Recht für Rettungsdienst und Notfallmedizin 3437482718, 9783437482717

So wird Recht durch Praxisbezug begreifbar Das Buch fokussiert die wesentlichen Rechtsfragen im Rettungsdienst. Es erklä

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Table of contents :
Haupttitel
Inhaltsverzeichnis
Front Matter
Impressum
Vorwort
Danksagung
Herausgeber und Autoren
Abkürzungen
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Abbildungsnachweis
Kapitel 1 Einführung: Warum Recht in Rettungsdienst und Notfallmedizin?
1.1 Ziel des Buches
1.2 Tipps zum Umgang mit juristischen Themen
Kapitel 2 Grundlagen
2.1 Grundbegriffe
2.2 Das Grundgesetz
2.3 Der Staat
2.4 Rechtsnormen
2.5 Andere Regelungs- und Standardisierungsquellen
2.6 Rechtsprechung
2.7 Die Bundesländer
2.8 Die Europäische Union
Quellen:
Gerichtsurteile und Beschlüsse:
Kapitel 3 Gesundheitssystem
3.1 Grundlagen
3.2 Gesetzliche Krankenversicherung
3.3 Gesetzliche Pflegeversicherung
3.4 Ambulante Versorgung
3.5 Stationäre Versorgung
3.6 Pflege
3.7 Rehabilitation
3.8 Gesetzliche Unfallversicherung
3.9 Gesundheitspolitische Akteure
3.10 Rettungsdienst
3.11 Weitere Leistungserbringer und Berufsgruppen
Literatur und Internetquellen:
Kapitel 4 Berufsrecht
4.1 Notärzt*innen
4.2 Notfallsanitäter*innen
4.3 Praxisanleiter*innen
4.4 Rettungssanitäter*innen
4.5 Rettungsassistent*innen
4.6 Sorgfalts- und Handlungspflichten
Quellen:
Gerichtsurteile und Beschlüsse:
Kapitel 5 Zusammenarbeit mit Dritten im Rahmen der Gefahrenabwehr
5.1 Grundbegriffe und Gesetzgebungskompetenzen
5.2 Feuerwehr
5.3 Polizei
5.4 Katastrophenschutz/ Hilfsorganisationen
5.5 Zivilschutz
Quellen:
Weitere Literatur und Internetquellen:
Kapitel 6 Zivilrecht
6.1 Grundlagen zum Bürgerlichen Gesetzbuch
6.2 Handeln für Dritte
6.3 Behandlungsvertrag
6.4 Patientenverfügung
6.5 Haftung bei Schäden
6.6 Höhe des Schadensersatzes
Quellen:
Gerichtsurteile und Beschlüsse:
Kapitel 7 Strafrecht
7.1 Grundlagen
7.2 Das Unterlassungsdelikt
7.3 Rechtfertigungsgründe
7.4 Entschuldigungsgründe
7.5 Relevante Straftatbestände aus dem StGB
7.6 Verbleib von Patient*innen vor Ort
Quellen und Anmerkungen:
Gerichtsurteile und Beschlüsse:
Kapitel 8 Medizinprodukterecht
8.1 Europarechtliche Grundlagen
8.2 Grundlagen und Aufbau des MPDG
8.3 Medizinprodukte-Betreiberverordnung
Quellen:
Weitere Literatur:
Kapitel 9 Arzneimittel- und Betäubungsmittelrecht
9.1 Grundlagen Arzneimittelrecht
9.2 Grundlagen Betäubungsmittelrecht
Quellen und Anmerkungen:
Weitere Literatur und Internetquellen:
Kapitel 10 Unterbringung von Menschen mit psychischen Erkrankungen
10.1 Grundrecht „Freiheit der Person“
10.2 Öffentlich-rechtliche Unterbringung
10.3 Betreuungsrechtliche Unterbringung
Quellen:
Weitere Literatur und Internetquellen:
Kapitel 11 Straßenverkehrsrecht
11.1 StVG und StVO
11.2 Verantwortung der Fahrzeugführer*in
11.3 Sonder- und Wegerechte
11.4 Unfälle mit Sonder- und Wegerechten
11.5 NEF-Begleitung bei Einsatzfahrten
Quellen:
Gerichtsurteile und Beschlüsse:
Weitere Literatur:
Kapitel 12 Infektionsschutzgesetz
12.1 Grundlagen Infektionsschutzgesetz
12.2 Wichtiges für den Rettungsdienst
Quellen:
Weitere Literatur und Internetquellen:
Kapitel 13 Arbeitsrecht
13.1 Arbeitsschutz
13.2 Das Arbeitsverhältnis
13.3 Kollektives Arbeitsrecht
Quellen:
Weitere Literatur:
Kapitel 14 Datenschutzrecht
14.1 Grundlagen DSGVO
14.2 Personenbezogene Daten
14.3 Verarbeitung personenbezogener Daten
14.4 Datenschutzbeauftragte
14.5 Sanktionen bei Verstößen
Literatur:
Kapitel 15 Todesfeststellung und Leichenschau
15.1 Rechtliche Grundlagen
15.2 Leichenschau
15.3 Meldepflichten
15.4 Fehler bei der Leichenschau
15.5 Erkennen des Todes durch Notfallsanitäter*innen
15.6 Tod während des Transports
Literatur:
Register
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Recht für Rettungsdienst und Notfallmedizin
 3437482718, 9783437482717

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Recht für Rettungsdienst und Notfallmedizin 1. AUFLAGE

André Höhle David R. Winkenbach

Mit Beiträgen von: Frank Flake, Oldenburg; Eugen Latka, Schloß Holte-Stukenbrok; Frank Sarangi, Köln

Inhaltsverzeichnis Cover Haupttitel Front Matter Impressum Vorwort Danksagung Herausgeber und Autoren Abkürzungen Fehler gefunden? Abbildungsnachweis Kapitel 1 Einführung: Warum Recht in Rettungsdienst und Notfallmedizin? 1.1 Ziel des Buches 1.2 Tipps zum Umgang mit juristischen Themen

Kapitel 2 Grundlagen 2.1 Grundbegriffe 2.2 Das Grundgesetz 2.3 Der Staat 2.4 Rechtsnormen 2.5 Andere Regelungs- und Standardisierungsquellen 2.6 Rechtsprechung 2.7 Die Bundesländer 2.8 Die Europäische Union Quellen: Gerichtsurteile und Beschlüsse: Kapitel 3 Gesundheitssystem 3.1 Grundlagen 3.2 Gesetzliche Krankenversicherung 3.3 Gesetzliche Pflegeversicherung 3.4 Ambulante Versorgung 3.5 Stationäre Versorgung

3.6 Pflege 3.7 Rehabilitation 3.8 Gesetzliche Unfallversicherung 3.9 Gesundheitspolitische Akteure 3.10 Rettungsdienst 3.11 Weitere Leistungserbringer und Berufsgruppen Literatur und Internetquellen: Kapitel 4 Berufsrecht 4.1 Notärzt*innen 4.2 Notfallsanitäter*innen 4.3 Praxisanleiter*innen 4.4 Rettungssanitäter*innen 4.5 Rettungsassistent*innen 4.6 Sorgfalts- und Handlungspflichten Quellen: Gerichtsurteile und Beschlüsse: Kapitel 5 Zusammenarbeit mit Dritten im Rahmen der Gefahrenabwehr

5.1 Grundbegriffe und Gesetzgebungskompetenzen 5.2 Feuerwehr 5.3 Polizei 5.4 Katastrophenschutz/ Hilfsorganisationen 5.5 Zivilschutz Quellen: Weitere Literatur und Internetquellen: Kapitel 6 Zivilrecht 6.1 Grundlagen zum Bürgerlichen Gesetzbuch 6.2 Handeln für Dritte 6.3 Behandlungsvertrag 6.4 Patientenverfügung 6.5 Haftung bei Schäden 6.6 Höhe des Schadensersatzes Quellen: Gerichtsurteile und Beschlüsse: Kapitel 7 Strafrecht

7.1 Grundlagen 7.2 Das Unterlassungsdelikt 7.3 Rechtfertigungsgründe 7.4 Entschuldigungsgründe 7.5 Relevante Straftatbestände aus dem StGB 7.6 Verbleib von Patient*innen vor Ort Quellen und Anmerkungen: Gerichtsurteile und Beschlüsse: Kapitel 8 Medizinprodukterecht 8.1 Europarechtliche Grundlagen 8.2 Grundlagen und Aufbau des MPDG 8.3 Medizinprodukte-Betreiberverordnung Quellen: Weitere Literatur: Kapitel 9 Arzneimittel- und Betäubungsmittelrecht 9.1 Grundlagen Arzneimittelrecht 9.2 Grundlagen Betäubungsmittelrecht

Quellen und Anmerkungen: Weitere Literatur und Internetquellen: Kapitel 10 Unterbringung von Menschen mit psychischen Erkrankungen 10.1 Grundrecht „Freiheit der Person“ 10.2 Öffentlich-rechtliche Unterbringung 10.3 Betreuungsrechtliche Unterbringung Quellen: Weitere Literatur und Internetquellen: Kapitel 11 Straßenverkehrsrecht 11.1 StVG und StVO 11.2 Verantwortung der Fahrzeugführer*in 11.3 Sonder- und Wegerechte 11.4 Unfälle mit Sonder- und Wegerechten 11.5 NEF-Begleitung bei Einsatzfahrten Quellen: Gerichtsurteile und Beschlüsse: Weitere Literatur:

Kapitel 12 Infektionsschutzgesetz 12.1 Grundlagen Infektionsschutzgesetz 12.2 Wichtiges für den Rettungsdienst Quellen: Weitere Literatur und Internetquellen: Kapitel 13 Arbeitsrecht 13.1 Arbeitsschutz 13.2 Das Arbeitsverhältnis 13.3 Kollektives Arbeitsrecht Quellen: Weitere Literatur: Kapitel 14 Datenschutzrecht 14.1 Grundlagen DSGVO 14.2 Personenbezogene Daten 14.3 Verarbeitung personenbezogener Daten 14.4 Datenschutzbeauftragte 14.5 Sanktionen bei Verstößen

Literatur: Kapitel 15 Todesfeststellung und Leichenschau 15.1 Rechtliche Grundlagen 15.2 Leichenschau 15.3 Meldepflichten 15.4 Fehler bei der Leichenschau 15.5 Erkennen des Todes durch Notfallsanitäter*innen 15.6 Tod während des Transports Literatur: Register

Haupttitel A. Höhle, D. R. Winkenbach (Hrsg.) Recht für Rettungsdienst und Notfallmedizin

Impressum Elsevier GmbH, Bernhard-Wicki-Str. 5, 80636 München, Deutschland Wir freuen uns über Ihr Feedback und Ihre Anregungen an [email protected] ISBN 978-3-437-48271-7 eISBN 978-3-437-06305-3 Alle Rechte vorbehalten, auch für Text- und Data-Mining, KI-Training und ähnliche Technologien. Elsevier nimmt eine neutrale Position in Bezug auf territoriale Meinungsverschiedenheiten oder Zuständigkeitsansprüche in seinen veröffentlichten Inhalten ein, einschließlich Landkarten und institutionellen Zugehörigkeiten. 1. Auflage 2024 © Elsevier GmbH, Deutschland Wichtiger Hinweis Die medizinischen Wissenschaften unterliegen einem sehr schnellen Wissenszuwachs. Der stetige Wandel von Methoden, Wirkstoffen und Erkenntnissen ist allen an diesem Werk Beteiligten bewusst. Sowohl der Verlag als auch die Autorinnen und Autoren und alle, die

an der Entstehung dieses Werkes beteiligt waren, haben große Sorgfalt darauf verwandt, dass die Angaben zu Methoden, Anweisungen, Produkten, Anwendungen oder Konzepten dem aktuellen Wissensstand zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Werkes entsprechen. Der Verlag kann jedoch keine Gewähr für Angaben zu Dosierung und Applikationsformen übernehmen. Es sollte stets eine unabhängige und sorgfältige Überprüfung von Diagnosen und Arzneimitteldosierungen sowie möglicher Kontraindikationen erfolgen. Jede Dosierung oder Applikation liegt in der Verantwortung der Anwenderin oder des Anwenders. Die Elsevier GmbH, die Autorinnen und Autoren und alle, die an der Entstehung des Werkes mitgewirkt haben, können keinerlei Haftung in Bezug auf jegliche Verletzung und/oder Schäden an Personen oder Eigentum, im Rahmen von Produkthaftung, Fahrlässigkeit oder anderweitig übernehmen. Für die Vollständigkeit und Auswahl der aufgeführten Medikamente übernimmt der Verlag keine Gewähr. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden in der Regel besonders kenntlich gemacht (®). Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann jedoch nicht automatisch geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über https://www.dnb.de abrufbar. 24    25    26    27 28   5    4    3    2    1 Für Copyright in Bezug auf das verwendete Bildmaterial siehe Abbildungsnachweis. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. In ihren Veröffentlichungen verfolgt die Elsevier GmbH das Ziel, genderneutrale Formulierungen für Personengruppen zu verwenden. Um jedoch den Textfluss nicht zu stören sowie die gestalterische Freiheit nicht einzuschränken, wurden bisweilen Kompromisse eingegangen. Selbstverständlich sind immer alle Geschlechter gemeint. Planung: Katharina Frank, München Projektmanagement: Ulrike Schmidt, München Redaktion: Brigitte Teigeler, Wiesbaden Herstellung: Der Buchmacher, Arthur Lenner, Windach Satz: STRAIVE, Puducherry/Indien Druck und Bindung: EGEDSA, Sabadell (Barcelona)/Spanien Umschlaggestaltung: SpieszDesign, Neu-Ulm Titelfotografie: David R. Winkenbach, Bielelfeld

Aktuelle Informationen finden Sie im Internet unter www.elsevier.de

Vorwort Maximen sind für den Intellekt das, was Gesetze für die Handlungen sind: Sie erleuchten nicht, aber sie leiten und führen und, obgleich selbst blind, sind sie Schutz. Sie sind der Faden im Labyrinth, der Kompass in der Nacht. Joseph Joubert Liebe Leser*innen, die Maxime eines intelligenten und umsichtigen Rettungsdienstes ist eine möglichst gute Patientenversorgung. Hierbei wird v. a. durch standardisierte Vorgehensweisen und einheitliche Schemata medizinische Sicherheit erzeugt. Um darüber hinaus auch möglichst rechtssicher handeln zu können, gibt das geltende Recht einen abstrakten Leitfaden vor. Das Handeln im Rahmen der einschlägigen Vorschriften schafft folglich eine grundsätzliche Sicherheit für Rettungsdienstmitarbeiter*innen. Für die Rechtssicherheit des Einzelnen ist es jedoch unabdingbar, Kenntnisse über die Grundzüge des Rechts für Rettungsdienst und Notfallmedizin zu besitzen. Darüber hinaus müssen die abstrakten rechtlichen Inhalte im Einsatz auch auf die jeweilige Situation übertragen werden können. Vor dem Hintergrund immer speziellerer Vorschriften und insb. der erweiterten Kompetenzen der Notfallsanitäter*innen nimmt die

Relevanz rechtlicher Themen im Rettungsdienst stetig zu. Gleichsam steigen auch das Interesse der Rettungsdienstmitarbeitenden und die Bedeutung für die Ausbildung sowie diverse Studiengänge. Die aktuelle Literatur, die dem Thema Recht in Rettungsdienst und Notfallmedizin entgegengebracht wird, ist allerdings noch überschaubar. Oft fehlt es an Autor*innen und Herausgeber*innen, die neben juristischen Qualifikationen v. a. auch einen aktuellen praktischen Bezug zur Arbeit im täglichen Rettungsdienst mitbringen. Durch einen Zufall haben wir, die Herausgeber und die Autoren, uns zusammengefunden und uns dem Thema zusammen mit dem Elsevier Verlag angenommen. Es brauchte gute Freundschaften, etwas Weizenbier und ein Quäntchen glückliche Fügung, bis der Entschluss dazu gefasst war, ein umfangreiches Lehrbuch für den praktischen Rettungsdienst zu schreiben. Schneller als erwartet hat das Projekt Fahrt aufgenommen und der Entschluss hat sich zu einem intensiven Projekt entwickelt, das von Ehrgeiz und Engagement aller Beteiligten geprägt war. Dieses Buch ist nun als Basiswerk gedacht, um Berufsangehörigen, Auszubildenden und Studierenden ein fundiertes Verständnis für die rechtlichen Aspekte im sensiblen Bereich Rettungsdienst und Notfallmedizin zu vermitteln. Es soll dazu beitragen, klare Richtlinien und verantwortungsbewusste Handlungsweisen zu fördern, die zur Rechtssicherheit des Rettungsdienstpersonals beitragen und letztlich die bestmögliche Versorgung für diejenigen sicherstellen, die unsere Hilfe am dringendsten benötigen.

Wir hoffen, dass ihr an der Erstausgabe dieses Buches viel Freude finden werdet und das abstrakte Thema Recht auf euren Rettungsdienst-Alltag übertragen könnt. Wir glauben, dass die Auseinandersetzung und die Diskussion zu den im Folgenden beschriebenen Themen den Rettungsdienst als solchen voranbringen und Defizite aufdecken können. Daher freuen wir uns, einen Teil dazu beizutragen und durch euch womöglich noch mehr (Rechts-)Sicherheit in die Einsätze zu bringen. Da Fachbücher bekanntermaßen von Entwicklungen leben, freuen wir uns ferner über Anregungen und Anmerkungen aller Art. – Viel Spaß beim Lesen Bielefeld im Dezember 2023 David Winkenbach; André Höhle

Danksagung Dieses Buch hätte ohne die Unterstützung und die Motivation von Dritten wohl kaum in dieser Form Gestalt annehmen und zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht werden können. Wir blicken auf eineinhalb intensive Jahre zurück, in denen wir auf verschiedenste Weise Zuwendung erfahren durften. • Daher möchten wir zunächst unseren Co-Autoren Frank Sarangi, Eugen Latka und Frank Flake für den Einsatz, den fachlichen Austausch und die Kreativität danken, die ihr uns entgegengebracht habt. Die Zusammenarbeit hat wirklich Spaß gemacht. Im Weiteren ist es an dieser Stelle vor allem geboten, auch diejenigen zu nennen, die uns außerhalb des Schreibprozesses unterstützt haben und sonst ggf. unerwähnt blieben. • Wir danken daher dem Elsevier Verlag für die angenehme Zusammenarbeit und dabei insb. Ulrike Schmidt und Katharina Frank für ihr professionelles und gleichsam sympathisches Engagement. • Darüber hinaus gebührt Brigitte Teigeler ein besonderer Dank für das kompetente Lektorat und das außergewöhnlich gute Zusammenspiel.

• Besonders möchten wir uns auch bei Frank Flake, Dr. Peter Tendahl und Matthias Jahn bedanken, ohne deren stetiges Vertrauen und langjährige Unterstützung der Weg zu diesem Projekt gar nicht erst geebnet worden wäre. • Nicht unerwähnt darf an dieser Stelle die Feuerwehr Bielefeld bleiben, die sich bereitwillig für etwaige Fotos zur Verfügung gestellt hat. • Dank gebührt zudem Tim Jahnz für die Bildbearbeitung. • Letztlich gilt es, allen helfenden und toleranten Angehörigen und Freunden zu danken, die im Hintergrund unterstützt, Zeit eingeräumt und motiviert haben (insb. sollen genannt werden: Merle Tielbürger, Fabian Bay und Christoph Schröder). Abschließend möchten wir uns bei allen bedanken, die sich nun dem Thema Recht in Rettungsdienst und Notfallmedizin widmen – euch Leser*innen. Wir halten es für wichtig und zukunftsorientiert, sich mit diesem Thema zu befassen, Diskussionen einzugehen und Defizite zu erkennen. Durch die Auseinandersetzung mit dem Thema und die Unterstützung derartiger Projekte tragt auch ihr einen Teil zur Weiterentwicklung des Rettungsdienstes bei. Bielefeld im Dezember 2023 David Winkenbach; André Höhle

Herausgeber und Autoren David R. Winkenbach, Jahrgang 1994, ist Notfallsanitäter und seit 2013 im Rettungsdienst tätig. Er studiert seit 2020 im Examensstudiengang Rechtswissenschaften sowie im Bachelorstudiengang Recht & Management (B.A.) an der Universität Bielefeld. Bis heute ist er aktiv in der Notfallrettung beschäftigt. Daneben engagiert er sich als Instruktor für die Kurssysteme ERC® und 12-Leads – The Art of Interpretation® und ist als Dozent in verschiedenen medizinischen Bildungseinrichtungen tätig. André Höhle, Jahrgang 1980, ist Volljurist und arbeitet als Syndikusrechtsanwalt bei einem Hersteller für Medizinprodukte. Nach dem 2. juristischen Staatsexamen hat er noch einen MasterAbschluss in Wirtschaftsrecht (LL.M.) und einen Master-Abschluss in Wirtschaftspsychologie (M.Sc.) erlangt. Er ist Rettungssanitäter und seit dem Zivildienst nebenberuflich im Rettungsdienst tätig. In den letzten Jahren hat er im Ehrenamt einer Hilfsorganisation verschiedene Tätigkeiten übernommen (z. B. Leiter Ausbildung, Leiter Schulsanitätsdienst) und Qualifikationen erlangt (z. B. Ausbilder Erste-Hilfe, Gruppenführer Katastrophenschutz, Leiter Ausbildung, Organisatorischer Leiter Rettungsdienst). Zudem ist er als nebenberuflicher Dozent im Rahmen der rettungsdienstlichen Aus- und Fortbildung tätig (überwiegend zu den Themenbereichen Recht und Psychologie).

Frank Flake, Jahrgang 1966, ist Kaufmann und Notfallsanitäter. Darüber hinaus ist er Praxisanleiter, Dozent im Rettungsdienst, Leiter Rettungsdienst beim Landkreis Oldenburg, 2. Vorsitzender Deutscher Berufsverband Rettungsdienst, ERC®-ALS-Instruktor und Kursdirektor, PHTLS®, AMLS-® und EPC®-Kurskoordinator und Instruktor, EFQM-Assessor, externer Auditor, Organisatorischer Leiter Rettungsdienst, Mitarbeiter verschiedener Fachzeitschriften sowie Autor und Herausgeber zahlreicher einschlägiger Buchveröffentlichungen. Frank Sarangi LL.M., Jahrgang 1978, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht in der Vertretung von Ärzte*innen, Kliniken, Rettungsdiensten und weiteren medizinischen Leistungserbringern. Als Rettungssanitäter 15 Jahre im Rettungsdienst tätig. Studium der Rechtswissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum, LL.M. Studium „Medizinrecht“ an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Seit 2016 Lehrbeauftragter für Medizinrecht an der Fakultät für Gesundheit der Universität Witten Herdecke. 2019 und 2020 Sachverständiger im Gesundheitsausschuss des Bundestages zum NotSanG. Autor vieler Fachveröffentlichungen und Referent. Eugen Latka ist als Beamter (Verbandsdirektor) für die Leitung des Fachbereichs Medizin und Rettungswesen sowie der staatlich anerkannten Rettungsdienstschulen am Studieninstitut WestfalenLippe verantwortlich. Seine akademische Ausbildung mit einem wissenschaftlichen und betriebswissenschaftlichen Masterabschluss verbindet ihn stark mit der Lehre und der akademischen Forschung. Durch über 20 Jahre Erfahrung im Rettungsdienst, in denen er als Notfallsanitäter und Paramedic nach US D.O.T tätig war, bringt er

umfassendes Wissen und praktische Erfahrung in die Aus- und Fortbildung von Rettungsfachkräften ein. Als Autor und Herausgeber im Rettungswesen leistet er außerdem Beiträge in Fachzeitschriften sowie Fachliteratur und fördert zudem als Vorsitzender des TraumaManagement®-Netzwerks die Vernetzung von Fachkräften und Institutionen im Rettungsbereich.

