gebrauch aufzubewahren und zuzurichten. Die Menschen haben deshalb einen Bedarf daran gehabt, dauernde Beziehungen zwischen sich und äußeren Gegenständen und Gebieten zu schaffen und zu bewahren. Gleichzeitig besaßen die Menschen die Fähigkeit, sich Vorstellungen von diesen Beziehungen zu machen und diese Vorstellungen in sprachliche Strukturen, die sogennanten Begriffe, umzusetzen. Aristoteles kam im 3. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung auf den Gedanken, die Begriffe seien Eigenschaften an Sachen, wie Farben, Schwere und Geschmack. Dieser Begriffsrealismus erhielt sich das ganze Mittelalter hindurch, bis er in der Renaissance von dem sogenannten "Nominalismus" abgelöst wurde, der, wie der Name besagt, die Begriffe als bloße Namen auffaßte, die die Menschen mit den Erscheinungen verbinden. Diese nominalistische Auffassung ist es, die sich mehr oder weniger unverändert bis in die Gegenwart erhalten hat, wo die Begriffe als 2 Siehe Stig Jergensen, Idealism and Realism in Jurisprudence, Scandinavian Studies in Law, vol. 21 (1977) p. 95.
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gedankliche Konstruktionen aufgefaßt werden, mit denen das Bewußtsein durch Isolieren und Ordnen auserwählter Elemente der Umwelt in Übereinstimmung mit festen Beziehungen es versucht, Teile der Umwelt zu erfassen und zu beherrschen. Unsere Vorstellungen und damit unsere Begriffe bilden und entwikkeln sich auf Grund unserer Erfahrungen, sowohl individuell als kollektiv, und müssen deshalb natürlich mit den äußeren Bedingungen unserer Existenz, einschließlich auch der jeweiligen soziowirtschaftlichen Verhältnisse und der gesellschaftlichen Organisation, eng verbunden sein. Die Begriffe entstehen und entwickeln sich durch die Geschichte der Menschheit. Dies trifft deshalb natürlich auch für den Rechtsbegriff und den Rechtebegriff zu. Bekanntlich gibt es deshalb auch Rechtstheoretiker, die beispielsweise die Existenz "objektiven Rechts" d. h. des Inbegriffs von Rechtsregeln einer gegebenen Gesellschaft, so lange verneinen, bis diese Gesellschaft eine formelle gesellschaftliche Organisation mit Parlament, zentraler Staatsgewalt und eigentlichen Gerichten zur Aufstellung von Vorschriften, Verwaltung der Vorschriften bzw. zur Entscheidung von Streitfällen besitzt. Nur in solchen organisierten Gesellschaften existieren nach dieser Auffassung auch "subjektive" Rechte, d. h. individuelle, durch die Rechtsvorschriften gesicherte Machtpositionen. Nach dieser Auffassung gibt es also in primitiven Gesellschaften oder in internationalen Beziehungen weder Recht noch Rechte. Stellt man dagegen eine funktionellere Betrachtung an, und interessiert man sich für die verschiedenen Organisationsformen und die Art und Weise, auf die sie ihre Bedarfsbefriedigung in den organisierten Rahmen sichern, so ist es sinnvoll, auch in weniger entwickelten Gesellschaften von Recht zu sprechen. Es ist klar, daß die erstere Auffassung eine genauere und anwendbarere Analyse des Rechts und dessen Struktur in der Gegenwart ermöglicht, während die letztere Auffassung das Verstehen der Entwicklung und der gesellschaftlichen Funktion der Vorschriften und der rechtlichen Begriffe ermöglicht. Damit ein Studium des Rechts vollkommen sein kann, muß man also diese beiden Aspekte ergänzen und eine strukturelle mit einer funktionellen Betrachtung kombinieren3 • Manches deutet darauf, daß sich sowohl die Individuen als auch das Bewußtsein des Menschengeschlechts von einer konkretisierenden in eine generalisierende Betrachtungsweise entwickeln. Die Kinder fangen mit einem sehr konkreten Erleben ihrer Umwelt an, während sich die Fähigkeit zur Bildung und zum Verstehen von Generalisierungen in allgemeine Begriffe erst mit steigender Reife entwickelt. In gleicher Weise ergibt sich aus der sprachgeschichtlichen Analyse, daß sich die 3
Siehe Stig Jergensen, Recht und Gesellschaft 1. c. (note 1) Kap. I.
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allgemeinen Begriffe allmählich auf Grund einer Summierung von Erfahrungen entwickeln. So betont der dänische klassische Philologe und Ideengeschichtler Hartvig Frisch 4 , daß der abstrakte Begriff "gut" in der griechischen Sprache erst im 6. Jahrhundert vorkommt. Vor der Zeit tritt der Begriff in funktionellem oder instrumentalem Sinne in der Form "gut für" irgendetwas auf. Bekanntlich wandte Aristoteles im 3. Jahrhundert den Begriff "gut" in dieser teleologischen Form an, während sein Lehrmeister Platon und dessen Vorgänger, die sogenannten Pythagoreer, es gerade versuchten, das Ewige in dem Veränderliehen unter Anregung durch diese Entdeckung der Möglichkeit zu finden, solche umfassenden Abstraktionen zu bilden5• Wir wissen, daß dies Platon zu seiner Ideenlehre anregte, die in der Annahme dessen bestand, daß diese vollkommenen Abstraktionen die eigentliche Existenz in einer höheren Wirklichkeit seien, und daß die tatsächliche Wirklichkeit nur unvollkommene Wiederspiegelungen dieser idealen Wirklichkeit sei. Wie erwähnt gestaltete Aristoteles die Metaphysik Platons um, wobei er jedoch nicht zur Existenz einer solchen idealen Wirklichkeit Stellung nahm, sondern stattdessen annahm, daß die Begriffe Eigenschaften der Sachen seien, die im Verhältnis zum Wesen der Sachen stünden, d. h. dem Zweck, den ein solcher Gegenstand vermutlich habe. Eine Axt habe den Zweck zu hauen, deshalb müsse der Wert einer Axt im Verhältnis zu deren Fähigkeit, Holz zu hauen, bemessen werden. Eine solche teleologische Auffassung der allgemeinen Begriffe ist billig und natürlich in einer statischen Gesellschaft, in der sich die Funktion der Gegenstände nicht entwickelt, und in der neue Methoden nicht entwickelt werden. Erst mit dem Abschluß des Mittelalters und dem beginnenden Wachstum der soziowirtschaftlichen Verhältnisse in Westeuropa bricht der Begriffsrealismus zusammen und wird vom Nominalismus oder einer funktionalistischen Begriffsauffassung abgelöst. Es ist nicht mehr möglich, darauf zu bestehen, daß Gegenstände und Einrichtungen einen bestimmten Zweck haben. In gleicher Weise wie sich "das Gute" als Abstraktion betrachtet auf Grund der praktischen Erfahrungen vieler Generationen entwickelt, nehmen die hervorragenden Rechtsgeschichtler Max Kaser und H. J. Wolf!' an, der Rechtebegriff als Vorstellung sei entstanden, je nach' Magt og ret i oldtiden (1944) p. 278 ff. s Siehe Stig Jergensen, Symmetrie und Gerechtigkeit, Festschrift für Professor Legaz Lacambra, Madrid (im Druck); ders., Legal Positivism and Natural Law, ISA Conference Report Budapest (im Druck). • Max Kaser, Das altrömische Ius (1949) und, Lex und Ius civile, Landesreferate z. VIII. Intern. Kongreß für Rechtsvergleichung, Hrsg. E. v. Caemmerer und Konrad Zweigert (1967) p. 3 ff.; H. J. Wolff, Debt and Assumpsit in the light of comp. legal history, Irish Jurist 1966 p. 316 ff.; C. W. Westrup, Rettens opstäen (1940) p. 36 ff.
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dem eine Reihe von Konflikten zwischen Individuen und Gruppen aui eine bestimmte Weise entschieden worden sind, die sich allmählich in eine feste Übung entwickelt, wodurch eine Grundlage für die Erwartung dessen geschaffen wird, daß ein ähnlicher Konflikt auf die gleiche Weise entschieden werden wird. Je nachdem sich solche Erwartungen immer mehr verbreiten, reißen sie sich von den konkreten Konfliktsituationen los und bewirken die Bildung der Abstraktion "Recht". Entwicklungsgeschichtlich bewirkt also eine Beschwerdemöglichkeit die Bildung des Begriffs "Recht" und später ergibt sich aus der Annahme der Existenz eines persönlichen Rechts die Grundlage der Erhebung einer Rechtsbeschwerde. Im klassischen römischen Recht hat man sich noch nicht vom Ausgangspunkt gelöst, da das subjektive Recht durch die Rechtsbeschwerde begründet wird. Eine entsprechende Entwicklung finden wir im englischen Mittelalterrecht. Wie die Beschwerdemöglichkeit im römischen Prozeß vom Vorliegen einer actio abhing, so hing sie im englischen Recht vom Vorliegen einer writ ab, und wie der römische Praetor allmählich das Aktionssystem durch eine Bewilligungsübung entwickelte, so entwickelte der englische Lord Chancellor das alte Common Law durch besondere Beschwerdebewilligungen auf der Grundlage des equity. Betrachten wir die nordischen Landschaftsgesetze des 12. und 13. Jahrhunderts, so können wir beobachten, wie das Reaktionssystem in gleicher Weise vom Vorliegen einer besonderen Beschwerdemöglichkeit abhängt, die der privaten Initiative überlassen ist. Wie im ursprünglichen römischen Recht ist der Prozeß eine private Angelegenheit zwischen zwei Individuen, die ihren Streit einem gemeinsam gewählten Schlichter oder Schiedsrichter überlassen. Es finden sich Reminiszenzen dieser Regelung im römischen Prozeßsystem, und jedenfalls ist es bei Rechtssoziologen und Rechtsethnologen eine allgemeine Auffassung, daß der Keim zu einer organisierten Konfliktenlösung in einer solchen Schlichtungs- und Schiedsgerichtseinrichtung zu suchen ist, die erst im Takt mit der Bildung einer festeren Zentralgewalt von eigentlich organisierten Gerichten abgelöst wird. In den alten griechischen städtischen Staaten und in den nordischen Bauerngesellschaften waren es ursprünglich eigentliche Völkerversammlungen, die zusammentraten, um die Streitfälle in einem Versuch, den Frieden in den jeweiligen Gesellschaften zu bewahren, zu entscheiden7 • Es ist klar, daß jedenfalls die römischen Juristen verhältnismäßig klare Vorstellungen von privaten Rechten hatten, darunter auch von einem besonderen Eigentumsrecht, das aus einem besonderen Herr1 Torstein Eckhoff, The mediator, the judge and the administrator in conflict resolution, Acta Sociologica (1966) p. 36 ff.; Stig Jergensen, Symmetrie 1. c. (note 5) und Legal Positivism 1. c. (note 5).
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Schaftsverhältnis einer Person über eine Sache (dominium) bestand, und einem Forderungsrecht, das aus einem Band zwischen zwei Personen (nexum, obZigatio) bestand. Erst eine sehr viel spätere Nachzeit hat aber diesen Vorstellungen vollkommene Eigentums- und Forderungsrechte in der Form eines jus in re und eines jus ad rem beigelegt. Ebensowenig wie die römische Rechtsauffassung eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen dinglichen und schuldrechtlichen Rechten und eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen Prozeßrecht und Materialrecht anerkannte, gab es auch keine grundsätzliche Unterscheidung zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht. Insgesamt mußte man feststellen, daß der Begriff und Inhalt des Eigentums mit den Möglichkeiten identisch waren, die das Prozeßrecht für denjenigen beinhaltete, der eine Herrschaft über eine Sache behauptete, und die Verwirklichung des in der Rechtsentscheidung getroffenen Beschlusses war sowohl im römischen Recht als auch in den mittelalterlichen Gesellschaften der privaten Rechtshandhabung überlassen. Durch die Entwicklung in den mittelalterlichen Feudalgesellschaften tritt eine Änderung in der Auffassung des Eigentums an Grundeigentum ein, das nach geltender Auffassung in England und Dänemark dem König, auf dem Kontinent dem Kaiser gehörte, der seine betrauten Männer mit größeren oder kleineren Landgebieten belehnte, die wiederum als Pacht an die Bauern weitergegeben werden. Es wäre aber unrichtig, derartige feudale Nießbrauchrechte als privatrechtliche oder öffentlich-rechtliche Rechte an Grund und Boden im modernen Sinne zu bezeichnen. Erst das spätere europäische Naturrecht schafft die voll entwickelten Vorstellungen vom subjektiven Recht als Abstraktion8 • Bekanntlich hat das europäische Naturrecht in der katholischen Moralphilosophie seinen Ursprung. Während diese aber in Übereinstimmung mit der klassischen Tradition mit dem Begriff "Gesetz der Natur" (Zex naturae) operierte, stellen wir fest, daß das protestantische, sogenannte rationalistische Naturrecht im 17. und 18. Jahrhundert mit dem Begriff "natürliches Recht" (jus naturae) operiert, was die Entwicklung spiegelt, die im Erleben der menschlichen Situation von der Zeit Thomas Aquinas' im 13. Jahrhundert bis zur Zeit Grotius' und Hobbes im 17. Jahrhundert geschehen ist. In der Zwischenzeit haben wir die großen Entdeckungen und die wirtschaftliche Entwicklung, insbesondere der städtischen Gewerbe, die die Grundlage der Renaissance und des Individualismus und damit der Vorstellung davon bilden, daß das Einzelindividuum besondere natürliche Rechte habe. s Siehe zum folgenden, Stig Jergensen, Legal Positivism 1. c. (note 5) und ders., Vertrag und Recht (1968) p. 141 ff. und Olivecrona, 1. c. (note 1) p. 142 ff.
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Die Staats- und Rechtsauffassung des Spätmittelalters begründete sich in der Annahme, Gottes - ewiges und unveränderliches - Gesetz sei neben dem Gewohnheitsrecht für die Menschen normgebend, während die weltlichen Fürsten zur Aufgabe hätten, in Gottes Namen Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten. Später entwickelte sich in der Renaissance von Thomas bis Bodinius die Auffassung ,es existiere eine menschliche Gesetzgebungskompetenz, eine Souveränität, die nach ursprünglicher Auffassung beim Volke lag, das sie dann weltlichen Fürsten übertragen habe. Damit hatte man die Grundlage des Machtkampfes zwischen Kaiser und Papst, in dem u. a. Dante bekanntlich gegen den Papst Stellung nahm. Diese Lehre erfuhr bei Machiavelli ihre konsequente Ausgestaltung, und auch in den späteren obsoluten Monarchien, in denen Inhaber der Souveränität der König war, der sich mit dem Staat identifizierte (l'etat, c'est moi). Wie die Theoretiker der Renaissance wie gesagt annahmen, Inhaber der Souveränität, d. h. der Gesetzgebungskompetenz, sei der Fürst, nahmen Grotius und seine Nachfolger an, Inhaber der Souveränität seien die Einzelindividuen. Daraus zog man die Konsequenz, daß jede Form der Rechtsbegründung auch im eigenen vernünftigen Willen des Einzelindividuums zu suchen sei. Die Gesetze der Gesellschaft seien in einem sogenannten Gesellschaftsvertrag zu suchen, der in der vorausgesetzten Zustimmung zu der Gesellschaftseinrichtung durch die Individuen bestand. Nur dadurch könne man den Eingriff in die Freiheit der Individuen legitimieren, den Gesetzgebung und Rechtshandhabung implizierten. Eine natürliche Konsequenz dieses Ausgangspunkts war es, daß die privatrechtliche Rechtsbegründung als die eigene Selbstgesetzgebung der Individuen aufgefaßt wurde, die deshalb ebenso unbeschränkt sein mußte wie Gesetzgebung auf Grund des Gesellschaftsvertrages. Eine Folge dessen war die Annahme einer allgemeinen Vertragsfreiheit, die in einer Befreiung von den herkömmlichen römischen Vertragstypen bestand, die vom Bestehen besonderer sozialtypischer Verhältnisse (Kauf, Miete, Pacht usw.) abhingen. Stattdessen nahm man an, daß eine jede Willenserklärung, mündlich wie schriftlich, verbindlich sei, so wie es z. B. im (1683) Buch V-1-1 des dänischen (und norwegischen) Gesetzbuches heißt, wenn die Willenserklärung freiwillig von Volljährigen (Buch V-1-2) abgegeben war. Der Antrag überträgt einen Teil der Freiheit des Antragenden auf den Empfänger, der dadurch kraft einer moralischen Fähigkeit gegenüber dem Verpflichteten ein Recht (jus) erhält. Dieses primäre, im Antrag begründete Recht wird von einem sekundären Recht des Rechtsinhabers zur Anwendung eines Zwanges gegenüber dem Verpflichteten ergänzt, eines Zwanges, der als im Gesellschaftsvertrag, der die Staatsmacht legitimiert, begründet gilt. Das Eigentum gilt auch ursprünglich als in einer solchen Möglich-
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keit zur Erhebung eines Anspruchs gegen eine andere Person begründet, doch gilt das Eigentum in Übereinstimmung mit traditioneller Auffassung auch als in einer besonderen Herrschaft (dominium) über eine Sache begründet, die automatisch jeden verpflichtet, das Recht "nicht zu stören", und den Eigentümer berechtigt, gegen den Rechtsbrecher einen Anspruch zu erheben. Voraussetzung war also aber, daß jedem Recht eine Pflicht eines anderen oder einer unbestimmten Personenzahl gegenüberstand. Es ist unmittelbar einleuchtend, daß eine solche Philosophie und die Rechtsauffassung ein anderer Ausdruck für die Interessen der wachsenden Bürgerschaft ist. Im Takt mit der wirtschaftlichen Entwicklung der städtischen Gewerbe entstand ein politisches Selbstbewußtsein und ein Wunsch danach, an dem gesellschaftlichen Einfluß einen wesentlichen Anteil zu bekommen. Mit Berufung auf die Volkssouveränität wurden 1789 die französische Revolution und im Laufe des 19. Jahrhunderts die späteren bürgerlichen Revolutionen durchgeführt. Allmählich, wie sich die naturrechtliche revolutionäre Philosophie in einer bürgerlichen Demokratie erschöpft, entsteht ein Bedarf daran, die Rechtsbildung der neuen Gesellschaft unabhängig von dem Willen der Einzelindividuen zu legitimieren. Das 19. Jahrhundert ist denn auch überall von einem umfassenden Rechtspositivismus geprägt, der das objektive Recht als Ausdruck der Befehle des Souveräns, d. h. des Staates, auffaßt. Eine solche Auffassung findet man in der exegetischen Schule Frankreichs bei dem Engländer John Austin und dem Deutschen v. Savigny. Der Ausgangspunkt dieser Auffassung findet sich bereits bei Hobbes Mitte des 17. Jahrhunderts, da Hobbes zwar seinen Ausgangspunkt im Gesellschaftsvertrag nahm, diesen jedoch als eine vollständige Delegation der Gesetzgebungskompetenz an den König betrachtete. In gleicher Weise entwickelt sich der Rechtspositivismus in der deutschen Lehre. Wie wir wissen, trennte Kant grundsätzlich die Moral vom Recht, von denen das letztere als auf die Außenwelt bezogen galt; die Grundlage der gesamten Sittenlehre war aber der kategorische Imperativ, d. h. die Pflicht, die Ausdruck der höchsten Abstraktion war. Umgekehrt bestand Fichte auf dem Gesellschaftsvertrag als Grundlage des Rechts, da er aber den Gesellschaftsvertrag jeden materiellen Inhalts beraubte, mußte dieser durch die Einrichtungen der Gesellschaft ergänzt werden, wodurch einem grundsätzlichen Rechtspositivismus der Weg offen lag. Diese Möglichkeit nutzte v. Savigny denn auch, da er in seinem Kampf gegen den Kodifizierungsgedanken zwar davon ausging, daß das Recht in der Form eines Gewohnheitsrechts als ein Ausschlag des Volksgeistes anzusehen sei, doch in Wirklichkeit auch politisch für eine Vereinigung des deutschen Reiches und eine gemeindeutsche Kodifizierung kämpfte, wenn es dafür eine aus-
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reichende wissenschaftliche Grundlage gebe. Die wissenschaftliche Analyse und Systematik des Rechts, die v. Savigny und seine Nachfolger, Puchta und Windscheid, durchführten, bildeten denn auch später die Grundlage des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches von 1901. v. Savigny hatte aber auch einen anderen Beweggrund für seinen Widerstand gegen eine Kodifizierung des bürgerlichen Rechts, das er in Übereinstimmung mit der Kantschen Staatstheorie außerhalb der Souveränität des Staates halten wollte9• v. Savigny führte deshalb eine grundsätzliche Trennung ein zwischen dem öffentlichen Recht, das als im Willen des Staates begründet galt, und dem privaten Recht, das als im Willen der Privaten begründet galt. Die Aufgabe des Staates ist es nur, die äußeren Rahmen und ein Zwangssystem zur Verwirklichung des Gesellschaftslebens, den sogenannten Nachtwächterstaat, zu schaffen. Eine Folge dessen ist es auch, daß Windscheid das subjektive Recht als Willensmacht definieren kann, eine Macht, die ihre Begründung im privaten Willen, ihren Schutz aber im objektiven Recht sucht. Mit der Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Recht hat v. Savigny eine Unterscheidung eingeführt, die es begriffsmäßig schwierig macht, gesellschaftliche Beschränkungen des privaten Eigentumsrechts zu legitimieren und zu begründen. Gleichzeitig hat man aber auch durch die Anerkennung eines grundsätzlichen Rechtspositivismus eine grundsätzliche Anerkennung einer jeden gesellschaftlichen Beschränkung des Eigentums ermöglicht, die mit der jeweiligen Verfassung in Übereinstimmung ist. Diese Konsequenz war es, die der dänische Rechtstheoretiker A. S. 0rsted Anfang des 19. Jahrhunderts aus der Lehre Fichtes zog. Als hervorragender Beamter und Politiker prägte er die dänische Gesetzgebung während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und gleichzeitig trug er durch seine Grundlegung mehrerer Urteilssammlungen zur Schaffung einer engen Verbundenheit zwischen Wissenschaft und Rechtsprechung bei1°. In der englischen Lehre nahm der Rechtebegriff nicht die gleiche Dominanz ein wie auf dem Kontinent, begründete sich das englische Vertragsrecht doch hauptsächlich in duties und nicht in rights. Ein Vertrag erlegt einem Schuldner gewisse Pflichten auf, wenn eine Nichterfüllung eine Schadensersatzhaftung, jedoch keine Pflicht zur Naturalerfüllung bewirkt. Im Kanzlerrecht entstand allmählich ein Recht, dem Schuldner die specific performance Pflicht aufzuerlegen, insbesondere wenn seine Pflichten die Verfügung über Sachen betrafen. Der 8 Gerhard Dilcher, Der rechtswissenschaftliche Positivismus, wissenschaftliche Methode, Sozialphilosophie, Gesellschaftspolitik, Archiv für Rechtsund Sozialphilosophie 1975 p. 497 ff. 10 Stig J0rgensen, Grundzüge der Entwicklung der skandinavischen Rechtswissenschaft, Juristenzeitung 1970 p. 529 ff.; Alf Ross, Virkelighed og gyldighed i retslreren 1. c. (note 1) p. 35 ff.