Abkürzungen § Paragraf §§ Paragrafen Abb. Abbildung ABCDE Schema zur medizinischen Ersteinschätzung (Airway, Breathing, Circulation, Disability, Exposure) ÄBD Ärztlicher Bereitschaftsdienst Abs. Absatz ACS Acute Coronary Syndrome (akutes Koronarsyndrom) AG Amtsgericht AG Aktiengesellschaft AGG Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz ÄLRD Ärztliche Leiter*in Rettungsdienst AMG Arzneimittelgesetz AOLG Arbeitsgemeinschaft der Obersten Landesgesundheitsbehörden APVO/APrV Ausbildungs- und Prüfungsverordnung ArbSchG Arbeitsschutzgesetz ArbZG Arbeitszeitgesetz Art. Artikel (Singular/Plural)

ASiG Arbeitssicherheitsgesetz ASB Arbeiter-Samariter-Bund ASS Acetylsalicylsäure ATMIST Übergabeschema (Age, Time, Mechanism of Injury/Illness, Injuries, Signs/Symptoms, Treatment) AVR Arbeitsvertragsrichtlinien AWMF Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften Az. Aktenzeichen BAO Besondere Aufbauorganisation BAG Bundesarbeitsgericht BBiG Berufsbildungsgesetz BBK Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe BDSG Bundesdatenschutzgesetz Beschl. v. Beschluss vom BfArM Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte BFD Bundesfreiwilligendienst BfR Bundesinstitut für Risikobewertung BG Berufsgenossenschaft BGB Bürgerliches Gesetzbuch BGH Bundesgerichtshof BHKG Gesetz über den Brandschutz, die Hilfeleistung und den Katastrophenschutz (NRW) BioStoffV Biostoffverordnung BKA Bundeskriminalamt

BMA Brandmeldeanlage BMG Bundesministerium für Gesundheit BOS Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben BPR Behandlungspfad/e Rettungsdienst BSG Bundessozialgericht BSI Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik Bsp. Beispiel BT Bundestag BtM Betäubungsmittel BtMG Betäubungsmittelgesetz BtMVV Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung BUrlG Bundesurlaubsgesetz BVerfG Bundesverfassungsgericht BV ÄLRD Bundesverband der Ärztlichen Leiter*innen Rettungsdienst BWS Brustwirbelsäule bzw. beziehungsweise ca. circa/zirka CE Conformité Européenne COPD Chronic Obstructive Pulmonary Disease (chronisch obstruktive Lungenerkrankung) COVID-19 Coronavirus SARS-CoV-2 CPAP Continuous Positive Airway Pressure (kontinuierlicher positiver Atemwegsdruck) DBRD Deutscher Berufsverband Rettungsdienst

DeMIST Übergabeschema (Demographics, Time, Mechanism of Injury/Illness, Injuries, Signs/Symptoms, Treatment) DGUV Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung DIN Deutsches Institut für Normung DIVI Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin dl Deziliter DNQP Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege DRG Diagnosis Related Groups (diagnosebezogene Fallgruppen) DRK Deutsches Rote Kreuz DSB Datenschutzbeauftragte DSGVO Datenschutz-Grundverordnung DWD Deutscher Wetterdienst EbM Evidenzbasierte Medizin EBM Einheitlicher Bewertungsmaßstab EG/EWG Europäische Gemeinschaft/Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EKG Elektrokardiogramm ELW Einsatzleitwagen EMA European Medicines Agency (Europäische ArzneimittelAgentur) EN Europäische Norm ERC European Resuscitation Council ESI Emergency Severity Index EStG Einkommenssteuergesetz

et al. et alia (und andere) etc. et cetera EU Europäische Union EUDAMED Europäische Datenbank für Medizinprodukte e. V. Eingetragener Verein f. folgende (bezogen auf die unmittelbar folgende Norm) ff. folgende (bezogen auf mehrere folgende Normen) FamFG Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit FeV Fahrerlaubnis-Verordnung FSJ Freiwilliges Soziales Jahr FVZ Fahrzeug-Zulassungsverordnung GCS Glasgow Coma Score G-BA Gemeinsamer Bundesausschuss gem. gemäß GewSchG Gewaltschutzgesetz GG Grundgesetz ggf. gegebenenfalls gGmbH gemeinnützige GmbH GI gastrointestinal GmbH Gesellschaft mit beschränkter Haftung G-NFS Gemeindenotfallsanitäter*in GOÄ Gebührenordnung für Ärzte grds. grundsätzlich

HeilprG Heilpraktikergesetz HiOrg Hilfsorganisation HIV Human Immunodeficiency Virus HLF Hilfeleistungs-Löschgruppenfahrzeug HWS Halswirbelsäule i. d. R. in der Regel IfSG Infektionsschutzgesetz inkl. inklusive insb. insbesondere i. R. d. im Rahmen der/des i. S. d. im Sinne der/des i. S. e. im Sinne einer/eines ISO International Organization for Standardization (internationale Organisation für Normung) i. V. m. in Verbindung mit i. v. intravenös JUH Johanniter-Unfall-Hilfe KAG Kommunalabgabengesetz (NRW) Kap. Kapitel KBV Kassenärztliche Bundesvereinigung KFZ Kraftfahrzeug KG Kammergericht KHGG Krankenhausgestaltungsgesetz KKG Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz

KoPlaWu Kopfplatzwunde KRINKO Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention KTW Krankentransportwagen KUG Kunst- und Urhebergesetz LAG Landesarbeitsgericht LG Landgericht LRD Leiter*in Rettungsdienst LSD Lysergsäurediethylamid/Lysergid LSG Landessozialgericht m Meter MANV Massenanfall von Verletzten/Großschadenslage MBOÄ Musterberufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte MD Medizinischer Dienst MdB Mitglied des Bundestags/Bundestagsabgeordnete*r MDR Medical Device Regulation (Medizinprodukteverordnung) mg Milligramm mg/dl Milligramm pro Deziliter MHD Malteser Hilfsdienst Min. Minute mind. mindestens mmHg Millimeter-Quecksilbersäule Morbi-RSA Morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich

MPAMIV Medizinprodukte-Anwendermelde- und Informationsverordnung MPDG Medizinprodukterecht-Durchführungsgesetz Mrd. Milliarden MRSA Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus MTS Manchester Triage System MVZ Medizinisches Versorgungszentrum NA Notärzt*in NARK Normenausschuss Rettungsdienst und Krankenhaus (DIN) Nds. Niedersachsen NEF Notarzteinsatzfahrzeug NHS National Health Service (Großbritannien) NINA Notfall-Informations- und Nachrichten-App NKTW Notfallkrankenwagen NotSan/NFS Notfallsanitäter*in NotSanG Notfallsanitätergesetz Nr. Nummer NRS Numerische Rating-Skala NRW Nordrhein-Westfalen o. Ä. oder Ähnliches OLG Oberlandesgericht OP Operation ÖPNV Öffentlicher Personennahverkehr OrgL Organisatorische Leiter*in

OVG Oberverwaltungsgericht OWiG Ordnungswidrigkeitengesetz PAL Praxisanleiter*in PEI Paul-Ehrlich-Institut PflBG Pflegeberufegesetz PKW Personenkraftwagen PolG Polizeigesetz PsychKG Psychisch-Kranken-Gesetz PVK peripher-venöser Zugang RettAss/RA Rettungsassistent*in RettG Rettungsdienstgesetz RettH/RH Rettungshelfer*in RettSan/RS Rettungssanitäter*in RKI Robert Koch-Institut RR Blutdruck (Riva-Rocci) RTW Rettungswagen RZV Rettunsdienstzweckverband s. siehe SAA Standardarbeitsanweisung/en SARS-CoV-2 Severe Acute Respiratory Syndrome Coronavirus Type 2 SBAR Übergabeschema – Situation (Situation), Background (Hintergrund), Assessment (Einschätzung), Recommendation (Empfehlung) SEG Schnelleinsatzgruppe

Sek. Sekunde SGB Sozialgesetzbuch SHT Schädel-Hirn-Trauma SNA Standardisierte Notrufabfrage s. o. siehe oben sog. sogenannte SOP Standard Operating Procedure/s (Standardvorgehensweise/n) Std. Stunde STEMI ST-Streckung-Hebungs-Myokardinfarkt StGB Strafgesetzbuch STIKO Ständige Impfkommission StPO Strafprozessordnung StVG Straßenverkehrsgesetz StVO Straßenverkehrs-Ordnung StVZO Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung Tab. Tabelle THW Technisches Hilfswerk TNA Telenotärzt*in TRBA 250 Technische Regeln für Biologische Arbeitsstoffe TVöD Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst u. a. unter anderem UDI Unique Device Identification (Produktidentifizierungsnummer) u. U. unter Umständen u. v. m. und viele mehr

ÜMANV Überörtliche/r Massenanfall von Verletzten/Großschadenslage Urt. v. Urteil vom USA The United States of America VEL Vollelektrolytlösung VG Verwaltungsgericht VGH Verwaltungsgerichtshof vgl. vergleiche VT Ventrikuläre Tachykardie VwV (auch VV) Verwaltungsvorschrift WD Wissenschaftlicher Dienst WHO World Health Organization (Weltgesundheitsorganisation) z. B. zum Beispiel ZLG Zentralstelle für Gesundheitsschutz bei Arzneimitteln und Medizinprodukten ZSKG Zivilschutz- und Katastrophenhilfegesetz z. T. zum Teil Zzgl. Zuzüglich ZLG Zentralstelle der Länder für Gesundheitsschutz bei Arzneimitteln und Medizinprodukten

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Abbildungsnachweis Der Verweis auf die jeweilige Abbildungsquelle befindet sich bei allen Abbildungen im Werk am Ende des Legendentextes in eckigen Klammern. Alle nicht besonders gekennzeichneten Grafiken und Abbildungen © Elsevier GmbH, München. L138

Martha Kosthorst, Borken

L141

Stefan Elsberger, Planegg

L143

Heike Hübner, Berlin

L157

Susanne Adler, Lübeck

M1347

David R. Winkenbach, Bielefeld

P1064

Dr. med. Anja Hohmann, Heidelberg

X333

Wikimedia Commons (Wikipedia.org)

Kapitel 1 Einführung: Warum Recht in Rettungsdienst und Notfallmedizin? André Höhle; David Winkenbach

Im Rettungsdienst und in der Notfallmedizin kommen Fachkräfte täglich mit den wichtigsten Rechtsgütern von Menschen in Berührung – der Gesundheit und dem Leben. Da diese Rechtsgüter von der deutschen Rechtsordnung außerordentlich geschützt sind, gibt es eine Vielzahl von Vorschriften und rechtlichen Zusammenhängen, die für die Arbeit in der Notfallversorgung wichtig sind. Gerade im Rettungsdienst werden Handlungen oft an Vorgaben und bestimmte Kompetenzen geknüpft, sodass die Kenntnis der Rechtslage für das Rettungsdienstpersonal unabdingbar ist. Relevanz haben dabei nicht nur solche Vorschriften, die Gesundheit und Leben der Patient*innen schützen sollen, sondern auch solche, die dem Schutz der Mitarbeitenden des Rettungsdienstes selbst gelten.

Vorgaben zu invasiven Maßnahmen, Applikationen von Betäubungsmitteln und eigenverantwortlicher Heilkunde – die Dichte der Regelungen und deren Auswirkungen auf die Arbeit in Rettungsdienst und Notfallmedizin nimmt insbesondere für Notfallsanitäter*innen immer mehr zu. Gleichzeitig steigt das Bedürfnis nach Rechtssicherheit, und das Interesse an juristischen Hintergründen wird zunehmend größer. Umso wichtiger ist es, das medizinische Fachpersonal für die Praxis zu wappnen und ihm den Zugang zu einem umfangreichen rechtlichen Grundverständnis zu ermöglichen.

1.1 Ziel des Buches Ziel dieses Buches ist es, die rechtlichen Themen und Hintergründe, die für Rettungsdienst und Notfallmedizin relevant sind, umfassend zu beleuchten. Im Vordergrund steht dabei die praktische Anwendung des Rechts im Notfalleinsatz und darüber hinaus. So ist der Anspruch eines jeden Kapitels, zum rechtssicheren Arbeiten der Leser*innen beizutragen. Die Ausführungen sollen dabei als Nachschlagewerk für Berufserfahrene, aber auch als Ausbildungsund Studienliteratur dienen. Innerhalb der einzelnen Themen werden sowohl die Grundlagen besprochen als auch konkrete Aspekte oder Probleme aus der Praxis abgehandelt. Zudem wird bei einigen Rechtsfragen Wert auf die Herleitung der Ergebnisse gelegt, um ein tieferes Verständnis zu ermöglichen. In den Kapiteln umfassen die Darstellungen zum einen spezielle notfallmedizinische Hintergründe, zum anderen werden Zusammenhänge zum deutschen Rechts- und v. a. zum Gesundheitssystem sichtbar gemacht. Da die Inhalte hierbei häufig

ineinandergreifen, werden an mehreren Stellen Verbindungen zu anderen Kapiteln hergestellt. Beim Thema Recht kann gerade im Rettungsdienst der Eindruck entstehen, dass die Fülle und Komplexität der Vorschriften die Arbeit der Mitarbeitenden übermäßig behindert. In diesem Zusammenhang fällt sogar gelegentlich der Satz „Im Rettungsdienst stehen wir ja eh immer mit einem Bein im Knast.“ Dass dem nicht so ist, möchte dieses Buch aufzeigen. Zwar gibt es viele Vorschriften, die die Arbeit des Rettungsdienstes beeinflussen, allerdings haben diejenigen, die sich der rechtlichen Rahmenbedingungen bewusst sind, professionell arbeiten und wertschätzend kommunizieren, in der Regel nicht zu befürchten, rechtlichen Konsequenzen ausgesetzt zu sein. Vielmehr kann das Recht sogar als Hilfestellung für sicheres Arbeiten in Rettungsdienst und Notfallmedizin dienen. Diese Erkenntnis soll durch eine aufmerksame Lektüre dieses Buches möglich sein und somit dem abschreckenden Image des Themas Recht entgegenwirken. Um die oft sehr theoretische Materie zu veranschaulichen, sollen verschiedene Kästen die Ausführungen entzerren. Sie dienen dazu, die komplexen rechtlichen Themen besser zu verstehen und zu erkennen, in welchen Einsatzsituationen die jeweiligen Themen relevant werden können. Le r nzie l e u nd R e c h ts qu e lle n Vor jedem Kapitel sind kurz und bündig die Lernziele des jeweiligen Themengebiets formuliert. Zudem wurden als QR-Code alle Gesetzestexte verlinkt, die für das Kapitel wichtig sind. Die Gesetze sind online kostenlos verfügbar.

Me r k e „Merke“-Kästen werden eingesetzt, um die Kernaussagen von rechtlichen Erklärungen noch einmal zusammenzufassen und auf das Wesentliche zu reduzieren. A c ht u ng „Achtung“-Kästen dienen dazu, besonders wichtige Aussagen hervorzuheben. Pr axis tip p Die Kästen „Praxistipp“ geben Anregungen und Ideen, um einzelne Aspekte in der Praxis besser umsetzen zu können. R e ch t in e c ht Die Kästen „Recht in echt“ stellen einen Bezug zwischen Theorie und Praxis her. Dabei sollen Beispiele und Fälle aus der Praxis dazu beitragen, die oft sehr theoretischen Themen zu veranschaulichen. Hierbei begleiten verschiedene fiktive Charaktere die Fälle. Zu finden sind insbesondere: • Die Notärzt*innen Lola und René • Die Notfallsanitäter*innen Marie und Fabian • Die Rettungssanitäter*innen Ida und Till • Die Pflegefachfrau Merle

Che c kl is te

„Checklisten“ sollen dazu dienen, komplexe Rechtsfragen strukturiert zu beantworten.

1.2 Tipps zum Umgang mit juristischen Themen Das „Recht“ ist ein sehr umfangreiches und komplexes Themengebiet, das sich neben seinen abstrakten Darstellungen auch immer durch Diskussionen und Streitstände auszeichnet. So gilt auch für das Recht in Rettungsdienst und Notfallmedizin, dass es nicht immer eine klare Antwort auf jede Fragestellung gibt, sondern viele Sachverhalte individuell anhand der speziellen Umstände bewertet werden müssen. Die Schwierigkeit rechtlicher Themen liegt also darin, die Gesetze und Normen im Kontext des Einzelfalls zu betrachten. Es ist aber dennoch möglich, rechtlich einen Rahmen abzustecken, dessen Kenntnis wesentlich dazu beitragen kann, in Rettungsdienst und Notfallmedizin rechtssicher zu handeln.

1.2.1 Rechtsprechung Gefestigt werden einzelne juristische Fragestellungen insbesondere durch die Rechtsprechung, also durch Gerichtsentscheidungen. Soweit allerdings keine Rechtsprechung zu einzelnen Themen vorhanden ist, muss auf andere juristische Herleitungen zurückgegriffen werden. Daher kann auch im Rahmen eines fachspezifischen Lehrbuches nie hundertprozentig garantiert werden, dass ein Gericht in einzelnen Fragen nicht anders entscheiden würde. So muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass Teile dieses Werkes auf dem Verständnis der Autoren basieren und grds. die Möglichkeit besteht, dass weitere,

anderslautende Auffassungen existieren. Insbesondere die Fälle orientieren sich nur teilweise an Urteilen und sind größtenteils erdacht, um die Materie zu erklären und zu verdeutlichen. Es kann nicht garantiert werden, dass Gerichte alle Beispiele genauso beurteilen würden. Ein Großteil der Rechtsprechung ist im Internet frei zugänglich. Interessierte Leser*innen können auf Webseiten wie www.justiz.de oder www.openjur.de Urteile aus den Quellen nachschlagen oder auch gezielt nach einzelnen Begriffen suchen.

1.2.2 Rechtsquellen Beim Schreiben dieses Buches wurde bewusst darauf geachtet, die rechtlichen Themen so praxisbezogen wie möglich darzustellen. Auch ohne jede einzelne Vorschrift nachzuschlagen, sind die Themen aus sich heraus verständlich. Zu manchen rechtlichen Themen kann es jedoch hilfreich sein, sich zusätzlich den konkreten Wortlaut der relevanten rechtlichen Vorschriften anzuschauen. Um einen besseren Überblick über die Strukturen und Hintergründe rechtlicher Regelungen zu bekommen, kann es sich demnach anbieten, gleichzeitig auch immer die jeweils erwähnten Vorschriften zu lesen und sich dazu immer bewusst zu machen, wo etwas, mit welcher Intention geregelt ist. Alle Gesetze sind im Internet frei verfügbar. Während zu Beginn der Kapitel auch jeweils die wichtigen Gesetze verlinkt sind, können Gesetze, Verordnungen etc. auch leicht über eine Suche im Internet gefunden werden. Dies gilt insbesondere für Rechtsquellen der Landesgesetzgebung, z. B. für die Rettungsdienstgesetze. Da Teile des Rettungsdienstes in die Gesetzgebungskompetenz der

Bundesländer fallen, kann dieses Buch nicht auf alle einzelnen Regelungen in den Bundesländern separat eingehen. Dies betrifft auch die landesrechtlichen Bestimmungen zu Polizei, Feuerwehr, Bestattung etc. An vielen Stellen wurde daher exemplarisch auf die Gesetze von Nordrhein-Westfalen als bevölkerungsreichstes Bundesland und Wahlheimat der meisten Autoren verwiesen.

1.2.3 Gendergerechte Sprache Der Verlag und die Herausgeber legen Wert darauf, alle Menschen gleich und wertschätzend zu behandeln. Um diesem Anspruch zu genügen und einen respektvollen und zukunftsfähigen Umgang anzubieten, wird in diesem Buch eine gendergerechte Sprache verwendet.

Kapitel 2 Grundlagen David Winkenbach

Im Rettungsdienst und in der Notfallmedizin dreht sich zunächst alles um die Patient*innen. Betrachtet man aber das System dahinter, wird deutlich, dass Politik, die Organisation des Rettungsdienstes und das zugrundeliegende Recht eine wesentliche Bedeutung für die Notfallversorgung haben. Es gibt einen Rahmen aus Gesetzen und rechtlichen Strukturen, auf denen das System und schließlich auch die Versorgung von Patient*innen aufbaut. Um die Zusammenhänge besser zu verstehen, sind einige Grundkenntnisse zum deutschen Recht, der Staatsorganisation, der Gesetzgebung und dem Föderalismus notwendig. Nur mit diesen Grundkenntnissen gelingt es, die rechtlichen Rahmenbedingungen des Rettungsdienstes sowie konkrete rechtliche Fallgestaltungen und Probleme zu verstehen und sachgerecht lösen zu können. Auf diese Grundlagen wird in den folgenden Kapiteln immer wieder Bezug genommen. Daher werden hier auch nur rechtliche Grundlagen angesprochen die für den Rettungsdienst insgesamt sowie für die konkrete Tätigkeit des Rettungsfachpersonals von Bedeutung sind. D ie s e s K ap it e l s o l l F o l ge nd e s v e r mitt e l n: • Grundlagen des deutschen Rechts • Wesentliche Staatsprinzipien und Staatsformen • Die deutsche Staatsorganisation in ihren Grundzügen • Die Bedeutung der Grundrechte auch im rettungsdienstlichen Kontext • Basiswissen zur deutschen Gesetzgebung und Rechtsprechung • Die Unterscheidung von Rechtsnormen, Rechtsverordnungen, Richtlinien, Erlassen, Leitlinien, Empfehlungen und DIN-Normen • Kommunale Strukturen in Bezug zum Rettungsdienst

W ich t ige R e ch t s q u e l le n fü r d ie s e s K ap ite l: • Grundgesetz (GG)

https://www.gesetze-im-internet.de/gg/ • Landesrettungsdienstgesetz des jeweiligen Bundeslandes (z. B. RettG NRW)

https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_text_anzeigen? v_id=10000000000000000325 • Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)

https://www.gesetze-im-internet.de/bgb/

2.1 Grundbegriffe Im deutschen Recht gibt es einige Begriffe und Differenzierungen, die als Grundlage notwendig sind, um weitere rechtliche Themen zu verstehen. Hierzu zählen z. B. die Unterscheidungen zwischen öffentlichem und privatem Recht oder natürlichen und juristischen Personen.

2.1.1 Öffentliches und privates Recht Eine erste wesentliche Unterscheidung kann zwischen öffentlichem und privatem Recht getroffen werden. Öffentliches Recht umfasst die Rechtsverhältnisse im öffentlichen Gemeinwesen sowie die Rechtsverhältnisse zwischen Staat und Bürger*innen. Hierzu zählen z. B. die Staatsorganisation, die Gesetzgebung, die Gewährleistung der Grundrechte sowie staatliche Gebote und Verbote. Das öffentliche Recht ist dabei zwingend, d. h., es kann nicht davon abgewichen werden. Vor Gericht ist im öffentlichen Recht der Staat dem Bürger übergeordnet (sog. Subordination). Das Privatrecht hingegen regelt die Rechtsverhältnisse zwischen den Bürger*innen. So sind z. B. Behandlungsverträge zwischen Ärzt*in und Patient*in, Kaufverträge im Supermarkt oder Mietverhältnisse Teil des Privatrechts. Im Gegensatz zum öffentlichen Recht ist das Privatrecht etwas flexibler und in einem gewissen Rahmen dispositiv (abweichend gestaltbar). Vor Gericht stehen die Parteien gleichberechtigt, also auf Augenhöhe gegenüber. Im System von Rettungsdienst und Notfallmedizin kommen beide Rechtsgebiete zum Tragen. M e rk e

Öffentliches Recht regelt die Rechtsverhältnisse zwischen: • Staat und Staatsbürger*innen • Staatlichen Institutionen • Dem Staat und anderen Staaten Privatrecht regelt die Rechtsverhältnisse zwischen: • Den Staatsbürger*innen untereinander

Natürliche und juristische Personen Träger von Rechten und Pflichten sind zunächst alle natürlichen Personen (§ 1 BGB). Allerdings können auch Personenvereinigungen oder Zweckvermögen (Stiftungen) Träger von Rechten und Pflichten sein, wenn sie in ihrer Gesamtheit mit allgemeiner Rechtsfähigkeit ausgestattet sind. Solche Vereinigungen nennt man juristische Personen. Juristische Personen können also genau wie natürliche Personen am Rechtsverkehr teilnehmen oder Partei von Rechtsverhältnissen sein, also z. B. Verträge abschließen. Sie bestehen sowohl im öffentlichen als auch im privaten Recht. Ein Überblick zu den verschiedenen juristischen Personen ist in › Abb. 2.1 dargestellt.