17 Festschrift für Helmut Schelsky
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besondere feudale Ursprung des Eigentums blockierte aber lange die Annahme eines eigentlichen Eigentums an Grundbesitz. Deshalb kann es nicht verwundern, das Jeremy Bentham die Existenz subjektiver Rechte bestreiten kann, die seiner Ansicht nach bloß fiktive Ausdrücke der Befehle des Souveräns im objektiven Recht sind11 • Auch in der deutschen Lehre des 19. Jahrhunderts nahmen Sigmund Schlosmann und Zitelmann 12 an, daß Rechte nicht existierten, sondern bloß notwendige Gedankenformen seien, die es ermöglichen, kompliziertere Sätze von Rechtsvorschriften zu überblicken und zu kontrollieren. Diese Rechtsauffassung ist es, der wir später in den modernen, sogenannten realistischen Rechtstheorien begegnen. Ende vorigen Jahrhunderts wird es indessen immer klarer, daß sowohl das objektive als auch das subjektive Recht nicht bloß begriffsmäßige Konstruktionen oder öffentliche oder private Willensäußerungen sind. Rudolf von Jhering erkennt, daß das Recht ein Mittel zum Erreichen menschlicher Zwecke ist, die wiederum in menschlichen Interessen begründet sind. Wie das objektive Recht ein Ergebnis eines Kampfes zwischen den politischen Kräften ist, so wird das subjektive Recht ein Ausschlag dessen in der Form eines rechtlich geschützten Interesses, oder wie es von seinem zeitgenössischen Kollegen Carl Goos gesagt wird, eines sittlich geschützten Gutes. Dadurch hat man grundsätzlich anerkannt, daß das objektive Recht und die subjektiven Rechte politische Ergebnisse gesellschaftlich wirksamer Interessen sind13• Obwohl die europäischen Verfassungen Bestimmungen enthalten, die die Unantastbarkeit des Eigentums anerkenne, wird doch gleichzeitig auch im § 73 des dänischen Grundgesetzes anerkannt, daß das private Eigentum den Interessen der Allgemeinheit weichen muß, da das Eigentum abgetreten oder Beschränkungen dulden muß, wenn es das Gemeinwohl erfordert, doch nur gegen volle Entschädigung. Gleichzeitig wird aber anerkannt, daß das Eigentum nicht unbeschränkt ist. Das Eigentum darf nicht schikanös ausgeübt werden, und im Takt mit der gesellschaftlichen und sozialen Entwicklung im Laufe des 20. Jahrhunderts hat man steigenden Maßes anerkannt, daß die Privaten allgemeine Beschränkungen des Eigentums in dem Umfange dulden müssen, in dem dies für die gesellschaftliche Planung und das soziale Wohl erforderlich ist. Und solche allgemeinen Beschränkungen des Eigentums haben andererseits keine Entschädigungsansprüche zur Folge. Ein wesentliches Problem wird es deshalb in der Theorie und der Praxis sein, u Olivecrona, 1. c. (note 1) p. 154 ff., 168 ff., und Appendix I p. 275 ff. S. Schlosmann, Der Vertrag (1878); E. Zitelmann, Irrtum und Rechtsgeschäft (1879). n Stig J"rgensen, Die Bedeutung Jherings für die neuere skandinavische Rechtslehre, Jherings Erbe (1970) p. 116 ff. 12
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die allgemeinen Beschränkungen des Eigentums abzugrenzen, die kein Recht auf Entschädigung aus derartigen Enteignungen gewähren, die eine Pflicht zur Zahlung voller Entschädigung an den Eigentümer begründena. Die sogenannten realistischen Rechtstheorien haben alle kraft eines grundsätzlichen Gesetzespositivismus die vollständige Freiheit, diese Entscheidung zu treffen, dem Parlament überlassen, das in seiner Gesetzgebung angeblich das private Eigentum näher zu präzisieren und abzugrenzen hat. Das Eigentum ist, wie es der dänische Rechtstheoretiker Alf Ross, ausdrückt, bloß ein terminologischer Hilfsbegriff, der einen Satz von Rechtstatsachen mit den im Gesetz festgelegten Rechtswirkungen verknüpft15• Bezeichnend ist es denn auch, daß der gleiche Alf Roos in seinem Staatsrecht zum Fürsprecher der Auffassung wird, die Gesetzgebungsmacht könne im Prinzip eine jede Beschränkung des privaten Eigentums beschließen. Das einzige, was der Gesetzgeber nicht ohne Grundgesetzänderung durchführen könne, sei die Aufhebung des privaten Eigentums oder die Verabschiedung von Gesetzen, die zwar abstrakt ausgestaltet sind, die aber in Wirklichkeit bloß darauf abzielen, Einzelpersonen zu treffen; selbst in letzterer Beziehung ist die dänische Rechtsprechung aber in die Richtung weit gegangen, allgemeine Beschränkungen des Eigentums ohne Entschädigung anzuerkennen. Es ist mir nicht möglich, mich in diesem Zusammenhang mit der gegenwärtigen rechtsphilosophischen Debatte über den Rechtsbegriff in Einzelheiten auseinanderzusetzen. Wie gesagt, wollen einige Theorien den Rechtsbegriff jeden Inhalts berauben und ihn zu einer sprachlichen Sammelbezeichnung für die Vorschriften des objektiven Rechts über die Beziehung zwischen Personen und Sachen machen. Ich habe in diesem Zusammenhang den Dänen Alf Roos genannt. Andere sind zu der Auffassung zurückgekehrt, die wir einleitungsweise als die ursprüngliche erwähnten, daß die subjektiven Rechte bloß Reflexwirkungen des Prozeßsystems sind. Dies ist eine Auffassung, die im sogenannten amerikanischen Realismus vertreten ist, der sich in den 1920er und 30er Jahren auf Grund der pragmatischen Philosophie Henry James' entwickelte, welche die Beurteilung menschlicher Handlungen mit der Beurteilung deren Folgen verknüpft. Eine entsprechende Auffassung des Rechtebegriffs können wir bei den schwedischen Rechtstheoretikern im Anschluß an die sogenannte Uppsalaphilosophie, beispielsweise A. V. Lundstedt, feststellen. Ein anderer Vertreter der Uppsalaphiloso14 W. E. v. Eyben, Fast ejendoms regulering (3. Aufl. 1971); ders., Formuerettigheder (4. Aufl. 1972) p. 24 ff. 16 On Law and Justice (1974) p. 177 ff.
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phie, Karl Olivecrona, bestreitet wie der Kollege Lundstedt und in Übereinstimmung mit dem Lehrmeister, Hägerström, die Existenz der Rechte in der Außenwelt, versucht es aber stattdessen, die Rechte in der menschlichen Vorstellung, d. h. als Idealbilder, zu verankern18 • Für alle diese Auffassungen gilt aber, daß Rechte und Eigentum keinen selbständigen materiellen Inhalt haben. Eine andere nordische Tradition, die ganz auf das Ende vorigen Jahrhunderts zurückgeht, beraubt nicht den Rechtsbegriff und insbesondere nicht den Begriff des Eigentums jeden Inhalts, sondern löst das Eigentum in verschiedene rechtliche Relationen und verschiedene tatsächliche und rechtliche Befugnisse des Eigentums auf. Diese Auffassung hat im übrigen die Konsequenz, daß das Eigentum nicht unteilbar ist und deshalb auch nicht zwangsläufig zum gleichen Zeitpunkt von dem einen auf den anderen übergeht. Diese Lehre wurde ursprünglich von dem Dänen Carl Torp gestaltet und von Frederik Vinding Kruse in seinem Werk, Das Eigentumsrecht (1931, Seite 156 ff.), weiterentwickelt. Gemäß dieser Auffassung beinhaltet das Eigentum viele Befugnisse: 1. die Befugnis zum tatsächlichen Ausbeuten der Sache in dem Umfange, in dem dies nicht durch die Gesetzgebung beschränkt ist, 2. eine Befugnis, rechtlich über die Sache verfügen zu können, 3. die Befugnis zur Anwendung der Sache als Kreditgrundlage, und 4. die Befugnis, die Sache durch Erbschaft zu übertragen. Der Engländer A. W. B. Simpson hat in einer Kritik des Rechtebegriffs Alf Roos' angeführt, der Rechtebegriff sei wertbetont und habe damit eine Verbindung zu menschlichen Gefühlen und Interessen17• Ich werde hier nicht auf eine eingehendere Wertung der verschiedenen Auffassungen des Rechtsbegriffs eingehen und auch nicht dazu Stellung nehmen, ob der Rechtebegriff einen materiellen Inhalt hat oder nicht. Bloß möchte ich hier darauf aufmerksam machen, daß man meiner Auffassung nach vorsichtig sein muß, sowohl das objektive Recht als die subjektiven Rechte als monistischen Begriff zu definieren. Meiner Ansicht nach wird ein jeder Versuch einer solchen präzisierenden Definition bewirken, daß man wesentliche Tatsachen aus dem Dasein hinausdefiniert. Stattdessen muß man anerkennen, daß die Begriffe "Recht" und "Rechte" in verschiedenen Zusammenhängen und in verschiedenen Wissenschaften angewandt werden. Man kann die Rechte in einer soziologischen, einer psychologischen, einer prozessualen, einer rechtsdogmatischen und einer rechtspolitischen Perspektive anschauen, und die Anwendung des Rechtebegriffs muß dementsprechend je nach dem Zusammenhang unterschiedlich sein18• Es besteht kein Zweifel, daß 16
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Olivecrona, 1. c. (note 1) p. 171 ff. und Ch. 7. The Analysis of Legal Concepts, 80 Law Quarterly Rev. 1964 p. 537. Stig Jorgensen, Recht und Gesellschaft, 1. c. (note 1) Kap. 1.
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der Rechtebegriff mit den wesentlichen menschlichen Funktionen und Interessen verknüpft ist, wie wir es an der geschichtlichen Übersicht festgestellt haben. Dies sind Tatsachen, die man berücksichtigen muß, wenn man den Rechtebegriff rechtspolitisch diskutieren will. Will man den Rechtebegriff rechtsdogmatisch diskutieren, so wird es dagegen natürlicher sein, den sogenannten realistischen Rechtebegriff anzuwenden, der die Rechte als einen abgekürzten Ausdruck der im objektiven Recht ausgedrückten Rechtsvorschriften auffaßt. Man kann aber darüber nicht hinwegsehen, daß die Wahl vom Rechtebegriff eine ideologische Seite hat, die im Zweifelsfalle den Argumentationstyp entscheiden kann. Für eine liberale Auffassung, die die Handlungsfreiheit für primär hält, so daß Begrenzungen darin ein besonderes Recht haben muß, ist es natürlich das Eigentumsrecht (und die übrigen privaten Rechte) als etwas anders und mehr als die Summe der Regeln des objektiven Rechts aufzufassen mit der Folge, daß das Eigentumsrecht (und andere Rechte) eine besondere Substanz hat, die die berechtigte Handlungsfreiheit im Verhältnis zu einem Objekt zusichert in dem Umfang, daß diese im positiven Recht nicht beschränkt worden ist. Umgekehrt will eine sozialistisch orientierte Auffassung, die nicht primär der individuellen Handlungsfreiheit Priorität vor anderen Rücksichten beilegt, in höherem Maße dazu geneigt werden, die Rechte als bloße Reflexwirkungen des objektiven Rechts aufzufassen.
Das transzendental-juridische Grundverhältnis im Vernunftbegriff Kants und der Bezug zwischen Recht und Gesellschaft Von Friedrich Kaulbach In dieser Untersuchung werde ich zeigen, daß die von Kant praktizierte Vernunft wie auch sein Begriff von Vernunft in theoretischer und praktischer Gestalt von Grund aus einen Charakter tragen, der durch juridische Kategorien zu beschreiben ist. Ist der juridische Charakter nicht nur als besondere Ausprägung, sondern als allgemeine, notwendige und ursprüngliche Eigentümlichkeit der Vernunft überhaupt anzusehen, so muß er im transzendentalen Ansatz auf dem Gebiet der theoretischen ebenso wie dem der praktischen Philosophie nachweisbar sein. Vorwegnehmend sei bemerkt, daß durch den ursprünglichen Bezug, in den transzendentale Vernunft und juridischer Charakter gesetzt werden, nicht nur die Physiognomie der ersteren auf eigentümliche Weise bestimmt wird, sondern daß in diesem Kontext zugleich die transzendentalen Wurzeln des Begriffs des Juridischen freizulegen sind. Zuerst wird in (1.) die juridische Physiognomie der theoretischen Vernunft skizziert werden. Danach ist in II. der transzendentale Charakter der Besitzlehre Kants das Thema; in einem letzten Abschnitt wird dann der in II. gewonnene Begriff der transzendental-juridischen Konstellation wieder mit der theoretischen Vernunft, dieses Mal in der Gestalt des philosophischen Denkens, in Beziehung gebracht werden.
I. Es ist bemerkenswert, daß an mehreren Knotenpunkten des kantischen Gedankengeflechts Wendungen der Rechtssprache begegnen. Zu erinnern ist z. B. an die bekannte Stelle, an der Kant die Eigentümlichkeit und den Charakter der Fragestellung bezeichnet, in welcher der Naturwissenschaftler die Natur befragt: er fragt nicht in der Rolle des Schülers, dem die Methode des Fragens fehlt, sondern in derjenigen des Richters, der die Zeugen nach einem vorher entworfenen Konzept befragt. Kant charakterisiert die nach dem Muster der copernicanischen Wendung begriffene Stellung des Subjekts dem Objekt gegenüber durch
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eine Analogisierung mit der Stellung, welche der Richter den Zeugen gegenüber einnimmt. In anderen Wendungen ist von der Richterrolle der Vernunft die Rede, die Legislative und Jurisdiktion in einem in sich vereinigt, die Maßstäbe für die Beurteilung von Wahr und Falsch, Gut und Nicht-Gut setzt und Regeln für die Beurteilung des Faktischen, Gegebenen angibt. "Ich denke" repräsentiert die allgemeine, gemeinsame Vernunft, die in sich die Maßstäbe für die Erkenntnis der Gegenstände bereithält und der die Prüfung von Aussagen in einem öffentlichen und von allen Denkenden nachvollziehbaren Verfahren obliegt!. Statt einen ewigen Kriegszustand der Vernunft zu belassen, der einem Naturstande der Vernunft eigentümlich ist, sei es an der Zeit, die Meinungsverschiedenheiten und Konflikte zwischen den philosophischen Positionen durch einen dem gerichtlichen Prozeßverfahren angemessenen, nach einer Gesetzgebung des Denkens verfahrenden Dialog zu behandeln, an dessen Ende eine richterliche Entscheidung, eine Sentenz steht. Auch die Methode der "transzendentalen Deduktion", durch welche Kant z. B. die Unentbehrlichkeit der Kategorien für den Aufbau der Erfahrung zu erweisen sucht, ist eine Figur des juridischen Denkens und Handelns: durch sie geschieht eine Recht-fertigung, d. h. der Nachweis des Rechtes bzw. der Legitimität der Kategorien für den Aufbau unserer Erkenntnis. Weiterhin gehört hierher, daß Kant seine eigene Kritik der Vernunft als Gesetzgebungswerk (Nomothetik) versteht, durch welches die metaphysische Vernunft sich selbst eine Methode des geregelten und richtigen Einsatzes ihrer gedanklichen Möglichkeiten vorschreibt: das Wort Antinomie hat die Bedeutung einer falschen Gesetzgebung des metaphysischen Denkens, die durch eine auf dem Wege der Kritik gefundene, den Dialog der Philosophengesellschaft regelnde Nomothetik zu überholen ist!. Das Auftreten juridischer Denk- und Sprechfiguren an den Punkten des praktischen Gedankenganges, an denen wesentliche Begriffe des transzendentalen Konzepts zur Sprache gebracht werden, legt die Vermutung nahe, daß diese für die Entwicklung und Darstellung der Transzendentalphilosophie nicht nur metaphorische Funktion haben: daß sich in ihnen vielmehr die Figuren gedanklichen Handeins darstellen, die den transzendentalphilosophischen Ansatz von seinem Ursprung her eigentümlich sind. 1 Dieser Rollenanspruch der Vernunft bedeutet, daß sich für den Denkenden die Forderung ergibt, ihm dadurch zu genügen, daß er eigen-sinnige oder von privaten Interessen eingeflößte Behauptungen der "öffentlichen" Prüfung des gemeinsamen Vernunftmaßstabes preisgibt, dadurch aber die Freiheit des Denkens und öffentlichen Redens eintauscht. "Dies liegt schon in dem ursprünglichen Rechte der menschlichen Vernunft, welche keinen andern Richter erkennt als selbst wiederum die allgemeine Menschenvernunft, worin ein jeder seine Stimme hat ..." Kritik der reinen Vernunft, Aufl. B 780. 1 Kritik der reinen Vernunft B 452.
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Um diese Vermutung zum Wissen werden zu lassen, ist zunächst zu bedenken, daß es der philosophisch interpretierten copernicanischen Wende entspricht, wenn das erkennende Subjekt den Gegenständen möglicher Erfahrung, die zugleich auch als Objekte der Natur anzusprechen sind, "allgemeine Gesetze" vorschreibt. Das heißt: das Subjekt gibt dem Bereich möglicher Erfahrung bzw. der Natur ein Grundgesetz, eine Verfassung. Abgesehen von der unübersehbaren Variabilität der "besonderen" Naturgesetze, die Ergebnis der wirklichen Erfahrung des Naturwissenschaftlers sind, gibt es für das Gesamt dieser besonderen Inhalte verbindliche allgemeine Formen, in deren Rahmen sich die besonderen Gesetze so zu fügen haben, wie die positiven Rechtsvorschriften dem sie alle umfassenden Grundgesetz angemessen sein müssen. Das wirkt sich in der Naturwissenschaft so aus, daß die von der theoretischen Vernunft vorgeschriebene allgemeine Gesetzgebung im "Rechtsstaate" der Erkenntnis die Befolgung verfassungsmäßig fundierter Normen der Gestaltung und des Verhaltens der Gegenstände vorschreibt, wie sie in den "synthetischen Grundsätzen" kodifiziert sind. In welcher besonderen Weise im einzelnen Naturerscheinungen miteinander z. B. in einen kausalen Zusammenhang treten, wird der Erkenntnis im Bereich wirklicher Erfahrung, die von den Einzelwissenschaften geleistet wird, überlassen bleiben müssen. Aber der allgemeine Gesetzgeber: theoretische Vernunft fordert, daß ein Naturgegenstand überhaupt dem Gesetz der Kausalität folgen müsse, wenn er als Objekt möglicher Erfahrung soll infrage komme können. Erlauben diese Überlegungen nicht mehr, als höchstens von einer Analogie zwischen den Strukturen möglicher Erfahrungserkenntnis einerseits und rechtsgesellschaftlicher Institution andererseits zu sprechen, so wird ein weiterer gedanklicher Schritt dazu führen, eine gemeinsame und identische Wurzel von Erkenntnisvernunft und Rechtsvernunft überzeugend sichtbar zu machen. Dazu ist es nötig, einzusehen, daß ein und dieselbe "Handlung" der Vernunft, welche das theoretische Subjekt als Gesetzgeber allgemeiner Gesetze der Natur legitimiert, auch die rechtliche Konstellation zwischen Rechtssubjekt (Person) bzw. der Gesamtheit der Rechtssubjekte und der im Handeln brauchbaren, verfügbaren "Sache" begründet. Die Bedingung der Möglichkeit von Naturerkenntnis wird sich auf diese Weise zugleich als Bedingung der transzendentalen Konstellation zwischen Rechtspersonen und den juridischen Sachen erweisen: dabei wird auch das juridische Denken auf seine transzendentalen Wurzeln hin zurückzuverfolgen sein. Gleich an dieser Stelle soll darauf aufmerksam gemacht werden, daß damit nicht die Identität von theoretischer Vernunft und Rechtsvernunft behauptet wird: vielmehr hat die Behauptung den
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Inhalt, daß sich bei der transzendentalphilosophischen Fundierung beider eine gemeinsame Wurzel zeigt.
D. Zunächst mag der transzendentale Ursprung der Kantischen Besitzlehre sichtbar gemacht werden. Die dabei geschehende Grundlegung der Besitzlehre mag als transzendentale Juridik bezeichnet werden. Ihre Leistung besteht vor allem darin, die Stellung der Freiheit zu verdeutlichen, die in der Rechtslehre dem juridischen Subjekt in seiner Konstellation zur Sache einerseits und zu den Mitsubjekten andererseits zu geben ist. Dabei wird sich herausstellen, daß Worte wie "mein" und das je "Meinige" eine doppelte Bedeutung annehmen: die transzendentaljuridische Bedeutung des ursprünglichen Verhältnisses zwischen "Ich will" und der Sache und die Bedeutung, in der es auf einen Unterschied zwischen dem "Meinigen" und dem "Deinigen" ankommt. Letztere Bedeutung wäre die eigentlich zum Begriff des Besitzes gehörige: es erweist sich, daß diese von der ersten Bedeutung fundiert wird. Die vor aller wirklichen Besitzergreifung und sie erst fundierende transzendentaljuridische Freiheit3 der Person gegenüber der Sache wird bei Kant in Aussagen angesprochen, die im "rechtlichen Postulat der praktischen Vernunft" formuliert sind (Rechtslehre 1. Hauptstück § 2). Dieses bestimmt, daß es möglich sei, "einen jeden äußern Gegenstand meiner Willkür als das Meine zu haben; d. i.: eine Maxime, nach welcher, wenn sie Gesetz würde, ein Gegenstand der Willkür an sich (objektiv) herrenlos (res nullius) werden müßte, ist rechtswidrig". Als "äußerer Gegenstand meiner Willkür" kann dreierlei infrage kommen: 1 Hierbei wird erkennbar, daß es nicht genügt, Kants rechtsphilosophische Aussagen ohne Bezug auf die transzendentaljuridische Fundierung der Rechtslehre zu interpretieren. Macht man diesen Fehler, dann kommt man zu Ergebnissen wie denen Christian Ritters, dessen Behauptung beinhaltet, daß die kritische Wendung bei Kant keinen Einfluß auf seine späte Rechtslehre gehabt habe: daß diese im Grunde genommen schon vor der Konzeption der Transzendentalphilosophie festgestanden sei. (Christian Ritter, Der Rechtsgedanke Kants nach den frühen Quellen, Frankfurt 1971). Wer freilich die transzendentalphilosophischen Hintergründe des kantischen Rechtsdenkens ausklammert, muß zu diesem abwegigen Ergebnis kommen. An dieser Untersuchung, die sonst ihre Verdienste haben mag, zeigt sich übrigens auch die Problematik einer auf Entwicklungsgeschichte allein reduzierten Untersuchung: wenn man nicht das: "Worauf-hin" des entwicklungsgeschichtlichen Weges begriffen hat, ergibt sich für noch so sorgfältige Analysen im Sinne der entwicklungsgeschichtlichen Methode die Gefahr, daß man am Ende nur noch erzählt, was Kant in den einzelnen Jahren gesagt hat, ohne die sachliche und systematische Konsequenz in der denkgeschichtlichen Entfaltung der Gedanken und vor allem die "Umbrüche" des Denkens zu sehen.
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"1. eine (körperliche) Sache außer mir;
2. die Willkür eines andern zu einer bestimmten Tat (praestatio); 3. der Zustand eines andern im Verhältnis auf mich ... "(§ 4). Kant macht für die erste Art der Rechtssachen, wie die äußeren Gegenstände meiner rechtlichen Willkür genannt werden mögen, die Kategorie der "Substanz" verantwortlich und verbindet damit den Gedanken, daß diese ihren Substanzcharakter dem Subjekt verdankt, das sie sich als Träger der Eigenschaft: "Brauchbarkeit" gegenüberstellt. In einem potenzierten Sinne wird der Boden als substantielle Rechtssache angesprochen, dergegenüber bewegliche Sachen als von dieser "getragene" Akzidenzen zu bezeichnen sind. Die zweite Art der Rechtssachen, die im Vertrag eine Rolle spielt, ist der "Kausalität" zugeordnet, da es hier um das Recht geht, eine Leistung einzufordern. Schließlich gehört die dritte Rechtssache der Kategorie der "Gemeinschaft" zu, sofern hierbei, wie z. B. im Ehevertrag, Leistungen auf Wechselseitigkeit rechtlich festgelegt werden. Wenn es jetzt darum geht, die Transzendentale Stellung des Rechtssubjekts der Rechtssache gegenüber nach kantischen Voraussetzungen zu bestimmen, so mag vor allem der Bezug zur ersten Art der Rechtssachen, das Besitzrecht an körperlichen Sachen außer mir in den Blick gefaßt werden. Das rechtliche Postulat der praktischen Vernunft stellt eine Konstellation dar, in welcher ich als Subjekt der Willkür, also als "Ich will" durch das Recht in ursprünglicher Weise zum Herrn der Sachen erklärt werde. Zur Konstellation gehört weiterhin, daß zwischen mir und den anderen eine gegenseitige Anerkennung im Hinblick auf eines jeden Stellung der freien Verfügung über die "Sache" durch Übereinstimmung in selbstgesetzlich geregeltem Denken, Sprechen, Handeln geschieht. Das Herrschaftsverhältnis ist durch die Freiheit je meiner Willkür bestimmt, Sachen, die ich bearbeiten, handhaben, gebrauchen kann, kurz: die ich "physisch in meiner Macht habe", mit Rechtsgrund je zu meinen freigewählten Zwecken zu gebrauchen. In dem rechtlichen Postulat der Vernunft wird also zunächst noch vor aller Bestimmung, wie ein Besitz, ein äußeres Mein und Dein zu begreifen ist und zustande kommt, die allgemeine Stellung der Rechtsperson als eines Repräsentanten der Freiheit den Sachen gegenüber bestimmt. Der erste, ursprüngliche Akt der Rechtsvernunft, der hier als transzendentale Begründung der Möglichkeit einer Rechtswelt angesprochen werden soll, besteht in der Herstellung der Konstellation zwischen der freien Rechtsperson und der Sache überhaupt. Die Person setzt sich als Herrn der Sache ein. Nach dem Grundsatz der transzendentalen Juridik wäre es dabei rechtswidrig, der Person die Herrenstellung der Sache gegenüber und der Sache den Charakter der Brauchbarkeit und des Unterworfen-
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seins unter die Herrschaft der Person abzusprechen. Im letzteren Falle würde man sie rechtlich vernichten: eine herrenlose Sache, die als solche nicht in die Perspektive dieser transzendentalen Rechtskonstellation gestellt werden könnte, wäre keine Sache. Kant macht auf die Konsequenzen aufmerksam, daß es rechtswidrig wäre, die transzendentaljuridische Steilung zwischen den Rechtspersonen und den Sachen, die Gegenstand ihrer Willkür sind und die sie daher physisch beherrschen können, durch ein Gesetz zu liquidieren: dieses könnte kein Gesetz der Freiheit sein, da sich in ihm die Freiheit selbst widersprechen müßte, die dem Gesetz als solchem zugrunde liegt. Im "rechtlichen Postulat der praktischen Vernunft" ist daher ein Grund-Verhältnis zwischen den Personen und der Rechtssache vorgesehen, das auch als transzendental-juridische Konstellation bezeichnet werden möge. Dazu sei bemerkt, daß das Adjektiv: transzendental analog seiner Verwendung bei der Grund-legung möglicher Erfahrung bedeutet, daß die Konstellation erstens die Bedingung der Möglichkeit für das Recht der Person auf Gebrauch der Sache darstellt und daß sie zweitens eine auch in der theoretischen Vernunft eigentümliche Selbstgesetzgebung des Denkens - hier des praktischen Denkens - einschließt, derzufolge der "vereinte Wille" der Rechtssubjekte die gegenseitige Anerkennung ihrer freien Stellung zu verfügbaren Sachen sichert und normiert. Auch die theoretischen Subjekte handeln nach einer transzendentalen Selbstgesetzgebung, dergemäß entgegengesetzte Behauptungen bzw. theoretische Konflikte im Sinne eines juridischen Prozesses entscheiden. Auf die transzendentaljuridische Konstellation zwischen der Person als dem Herrn der Sache und dieser als dem Träger von Brauchbarkeit und Verfügbarkeit sowie zwischen den in ihrer Herrschaft über die Sachen einander anerkennenden Personen fundiert die praktische Vernunft die Möglichkeit des Systems aller wirklichen Rechtsverhältnisse überhaupt, nicht nur der des empirischen oder intelligiblen Besitzes. Daher rangiert im Aufbau des rechtsphilosophischen Gedankenganges bei Kant' das "rechtliche Postulat der praktischen Vernunft" (§ 2) und die Exposition des Begriffes vom äußeren Mein und Dein (§ 4), in welch letzterer5 die Rechtssache ("die äußeren Gegenstände meiner Willkür") als für Besitzlehre und Vertragslehre zuständig behandelt werden, vor der Besitzlehre im engeren Sinne. Die transzendentaljuridische Konstellation zwischen der Person bzw. den Personen und den Rechtssachen erweist sich als fundamental für das Privatrecht im Ganzen. Dieses setzt sich durch den transzendentaljuridischen Akt des Postulierens der ursprünglichen Rechtskonstellation selbst ins Recht: dadurch 4 Kants Werke VI, S. 246 (es wird durchgehend nach der Akademieausgabe zitiert). 5 VI, S. 247.
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daß es diese Konstellation als Bürgschaft für die sich rechtlich ins Werk setzende Freiheit der Personen gegenüber den verfügbaren Sachen erkennbar macht und jede Maxime als Widerspruch gegen diese Freiheit erkennen läßt, nach welcher den Personen das Recht auf irgendeinen Gegenstand ihrer "willkürlichen" Verfügung abgesprochen wird. "So würde die Freiheit sich selbst des Gebrauchs ihrer Willkür in Ansehung eines Gegenstandes derselben berauben, dadurch daß sie brauchbare Gegenstände außer aller Möglichkeit des Gebrauchs setzte, d. i. diese in praktischer Rücksicht vernichtete und zur res nullius machte, obgleich die Willkür formaliter im Gebrauch der Sachen mit jedermanns äußeren Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmete." Diese Maxime würde gegen den transzendentaljuridischen Anspruch des Herrseins der Person über die Sachen und zuletzt der Herrschaft der Vernunft über die Wirklichkeit widersprechen, sofern sie den Anspruch der freien Person auf eine beherrschende Rolle gegenüber den Sachen außer Gültigkeit setzen würde. In Kants Rechtsphilosophie begegnet die Schwierigkeit, daß er einerseits einen Unterschied zwischen dem Prinzip des Besitzes und demjenigen des Vertrages macht, andererseits aber das Besitzlehre und Vertragslehre umfassende Privatrecht im Ganzen als Recht "vom äußeren Mein und Dein überhaupt" deklariert. Daher werden unter die "Exposition des Begriffes vom äußeren Mein und Dein" (§ 4) Besitz und Vertrag gleichermaßen subsumiert. Dieser Schein von Unstimmigkeit fordert zu der Frage heraus, welcher Grund Kant dazu bestimmt haben kann, Überlegungen zum Verhältnis von Person und Gegenstand ihrer Willkür an einer über die Themen Besitz- und Vertrag übergeordneten Stelle durchzuführen, um sie dann in einer auf die Besitzlehre zugeschnittenen Modifikation des Begriffs vom "äußeren Mein und Dein" zu spezialisieren. Die hier vorgeschlagene Auskunft, Kant habe im "rechtlichen Postulat der praktischen Vernunft" noch keine Aussage über die Besitzlehre im engeren Sinne, sondern lediglich eine transzendentaljuridische Fundierung des Privatrechtes durch ein Grundpostulat über das Verhältnis zwischen Person und Sache und Personen untereinander geben wollen, könnte eine überzeugende Antwort auf diese Frage geben. Daß es sich bei der transzendentaljuridischen Konstellation um ein formales Verhältnis zwischen Sache und Person sowie zwischen Person und den andern Personen handelt, in welchem die selbst rechtlose Sache der rechtlich gesicherten Verfügung durch das freie Subjekt überantwortet wird, und daß diese Sache als selbst rechtlos durch diese Überantwortung an den Gebrauch durch die freie Willkür ein praktisches Etwas wird, ist in dem Satz ausgesp-rochen: "Da nun die reine praktische Vernunft keine andere als formale Gesetze des Gebrauchs
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der Willkür zum Grunde legt und also von der Materie der Willkür, d. i. der übrigen Beschaffenheit des Objekts, wenn es nur ein Gegenstand der Willkür ist, abstrahiert, so kann sie in Ansehung eines solchen Gegenstandes kein absolutes Verbot seines Gebrauchs enthalten, weil dieses ein Widerspruch der äußeren Freiheit mit sich selbst sein würde'." Das transzendentaljuridische Grundverhältnis 7 zwischen Person und Sache schließt auch den Bezug zwischen der einen Person und den andern ein: jede Person ist in der auf diesem Fundament aufbauenden Rechtsordnung darauf verwiesen, den andern nicht auf die Stelle eines Gegenstandes seiner Willkür zu versetzen, sondern ihn vom Standpunkt eines "vereinten Willens" aus als Mitperson gemäß dem allgemeinen Prinzip des Rechts anzuerkennen. Dahin gehört die Erklärung, daß eine jede Handlung "recht" sei, "die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammenbestehen kann"s. Ein Wort ist zu den Voraussetzungen zu sagen, die für einen Gegenstand erfüllt sein müssen, wenn er in diese Rechtskonstellation soll eingehen können. Nach Kants Bestimmung muß er ein "Gegenstand meiner Willkür" sein, d. h. "etwas, was zu gebrauchen ich physisch in meiner Macht habe". (§ 2). Die physische Machtstellung über die Sache kann aber nur als conditio sine qua non einer auch rechtlichen Herrschaft über sie anerkannt werden. Die rechtliche Machtstellung drückt die "Würde" der Freiheit über die Sache aus, und gibt der physischen Machtausübung über sie erst den Charakter eines Handeins aus Freiheit. Damit die Bearbeitung der Sache, etwa die Bebauung eines Bodens, den Charakter humaner Arbeit gewinnt, muß die .transzendentaljuridische Konstellation zwischen arbeitender Person und bearbeiteter Sache zugrunde gelegt werden. So kommt Kant zu seiner Rangordnung zwischen Freiheit bzw. Besitzrecht und Arbeit: während etwa Locke das Prinzip des Besitzes auf Bearbeitung der Sache gründet, läßt Kant die Arbeit ihrerseits durch eine transzendentale Ermöglichung von Arbeit und Besitz fundiert sein: sie besteht in dem transzendentaljuridischen Grundverhältnis zwischen Person und Sache'. Der transVI, S. 246. Ich gebrauche die Termini: "Konstellation" und "Grundverhältnis" im transzendentaljuridischen Sinne synonym: der erste Terminus gemahnt, da er aus dem astronomischen Sprachgebrauch herrührt, an die copernicanische Wendung, während der zweite die Kategorie der Relation für sich in Anspruch nimmt, wobei in diesem Falle das Wort "Grundverhältnis" bedeuten soll, daß sich das Subjekt zur Sache und zu den andern Personen jeweils in ein bestimmtes Verhältnis der Freiheit setzt. ' Einleitung in die Rechtslehre§ V: VI, S. 230. 8
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zendentaljuridische Ansatz macht mich zum Herrn der Sache: nur in dieser Eigenschaft und auf dieser Basis ist es möglich, Eigentum zu erwerben und Sachen zu bearbeiten, um mit ihnen Tauschgeschäfte zu bestreiten. Auf diesem transzendentalen Fundament bauen die Begriffe des empirischen und besonders des intelligiblen Besitzes auf. Ist eine Person im intelligiblen Besitz einer Sache, so spricht ihr das Gesetz ein Recht zu, jeden andern am Gebrauch dieser Sache zu hindern. Das Rechtsverhältnis zwischen Person und Sache kommt nicht dadurch zustande, daß ich wie im Fall des empirischen Besitzes die Sache in der Hand habe, vielleicht bearbeite: vielmehr wird im Falle des intelligiblen Besitzes von einer physischen Verbindung zwischen Person und Rechtsgegenstand abgesehen, von Raum und Zeit abstrahiert und nur ein Verhältnis "rein rechtlicher" Art übrigbehalten, welches unmittelbar auf dem transzendentaljuridischen Grundverhältnis beruht: nur daß im intelligiblen Besitz zu dem Grund-verhältnis noch die Vorstellung hinzugefügt wird, daß ich auf Grund der prinzipiellen Herrschaft über die Sachen den Willen habe, daß eine Sache als "die meinige" anerkannt werde. Das Verhältnis des intelligiblen Besitzes enthält keine empirischen "Beimengungen": außer der transzendentalen Konstellation zwischen freier Person und Sache als Bedingung der Möglichkeit für die Herstellung eines wirklichen Besitzverhältnisses tritt noch der wirkliche Wille dieser Person hinzu, von dieser legitimen Gebrauch machen zu können. "Wenn ich (wörtlich oder durch die Tat) erkläre: ich will, daß etwas Äußeres das Meine sein solle, so erkläre ich jeden andern für verbindlich, sich des Gegenstandes meiner Willkür zu enthalten: eine Verbindlichkeit, die niemand ohne diesen meinen rechtlichen Akt haben würde1o." Der Wille geht darauf aus, daß eine Sache die meinige sei im Sinne des "intelligiblen Besitzes". Dieser findet nicht wie beim empirischen Besitz "nach sinnlichen Bedingungen" von Raum und Zeit statt, sondern "abgesehen von denselben, weil es eine Bestimmung der 1
Wenn Kant als Gegenstand meiner Willkür dasjenige bestimmt, was ich
"physisch in meiner Macht habe", d. h. "wovon beliebigen Gebrauch zu machen ich das physische Vermögen habe, dessen Gebrauch in meiner Macht
(potentia) steht", so liegt das Schwergewicht auf dem Worte "Vermögen", welches die bloße Möglichkeit ausdrücken soll, den Gegenstand zu be-handeln: ihn zu bearbeiten, zu formen, als Mittel zu gewissen Zwecken zu gebrauchen. Es steht der transzendentalen Sprache an, nur über die Möglichkeit, aber nicht über die empirische Wirklichkeit zu sprechen. Daher unterscheidet Kant an dieser Stelle die transzendentale Rede von dem, was ich "in meiner Macht habe" von der Wendung, ich habe den Gegenstand in meine Gewalt gebracht (potestatem meam redactum). Letztere gehört der Beschreibung empirischer Wirklichkeit an. 10
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Willkür nach Freiheitsgesetzen betrifft, (ich) auch den Besitz desselben denke, indem nur ein Verstandesbegriff unter Rechtsbegriffe subsumiert werden kann. Also werde ich sagen: ich besitze einen Acker, ob er zwar ein ganz anderer Platz ist, als worauf ich mich wirklich befinde. Denn die Rede ist hier nur von einem intellektuellen Verhältnis zum Gegenstande, sofern ich ihn in meiner Gewalt habe (ein von Raumbestimmungen unabhängiger Verstandesbegriff des Besitzes), und er ist mein, weil mein zu desselben beliebigem Gebrauch sich bestimmender Wille dem Gesetz der äußeren Freiheit nicht widerstreitet"11. Bei dieser Charakterisierung des Verhältnisses des intelligiblen Besitzes wird deutlich: die transzendentaljuridische Konstellation zwischen mir als dem Herrn der Sache und dieser Sache wird durch jeweils meinen Willensentschluß, daß die Sache mein sein solle, zum Besitzverhältnis ausgestaltet. Diesem Besitzverhältnis ist die transzendentale Unabhängigkeit von Zeit und Raum eigentümlich, die für das juridische Grundverhältnis charakteristisch ist. Daher besteht nach kantischer Voraussetzung die rechtliche Freiheit im intelligiblen Besitzverhältnis nicht primär in dem mir durch das Recht gesicherten Spielraum des Gebrauchs je meines Eigentums. Rechtliche Freiheit ist primär nicht der Umfang der mir offenstehenden Gebrauchsmöglichkeiten innerhalb eines Rahmens, der auf die Freiheitsspielräume der anderen abgestimmt ist, sondern sie besteht primär in meiner Stellung der mir vom Gesetz als Besitz garantierten Sache gegenüber: sie ist im Falle des intelligiblen Besitzes die Stellung des Herrn überhaupt, der den Willen ausgesprochen hat, die Sache in Besitz zu nehmen. Zu dieser Stellung gehört das gegenseitige Anerkennen der Rechtssubjekte nach der Selbstgesetzgebung des vereinten Willens. Stellung der Sache gegenüber und Willensäußerung des Rechtssubjekts werden von Kant als Bedingung der Möglichkeit für eine im gesellschaftlichen Interaktionszusammenhang geleistete Arbeit an der Sache behandelt: auch von hier aus ist der Unterschied zur empiristischen These Lockes zu verstehen, der anders als Kant die Arbeit zur Grundlage des Rechts an der Sache gemacht hat1 2• Die gesellschaftZiehe Dimension des transzendentaljuridischen Grundverhältnisses, welche diejenige der Konstellation zwischen freiem Rechtssubjekt und Sache ergänzt, wird bei der Explikation des BegrifVI, S. 253. XXIII, S. 287 (Vorarbeiten zum Privatrecht): "Also ist ein solcher Imperativ wirklich da gleichsam den Sachen eine Verbindlichkeit auferlegt werden kann bloß meiner Willkür zu gehorchen und die Freiheit im äußeren Verhältnis zu körperlichen Dingen ist ein Grund äußerer Zwangsgesetze und zwar ohne factum iniustum des andern dennoch durch meine bloße Willkür einzuschränken ohne es nach meinem angeborenen Recht der Unverletzlichkeit meiner Person zu tun ..." 11
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Transzendental-juridisches Grundverhältnis bei Kant
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fes vom intelligiblen Besitz auf folgende Weise notwendig: "Ich will" als von mir vollzogene Deklaration, einen Gegenstand besitzen zu wollen, ist Ausdruck je meiner partikulären, individuellen Interessenlage, beruht zugleich aber auch auf meiner transzendentalen Person-stellung der Sache gegenüber. Die juridische Willenserklärung gebe ich nicht gegenüber der Sache, sondern den andern Personen ab, um deren Anerkennung jeweils meines Willens zu bewirken. Die Respektierung jeweils meines im Kommunikationsritual der Rechtssprache abgegebenen Willenserklärung wird für die andern verbindlich gemacht, die somit meine Stellung als Herrn der Sache ebenso in Freiheit anerkennen, wie ich meinerseits ihren Besitzstand respektiere. Zu dem juridischen Grund-Verhältnis zwischen mir, dem Anderen und den Sachen gehört die gegenseitige Verpflichtung, die Stellung anzuerkennen, die jeder dem intelligiblen Besitz als der ihm zum Gebrauch rechtlich zugesicherten Sache einnimmt. Die Sache kann durch die Willenserklärung nicht verpflichtet werden, da sie Gegenstand der Verfügung, des Gebrauchs und daher recht-los ist: dagegen trifft der Verpflichtungscharakter auf das Verhältnis der Rechtspersonen zu. "Die gewöhnliche Erklärung des Rechts in einer Sache (ius reale, ius in re), "es sei das Recht gegen jeden Besitzer derselben", ist eine richtige Nominaldefinition. - Aber was ist das, was da macht, daß ich mich wegen eines äußeren Gegenstandes an jeden Inhaber desselben halten und ihn (per vindicationem) nötigen kann, mich wieder in Besitz desselben zu setzen? Ist dieses äußere rechtliche Verhältnis meiner Willkür etwa ein unmittelbares Verhältnis zu einem körperlichen Dinge? So müßte derjenige, welcher sein Recht nicht unmittelbar auf Personen, sondern auf Sachen bezogen denkt, es sich freilich (obzwar nur auf dunkle Art) vorstellen: nämlich weil dem Recht auf einer Seite eine Pflicht auf der andern korrespondiert, daß die äußere Sache, ob sie zwar dem ersten Besitzer abhanden gekommen, diesem doch immer verpflichtet bleibe, d. i. sich jedem anmaßliehen andern Besitzer weigere, weil sie jenem schon verbindlich ist, und so mein Recht gleich einem der Sache begleitenden und vor allem fremden Angriffe bewahrenden Genius den fremden Besitzer immer an mich weise. Es ist also ungereimt, sich Verbindlichkeit einer Person gegen Sachen und umgekehrt zu denken, wenn es gleich allenfalls erlaubt werden mag, das rechtliche Verhältnis durch ein solches Bild zu versinnlichen und auszudrücken" 13 • So bestimmt Kant in der Realdefinition des Sachenrechts, daß das Recht in einer Sache ein "Recht des Privatgebrauchs einer Sache, in deren (ursprünglichen oder gestifteten) Gesamtbesitze ich mit allen andern bin", sei. Da die Sache demnach rechtlicher Bedeutungsträger meiner Willenserklärung ist, verletzt mich jeder, der sie ohne meine Zustimmung 13
VI, S. 260.
18 FestsChrift für Helmut Schelsky
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in Gebrauch nimmt. Das transzendentaljuridische Grundverhältnis zwischen den Personen in einer Rechtsgesellschaft sieht die gegenseitige Verbindlichkeit vor, im andern den freien Herrn seiner Sachen anzuerkennen: der gesellschaftsbildende Charakter des Rechts beruht auf diesem transzendentalen Verhältnis der gegenseitigen Anerkennung des "Ich will", also der Freiheit eines jeden im Gebrauch der Sachen. "Ich will" repräsentiert zugleich die allgemeine Rechtsvernunft, d. i. den "allgemeinen Willen". "Es gibt kein unmittelbares Recht in Sachen (denn diese können uns nicht verbindlich sein), sondern nur ein Recht gegen Personen. Also kann es keine eigenmächtige Erwerbung geben, sondern zu allem wird austeilende Gerechtigkeit erfordert - nur kommt es darauf an, welche rechtlichen Gründe auf meiner Seite sind, daß diese mir die Sache als die meine zusprechen14." Denn ein "einseitiger Wille", der nur immer partikulär und individuell bleibt, kann "in Ansehung eines äußeren, mithin zufälligen Besitzes nicht zum Zwangsgesetz für jedermann dienen, weil das der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen Abbruch tun würde. Also ist nur ein für jeden andern verbindlicher, mithin kollektiv allgemeiner (gemeinsamer) und machthabender Wille derjenige, welcher jedermann jene Sicherheit leisten kann- der Zustand aber unter einer allgemeinen äußeren (d. i. öffentlichen) mit Macht begleitenden Gesetzgebung ist der bürgerliche. Also kann es nur im bürgerlichen Zustande ein äußeres Mein und Dein geben" 15• Es wurde erklärt, daß die gesellschaftsbildende Kraft des Rechts nicht so sehr in der Sicherung des freien Spielraums im Gebrauch der in Besitz befindlichen Sache als vielmehr in der Verpflichtung der Personen liegt, gegenseitig die freie Person-Stellung der Sache gegenüber durch Befolgung des Gesetzes der austeilenden Gerechtigkeit anzuerkennen. Diese transzendentale Verwurzelung des Rechts im Prinzip des juridischen Grundverhältnisses zwischen den Personen, die ihre Freiheit im Gebrauch der Sache gegenseitig anerkennen, und den Sachen liegt auch den Aussagen Kants zugrunde, in denen es ihm um die Sicherung des freien Verfügungsspielraums über den Gegenstand des Besitzes geht. "Wenn ich (wörtlich oder durch die Tat) erkläre: Ich will, daß etwas Äußeres das Meine sein soll, so erkläre ich jeden andern für verbindlich, sich des Gegenstandes meiner Willkür zu enthalten: eine Verbindlichkeit, die niemand ohne diesen meinen rechtlichen Akt haben würde. In dieser Anmaßung aber liegt zugleich das Bekenntnis: jedem andern in Ansehung des äußeren Seinen wechselseitig zu einer gleichmäßigen Enthaltung verbunden zu sein; denn die I' XXIII, 11
s. 281.
VI, S. 256.
Transzendental-juridisches Grundverhältnis bei Kant
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Verbindlichkeit geht hier aus einer allgemeinen Regel des äußeren rechtlichen Verhältnisses hervor." Das individuelle "Ich will" versteht sich zugleich als Sprecher des allgemeinen, vereinten Willens: die Rechtssubjekte als Bürger nehmen für sich gemeinsam und in Form einer rechtlichen Solidarität die gesetzlich geregelte Herrschaftsstellung über die Sachen in Anspruch: für dieses Verhältnis ist der intelligible Besitz repräsentativ, in welchem deutlich wird, daß "das Prinzip der Freiheit in der Idee einer gesamten und vereinigten Willkür für sich selbst (a priori) erweiternd in Ansehung des rechtlichen Besitzes über die Grenze des physischen" ist18 • Wenn bei Kant immer wieder davon die Rede ist, daß das Recht dem Besitzer die Verfügungsmacht über den Gegenstand seines Besitzes "sichere", so ist damit auch eine durch das Recht verbürgte Sicherung der freien Stellung der Person den Sachen gegenüber zu verstehen. Unsere gemeinsame Rechtsvernunft sichert uns die Stellung der Menschheit und der ihr eigentümlichen Freiheit. Daraus resultiert der Bezug, den Kant zwischen Recht und Gesellschaft sieht: er sieht die Rechtsinstitution nicht als Mittel an, um mit ihrer Hilfe Gesellschaft zu begründen, wie es bei Hobbes, aber auch bei Locke und anderen empiristischen Gesellschaftstheoretikern geschieht; vielmehr ist Gesellschaft das Ergebnis des Wirkens der Rechtsvernunft, der es um die Verwirklichung und Einrichtung der Herrschaft des Menschen über den Sachen zu tun ist. "Die Gesellschaft ist ... nicht die Ursache" des Rechtszustandes, "sondern die Wirkung. Der praktische souveräne Grund des Rechts macht eine Gesellschaft ... "17 • Das Recht vermag wegen des ihm zugrunde liegenden transzendentaljuridischen Charakters die Basis für die Verwirklichung der Freiheit abzugeben: es dient nicht primär der Sicherung des Eigentums und der Bildung einer Gesellschaft, sondern diese ist Ergebnis der Rechtsvernunft und steht auch unter Voraussetzungen der transzendental-juridischen Konstellation, in welcher die Stellung der "Menschheit" den Sachen gegenüber bestimmt wird. "Die verbindende Kraft alles Rechts liegt nicht sowohl in dem, was einer Person eigen ist, als vielmehr in dem Rechte der Menschheit. Daher haben alle Menschen die Verbindlichkeit, das Recht jedes einzelnen zu unterstützen....18." Noch einmal mag hervorgehoben werden, daß die von Kant zum Thema gemachte Beziehung zwischen Freiheit und intelligiblem Besitz nicht primär auf dem Konzept des etwa der freien Marktwirtschaft eigentümlichen Gedankens des zu sichernden Spielraums für ökonou XXIII, S. 288. 17 1&
18•
XIX, S. 533 (Refl. 7847). XIX, S. 538 (Refl. 7862).
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mische Konkurrenz, Unternehmergeist, Bedürfnis usw. beruht, sondern ursprünglich auf dem Prinzip des transzendentaljuridischen Grundverhältnisses zwischen den einander in ihrer Freiheitsrolle anerkennenden Personen und den verfügbaren Sachen. Bedenkt man diese Fundierung der Besitztheorie Kants im transzendentalen Grundverhältnis nicht, so muß man zu einer verzerrten Deutung der kantischen Rechts- und Gesellschaftslehre kommen, wie sie etwa auch in der These gegeben ist, daß Kant die rechtliche und gesellschaftliche Freiheit an die Sicherung des Eigentums gebunden habe und primär als diejenige des "Besitzbürgers als solchen" von ihm begriffen werde 19 • Locke, der den Besitz auf Arbeit gründet, geht von der Voraussetzung aus, daß die Natur vom Menschen niemals aufgearbeitet werden kann: wenn die Gesellschafts- und Eigentumsbildung auf der Arbeit beruht, welche die Menschen an den Boden und an die Erzeugnisse der Natur verwandt haben, so führt dieser Prozeß niemals zu einer Situation, in der die Reserven der Natur an Boden und Energiequellen verbraucht sind. Es können "noch große Flächen von Boden gefunden werden, welche ... unbearbeitet daliegen und die noch zu groß sind als daß die Leute, die darauf wohnen, davon Gebrauch machen oder machen können" 20 • Von Locke wird die Entwicklung nicht vorausgesehen, die sich in unserer Gegenwart anbahnt: sie bewirkt, daß die Locke'sche Voraussetzung der unendlichen Reserven infolge des technischen Standes der Ausbeutung der Natur ungültig wird. In dieser Lage tritt der Vorzug der kantischen Position deutlich ins Licht. Es ist aber primär nicht dieser Grund, der dafür verantwortlich zu machen ist, daß Kant die Erwerbung von Besitz nicht auf Arbeit fundiert und das Besitzverhältnis auf eine transzendentaljuridische Konstellation zurückführt. Er kehrt gegenüber Locke die Abhängigkeit von Besitzrecht und Arbeit um, weil er einen andern Begriff von Arbeit vertritt. Während nämlich Locke jede nutzbringende Tätigkeit, in der sich ein Individuum auch im Naturstande an einer Sache zu schaffen macht, als Arbeit bezeichnet, sieht Kant den gesellschaftlichen Einschlag als wesentlich für das Prinzip: Arbeit an. Seinen Ausführungen liegt die Frage zugrunde: Wie ist Arbeit möglich? Seine Antwort lautet: Als gesellschaftliche Arbeit, d. h. als eine Formierung von 19 So etwa bei Richard Saage, Eigentum, Staat und Gesellschaft bei Immanuel Kant, Stuttgart I Berlin I Köln I Mainz 1973. Im Anschluß an andere Autoren kontrastiert Saage Kants Konzept gegen die Auffassung von Locke, der Eigentum auf Arbeit begründet und damit den sozialpflichtigen Charakter des Besitzes betont habe, angeblich im Gegensatz zu Kant, der die Arbeit an der Sache auf einen Rechtsbezug ihr gegenüber aufgebaut und damit das Besitzverhältnis vor dem sozialen Leistungsbezug vorhergehen habe lassen. Vgl. Saage, ebd., S. 16 ff. zo Die zweite der Untersuchungen der "Two treatisis of Government", in: The Works of John Locke, London 1812, V S. 364.