ABB. 2.1 Überblick juristische Personen [L157]

Auf der kommunalen Ebene sind Gebietskörperschaften von besonderer Bedeutung für den Rettungsdienst (› Kap. 2.7.1). (Land‑) Kreise oder auch kreisfreie Städte fungieren oftmals als Träger für die Rettungsdienste, d. h., sie sind dazu verpflichtet, in ihrem Gebiet die bedarfsgerechte und flächendeckende Versorgung der Bevölkerung mit Leistungen des Rettungsdienstes sicherzustellen. Die Träger können den Rettungsdienst selbst stellen oder Dritte damit beauftragen. Solche Dritte können wiederum zivilrechtliche Körperschaften sein (z. B. GmbH, gGmbH, e. V.) R e c h t in e c h t (Fall 2.1) Fabian ist Notfallsanitäter und eine natürliche Person. Er selbst ist rechtsfähig, also Träger von Rechten und Pflichten. Fabian bewirbt sich bei der Hilfsorganisation „Lebensretter e. V.“ um eine Stelle und soll eingestellt werden. Dieser e. V. (eingetragener Verein) ist eine zivilrechtliche Körperschaft, damit eine juristische Person und folglich ebenfalls rechtsfähig. Der Arbeitsvertrag wird hier also zwischen einer natürlichen Person und einer juristischen Person geschlossen. Da eine juristische Person selbst nicht handeln kann, wird sie durch eine dazu berechtigte natürliche Person vertreten (z. B. durch den Vorstand des e. V.). Der „Lebensretter e. V.“ ist vom Landkreis Musterstadt, einer juristischen Person des öffentlichen Rechts, dazu beauftragt worden, den Rettungsdienst für das Landkreis-Gebiet sicherzustellen. Hierbei wurde ein Vertrag zwischen dem „Lebensretter e. V.“ und dem Landkreis Musterstadt geschlossen. Beide Vertragsparteien sind also juristische Personen, eine zivilrechtliche und eine öffentlich-rechtliche. M e rk e Es gibt juristische Personen des Zivilrechts und solche des öffentlichen Rechts. Juristische Personen sind grds. rechtsfähig und können Vertragspartei sein.

2.2 Das Grundgesetz Das Grundgesetz (GG) ist die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland. Darin werden die wichtigsten Regeln für das Zusammenleben im deutschen Staat festgelegt. Das Grundgesetz ist folglich das wichtigste deutsche Gesetz und befindet sich in der nationalen Gesetzes-Hierarchie immer an oberster Stelle.

Das Grundgesetz wurde am 8. Mai 1949 verabschiedet – am vierten Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands nach dem zweiten Weltkrieg. Das Gesetz war ursprünglich nicht als andauernde Verfassung geplant, sondern als vorübergehende Lösung, die bis zu einer damals schon erhofften Vereinigung mit der sowjetischen Besatzungszone gelten sollte. Allerdings wurde nach der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 keine neue Verfassung geschaffen, sondern das Grundgesetz wird (in der Funktion einer Verfassung) weitergeführt.

2.2.1 Aufbau Grundgesetz Im Grundgesetz sind zum einen die wichtigsten Rechte geregelt, die ein Mensch gegenüber dem Staat hat (Grundrechte), zum anderen werden auch der staatliche Aufbau und die Beziehungen zwischen staatlichen Organen vorgegeben (Staatsorganisation). Das Grundgesetz ist damit die Grundlage des öffentlichen Rechts. Während die meisten deutschen Gesetze in einzelne Paragrafen (§) unterteilt sind, ist das Grundgesetz in Artikel (Art.) gegliedert. Die wichtigsten Grundrechte befinden sich direkt am Anfang des Grundgesetzes in den Artikeln 1–19 GG; ab Art. 20 GG ist v. a. das Staatsorganisationsrecht geregelt. M e rk e Das Grundgesetz gibt zwei wesentliche Regelungsgebiete vor: • Die Grundrechte • Die Staatsorganisation

2.2.2 Grundrechte Im Verhältnis zwischen Staat und Bürger*in haben beide Seiten Rechte und Pflichten. In dieser Beziehung dominiert der Staat in einem sog. Über‑Unterordnungsverhältnis; er besitzt als Staatsgewalt viel Macht. Einen besonderen Stellenwert haben daher die Grundrechte. Grundrechte sind grds. Abwehrrechte der Menschen in Deutschland gegen den Staat. Sie dienen dem Schutz der individuellen Freiheit gegenüber staatlichen Eingriffen. Grundrechte können jedoch auch u. U. Rechte auf Leistungen für Bürger*innen sowie Schutzpflichten des Staates begründen. Die meisten Grundrechte stehen am Anfang des

Grundgesetzes und haben als Teil der Verfassung höchsten Rang gegenüber allen anderen Rechtsnormen. Grundrechtsträger können entweder alle Menschen (JedermannGrundrechte/Menschenrechte), nur deutsche Staatsangehörige (DeutschenGrundrechte/Bürgerrechte) oder bestimmte Personenmehrheiten sein. Darin eingefasst können auch juristische Personen des Zivilrechts sein. Grundrechte gibt es nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Rechtsordnungen. Auch auf EU-Ebene sind Grundrechte gewährleistet. M e rk e Grundrechte schützen die individuelle Freiheit der Menschen gegen staatliche Eingriffe. Sie können zudem Leistungsansprüche und Schutzpflichten begründen. Rechte und Pflichten aus Grundrechten Der Name Grundrechte impliziert bereits, dass es sich um grundlegende Rechte handelt. Diese stehen jeder einzelnen Grundrechtsträger*in zu. Allerdings erwachsen aus den Rechten im Umkehrschluss auch Pflichten. Dies ist allein deshalb notwendig, damit anderen Menschen die gleichen Rechte gewährleistet werden können. Rechte Die Grundrechte sind die bedeutendsten Rechte, die die Menschen in Deutschland gegenüber dem Staat haben. Sie gelten als so wichtig, dass sie nur unter ganz bestimmten Bedingungen eingeschränkt werden dürfen. Zudem sind alle deutschen Gesetze dem Grundgesetz und insb. den Grundrechten unterworfen, dies bezeichnet man auch als Ausstrahlungswirkung der Grundrechte. Sie wirken in das einfache Recht hinein und sind bei jeder staatlichen Maßnahme zu berücksichtigen. Einige wichtige Grundrechte sind: • Die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) • Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) • Die allgemeine Handlungsfreiheit/das Selbstbestimmungsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG) • Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) • Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) • Das allgemeine Gleichheitsrecht (Art. 3 Abs. 1 GG)

• Die Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) • Die Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 GG) • Die Pressefreiheit (Art. 5 Abs 1 Satz 2 GG) • Das Erziehungsrecht der Eltern (Art. 6 Abs. 2 GG) • Die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) A c h tu ng Im Alltagsgeschäft des Rettungsdienstes kommt es vor, dass in Grundrechte eingegriffen wird. So wird bei der Anlage eines intravenösen Zugangs stets in das Recht auf körperliche Unversehrtheit eingegriffen. Regelmäßig kann auch in das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung beim Betreten einer fremden Unterkunft eingegriffen werden. Wenngleich solche Grundrechtsverletzungen gerechtfertigt sein können, ist es wichtig, sich der Bedeutung dieser Eingriffe bewusst zu sein. Pflichten Die Pflichten sind vielfältig und lassen sich unterschiedlich herleiten. Beispielsweise bestehen für alle Staatsangehörigen Steuer- und Abgabepflichten, damit die Gewährleistung der Grundrechte auch durch finanzielle Mittel gesichert werden kann. Viele weitere Pflichten ergeben sich auch aus den Rechten der anderen Staatsbürger*innen. Während für jedermann das Recht auf körperliche Unversehrtheit gilt, besteht im Umkehrschluss die Pflicht dazu, diese Unversehrtheit eines anderen Menschen nicht zu beeinträchtigen. Weitere Beispiele von gegenüberstehenden Rechten und Pflichten sind in › Tab. 2.1 aufgeführt.

Tab. 2.1 Rechte und Pflichten aus den Grundrechten Rechte

Pflichten

Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2

Niemand darf eine andere Person töten, gegen sie Gewalt ausüben oder sie verletzen (diese Verbote sind im Strafgesetzbuch geregelt).

GG). Männer und Frauen sind vor dem Gesetz gleich/Recht auf geschlechterbezogene Gleichberechtigung (Art. 3

Jeder muss Männer und Frauen gleichermaßen achten und respektierten; alle müssen gleich behandelt werden. Dies wird im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz näher konkretisiert.

Abs. 2 Satz 1 GG). Jeder hat das Recht, seinen Glauben frei zu wählen und auszuüben (Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG).

Niemand darf eine andere Person zu einem bestimmten Glauben zwingen; andere Glaubensrichtungen müssen akzeptiert werden.

Der Staat schützt das Eigentum Jeder muss das Eigentum anderer Personen des Einzelnen/Recht auf schonend behandeln und darf es nicht Gewährleistung des beschädigen (dieses Verbot ist im Eigentums (Art. 14 Abs. 1 Satz Strafgesetzbuch geregelt). 1 GG). Eingriff in Grundrechte Trotz ihrer bedeutenden Stellung gelten Grundrechte nicht uneingeschränkt. Schon in den einzelnen Artikeln selbst ist der Schutzbereich der jeweiligen Grundrechte oft mit einem Vorbehalt versehen, z. B. der Möglichkeit einer Einschränkung durch ein Gesetz. Bei jeder Grundrechtseinschränkung muss das Gebot der Verhältnismäßigkeit berücksichtigt werden. Das bedeutet, dass Grundrechte nur eingeschränkt werden dürfen, wenn der Eingriff einem legitimen Zweck dient, wirklich erforderlich ist, geeignet ist, den Zweck zu erfüllen und hinsichtlich einer Zweck-Mittel-Relation angemessen ist. Bei Gesetzen, die mit Grundrechtseingriffen einhergehen, wird dies immer ausführlich geprüft, bevor sie erlassen werden. Auch

noch nach Inkrafttreten eines Gesetzes besteht die Möglichkeit, dessen Verfassungsmäßigkeit und die Verhältnismäßigkeit eines damit geregelten Grundrechtseingriffs prüfen zu lassen (durch eine sog. Verfassungsbeschwerde). Grundrechte im Rettungsdienst Der Rettungsdienst ist auf den ersten Blick kein besonders politisches Berufsfeld. Allerdings fällt bei genauerer Betrachtung auf, dass die Aufgabe, die der Rettungsdienst wahrnimmt, ihren Ursprung in einigen im Grundgesetz verankerten Grundrechten und Staatsprinzipien hat (› Kap. 2.3.1). Zudem stellen Notfalleinsätze immer Ausnahmesituationen dar, die besondere Handlungen fordern können. Einige dieser Handlungen greifen auch in die (Grund-) Rechte der betroffenen Personen ein. Folglich gibt es eine Reihe von Grundrechten, die den Mitarbeitenden im Rettungsdienst bekannt sein müssen. Menschenwürde An erster Stelle im Grundgesetz steht das Grundrecht der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG): „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Sie hat den höchsten Verfassungsrang und der Staat ist dazu verpflichtet, die Menschenwürde jedes einzelnen Menschen in Deutschland zu schützen. Es handelt sich um ein sog. Jedermann-Grundrecht, das ohne jeden Vorbehalt gewährt werden muss, egal welches Geschlecht, welche Religion oder Herkunft ein Mensch hat oder ob er eine Behinderung oder Krankheit hat. Das Grundrecht der Menschenwürde besagt, dass jeder Mensch uneingeschränkt wertvoll ist und niemals hinter irgendeinem anderen Interesse zurückstehen darf – auch nicht hinter dem Staat selbst. Ein Mensch darf dadurch niemals zum Objekt staatlichen Handelns gemacht werden. Handlungen, welche die Würde des Menschen verletzen, sind verboten. Hierzu zählen z. B. Erniedrigungen, Ächtungen oder auch Folter und schwere unangemessene Strafen. Schon die kleinsten Beeinträchtigungen dieses wichtigen Grundrechts gilt es von staatlicher Seite abzuwehren. Die Menschenwürde bildet zusammen mit weiteren Grundrechten weitere Schutzbereiche des Grundgesetzes, z. B. Informationelle Selbstbestimmung aus Art 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG. Für den Rettungsdienst hat die Menschenwürde eine herausragende Bedeutung, da sich Notfallpatient*innen oft in hilflosen und verletzlichen Situationen befinden, die häufig mit dem subjektiven Empfinden einer Scham oder gar Entwürdigung einhergehen können. Auch haben einige Betroffene in Notfallsituationen gar nicht

mehr die körperliche Möglichkeit, ihre Würde aktiv schützen zu können (z. B. bewusstlose oder gelähmte Personen). Der Rettungsdienst muss stets darauf achten, die Integrität der Patient*innen zu schützen. Das kann schon damit beginnen, eine hilflose entkleidete Person bei einem Transport in den Rettungswagen auf der Straße ordentlich zuzudecken, damit sie nicht der Blöße ausgesetzt ist, von anderen in einer solchen Lage nackt gesehen zu werden. Gerade in Situationen, die von Verletzung oder Krankheit geprägt sind, spielt das Grundrecht der Menschenwürde eine große Rolle. Allgemeine Handlungsfreiheit/Selbstbestimmungsrecht Mit Art. 2 Abs. 1 GG werden mehrere Grundrechte gewährleistet. „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ Daraus ergibt sich zum einen das Recht dazu, grds. alles machen zu dürfen, was man möchte (Allgemeine Handlungsfreiheit). Eingeschränkt wird dieses Recht dadurch, dass man durch sein Handeln eben nicht die Rechte anderer verletzen darf. In Verbindung mit dem Grundrecht der Menschenwürde ergibt sich daraus zudem das Recht auf Selbstbestimmung, Selbstbewahrung und Selbstdarstellung (Allgemeines Persönlichkeitsrecht). Dieses Grundrecht schützt die Selbstbestimmung über die eigene Identität und den eigenen Körper, die Privatsphäre und die eigene Darstellung in der Öffentlichkeit. Gerade das Selbstbestimmungsrecht spielt eine herausragende Rolle im Rettungsdienst und in der Notfallmedizin. So können Notfallpatient*innen stets selbst über sich und ihren eigenen Körper bestimmen, was sie dazu berechtigt, auch Entscheidungen zu treffen, die objektiv unvernünftig erscheinen. Aus diesem Grundrecht ergibt sich, dass alle Menschen in eine medizinische Behandlung einwilligen müssen (› Kap. 6.3.3). Das Recht auf Selbstbestimmung ist demnach von allen behandelnden Personen zu achten und zu respektieren. Leben und körperliche Unversehrtheit Nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG hat jeder „das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“. Dieses Grundrecht besagt, dass der Staat den Körper, den Geist und die Gesundheit aller Menschen in Deutschland schützen muss. Dabei darf zum einen der Staat selbst keinem Menschen gesundheitlichen Schaden zufügen oder ihn gar töten, zum anderen muss er dafür sorgen, dass Menschen sich nicht gegenseitig verletzen oder töten. Hieraus ergibt sich eine Vielzahl von prophylaktischen und tatsächlichen staatlichen Regeln, z. B. Vorgaben für Medizinprodukte (› Kap. 8). Aber

auch das Strafrecht trägt diesem Grundrecht Rechnung, indem das Verletzen und Töten anderer Menschen mit Strafe bedroht und ggf. geahndet wird (› Kap. 7.5.1/› 7.5.2). Eine weitere Folge dieses Grundrechtes ist im Zusammenspiel mit dem Sozialstaatsprinzip (› Kap. 2.3.1) die staatlich organisierte Gesundheitsvorsorgeund -versorgung. Hierzu zählen auch Krankenhäuser und Rettungsdienste, sodass sich dieses Grundrecht auch in der alltäglichen Arbeit des Rettungsdienstes niederschlägt. Aus alledem wird deutlich, dass das in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verankerte Grundrecht von herausragender Bedeutung ist und entsprechend beachtet werden muss. Freiheit der Person Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG besagt: „Die Freiheit der Person ist unverletzlich.“ Dies konkretisiert die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und schützt v. a. die körperliche Bewegungsfreiheit vor staatlichen Eingriffen. Man kann sich danach grds. ungehindert fortbewegen, wohin man will. Eine Einschränkung dieser Freiheit kann eine Freiheitsberaubung sein, z. B. durch das Festhalten einer Person an einem Ort. Da dies in einigen Fällen allerdings notwendig sein kann, darf dieses Grundrecht eingeschränkt werden, wenn ein Gesetz dies ausdrücklich erlaubt, z. B. aufgrund von Haft nach einer Straftat oder unter den Voraussetzungen des PsychKG (› Kap. 10.2.1). Art. 104 GG bestimmt dabei genau, welche Anforderungen an solch ein Gesetz gestellt werden sowie, dass bei Freiheitsentziehungen sogar eine richterliche Entscheidung erforderlich ist. Die grundrechtlich geschützte Freiheit der Person hat folglich einen so hohen Rang, dass eine Einschränkung nur in wenigen Ausnahmefällen und unter den strengen Voraussetzungen des Art. 104 GG geschehen darf. Dies ist auch für den Rettungsdienst relevant. Patient*innen begeben sich in die Obhut und damit auch in den Machtbereich der Rettungskräfte. Hierbei kann es zu Situationen kommen, in denen die Freiheit der Patient*innen eingeschränkt wird, z. B. durch das Festschnallen auf der Trage, das Abschließen der Fahrzeugtüren im Rettungswagen oder sogar durch das (medikamentöse) Herstellen einer vollständigen Handlungsunfähigkeit einer Person. Zudem kommt das Rettungsdienstpersonal u. U. in Situationen, in denen Personen unter Anwendung von unmittelbarem Zwang in ihrer Freiheit beschränkt werden müssen und dürfen (z. B. durch die Polizei bei Schlägereien o. Ä. oder bei Zwangseinweisungen aufgrund psychischer Indikationen). Dabei ist stets zu beachten, dass die Bewegungsfreiheit einer Person ein wichtiges Rechtsgut ist, dessen grundrechtlicher Schutz bei etwaigen Einschränkungen stets beachtet werden muss.

Informationelle Selbstbestimmung Aus dem Recht auf Selbstbestimmung leitet sich neben der freien Bestimmung über den eigenen Körper auch der Gedanke zur eigenständigen Bestimmung über persönliche Informationen und Daten ab. Dieses Recht wird informationelle Selbstbestimmung genannt. Jeder hat dabei das Recht zu wissen und zu entscheiden, welche persönlichen Informationen mitgeteilt und von anderen gespeichert werden. Verarbeitungen fremder Daten und Informationen haben stets zweckgebunden zu erfolgen. Aus der informationellen Selbstbestimmung kann auch die Pflicht abgeleitet werden, dass Daten gelöscht werden müssen, wenn diese nicht mehr für den ursprünglichen Zweck benötigt werden. Mit zunehmender Digitalisierung gewinnt dieses Grundrecht immer mehr an Bedeutung. Es gilt allerdings nicht uneingeschränkt, sodass aufgrund einer besonderen gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage auch Daten gegen oder ohne den Willen einer Person erhoben und verarbeitet werden dürfen. Der Rettungsdienst hat häufig Kontakt zu persönlichen und sensiblen Daten der Patient*innen. Hier gilt, das grundgesetzlich geschützte Recht auf informationelle Selbstbestimmung zu beachten und Verletzungen zu vermeiden (vgl. auch › Kap. 7.5.5). Dies umfasst auch die Pflicht, persönliche Daten und Informationen der bzw. über die Patient*innen aktiv vor unberechtigtem Zugriff Dritter zu schützen. Meinungs-/Pressefreiheit Nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG hat jeder „das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern […]“. Die Meinungsfreiheit ist ein wesentlicher Bestandteil einer Demokratie. Beschränkt wird die Meinungsfreiheit dahingehend, dass jedenfalls keine eindeutig unwahren Tatsachen bewusst behauptet werden dürfen, da diese nicht zum eigentlich geschützten Meinungsbild beitragen. Zudem gewährleistet Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG auch die Pressefreiheit. Sie besagt, dass niemand anderes, v. a. nicht der Staat, bestimmen oder kontrollieren darf, was in den Medien berichtet wird. Eine Zensur der Medien findet also nicht statt. Rechte von Eltern In Art. 6 Abs. 2 und Abs. 3 GG wird das Elternrecht geschützt. Dieses besagt, dass Eltern grds. das Recht zur Pflege und Erziehung ihrer Kinder haben, was in erster Linie dem Kindeswohl dienen soll. Eltern haben folglich das Recht für die Personensorge ihres Kindes, welches auch das Recht umfasst, in gesundheitlichen Angelegenheiten Entscheidungen für das Kind zu treffen. Zugleich bestehen jedoch auch Pflichten für

die Eltern, die das Elternrecht beschränken können, wenn Eltern rechtswidrige oder solche Handlungen vornehmen, die das Wohl des Kindes gefährden. Für den Rettungsdienst bedeutet dies, dass Entscheidungen der Eltern, z. B. über Behandlungen ihres Kindes, grds. respektiert werden müssen. Briefgeheimnis Mit Art. 10 Abs. 1 GG werden das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis gewährleistet. Dabei werden die Kommunikation über größere Distanzen und deren Inhalte geschützt. Jede Person soll sich sicher sein können, dass Briefe, Telefonate und E-Mails grds. nicht durch staatliche Stellen oder andere Personen als den selbstgewählten Empfänger*innen zur Kenntnis genommen werden. Dies kann auch für den Rettungsdienst relevant sein, da dessen Mitarbeitende in verschiedenen Situationen auf persönliche Briefe von Patient*innen stoßen können. Diese unterliegen grds. dem grundrechtlich geschützten Briefgeheimnis und dürfen nicht ohne Weiteres gelesen werden. Unverletzlichkeit der Wohnung Mit Art. 13 Abs. 1 GG wird gewährleistet, dass „die Wohnung […] unverletzlich“ ist. Diese Unverletzlichkeit der Wohnung trägt dem Bedürfnis eines Menschen Rechnung, einen Ort zu haben, an welchem er sich ungestört zurückziehen und seine Privatsphäre genießen kann. Ob eine Person Eigentum an einer Wohnung hat, ist dabei unerheblich. Einschränkungen dieses Grundrechts, z. B. durch Wohnungsdurchsuchungen, sind an hohe Voraussetzungen gebunden und unterstreichen die Bedeutsamkeit dieses Grundrechts. Der Rettungsdienst gelangt nahezu täglich in fremde Wohnungen und damit in den grundrechtlich zugesicherten Schutzbereich. Es gilt daher, sich dieses Umstands und der Bedeutung des Grundrechts bewusst zu sein. Legitimiert ist das Eindringen in privat genutzte Räumlichkeiten für das Rettungsdienstpersonal dabei meist durch den Willen bzw. den mutmaßlichen Willen der Patient*innen. Zu beachten ist jedoch, dass sich diese Legitimation nicht pauschal auf alle Räume einer Wohnung oder eines Hauses erstreckt. Andere als die im jeweiligen Einsatz genutzten oder ausdrücklich freigegebenen Räume unterliegen i. d. R. weiterhin dem Schutz des Grundrechts aus Art. 13 Abs. 1 GG.