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Sachen, der dasselbe transzendentaljuridische Grundverhältnis zwischen den Personen und der Sache zugrunde liegt, wie es für den Besitz fundierend ist. Die transzendentalphilosophische Wurzel der Arbeit ist zugleich auch diejenige der Gesellschaft selbst: sie ist durch den Begriff des transzendentaljuridischen Grundverhältnisses zu kennzeichnen. "Daß die erste Bearbeitung, Begrenzung oder überhaupt Formgebung eines Bodens keinen Titel der Erwerbung desselben, d. i. der Besitz des Akzidenz nicht einen Grund des rechtlichen Besitzes der Substanz abgeben könne, sondern vielmehr umgekehrt, daß Mein und Dein nach der Regel . . . aus dem Eigentum der Substanz gefolgert werden müsse, und daß der, welcher an einen Boden, der nicht schon vorher der seine war, Fleiß verwendet, seine Mühe und Arbeit gegen den ersteren verloren hat, ist für sich selbst so klar, daß man jene noch so alte und noch weit und breit herrschende Meinung schwerlich einer andern Ursache zuschreiben kann, als der insgeheim obwaltenden Täuschung, Sachen zu personifizieren (kursiv v. Verf.) und, gleich als ob jemand sie sich durch an sie verwandte Arbeit verbindlich machen könne, keinem anderen als ihm zu Dienste zu stehen, unmittelbar gegen sie sich ein Recht zu denken; ... ". Kant fordert eine Antwort auf die Frage: "Wie ist ein Recht in einer Sache möglich21 ?" In der Antwort, die er auf diese Frage gibt, begründet er auch die von ihm behauptete Rangordnung zwischen Recht und Arbeit. Indirekt beruft er sich hier auf das transzendentaljuridische Grundverhältnis, dessen Verfehlung zu der "Täuschung" führt, als sei die Sache an die Stelle der allein rechtsfähigen Person zu setzen. Während das "Grundverhältnis" die Stellung der Freiheit und Herrschaft der Personen den Rechtssachen gegenüber bedeutet, so daß diesen der Charakter rechtlich geregelter Verfügbarkeit zukommt, besteht die "Täuschung" darin, Sachen zu personifizieren und sie rechtswürdig und rechtsfähig zu machen. Die Möglichkeit des Rechtes in einer Sache begründet zugleich ein mögliches Arbeitsverhältnis ihr gegenüber. Arbeit ist primär auf das transzendentaljuridische Grundverhältnis zwischen den sich in ihrer Freiheit anerkennenden Personen und den Sachen gegründet. Sie kann nur als "gesellschaftliche" Arbeit legitimiert werden und ist als Praxis zu begreifen, die im Rahmen einer Selbstgesetzgebung der Mitglieder der Gesellschaft geschieht, in welcher auf dem Boden des transzendentaljuridischen Grundverhältnisses die Sachen nach gemeinsam anerkannten Regeln geformt und behandelt werden22 • 21
VI, S. 268/69.
u Auch philosophisches Denken kann nach Kant nur als Form des Arbeitens Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben: es muß seinen Erkenntnis-besitz vor einer allgemeinen Rechtsgesetzgebung des Denkens und Spre-
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m. Die transzendentaljuridische Wurzel, aus der die kantische Rechtslehre entspringt, ist auch in der theoretischen Vernunft sichtbar zu machen. Es geht auch hier um die Rolle, die sich das erkennende Subjekt selbst dem zu erkennenden Gegenstand in einer in einer transzendentalen Erkenntniskonstellation überträgt. Da ist zunächst noch einmal an den philosophischen Gehalt der copernicanischen Wendung zu erinnern: das Subjekt übernimmt nicht ungefragt die Perspektive, die ihm als einem irdischen Leibwesen seine "natürliche" Stellung auf dieser Erde nahelegt, sondern macht sich von dem Zwange der "Natur" frei und wählt demgemäß nach selbständiger Motivation einen Punkt für die Beschreibung der Vorgänge im Weltall 23 • Analog überträgt Kant dem transzendentalen Subjekt die Rolle, eine Stellung der Freiheit gegenüber den Objekten einzunehmen, welche in die transzendentale Erkenntniskonstellation nicht als selbständige und ihre Gestalt und Verhaltensformen selbst darstellende Wesen (Dinge an sich), sondern als bloße "Erscheinungen" eingehen. Sie werden auf die Bühne von Raum und Zeit versetzt und über sie werden die vom Verstande entworfenen Notwendigkeitszusammenhänge der Naturgesetzlichkeit verhängt. Der sozialphilosophische Charakter an dieser erkenntnistheoretischen Konstellation besteht darin, daß die Gegenstände auf diese Weise für die Institution: Erkenntnis und Wissenschaft a priori verfügbar gemacht werden und als Produkte einer transzendentalen Aufbauarbeit von seiten des Subjekts gedeutet werden können. In dieser Konstellation stellt sich "ich denke", welches in der theoretischen Philosophie dem praktischen "Ich will" entspricht, einen chens methodisch legitimieren. Dem Philosophen ist es angemessen, sich als "Bürger" nach einer rechtsgesellschaftlichen Verfassung zu verhalten, welche sich die Gesellschaft der Philosophierenden innerhalb der größeren Rechtsgesellschaft gibt. Wesentlich ist es, zu bedenken, daß auch philosophische Arbeit das von der theoretischen Vernunft hergestellte Grundverhältnis zwischen dem Subjekt und dem Objekt voraussetzt, welches vom "Gefühl" verfehlt wird, sofern dieses Erkenntnisfunktionen zu übernehmen versucht. "Das Prinzip, durch Einfluß eines höheren Gefühls Philosophieren zu wollen, ist unter allen am meisten für den vornehmen Ton gemacht; denn wer will mir mein Gefühl streiten? Kann ich nun noch glaubhaft machen, daß dieses Gefühl nicht bloß subjektiv in mir sei, sondern einem jeden angesonnen werden könne, mithin auch objektiv und als Erkenntnisstück, also nicht bloß als Begriff vernünftelt, sondern als Anschauung (Auffassung des Gegenstandes selbst) gelte: so bin ich im großen Vorteile über alle die, welche sich allererst rechtfertigen müssen, um sich der Wahrheit ihrer Behauptungen berühmen zu dürfen. Ich kann daher in dem Tone eines Gebieters sprechen, der der Beschwerde überhoben ist, den Titel seines Besitzes zu beweisen (beati poesidentes)" (Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, VIII S. 395). 13 Vgl. meinen Aufsatz: Die Copernicanische Denkfigur bei Kant, KantStudien 64. Jg. (1973) S. 30 f.
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Gegenstand gegenüber, dessen gegenständlichen Charakter es nach allgemeinen von ihm entworfenen Gesetzen vorschreibt bzw. dessen "Gegenständlichkeit" es den Kategorien gemäß konstituiert. Hier handelt es sich nicht um eine "brauch-bare", d. i. zu möglichem Gebrauch vom Recht deklarierte Sache, sondern um eine Möglichkeit der Erkenntnis der Sache, deren sachlicher Charakter daher auf diese Möglichkeit hin vorwegentworfen werden muß. Um einen wirklichen Erkenntnisbezug zu ihr aufzunehmen und an ihr z. B. Erfahrungen zu machen, muß ich den gegenständlichen Charakter der Sache vorweg (a priori} vorgezeichnet haben, damit er in das Grundverhältnis möglicher Erkennbarkeit einbeziehbar ist. Bedeutet die transzendentaljuridische Konstellation zur Sache in der Rechtssphäre eine freie Verfügungsmöglichkeit über sie, so geht sie in den Erkenntnisbezug in der Weise ein, daß ich die gegenständlichen Charaktere des Erkenntnisgegenstandes in Freiheit entwerfe. Das in die theoretische Vernunft eingehende transzendentaljuridische Grundverhältnis erweist meine Stellung als die der Freiheit gegenüber der Gegenständlichkeit der Gegenstände. Erkennbarkeit ist eine Art von theoretischer Verfügbarkeit über die Gegenstände. "Ich denke" setzt sich zur Sache in ein transzendentales Verhältnis, damit die Ausübung der Erkenntnishandlungen an ihr möglich wird. In denselben Jahren, in denen Kant die philosophische Rechtslehre von 1797 schrieb, hat er ein in den Fragmenten des Opus postumum angedeutetes Programm zu formulieren versucht, in welchem er vom "höchsten Standpunkt" der Transzendentalphilosophie spricht, der den Blick für eine letzte Einheit von Freiheit und Natur, praktischer und theoretischer Philosophie freimachen soll. Diese Einheit kann nach Kant nicht im Sinne eines dogmatischen Identitätssystems von Vernunft und Wirklichkeit, wie es bei Schelling und Regel behauptet wird, geschehen: vielmehr muß es unter kritischen Voraussetzungen zustande gebracht werden: als Bürgschaft für diese Identität ist die Idee eines Wesens, welches Vernunft und Macht in sich vereinigt, zu entwerfen. Diese Idee hat die Aufgabe, die beiden andern Ideen der Freiheit und der Welt auf eine letzte transzendentale Basis zu gründen, die als Identität von Freiheit und Natur gedacht wird. "Das All der Wesen ... enthält in sich Gott und die Welt. Das erstere ist sich selbst a priori konstituierend als eine Person, d. i. als ein Wesen, das Rechte hat und keine Pflichten, das zweite was beides Rechte sowohl als Pflichten hat, der Mensch der Weltbeobachter (cosmotheoros} 24 ." Es ist vom "höchsten Standpunkt" der Transzendentalphilosophie die Rede, in 1'
XXI,
s. 43.
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welchem das Grundverhältnis zwischen dem freien Subjekt und den Sachen sichtbar zu machen ist, so wie es im Modell der transzendentaljuridischen Konstellation vor Augen steht25 • So, wie sich das Rechtssubjekt die Rolle dessen anweist, der die Sachen zu Mitteln für seine Zwecke gebraucht, so übernimmt das theoretische Subjekt die Rolle des Gesetzgebers und des Herrn der theoretisch verfügbaren Sachen26 • Dadurch kommt in den Erkenntnisbezug zwischen Subjekt und Objekt ein transzendentaljuridischer Einschlag. Das Subjekt verschafft sich insofern ein Recht auf den zu erkennenden Gegenstand, als es a priori dafür sorgt, daß dieser nur als Produkt der formenden Arbeit infrage kommt, die es auf ihn in transzendentalen Konstitutionsakten verwandt hat. Die Stellung der Freiheit, die dem "Ich will" in juridischer Hinsicht zugebilligt worden ist, ist zugleich transzendentaljuridische Voraussetzung für die legitime Behauptung jeweils "meines" theoretischen Ergebnisses. Auch "ich denke" stellt eine Art von Entscheidung dar, in welcher ich Vorstellungen über den Gegenstand als die "meinigen" behaupte27 • Das transzendentaljuridische Grundverhältnis schließt den Bezug zwischen den ihre Freiheit gegenseitig anerkennenden Personen ein: zu ihm gehört daher ein dialogischer Verkehr zwischen den Personen, die im Bereich der Theorie vom Boden gemeinsamer Vernunft aus nach selbstgegebenem Gesetz am Gewinn eines gemeinsamen Erkenntnis-"besitzes" Hand in Hand arbeiten. Auf diesen dialogischen Zug im transzendentaljuridischen Grundverhältnis bei theoretischer und praktischer Vernunft soll jetzt genauer eingegangen werden. Es mag daran erinnert werden, daß die Rechtsvernunft gesetzgeberisch den Bezug zwischen den die Freiheit repräsentierenden Personen und den brauchbaren Sachen herstellt und regelt. Das gesetzgebende "Ich will" repräsentiert zugleich die gesellschaftliche Vernunft des 25 XXI, S. 58. "Der Transzendentalphilosophie höchster Standpunkt in Vereinigung der Ideen der theoretisch-spekulativen und moralisch-praktischen Vernunft der Verbindung der Natur und Freiheit in einem und demselben Subjekt nicht sparsim aggregiert, sondern concunctim nach einem Prinzip der durchgängigen Bestimmung gedacht ... " 28 XXI, S. 93: "Transzendentalphilosophie ist das Bewußtsein des Vermögens vom System seiner Ideen in theoretischer sowohl als in praktischer Hinsicht Urheber zu sein. Ideen sind nicht bloße Begriffe, sondern Gesetze des Denkens, die das Subjekt ihm selbst vorschreibt. Autonomie." 27 Kritik der reinen Vernunft B 132: "Denn die mannigfaltigen Vorstellungen, die in einer gewissen Anschauung gegeben werden, würden nicht insgesamt meine (hervorgehoben durch Verf.) Vorstellungen sein, wenn sie nicht insgesamt zu einem Selbstbewußtsein gehörten, d. i. als meine Vorstellungen (ob ich mir ihrer gleich nicht als solcher bewußt bin) müssen sie doch der Bedingung notwendig gemäß sein, unter der sie allein in einem allgemeinen Selbstbewußtsein zusammenstehen können, weil sie sonst nicht durchgängig mir (hervorgehoben durch Verf.) angehören würden."
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"vereinten Willens". Daher ist die von ihr gestiftete Gesetzgebung eine Selbstgesetzgebung, derzufolge die in das rechtliche Grundverhältnis einbezogenen gesellschaftlichen Personen sich selbst und gegenseitig die Verpflichtung auferlegen, die freie Stellung der Person gegenüber den Sachen anzuerkennen und zu bewahren und die Rangordnung zwischen der Selbstzweckartigkeit der Person und den bloß relativen Sachzwecken nicht zu verletzen. Auf Grund dieser Selbstgesetzgebung wird die Voraussetzung dafür geschaffen, daß jedes Mitglied der Rechtsgesellschaft seine eigenen Interessen in der Perspektive der allgemeinen Gesetzgebung beurteilen und behandeln kann und daß Interessenkonflikte durch diese im Recht institutionalisierte Perspektive in einem Rechtsverfahren vermittelt und in einem richterlichen "Erkenntnis" vereinbar gemacht werden können. Wie es im Bereich der Rechtsvernunft darum geht, Interessenkonflikte und durch sie bestimmte Streitsituationen durch einen in dialogischer Weise des Redens und Gegenredens geführten rechtlichen Prozeß in einen Zustand der Einigkeit überzuführen, so ergibt sich auch für die theoretische Vernunft auf dem Gebiet philosophischen Erkennens eine analoge Aufgabe. Statt der Interessenkonflikte treten hier die Gegensätze zwischen miteinander streitenden Weltperspektiven auf. Der Streit vollzieht sich jeweils in entgegengesetzten Aussagen über "un-bedingte", erkenntnismäßig nicht greifbare Gegenstände, wie Welt, Gott, Seele, Freiheit. Als Musterbeispiel für solch einen metaphysischen Streit führte Kant mit Vorliebe die Kontroverse zwischen den Vertretern der Freiheit und denen der Notwendigkeit an: offensichtlich erregte dieses Thema deshalb sein besonderes Interesse, weil dabei die Rechtfertigung der Freiheit auf dem Spiele steht, deren Bedeutung für die praktische Philosophie und für die Praxis selbst grundlegend ist. Denn gelingt es nicht, die Freiheit im philosophischen Denken zu retten, dann wären unvermeidlich alle gesellschaftlichen Institutionen, die auf dem Prinzip "Freiheit" ruhen, wie Erziehungswesen, Strafrecht usw. hinfällig. So kann Kant davon reden, daß es hier darum gehe, einen "Besitz" durch geeignete philosophische Argumentationsmethoden zu sichern, den sich die Gesellschaft im geschichtlichen Verlauf ihrer gedanklichen und praktischen Arbeit erworben hat. Dadurch ist es verständlich, daß dabei auch praktische Interessen der Vernunft ins Spiel kommen und die miteinander streitenden philosophischen Positionen nicht als Formeln für ein Wissen, sondern für einen vernünftigen "Glauben" angesehen werden müssen, der nicht die Form einer objektiven theoretischen Gewißheit darstellt, sondern der sprachlichen Wendung entspricht: "Ich bin gewiß, daß ... 28 ." zs
Kritik der reinen Vernunft B 857.
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Kant hat in der Kritik der reinen Vernunft die Erkenntnis gewonnen, daß solche metaphysischen Kontroversen in einer analogen dialogisch-dialektischen Weise zu behandeln sind, wie es bei den Interessenkonflikten im Bereich der Rechtsprozesse geschieht: dazu ist eine legislative Tätigkeit der theoretischen Vernunft vonnöten. Es bedarf einer Selbstgesetzgebung des philosophischen Denkens (Nomothetik), welche Kant in der Gestalt seiner "Kritik der reinen Vernunft" schaffen wollte. Diese Nomothetik sollte dem Zustand der "Anti-nomie", also der inneren Widersprüchlichkeit in der Gesetzgebung, auf deren Boden die "Prozesse" bei den metaphysischen Streitsituationen geführt werden müssen, ein Ende bereiten. Wenn man das dabei waltende Prinzip auf seine kürzeste Formel bringt, so ist es so zu charakterisieren: in der Antinomie wird das "juridische Grundverhältnis" verletzt, da ein Thema wie das der Freiheit in die Rolle einer theoretisch verfügten Sache gerückt wird, die nur den Erscheinungen vorbehalten ist. Es geht in der die Antinomie überwindenden wahren Gesetzgebung darum, die transzendentalen Rangverhältnisse zwischen dem Unbedingten und dem Bedingten bei der Prozeßführung in den metaphysischen Kontroversen streng zu wahren und dadurch die Möglichkeit einer rationalen Vermittlung zwischen den streitenden Parteien zu schaffen. Die kritische und zugleich dialogisch-dialektische Gesetzgebung des philosophischen Denkens hat die Aufgabe einer Bestimmung der Weise, in welcher das Thema: Freiheit be-handelt werden muß und in welch anderer Weise die im Notwendigkeitszusammenhang stehenden Naturerscheinungen zu begreifen sind. Die hier maßgebende Methode und die ihr entsprechende Gesetzgebung des Denkens beruht auf der Voraussetzung, daß beide Themen: das der Freiheit und das der Notwendigkeit verschiedene Perspektiven abgeben, deren richtiger Gebrauch dazu führt, daß Freiheit und Notwendigkeit aufeinander abgestimmt werden und ein "Vergleich" zwischen den streitenden Positionen hergestellt wird. "Man kann die Kritik der reinen Vernunft als den wahren Gerichtshof für alle Streitigkeiten derselben ansehen; denn sie ist in die letzteren, als welche auf Objekte unmittelbar gehen, nicht mitverwickelt, sondern ist dazu gesetzt, die Rechtsame der Vernunft überhaupt nach den Grundsätzen ihrer ersten Institution zu bestimmen und zu beurteilen29." Diese rechtliche Institution gibt den Boden dafür ab, daß die Vernunft in ihrem "polemischen Gebrauche" bei der Verteidigung ihrer Rechtsame an solchen "Besitztümern" wie der Freiheit imstande ist, ihre "gerechte" Sache auch auf recht-mäßige Weise gegen die Angriffe von seiten skeptischen Reflektierens zu verteidigen. Die theoretische und praktische Behauptung der Freiheit beruft sich auf ein Besitzrecht, welches sich das gesellschaftliche Be28
Kritik der reinen Vernunft B 779.
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wußtsein der Neuzeit in seiner geschichtlichen Entwicldung durch gedankliche und praktische Arbeit erworben hat. Der kritischen Philosophie ist die Aufgabe zugedacht, durch ihre Gesetzgebung der Gesellschaft die Möglichkeit zu geben, der durch nihilistische Reflexion herbeigeführten Zerstörung der Basis entgegenzuwirken, auf welcher eine handelnde Realisierung der Freiheit möglich wird. Im Unterschied zum dogmatischen Verfahren, welches mit der obrigkeitlichen Macht zusammengeht, soll die auf dialogisch-dialektischer Methode beruhende kritische Gesetzgebung der Vernunft eine "rechtmäßige" und auf Freiheit beruhende Verteidigung des streitig gemachten Besitzes ermöglichen. Die gesetzgeberische Tätigkeit der philosophischen Vernunft hat daher die Aufgabe, das gesellschaftliche Handeln auf Grund der Freiheit und für die Freiheit zu sichern. Der Standpunkt der auf nihilistischer Skepsis oder totalitärem Anspruch beruhenden Reflexion, durch welchen die Freiheit infrage gestellt werden soll, wird auf diese Weise aufgefordert, sich dem Gerichtshof der Vernunft zu stellen: er wird auf dialogisch-dialektischem Wege entkräftet30• Überlegungen dieser Art sind geeignet, auch in der gegenwärtigen Situation des gesellschaftlichen Bewußtseins philosophische Hilfen zu geben, dessen Gefährdung Helmuth Schelsky auch in einer Wucherung der Reflexion sieht, die eine lähmende Wirkung für das Handeln hat: nach kantischen Voraussetzungen bedarf es einer Kultivierung des transzendentaljuridischen Charakters der Vernunft, damit die Kraft der Entscheidung für ein auf die Realisierung der Freiheit ausgehendes politisches und rechtliches Handeln durch ein kritisches, dialogisch-dialektisches Prozeßverfahren gestützt wird, in welchem der geschichtliche Ertrag der theoretischen und praktischen Vernunftarbeit, den Kant als erworbenen "Besitz" der Vernunft anspricht, durch Rechtsspruch anerkannt wird. Die metaphysischen, geschichtsphilosophischen, gesellschaftsphilosophischen und rechtsphilosophischen Gedankenfäden, die in diesem Zusamenhang zu verfolgen sind, konvergieren in den kantischen Sätzen: "Ohne dieselbe (nämlich die "erste Institution" der rechtssprechenden Vernunft (der Verf.)), ist die Vernunft gleichsam im Stande der Natur und kann ihre Behauptungen und Ansprüche nicht anders geltend machen oder sichern als durch Krieg. Die Kritik dagegen, welche alle Entscheidungen aus den Grundregeln ihrer eigenen Einsetzung hernimmt, deren Ansehen keiner bezweifeln kann, verschafft uns die Ruhe eines gesetzlichen Zustandes, in welchem wir unsere Streitigkeiten nicht anders führen sollen 10 Auf diese Zusammenhänge kommt Schelsky in einem Kontext zu sprechen, in welchem er sich vornehmlich auf die Arbeiten A. Gehlens beruft. (Vgl. Schelsky, Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar? Zum Thema einer modernen Religionssoziologie (1957), in: Auf der Suche nach der Wirklichkeit, Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf I Köln 1965, S. 250 - 275.)
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als durch Prozeß. Was die Händel in dem ersten Zustande endigt, ist ein Sieg, dessen sich beide Teile rühmen, auf den mehrenteils ein nur unsicherer Friede folgt, den die Obrigkeit stiftet, welche sich ins Mittel legt, im zweiten aber die Sentenz, die, weil sie hier die Quelle der Streitigkeiten selbst trifft, einen ewigen Frieden gewähren muß .... " 31 • Das bedeutet, daß sich die traditionelle Sitte des Denkens, Sprechens und Handeins der kritischen Rechtfertigung vor dem Gerichtshof der Vernunft ("Zeitalter der Kritik"} zu stellen hat, der als ur-sprüngliche Rechtsinstitution zugleich ihren Gehalt an Freiheit als berechtigten "Besitz'' gegenüber Angreifern sicherstellt31a. Am Ende mag noch einmal die Aufmerksamkeit auf den Bezug zwischen transzendentaler Fundierung des Rechts und dem Prinzip Gesellschaft gelenkt werden, wobei das transzendentaljuridische Grundverhältnis auch in das Gebiet der Moralphilosophie hinein verfolgt werden soll. Dabei mag daran erinnert werden, daß die Bedeutung des Wortes "juridisch" so weit zu verstehen ist, daß Programme wie dasjenige der "Recht"-fertigung sowie das der Begründung der "Recht"mäßigkeit der Personstellung den Sachen und den andern Personen gegenüber einbezogen werden. Die Ausdehnung der Bedeutung von "juridisch" wird in diesem Zusammenhang an diejenige der Bedeutung von "Recht" und "Rechtmäßigkeit" angeglichen, von der z. B. Hegel in seiner Rechtsphilosophie Gebrauch gemacht hat, sofern er unter den Titel des "Rechtes" nicht nur das "abstrakte" Recht, sondern auch "Moralität" und "Sittlichkeit" subsumiert hat. Zu den Erfahrungen, die das praktische Bewußtsein seit Kants Zeiten eingeholt hat, gehört auch die Erkenntnis, daß im Prinzip Gesellschaft normative Ansprüche zur Geltung kommen, welche beim Aufbau des Rechts verlangen, berücksichtigt zu werden, wenn in ihm die moralische Idee der Gerechtigkeit verwirklicht werden will. Für diese Aufgabe kann der vorliegende Versuch wichtig sein, das Recht auf ein transzendentaljuridisches Grundverhältnis zu begründen, welches zugleich auch fundierend für Gesellschaftsbildung und Gesellschaftstheorie ist32 . Kritik der reinen Vernunft B 780. Vgl. Hans Kiefner, Richterliche Methode und das Vermittlungsproblem in der Kantischen Rechtsphilosophie, Festschrift für F. Kaulbach. In: Perspektiven der Philosophie hrsg. v. R. Berlinger u. a., Bildesheim I Amsterdam 1978. 31 Diese Überlegungen treffen zumindest einen Teil jener Fragen, die H. Schelsky mit seiner Forderung nach einer "transzendentalen Theorie der Gesellschaft" exponiert hat. Im transzendentaljuridischen Grundverhältnis wird, so meine ich, die "Freiheit des Menschen gegenüber der Gesellschaft" sichtbar, von der Schelsky sagt, daß sich nur von ihrem Standpunkt aus die "Sinnfrage des Sozialen als Ganzem, der Sinn der "Gesellschaft" und des sozialen Daseins überhaupt, aufwerfen und der unaufgebbare Versuch einer Lebens- und Weltsinndeutung einordnen" lasse. (Schelsky, Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, Düsseldorf I Köln 1959, 3. Auf!. 1967, S. 99.) 31
31 a
Transzendental-juridisches Grundverhältnis bei Kant
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Die gemeinsame transzendentale Fundierung von Recht und Gesellschaft mag auf dem Wege über die Moralphilosophie Kants gesucht werden. Es ist zu fragen, ob es gelingt, die moralphilosophischen Überlegungen auf das transzendentaljuridische Grundverhältnis zurückzuführen, um dann moralische Gerechtigkeitsansprüche der Gesellschaft auf das Recht zu beziehen. Was den Person-Sachbezug angeht, so hat ihn Kant in der Moralphilosophie insofern als durch das Prinzip: Freiheit gefordert normiert, als sich in ihm die Person in "Selbstbestimmung" die Stellung des Selbstzweckes überträgt, der niemals allein als Mittel gebraucht werden darf, während die "Sache" in die Stellung des jederzeit brauchbaren Mittels zu rücken ist, welches den von der Person gesetzten Zwecken dient. Die Kategorie des "Brauchens" und "Gebrauchtwerdens", die in der Rechtsphilosophie begegnet, tritt auch in dem Zusammenhang des transzendentaljuridischen Grundverhältnisses in moralphilosophischer Bedeutung auf. Der diesem Verhältnis eigentümliche normative Charakter führt zu derjenigen Fassung des kategorischen Imperativs, die in folgende Formulierung gebracht werden darf: Es ist nicht erlaubt, der transzendentaljuridischen Grundkonstellation zwischen der Person als dem Selbstzweck und der Sache als den von vornherein zu Zwecken der Person "geborenen" Mittel zuwider zu handeln, etwa dadurch, daß die Person durch sich selbst oder durch andere ihrer Rolle als Selbstzweck entfremdet und in die Stellung der immer nur als Mittel zu gebrauchenden Sache gerückt wird. In diesem Falle würde die Person ihre recht-mäßige Rolle der Autonomie bzw. Selbstbestimmung verlieren und eine Entfremdung von sich selbst erfahren, weil sie in die Stellung des Gebrauchtwerdens geraten würde. Eine Gesellschaft, die durch ihre Struktur diese Entfremdung bewirken würde, würde diesem transzendentaljuridischen Grundverhältnis nicht entsprechen und daher moralisch, d. i. am Maßstab des Anspruchs der persönlichen Freiheit gemessen nicht gerechtfertigt werden können. Dasselbe transzendentaljuridische Grundverhältnis, welches sich in der Rechtslehre als Repräsentant der Freiheit erwiesen hat, begegnet auch demgemäß in der Moralphilosophie, in welcher es sich den Anspruch der persönlichen Freiheit als der Antinomie begründet. Die in diesem gemeinsamen Grundverhältnis angelegte Normativität hat auch Geltungsanspruch für den Aufbau der Gesellschaft. Von hier aus gesehen wird der Bezug zwischen Recht und Gesellschaft nicht durch eine Soziologisierung des Rechts herzustellen sein, sondern durch einen Rückbezug auf ihre gemeinsame transzendentaljuridische Wurzel, von der aus zugleich eine moralische Normierung im Sinne des Grundverhältnisses von Person und Sache und der gegenseitigen Anerkennung der Personen in ihrer Selbstzweckrolle angelegt ist.
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Friedrich Kaulbach
Die gegenseitige Anerkennung in der Gestalt einer konversen Zuerkennung der Rolle des Selbstzweckcharakters der Personen und der Legitimität des Gebrauchs der Sachen als Mittel zu den selbstgewählten Zwecken erfordert es auch, daß die im Rahmen der transzendentalen Grundkonstellation geschehenden Interaktionen die "Form der Publizität" aufweisen38• Gegenseitige Offenheit im Sich-zur-Prüfungstellen der für die Motivation gebrauchten Argumente und der Entscheidungen wird von der Konstellation gefordert, da nur unter dieser Voraussetzung der Unterordnung unter allgemeine Vernunftnormen ein Mit-einander freier Individuen möglich ist. Jeder "Rechtsanspruch" setzt die Form der Publizität voraus, weil es ohne diese keine Gerechtigkeit, "die nur als öffentlich kundbar gedacht werden kann". Von hier aus ergibt sich eine Möglichkeit, das im Prinzip der Publizi..,tät angesprochene "Allgemeine" der praktischen Vernunft auch als Orientierungsbasis für politisches Handeln und als Rechtsprinzip des öffentlichen Rechts anzusprechen. So wie in der Individualmoral nur diejenige Maxime als wertvoll akzeptiert werden kann, die in einem Gedankenexperiment der praktischen Vernunft auch als allgemeines Gesetz gedacht oder gewollt werden könnte, so kann man folgenden Satz "die transzendentale Formel des öffentlichen Rechts" nennen: "Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht"s'. Heimlichkeit kann als Symptom für die Unrechtmäßigkeit von Handlungen gelten, welche andere Menschen, Gruppen, Völker angehen. Ein Handeln, welches der formalen Forderung der Publizität nicht genügt, verletzt demgemäß auch das im transzendentaljuridischen Grundverhältnis geforderte Prinzip der Anerkennung des Rechts des anderen, vom Standpunkt gemeinsamer Vernunft aus meine Motive beurteilen und auf meine Entscheidungen reagieren zu können. Nur wenn ich unter Zugeständnis an die Form der Öffentlichkeit, der auch Wahrhaftigkeit eignet, meine Motive einer gemeinsamen Prüfung und Beurteilung aussetze und mich auf diese Weise dem andern öffne, genüge ich dem Gebot der Anerkennung des Andern als einer freien Mit-person im transzendentaljuridischen Grundverhältnis.
aa Zum ewigen Frieden, Anhang VIII, S. 381. " VIII, S. 381.
lus praetensum Preußisches Zivil· und Zivilprozeßrecht, richterliebe Methode und Naturrecht im Spiegel einer Reflexion Kants zur Logik Von Hans Kiefner A. Richter, Richterstuhl, Gerichtshof, desgleichen Partei, Streitsache, Prozeß und Sentenz (d. h. richterliches Urteil) sind Begriffe, deren sich, neben anderen, spezielleren aus der Sphäre des Zivilprozesses, schon der junge und noch der alte Kant in Schriften nicht rechtsphilosophischen Inhalts häufig bedient hat. Seine Neigung, in Figuren eines kontradiktorischen Verfahrens- das der Zivilprozeß bei allem historischen Wandel seiner Gestaltungsprinzipien immer gewesen ist1 - zu argumentieren, bedarf eingehender exegetischer Analyse zahlreicher Textstellen und, darauf beruhend, behutsam übergreifender Interpretation; möglicherweise handelt es sich nicht lediglich um eine beliebig austauschbare Metaphorik, und auch nicht um ein Phänomen, das sich einfach und verkürzend unter dem Stichwort "Polemik" abbuchen läßt2 • Um in dieser Frage ein Urteil zu gewinnen, darüber hinaus aber auch in sachlicher und methodischer Hinsicht ganz allgemein3, ist es von 1 Dazu für die neuere Zeit Bomsdorf, Prozeßmaximen und Rechtswirklichkeit (1971) und jüngst Knut W. Nörr, Naturrecht und Zivilprozeß (1976). ! Zum Thema "Streitsache und Richterstuhl. Zur Kategorie des Forensischen in Schriften Kants" hoffe ich eine eingehendere Abhandlung vorlegen zu können. Vorläufig sei hingewiesen auf Vaihinger, Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft Bd. 1 (1881) 107 ff., der nicht alle, aber wichtige Texte hierzu zusammengestellt hat, ohne sie näher zu erklären, aber richtig erkennend, daß der Prozeß, den Kant meint, "ein Civil-, nicht ein Criminalprocess ist" (110). Unzutreffend ist die Interpretation von Saner, Kants Weg vom Krieg zum Frieden Bd. 1, Widerstreit und Einheit (1967) 279 f. zu B 779 f. (einer der wichtigsten einschlägigen Stellen aus der Kritik der reinen Vernunft; zur Zitierweise vgl. unten Anm. 4). Saner geht vom Strafprozeß aus, wenn er von Verstand und Vernunft als "angeklagt" spricht; er verfehlt damit gerade den entscheidenden Gesichtspunkt des Kontradiktorischen im Zivilprozeß zwischen Kläger und Beklagtem. Vgl. schließlich auch den Hinweis von Heimsoeth, Transzendentale Dialektik, Ein Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft (1966 ff.) 704 n. 90. a Positivrechtliche Kenntnisse Kants, seine Einsicht in die zivilrichterliche Methode, "unkritische" Rechtslehre, positives und Naturrecht.
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erheblichem Interesse, Kants Vorstellungen über den Zivilprozeß und die Anwendung des Rechts durch den Richter zu kennen. Die Rechtslehre selbst gibt darüber keine nähere Auskunft, obwohl dies vor allem für das Verständnis des 3. Hauptstücks ihres 1. Teils "Von der subjectiv-bedingten Erwerbung durch den Ausspruch einer öffentlichen Gerichtsbarkeit" von großem Wert wäre4 • Auch aus den Vorarbeiten zur Rechtslehre5 ergibt sich unmittelbar nichts Wesentliches dazu, und nur wenig, soweit ich sehe, aus den Erläuterungen und Reflexionen zur Moral- und Rechtsphilosophie 6 • Präzisen und sehr instruktiven Aufschluß gewährt hingegen ein bislang unbeachtet gebliebener Text7 er steht in einem Zusammenhang, in dem man ihn nicht ohne weiteres sucht, nämlich unter den Reflexionen zu G. F. Meiers "Auszug aus der Vernunftlehre" 8 • Es handelt sich um die Reflexion Nr. 3357; sie hat folgenden Wortlaut9 : Der Richter soll 1. als inqvirent analytisch verfahren, um [zuerst] aus allen momentis in facto eine Idee vom Facto zu bekommen. Da aber vieles in demselben in Ansehung des strittigen Rechts gleichgültig seyn kann, wenigstens iuridisch, so muß er alle varia Facti mit dem iure (cuiusvis partis) controverso vergleichen, um die momenta Facti aus denselben zu wählen. [Denn muß] Also muß er doch das ius praetensum vorher erwägen, um [zu wissen] a priori zu bestimmen, was dazu erfoderlich ist. e. g. Was zu einem Mascopeycontract und dessen Fortdauer des einen der mascopisten gehöre. Dieses muß vorher allgemein beym Richter ausgemacht seyn, und die 4 Metaphysik der Sitten. Erster Theil. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (1797); AA 6, 203 ff. (3. Hauptstück: 296 ff.; zu ihm demnächst in der Festschrift für Friedrich Kaulbach, vgl. unten Anm. 27). - Ich zitiere im folgenden Kant stets nach der Akademieausgabe (AA), mit Ausnahme der Kritik der reinen Vernunft; sie ist nach den Seitenzahlen der 1. Auflage von 1781, wie üblich mit A, zitiert aus Gründen, die sich sogleich aus dem Text ergeben werden. Lediglich in Anm. 2 oben beziehe ich mich mit Saner auf die 2. Auflage (B). 6 AA 23, 207 ff. 8 Das reichhaltige Material in AA 19 ist (bis 1775) mit großer Sorgfalt und wohl lückenlos von Christian Ritter, Der Rechtsgedanke Kants nach den frühen Quellen (1971) verarbeitet. Vgl. dort 350 ff. s. vv. Gericht, Judikative, Richter; davon vor allem 254 ff., 312 ff. 7 Nur Lehmann, AA 24.2, 996 weist indirekt auf ihn hin (Anm. zur Logik Blomberg, AA 24.1, 80 f.). 8 Halle 1752. Er ist in AA 16, 3 ff. abgedruckt. 8 AA 16, 797; in Kants durchschossenem Handexemplar von Meiers Auszug gegenüber von S. 116 (L 116'; vgl. Adickes, AA 16, V mit AA 14, LXI f. Die §§ 422 ff. von Meiers Auszug stehen S. 115 ff.; vgl. unten S. 307). Die Ergänzung der Interpunktion durch Adickes ist, da hier unbedenklich, beibehalten, ebenso seine Kennzeichnung des von Kant Durchgestrichenen durch eckige Klammern; zur Editionstechnik Adickes' s. AA 14, LIV ff. und Lehmann, AA 22, 784 f. Die Streichungen sind, wie sich zeigen wird, an zwei Stellen sachlich bedeutsam. Zur Lesung von Z. 24 (nach der Druckanordnung in AA 16; hier Z. 6 aufS. 289) vgl. Adickes im Apparat zu Z. 24.
Ius praetensum. Eine Reflexion Kants über den Zivilprozeß
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parten müssen entweder darüber an die Gesetzgebungscommission appelliren oder nun sich einlassen, nach allen diesen momentis in iure die momenta in facto beyzubringen. 2. als Richter muß er synthetisch verfahren: nach der iustitia distributiva [dasje] diejenige praestanda anzeigen, die ein jeder der Streitenden nach dem Rechte des andern hatten leisten oder davor satisfaction leisten muß.
B. I. Adickes datiert diese Reflexion in den Zeitraum zwischen 1776 und 1789 10. Unter inhaltlichen Kriterien läßt sich dies beträchtlich präzisieren. Der Text kann frühestens 1781 geschrieben worden sein; der terminus ad quem ist wohl nicht über die Mitte der 80er Jahre hinaus anzusetzen. Kant spricht im Zusammenhang seines Beispiels einer Streitigkeit aus einem "Mascopeycontract", d. h. einem Reedereivertrag 11, von der Appellation an die "Gesetzgebungscommission". Die preußische Gesetzkommission, auf die er damit anspielt, ist aufgrundder Cabinets-Ordre Friedrichs II. vom 14. April 1780 durch Patent vom 29. Mai 1781 errichtet worden12. Sie hatte in "Merkantilsachen", zu denen auch die Seehandelssachen zählten, über ihre sonstige Zuständigkeit hinaus, an die Kant freilich auch gedacht haben kann, eine besondere Funktion: Gemäß § 8 II 6 der Prozeßordnung von 1781 war sie berufen, auf Verlegung durch das Appellationsgericht bei einander widersprechenden Gutachten über "Handlungsgebräuche und Gewohnheiten" zu entscheiden13. Kant hat sich zwar darin geirrt, daß er von der Appellation der Parteien an die "Gesetzgebungscommission" spricht1 4, der spezifische Zusammenhang aber zwischen Appellation in Reedereisachen und insoweit bestehender Zuständigkeit der Gesetzkommission, oder doch ihre Funktion ganz allgemein, war ihm bekannt. Mit dem Text der Cabinets-Ordre15 ist die Prozeßordnung, als erstes Buch des Corpus Juris Fridericianum, am 26. April1781 publiziert worden16.
Phase u- tp; AA 14, XL ff. Dazu näher unten S. 294 ff. 1! Vgl. Stölzel, Brandenburg-Preußens Rechtsverwaltung und Rechtsverfassung Bd. 2 (1888) 295; ders., Carl Gottlieb Svarez (1885) 194 f. Die Ordre "die Verbesserung des Justitz-Wesens betreffend" ist abgedruckt p. III ff. der Prozeßordnung von 1781 (dazu gleich im Text); zur Gesetzkommission p. to
11
XIII.
Näheres dazu unten S. 304. Auch dazu unten S. 303. 1s Vgl. oben Anm. 12. 18 Stölzel, Rechtsverwaltung (Anm. 12) 295. Die Justizbediensteten hatte man schon Ende 1780 mit dem Inhalt des neuen Verfahrensrechts bekanntgemacht; Näheres bei Stölzel, Svarez (Anm. 12) 192 ff. 13
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19 Festschrift tür Helmut Schelsky
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Vor die Mitte des Jahres 1781 wird man demnach die Niederschrift der Reflexion nicht datieren dürfen - aber auch nicht wesentlich später, d. h. erst auf das Ende der 80er Jahre: Kant nennt die Gesetzkommission ungenau "Gesetzgebungscommission", anders als später im ,Streit der Fakultäten'11 • Die korrekte Bezeichnung war ihm, als er die Reflexion verfaßte, offenbar noch nicht recht geläufig; es liegt deshalb nahe anzunehmen, daß die Institution zu diesem Zeitpunkt noch nicht viele Jahre bestanden hat. Möglicherweise wußte Kant auch, daß die nachmalige Gesetzkommission nach der Vorstellung Friedrichs II. in der Tat zunächst nur eine Gesetzgebungskommission sein sollte, die den Entwurf der Prozeßordnung auszuarbeiten hatte18 ; Kant hätte dann einen nach der Publikation der Prozeßordnung unzutreffend gewordenen Sprachgebrauch zunächst noch beibehalten. Auch bei dieser Annahme11 käme man indes für die Abfassung der Reflexion über die Mitte des Jahrzehnts schwerlich hinaus. Keinesfalls darf man, umgekehrt, aus der Verwendung des Begriffs "Gesetzgebungscommission", als in der Sache korrekt, schließen, daß die Reflexion schon aus dem Jahr 1780 stammt, d. h. aus dem Zeitraum, in dem sich nach der Cabinets-Ordre eine Kommission mit dem Projekt einer neuen Prozeßgesetzgebung befassen sollte. Den Zusammenhang zwischen Appellation in Seehandelssachen nämlich und Zuständigkeit der Gesetzkommission hat erst die Prozeßordnung von 1781 hergestellt; von ihrem Inhalt, zumal in einem so speziellen Detail, konnte Kant vor ihrer Publikation mit Sicherheit nichts wissen20 • Dies gilt entsprechend auch für die sonstigen Zuständigkeiten der Gesetzkommission. Vielleicht steht die Reflexion im übrigen auch in näherem zeitlichem Zusammenhang mit den Prolegomena, erschienen 178321 . Dafür könnte sprechen, daß Kant die Tätigkeit des Richters danach unterscheidet, inwiefern er analytisch, 17
Dort richtig "Gesetzcommission"; AA 7, 25 (wohl nicht vor Ende 1793;
Vorländer, AA 7, 337 f.). Seinen Irrtum hinsichtlich der Appellation hat Kant
auch dort beibehalten. 18 Cabinets-Ordre; vgl. oben Anm. 12. Zur Ausführung vgl. Stölzel, Svarez (Anm. 12) 191 f.; eine eigentliche Gesetzgebungskommission hat es offenbar nicht gegeben. 10 Die dann naheliegt, wenn die Cabinets-Ordre in der Presse veröffentlicht worden ist, worüber ich allerdings nichts festzustellen vermag. Zu Kant als Zeitungsleser vgl. Stavenhagen, Kant und Königsberg (1949) 46; Vorländer, Immanuel Kants Leben, 3. Aufl. hrsg. von R. Malter (1974) 146, und vor allem J. G. Hasse, Merkwürdige Aeusserungen Kant's von einem seiner Tischgenossen, Königsberg 1804: Gegen Abend "las [Kant] gelehrte, politische Zeitungen (bey leztern unterbrach er auch wohl seine VormittagsArbeiten, und fiel mit Heis-Hunger über sie) und Journäle" (S. 3). - Eine Andeutung, die man der Sache nach vielleicht auf die Einrichtung einer Art Gesetzkommission beziehen kann, findet sich in A 424; vgl. unten S. 314. 10 Auch die Fachwelt hat von dem Entwurf selbst erst im Dezember 1780 Kenntnis erhalten; Stölzel, Svarez (Anm. 12) 193. 11 Vgl. Erdmann, AA 4, 598 ff.
Ius praetensum. Eine Reflexion Kants über den Zivilprozeß
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und inwiefern er synthetisch verfährt. Der Unterschied zwischen analytischer und synthetischer Methode hat für die Prolegomenen eine gewisse Bedeutung22• Er war aber, natürlich, Kant schon immer geläufig21. Deshalb ist ein Zusammenhang der Reflexion mit den Prolegomenen, die Kant Anlaß zur expliziten Darlegung der analytischen und synthetischen Lehrart gaben, zwar durchaus möglich, sogar naheliegend, aber nicht zwingend. li. Ein Text zur Rechtslehre von ersichtlich nicht belanglosem Inhalt, dazuhin auch zu methodischen Fragen, aus der Zeit nach dem Abschluß der Kritik der reinen Vernunft muß gesteigertes Interesse provozieren2'.
Erst jüngst hat die neukantianische These, die Rechtslehre habe an Kants eigenem kritischen Standpunkt seiner Transzendentalphilosophie nicht teil, jedenfalls im Ergebnis wieder Zustimmung gefunden in der Untersuchung Christian Ritters zum "Rechtsgedanken Kants nach den frühen Quellen" 25 : Kants Rechtslehre habe sich etwa seit 1764 in stetiger Kontinuität entwickelt; um 1775 stünden Thematik, Fragen und Antworten endgültig so fest, wie sie dann 1797 in der Metaphysik der Sitten wiederkehrten. Diese Kontinuität habe verhindert, daß Kant eine kritische Rechtsphilosophie begründet habe. Weder 1769 noch später habe ein Bruch stattgefunden, der dazu berechtige, von einer vorkritischen im Gegensatz zu einer kritischen Rechtsphilosophie Kants zu sprechen. Kant habe Rationalismus und Empirismus nicht durch ein kritisches Naturrecht überwunden; eine transzendental gesicherte Rechtsaprioristik finde sich bei ihm nicht. Seine Versuche, Begriffe und Kriterien des theoretischen Kritizismus auf die praktische Philosophie zu übertragen, seien über Analogien und Stilisierungen nicht hinausgekommen2o. Gewiß wird man von einem Text, der der Zeit seiner Entstehung nach etwa in der Mitte zwischen 1775 und 1797 liegt, weder eine volle Bestätigung noch eine stringente Widerlegung der These Ritters 27 er22 Vorwort und Anmerkung zu § 5; AA 4, 263, 276. Vgl. unten S. 307 f. za Vgl. Martin, Immanuel Kant, 4. Aufl. (1969) 249 ff. 2 ' Dies rechtfertigt die Bemühung um möglichst exakte Datierung; es geht dabei also nicht um akribische Kantphilologie als Selbstzweck. Vgl. zur derzeitigen Diskussion über die Datierungen durch Adickes die in Anm. 28 unten angegebene Literatur. u Vgl. oben Anm. 6. 28 a.a.O. 339. Vgl. weiter 14 ff., 71 f., 217 ff., 236 f., 279 ff. 27 Dazu Oberer, Zur Frühgeschichte der Kantischen Rechtslehre, KantStudien 64 (1973) 88ff. und, sehr kritisch, Brandt, Philos. Rundschau 20 (1974) 43 ff.; hierzu wieder Ritter, Zeitschr. f. Rechtsgeschichte, Rom. Abt. 93 (1976) 516 n. 17, an seiner These festhaltend. Vgl. auch meine in "Der Staat" erscheinende Abhandlung "Zur frühen und späten Rechtslehre Kants", ferner
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warten; damit wäre die Reflexion 3357 überfordert. Anhaltspunkte in der einen oder der anderen Richtung indes lassen sich möglicherweise aus ihr gewinnen; damit wäre schon einiges erreicht. III. Zunächst unabhängig von dieser Problematik legt der zeitliche Zusammenhang zwischen unserem Text und der Kritik der reinen Vernunft allerdings eines nahe: Begriffe und Vorstellungen, die Kant in der Reflexion 3357 gebraucht, anhand des Sprachgebrauchs der Kritik, und anderer Druckwerke der 80er Jahre, zu interpretieren, sofern sie auch dort auftreten und eine signifikante Bedeutung haben. Die Vermutung ist jedenfalls erlaubt (den Beweis des Gegenteils vorbehalten), daß Kant Begriffs- und Vorstellungsinhalte, die sich sowohl in unserem Text wie in der Kritik und anderen Schriften der Zeit finden, nicht in völlig verschiedenem Sinn, vielmehr gleichsinnig verwendet hat, was nicht einfach "gleich" heißen muß. Mit der Verwendung wortstatistischer Methoden hat dies natürlich nichts zu tun28 ; und über einen "kritischen" Gehalt der Reflexion wäre damit selbstverständlich auch noch nichts ausgemacht. Auch wird man keine Bedenken haben dürfen, Druckschriften Kants zur Interpretation eines wohl nicht für die Veröffentlichung bestimmten Textes heranzuziehen. Der Inhalt der Reflexion jedenfalls gibt kaum Anlaß, unter dem Gesichtspunkt vorgeblichen "Privatgebrauchs" einer "Privatmetaphysik" insoweit Vorsicht zu üben29• Im übrigen war die Reflexion jedenfalls potentiell für den öffentlichen Vortrag im Logikkolleg bestimmt30• Ob sie je in ihm vorgetragen worden ist, läßt sich freilich nicht feststellen; die Logiken Pölitz, Busolt und Dohna-Wundlacken enthalten wohl Ausführungen meinen Beitrag über "Iustitia distributiva" in der Festschrift für Friedrich Kaulbach (wird in Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch, hrsg. von R. Berlinger u. a., erscheinen). 28 Dazu Hinske, Kants neue Terminologie und ihre alten Quellen. Möglichkeiten und Grenzen der elektronischen Datenverarbeitung im Felde der Begrüfsgeschichte; Kant-Studien 65 (1974) Sonderheft Teil I, 68 ff. Sehr kritisch hierzu Schmucker, Zur Datierung der Reflexion 3716. Das Versagen der Wortstatistik in der Frage der Datierung der frühen KanUsehen Reflexionen zur Metaphysik, aufgewiesen an einem exemplarischen Fall, Kant-Studien 67 (1976) 73 ff. Dazu wieder Hinske, Die Datierung der Reflexion 3716 und die generellen Datierungsprobleme des Kautischen Nachlasses. Erwiderung auf Josef Schmucker, Kant-Studien 68 (1977) 321 ff. Der Streit um die Datierungen durch Adickes berührt die Datierung der Reflexion 3357 nicht, denn sie läßt sich durch inhaltliche Kriterien erhärten. 28 Dazu Lehmann, Einführung in Kants Vorlesungen, in: Immanuel Kant, Vorlesungen Bd. I 1 (1961) 22 f. [=Beiträge zur Geschichte und Interpretation der Philosophie Kants (1969) 80 f.]. Vgl. aber unten S. 309. ao Adickes, AA 14, XXI; Lehmann, a.a.O. 20 [78 f.], ders., AA 24.2, 974 n. 80. Vgl. auch Jäsche in seiner Vorrede zur Logik, AA 9, 3 f. Kant hat zwischen 1780 und 1790 Logik in jedem Sommersemester gelesen; Arnoldt, Gesammelte Schrüten, hrsg. von 0. Schöndörffer, Bd. 5.2 (1909) 331.