2.3 Der Staat

Der Begriff „Staat“ (lat. Status: Zustand, Verfassung) lässt sich zunächst definieren als organisatorisches Konstrukt, in welchem eine Gemeinschaft in einem bestimmten Territorium (freiwillig) zusammenlebt. Dieses Verständnis geht auf die Idee zurück, dass alle Angehörigen dieser Gemeinschaft untereinander eine theoretische Vereinbarung getroffen haben (einen sog. Gesellschaftsvertrag). Inhalt dieser Vereinbarung ist, dass die Verantwortung bezüglich wichtiger politischer und gesellschaftlicher Fragen an eine übergeordnete Organisation abgegeben werden soll – den Staat. Der Staat übernimmt dabei stellvertretend für seine Mitglieder, die Staatsangehörigen, allgemein verbindliche Steuerungs-, Regulierungs- und Koordinationsaufgaben. Gleichzeitig erkennen die Staatsangehörigen den Staat als sog. Herrschaftsmacht (als Gewaltenmonopol) an, wodurch ein Herrschaftsverhältnis zwischen Staat und Staatsbürgerangehörigen legitimiert wird. Für die Staatsangehörigen erwachsen dadurch sowohl Rechte als auch Pflichten. Die Rechte lassen sich v. a. in den Grundrechten finden (› Kap. 2.2.2) und werden in einer Vielzahl von Gesetzen und weiteren Regelungen konkretisiert. Hierbei kann zwischen den Menschenrechten und Bürgerrechten unterschieden werden. Während die Menschenrechte ausnahmslos für alle Menschen gelten, wirken die Bürgerrechte nur für deutsche Staatsbürger*innen. Die Pflichten sind vielfältig. Sie ergeben sich häufig aus den Rechten der anderen Staatsangehörigen oder aus den jeweiligen Staatsprinzipien (› Kap. 2.3.1) und werden ebenfalls in einer Vielzahl von Gesetzen und weiteren Regelungen konkretisiert. M e rk e Im Verhältnis zwischen Staat und Staatsangehörigen bestehen Rechte und Pflichten. Rechte der Staatsangehörigen Alle Staatsangehörigen haben das Recht darauf, dass der Staat stellvertretend für sie Steuerungs-, Regulierungs- und Koordinationsaufgaben übernimmt. Weitere Rechte werden ihnen v. a. durch die Grundrechte gewährleistet. Pflichten der Staatsangehörigen Alle Staatsangehörigen verpflichten sich, den Staat als Herrschaftsmacht (Gewaltenmonopol) anzuerkennen und sich an alle geltenden Regelungen zu halten. Dies ist allein deshalb notwendig, weil nur so die Grundrechte anderer Staatsangehöriger gewährleistet werden können.

2.3.1 Staatsformen und Staatsprinzipien „Staat“ ist ein allgemeiner Begriff. Bei diesem kann man nach verschiedenen Staatsformen differenzieren. Bei der Bestimmung der Staatsform kommt es v. a. darauf an, welchen Staatsprinzipien sich der jeweilige Staat verpflichtet hat und wie er aufgebaut ist. Die Prinzipien, nach denen die Bundesrepublik Deutschland strukturiert ist, ergeben sich allesamt aus dem Grundgesetz. Grundvoraussetzungen eines Staates Es gibt einige Grundvoraussetzungen, die jeder Staat für seine Existenz benötigt. Dabei muss zunächst die Rechtsbeziehung zwischen Staat und Staatsangehörigen umfassend geregelt werden. Ist dies geschehen, entsteht ein souveräner Staat (innere Souveränität). Wird dieser Staat auch im Verhältnis zu anderen Staaten als solcher akzeptiert, besitzt er auch äußere und damit vollständige Souveränität. M e rk e Staatliche Souveränität (aus dem franz. „Unabhängigkeit“, „Überlegenheit“) ist gegeben, wenn der Staat unabhängig entscheiden kann hinsichtlich 1. Art der Regierung, Rechtssystem und Gesellschaftsordnung innerhalb des Staatsgebietes sowie 2. in Beziehungen zu anderen Staaten.

Drei-Elemente-Lehre Aus der inneren und äußeren Souveränität ergeben sich als Mindestanforderung an einen Staat drei existenzielle Elemente: 1. ein Staatsgebiet, 2. ein Staatsvolk und 3. eine Staatsgewalt. Dies wird auch Drei-Elemente-Lehre genannt. Das Staatsgebiet ist ein bestimmter zusammenhängender Teil der Erdoberfläche, auf dem die Staatsgewalt ausgeübt wird. Als Staatsvolk werden dabei die Staatsangehörigen verstanden, die einem Staat zugeordnet werden können. Die Staatsgewalt meint die oben bereits angesprochene Herrschaftsmacht des Staates gegenüber den Staatsangehörigen und somit die Befähigung, die allgemeingültige Ordnung durchzusetzen.

Staat als juristische Person Der Staat bzw. der Bundesstaat ist eine öffentlich-rechtliche juristische Person in Form einer Gebietskörperschaft (› Abb. 2.1). Er ist mithin rechtsfähig und Träger von Rechten und Pflichten. Zudem kann auch der Staat verklagt werden und Verträge abschließen. Der Staat als übergeordnete Gebietskörperschaft gliedert sich entlang des Föderalismus und des kommunalen Verwaltungsaufbaus in weitere Gebietskörperschaften mit jeweils lokaleren Aufgabenbereichen. Diese einzelnen Institutionen sind jeweils selbst öffentlich-rechtliche juristische Personen. Staats- & Herrschaftsformen Staaten können unterschiedlich strukturiert sein. Man unterscheidet dabei verschiedene Staats- und Herrschaftsformen. Staatsformen bestimmen sich durch die Stellung des Staatsoberhaupts, Herrschaftsformen anhand des Ausgangspunktes der Macht. Wesentliche Merkmale sind also die verfolgten Staatsprinzipien und die Stellung des Staatsoberhaupts. Dabei kommt es nicht darauf an, wie ein Staat selbst seine Staats-/Herrschaftsform betitelt, sondern lediglich darauf, was tatsächlich gelebt wird. Staats- und Herrschaftsformen greifen oft ineinander. So ist die Bundesrepublik Deutschland eine parlamentarisch-demokratische Republik. Die Staatsform ist die Republik. Die Herrschaftsform ist parlamentarisch-demokratisch. Bundes- und Einheitsstaat Eine wesentliche Unterscheidung der Staatsform kann zwischen Bundesstaat und Einheitsstaat getroffen werden. In einem Bundesstaat gibt es einzelne Bundesländer, die einige Entscheidungen selbst treffen. In einem Einheitsstaat gibt es eine Zentralregierung für das gesamte Staatsgebiet. R e c h t in e c h t Die Bundesrepublik Deutschland ist in 16 Bundesländer unterteilt (= Bundesstaat); es gibt mehrere Landesregierungen und übergeordnet eine Bundesregierung. In Frankreich gibt es lediglich eine Zentralregierung (= Einheitsstaat). Republik Eine Republik (lat. Gemeinwesen) ist eine Staatsform, bei der das Staatsvolk entscheidet, wer das Staatsoberhaupt ist. Die weitere Ausprägung einer Republik hängt stark von ihrer Herrschaftsform ab. So ergibt sich das Staatsoberhaupt einer

parlamentarischen Republik aus einem gewählten Parlament (z. B. Deutschland, Österreich). In einer präsidentiellen Republik wird das Staatsoberhaupt, die Präsident*in, direkt vom Volk gewählt. Auch wenn es im betroffenen Staat ein Parlament gibt, kann dieses das Staatsoberhaupt nicht abberufen (z. B. USA, Frankreich). Demokratie Demokratie (griech. Herrschaft des Volkes) wird eine Herrschaftsform genannt, in der die Staatsgewalt vom Volk ausgeht. Das bedeutet, dass allen Staatsbürger*innen die Teilhabe an der staatlichen Willensbildung sowie der Ausübung der Staatsgewalt gewährt werden muss. Ausgangspunkt dafür sind Wahlen. In der Bundesrepublik Deutschland wird grds. alle vier Jahre das Parlament gewählt. Dieses wiederum verabschiedet u. a. Gesetze, trifft politische Entscheidungen und wählt die Regierung inklusive Bundeskanzler*in. Das Volk nimmt also nicht direkt, sondern indirekt durch das Parlament an den Entscheidungen teil. Volksvertreter*innen entscheiden dabei stellvertretend für die Staatsangehörigen. Sie sind durch die Wahlen dazu demokratisch legitimiert. Die Herrschaftsform in Deutschland ist folglich eine repräsentative Demokratie mit einem parlamentarischen Regierungssystem. Denkbar sind auch direkte Demokratien, in denen das Volk über jede Entscheidung abstimmt. Allerdings ist dies bei dem Entscheidungsaufkommen und Regelungsbedarf in der Dimension eines Staates nicht machbar. Dem am nächsten kommen z. B. Volksabstimmungen zu bestimmten politischen Fragen wie in der Schweiz. Bundesstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Bundesstaat. Dies bedeutet, dass sich mehrere Einzelstaaten (Bundesländer) zu einem übergeordneten Gesamtstaat, dem Bund, zusammengeschlossen haben. Die einzelnen Bundesländer besitzen genau wie der Bund jeweils Staatenqualität. Sie verfügen über eigene politische, rechtliche sowie territoriale Kompetenzen, besitzen allerdings keine eigene vollständige Souveränität (s. o.). Zudem sind sie gegenüber dem Bund zur Staatentreue verpflichtet, d. h., dass die Bundesländer und der Bund trotz der Kompetenztrennung nicht gegeneinander arbeiten, sondern gemeinsam ein gesamtstaatliches Gemeinwohl anstreben. Gemeinden und Gemeindeverbände besitzen keine eigene Staatenqualität, sondern sind als Gebietskörperschaften den Ländern zugeordnet.

M e rk e Das Bundesstaatsprinzip besagt, dass sich aus mehreren Gliedstaaten ein Gesamtstaat zusammensetzt. Der Gesamtstaat ist in Deutschland der Bund, die Gliedstaaten die Bundesländer. Letztere haben dabei eigene Staatsqualität und eigene Kompetenzen, sind jedoch nicht souverän und dem Bund untergeordnet. Das Bundesstaatsprinzip ist ein Strukturprinzip. Es gibt demnach zwei staatliche Ebenen: die Ebene des vollständig souveränen Bundes und die Ebene der Bundesländer, die in ihrer Souveränität eingeschränkt sind. Strukturell ergeben sich dadurch 17 Staaten. Ein übergeordneter Gesamtstaat (Bundesrepublik Deutschland) und 16 untergeordnete Bundesländer. Einen solchen Staatsaufbau nennt man föderal (Föderalismus). Nach der Konzeption des Grundgesetzes haben die föderal strukturierten Bundesländer stets eigene Kompetenzen hinsichtlich der Gesetzgebung sowie der Ausübung staatlicher Befugnisse und der Erfüllung staatlicher Aufgaben (Art. 70, 30 GG). Dies schlägt sich v. a. in der originären Gesetzgebungskompetenz der Bundesländer nieder (› Kap. 2.3.3). Lediglich dann, wenn das Grundgesetz ausdrücklich vorschreibt, dass der Bund eine Gesetzgebung, Aufgabe oder Befugnis übernehmen soll, geht die bundesstaatliche Regelung vor. Es kann also festgestellt werden, dass immer dann, wenn das Grundgesetz keine andere Regelung trifft, die Bundesländer zuständig sind; daher auch die Formulierung „originär“ im Sinne von ursprünglich bzw. grundlegend. Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1, 2 GG) Deutschland ist ein demokratischer Staat und folgt damit dem Demokratieprinzip. Dieses besagt, dass es einen demokratischen Staatsaufbau geben muss, bei welchem alle Macht vom Volk ausgeht. Erkennbar ist dieser Aufbau z. B. an den Wahlen und der Gesetzgebung durch die gewählten Volksvertreter*innen, wobei es eine ununterbrochene Legitimationskette vom Volk zu den staatlichen Entscheidungsträgern gibt. Maßgebendes Element einer funktionierenden Demokratie sind auch Presse- und Rundfunkfreiheit. In einer Demokratie gibt es immer ein Spannungsverhältnis zwischen dem Willen der Mehrheit und dem Schutz von Minderheiten. Kern des Demokratieprinzips sind demokratische Wahlen. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie

• allgemein, • unmittelbar, • frei, • gleich und • geheim sind. Diese Wahlgrundsätze sind im Grundgesetz (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) festgelegt. Sie sichern, dass jeder Wahlberechtigte wählen kann (allgemein), dass die Kandidat*innen direkt gewählt werden (unmittelbar), dass niemand zu seiner Wahlentscheidung gedrängt wird (frei), dass jede Stimme gleich gewichtet wird (gleich) und dass niemand seine Wahlentscheidung kundtun muss (geheim). Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) Das Rechtsstaatsprinzip besagt, dass alle Staatsgewalten an geltendes Recht gebunden sind. Aus dem Demokratieprinzip ergibt sich in diesem Zusammenhang also, dass sich der Staat an eben die Gesetze halten muss, die vom Volk bzw. dessen Vertreter*innen verabschiedet wurden. Verankert ist das Rechtsstaatsprinzip im Grundgesetz (Art. 20 Abs. 3 GG). Wesentliche Merkmale des Prinzips sind: • Eine vorangestellte Verfassung (Grundgesetz) und Bindung staatlicher Gewalt an Grundrechte (Art. 1 Abs. 1 GG) • Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 GG) • Vorrang von Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) • Garantierte Rechtssicherheit (Art. 92 GG) • Effektiver Rechtsschutz (Justizgewährleistung) (Art. 19 Abs. 4 GG) • Recht auf Gehör von unabhängigen Richter*innen (Art. 103 Abs. 1 GG) Gewaltenteilung Aus dem Rechtsstaatsprinzip ergibt sich u. a. die Gewaltenteilung. Das bedeutet, dass die Staatsgewalten • Gesetzgebung (Legislative), • Verwaltung/ausführende Gewalt (Exekutive) und • Rechtsprechung (Judikative) voneinander getrennt sind. M e rk e

Gewaltenteilung dient dazu, die Staatsgewalt zu begrenzen und zu kontrollieren. Das bedeutet die Trennung von Legislative (gesetzgebende Gewalt), Exekutive (ausführende/vollziehende Gewalt) und Judikative (rechtsprechende Gewalt). Diese drei Gewalten sind in › Abb. 2.2 dargestellt. Der Staat als Staatsgewalt verfügt über die Befugnis, die Regeln und Gesetze durchzusetzen. Die Unabhängigkeit der drei Staatsgewalten verhindert, dass sich zu viel Macht an einer Stelle konzentriert. Sie sichert damit die Freiheit der Staatsangehörigen. In Deutschland gibt es zudem eine weitere besondere Instanz, welche alle drei Gewalten dahingehend kontrolliert, dass stets die Regeln des Grundgesetzes eingehalten werden. Dies ist die sog. Verfassungsgerichtsbarkeit (insb. das Bundesverfassungsgericht); sie ergänzt den Sicherheitsgedanken der Gewaltenteilung.

ABB. 2.2 Die Gewaltenteilung im Überblick [L157]

Justizgewährleistung/effektiver Rechtsschutz Ein weiteres Element des Rechtsstaatsprinzips ist der effektive Rechtsschutz bzw. die Justizgewährleistung. Danach hat jeder das Recht, sich an ein staatliches Gericht wenden zu können. Insbesondere gilt dies bei Verletzungen von Rechten, z. B. durch die öffentlichen Gewalten. Ein unabhängiges Gericht entscheidet in solchen Fällen über den Sachverhalt im Rahmen eines vorgegebenen Rechtsweges.

Rechtssicherheit Rechtssicherheit als Teil des Rechtsstaatsprinzips bedeutet, dass man als Staatsbürger*in auf den Bestand von Rechtsnormen und Rechtsakten vertrauen darf, solange diese in Kraft sind. Das, was in diesem Moment im Gesetz steht, gilt für diesen Moment. Umgekehrt bedeutet das aber auch, dass neueres Recht nicht rückwirkend für Sachverhalte angewendet werden darf, wo das alte Recht nicht gegriffen hätte (sog. Rückwirkungsverbot). Dies gilt zumindest für solche Konstellationen, in denen die neue Rechtsfolge für die Bürger*innen nachteilig wäre. Wird z. B. ein neues Einkommensteuergesetz erlassen, können die darin geregelten, für Bürger*innen nachteiligen Besteuerungen nicht rückwirkend auf Einkommen angewendet werden, die vor dem Erlass generiert wurden und wo der Veranlagungszeitraum bereits abgeschlossen ist. Sozialstaatsprinzip (Art. 20, 28 GG) Im Grundgesetz wird Deutschland als „sozialer Bundesstaat“ beschrieben. Hieraus leitet sich das Sozialstaatsprinzip ab. Dieses Prinzip wird auch als ein Gestaltungsauftrag für den Staat verstanden, dass alle Bereiche des Rechtsstaates „sozial“ ausgestaltet werden müssen. Die Folgen dieses Sozialstaatsprinzips sind weitreichend und der Grund dafür, dass wir ein Gesundheitssystem sowie eine staatliche Gefahrenabwehr haben. Zudem ergibt sich aus dem Sozialstaatsprinzip eine Fürsorgepflicht des Staates für die Bürger*innen. Soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit Das Sozialstaatsprinzip verpflichtet den Staat dazu, soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit zu gewährleisten. So muss der Staat eine entsprechende Infrastruktur einrichten, die einen sozial gerechten Mindeststandard gewährleistet (soziale Gerechtigkeit). Dazu dienen u. a. Gesetze, die dem Schutz der Schwächeren oder der Umverteilung und Daseinsfürsorge dienen. Weiter müssen alle Bürger*innen die Sicherheit haben, dass ihnen auch tatsächlich die erforderlichen Leistungen für eine angemessene wirtschaftliche und kulturelle Existenz zukommen (soziale Sicherheit). Hierzu zählen z. B. die Absicherung für Alter und Arbeitslosigkeit, die Absicherung eines Existenzminimums sowie der Schutz des Einzelnen bei Krankheit. Aufgaben, die sich aus dem Sozialstaatsprinzip für den Staat ergeben sind beispielhaft in › Abb. 2.3 dargestellt.

ABB. 2.3 Aufgaben für den Staat aus dem Sozialstaatsprinzip [L157]

Gestaltungsauftrag für den Staat Das Sozialstaatsprinzip gibt grds. keine konkreten Strukturen und Ausgestaltungen vor. Vielmehr ist der Staat dazu angehalten, die Umsetzung dieses Prinzips zum Staatsziel zu machen. Der Staat hat somit den Gestaltungsauftrag, das Sozialstaatsprinzip mit Leben zu füllen und in konkrete Strukturen umzusetzen. Genauer bedeutet dies: Der Staat muss für elementare Risiken des Lebens der Bürger*innen (z. B. Krankheit) Vorsorge treffen. Dies geschieht in Form eines Sozialversicherungssystems. Die wichtigsten Sektoren dieses Systems sind • Krankenversicherung (› Kap. 3.2), • Arbeitslosenversicherung, • Rentenversicherung, • Unfallversicherung (› Kap. 3.8) und • Pflegeversicherung (› Kap. 3.3). Hinzu kommt die Notwendigkeit von Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge (› Kap. 2.7.1). Einige Grundrechte konkretisieren das Sozialstaatsprinzip. So sind z. B. die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG) sowie

das Leben und die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) im Grundgesetz explizit unter Schutz gestellt. Es ergeben sich keine unmittelbaren Ansprüche der Bürger*innen aus dem Sozialstaatsprinzip. Gleichwohl besteht eine Verantwortung des Staates dafür zu sorgen, dass z. B. ein funktionierendes Sozialversicherungs- und Gesundheitssystem zur Verfügung steht. M e rk e Das Sozialstaatsprinzip bedingt u. a., dass der Staat ein funktionierendes Sozialversicherungs- und Gesundheitssystem schaffen muss; wie er dies genau ausgestaltet ist ihm überlassen. Demnach basiert auch der Rettungsdienst, als Teil der öffentlichen Gefahrenabwehr und Daseinsvorsorge, auf dem Sozialstaatsprinzip. Durch den Rettungsdienst stellt der Staat den Bürger*innen schnelle und unkomplizierte Hilfe für medizinische Notsituationen zur Verfügung.