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zur analytischen und synthetischen, nicht aber zur richterlichen Methode31. Im übrigen ist nicht einmal auszuschließen, daß Kant auch an eine mögliche Verwendung des Textes zum Druck gedacht hat32•
c. I. Kant handelt nicht vom Strafrichter, vielmehr vom Verfahren des Richters im Zivilprozeß. Das ist schon im Vorhergehenden als selbstverständlich vorausgesetzt worden, denn der Text läßt daran keinen Zweifel. Es geht um die Entscheidung über das ius praetensum, den vom Kläger in der Klage geltend gemachten, als ihm zustehend behaupteten Anspruch33 gegen den Beklagten, z. B. um ein aus Reederei hergeleitetes Klagebegehren - Mascopey meint hier, wie gleich zu zeigen ist84, die heutige Partenreederei, nicht- was an sich unter Mascopey auch verstanden werden kann - ein Gesellschaftsverhältnis schlechthin. Aber auch abgesehen und unabhängig von diesem Beispiel trägt der Text eindeutig zivilprozessualen Charakter: ius controversum, Streit der Parteien, Klagebegehren als Ausgangspunkt der richterlichen Erwägungen, Beibringung der Tatsachen durch die Parteien, Leistungsurteil und schließlich die iustitia distributiva35 - dies alles ist so unverwechselbar in Grundkategorien des Zivilprozesses und, was die iustitia distributiva anlangt, in einer naturrechtliehen Kategorie 31 Logik Pölitz, AA 24.2, 598; Logik Busolt, AA 24.2, 683 f.; Logik DohnaWundlacken, AA 24.2, 779. Diese drei Vorlesungsnachschriften liegen wahrscheinlich alle nach 1781 (Lehmann, AA 24.2, 979 ff.). Die Wiener Logik, vermutlich 1796, bricht vor der Methodenlehre ab (AA 24.2, 940). Die Logiken Biomberg und Philippi (vgl. AA 24.1, 291 und 481 f.) liegen vor 1781 (Lehmann, AA 24.2, 976 ff.). - Zur strafrichterliehen Feststellung des Sachverhalts (indagatio momentorum in facto) hat Kant hingegen, im Anschluß an Baumgarten, ziemlich ausführlich in seiner Ethikvorlesung vorgetragen; vgl. vor allem Metaphysik der Sitten Vigilantius 366 ff., unten Anm. 108. 31 Die mit unserer Reflexion zeitlich und thematisch zusammenhängende Refl. 3345 (AA 16, 789 ff.; vgl. unten S. 315 f.) ist von Kant z. T. für das 3. Hauptstück des 1. Teils der Rechtslehre verwertet worden. 33 Den Begriff des Anspruchs verwendet Kant, in fast modern anmutender Weise, häufig in der Kritik der reinen Vernunft; vgl. A 64, 89, 236, 463, 470, 768, 769. - Ius praetensum, ius controversum hat Kant terminologisch wohl von Achenwall übernommen; vgl. dessen Ius Naturae, Pars prior (mir liegt die 7. Aufl., Göttingen 1781 vor) § 286: ... PRAETENDIT (stricte) IVS, qui illud contra eius possessorem sibi competere affirmat; praetensio igitur iuris, quae et praetensio simpliciter dicitur, Iitern inuoluit, et ius praetensum, quod et ipsum subinde praetensionis nomine venit, est ius controuersum.... Kants Handexemplar des 1. Teils von Achenwalls Naturrecht ist nicht erhalten; vgl. Ritter, Rechtsgedanke (Anm. 6) 69 n. 4 und 210, ferner Refl. 7357 (AA 19, 343). 34 Unten S. 294 ff. 35 Sie steht im Gegensatz zur iustitia punitiva; Refl. 7695 (zwischen 1772 und 1775): "Criminalgericht ist, was die iustitiam punitivam nicht distributivamausübt ... ". Vgl. Ritter, Rechtsgedanke 313 mit n. 236, und unten S. 315.
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des Mein und Dein31 gedacht, daß sich jeder Gedanke an Strafprozeß und materielles Strafrecht von vornherein verbietet. li. Im folgenden soll zunächst versucht werden, die prozessuale Situation und den Streitgegenstand mit seinem materiellrechtlichen Hintergrund möglichst genau zu rekonstruieren; was Kant - außerordentlich knapp formulierend und z. T. unausgesprochen voraussetzend - vor Augen gehabt hat, erweist sich als recht verwickelt. 1. Es fällt auf, daß Kant vom ius cuiusvis partis controversum und von praestanda, Leistungspflichten jeder Partei, spricht. Dies gäbe keinen Sinn, wenn es sich lediglich um die Klage der einen Partei gegen die andere als Beklagten handelte, gegen die auch nur einseitig ein Leistungsurteil ergehen könnte. Zwanglos verstehen läßt sich insoweit die Stelle hingegen, wenn man von Klage und Widerklage ausgeht: Kläger ist zugleich Widerbeklagter, Beklagter Widerkläger 37• Dann geht es in der Tat um ein Klagebegehren jeder Partei und, sofern die Klagen (zulässig3s und) begründet sind, um ein Urteil über beiderseitige Leistungspflichten.
2. Nach dem Beispiel, das Kant anführt, geht es um eine Streitigkeit aus einer "Mascopey", d. h. aus Partenreederei, wie im Vorhergehenden schon bemerkt. Dies bedarf der Begründung. a) Mascopey, Mascopie u. ä. war ei:n zur Zeit Kants, auch in der Gesetzessprache, geläufiger terminus technicus für Handelsgesellschaft schlechthin. In diesem Sinn findet er sich z. B. im "Verbesserten Landrecht des Königreichs Preussen" von 172PD, dessen materielles Zivilrecht in Ostpreußen bis zum ALR von 1794 gegolten hat. Dort ist im Titel "Von Gesellschafften in Contracten und gemeinem Gewerb" von "Gesellschafft und Maßcopie (Mascopey)" die Rede40 • Auf Seehandelssachen waren die gesellschaftsrechtlichen Vorschriften des Landrechts im übrigen nicht anwendbar, weil nach P. 2 IV 19 vorbehalten war, "wegen der See- und Schiff-Händel eine besondere Ordnung verferti38 Das 3. Hauptstück der Rechtslehre, in dem es um die iustitia distributiva geht, gehört zum "Privatrecht vom äußeren Mein und Dein überhaupt"; AA
6, 245,296.
37 Ich vernachlässige hier zunächst, daß für das alsbald zu erörternde Bei~ spiel der Klage aus Reedereivertrag entweder auf der Kläger- oder der Beklagtenseite mehrere Personen beteiligt sein müssen; unten S. 298. as Unten S. 301 f. ae Ausgabe Königsberg 1721. 40 Ebenso vielfach von "Societaet und Gesellschaft"; es handelt sich eindeutig um Pleonasmen einer noch unbeholfenen Gesetzessprache. Vgl. P. 2 IV 10 Art. 1 §§ 6, 12, 14; Art. 2 § 2 und Art. 1 §§ 2, 3, 5, 8, 9, 13 -15; Art. 2 § 1; Art. 3 §§ 1, 2.
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gen" zu lassen. Dies ist dann mit dem "Königlich-Preussischen SeeRecht" vom 1. Dezember 172741 geschehen, das ebenfalls bis zum Inkrafttreten des ALR gegolten hat. Der weite Begriff der Mascopey findet sich ferner in der revidierten "Wett- und Lieger-Ordnung der Dreyen Städte Königsberg" von 1715 42, dort auch als "Matschafft" 43 • In einem engeren Sinn ist aber der Begriff "Mascopey" auch eigens für die Partenreederei gebraucht worden", als einer besonderen Art der Handelsgesellschaft. Ihre Eigenart lag darin, daß die societas der Reeder, gerichtet auch Erwerb durch die Seefahrt, mit einer communio der Reeder als Miteigentümer nach Bruchteilen an einem Schiff, den Schiffsparten, verbunden war. Gewinn und Verlust im Verhältnis der Reeder untereinander richteten sich nach dem Verhältnis ihrer Schiffsparten45. b) An sich könnte Kant entweder eine Handelsgesellschaft schlechthin'8, oder eine Reederei gemeint haben. Für die erste Möglichkeit sprächen die Kant aus eigener Anschauung bekannten Sozietätsverhältnisse der Green & Motherby, Schwinck & Jacobi, Barckley & Hay beispielsweise; Königsherger Kaufleuten, zu denen Kant persönliche, z. T. freundschaftliche Beziehungen hatte'7 - und geschäftliche: bei Green & Motherby hatte er sein Vermögen angelegt48 • Aber auch die Reederei Mir liegt die Ausgabe Königsberg 1770 vor. Corpus Constitutionum Pru.tenicarum, hrsg. von Grube, Königsberg (o. J.); dort abgedruckt P. 2 Num. 59 (p. 325 ff.; vgl. Art. 17 und 24. Zu dieser Vorschrift s. unten Anm. 49). Diese Wettordnung ist abgelöst worden durch die von 1736 (mir nicht zugänglich; vgl. v. Glinski, unten Anm. 47, S. 40). 43 Art. 17, 18 und 19 der Wettordnung von 1715. 44 Vgl. Wüstendörfer in Ehrenberg, Handbuch des gesamten Handelsrechts, Bd. 7.2 (1923) 446; Ruhwedel, Die Partenreederei. Das Erscheinungsbild einer historisch gewachsenen Gesellschaft im modernen Recht (1973) 65. Dort S. 28 - 97 zur geschichtlichen Entwicklung, allerdings so gut wie nichts zum Preußischen Seerecht im 18. Jh. " Art. 1 li des Seerechts von 1727. Zur Doppelspurigkeit von societas und communio vgl. Ruhwedel, Partenreederei 30 und passim. Auf die dogmatischen Schwierigkeiten, die die Partenreederei (§§ 489 ff. HGB) heute bereitet, kommt es hier nicht an. 48 Heute entsprächen dem die OHG und die KG, also die Personalgesellschaften des Handelsrechts, nicht die AG als Kapitalgesellschaft. Aktienvereine in nennenswerter Zahl sind in Preußen ohnehin erst im Zusammenhang mit dem Eisenbahnbau im 19. Jh. entstanden. Vgl. dazu meine Abhandlung "Personae vice fungitur? Juristische Person und ,Industrielle Corporation' im System Savignys" in der Festschrift für Harry Westermann (1974) 263 ff. 47 Vgl. Gause, Die Geschichte der Stadt Königsberg Bd. 2 (1968) 188 ff., 257; ferner v. Glinski, Die Königsherger Kaufmannschaft des 17. und 18. Jahrhunderts (1964), dort zu Schwinck & Jacobi 92 ff., Green & Motherby 164 ff. 48 Vgl. das Testament Kants AA 12, 382 ff. (384) und die Entwürfe dazu in AA 13, 554 ff. (556, 558, 563, 566). 41
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war dem Bürger eines Seehandelsplatzes sicher nicht unbekannt49• Man braucht indes bei Erwägungen dieser Art, die allenfalls Vermutungen erlaubten, nicht stehen zu bleiben. Aus rechtlichen Gesichtspunkten ergibt sich vielmehr mit Sicherheit, daß Kant nur die Reederei gemeint haben kann. Beim Richter müsse vorher allgemein ausgemacht sein, "was zu einem Mascopeycontract und dessen Fortdauer des einen der mascopisten gehöre", sagt Kant. Adickes50 meint: "Klarer wäre: seitens des einen"sachlich sicher zutreffend. Es geht u. a. um die Rechtsfrage, welche Umstände zum Ausscheiden eines Mascopisten aus einer im übrigen fortbestehenden Mascopey führen. Diese Frage konnte sich für eine gewöhnliche Handelsgesellschaft gar nicht stellen, denn - beispielsweise -Kündigung, Konkurs und Tod eines Gesellschafters führte zur Auflösung der Gesellschaft; wollten die übrigen das Handelsgeschäft als Gesellschafter fortführen, mußten sie "auffs neue eine Societät und Maßcopey wiederumb auffrichten und machen", was überdies nur für den hier ausscheidenden Fall des Todes eine Gesellschafters vorgesehen war51 • Anders war dies bei der Reederei. Hier war, da die dingliche Beteiligung vermöge der Schiffspart gegenüber der sozietätsrechtlichen Bindung den Vorrang hatte, das Ausscheiden eines Reeders unter Fortbestand der Reederei unter den übrigen möglich: durch Übertragung der Schiffspart des Austrittswilligen an einen der vorkaufsberechtigten Mitreeder. Machten sie vom Vorkaufsrecht keinen Gebrauch, setzten sie die Reederei mit dem Dritten fort, dem der Austrittswillige seine Schiffspart veräußerte52 • Möglich war es auch, bei Meinungsverschiedenheiten zwischen einem Reeder und den übrigen, der Mehrheit die Fort" In der bekannten Laudatio auf Königsberg in der Anthropologie, AA 7, 120 (Anmerkung) weist Kant ausdrücklich auch auf den Seehandel hin. Vgl. auch seine Ausführungen zur Schiffahrt in der Physischen Geographie, AA 9, 306. - Die Königsherger Reederei war freilich nicht sehr bedeutend. Ihren Höhepunkt hatte sie 1783 mit 91 Seeschiffen. Der Seehandel überhaupt hat offenbar unter den widrigen politischen Umständen und unter der preußischen und russischen Handels- und Zollpolitik gelitten (vgl. Gause, Geschichte der Stadt Königsberg Bd. 2, 196), aber wohl immer noch auch unter den Nachwirkungen überkommener verkehrs-und fremdenfeindlicher Regelungen. So war noch nach Art. 24 der Wettordnung von 1715 (oben Anm. 42) die Eingebung von Gesellschaftsverhältnissen mit Nicht-Königsberger Kaufleuten verboten: "Ein Bürger allhier soll mit Frembden Dantzkern, Elbingern, Thornern Holländern oder auch wer sie seyn, keine Mascopey machen ... " Darunter fiel auch die Reederei, neben sonstigen Gesellschaften (vgl. im übrigen auch Frommer, Anfänge und Entwickelung der Handeisgerichtsbarkeit in der Stadt Königsberg i. Pr., 1891, 18). &o AA 16, 797 zu Z. 17. 51 Art. 2 § 2 P. 2 IV 10 des Landrechts von 1721. n Art. 5 II des Seerechts von 1727.
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setzung der Reederei dadurch zu ermöglichen, daß die Schiffspart des einen durch die andern veräußert wurde, wenn dieser einwilligte53 • In diesem Fall konnte z. B. rechtlich zweifelhaft sein, ob die nachträgliche Zustimmung genügte, um eine Veräußerung wirksam zu machen und damit zum Ausscheiden des Genehmigenden zu führen; im ersten Fall, ob eine Übertragung der Schiffspart auch dann wirksam war mit der Folge des Ausscheidens des Verfügenden, wenn er die Part nicht allen übrigen Reedern, sondern nur einem von ihnen angeboten hatte. Aus alledem folgt zwingend, daß sinnvollerweise nur für einen "Mascopeycontract", der eine Reederei betraf, die Frage nach "dessen Fortdauer des einen der mascopisten" überhaupt gestellt werden konnte. Gegenstands- und damit sinnlos wäre sie bei Mascopey als schlichter Handelsgesellschaft - eine sinnlose Rechtsfrage aufgeworfen zu haben wird man Kant nicht unterstellen dürfen. c) Kant hat im übrigen das Beispiel der Mascopey auch sonst gebraucht: in der Einleitung zur Rechtslehre 54 und in einer Reflexion zur Anthropologie (Nr. 1232, nach Adickes' Datierung etwa 1785 -1788)55 • Beide Stellen widersprechen der Interpretation der Reflexion 3357 jedenfalls nicht. Wenn in der Metaphysik der Sitten vom Verlust eines Mascopisten durch Unglücksfälle die Rede ist, dann liegt es nahe, an Seeschäden und damit an Reederei zu denken. Und Ehe mit Partenreederei zusammenzubringen, zumal in einem Text mit unverhohlener Kritik am immer noch scheidungsfreundlichen preußischen Gesetzgeber der 80er Jahre des 18. Jahrhunderts58, ist für Kant so abwegig nicht: Die Analogie liegt für ihn in der Verbindung von Societät und Dinglichkeit57. Art. 8 II. AA 6, 234: "Der in einer auf gleiche Vortheile eingegangenen Maskopei dennoch mehr gethan, dabei aber wohl gar durch Unglücksfälle mehr verloren hat, als die übrigen Glieder, kann nach der Billigkeit von der Gesellschaft mehr fordern, als bloß zu gleichen Theilen mit ihnen zu gehen. Allein nach dem eigentlichen (stricten) Recht, weil, wenn man sich in seinem Fall einen Richter denkt, dieser keine bestimmte Angaben (data) hat, um, wie viel nach dem Contract ihm zukomme, auszumachen, würde er mit seiner Forderung abzuweisen sein." 55 AA 15.2, 542; Phase 4a: "... Gesetzgeber haben die Ehe zu einem wichtigen Vertrage gemacht, da das ganze Glük des Lebens gemeinschaftlich seyn soll, und trennen sie doch leicht. Auf solchem Fuß solte man Ehen auf .Jahre schließen, sich Freyheit der Buhlerey ausbedingen oder die Strafe abmachen, wie bey einer Miethe ein halb-iahr vorher aufsagen. Mascopie." se Vgl. Savignys "Darstellung der in den Preußischen Gesetzen über die Ehescheidung unternommenen Reform"; Vermischte Schriften Bd. 5 (1850) 227, 257 ff. 57 Seine Auffassung von dem "auf dingliche Art persönlichen Recht" der Ehegatten (Rechtslehre §§ 22 ff., Anhang erläuternder Bemerkungen 1 ff.; AA 6, 276 ff. und 357 ff.) geht in die erste Hälfte der 70er Jahre zurück; Ritter, Rechtsgedanke 325 ff. 58
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3. Da eine Reedermascopey nur fortbestehen kann, wenn ohne den möglicherweise Ausgeschiedenen mindestens noch zwei Reeder vorhanden sind, sind auf der Kläger- oder Beklagtenseite jedenfalls zwei Personen zu vermuten, d. h. es ist von aktiver oder passiver Streitgenossenschaft auszugehen. Kant sagt dies auch unmißverständlich, wenn man ihn nur beim Wort nimmt: ginge er von nur einem Kläger/Widerbeklagten und einem Beklagten/Widerkläger aus, hätte er korrekt vom ius utriusque partis gesprochen. Er spricht aber vom ius cuiusvis partis, also von mindestens drei Beteiligten58• 4. In prozeßrechtlicher Hinsicht ist im übrigen noch zu bemerken, daß eine Widerklage zulässig war. Das Seerecht von 1727 sieht die "Gegenklage" ausdrücklich vor; nach der Prozeßordnung 1781 war die förmliche Erhebung einer "Reconvention oder Wiederklage" sogar überflüssig, wenn eine Gegenforderung des Beklagten nach seinem Vortrag aus demselben Rechtsverhältnis (negotium) wie der mit der Klage geltend gemachte Anspruch hervorgegangen war 59• Auch die Streitgenossenschaft war zulässig. Sie wurde zwar in der Prozeßordnung 1781 als solche, anders als Streitverkündung und Intervention, nicht eigens geregelt, aber als selbstverständlich vorausgesetzt60 • In erster Instanz privative zuständig schließlich war für Königsberger Seehandels- und Schiffssachen das bei der Admiralitätskammer errichtete Licentcollegium81 • Appellationsinstanz war bis zum 31. Mai 1782 das "Ostpreußische Hofgericht" zu Königsberg8!, vom 1. Juni 1782 an (bis 1809) die "Ostpreußische Regierung" zu Königsberg, und zwar der 1. Senat bei einem Streitwert unter 200 Talern, bei einem darüber hinausgehenden Wert der 2. Senat83• as Bei heute sog. einfacher Streitgenossenschaft wäre eine Beteiligung aller Reeder am Prozeß freilich nicht zwingend. Die Frage, ob bei Reedermaskepie nur einfache Streitgenossenschaften anzunehmen, oder sie notwendig war, kann aber offenbleiben, denn der Text ist eindeutig: quivis statt uterque. 68 Seerecht 1727 Art. 18 X; Prozeßordnung 1781 § 1 I 19. 80 Vgl § 4 Siebentens und Achtens I 3, § 3 I 7, § 13 I 14. et Art. 1 X des Seerechts 1727. Gemäß § 2 II 6 der Prozeßordnung 1781 blieben die Zuständigkeit dieses besonderen Seegerichts und die Vorschriften über das Verfahren vor ihm durch die Prozeßordnung unberührt, ergänzt allerdings durch die Bestimmungen der §§ 3 - 8 II 6. Die Admiralitätskammer war seit 1783 mit dem Königsherger Kommerzkolleg vereinigt und der Ostpreußischen Kriegs- und Domänenkammer unterstellt worden; vgl. Conrad, Geschichte der Königsherger Obergerichte (1907) 281 n. 2. n Conrad, 227 ff., 231; Seere~ht Art. 40 ff. X. u "Rescript an das Cammer-Gericht" vom 9. Januar 1782; 1. Abschnitt § 1 Nr. 1, 3. Abschnitt§§ 4, 6 I Nr. 1, § 8 Nr. 1, §§ 9, 10, 13, 37 I Nr. 1 und 2; abgedruckt in: Novum Corpus Constitutionum Prussico-Brandenburgensium, 1782 no. 3 (Sp. 671 ff.). Vgl. Conrad, 233 ff. (236).
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5. Nunmehr läßt sich ein Fall rekonstruieren, den so oder ähnlich soweit es die Widerklage(n) anlangt, über deren Gegenstand der Text schweigt, verwende ich gleichwohl kantisches Material, nämlich aus der Kritik der reinen Vernunft, über die Vindikation handelnd84 :
Kant vor Augen hatte -
Kläger erhob im Frühjahr 1783 beim Licentcollegium zu Königsberg Klage gegen seine beiden Mitreeder auf Zahlung von je 250 Talern415 : Er sei mit den Beklagten 1779 eine Mascopey zu gleichen Schiffsparten eingegangen. Der Gewinn habe im Geschäftsjahr 1782 insgesamt 1500 Taler betragen; die Beklagten weigerten sich, ihm seinen Anteil auszukehren. Die Beklagten beantragten, die Klage abzuweisen. Sie bezweifelten das Zustandekommen eines Mascopeycontracts durch mündlichen Vertragsschluß. Auf jeden Fall aber sei der Kläger noch vor Ablauf des Jahres 1782 durch Veräußerung seiner Schiffspart an den einen von ihnen aus der Reederei ausgeschieden. Die Beklagten erhoben außerdem Widerklage auf Herausgabe der im Besitz des Klägers befindlichen Versicherungspolice und der sonstigen Schiffsdokumente. Der Kläger erwiderte auf den Klagabweisungsantrag, Mitte 1782 seine Schiffspart nur dem einen der Beklagten, nicht auch dem andern angeboten zu haben, der davon erst Anfang 1783 überhaupt erfahren habe. Die Widerklage beantragte er abzuweisen. Als Reeder habe er ein Recht darauf, die Dokumente zu besitzen. Abgesehen davon könne er sie nicht mehr auffinden. Die Beklagten beantragten daraufhin hilfsweise, den Kläger zur Beschaffung und Herausgabe von Ersatzdokumenten zu verurteilen. 6. Diese Prozeßerzählung ist gewiß "erfunden". Sie enthält aber in ihrem verfahrens- und materiellrechtlichen Grundgefüge, auf das allein es ankommt, nichts, was nicht auch Kants Reflexion, im Kontext des zeitgenössischen Zivil- und Zivilprozeßrechts gelesen, enthält. Das wird sich erst im weiteren Fortgang vollends erweisen88 ; im großen und ganzen ergibt es sich schon aus dem Vorhergehenden. Einen aufs äußerste verknappten Text auf diese Weise zum Sprechen zu bringen, ohne ihn dabei in seiner Substanz zu verfälschen, macht diese Methode der Aus" A 739 f. Die Stelle läßt sich bis hin zur Beweislastverteilung aus dem Landrecht von 1721 erklären; vgl. Art. 13 § 2 P. 2 III 1 und zum precarium, das kein Recht zum Besitz gewährte, Art. 2 § 18 P. 2 III 5. 85 Ob als Teil-, oder als Solidar(Gesamt)schuldner anteilig in Anspruch genommen, bleibt sich gleich und mag dahinstehen. 08 Mündlichkelt des Vertragsabschlusses, Angebot der Schiffspart nur an einen der Beklagten - hier konnten sich Zweifelsfragen mit der Folge der Vorlegung an die Gesetzkommission ergeben; vgl. unten S. 304 f. Den Hilfsantrag habe ich eingefügt, um die satisfactio, die Kant erwähnt, plausibel zu machen (darauf gehe ich im folgenden nicht mehr näher ein). Die Prozeßschilderung ist im übrigen so abgefaßt, daß sich aus ihr implizit die Unstreitigkelt der behaupteten Tatsachen ergibt; dazu unten S. 306 f.
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legung m. E. legitim. Der geschilderte "Fall" 67 soll deshalb auch im folgenden die Überlegungen Kants zur Methode des Richters im Zivilprozeß nach Möglichkeit veranschaulichen. 111. Kant sieht die Tätigkeit des Zivilrichters unter zwei Gesichtspunkten methodischer Art: als "lnquirent" stellt er den Sachverhalt fest; insoweit verfährt er analytisch. Als der, der das Urteil begründet, "als Richter" im eigentlichen Sinn, ist sein Verfahren synthetisch. 1. Wenn Kant im Hinblick auf die Sachverhaltsfeststellung vom Richter als Inquirenten spricht, dann ist darin keineswegs ein Abgleiten in strafprozessuale Terminologie zu sehen68• Vielmehr steht auch hinter dieser Ausdrucksweise das preußische Zivilprozeßrecht seiner Zeit, das -im Zusammenhang mit der den Advokaten feindlichen Einstellung des Königs - die den Sachverhalt untersuchende Funktion des Gerichts in vielfacher Hinsicht hervorgehoben hatsD. Im übrigen ist der Richter als lnquirent methodisch eben der, der die quaestio facti stellt. Insofern besteht ein Zusammenhang mit der Kritik der reinen Vernunft70 •
a) Die Beschreibung der Methode des Richters, eine Antwort auf die quaestio facti zu gewinnen, zeigt ein bemerkenswertes Verständnis Kants für die Eigenart Zivilistischen Denkens, wobei der Text- dies macht mit seinen besonderen Reiz aus - noch erkennen läßt, wie Kant sich im Zug der Niederschrift selbst korrigiert hat. Auf den ersten Blick liegt es - jedenfalls für den Nichtjuristen ja nahe anzunehmen, der Richter komme dadurch zur Feststellung des Sachverhalts als der tatsächlichen Grundlage seiner Entscheidung, daß er zunächst einmal die ganze Geschichte der Parteien, in allen ihren Details und in ihrer vollen Komplexität, zur Kenntnis nimmt, "um zuerst aus allen momentis in facto eine Idee vom Facto zu bekommen", auf das er dann hernach das Recht anwendet. Daß sich so die quaestio facti nicht beanworten läßt, muß Kant alsbald klar geworden sein. Nur aus der Kenntnis der Fülle der von den Parteien vorgetragenen Tat87 Ich vermute, daß Kant von einem wirklichen "Fall" ausgegangen ist, den er etwa bei Tisch erfahren haben mag (Reusch, Kant und seine Tischgenossen, Königsberg 1849} und sich hat auseinandersetzen lassen. Diese Annahme ist mir jedenfalls sehr viel wahrscheinlicher als die, Kant habe einen fiktiven Rechtsfall konstruiert; dazu ist die materielle und vor allem die prozessuale Rechtslage zu verwickelt. Zur Bedeutung der "Erfahrung vieler Fälle" vgl. Refl. 7057 (1776 -1778, Phase q>}, unten Anm. 131; s. auch Anm. 146. 118 Daß die Stelle vom Zivilprozeß handelt, bedarf hier keiner Bekräftigung mehr; s. oben S. 293 f. Anders die unten Anm. 108 zitierten Texte. 89 Dazu Bomsdorf, Prozeßmaximen (oben Anm. 1) 75 ff.; Nörr, Naturrecht (oben Anm. 1} 25 ff. 70 A 84, 87.
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sachen - über den Bau des Schiffs und dessen Reparaturanfälligkeit etwa, den mündlichen Vertragsschluß, die schwankende Konjunktur im Seehandel, die kleinlichen Schikanen der Zollbehörde, die Unauffindbarkeit der Dokumente, die Meinungsverschiedenheiten über die Höhe des Gewinns in früheren Geschäftsjahren, die Übertragung der Schiffspart an den einen der Beklagten ohne Kenntnis des andern, die wechselseitigen Beleidigungen einschließlich derer unter den Ehefrauen, nachdem es zum Streit über den Gewinn aus 1782 gekommen war (die Parteien haben natürlich viel mehr vorgetragen, als in der schon gefilterten und geordneten Prozeßschilderung mitgeteilt) - nur und allein aus dieser Kenntnis lassen sich die Tatsachen, die zusammen den Sachverhalt bilden, auf den es ankommt, nicht ausmitteln71 • Vieles in dem Wust des Vorgetragenen kann "in Ansehung des strittigen Rechts gleichgültig seyn", "wenigstens iuridisch", d. h. in den Augen des Richters - für andere Betrachter mögen gewisse Aspekte der Sache wirtschaftlich, technisch oder psychologisch, je nach Standpunkt und Interesse, höchst aufschlußreich sein. Nur, was iuridisch, zivilrechtlich nicht gleichgültig ist, das ergibt sich aus dieser Geschichte allein eben nicht. Um dies festzustellen, bedarf es von vornherein eines spezifisch zivilrechtlichen Erkenntnisinteresses72• Im Prozeß wird es - jedem Juristen, heute wie damals, ist das geläufig- geleitet vom Klagebegehren. Der Antrag, den der Kläger stellt, ist bei methodisch richtigem Vorgehen (das immer auch das rationellste ist) stets das erste, was der Richter zur Kenntnis nimmt 73 • "Also muß er [der Richter] doch das ius praetensum vorher erwägen" (und Kant mußte das "zuerst" streichen): den Antrag des Klägers auf Zahlung von je 250 Talern Gewinn aus Mascopey, und entsprechend den Widerklagantrag der Beklagten auf Herausgabe der Dokumente (bzw. auf satisfactio). b) Erwägung des Klagantrags ist noch aus einem andern Grund erforderlich, den Kant in der Reflexion 454 (nach Adickes zwischen 1785 und 1788)74 nennt: "Es geht hier so wie mit einer [Rechts]Sache vor Gericht. Die erste Frage ist: ob es überhaupt eine Rechtssache sey, d. i. unter Gesetzen stehe und wie fern ...75." 71 Von der Frage der Beweisbedürftigkeit streitig gebliebener Tatsachen ganz abgesehen. Vgl. dazu auch unten S. 306 f. 72 Was entsprechend natürlich auch für das wirtschaftlich, technisch oder psychologisch Bemerkenswerte gilt. Zum strafrichterliehen Vorgehen, das sich von dem des Zivilrichters unterscheidet, vgl. die unten Anm. 108 mitgeteilten Stellen. 71 Jede vernünftig abgefaßte Klageschrift beginnt denn auch mit der Ankündigung des in der mündlichen Verhandlung zu stellenden Klagantrags. " Phase cjls; AA 15.1, 186 f. (187). 75 Zum Fortgang vgl. unten S. 306 f.
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"Unter Gesetzen" steht eine Sache nicht, wenn die konkrete Rechtsfolge, die mit dem Klagebegehren geltend gemacht wird, abstrakt im Gesetz gar nicht vorgesehen ist. Eine derartige Klage müßte, in heutiger Terminologie, wegen Unstatthaftigkeit als unzulässig verworfen werden78. Auf die Sache selbst dürfte der Richter sich überhaupt nicht einlassen. Darauf hier einzugehen bestand freilich kein Anlaß, denn ein Gewinnanspruch aus Reedermascopie (ebenso der auf Verlustausgleich, wenn Kant daran gedacht haben sollte) war im Seerecht 1727 enthalten77. Fragen können hätte er allerdings, "wie fern" die Sache unter (Prozeß)gesetzen stehe, d. h. ob die Klage beim zuständigen Gericht erhoben sei, nämlich bei dem ausschließlich zuständigen Licentcollegium, ferner ob Streitgenossenschaft und Widerklage zulässig seien. Darauf kam es Kant hier offenbar nicht an; die am Anfang zu prüfende Zulässigkeitsfrage war ihm der Sache nach aber durchaus bekannt, wie eben die Reflexion 454 zeigt. c) Vom ius praetensum, der konkret begehrten Rechtsfolge, die sich - das erste Ergebnis der "Erwägung" - im Gesetz abstrakt enthalten vorfindet, führt der Weg zunächst zu den Voraussetzungen, von denen das Gesetz den Eintritt dieser Rechtsfolge abhängig macht: Der Richter muß das ius praetensum vorher erwägen, "um a priori zu bestimmen, was dazu erfoderlich ist. e. g. Was zu einem Mascopeycontract und dessen Fortdauer des einen der mascopisten gehöre. Dieses muß vorher allgemein beym Richter ausgemacht seyn". Für das Bestehen eines Anspruchs auf Gewinnbeteiligung ist Voraussetzung, daß ein Reedereivertrag zustandegekommen, Gewinn gemacht worden und der Kläger nicht schon vor Gewinnerzielung aus der Reederei wieder ausgeschieden ist. Für den widerklagend geltend gemachten Anspruch auf Herausgabe der Dokumente hingegen ist Voraussetzung, daß sie im Eigentum der Beklagten stehen, der Kläger sie besitzt und er, weil er aus der Mascopey ausgeschieden ist, kein Recht zum Besitz hat; für den auf satisfactio, daß der Kläger die Dokumente schuldhafterweise nicht mehr herausgeben kann7s. Diese Voraussetzungen sind die "momenta in iure", die zusammen den gesetzlichen Tatbestand bilden, an dessen Vorliegen die Rechtsfolgeanordnung geknüpft ist. Unter den Tatbestand ist dann der konkrete Sachverhalt zu subsumieren, der sich aus den "momenta in facto" zusammensetzt. Genauer: Für jedes momentum in iure muß sich ein 78 Vgl. Simshäuser, Zur Entwicklung des Verhältnisses von materiellem Recht und Prozeßrecht seit Savigny (1965) 151 ff., 165, und dazu meine Rezension in Tijdschr. voor Rechtsgesch. 37 (1969) 627 n. 6. -Zur Verwerfung der Klage a limine durch Dekret vgl. Prozeßordnung 1781 § 5 I 4. 77 Art. 1 II; vgl. oben S. 295. 78 Landrecht 1721, Art. 13 §§ 1 und 3 P. 2 III 1.
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ihm entsprechendes momentum in facto feststellen lassen. Gelingt diese Subsumtion, dann steht dem Kläger (Widerkläger) das konkrete ius praetensum zu; fehlt es an einem momentum in facto, ist die Klage (Widerklage)19 abzuweisen. Den Subsumtionsvorgang selbst beschreibt Kant als eine Tätigkeit des Vergleichens und Auswählens. Der Richter muß "alle vaTia Facti mit dem iure cuiusvis partis controverso vergleichen, um die momenta Facti aus denselben zu wählen". Varia facti sind die unendlich vielen, in der Geschichtserzählung der Parteien enthaltenen Tatsachen, von denen nur einige durch Vergleich mit den momenta in iure als momenta in facto zu qualifizieren und damit als sachverhaltsbildend auszuwählen sind. Gewiß wird dabei, d. h. bei der apriorischen Bestimmung der erforderlichen momenta in iure, der Blick des Richters immer auch schon auf die varia facti und auf die in ihnen möglicherweise enthaltenen momenta in facto fallen, denn aus der Geschichtserzählung der Parteien erfährt der Richter, auf welche Momente es u. U. ankommt z. B. auf das negative Tatbestandsmoment des Nichtausscheidens des Klägers aus der Reederei. Das ändert aber nichts daran, daß das momentum in iure den (rechts)logischen Vorrang vor dem momentum in facto hat, das anders nur ein varium facti bliebe80• 2. "Dieses" - nämlich was an momenta in iure erforderlich ist "muß vorher allgemein beym Richter ausgemacht seyn, und die parten müssen (entweder) darüber an die Gesetzgebungscommission appelliren (oder) ... ". Daß die Parteien über die momenta in iure, deren Bestimmung doch Sache des Richters ist, an die Gesetzkommission appellieren sollen, mutet zunächst eigenartig an. Verständlich wird dies nur, wenn man die Stelle im Zusammenhang mit der preußischen Justizverfassung zur Zeit Kants sieht. In einem hat er sich freilich geirrt: Nur Gerichte, nie aber Prozeßparteien selbst konnten die Gesetzkommission anrufen; insbesondere war sie nicht Appellationsinstanz noch überhaupt ein Rechtsmittelgericht. Hiervon abgesehen ist es aber durchaus zutreffend, wenn Kant momenta in iure und Gesetzkommission zusammenbringt. Geht man, um dies zu verdeutlichen, wieder von unserem "Fall" aus, so sind mehrere Wege denkbar, auf denen die Sache an die Gesetzkommission gelangen konnte. An welchen von ihnen Kant gedacht hat, läßt sich wohl nicht endgültig entscheiden; immerhin liegt es nahe, den Gedanken an die besondere Zuständigkeit der Gesetzkommission in Handelssachen für am wahrscheinlichsten zu halten. Auch muß man 78 Das geschilderte Verfahren hat natürlich für Klage und Widerklage stattzufinden. so Zum "Hin- und Herwandern des Bliclts" vgl. Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. Aufl. (1963) 14 f. und Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung (1967) 159 ff.
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damit rechnen, daß ihm die Unterschiede nicht, oder jedenfalls nicht voll geläufig waren. a) Reedereisachen sind "Merkantilsachen". In ihnen war, wenn es "bey der Sache auf genauere Kenntnisse des kaufmännischen Verkehrs, der Art, die Geschäfte zu verhandeln und abzuschliessen, der bey Führung der Bücher und Rechnungen üblichen Methode, und auf andere dergleichen Handlungsusancen, Gebräuche und Gewohnheiten" ankam81, ein "in solchen Angelegenheiten geübter und erfahrner Kaufmann" als Gutachter beizuziehen. In der Appellationsinstanz war, wenn es noch darauf ankam, ein weiterer Kaufmann als Gutachter zu hören. Bei voneinander abweichenden Gutachten "über das, was in dem angegebnen Falle den Handlungsgebräuchen und Gewohnheiten gemäß sey" - vorausgesetzt, daß "die Lage der Sache in facto unverändert geblieben"- war die Frage mit den schriftlichen Gutachten "auf eben die Art, wie bey zweifelhaften Rechtsfragen" der Gesetzkommission zur Entscheidung vorzulegen82. In Reedereisachen konnte es nun, bei der außerordentlich lückenhaften Regelung durch das Seerecht von 1727, sehr leicht auf Gebräuche und Gewohnheiten ankommen, z. B. in der Frage, ob für den Abschluß eines Reedereivertrags die Schriftform eingebürgert war oder nicht, oder welche Anforderungen üblicherweise an die Aufbewahrung von Versicherungs- und Schiffsdokumenten gestellt wurden. Wies etwa das Licentcollegium die Klage ab, weil es, dem zugezogenen Gutachter sich anschließend, Schriftform für den Vertragsschlußkraft kaufmännischer Gewohnheit für erforderlich hielt, so konnte die Ostpreußische Regierung auf Appellation einen anderen Gutachter in dieser Frage zuziehen; verneinte er eine derartige Gewohnheit, dann war vom Gericht auf Entscheidung der Gesetzkommission anzutragen. b) Kant kann auch an das Rekursverfahren bei den Untergerichten gedacht - das Licentcollegium war eines83 - und dabei Rekurs (der heutigen Beschwerde der ZPO vergleichbar) und Appellation verwechselt haben. Waren Parteien der Meinung, daß das Untergericht "entweder relevante Facta zur Ungebühr verwerfe und übergehe; oder daß es durch Untersuchung und Beweißaufnehmung über ganz unerhebliche Umstände, die Sache ohne Noth verzögere, und die Kosten häufe", so konnten sie Rekurs zum Obergericht einlegen. War dieses der Auffassung, es komme für die Entscheidung auf eine zweifelhafte RechtsProzeßordnung 1781 § 3 II 6. 6. ss Rescript vom 9. Januar 1782 (oben Anm. 63) 1. Abschnitt § 1 Nr. 1. Auch die Mitglieder der Untergerichte mußten "in der Theorie der Rechtsgelehrsamkeit examiniret" sein, also studiert, und ferner einen praktischen Vorbereitungsdienst absolviert haben, § 4. 81 82
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frage an, dann hatte es die Gesetzkommission anzurufenM. War z. B. das Licentcollegium der Auffassung, die Übertragung der Schiffspart an einen der Beklagten ohne Wissen des andern mache die Veräußerung nicht unwirksam, es komme also auf das Nichtwissen des andern nicht an (was für die Frage des Ausscheidens des Klägers aus der Mascopey und ebenso für sein Recht zum Mitbesitz der Dokumente erheblich war), dann konnte der Kläger wegen Übergehung eines seiner Meinung nach relevanten Faktums Rekurs zur Ostpreußischen Regierung einlegen. War sie der Meinung, die Frage der Wirksamkeit der Übertragung sei rechtlich zweifelhaft, weil es an einer Regelung im Seerecht insoweit fehle, hatte sie an die Gesetzkommission vorzulegen. Dabei müßte man allerdings unterstellen, daß die Frage des Nichtwissens streitig geblieben war, denn nur dann war, wegen der Kosten einer eventuellen Beweisaufnahme, die Vorlegung vorgeschrieben85• c) Kant mag schließlich auch an die gewöhnliche Vorlegung wegen einer zweifelhaften Rechtsfrage in der Appellationsinstanz gedacht haben (den Untergerichten war sie versagt, d. h. sie konnten nur ihrem Obergericht vorlegen, dieses dann gegebenenfalls aus eigener Entschließung der Gesetzkommission), etwa wegen der Wirksamkeit der Partenveräußerung, wenn das Licentcollegium sie nach Meinung der Ostpreußischen Regierung aus zweifelhaften Rechtsgründen bejaht oder verneint hatte86 • Das braucht hier nicht näher dargelegt zu werden. Wie dem im einzelnen auch sei, alle drei Fälle kommen darin überein, daß das (erstinstanzliche oder Appellations)Gericht nicht selbst die momenta in iure vollständig bestimmt, hierüber vielmehr ein "Decisum" ("Conclusum") 87 der Gesetzkommission ergeht, das den Richter bindet. Das ist auch dort der Fall, wo es sich um kaufmännische Gewohnheiten und Gebräuche handelt; sie gehören mit zum Tatbestand, insofern sie unbestimmte momenta in iure ausfüllen und damit präzisieren, also an ihrem normativen Charakter teilhaben88• 3. "Die parten müssen ... nun sich einlassen, nach allen diesen momentis in iure die momenta in facto beyzubringen." Hier zeigt sich die Grenze des "inquirierenden" Richters. Nicht er erforscht von Amts wegen, ob alle erforderlichen momenta in facto gegeben sind; es ist vielmehr Sache der Parteien, die notwendigen Tatsachen vorzutragen 84
85 ·86
I 14.
Prozeßordnung §§ 15, 17, 12, 10 II 1. Vgl. §§ 12, 10, 8 II 1. §§ 7, 8 I 13; zu den Untergerichten vgl. § 9 II 1, zur Appellation §§ 44, 45
Der Sprachgebrauch schwankt in den zitierten Stellen. Zum Zusammenhang zwischen Gesetzkommission und iustitia distributiva vgl. unten S. 316. 87
88
20 Festschrift :tür Helmut Schelsky
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(falls sie das nicht schon getan haben). Belehrung allerdings durch den Richter über die momenta in iure und den richterlichen Hinweis auf lückenhaften Tatsachenvortrag setzt dies voraus. Verfechter einer schrankenlosen, nachmals sogenannten "Verhandlungsmaxime" war Kant also nichtBD; von einem richterlichen Fragerecht und wohl auch einer Aufklärungspflicht gegenüber den Parteien ist er, insoweit dem preußischen Prozeßrecht von 1781 und dem heutigen Verständnis über die Stellung des Richters näherstehend als den Auffassungen des 19. Jahrhunderts, durchaus ausgegangen. Die Betonung der Beibringungslast der Parteien enthält zugleich freilich auch Distanz gegenüber dem preußischen Zivilprozeß seiner Zeit, in dem sich die Parteien "abfragen", "genau examiniren", "anmahnen" und "abmahnen" lassen mußteneo; daß dies Kant zuwider gewesen sein muß, braucht kaum bemerkt zu werden. Merkwürdig ist allerdings die Alternative: Appellation an die Gesetzkommission oder Einlassung auf die momenta in iure durch Beibringung der momenta in facto. Sie ist so, auch abgesehen von der Appellation, nicht richtig. Sie kann sich nur auf die momenta in iure beziehen, die erst durch Conclusum der Gesetzkommission festzustellen waren, und ist auch da nur temporär zu verstehen, denn hatte die Gesetzkommission entschieden (bis dahin mochte allerdings geraume Zeit verstreichen), dann stand auch fest, auf welche momenta in facto es ankam. Im übrigen fällt auf, daß Kant nirgends vom Beweis, insbesondere durch Zeugen, spricht. Offenbar ist er davon ausgegangen, daß die vorgetragenen, als momenta zu qualifizierenden varia facti unstreitig sind. Daß nur entscheidungserhebliche bestrittene Tatsachen beweisbedürftig sind, unstreitige hingegen nicht, war ihm an sich durchaus geläufig. In seiner gegen Eberhard gerichteten Abhandlung wirft er diesem vor, etwas als unbestritten hinzustellen, was bestritten sei, um damit dem Richter "den eigentlichen Punkt des Streits aus den Augen zu rücken" 91• In der schon erwähnten Reflexion 45482 sagt er, in einer Sache vor Gericht komme es an auf "2. Das Factum durch einstimung der Zeu89 Zu ihr Bomsdorf, Prozeßmaximen 97 ff., und Nörr, Naturrecht 43 f. (oben Anm. 1), dieser mit zutreffendem Hinweis auf Kant. Dessen Einfluß auf Schmalz, Gralman und Gönner müßte freilich näher untersucht werden. Mit Nörr möchte ich im übrigen Gönners Leistung nicht so negativ beurteilen, wie Bornsdorf es tut. 90 Prozeßordnung 1781 §§ 4 (Viertens), 6, 7 I 3; §§ 5, 11 I 7. 81 Uber eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll (1790), AA 8, 190 mit Anmerkung. 82 Oben S. 301 f.