2.3.2 Staatsorgane Ein Staat muss gut organisiert sein. Notwendig sind dabei Strukturen, die einerseits gut funktionieren und andererseits die oben genannten Prinzipien (z. B. Demokratieprinzip) verwirklichen. Hierbei greifen auf verschiedenen Ebenen die Aufgaben verschiedener Staatsorgane ineinander. Im Folgenden werden • der Bundestag, • die Bundesregierung, • der Bundesrat, • die Bundespräsident*in • und das Bundesverfassungsgericht als ständige Verfassungsorgane sowie • die Bundeskanzler*in in ihren Grundzügen erläutert. Alle der hier aufgeführten Staatsorgane ergeben sich aus dem Grundgesetz und sind dort umfassend geregelt. Bundestag (Parlament) Der Bundestag ist das Parlament der Bundesrepublik Deutschland. Er ist das wichtigste Staatsorgan der gesetzgebenden Gewalt (Legislative). Die Mitglieder

des Bundestages (MdB = Abgeordnete) werden i. d. R. alle vier Jahre vom Volk gewählt. Damit ist der Bundestag das einzige der obersten Staatsorgane, das unmittelbar demokratisch legitimiert ist. Bei der Bundestagswahl darf wählen, wer mind. 18 Jahre alt ist, eine deutsche Staatsbürgerschaft besitzt und grds. einen Wohnsitz in Deutschland hat. Dabei können zwei Stimmen abgegeben werden. Mit der Erststimme wählt man ein Direktmandat, also eine Person, die direkt in den Bundestag entsandt werden soll. Mit der Zweitstimme wählt man eine Partei, welche dann über sog. Listen Parteimitglieder als Abgeordnete in den Bundestag schicken kann. Der Bundestag nimmt eine Reihe von wichtigen Aufgaben wahr. Hervorheben lassen sich dabei die Gesetzgebung (Legislativorgan), die Wahl der Bundeskanzler*in sowie die Kontrolle der Bundesregierung. Im Plenum wird regelmäßig zu politischen Themen und Zielen debattiert. Bei der Arbeit des Parlaments unterstützen zudem zahlreiche Ausschüsse und Arbeitsgruppen, in denen z. B. Gesetzesvorlagen vorbereitet werden. Den Vorsitz des Bundestages hat die Bundestagspräsident*in inne. R e c h t in e c h t Mit den Änderungen des Gesetzes über den Beruf der Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter (NotSanG) in den Jahren 2022 und 2023 war u. a. der Gesundheitsausschuss des Bundestages befasst, in welchem es jeweils Expertenanhörungen zu den Änderungen gab. Der Bundestag kann in mehrere Organe aufgegliedert werden. Hierzu zählen das Präsidium mit der Bundestagspräsident*in, der Ältestenrat, Fraktionen, Ausschüsse und auch die einzelnen Abgeordneten. Die Abgeordneten sind direkt vom Volk gewählt und in aller Regel einer Partei zugehörig. Sie repräsentieren das Volk, sind bei Abstimmungen an keine Weisungen gebunden und genießen parlamentarische Immunität (Schutz vor Strafverfolgung). Parteien sind Vereinigungen, die zweckmäßig an der politischen Willensbildung teilnehmen. Sie gelten als Verbindungsglied zwischen Volksvertretung (Parlament) und Volk (Wähler*innen) und setzen öffentliche Meinungen in politischen Willen um. Abgeordnete der gleichen Partei oder mit ähnlichen Zielen können im Bundestag eine Fraktion bilden (z. B. Grüne Bundestagsfraktion). Sie sind dann mit gewissen Rechten und Privilegien ausgestattet. Mehrere Fraktionen können sich zu einer Koalition zusammenschließen. Bei wesentlichen Abstimmungen im Bundestag, z. B. die Wahl der Bundeskanzler*in, ist eine absolute Mehrheit (50 % der Stimmen plus eine Stimme) notwendig. Oft

haben einzelne Fraktionen eine solche Mehrheit nicht inne, sodass sie mit anderen Fraktionen eine Koalition bilden, um gemeinschaftlich eine absolute Mehrheit im Parlament zu erlangen (z. B. Ampelkoalition aus SPD, den Grünen und FDP). Abgeordnete, die nicht zu der regierenden Fraktion bzw. Koalition gehören, nennt man Opposition. Bundesregierung Die Bundesregierung ist oberstes Staatsorgan der vollziehenden Gewalt (Exekutive). Sie ist zusammengesetzt aus Bundeskanzler*in und Bundesminister*innen. Aufgabe der Bundesregierung ist die Staatsleitung. Diese lässt sich als Initiative, Planung und Durchsetzung von politischen Leitentscheidungen konkretisieren. Dabei ist die Bundesregierung unmittelbar vom mehrheitlichen Vertrauen des Parlaments (Bundestag) abhängig und setzt damit dessen politischen Willen um. Die Fraktion oder Koalition mit der politischen Mehrheit wählt die Bundeskanzler*in, welche wiederum das Team der Bundesregierung zusammenstellt. Innerhalb der Bundesregierung sind einige Befugnisse allen Mitgliedern, also der Regierung als Kollegialorgan (Kollegialprinzip), zugesprochen; weiter haben einzelne Ressorts fachbezogene Befugnisse und Aufgaben (Ressortprinzip). Diese Fachbereiche werden von den jeweiligen Bundesminister*innen geführt. Zudem obliegen einige Aufgabenbereiche der Bundeskanzler*in (Kanzlerprinzip). R e c h t in e c h t (Fall 2.2) Fabian macht mit seiner Notfallsanitäter-Klasse einen Ausflug zum Reichstagsgebäude in Berlin. Hier können sie die Minister*in des Bundesministeriums für Gesundheit treffen. In diesem Ressort werden unter anderem wichtige Entscheidungen zu den Gesundheitsberufen, Medizinprodukten, Arzneimitteln und den Krankenkassen auf Bundesebene getroffen. Bundesrat Der Bundesrat vertritt die Länderinteressen beim Bund. Hierzu werden Vertreter*innen der amtierenden Landesregierungen in den Bundesrat entsandt, um Einfluss auf die Gesetzgebung des Bundes zu nehmen. Dabei kann der Bundesrat zu jedem Gesetzesentwurf der Bundesregierung eine Stellungnahme abgeben, eigene Gesetzesinitiativen einbringen und abschließend über alle Gesetzesbeschlüsse des Bundestages beraten. Somit hat der Bundesrat Einfluss auf die Willensbildung und das Handeln des Gesamtstaats.

Bundespräsident*in Die Bundespräsident*in ist formell das Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland und damit selbstständiges Verfassungsorgan. Trotz dieser hohen Stellung hat dieses Amt jedoch nur wenige rechtliche Befugnisse. Vielmehr fungiert die Bundespräsident*in repräsentativ und integrativ. So wird der Staat durch dieses Amt nach innen und außen vertreten. Zudem kommen ihm sog. staatsnotarielle Aufgaben zu, weshalb die Bundespräsident*in auch manchmal als Notar*in der Republik beschrieben wird. Nur im Ausnahmefall, wenn das parlamentarische Regierungssystem in eine funktionelle Krise gerät, kommt der Bundespräsident*in eine Reservefunktion zu. Hierbei muss ausnahmsweise und nur auf Veranlassung die Bundespräsident*in selbst Entscheidungen treffen, um die Regierungsfunktion sicheroder wiederherzustellen. Dieser Gestaltungsspielraum ist jedoch stark beschränkt und befristet. Die Bundespräsident*in wird alle fünf Jahre von einer speziell dafür einberufenen Institution, der Bundesversammlung, gewählt. Die Bundesversammlung besteht zur Hälfte aus allen Bundestagsabgeordneten und zur anderen Hälfte aus Vertreter*innen der Länder. Letztere sind an die Größe des Landes angepasst. Zu ihnen gehören neben Landtagsabgeordneten auch Personen des öffentlichen Lebens. Bundesverfassungsgericht Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) wacht über die Einhaltung der Verfassung. Es hat seinen Sitz in Karlsruhe und entscheidet ausschließlich Streitigkeiten mit verfassungsrechtlichem Charakter, für die es ausdrücklich zuständig ist. „Verfassungsrechtlich“ meint dabei die Einhaltung des Grundgesetzes, womit das BVerfG sowohl ein Gericht (Judikativorgan) als auch ein Verfassungsorgan darstellt. Das BVerfG nimmt damit eine Sonderstellung neben den anderen Gerichten ein (› Kap. 2.6.1). In verfassungsrechtlichen Anliegen kann theoretisch jeder das Gericht direkt anrufen. Die häufigste Klageart vor dem BVerfG ist die Verfassungsbeschwerde. Es können jedoch u. a. auch abstrakte und konkrete Normenkontrollen durchgeführt oder Meinungsverschiedenheiten zwischen Verfassungsorganen geklärt werden. Es wurden z. B. zu den Themen Impfpflicht, Corona-?Beschränkungen und Klimanotstand Verfassungsbeschwerden erhoben. Das BVerfG besteht aus zwei sog. Spruchkörpern, den Senaten mit jeweils acht Richter*innen. Ein Senat beschäftigt sich mit Fragen zu den Grundrechten (› Kap. 2.2.2), der andere mit Anliegen bezüglich des Staatsorganisationsrechts. Die beiden Senate sind weiter in sog. Kammern aufgeteilt. Die Richter*innen des BVerfG

werden je zur Hälfte vom Bundestag und vom Bundesrat gewählt, was ihnen eine besondere demokratische Legitimation verleiht. Dies ist auch notwendig, da dem BVerfG eine große Machtfülle zukommt, seine Entscheidungen jedoch nicht von einer anderen gerichtlichen Instanz kontrolliert werden können. A c h tu ng Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ist nicht der Bundesgerichtshof (BGH). Es handelt sich dabei um zwei verschiedene Institutionen, die jedoch häufig verwechselt werden. Der BGH ist oberstes Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit, das Bundesverfassungsgericht hingegen ist ausschließlich für die verfassungsrechtliche Kontrolle zuständig. Bundeskanzler*in Die Bundeskanzler*in verkörpert die Spitze der Bundesregierung und nimmt damit eine dominierende Stellung in der Staatsorganisation ein. Innerhalb der Bundesregierung besitzt die Kanzler*in die alleinige Organisationsgewalt hinsichtlich sachlicher und personeller Fragen (Kanzlerprinzip). So werden von ihr/ihm z. B. die Bundesminister*innen vorgeschlagen und die Richtung vorgegeben, wenn es zu Streitigkeiten innerhalb der Regierung kommt. Zudem kommt der Kanzlerposition eine hohe öffentliche Außenwirkung zu. Die hohe Stellung der Bundeskanzler*in legitimiert sich durch ein ständiges mehrheitliches Vertrauen des Parlaments. Der direkt vom Volk gewählte Bundestag wählt seinerseits die Kanzler*in. Hierzu bedarf es grds. einer absoluten Mehrheit (sog. Kanzlermehrheit). Außerdem kann der Bundestag zu jeder Zeit die Kanzler*in durch ein Misstrauensvotum (Art. 67 GG) oder eine Vertrauensfrage (Art. 68 GG) infrage stellen. Solange eine Bundeskanzler*in also im Amt ist, kann davon ausgegangen werden, dass die Mehrheit des Bundestages und somit mittelbar auch die Mehrheit des Volkes hinter der Regierungsspitze steht.

2.3.3 Gesetzgebung Gesetze sind wesentlicher Teil der staatlichen Ordnung. Sie nehmen Einfluss auf das tägliche Leben und sind auch im Rettungsdienst substanziell für den Berufsalltag. Juristisch lässt sich das Gesetz als die zentrale Handlungsform des föderalen, demokratischen Rechtsstaates verstehen. Es sorgt für demokratische Legitimation des staatlichen Handelns und schafft Rechtssicherheit für die Bürger*innen. Mithin kommt auch der Gesetzgebung eine zentrale Bedeutung zu. Entscheidend dabei ist, wie

Gesetze entstehen (Gesetzgebungsverfahren) und wer Gesetze erlassen darf (Gesetzgebungskompetenz). Gesetzgebungskompetenzen Entlang des Föderalismus haben der Bund und die Bundesländer verschiedene Zuständigkeiten und Befugnisse zum Erlass von Gesetzen. Man nennt diese Befugnisse Gesetzgebungskompetenzen. Das Land erlässt Landesgesetze, der Bund Bundesgesetze. Wer nun für welche konkreten Themengebiete Gesetze erlassen darf, regelt das Grundgesetz (Art. 70 GG). Danach haben grds. die Bundesländer die Gesetzgebungsbefugnis, wenn nicht das Grundgesetz etwas anderes vorschreibt. Ohne ausdrückliche Bestimmung im Grundgesetz besteht bei der Gesetzgebung also Länderzuständigkeit (originäre Länderzuständigkeit). Allerdings finden sich zu vielen Themengebieten im Grundgesetz Bestimmungen, welche diesen Grundsatz abändern. Das Grundgesetz sieht etwa einige Themengebiete vor, die explizit nur durch den Bund geregelt werden sollen (Art. 71, 73 GG). Für diese Themen hat ausschließlich der Bund die Befugnis, dazu Gesetze zu erlassen (ausschließliche Gesetzgebung). Darüber hinaus gibt es weitere Bereiche, für welche eine sog. konkurrierende Gesetzgebung vorgesehen ist (Art. 72, 74 GG). In diesen Bereichen verfügen die Bundesländer nur so weit über die Befugnis zur Gesetzgebung, bis der Bund selbst ein Gesetz dazu erlässt. Faktisch sind aber mittlerweile so viele Bereiche der konkurrierenden Gesetzgebung durch ein Bundesgesetz geregelt, dass die Bundesländer nur noch wenig aus diesen Bereichen eigenständig regeln können. M e rk e Die Bundesländer besitzen grds. die Befugnis zur Gesetzgebung, soweit nicht das Grundgesetz etwas anderes vorgibt = Originäre Länderzuständigkeit (Art. 70 GG). Es gibt Bereiche, in denen ausschließlich der Bund die Befugnis zur Gesetzgebung hat = Ausschließliche Gesetzgebung (Art. 71, 73 GG). In einigen Themengebieten haben die Bundesländer nur die Befugnis zur Gesetzgebung, soweit nicht der Bund dieses Gebiet bereits geregelt hat = Konkurrierende Gesetzgebung (Art. 72, 74 GG). Das Rettungsdienstwesen lässt sich den Bereichen Gefahrenabwehr und Gesundheitsfürsorge zuordnen. Die Gefahrenabwehr unterliegt hinsichtlich der Gesetzgebungszuständigkeit den Bundesländern; hier besteht keine konkurrierende

Gesetzgebung. Bei der Gesundheitsfürsorge ist jedoch in einigen Bereichen eine konkurrierende Gesetzgebung vorgesehen. Diese besteht z. B. in Bezug auf • Maßnahmen gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten für Menschen und Tiere, • die Zulassung zu ärztlichen und anderen Heilberufen, • das Recht des Apothekenwesens, der Arzneien, Medizinprodukte, Heil- und Betäubungsmittel sowie Gifte, • die wirtschaftliche Sicherung der Krankenhäuser und • die Regelung der Krankenhauspflegesätze (Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 und 19a GG). Für diese Bereiche hat der Bund von seiner Möglichkeit zur Gesetzgebung auch größtenteils Gebrauch gemacht, was eine Gesetzgebung der Länder zu diesen Themen ausschließt. Im Übrigen liegt die Gesetzgebungskompetenz hinsichtlich des Gesundheitswesens und damit auch des Rettungsdienstes bei den Bundesländern. Konkret bedeutet dies, dass der Bund bezüglich des Rettungsdienstes keine Regelungskompetenz besitzt, die Länder sind daher dazu ermächtigt, „Rettungsdienstgesetze“ zu erlassen. Rettungsdienst ist demnach „Ländersache“. Dennoch werden wesentliche Teilbereiche um den Rettungsdienst herum durch Bundesgesetze geregelt (z. B. Arznei- und Medizinprodukterecht, Zulassung zur Notfallsanitäter*innen- Ausbildung). M e rk e Rettungsdienst ist Ländersache. R e c h t in e c h t In jedem Bundesland gibt es ein Landesrettungsdienstgesetz (z. B. RettG NRW). Darin werden jeweils die Rahmenbedingungen des Rettungsdienstes geregelt (z. B. Besetzung von Rettungsmitteln, Träger des Rettungsdienstes oder Vorgaben zur Bedarfsplanung). Die Länder haben dazu die Gesetzgebungskompetenz, da das Grundgesetz nichts Entgegenstehendes vorgibt. Zwar ähneln sich die Rettungsdienstgesetze der Länder in vielerlei Hinsichten, jedoch gibt es auch markante Unterschiede. Am 22. Mai 2013 wurde vom Bund auf Grundlage der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz (Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG) das Gesetz über den Beruf der Notfallsanitäterin und des Notfallsanitäters (NotSanG) erlassen. Es regelt die Zulassungsvoraussetzungen für den Beruf des Notfallsanitäters, die

Rahmenbedingungen sowie die Ziele der Ausbildung. Das NotSanG ist also ein Bundesgesetz. Weitere Bundesgesetze, wie z. B. das Medizinprodukte-Durchführungsgesetz (MPDG), das Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln (AMG) oder das Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (BtMG) regeln Themengebiete, die auch für den Rettungsdienst relevant sind. So gelten z. B. in allen Bundesländern dieselben Vorgaben dazu, unter welchen Voraussetzungen Notfallsanitäter*innen Betäubungsmittel verabreichen dürfen (§ 13 Abs. 1b BtMG). A c h tu ng Das NotSanG ist ein Gesetz über den Beruf der Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter. Systematischer Hintergrund ist, das Berufsbild zu regeln. Es ist nicht die Intention und Kompetenz des Bundesgesetzgebers, im NotSanG die tatsächliche Durchführung des Rettungsdienstes vorzugeben. Gesetzgebungsverfahren Wie Gesetze entstehen, folgt klaren Regeln, die im Grundgesetz normiert sind. Ausgehend vom Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip gibt es eine gesetzgebende Staatsgewalt, deren Macht vom Volk ausgeht. Auf Bundesebene sind Bundestag und Bundesrat die beiden Legislativorgane. Sie entscheiden über neue Gesetze oder Gesetzesänderungen. Dies erfolgt jeweils in drei Schritten: 1. Gesetzesinitiative 2. Beschlussfassung durch Bundestag und Bundesrat 3. Ausfertigung und Verkündung Die Gesetzgebungsverfahren des Bundes und der Länder ähneln sich in ihrer Grundstruktur. Gesetzesinitiative Das Recht dazu, Gesetzesinitiativen auf den Weg zu bringen, haben die Bundesregierung, der Bundestag und der Bundesrat. Zudem können Gesetzesinitiativen unter bestimmten Voraussetzungen auch aus der „Mitte des Bundestags“ eingebracht werden. Hierbei werden ausformulierte und begründete Gesetzesentwürfe erstellt, die dann den übrigen Organen vorgestellt werden. Beschlussverfahren

Damit ein Gesetz auch wirklich verabschiedet werden kann, muss es das Beschlussverfahren durchlaufen. Dabei muss zunächst der Bundestag in einem einheitlichen Beschluss (einfache Mehrheit = mehr Ja- als Nein-Stimmen) der Umsetzung der Gesetzesvorlage zustimmen. Anschließend wird der Entwurf zur Abstimmung in den Bundesrat weitergegeben. Auch hier wird über den Gesetzesentwurf abgestimmt. Sind sich Bundestag und Bundesrat einig, wird das Gesetzesvorhaben in die Tat umgesetzt. Inwieweit ein Beschluss des Bundesrates gegen ein Gesetzesvorhaben ins Gewicht fällt, kommt auf die Art des Gesetzes an, das umgesetzt werden soll. Es gibt sog. Einspruchsgesetze und Zustimmungsgesetze. Handelt es sich um den Entwurf eines Einspruchsgesetzes, kann der Bundesrat, wenn er dies mit der Mehrheit seiner Stimmen entschieden hat, Einspruch gegen das Gesetzesvorhaben einlegen. Infolgedessen wird ein sog. Vermittlungsausschuss einberufen, in dem über Kritikpunkte und mögliche Änderungen beraten wird. Unabhängig davon, ob eine Einigung erzielt wird, gelangt der Entwurf anschließend abermals zum Bundesrat und es wird ein weiteres Mal abgestimmt. Wird das Gesetzesvorhaben nun wiederholt abgelehnt, heißt das allerdings nicht, dass das Gesetz nicht zustande kommt. Der Bundestag kann auch den zweiten Einspruch des Bundesrates durch eine weitere Abstimmung zurückweisen. Dabei muss der Bundestag die Zurückweisung jedoch mit mindestens derjenigen Mehrheit beschließen, mit welcher der Bundesrat zuvor den Einspruch entschieden hat. Folglich können Entwürfe zu Einspruchsgesetzen auch gegen die Auffassung des Bundesrates vom Bundestag beschlossen und umgesetzt werden. Bei einem Zustimmungsgesetz dagegen ist es unabdingbar, dass die Mehrheit der Mitglieder im Bundesrat dem Gesetzesvorhaben zustimmt. Ist dies nicht der Fall, kommt das Gesetz auch nicht zustande. Bei Unstimmigkeiten besteht optional zwar auch hier die Möglichkeit, einen Vermittlungsausschuss einzuberufen. Allerdings kann der Bundestag einen etwaigen Beschluss des Bundesrates gegen den Gesetzesentwurf nicht überstimmen. Zustimmungsgesetze sind im Grundgesetz explizit hervorgehoben. Danach sind zustimmungsbedürftige Gesetze einerseits solche, die in bestimmter Weise Auswirkungen auf die Finanzen der Länder haben, andererseits Gesetze, bei deren Umsetzung in die Organisations- und Verwaltungshoheit der Länder eingegriffen wird. Zudem bedürfen auch solche Gesetze einer Zustimmung des Bundesrates, die die Verfassung (GG) ändern. Hierbei ist sogar eine Mehrheit mit mindestens zwei Drittel der Mitglieder des Bundesrates notwendig.

Ausfertigung, Verkündung und Inkrafttreten Ist das Gesetz nach dem Beschlussverfahren tatsächlich zustande gekommen, muss es nun noch durch die Bundespräsident*in ausgefertigt, also unterzeichnet und damit wirksam werden. Anschließend wird es im Bundesgesetzblatt verkündet. Grundsätzlich tritt das Gesetz dann 14 Tage später in Kraft. Anders verhält es sich nur, wenn im Gesetz ein Tag des Inkrafttretens bestimmt ist.

2.4 Rechtsnormen Gesetze sind Teil der staatlichen Rechtsordnung. Sie sind meist in Gesetzbüchern niedergeschrieben und normieren Regeln und Prinzipien, die in einem demokratisch legitimierten Gesetzgebungsverfahren erlassen wurden. Der Oberbegriff für solche Regelungsinstitute ist Rechtsnorm. Mit einer geltenden Rechtsnorm soll ein rechtlich gewünschter Zustand bzw. ein Verhalten angeordnet werden (verhaltenssteuernde Funktion des Rechts). Normen enthalten also stets Rechtsfolgeanordnungen, die notfalls auch per Zwang durchgesetzt werden können. Rechtsnorm ist ein weiter übergeordneter Begriff. Ihm lassen sich diverse Regelungsinstitute (z. B. Gesetze, Verordnungen) zuordnen, welche dann ihrerseits einzelne Rechtssätze (z. B. Paragrafen oder Artikel) enthalten. Umgangssprachlich wird aber auch in Bezug auf Rechtssätze oft von einer „Norm“ gesprochen. Die Rechtsnormen in Deutschland stehen in einer Hierarchie zueinander, der sog. Normenhierarchie. Sollte es also Widersprüche zwischen Normen geben, gilt die ranghöhere Rechtsnorm. Hinzu kommen Rechtsnormen des europäischen Rechts, die dem deutschen Recht grds. übergeordnet sind (› Kap. 2.8.1). Neben den Rechtsnormen gibt es noch weitere Quellen, die Regelungen oder Weisungen aussprechen. Die Hierarchie aller Rechtsnormen, Regelungs- und Weisungsquellen lässt sich in einer Weisungspyramide (› Abb. 2.4) darstellen.

ABB. 2.4 Weisungspyramide [L157]

2.4.1 Gesetze Gesetze bzw. Gesetzbücher sind die wohl geläufigste Form der Rechtsnormen. Sie werden in einem festgelegten Verfahren von der Legislative (gesetzgebende Gewalt) beschlossen (› Kap. 2.3.3). Anfang 2022 gab es in Deutschland 1.773 geltende Gesetze. Gesetzbücher fassen anhand von Themen- oder Rechtsgebieten zusammengehörige Rechtssätze zusammen. Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) regelt z. B. Angelegenheiten zwischen Bürger*innen, das Strafgesetzbuch (StGB) den Umgang mit strafbaren Handlungen. Die Rechtssätze in den Gesetzen (Paragrafen) lassen sich grds. in die Grundelemente Tatbestand und Rechtsfolge unterteilen. Sie beschreiben einen Sachverhalt in abstrakter Weise (= Tatbestand), sodass er auf viele Fälle des täglichen Lebens anwendbar ist. Auch gilt die jeweilige Norm für eine Vielzahl von Personen, ist also generell zu verstehen. Dabei enthalten die Rechtssätze eine bestimmte rechtliche Folge, die beim Vorliegen des definierten Tatbestands eintreten soll (= Rechtsfolge). Diese Unterteilung ist in (› Abb. 2.5) dargestellt.

ABB. 2.5 Tatbestand und Rechtsfolge einer abstrakt generellen Rechtsnorm [L157]

M e rk e Gesetze sind abstrakt generelle Rechtsnormen mit Tatbestands- und Rechtsfolgenseite.

2.4.2 Deutsche Rechtsverordnungen Rechtsverordnungen dienen der Konkretisierung und näheren Ausgestaltung von Gesetzen. Sie regeln, wie bestimmte Gesetze in allen Einzelheiten auszuführen sind. Diese Einzelheiten sind im Gesetz selbst nicht immer geregelt. Während Gesetze durch die Legislative ergehen, werden Verordnungen durch die Exekutive erlassen. Auf Bundesebene können die Bundesregierung inklusive einzelner Bundesministerien Verordnungen erlassen; auf Landesebene die Landesregierungen. Um dem jeweiligen Exekutivorgang auf Bundesebene nicht zu viel Entscheidungsgewalt einzuräumen, muss der Bundesrat den meisten Verordnungen zustimmen. Rechtsverordnungen können nur auf der Grundlage eines Gesetzes und nur aufgrund einer expliziten Ermächtigung darin erlassen werden. Dabei müssen immer Inhalt, Ausmaß und Zweck der Inhalte der Verordnung im Gesetz selbst geregelt werden (3-facher Delegationsfilter). Grund für die „Auslagerung“ von Einzelheiten in die Verordnungen ist, dass es im Parlament viel zu umständlich wäre und zu lange

dauern würde, alle Details zur Ausführung zu beschließen. Hier wird auf die fachliche Expertise der Exekutive vertraut und dieser in diesem Rahmen das Recht eingeräumt, abweichend vom Grundsatz der Gewaltenteilung rechtliche Regelungen auf Verordnungsebene zu erlassen. R e c h t in e c h t Die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter (NotSan-APrV) bestimmt präzise, wie Einzelheiten der dreijährigen Ausbildung auszusehen haben. Grundlage für diese Verordnung ist das Gesetz über den Beruf der Notfallsanitäterin und des Notfallsanitäters (NotSanG). Darin heißt es: „Das Bundesministerium für Gesundheit wird ermächtigt, […] durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates in einer Ausbildungs- und Prüfungsverordnung […] die Mindestanforderungen an die Ausbildung für Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter […], über die staatliche Prüfung und Ergänzungsprüfung sowie das Nähere über die Urkunden für die Erlaubnis […] zu regeln.“ Anschließend bestimmt das Gesetz genau, für welche Bereiche die Verordnung geschaffen werden soll. Die entsprechende Stelle im Gesetz (§ 11 NotSanG) ist mit „Verordnungsermächtigung“ überschrieben.

2.5 Andere Regelungs- und Standardisierungsquellen Neben den Rechtsnormen gibt es noch weitere Quellen, die zwar regelnd oder empfehlend auf Sachbereiche einwirken, sich allerdings nicht direkt als Rechtsnorm verstehen lassen.

2.5.1 Richtlinien Der Begriff Richtlinie hat verschiedene rechtliche Bedeutungen. Zum einen gibt es Richtlinien der Europäischen Union (› Kap. 2.8.1). Innerhalb Deutschlands können bestimmte Institutionen (deutsche) Richtlinien erlassen, welche Teilbereiche bestimmter Themenfelder regeln. Die Kompetenz hierzu erlangen die Institutionen durch eine gesetzliche Ermächtigung. Richtlinien beruhen also auf einem Gesetz. Dies führt dazu, dass die Richtlinien ein hohes Maß an Verbindlichkeit haben und Abweichungen kaum möglich sind. Trotz ihres bindenden Charakters sind Richtlinien keine echten Rechtsnormen und befinden sich weiter unten in der Weisungshierarchie (› Abb. 2.4).

R e c h t in e c h t Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), das höchste Beschlussgremium der Verwaltung im Gesundheitssystem, hat eine Richtlinie über die Verordnung von Krankenfahrten, Krankentransportleistungen und Rettungsfahrten erlassen. Diese regelt insb. die Voraussetzungen, den Genehmigungsvorbehalt der Krankenkassen und die Auswahl des erforderlichen Beförderungsmittels.

2.5.2 Erlasse/Verwaltungsvorschriften Erlasse bzw. Verwaltungsvorschriften sind abstrakt-generelle Anordnungen innerhalb der Verwaltung. Sie werden von der höheren Behörde gegenüber einer unteren Behörde ohne besondere gesetzliche Ermächtigung erlassen. Dabei schaffen die Erlasse/Verwaltungsvorschriften kein neues Recht, sondern interpretieren bestehendes Recht und sorgen für eine einheitliche Auslegung der Gesetze, sodass es zu einer gleichförmigen Anwendung dieser Gesetze innerhalb der Verwaltung kommt. Die Wirkung von Erlassen/Verwaltungsvorschriften entfaltet sich grds. nur in der Behörde; Bürger*innen werden dadurch weder belastet noch verpflichtet.

2.5.3 Leitlinien Leitlinien sind Handlungsempfehlungen zu bestimmten Fachgebieten. Gerade in der Medizin und im Rettungsdienst spielen qualitätvolle Handlungsempfehlungen eine große Rolle (= Konzept der evidenzbasierten Medizin, EbM). Ziel dabei ist es, ein bestimmtes Qualitätsniveau bzw. ein quantifizierbares Qualitätsziel zu definieren. Leitlinien sollen damit zur Entscheidungsfindung und zur Bewältigung spezifischer Problematiken nach einem vorher bestimmten Standard beitragen. Dabei werden Leitlinien nicht von staatlichen Institutionen, sondern von Fachgesellschaften herausgegeben. Sie besitzen folglich keine Gesetzesqualität o. Ä. und sind dadurch auch nicht unmittelbar rechtlich bindend. Allerdings bilden viele Leitlinien den aktuell anerkannten medizinischen Standard ab, was medizinisches Fachpersonal insoweit dazu anhält, auch nach diesen Standards zu handeln. Leitlinien haben demnach in gewisser Weise auch einen verbindlichen Charakter (so gibt § 630a BGB z. B. vor, dass eine Behandlung nach aktuell anerkannten medizinischen Standards erfolgen soll). In besonderen Fällen kann aber auch von den Leitlinien abgewichen werden, wenn eine solche Abweichung hinreichend begründet und sinnvoll ist. Eine Abweichung von einer Leitlinie an sich begründet also noch keine Straftat oder Pflichtverletzung.

M e rk e Leitlinien sind systematisch entwickelte Aussagen, die den gegenwärtigen medizinisch-fachlichen Erkenntnisstand wiedergeben, um die Entscheidungsfindung für eine angemessene Versorgung spezifischer Gesundheitsprobleme zu unterstützen. Sie sind keine unmittelbar zu befolgenden Handlungsanweisungen, sondern haben vielmehr den Charakter von Handlungsempfehlungen, welche zur Orientierung in spezifischen Situationen dienen sollen. In rechtlicher Hinsicht ergibt sich jedoch aus der gesetzlichen Forderung einer Behandlung nach aktuell anerkannten medizinischen Standards (§ 630a BGB) eine mittelbare Verbindlichkeit hinsichtlich einer leitliniengerechten Vorgehensweise. Das Handeln nach Leitlinie schafft folglich Rechtssicherheit. R e c h t in e c h t Die AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften) ist ein Zusammenschluss medizinischer Fachgesellschaften. Sie gibt in Deutschland regelmäßig Leitlinien zu verschiedenen Fachgebieten heraus. So lässt sich z. B. aus der aktuellen Leitlinie zu Akuttherapie und Management der Anaphylaxie entnehmen, welche Medikamente in welcher Dosierung bei einem anaphylaktischen Schock eines Erwachsenen gegeben werden sollten. Die Leitlinien sind dabei oft Vorlage für die Entwicklung von Handlungsabläufen oder Algorithmen. Leitlinien der AWMF lassen sich in verschiedene Entwicklungsstufen unterteilen. Diese zeigen an, welche Qualität die jeweilige Leitlinie hat. Unterschieden wird, mit welcher Methodik und auf welcher wissenschaftlichen Basis die Leitlinie entwickelt wurde. Letzteres wird oft mit dem Begriff Evidenz umschrieben. Evidenz meint dabei den (wissenschaftlich) nachgewiesenen Nutzen eines diagnostischen oder therapeutischen Handelns. Bei den Entwicklungsstufen ist S3 die höchste, S1 die niedrigste Stufe. Die Unterscheidung der jeweiligen Stufen und die daraus resultierende Evidenzhierarchie ist in › Tab. 2.2 dargestellt.

Tab. 2.2 S-Klassifikation von Leitlinien Qualitätsstufe Bedeutung

Entwicklungsmethodik

S3

Systematische Recherche, Auswahl und Bewertung von Literatur und wissenschaftlicher Belege

Evidenz- und konsensbasierte Leitlinie

durch eine repräsentative Expertengruppe nach strukturierter Konsensfindung mit Abstimmung S2e

Evidenzbasierte Leitlinie

Systematische Recherche, Auswahl und Bewertung von Literatur und wissenschaftlicher Belege

S2k

Konsensbasierte Leitlinie

Formeller und strukturierter Konsens einer repräsentativen Expertengruppe mit Abstimmung

S1

Handlungsempfehlungen von Expertengruppen

Informeller Konsens einer repräsentativen Expertengruppe

Innerhalb der jeweiligen Leitlinien werden einzelne Aussagen mit einem Empfehlungsgrad (Grade of Recommendation) versehen. Dieser Grad leitet sich aus sogenannten Evidenzebenen ab. Je höher die Evidenzebene, desto stärker auch die Empfehlung für die jeweilige Maßnahme. Es wird dabei zwischen Positiv- und Negativempfehlungen unterschieden. Die jeweiligen Grade und die dazugehörigen Symbole sind in › Tab. 2.3 dargestellt. Die zugrundeliegenden Evidenzebenen sind in › Tab. 2.4 zusammengefasst; sie werden in den Leitlinien allerdings nicht immer angezeigt.

Tab. 2.3 Empfehlungsgrade in Leitlinien-Empfehlungen Empfehlungsgrad Beschreibung

Formulierung Evidenzebene Symbol

A

Starke PositivEmpfehlung

Soll

Ia, Ib

⇑⇑

B

Abgeschwächte Positiv-

Sollte

IIa, IIb, III



Empfehlung 0

Offene Empfehlung

Kann

IV



B

Abgeschwächte NegativEmpfehlung

Sollte nicht

IIa, IIb, III



A

Starke Negativ-

Soll nicht

Ia, Ib

⇓⇓

Empfehlung

Tab. 2.4 Evidenzebenen Ebene Beschreibung Ia

Evidenz aus einer Metaanalyse von mindestens drei randomisiertkontrollierten Studien

Ib

Evidenz aus mindestens einer randomisiert-kontrollierten Studie oder einer Metaanalyse von weniger als drei randomisiert-kontrollierten Studien

IIa

Evidenz aus zumindest einer methodisch gut kontrollierten Studie ohne Randomisierung

IIb

Evidenz aus zumindest einer methodisch guten, quasi-experimentellen deskriptiven Studie

III

Evidenz aus methodisch guten, nichtexperimentellen Beobachtungsstudien, wie z. B. Vergleichsstudien, Korrelationsstudien und Fallstudien

IV

Evidenz aus Berichten von Expertenkomitees oder Expertenmeinung und/oder klinische Erfahrung anerkannter Autoritäten

Leitlinien geben also – soweit dies möglich ist – den aktuellen medizinischfachlichen Standard wieder. Sie sind allerdings weder rechtlich bindend noch wirken sie haftungsbegründend oder haftungsausschließend. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat sogar mehrmals klargestellt, dass es immer auf den jeweiligen Einzelfall ankommt und Leitlinien vor Gericht kein medizinisches Sachverständigengutachten ersetzen können [1]. Nichtsdestotrotz handelt es sich bei Leitlinien um eine Handlungsempfehlung von fachlich bedeutenden Institutionen, sodass ein leitliniengerechtes Handeln bei einer etwaigen rechtlichen Bewertung nicht von der Hand zu weisen ist. Zudem berücksichtigen medizinische Sachverständigengutachten i. d. R. die zum Zeitpunkt der streitigen Handlung oder Unterlassung geltenden medizinischen Leitlinien. A c h tu ng Leitlinien werden i. d. R. bei der rechtlichen Bewertung eines Falls berücksichtigt. Leitliniengerechtes Handeln hat dabei einen positiven Effekt. Im Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten (Patientenrechtegesetz, Teil des BGB) ist sogar ausdrücklich vorgegeben, dass die

Patientenbehandlung nach aktuellen, allgemein anerkannten fachlichen Standards zu erfolgen hat (§ 630a Abs. 2 BGB). Der Maßstab zur Versorgung von Patient*innen richtet sich also nach dem aktuellen medizinischen Standard – ergo nach den Leitlinien. Im Umkehrschluss bedeutet die Relevanz von Leitlinien aber auch, dass nichtleitliniengerechtes Handeln bei einer rechtlichen Bewertung negativ ins Gewicht fallen kann. „Das haben wir immer schon so gemacht“, ist dahingehend also kein gutes Argument, wenn in einer Leitlinie mittlerweile ein ganz anderer fachlicher Standard empfohlen wird.

2.5.4 Empfehlungen und Stellungnahmen Wie Leitlinien entspringen Empfehlungen und Stellungnahmen keinem Gesetz. Sie sind lediglich unverbindliche Handlungsvorschläge in verschiedenen Kontexten, welche nicht wissenschaftlich belegt werden müssen. Eher werden hier Themen diskutiert, Anregungen gegeben, Ratschläge erteilt oder Hinweise gegeben. In der Hierarchie bilden sie also das Schlusslicht. Bei einer rechtlichen Bewertung würde es demnach keine negativen Auswirkungen haben, wenn Versorgende sich sachlich begründet nicht an Empfehlungen oder Stellungnahmen halten. R e c h t in e c h t Für die fachliche Qualifikation von Personal im Rahmen der Durchführung von Intensivtransporten gibt es eine Empfehlung der DIVI (Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin).

2.5.5 Normungen (DIN, EN, ISO) In vielen Bereichen der Arbeitswelt werden Standards in sog. Normen festgehalten. Gemeint sind dabei keine Rechtsnormen, sondern spezielle Standards, mit denen die Anforderungen an Produkte, Dienstleistungen oder Verfahren einheitlich festgelegt werden. Sie werden von nicht-staatlichen Stellen herausgegeben und verfügen an sich nicht über eine rechtliche Verbindlichkeit. Normen sind nichtstaatliche technische Regelungen und haben grds. nur einen Empfehlungscharakter. Ziel solcher Normen ist es, die Rationalisierung und Qualitätssicherung in verschiedenen Lebensbereichen und Berufsfeldern zu unterstützen und somit zu einer Qualitätsverbesserung beizutragen. Dies kann mitunter auch Einfluss auf die Sicherheit von Menschen haben – z. B. im Rettungsdienst.

Wenngleich Normen keine eigene Rechtsverbindlichkeit besitzen, können sie trotzdem verpflichtend werden, wenn in Rechts- oder Verwaltungsvorschriften die Einhaltung bestimmter Normen gefordert oder in Verträgen deren Berücksichtigung vereinbart wird. Zudem kann korrektes Verhalten stets besser belegt werden, wenn ein Handeln entsprechend bestehenden Normen als anerkannter Standard nachgewiesen werden kann. Normen werden für verschiedene Geltungsbereiche herausgegeben (national, europäisch, international). Hierzu gibt es spezielle Institutionen, die sich auf der jeweiligen Geltungsebene mit den Standardisierungen beschäftigen. In Deutschland ist dies das Deutsche Institut für Normung (DIN); auf europäischer und internationaler Ebene gibt es jeweils drei verschiedene Organisationen. Die Geltungsbereiche und dazugehörigen Abkürzungen sind: • National (DIN, nationale/deutsche Norm) • Europäisch (EN, europäische Norm) • International (ISO, internationale Norm) Normen werden durch eine Bezeichnung des Geltungsbereichs sowie eine angehängte Buchstaben- und/oder Zahlenkombinationen gekennzeichnet, z. B. DIN 13049. Die vorangestellte Codierung für den Geltungsbereich gibt an, wo die in der Norm beschriebene Standardisierung anerkannt ist; die weitere Nummerierung dient der Wiedererkennung der Norm. Die wohl bekannteste deutsche Norm ist die des Papierformats DIN A4, welche die Abmessungen einer bestimmten Papiergröße standardisiert. Standards der größeren Geltungsbereiche können durch die Institutionen des jeweils kleineren Geltungsbereichs übernommen werden. Dies ist dann gekennzeichnet durch eine doppelte oder sogar dreifache Codierung des Geltungsbereichs. Eine „DIN EN“Norm ist demnach eine europäische Norm, die von der DIN, also der nationalen Normungsinstitution, übernommen worden ist und somit auch in Deutschland Geltung findet. Eine „DIN EN ISO“-Norm, ist eine internationale Norm, die von der europäischen und nationalen/deutschen Normungsinstitution übernommen wurde. M e rk e DIN-Norm: Nationale/deutsche Norm (Bedeutung ausschließlich oder überwiegend national). Erarbeitet von dem Deutschen Institut für Normung (teilweise unter

Einflussnahme spezifischer Fachgesellschaften) DIN EN-Norm: Europäische Norm, die in das nationale/deutsche Normenwesen übernommen wurde. Erarbeitet von einer der drei europäischen Organisationen für Standardisierung (CEN, Europäisches Komitee für Normung; CENELEC, Europäisches Komitee für elektrotechnische Normung; ETSI, Europäisches Institut für Telekommunikationsnormen) DIN EN ISO-Norm: Internationale Norm, die in das europäische sowie nationale/deutsche Normenwesen übernommen wurde. Erarbeitet von einer der drei internationalen Organisationen für Standardisierung (ISO, Internationale Organisation für Normung; IEC, Internationale Elektrotechnische Kommission; ITU, Internationale Union für Telekommunikation) Im Deutschen Institut für Normung gibt es den DIN-Normenausschuss Rettungsdienst und Krankenhaus (NARK). Dieser Ausschuss befasst sich thematisch mit Normungen rund um rettungsdienstliche Systeme, Krankenhäuser und Medizintechnik. Zudem vertritt der NARK auch gegenüber den europäischen und internationalen Normungsinstitutionen die deutschen Interessen in diesen Fachbereichen. Konkret werden vom NARK z. B. Normen erarbeitet, die zum reibungslosen Ablauf der medizinischen Versorgung im organisierten Rettungsdienst notwendig sind oder die dafür erforderliche medizinische Ausrüstung standardisieren. Neben der Verbindlichkeit der Normen durch Gesetz oder Vertrag sind Normungen v. a. im Bereich des Qualitätsmanagements relevant. So gibt es sogar genormte Qualitätsmanagementsysteme, die eine Qualitätssicherung in diesem Sinne standardisieren. Es handelt sich dabei um die Normenreihe DIN EN ISO 9000 ff., welche auch über das Gesundheitswesen hinaus in vielen Berufsfeldern zum Einsatz kommt. R e c h t in e c h t Wichtige, teils vom NARK erarbeitete Normen für den Rettungsdienst sind z. B.: DIN 13050: Begriffe im Rettungswesen DIN 13049: Rettungswachen – Bemessungs- und Planungsgrundlage

DIN 75079: Notarzt-Einsatzfahrzeuge (NEF) – Begriffe, Anforderungen, Prüfung DIN EN 1789: Rettungsdienstfahrzeuge und deren Ausrüstung – Krankenkraftwagen DIN EN ISO 5361: Anästhesie- und Beatmungsgeräte – Trachealtuben und Verbindungsstücke DIN EN ISO 7376: Anästhesie- und Beatmungsgeräte – Laryngoskope für Trachealintubation DIN EN ISO 9000: Qualitätsmanagementsysteme – Grundlagen und Begriffe DIN EN ISO 9001: Qualitätsmanagementsysteme – Anforderungen

2.6 Rechtsprechung Die Judikative ist die rechtsprechende Gewalt. Wesentliche Institutionen dieser Staatsgewalt sind die Gerichte. Hier entscheiden unabhängige Richter*innen in gesetzlich vorgegebenen Verfahren darüber, was Recht und was Unrecht ist. Man nennt dieses System auch Gerichtsbarkeit.

2.6.1 Gerichte Es gibt verschiedene Arten von Gerichten. Man kann dabei in zweierlei Hinsicht unterscheiden: zum einen nach Rechtsgebieten, mit denen sich das jeweilige Gericht beschäftigt, zum anderen nach der Instanzen-Hierarchie. Vereinfacht kann die deutsche Gerichtsbarkeit also horizontal in verschiedene Rechtsgebiete und vertikal in verschiedene Instanzen gegliedert werden (› Abb. 2.6).

ABB. 2.6 Übersicht der deutschen Gerichtsbarkeit [L138]

Ordentliche und außerordentliche Gerichtsbarkeit Die Rechtsgebiete werden übergeordnet in ordentliche und außerordentliche Gerichtsbarkeiten unterteilt. Die ordentliche Gerichtsbarkeit umfasst: • Zivilsachen (z. B. Mietstreit, Schadensersatzfälle, Familiensachen, …) • Strafsachen (z. B. Körperverletzung, Totschlag oder andere Verbrechen und Vergehen) • Einige freiwillige Belange (z. B. Grundbuchführung, Erbsachen, …) (auch freiwillige Gerichtsbarkeit)

Die Fachrichtungen sind hierbei sehr weit gefasst. So kann z. B. das Strafrecht zwar als eigene Fachrichtung benannt werden, es umfasst aber eine Vielzahl von Spezialgebieten (Medizinstrafrecht, Wirtschaftsstrafrecht, Jugendstrafrecht, …). Die ordentliche Gerichtsbarkeit macht dadurch den größten Teil der deutschen Gerichte aus. Die außerordentliche Gerichtsbarkeit besteht aus spezielleren Fachgerichten, die sich ausschließlich mit je einem bestimmten Rechtsgebiet befassen. Hierzu zählen: • Verfassungsgerichte • Verwaltungsgerichte • Finanzgerichte • Arbeitsgerichte • Sozialgerichte Instanzen, Berufung und Revision Die Instanzen bewirken eine hierarchische Ordnung innerhalb der Gerichtsbarkeiten. Je nach Relevanz eines Falls wird ein höheres oder niedrigeres Gericht angerufen. Auch kann bei Uneinigkeit oder vermeintlichen Verfahrensfehlern eine Gerichtsentscheidung durch die nächsthöhere Instanz überprüft werden. Die erste Instanz ist immer jenes Gericht, vor dem der Fall das erste Mal verhandelt wird. Dies kann je nach Schwere des Falls oder nach Höhe des streitigen Geldbetrags das Amtsgericht, das Landgericht, aber auch das Oberlandesgericht sein. Je nach Instanz sind die Gerichte unterschiedlich besetzt. Die Besetzung hängt dabei von verschiedenen Faktoren ab. Es kann jedoch grob festgehalten werden, dass die Anzahl der Richter*innen mit den Instanzen zunimmt. Gibt es in der ersten Instanz einen Anlass zur inhaltlich-sachlichen Nachprüfung, so kann grds. eine sog. Berufung eingelegt werden. Dabei wird vom nächsthöheren Gericht (dann zweite Instanz, auch Berufungsinstanz) der Fall in Bezug auf die Tatsachen und Rechtslage erneut bewertet. Es können auch neue Tatsachen eingebracht werden. Berufung kann nur gegen ein Urteil der ersten Instanz eingelegt werden. Bestehen nach der Berufung noch Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung, kann unter bestimmten Voraussetzungen eine sog. Revision eingelegt werden. Hierbei wird der Fall von der nun nochmal höheren Instanz (dann dritte Instanz, auch Revisionsinstanz) ein weiteres Mal begutachtet. Allerdings wird in der Revision nur überprüft, ob die rechtliche Bewertung der Vorinstanz richtig war, also ob das

vorherige Gericht den Fall juristisch korrekt erfasst und beurteilt hat. Es werden folglich keine neuen Tatsachen berücksichtigt. Revision kann grds. nur in der zweiten Instanz eingelegt werden (Ausnahme: Sprungrevision). Bundesverfassungsgericht Das Bundesverfassungsgericht nimmt unter den Gerichten eine Sonderstellung ein. Es ist eines der ständigen Verfassungsorgane und sichert einzig und allein die Einhaltung des Grundgesetzes in allen staatlichen Institutionen (› Kap. 2.2). Oberste Bundesebene Für jedes Gebiet der ordentlichen und außerordentlichen Gerichtsbarkeit gibt es auf Bundesebene eine oberste Instanz – die Bundesgerichte. Diese Gerichte dienen ausschließlich als Kontrollinstanz und können nicht unmittelbar angerufen werden. Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das Bundesgericht für die ordentliche Gerichtsbarkeit. Das Bundesarbeitsgericht oder das Bundesverwaltungsgericht sind Beispiele für Bundesgerichte der außerordentlichen Gerichtsbarkeit. Konstellationen, die von den obersten Bundesgerichten entschieden werden, sorgen für eine einheitliche Rechtsprechung im gesamten Bundesgebiet. Daher tragen Entscheidungen der obersten Bundesgerichte in erheblichem Maße zur Rechtssicherheit bei. Oberlandesgerichte Die Oberlandesgerichte (OLG) (in Berlin: Kammergericht) sind die höchsten Gerichte auf Landesebene. Sie fungieren i. d. R. als zweite Instanz (nach Berufung beim Landgericht) oder dritte Instanz (nach Berufung beim Amtsgericht und Revision beim Landgericht). Für seltene, besonders bedeutsame Fälle kann das Oberlandesgericht auch die erste Instanz sein. In Deutschland befindet sich in jedem Bundesland mindestens ein Oberlandesgericht. In einigen Bundesländern sind allerdings auch zwei oder drei solcher Gerichte vorhanden, sodass es derzeit insgesamt 24 Oberlandesgerichte in Deutschland gibt. Landgerichte Die Landgerichte (LG) dienen als zweite Instanz (nach Berufung gegen amtsgerichtliche Entscheidungen), aber auch häufig als erste Instanz. Ob ein Amtsoder Landgericht als erste Instanz zuständig ist, ist z. B. von der Schwere des Falls bzw. vom streitigen Geldbetrag abhängig. So kommt es beispielsweise vor Strafgerichten auf die etwaig zu verhängende Freiheitsstrafe an (über 3 Jahre Freiheitsstrafe LG); vor

Zivilgerichten z. B. auf den vermeintlich eingeklagten Geldbetrag (über 5.000 € LG). Wie viele Landgerichte es in einem Bundesland gibt, kommt auf dessen Größe und Einwohnerzahl an. Insgesamt gibt es in Deutschland derzeit (2023) 115 Landgerichte. Amtsgerichte Die Amtsgerichte (AG) befinden sich in der Instanzenhierarchie an der niedrigsten Stelle. Sie können nur als erste Instanz angerufen werden. Tatsächlich werden die allermeisten gerichtlichen Auseinandersetzungen in Deutschland vor den Amtsgerichten geführt. Somit befindet sich auch in fast jeder größeren Stadt ein Amtsgericht. Insgesamt gibt es in Deutschland derzeit (2023) ca. 638 Amtsgerichte.