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gen." Dort geht er also von einem streitig gebliebenen Sachverhalt aus, hier, in Reflexion 3357, offensichtlich nicht18• IV. Als lnquirent verfahre der Richter "analytisch", als Richter "synthetisch". Diese Unterscheidung ist offenbar für den ganzen Text grundlegend. 1. Adickes hat die Beziehung der Reflexion zu §§ 422 ff. des ,Auszugs' hervorgehoben, gewiß zutreffend. Meier handelt dort über den Unterschied von methodus analytica und methodus synthetica in der Darstellung dogmatischer Wahrheiten". Kant hat darüber in seinem Logikkolleg vorgetragen95 und in den Prolegomena ausdrücklich auf diesen Unterschied hingewiesen98• Danach besteht die analytische Methode darin, "daß man von dem, was gesucht wird, als ob es gegeben sei, ausgeht und zu den Bedingungen aufsteigt, unter denen es allein möglich". Besser werde sie die "regressive" Methode genannt. Dem entspricht in der Tat die Parallele regressiven richterlichen Vorgehens, wie Kant sie zutreffend beschrieben hat, genau. Man geht von dem, einer abstrakt-hypothetischen Rechtsfolge einer Norm97 unterfallenden konkreten Begehren des Klägers aus (von dem ja zu Beginn des Prozesses nicht feststeht, ob es begründet ist), und steigt von da zu den momenta in iure als Bedingungen auf, von denen die Norm den Eintritt der Rechtsfolge abhängig macht, um dann anhand der Tatbestandsmomente die momenta in facto aus den varia facti auszuwählen; am Ende steht dann entweder die Bestätigung des zunächst nur hypothetisch angenommenen Ergebnisses, oder seine Verneinung18•
Die synthetische Methode hingegen werde besser die "progressive" genannt. Nach ihr sei die Kritik der reinen Vernunft verfaßt99• Siebeva Vgl. allerdings oben bei Anm. 85. - Deshalb spielen auch Fragen der Beweislast, die Kant ebenfalls bekannt waren (oben Anm. 64), hier keine Rolle. 9' § 422 (AA 16, 786): "In der gelehrten Lehrart dogmatischer Wahrheiten werden lauter Gedanken einander zugeordnet, die entweder die Gründe der Wahrheit, Deutlichkeit und Gewißheit anderer sind, oder die Folgen, oder beides zugleich ... Also werden die Gründe entweder den Folgen vorgesetzt, oder nachgesetzt. Jene ist die synthetische (methodus synthetica), diese aber die analytische Lehrart (methodus analytica). Folglich ist die gelehrte Lehrart entweder synthetisch oder analytisch, sie mag nun demonstrativisch sein oder nicht."- Lehmann (oben Anm. 7) würdigt diesen Zusammenhang nicht genügend; Adickes sieht hier richtiger (AA 16, 789 f. zu Z. 17). 95 Oben bei Anm. 31. ua AA 4, 276 (Anmerkung zu § 5). 9 7 Vgl. Engisch, Einführung in das juristische Denken, 5. Aufl. (1971) 21. 98 Kant weicht insofern von Meier ab, als dieser nicht von einer Hypothese ("als ob") ausgeht. 99 Prolegomena, Vorwort; AA 4, 263. 20•
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stehe darin, von den Gründen zu den Folgen, vom Allgemeinen zum Besonderen zu schreiten100• Kant denkt dabei, wenn er von der an die Parteien gerichteten "Anzeige" spricht, an die Entscheidungsgründe, in denen der Richter aus Rechtsgründen, d. h. aus dem nicht zufälligen, nur aggregathaften, sondern systematischen Zusammenhang der Rechtsregeln die sich ergebenden praestanda als konkrete Folgen entwickeJt1°1• Dies steht im Zusammenhang mit der iustitia distributiva, auf die noch einzugehen ist102• 2. Obwohl Kant vor der Verwechslung von analytischer und synthetischer Methode mit analytischen und synthetischen Urteilen warnt1°a, ist doch zu fragen, ob versteckt nicht auch ein Hinweis auf die Urteilsart im Text enthalten ist. Kant sagt ja, der Richter müsse die momenta in iure a priori bestimmen. In der Tat erweist sich diese Bestimmung als analytisches Urteil. Dies mag an dem von Kant selbst gern gebrauchten, auch oben verwendeten Beispiel der Vindikation 104 erläutert werden. Gehe ich vom Begriff der Vindikation, der Klage des Eigentümers auf Herausgabe als dem ius praetensum aus, dann denke ich in diesem Begriffapriori die Voraussetzungen des Eigentums des Klägers an einer Sache und des unrechtmäßigen Besitzes des Beklagten an ihr schon mit. Ich brauche also aus dem Begriff der vindicatio nicht herauszugehen, um deren momenta in iure "allgemein" bestimmen zu können. Alle Subsumtionsurteile des Richters hingegen bilden innerhalb seines analytischen, regressiven Vorgehens allerdings eine Kette von synthetischen Sätzen, denn zu ihnen bedarf es der Erweiterung der richterlichen Kenntnis um die als momenta zu qualifizierenden varia facti, gegebenenfalls durch Beweiserhebung, wenn sie bestritten sind. Diese Urteile sind auch nicht apriorisch, sondern sämtlich aposteriorisch, weil auf Erfahrung beruhend; entweder auf übereinstimmendem Parteivortrag oder auf dem Ergebnis der Beweisaufnahme. Entsprechendes gilt für die synthetische Methode in der Urteilsbegründung; auch sie 1oo Die verschiedenen, nicht ganz einfach zu interpretierenden Formulierungen Kants können hier im einzelnen nicht dargelegt werden, zumal in den Logiken mit Mißverständnissen gerechnet werden muß. Vgl. außer den in Anm. 31 oben genannten Stellen Logik § 117 (AA 9, 149) und Reflexionen 3342, 3343 und 3344 (AA 16, 788 f.). 1°1 über die zeitgenössische Praxis der Urteilsbegründung vermag ich ohne langwierige Untersuchungen, die hier ohnehin nicht dargestellt werden könnten, vorläufig nichts Näheres zu sagen. Zu vergleichen sind jedenfalls die Vorschriften in I 13 der Prozeßordnung 1781 "Von Abfassung und Publikation der Erkenntnisse". S. auch Ferdinand August Hommel, Kurze Anleitung, Gerichts-Acta geschickt zu extrahiren, zu referiren und eine Sentenz darüber abzufassen, 4. Aufl. Halle 1767, p. 49 ff. 102 Unten S. 314 ff. 103 In der Anmerkung zu§ 5 der Prolegomena (oben Anm. 96). 1ot Vgl. oben Anm. 64.
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enthält apriorische analytische Sätze in der Darlegung der Rechtsregeln, synthetisch-aposteriorische in der Entwicklung der praestanda aus ihnen. 3. Darüber hinaus geben einige Begriffe und Vorstellungsgehalte des Textes Anlaß zur Frage nach "kritischen" Ansätzen, wenn auch nicht im Sinn einer neukantianischen Interpretation: Idee vom Facto, Moment, der Vorgang der Subsumtion, Bestimmung, iustitia distributiva. a) Der Begriff einer "Idee vom Facto" ist verblüffend und entspricht nicht der Nomenklatur, die Kant in der Kritik der reinen Vernunft selbst empfohlen hat. Danach ist Idee "ein Begriff aus Notionen, der die Möglichkeit der Erfahrung übersteigt" 105. Nun ist freilich das factum, gebildet aus den momenta in facto, keineswegs die empirische Wirklichkeit in ihrer gleich-gültigen Vielschichtigkeit und Unbegrenztheit aller ihrer Daten (varia), vielmehr ein Produkt selektierenden richterlichen Verstands, indes doch auf Erfahrung bezogen. Man könnte deshalb davon ausgehen, daß Kant sich hier - in einer "Privatnotiz" den allgemeinen und unspezifischen Sprachgebrauch von Idee im Sinn von "Vorstellung" gestattet hatl 06 . Indes steckt in dieser Formulierung vielleicht doch mehr, als es zunächst scheinen möchte. Es sind "momenta", die die "Idee" vom Faktum konstituieren. Das Begriffspaar varia - momenta hat Kant terminologisch aus den Initia philosophiae practicae primae Baumgartens übernommen107, die er dem 1. Teil seiner Vorlesung über Moralphilosophie zugrundegelegt hat108. Daraus folgt aber nicht, daß der Begriff des 105 A 320.
1os Vgl. oben bei Anm. 29.
107 Halle 1760, abgedruckt in AA 19, 7 ff. - § 128 (a.a.O. 62) lautet: Varia
interna et externa s. relativa facti in imputatione eiusdem attendenda sunt MOMENTA IN FACTO, (circumstantiae improprie dictae), quarum pars occasio, et circumstantiae (proprie dictae), M. §. 323. Ignorantia vel error totalis vel partialis circa varia facti quaecumque, IGNORANTIA ET ERROR F ACTI, circa varia facti in imputatione non attendenda EXTRAESSENTIALES, circa momenta in facto, ESSENTIALES sunt. Indagationes variarum facti sunt QUAESTIONES FACT!, variarum in imputatione facti non attendendorum EXTRAESSENTIALES, momenterum in facto ESSENTIALES. Enumeratio mementorum in facto est SPECIES FACTI (factum). Hinc imputaturo prodest species facti, non quaestionibus quidem facti extraessentialibus distenta, tarnen uberior, unde cognosci possit, 1) an data determinatio omnino contigerit. Exsistentia delicti cum signis suis est CORPUS DELICTI. 2) an data determinatio factum sit, 3) quale, 4) quantum, 5) cuius, 6) quantum ab eo, 7) quantum ab eius libertate dependeat, 8) a quibus, 9) quibus legibus subsumendum sit. Quamdiu 1) exsistentia facti, e. g. corpus delicti, 2) aut persona eius auctor, aut 3) illius ab hoc dependentia omnino ignoratur, imputatio facti est impossibilis, §. 127. 108 Menzer, Eine Vorlesung Kants über Ethik (1924) 326; Schmucker, Die Ursprünge der Ethik Kants in seinen vorkritischen Schriften und Reflektionen (1961) 278 f. -Auf § 128 von Baumgartens Initia beziehen sich:
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Moments für ihn auch dieselbe undifferenzierte und einfache Bedeu~ tung gehabt haben muß wie für Baumgarten, der im übrigen nur von den momenta in facto, nicht aber von momenta in iure spricht108• 1. Praktische Philosophie Powalski (vor 1777; vgl. Lehmann, Die Vorlesun~ gen Kants in der Akademieausgabe, Zeitschr. f. Philos. Forschg. 1977, 287) 104; AA 27.1, 156: "Hier muß noch betrachtet werden die Imputatio facti. Die varia die bey einem facto zu attendiren sind, sind Beschaffenheiten die den Grund von der Imputatione facti enthalten. Das Moment eines Grundes heißt der Anfang eines Grundes, oder was als ein theil vom ganzen betrachtet wird. Ein einfacher Grund heißt also ein Moment. Ein Momentum facti ist nicht etwas was aus jemandes Freyheit entsprungen ist. Es kann auch etwas seyn zE. in den Gesezzen, was nicht ein moment von einem Grunde ist, indeßen siebet man wohl, daß man das moment beym Anfange nicht einsehen kann.Das was nicht ein Grund von einem facto ist, heißet extra eßentiale. Die Eßentialia sind die, welche als Theile zum ganzen den Grund des facti aus~ machen, wenn man die momenta der factorum zusammen nimmt, so machen sie die species des facti aus. Facta schlechthin nennt man auch die species facti." 2. Moralphilosophie Collins ("nach den akad: Vorlesungen des Herrn Prof: Kant. Königsberg im Wintersemestre 1784 und 1785") 100 f.; AA 27.1, 288 f.: "Bey der Imputatione facti kommen vor momenta in facto, dieses ist das mannigfaltige in der That, was der Grund der Imputation ist. Momenta sind elementa des Grundes, es sind Theile des zureichenden Grundes, also sind in facto momenta der Imputation. Die momenta in facto geben keine impu~ tation, sondern sind der Grund der. Imputation. Die momenta sind entweder eßentialia oder extra eßentialia. Die momenta eßentialia müßen erst gesammlet werden, wenn alle die inomenta eßentialia in facto enuncirt werden, so ist das species facti, was expreß zu dem facto gehört. Die extra eßentialia facti sind nicht momenta facti und gehören als nicht zur species facti." 3. Ethikvorlesung ed. Menzer (nach drei anderen Handschriften; vgl. Menzer, oben Anm. 108, 323 ff., zur Datierung [1775 ~ 1780] 326. S. auch Schmukker, Ursprünge der Ethik Kants 373 ff.) 69 f. Der Text stimmt insoweit mit der Moralphilosophie Collins (2.) bis auf eine kleine Auslassung [Die momen~ ta in facto - Imputation] wörtlich überein. 4. Metaphysik der Sitten Vigilantius ("Bemerkungen aus dem Vortrage des Herren Kant über Metaphysic der Sitten. Angefangen den 14. Okt. 93/94") 366 ff.; AA 27.2.1, 562 f.: "Das Gesetz hat ... immer ein gewisses factum zum Grunde gelegt; ist nun hier ein solches factum vorhanden, so wird das Gesetz angewandt. Hieraus folgt, daß ... ausgemacht werden muß, ob der Fall des Gesetzes vorhanden sey; daher indagatio facti, welche man quaestionem facti nennt, wobey geprüft wird 1. ob eine Handlung existire, welche als ein eventus causae liberae ange~ sehen werden soll. 2. Ob, wenn eine Handlung vorhanden, solche ein factum sey, oder causali~ tät habe. 3. Ob diese Person autor des facti sey. Hieraus ergiebt sich, daß zum Behuf der Imputation hierbey nur solche circumstantiae Rücksicht verdienen, welche, es sey als Haupt-, oder beglei~ tende Ursache und zwar als effectus causae liberae mit der Handlung in Verbindung stehen.- Dies sind die varia attendenda in facto, welche man momenta in facto nennt. Denn sorist ist jede Wirkung mit zu~älligen Bestim~ mungen verbunden, die der Zeit oder dem Raume nach im Zusammenhange stehen; sie tragen deshalb aber noch nicht bey, um als Ursache einer zuzurechnenden Handlung angesehen werden zu können. Es beruht also die quaestio facti auf der indagatione momentorum in facto. Diese würde auch,
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Kant hat den Begriff des Moments von seiner Frühschrift über das Kräftemaß 110 an vielfach gebraucht; noch um die Mitte der 90er Jahre, und bis in das Opus postumum hinein, spielt er eine Rolle. Adickes glaubte, mehr als sieben Bedeutungen von Moment unterscheiden zu können111• Der Begriff gehört für Kant zunächst dem Gebiet der Naturerkenntnis an; er verwendet ihn z. B. in der "Allgemeinen Anmerkung zur Mechanik" der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissensowie ein error et ignorantia in Ansehung derselben, essentialis seyn, und essentialia betreffen, indem essentialia facti und momenta in facto einerley sind, und das Gegentheil oder die extraessentialia alles dasjenige betreffen, was die quaestionem in facto selbst nicht angeht, und dabey nicht als momentum angesehen werden kann. Hieraus entspringt nun die species facti, oder die enumeratio omnium momentorum in facto, sowie in delictis das corpus delicti oder 1) die Gewißheit der Existenz eines delicti und 2) die äußeren Zeichen, die es darthun, daß ein delictum geschehen sey. Jedoch ist der Begriff der species facti weiter als der Begriff des corpus delicti. Bey Ausmittelung der circumstantiarium in facto ist es, um die momenta in facto zu finden, schon nöthig, auf das Gesetz Rücksicht zu nehmen, da, wenngleich hier das Gesetz noch nicht imputirt wird, es doch zur völligeren Bestimmung des facti selbst beyträgt, - und hier zeigt es sich auch, daß circa imputationem facti die momenta ihre Grade haben, und graviora ed debiliora sind." Für die Interpretation dieser Texte muß beachtet werden, daß Kant im Anschluß an Baumgarten über die Imputation von Handlungen als merita und demerita spricht, deren Folgen praemia und poenae sind. Soweit es nicht um moralische, sondern um rechtliche Imputation sub specie poenae geht, beziehen sich die Stellen deshalb auf die momenta eines als Straftat zu qualifizierenden factum, und damit auch auf die Methode des Richters im Strafprozeß. Der Vergleich mit Refl. 3357 über die zivilrichterliche Methode wäre reizvoll, führte hier aber zu weit (dazu, und zur Metaphysik der Sitten Vigilantius, an anderem Ort). S. im übrigen Einleitung in die Metaphysik der Sitten IV; AA 6, 227, ferner auch Metaphysik der Sitten Vigilantius 418 ff., insbesondere 421 ff. (AA 27.2, 1, 572 f.). lot Vgl. aber § 174 (AA 19, 79 f.). Auch Kant spricht expressis verbis nicht von momenta in iure des Straftatbestands, setzt sie allerdings implizit voraus, wenn er sagt, "bey Ausmittelung der circumstantiarum in facto [sei] es, um die momenta in facto zu finden, schon nöthig, auf das Gesetz Rücksicht zu nehmen, da . . . es doch zur völligeren Bestimmung des facti selbst beyträgt" (Metaphysik der Sitten Vigilantius 370 f.). Daß für Kant die momenta in facto ganz im Vordergrund des Interesses stehen, liegt sicher nicht nur an seiner Vorlage, sondern, wie er offenbar richtig erkannt hat, an der andersartigen Sicht des Strafrichters, die eben nicht die des Zivilrichters ist. 110 Vgl. Anm. 113. 111 Vgl. seine Ausführungen von fast monographischer Breite hierüber in AA 14 (Reflexionen zu Physik und Chemie) 122 ff. zu Refl. 40 (1773 -1775, Phase Q), mit Angabe zahlreicher Belege. Vgl. z. B. außer Refl. 40 Refl. 67 (1788 -1791), AA 14, 495 f.; aus der Schrift über das Kräftemaß (Anm. 113) AA 1, 111, 161 f., 167, 173, 175 f., 180; aus der Metaphysik der Sitten § 10: "Momente (attendenda) der ursprünglichen Erwerbung", AA 6, 258; aus den losen Blättern 31, 38, 33, 29 und 44 der 90er Jahre (vor 1796) z. B. AA 21, 426, 431, 435 ff., 442, 446 ff. (s. Adickes, Kants Opus postumum [1920] 40 ff.; Lehmann AA 22, 771); aus dem Opus postumum z. B. AA 21, 353 f., AA 22, 514 f., 519, 526.
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schaft 112 : Moment der Acceleration. Dies gehört zu seiner Lehre von den bewegenden Kräften113 • In der Kritik der reinen Vernunft begegnet der Begriff in verschiedenen Zusammenhängen. Momente sind gleichförmige, kontinuierliche Handlungen der Kausalität, die Veränderung bewirken, d. h. den Übergang aus einem Zustand in einen andern in der Zeit114• Es ist überhaupt von einer "vollständigen Tafel der Momente des Denkens" und einer "transzendentalen Tafel aller Momente des Denkens" in Urteilen die Rede115 • Insbesondere die drei Funktionen der Modalität der Urteile (problematisch, assertorisch und apodiktisch) könne man, sagt Kant, "auch so viele Momente des Denkens überhaupt nennen" 116 • In ganz allgemeinem Sinn spricht Kant schließlich von den Momenten der Auflösung einer Frage111, von Momenten in der Wahl des Standpunkts zwischen zwei "strittigen Theilen" 118, vom "eigentlichen Moment der Schwierigkeiten" 119, von Momenten der Entscheidung der Vernunft in Auflösung eines transzendentalen Problems, "auf die es eigentlich ankommt" 120 und von "Momenten in Bestimmung ihrer [der Vernunft] Grundsätze"12t. Allen diesen Bedeutungsnuan~en von Moment eignet zunächst der Sinn der Erheblichkeit, des Gewichts, des entscheidenden Gesichtspunkts, auf den es "eigentlich ankommt". Man wird Kant indes nicht fehlinterpretieren, wenn man auch in der Verwendung des Begriffs in diesem allgemeinen Sinn das "Moment" der Bewegung, der Veränderung und das der Urteilsfunktion des Verstandes noch mitenthalten sieht122. Momenta in facto sind also zunächst einmal die erheblichen, den Sachverhalt bildenden Umstände aus der unbegrenzten Vielzahl der varia. Sie erhalten aber den Charakter der Erheblichkeit nur dadurch AA 4, 551 f. Mit denen er sich schon in seiner ersten Abhandlung befaßt hatte: Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte und Beurtheilung der Beweise(!), deren sich Herr von Leibniz und andere Mechaniker in dieser Streitsache (sie!) bedient haben ... (1747); AA 1, 1 ff. Schon an dieser Schrift läßt sich sehr deutlich der prozessuale Charakter der Argumentation zeigen; vgl. oben Anm. 2. 114 A 208 f.- Vgl. auch A 201 und A 168 ff. 115 A 71, A 73. 118 A 76. 117 A 236. 118 A 472. 110 A 533. 120 A 542. 1!1 A 424. 12 2 Vgl. Kaulbach, Philosophie der Beschreibung (1968) 209 zu Charakter, Bewegung, Moment im gedanklichen Aufbau eines Gegenstands - nicht zu Kant, sondern zu Leibniz, aber doch wohl auch für Kant zutreffend. 11!
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aufgeprägt, daß sie im Akt richterlicher Erkenntnis als den momenta in iure korrespondierend qualifiziert werden - momenta in iure, die zusammen, nach der iustitia distributiva123, die systematische Einheit des rechtlichen Tatbestands bilden, die ihren letzten Grund in der praktischen Vernunft hat. Darf man, Kant variierend, von der "Idee vom Tatbestand" sprechen124, dann erweist sich der Sachverhalt zwar nicht als "Idee vom Faktum", aber doch als eine am Tatbestand orientierte, abstrahierende Idealisierung empirischer Fakten durch richterlichen Verstand125 • Der Sachverhalt gehört damit zwar auch noch, aber nicht mehr ausschließlich der Welt des Empirischen an. Dies besagt die Formulierung von der "Idee vom Facto", die also doch wohl nicht nur im Sinn der schlichten "Vorstellung" zu verstehen ist. Die Sachverhaltsbildung aus den momenta in facto, geleitet durch die momenta in iure, erweist sich so als ein Schritt der richterlichen Vermittlung zwischen Empirie und Recht auf der untersten Stufe. b) Damit ordnet sich die Reflexion zunächst ein in den größeren Zusammenhang der Anwendungsproblematik, die eine Problematik der Urteilskraft ist, als eines "Vermögens unter Regeln zu subsumieren, d. i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel (casus datae legis) steht, oder nicht" 12'. Der erste Schritt der Anwendung ist, die Regeln selbst, unter die subsumiert werden soll, zu haben, "Regeln im Allgemeinen und unabhängig von den besonderen Umständen der Erfahrung nach ihrer Zulänglichkeit einzusehen", was Kant als eine "Anstrengung des Verstandes" bezeichnet127• In der Reflexion 3357 geht es insoweit um die Einsicht in die momenta in iure, die beim Richter "allgemein" ausgemacht sein müssen. Zunächst hatte Kant geschrieben, der Richter müsse das ius praetensum vorher erwägen, um "zu wissen", was dazu, d. h. an momenta in iure, erforderlich sei. Hier findet sich nun die zweite aufschlußreiche Korrektur128 des Textes: "zu wissen" hat er durch "a priori zu bestimmen" ersetzt. Die Begriffe des Bestimmens und der Bestimmung sind in der Kritik der reinen Vernunft vielfach gebraucht129 ; sich hier auf eine Interpre12a
Unten S. 316.
m Des Gewagten dieser Formulierung bin ich mir bewußt.
125 Dazu Kaulbach, Immanuel Kant (1969) 305. Vgl. auch Philosophie der Beschreibung (oben Anm. 122): "Unter dem Terminus ,Idee' ist jeweils eine Kraft des Einigens zu verstehen: durch die ,Idee' wird der Gegenstand in seiner Ganzheit zusammengefaßt. Seine Momente werden in einem Zusammenhang aufgereiht, wobei zugleich der Aufbau dieses Zusammenhanges sichtbar und aussprechbar gemacht wird." ue A 132. Dort (134) auch zur Urteilskraft des Richters. 117
A 134.
Zur ersten oben S. 300 f. Vgl. den Sachindex zu Kants Kritik der reinen Vernunft, hrsg. von G. Martin (1967) 54 ff. 12s 129
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tation einzulassen ist nicht möglich, aber wohl auch nicht notwendig. Ersten Anlaß dazu, statt vom Wissen von der Bestimmung der momenta in iure zu sprechen, hat sicher das gewählte Beispiel der Klage aus Mascopey gegeben. Dieser "Rechtshandel" mußte den Richter wegen des "Mangelhaften und nicht genau Bestimmten in [den] Gesetzen", nämlich im Seerecht von 1727, gewiß in "Verlegenheit" setzen, weshalb ja auch von der ,Appellation' an die ,Gesetzgebungscommission' die Rede ist, deren Decisum die fehlende Bestimmtheit für den Richter erst schafft. Dieser Fall im allgemeinen ist schon in der Kritik der reinen Vernunft behandelt; dort findet sich bereits auch der "weise Gesetzgeber", der aus der Verlegenheit der Richter für sich selbst Belehrung zieht180• Abgesehen davon kommt in der Tätigkeit des Bestimmens der momenta in iure der Charakter der Bewegung, der dem Begriff des Moments selbst schon eignet, im richterlichen Akt der Rechtserkenntnis mit zum Ausdruck, der im bloßen "Wissen" nicht liegt. Dabei ist im übrigen auch daran zu denken, daß diese Bestimmung nicht ohne Rücksicht auf das als empirisch geschehen Vorgetragene stattfindet131 • Auch insoweit ist der richterliche Verstand in Bewegung, die Vermittlung zwischen Empirie und Rechtsregel durch Tatbestands- und Sachverhaltsbildung vorbereitend. Ein letzter, und wie mir scheint der eigentliche Sinn der Bestimmung ergibt sich schließlich aus dem Zusammenhang mit der iustitia distributiva in der richterlichen Entscheidungsbegründung. 4. "Als Richter muß er synthetisch verfahren: nach der iustitia distributiva diejenige praestanda anzeigen, die ein jeder der Streitenden nach dem Rechte des andern ... leisten muß 131.'' Zur synthetischen Methode des Richters ist einiges schon gesagt worden. Offengeblieben ist, welche Bedeutung der iustitia distributiva zukommt. Dieses Problem wirft mehr Fragen auf, als Antworten gegeben werden können, jedenfalls in vorliegendem Zusammenhang. Es geht hier nicht mehr nur um das Anwendungsproblem, sondern um das des Obergangs vom Naturrecht zum positiven Recht133 • 130 A 424.- Vgl. auch Refl. 7259 (zwischen 1780 und 1789, Phase