2.6.2 Richter*innen Die Entscheidung vor Gericht treffen Richterinnen und Richter. Sie sind dabei unabhängig, unparteiisch und einzig und allein dem geltenden Recht verpflichtet. Das bedeutet, dass sie nur anhand der Rechtsnormen entscheiden und sich nicht von z. B. politischen Einflüssen oder wirtschaftlichen Interessen leiten lassen. Entscheidungsform Es gibt verschiedene Formen, in denen eine Entscheidung der Richter*innen getroffen werden kann. Vor allem kann zwischen Urteilen und Beschlüssen unterschieden werden. Auch, wenn diese nicht identisch sind, sind sie dennoch gleichermaßen verbindlich. In einem Urteil wird der Rechtsstreit ganz oder teilweise durch das Gericht entschieden. Es ergeht grds. aufgrund einer vorangegangenen mündlichen Verhandlung und bedarf einer offiziellen Verkündung sowie einer bestimmten Form. Das Gericht ist an sein Urteil gebunden; die Parteien können gegen Urteile mit Berufung oder Revision vorgehen. Ein Beschluss entscheidet häufig nur über einzelne Verfahrensfragen. Er wird i. d. R. ohne mündliche Verhandlung erlassen und basiert auf einem schriftlichen Verfahren. Auch sind die Gerichte bei einem Beschluss nicht an eine besondere Form gebunden oder eine offizielle Verkündung angewiesen. So können kleinere oder eilbedürftige Entscheidungen schnell und mit einem überschaubaren Aufwand getroffen werden (z. B. Verweisungsbeschluss, Durchsuchungsbeschluss oder ein Beschluss zu einstweiligem Rechtsschutz). Gegen einen Beschluss kann weder Berufung noch Revision eingelegt werden, sondern es muss eine sog. Beschwerde

ergehen, damit die Entscheidung ggf. von einem Beschwerdegericht (grds. nächsthöhere Instanz) überprüft wird. R e c h t in e c h t Im Rahmen der rettungsdienstlichen Tätigkeit kann das Rettungsdienstpersonal insb. mit Beschlüssen zur Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung oder mit Beschlüssen zur Unterbringung von Patient*innen nach PsychKG in Berührung kommen.

2.6.3 Rechtssicherheit und Einzelfallentscheidung Hinsichtlich vieler Rechtsfragen ist es oft nicht leicht, eine eindeutige Antwort zu finden. Selbst wenn fachkundige Jurist*innen eine Problemlösung formulieren, hört man als Antwort häufig „es kommt darauf an“. Das mag unbefriedigend anmuten und ist dahingehend schwierig, da es häufig klarer Antworten bedarf, wenn man sich rechtssicher verhalten möchte. Die Ursache für dieses „Darauf-ankommen“ ergibt sich aus verschiedenen Faktoren. Zum einen sind Gesetze notwendigerweise abstrakt-generell formuliert, sodass sie auf eine Vielzahl von Sachverhalten anwendbar sind. Weiter werden diese Formulierungen von unterschiedlichen Personen unterschiedlich interpretiert und verstanden. In einigen Fällen kann es also schwierig sein, einen sehr konkreten Sachverhalt unter abstrakte Formulierungen einzuordnen (zu subsumieren), gerade wenn kein einheitliches Verständnis über den Inhalt besteht. Für ein eindeutiges Statement zu einem Sachverhalt kommt es folglich oft auf die jeweilige Interpretation des Gesetzes an. Hinzu kommt, dass im Falle eines Rechtsstreits stets Richter*innen über die Sache entscheiden. Maßgeblich ist demnach, wie die Rechtsprechung die Gesetze auslegt und auf einen konkreten Sachverhalt anwendet. Anhand von richterlichen Urteilen kann dann erahnt werden, wie die Rechtsprechung bestimmte Gesetze versteht und wie sie diese auf konkrete Sachverhalte anwendet. Urteile können demnach als Orientierung für rechtliche Stellungnahmen und Einschätzungen bei ähnlichen Fällen dienen. Dies ist insb. dann der Fall, wenn es sich um Entscheidungen von Gerichten höherer Instanz handelt. Allerdings sind gerade im Rettungsdienst viele denkbare Sachverhalte noch nie von einem Gericht entschieden worden. Das macht es schwierig, für einige Bereiche verbindliche Aussagen zu treffen, sodass es häufig auf Vermutungen und Einschätzungen zu einer Sache hinausläuft, die sich der Vorbehaltsformulierung „es

kommt darauf an“ bedienen. Schließlich kommt es noch darauf an, wie die Entscheidung eines etwaig angerufenen Gerichts zu dem jeweiligen ganz konkreten Sachverhalt ausfiele. Zudem ist es möglich, dass sich die Rechtsprechung ändert und ähnliche Sachverhalte im Laufe der Zeit neu beurteilt werden (so z. B. die Hilfeleistungspflicht bei eigenverantwortlichen Suiziden). Dies hat jedoch auch seinen Vorteil, da für jeden Fall neu beurteilt werden muss, ob eine Vorschrift einschlägig ist oder nicht. Eine solche Einzelfallbetrachtung verhindert pauschalisierende Betrachtungsweisen und sorgt für ein hohes Maß an Gerechtigkeit. Es kommt folglich immer darauf an.

2.7 Die Bundesländer Die Bundesländer sind konstitutiv für den Bundesstaat. Es gibt 16 Bundesländer in Deutschland; sie sind auf der Karte in › Abb. 2.7 dargestellt.

ABB. 2.7 Deutschlandkarte mit Bundesländern [L143] Bundesländer besitzen als Gliedstaaten zwar Staatscharakter, jedoch selbst keine Souveränität (› Kap. 2.3.1). Sie sind dem Bundestaat zwar untergeordnet, aber in vielerlei Hinsichten eigenverantwortlich tätig. Dabei sind die Strukturen vergleichbar

mit denen auf Bundesebene. In jedem Bundesland gibt es ein Landesparlament (Landtag) und eine Landesregierung mit Landesministerien. Alle Bundesländer haben zudem eine eigene Landesverfassung und erlassen im Rahmen der Gesetzgebungskompetenz (› Kap. 2.3.3) Landesgesetze, die nur im jeweiligen Bundesland Geltung finden. Für die föderalen Strukturen gilt ebenso wie für den Bund das Grundgesetz und die darin normierten Prinzipien. So wird auch jedes Landesparlament demokratisch gewählt und weder Landesverfassung noch Landesgesetze dürfen gegen das Grundgesetz verstoßen. Aus der Gesetzgebungskompetenz von Bund und Ländern ergibt sich mittelbar auch eine Aufgabenverteilung. Die Bundesländer haben z. B. die Gesetzgebungskompetenz für die Gefahrenabwehr (› Kap. 5). Das inkludiert den Rettungsdienst sowie den Brand- und den Katastrophenschutz, sodass die Länder verpflichtet sind, sich diesen Aufgaben anzunehmen. Jedes Land hat mithin sein eigenes Landesrettungsdienstgesetz sowie Landesgesetze zum Brand- und Katastrophenschutz. Auch gibt es ein zuständiges Landesministerium, das die Belange des Rettungsdienstes auf Landesebene ausgestaltet (z. B. das Landesministerium für Arbeit Gesundheit und Soziales in Nordrhein-?Westfahlen).

2.7.1 Gliederung der Länder Die Bundesländer sind in kleine Funktionseinheiten, sog. Kommunen unterteilt. Der Begriff „Kommune“ ist dabei ein Oberbegriff und umfasst Gemeinden (z. B. Städte, Kleinstädte, Orte) und Gemeindeverbände (z. B. Landkreise, Landschaftsverbände). Kommunen sind Körperschaften des öffentlichen Rechts (› Kap. 2.1.1). Sie sind keine „dritte Ebene“ des Föderalismus, sondern Teil der Länderverwaltungen. Selbstverwaltung und Daseinsvorsorge Im Grundgesetz wird den Kommunen das Recht zur Selbstverwaltung gewährleistet (Art 28 Abs. 2 Satz 1 GG). Das bedeutet, jede Kommune regelt alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft selbst. Dies ist ein Ausdruck der Dezentralisierung und soll verhindern, dass zu viel Macht an einer staatlichen Stelle konzentriert wird. Allerdings entstehen so auch verpflichtende Aufgaben für die Kommunen. So ergibt sich aus dem Prinzip der kommunalen Selbstverwaltung in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip die Aufgabe, die Daseinsvorsorge innerhalb der Kommunen sicherzustellen. Kommunale Daseinsvorsorge allgemein meint, der örtlichen Gemeinschaft (also den Gemeindebewohner*innen) Güter und Leistungen zukommen zu lassen, die für ein menschenwürdiges Dasein notwendig sind.

Konkret umfasst das u. a. die Energie- und Wasserversorgung, Abwasser- und Müllentsorgung oder Verkehrsleistungen (ÖPNV). Aber auch die Gewährleistung von Hilfe in Notsituationen – sprich: der Rettungsdienst – ist Teil der kommunalen Daseinsvorsorge. Die (Land-) Kreise und kreisfreien Städte tragen i. d. R. die Verantwortung für die Organisation des Rettungsdienstes. Sie sind in vielen Fällen Träger des Rettungsdienstes. Die Sicherstellung von Brandschutz und Hilfeleistung wird dagegen i. d. R. durch die Gemeinden wahrgenommen. M e rk e Kommunen haben ein Recht zur Selbstverwaltung. Aus dem Prinzip der kommunalen Selbstverwaltung und dem Sozialstaatsprinzip ergibt sich, dass die Kommunen für die Daseinsvorsorge verantwortlich sind. Die Daseinsvorsorge umfasst u. a. die Gewährleistung rettungsdienstlicher Versorgung für alle Kreisbewohner*innen. Folglich obliegt auch die Verantwortung für die Organisation des Rettungsdienstes den Kommunen. Sie sind dabei Träger des Rettungsdienstes. Die Durchführung des Rettungsdienstes kann durch die Träger selbst geschehen oder an andere, nichtstaatliche Leistungserbringer übertragen werden. Wie genau diese „fremden“ Leistungserbringer am Rettungsdienst beteiligt werden können, hängt von der Regelung im jeweiligen Landesrettungsdienstgesetz ab (› Kap. 3.10.3). Städte/Gemeinden Gemeinden und Städte sind räumlich abgegrenzte Gebiete. Als Konkretisierung der Kommune gelten sie als Gebietskörperschaften, also als staatliche Einrichtung. Ob es sich bei dem Gebiet um eine Gemeinde oder eine Stadt handelt, ist von verschiedenen Faktoren abhängig; grob kommt es jedoch v. a. auf die Besiedelungsdichte und Größe des Gebiets an. Die Gemeinde- oder Stadtgebiete sind zwar Teil des Bundeslandes, werden aber eigenständig verwaltet. Somit gibt es auch innerhalb der Gemeinden und Städte Verwaltungsorgane wie die Bürgermeister*in/Oberbürgermeister*in oder den Gemeinderat/Stadtrat. Die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft werden hier auf demokratischer Basis (z. B. durch Gemeinde- und Stadtratswahlen) geregelt. Gemeinden/Städte sind die kleinste Einheit der örtlichen Gemeinschaft. Sie haben ihren eigenen Aufgaben- und Wirkungskreis, der genau an die Bedürfnisse der lokalen Gegebenheiten angepasst ist. (Land-) Kreise/kreisfreie Städte

Ein Landkreis (synonym für Kreis) ist ein Zusammenschluss mehrerer Gemeinden und Städte. Er bildet damit eine eigene Gebietskörperschaft als Zwischenebene zwischen dem Bundesland selbst und den einzelnen Gemeinden/Städten. Hintergrund dabei ist, dass es einfacher ist, einige Angelegenheiten großflächig zu organisieren, als dass jedes kleine Gebiet alles allein regeln muss. Auch können so Unterschiede der Gemeinden (z. B. in der Leistungsfähigkeit) ausgeglichen werden. Für einige Städte ist ein solcher Zusammenschluss nicht notwendig, wenn die jeweilige Stadt alle Angelegenheiten selbst bewältigen kann. Solche Städte, die nicht an eine übergeordnete Gebietskörperschaft angeschlossen sind, nennt man kreisfreie Städte. Der Bereich Rettungsdienst ist sinnvollerweise auf der Ebene eines (Land‑) Kreises organisiert. Der (Land‑) Kreis ist in diesen Fällen Träger des Rettungsdienstes. Kreisfreie Städte tragen den Rettungsdienst stets selbst. M e rk e Träger des Rettungsdienstes sind i. d. R. (Land‑) Kreise und kreisfreie Städte. Eine Ausnahme ist das Bundesland Baden-Württemberg. Regierungsbezirke Regierungsbezirke sind Teil der öffentlichen Verwaltung einiger Bundesländer (nur acht Bundesländer haben Regierungsbezirke). Sie lassen sich über der Ebene der (Land‑) Kreise und kreisfreien Städte einordnen (› Abb. 2.8). Regierungsbezirke übernehmen übergeordnete Verwaltungsaufgaben, die nicht Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft sind (z. B. Umweltangelegenheiten) und die Rechtsaufsicht über die Kommunen im Bundesland. In Bundesländern, in denen es keine Regierungsbezirke gibt, übernehmen die Bundesländer selbst diese Aufsicht.

ABB. 2.8 Kommunaler Aufbau in den Bundesländern [L157]

Verwaltungsbehörden der Länder In den Bundesländern sind für verschiedene Belange eigenständige Verwaltungsbehörden eingerichtet – die sog. Landesbehörden. Hierzu zählen zum einen die Regierungsorgane (z. B. Landesparlament oder Landesministerien), zum anderen aber auch Stellen, die sich um bestimmte Themen (z. B. den Verfassungsschutz oder die Zuwanderung) kümmern. Die Landesbehörden sind hierarchisch aufgebaut und unterstehen stets der jeweils höheren Behörde. Entlang der Hierarchie gibt es folglich die obersten Landesbehörden, die Landesoberbehörden, die Landesmittelbehörden und die unteren Landesbehörden.

2.8 Die Europäische Union Die Europäische Union (EU) ist ein Zusammenschluss europäischer Staaten (Staatenbund). Sie wurde 1993 gegründet, hatte ihre Anfänge jedoch bereits ca. 1950 in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Die ursprüngliche Idee war es, nach dem Zweiten Weltkrieg weitere gewaltsame Konflikte zu verhindern, indem die Wirtschaft der europäischen Staaten verknüpft wird und damit eine Art kriegsverhindernde Abhängigkeit entsteht. Mittlerweile hat sich die EU weiterentwickelt. Während es zu Beginn lediglich sechs Mitgliedstaaten gab, sind es heute 27 Mitgliedstaaten (2023). Der Staatenbund EU hat sich zu einer international bedeutenden Institution entwickelt. Innerhalb der EUStaaten wurden in vielerlei Bereichen einheitliche Standards beschlossen, insb. in Bezug auf die vier EU-Grundfreiheiten Warenverkehrsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit,

Kapitalverkehrsfreiheit und Arbeitnehmerfreizügigkeit. So gibt es europäische Rechtsnormen, die gegenüber nationalem Recht höherrangig sind.

2.8.1 Europäische Verordnungen und Richtlinien EU-Recht ist gegenüber dem nationalen Recht höherrangig. Folglich unterliegt auch das deutsche Recht den EU-Vorgaben. Allerdings regelt das EU-Recht bei weitem nicht alles im Detail und lässt den Mitgliedstaaten durchaus Freiheiten bei der Ausgestaltung. Vorgaben gibt es hauptsächlich zur Einhaltung gewisser Mindeststandards. Zu unterscheiden ist dabei v. a. zwischen europäischen Richtlinien und europäischen Verordnungen. Die Verordnungen wirken unmittelbar als verbindlich geltendes Recht in allen Mitgliedstaaten. Was in einer EU-Verordnung steht, gilt also, ohne dass der einzelne Staat etwas machen muss oder kann. Richtlinien wirken hingegen nur mittelbar. Sie enthalten Vorgaben, die durch die Mitgliedstaaten in nationales Recht umgesetzt werden müssen. Erst das nationale Recht, das aufgrund einer EU-Richtlinie erlassen worden ist, findet dann Geltung im jeweiligen Mitgliedstaat. Durch die Richtlinien kann die EU Standards festlegen und den Mitgliedstaaten dennoch gewisse Freiheiten bei der Umsetzung lassen. Der Unterschied von Verordnungen und Richtlinien ist in › Abb. 2.9 dargestellt. Auch das Gesundheitswesen und der Rettungsdienst sind von europäischen Richtlinien und Verordnungen geprägt. So gibt es z. B. eine Medizinprodukteverordnung, durch welche EU-weit feste Standards in Bezug auf Medizinprodukte gesetzt werden.

ABB. 2.9 Europäische Verordnungen und Richtlinien [L157]

R e c h t in e c h t Auch das NotSanG basiert teilweise auf einer europäischen Richtlinie (2005/36/EG). Die Richtlinie dient dazu, einen Mindeststandard hinsichtlich des Zugangs und Abschlusses einer Berufsausbildung zu bestimmen. Sie sorgt dafür, dass der Beruf der Notfallsanitäter*innen innerhalb der EU anerkannt ist (Arbeitnehmerfreizügigkeit).

2.8.2 Organe der EU Auch die EU ist durch verschiedene funktionelle Organe organisiert. Diese Organisation folgt demokratischen und sozialen Prinzipien. So gibt es z. B. ein Europäisches Parlament, das alle fünf Jahre in der sog. Europawahl von den Bürger*innen aller Mitgliedstaaten demokratisch gewählt wird. Das Europäische Parlament ist zusammen mit dem Rat der Europäischen Union für die Abstimmung und Verabschiedung von EU-Rechtsvorschriften verantwortlich. Im Rat der Europäischen Union werden die Regierungen der Mitgliedstaaten durch deren Minister*innen vertreten. Je nachdem, über welches Thema beraten werden soll, werden die entsprechenden Minister*innen in den Rat der Europäischen Union entsandt. Er wird daher auch häufig als EU-Ministerrat bezeichnet. Dies hat zweifellos auch den Grund, ihn nicht mit dem Europäischen Rat, einem weiteren Organ der EU, zu verwechseln. Der Europäische Rat besteht aus den Regierungschef*innen aller Mitgliedstaaten und berät über allgemeine politische Zielvorstellungen der EU. Er kümmert sich jedoch weder um das Alltagsgeschäft noch um die Rechtsetzung und tagt daher deutlich seltener. Anders als in vielen Staaten kommen im EU-Staatenbund Gesetzesvorschläge nicht vom Parlament, sondern von der Europäischen Kommission. Die Europäische Kommission besteht aus je einem Kommissionsmitglied aus jedem EUStaat.

Quellen: [1] z. B. BGH, Beschl. v. 28.03.2008 – VI ZR 57/07

Gerichtsurteile und Beschlüsse: BGH, Urt. v. 07.02.2011 – VI ZR 269/09 BGH, Beschl. v. 28.03.2008 – VI ZR 57/07

BGH, Urt. v. 14.05.1998 – VII ZR 184/97 Weitere Literatur und Internetquellen: Degenhart, Staatsrecht I. Staatorganisationsrecht. 38. Aufl 2022. Deutscher Bundestag. Wissenschaftlicher Dienst. Kurzinformation Gesetzgebungskompetenz für den Rettungsdienst 2018. Deutscher Bundestag. Wissenschaftlicher Dienst. Organisation der Notfallversorgung in Deutschland unter besonderer Berücksichtigung des Rettungsdienstes und des Ärztlichen Bereitschaftsdienstes 2016. Hensen. Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen. 3. Aufl 2022. Kämmerer. Staatsorganisationsrecht. 4. Aufl 2022. Kingree/Poscher. Grundrechte Staatsrecht II. 38. Aufl 2022. Ipsen. Staatsrecht II Grundrechte. 24. Aufl 2021. Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses. Richtlinie über die Verordnung von Krankenfahrten. Krankentransportleistungen und Rettungsfahrten nach § 92 Absatz 1 Satz 2 Nummer 12 SGB V 2022. https://www.bpb.de (letzter Zugriff: 15. November 2023) https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/anzahl-gesetzerechtsverordnungen-deutschland-antwort-derbundesregierung/ (letzter Zugriff: 15. November 2023) https://www.awmf.org/regelwerk/stufenklassifikationen#c1131 (letzter Zugriff: 15. November 2023) https://www.leitlinien.de/methodik/5-auflage/kapitel-7 (letzter Zugriff: 15. November 2023) https://www.din.de/de (letzter Zugriff: 15. November 2023)

Kapitel 3 Gesundheitssystem André Höhle; David Winkenbach; Frank Sarangi; Frank Flake

Dieses Kapitel gewährt einen Überblick über das Gesundheitssystem mit seinen Strukturen, der Finanzierung und einzelnen Leistungserbringern, mit denen der Rettungsdienst im Rahmen seiner Tätigkeit in Berührung kommt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Gesundheit als „Zustand völligen körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Wohlbefindens“. Vor dem Hintergrund dieser Definition können auch das Lebensmittelrecht, das Recht der sozialen Leistungen oder das Immissionsschutzrecht im weitesten Sinne dem Gesundheitsrecht zugehörig beschrieben werden. Da eine solche Darstellung sehr umfassend wäre, beschränkt sich dieses Kapitel auf die Bereiche des Gesundheitssystems, die Mitarbeitenden im Rettungsdienst bekannt sein sollten. Das heißt, sie kommen entweder mit den Leistungserbringern dieser Bereiche unmittelbar in Berührung, das Wissen ist für die Beratung der Patient*innen von Bedeutung oder es trägt als Hintergrundwissen zur besseren Einordnung der eigenen beruflichen Tätigkeit bei. Zum Hintergrundwissen gehören insb. auch die geschichtlichen Hintergründe sowie grundlegenden Regelungen zur Finanzierung des Gesundheitssystems. Das Gesundheitssystem kann grob in unterschiedliche Bereiche unterteilt werden. Der Bereich Gesundheitsförderung und Prävention befasst sich damit, Krankheiten und Verletzungen gar nicht erst entstehen zu lassen. Kommt es doch zu Krankheiten oder Verletzungen, gewinnt der Bereich der medizinischen Versorgung Bedeutung, diese Versorgung kann sowohl ambulant als auch stationär erfolgen. Vorgelagert sind hier ggf. die Erstversorgung und der Transport durch den Rettungsdienst. Nach einer medizinischen Versorgung können sich noch weitere gesundheitliche

Maßnahmen anschließen. Dies umfasst insb. die Rehabilitation, welche auch ambulant oder stationär erfolgen kann. Sofern die körperlichen Fähigkeiten auch nach einer Rehabilitation nicht wieder so hergestellt werden können, dass ein eigenständiges Leben möglich ist, schließt sich die Pflege an. Dieser Bereich erlangt aufgrund der demografischen Entwicklung immer mehr Bedeutung. D ie s e s K ap it e l s ol l F olge nd e s v e r m it t e ln: • Grundlagen zum deutschen Gesundheitssystem • Grundkenntnisse der Finanzierung des Gesundheitssystems • Strukturen und Finanzierung der ambulanten ärztlichen Versorgung • Strukturen und Finanzierung der stationären ärztlichen Versorgung • Strukturen und Finanzierung der Pflege • Kenntnisse zu den Entscheidungsträgern im Gesundheitssystem • Aufgaben des Rettungsdienstes im Gesundheitssystem • Strukturen und Finanzierung des Rettungsdienstes • Weitere Leistungserbringer und Berufsgruppen des Gesundheitssystems

W ic htige R e c h t s q u e lle n fü r d ie s e s K ap it e l: • Grundgesetz (GG)

https://www.gesetze-im-internet.de/gg/BJNR000010949.html • Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) – Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V)

https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_5/ • Sozialgesetzbuch (SGB) Siebtes Buch (VII) – Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII)

https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_7/ • Krankenhausgesetze der Bundesländer (z. B. das Krankenhausgestaltungsgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen/KHHG NRW)

https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_text_anzeigen? v_id=10000000000000000483 • Rettungsdienstgesetze der Bundesländer (z. B. Rettungsgesetz NRW/RettG NRW)

https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_text_anzeigen? v_id=10000000000000000325

3.1 Grundlagen André Höhle Das Gesundheitssystem, wie wir es heute kennen, hat seine Wurzeln in der Zeit der Industrialisierung. Die Menschen lebten und arbeiteten unter prekären Bedingungen. Krankheiten sowie Verletzungen konnten durch die wenig organisierte medizinische Versorgung nur unzureichend behandelt werden. Dies alles hatte zur Folge, dass die Menschen insb. in den Städten zunehmend verelendeten und unzufrieden wurden, es gründeten sich Arbeiterbewegungen und es kam zu Streiks. Um diese Entwicklung zu stoppen, wurden in den Jahren 1883 (gesetzliche Krankenversicherung), 1884 (gesetzliche Unfallversicherung), 1889 (Rentenversicherung) die sog. Bismarck’schen Sozialgesetze erlassen. Diese sollten die existenziellen Lebensrisiken wie Gesundheit und Alter absichern und führten zur Gründung der gesetzlichen Krankenversicherung, der gesetzlichen Unfallversicherung und der gesetzlichen Rentenversicherung. In diesem Zusammenhang sind wesentliche Prinzipien entwickelt und Strukturen geschaffen worden, die sich noch heute in unserem Gesundheitssystem finden lassen.

3.1.1 Unterschiedliche Systeme weltweit Ein System der gesetzlichen Krankenversicherung, wie es hier in Deutschland existiert, gibt es nicht überall auf der Welt. In vielen Ländern wird die Gesundheitsversorgung aus Steuermitteln finanziert. Ein Beispiel ist der National Health Service (NHS) in Großbritannien.

Andere Länder gehen den gegenteiligen Weg zur Steuerfinanzierung und setzen allein auf private Vorsorge. So ein System der privaten Vorsorge existiert z. B. in den USA oder der Schweiz. Das in Deutschland bestehende System der gesetzlichen Krankenversicherung, bei dem Leistungen aus den Beiträgen der Versicherten gezahlt werden, ist inzwischen auch kein reines Versicherungssystem mehr. Die Beitragszahlungen reichen seit Jahren bei Weitem nicht aus, um die Kosten für die Leistungen zu decken, daher sind erhebliche Zuschüsse aus Steuermitteln erforderlich. Allein im Jahr 2023 betrug dieser Steuerzuschuss ca. 16,5 Mrd. Euro.

3.1.2 Verfassungsrechtliche Grundlagen In der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist in Art. 35 geregelt, „dass jeder Mensch das Recht auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge und auf ärztliche Versorgung nach Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten hat. Bei der Festlegung und Durchführung der Politik und Maßnahmen der Union in allen Bereichen wird ein hohes Gesundheitsschutzniveau sichergestellt“. Eine wichtige Regelung aus dem Grundgesetz im Hinblick auf unser Gesundheitssystem ist das Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 GG (› Kap. 2.3.1). Aus dem Grundsatz der Sozialstaatlichkeit wird eine Verantwortung des Staates für die Gesellschaft insgesamt und jeden Einzelnen abgeleitet. Zu der Verantwortung für den Einzelnen gehört auch die gesundheitliche Versorgung, die gewährleistet sein muss. Diese kann dem Bereich der Daseinsvorsorge zugeordnet werden.

3.1.3 Gesetzliche Grundlage Die gesetzliche Grundlage für unser System der Sozialversicherung findet sich in den Sozialgesetzbüchern (SGB). In diesen werden die wesentlichen sozialen Sicherungssysteme geregelt (› Abb. 3.1). Dies sind • die Krankenversicherung (› Kap. 3.2), • die Unfallversicherung (› Kap. 13.1.1), • die Arbeitslosenversicherung,

• die Rentenversicherung und • die Pflegeversicherung (› Kap. 3.3).

ABB. 3.1 Säulen der sozialen Sicherung (vereinfachte Darstellung) [P1064, L143] Die gesetzliche Krankenversicherung, durch welche ein erheblicher Teil des Gesundheitssystems finanziert wird, ist im SGB V geregelt. Weitere wichtige Sozialgesetzbücher mit Bezug zur Gesundheitsversorgung und Pflege von Menschen sind das SGB VII (gesetzliche Unfallversicherung), das SGB IX (Rehabilitation und Teilhabe) sowie das SGB XI (Pflegeversicherung). Die Gesundheitsversorgung kann in ambulanter Form (› Kap. 3.4) oder stationär (› Kap. 3.5) stattfinden.

3.2 Gesetzliche Krankenversicherung

Die gesetzliche Krankenversicherung bildet die wirtschaftliche Grundlage für die Finanzierung unseres Gesundheitssystems. Auch wenn die Einnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung seit langem nicht mehr ausreichen, um die Kosten für die Leistungen zu decken, deckt diese einen Großteil des Finanzierungsbedarfs ab.

3.2.1 Versicherungsprinzipien In der gesetzlichen Krankenversicherung bestehen die nachfolgend aufgeführten Versicherungsprinzipien, die teilweise bereits auf die Bismarck’schen Sozialgesetze zurückgehen. Versicherungspflichtgrenze Seit dem 1. Januar 2009 ist jeder Mensch mit Wohnsitz in Deutschland verpflichtet, eine Krankenversicherung abzuschließen. Ab einer gewissen Einkommenshöhe entfällt die Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung, und es besteht die Möglichkeit, in die private Krankenversicherung zu wechseln. Diese Einkommensgrenze orientiert sich am Jahresbruttoeinkommen und wird als Versicherungspflichtgrenze bezeichnet, die jährlich neu festgelegt wird. Beitragsbemessungsgrenze Die Höhe der Beitragszahlungen zur gesetzlichen Krankenversicherung orientiert sich am Bruttoeinkommen. Von diesem Einkommen muss ein prozentualer Anteil als Beitrag an die gesetzliche Krankenversicherung gezahlt werden. Dies gilt jedoch nicht für das gesamte Einkommen, sondern nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze, die jährlich angepasst wird. Auf das Einkommen, das über der Beitragsbemessungsgrenze liegt, müssen keine Beiträge gezahlt werden. Ein Argument für das Bestehen einer solchen Beitragsbemessungsgrenze ist, dass alle Versicherten die gleichen Leistungen bekommen. Diejenigen, die deutlich über der Beitragsbemessungsgrenze liegen, müssten – würde es diese Grenze nicht geben – für in Anspruch genommene Leistungen im Verhältnis deutlich mehr zahlen als Versicherte mit geringem Einkommen. Ein Gegenargument ist, dass Menschen mit hohem Einkommen auch entsprechend

ihrer Leistungsfähigkeit zahlen sollten, da „starke Schultern“ mehr tragen müssten, um das Solidarsystem leistungsfähig zu halten. Kontrahierungszwang Aufgrund der Verpflichtung, eine Krankenversicherung abzuschließen, muss auf der anderen Seite auch die Möglichkeit bestehen, eine entsprechende Krankenversicherung zu finden – ohne die Sorge, dass diese keinen Versicherungsvertrag abschließen will. Vor diesem Hintergrund hat der Gesetzgeber einen Kontrahierungszwang eingeführt. Dieser verpflichtet die Krankenversicherungen, jedem Interessenten einen Versicherungsvertrag anzubieten. Solidaritätsprinzip Die gesetzliche Krankenversicherung unterliegt dem Solidaritätsprinzip. Dies bedeutet, alle Versicherten haben vom ersten Tag der Versicherung an einen Anspruch auf die vollen Leistungen, unabhängig davon, wie lange diese bereits eingezahlt haben und wie hoch die jeweiligen Beitragszahlungen sind. Der Anspruch auf Leistungen richtet sich allein nach dem medizinischen Bedarf. Subsidiaritätsprinzip Das Subsidiaritätsprinzip entstammt der katholischen Soziallehre. Subsidiarität bedeutet, dass die kleinste Einheit i. d. R. zunächst für sich selbst verantwortlich ist und die höhere Einheit erst dann einspringt, wenn die kleinere Einheit nicht dazu in der Lage ist. Dies bedeutet, dass jeder Mensch zunächst einmal für sich selbst verantwortlich ist. Ist er dazu nicht in der Lage, springt die nächsthöhere Einheit ein, z. B. die Familie. Ist auch die Familie nicht dazu in der Lage, übernimmt die nächsthöhere Einheit, die Solidargemeinschaft. Der Grundsatz der Eigenverantwortung findet sich auch in der gesetzlichen Krankenversicherung. § 2 Abs. 1 SGB V regelt dazu u. a.: „Die Krankenkassen stellen den Versicherten die […] genannten Leistungen unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots (§ 12) zur Verfügung, soweit diese Leistungen nicht der Eigenverantwortung der Versicherten zugerechnet werden.“ Sachleistungsprinzip

Gesetzlich Versicherte kennen den Ablauf bei Arztbesuchen sehr gut. Jedes neue Quartal wird die Versichertenkarte vor der Behandlung/Versorgung eingelesen. Die gesetzlich Versicherten müssen sich dann hinsichtlich der Abrechnung der ärztlichen Leistungen, mit Ausnahme von zuzahlungspflichtigen Leistungen, um nichts mehr kümmern. Die medizinischen und sonstigen Leistungen werden erbracht und die Abrechnung der Leistungen findet im Hintergrund statt, ohne dass die gesetzlich Versicherten davon etwas mitbekommen. Dieser Ablauf wird Sachleistungsprinzip genannt. Die Versicherten erhalten allein die Sachleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung und kein Geld, um damit etwaige Leistungen selbst zu bezahlen. Paritätsprinzip Das Paritätsprinzip bedeutet, dass die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung von Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen gemeinschaftlich getragen werden. Aktuell teilen sie sich die Beiträge zu jeweils 50 %. Dies betrifft sowohl den Regelbeitrag als auch den Zusatzbeitrag. Pluralitätsprinzip Entsprechend dem Pluralitätsprinzip soll es bei der gesetzlichen Krankenversicherung nicht nur eine einzige „Einheitskasse“ geben, sondern idealerweise eine Vielzahl von Krankenversicherungen. Dies soll zu mehr Wettbewerb führen und damit zu einer Verbesserung der Leistungen für die Versicherten. Die Versicherten haben das Recht, ihre Krankenkasse frei zu wählen.

3.2.2 Leistungen Beim Gedanken an die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung liegen zunächst die Übernahme der Kosten für Heilbehandlungen und Arzneimittel nahe. Darüber hinaus werden von der gesetzlichen Krankenversicherung jedoch eine Vielzahl weiterer Leistungen übernommen. Dazu gehören u. a. • Krankengeld nach Beendigung der Lohnfortzahlung

• Rehabilitationsmaßnahmen nach schwereren Verletzungen oder Erkrankungen • Anschlusspflege nach schweren Verletzungen und Erkrankungen, für einen begrenzten Zeitraum • Ggf. Haushaltshilfe, wenn die Haushaltsführung aufgrund einer Verletzung oder Erkrankung vorübergehend nicht möglich ist • Familienmitglieder sind in der gesetzlichen Krankenversicherung kostenfrei mitversichert. Daher wird bei der gesetzlichen Krankenversicherung auch zwischen Mitgliedern und Versicherten unterschieden. Mitglieder sind diejenigen, die Beiträge zahlen, Versicherte erhalten auch Leistungen, müssen selbst jedoch keine Beiträge zahlen.

3.2.3 Finanzierung Die zuvor beschriebenen Leistungen sind nicht nur sehr umfangreich, sondern im Einzelfall auch sehr teuer. Die Finanzierung des Gesundheitssystems ist seit Jahren ein ungelöstes Problem. Die Kosten steigen schneller als die Einnahmen, die Beiträge der Mitglieder reichen seit langem nicht mehr aus, um die Kosten zu decken. Inzwischen wird ein bedeutender Anteil an Steuermitteln dem System zugeführt, damit dieses leistungsfähig bleibt. Grundlage der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung sind die Beitragszahlungen der Mitglieder. Der Regelbeitrag beträgt derzeit 14,6 % vom Bruttoeinkommen (2023). Aufgrund des Paritätsprinzips wird dieser zwischen Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen jeweils zur Hälfte gezahlt. Zu dem Regelbeitrag gibt es einen von den Krankenkassen jeweils individuell bestimmten Zusatzbeitrag, der ebenfalls jeweils zur Hälfte von Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen gezahlt wird. Dieser liegt im Durchschnitt derzeit bei ca. 1,6 % (2023). Gesundheitsfonds Die Beiträge werden von der Krankenkasse eingezogen und dann direkt an den sog. Gesundheitsfonds weitergeleitet, der vom Bundesversicherungsamt verwaltet wird. Der Gesundheitsfonds ist vereinfacht in › Abb. 3.2 dargestellt.

ABB. 3.2 Gesundheitsfonds und Morbi-RSA (vereinfachte Darstellung) [L157] Aus dem Gesundheitsfond fließt das Geld zurück an die Krankenkassen. Die Verteilung erfolgt entsprechend dem Morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA). Dieser soll einen fairen Wettbewerb zwischen den Krankenkassen ermöglichen, indem diejenigen Krankenkassen mehr Geld bekommen, die aufgrund ihrer Mitgliederstruktur höhere Ausgaben haben. So haben einige Krankenkassen viele junge gesunde Mitglieder und andere mehr ältere Mitglieder mit chronischen Erkrankungen. Dabei werden je Versichertem Zu- und Abschläge je nach Alter, Geschlecht und Erkrankungen vorgenommen und daraufhin ein bestimmter Betrag ausgezahlt. Risikostrukturausgleich Aus dem Gesundheitsfonds werden die Gelder wieder an die einzelnen Krankenkassen gezahlt. Dies erfolgt entsprechend den Vorgaben des Risikostrukturausgleichs (Morbi-RSA). Dieser soll Unterschiede in der Versichertenstruktur der einzelnen Krankenkassen ausgleichen und den Wettbewerb zwischen den Krankenkassen fördern.

3.2.4 Abgrenzung zur privaten Krankenversicherung Gesetzliche und private Krankenversicherung unterscheiden sich in erheblichem Umfang. Ein Wechsel von der gesetzlichen in die private Krankenversicherung ist nur möglich, wenn das Bruttoeinkommen die

Versicherungspflichtgrenze übersteigt. Darüber hinaus haben beihilfeberechtigte Beamt*innen sowie Selbstständige die Möglichkeit, sich in der privaten Krankenversicherung zu versichern. Auch die private Krankenversicherung muss allen Interessenten einen Vertrag ohne Gesundheitsprüfung zu den Basiskonditionen anbieten. Insoweit gilt auch hier der bereits zuvor erläuterte Kontrahierungszwang. Vor der tatsächlichen Versicherung ist die private Krankenversicherung ansonsten jedoch berechtigt, einen Überblick über den Gesundheitszustand der Interessenten anzufordern. Dafür müssen Fragen zur Gesundheit beantwortet werden. Entsprechend diesem Ergebnis kann die private Krankenversicherung dann entscheiden, zu welchen Konditionen sie eine Versicherung anbietet. Dabei ist es auch möglich, dass Leistungen für bestimmte Vorerkrankungen ausgeschlossen werden. Zudem kann die Erbringung von Leistungen in bestimmten Fällen von der Einhaltung einer bestimmten Wartezeit abhängig gemacht werden. Dies ist ein erheblicher Unterschied zur gesetzlichen Krankenversicherung und des dort bestehenden Solidaritätsprinzips. Bei der privaten Krankenversicherung gibt es kein Sachleistungsprinzip. Die erbrachten Leistungen werden den Versicherten in Rechnung gestellt, die diese dann mit der privaten Krankenversicherung abrechnen. Die Abrechnung der Leistungen erfolgt nicht, wie in der gesetzlichen Krankversicherung, anhand eines Punktesystems, mit Deckelungen für Leistungen etc. Sie erfolgt entsprechend der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ). Alle erbrachten Leistungen werden abgerechnet. Dies macht die Behandlung von privat versicherten Patient*innen für Ärzt*innen auch so attraktiv, da sie eine bessere Vergütung erhalten und alle erbrachten Leistungen abrechnen können. Familienmitglieder sind in der privaten Krankenversicherung nicht kostenfrei mitversichert. Sie müssen zusätzlich versichert werden.

3.3 Gesetzliche Pflegeversicherung Die gesetzliche Pflegeversicherung existiert seit dem 1. Januar 1995. Sie ist ein eigenständiger Zweig der Sozialversicherung und erlangt zunehmende Bedeutung im System der sozialen Sicherung. Alle gesetzlich krankenversicherten Personen sind automatisch in der gesetzlichen

Pflegeversicherung versichert, privat Versicherte müssen eine private Pflegeversicherung abschließen. Die Finanzierung der Pflegeversicherung erfolgt durch Beitragszahlungen, die überwiegend paritätisch von Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen geleistet werden. Kinderlose müssen einen höheren Beitrag zahlen, dieser höhere Anteil muss komplett allein bezahlt werden. Die Aufgabe der Pflegeversicherung ist es, die soziale und pflegerische Versorgung der Versicherten sicherzustellen, wenn diese dauerhaft in ihrer Selbstständigkeit eingeschränkt sind. Dauerhaft ist eine Einschränkung i. d. R., wenn sie (voraussichtlich) länger als sechs Monate besteht. Kurzfristige Erkrankungen oder zwischenzeitliche Einschränkungen der Selbstständigkeit gehören grds. nicht zum Aufgabenbereich der Pflegeversicherung; vielmehr ist dies der Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung (› Kap. 3.2). Die Leistungen aus der Pflegeversicherung sind vielfältig und hängen von der individuellen Situation der pflegebedürftigen Person ab (vgl. › Kap. 3.6.2). So gibt es unterschiedliche Leistungen abhängig vom Pflegegrad, von der Pflegedauer oder der Pflegeart (ambulant oder stationär). Pflege wird i. d. R. als Sachleistung gewährt. Im Fall der Pflege durch Angehörige ist es möglich, dass pflegebedürftige Personen Pflegegeld erhalten. Auch Kombinationsleistungen aus Sachleistungen und Pflegegeld sind möglich. Organisatorisch ist die gesetzliche Pflegeversicherung an die Krankenversicherung angegliedert, diese übernimmt auch den Einzug der Beiträge.

3.4 Ambulante Versorgung Die ambulante Versorgung im Rahmen des Gesundheitssystems besteht insb. aus • der ambulanten ärztlichen Versorgung (› Kap. 3.4.1), • der ambulanten Pflege (› Kap. 3.4.2), • der ambulanten Rehabilitation (› Kap. 3.4.3), • der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung (› Kap. 3.4.4),

• und ggf. der Versorgung durch Gemeindenotfallsanitäter*innen (› Kap. 3.4.5). Daneben stellen auch spezielle Bereiche, z. B. die zahnärztliche Versorgung, Apotheken und spezifische ambulante Therapieangebote, wichtige Komponenten im Gesundheitssystem dar, auf die an dieser Stelle jedoch nicht näher eingegangen werden soll.

3.4.1 Ambulante ärztliche Versorgung Die ambulante ärztliche Versorgung wird durch niedergelassene Ärzt*innen erbracht. Dabei gibt es auf der einen Seite die klassischen hausärztlichen Praxen, auf der anderen Seite die Versorgung durch Fachärzt*innen. Die Zahl der niedergelassenen Ärzt*innen nimmt seit Jahren ab. Dies ist auf unterschiedliche Gründe zurückzuführen. Eine Rolle spielen dabei z. B. die Belastungen sowie das unternehmerische Risiko, wenn man sich für die Neugründung oder Übernahme einer Praxis entscheidet. Die abnehmende Zahl von niedergelassenen Ärzt*innen hat dabei auch direkte Auswirkungen auf den Rettungsdienst. Gerade in ländlichen Regionen ist in manchen Orten inzwischen keine Hausarztpraxis mehr zu finden. Dies hat zur Folge, dass die Einsätze für den Rettungsdienst zunehmen. Einerseits begeben sich Menschen, die in diesen Regionen leben, bei gesundheitlichen Problemen nicht rechtzeitig in ärztliche Behandlung. Das kann wiederum dazu führen, dass anfänglich noch gut behandelbare Krankheiten mit der Zeit schwerwiegender und dann zu Notfällen für den Rettungsdienst werden können. Auf der anderen Seite kann der Mangel an Ärzt*innen in ländlichen Regionen dazu führen, dass Menschen, die wenig mobil sind, auch bei geringfügigen Erkrankungen den Rettungsdienst in Anspruch nehmen, um von diesem zu einer ärztlichen Behandlungseinrichtung transportiert zu werden. Organisation Die Organisation der ambulanten ärztlichen Versorgung obliegt den niedergelassenen Ärzt*innen selbst. Sie werden Mitglieder in der für sie zuständigen kassenärztlichen Vereinigung. Diese übernimmt in diesem Zusammenhang viele Aufgaben für die niedergelassenen Ärzt*innen. Derzeit gibt

es in Deutschland 17 kassenärztliche Vereinigungen, eine je Bundesland, mit Ausnahme von NRW, dort gibt es zwei. Sicherstellungsauftrag Eine der wichtigsten Aufgaben der kassenärztlichen Vereinigung ist der Sicherstellungsauftrag für die ambulante ärztliche Versorgung in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich (§ 75 SGB V). Konkret bedeutet dies, dass eine angemessene und zeitnahe Zurverfügungstellung vertragsärztlicher Leistungen sichergestellt sein muss. Dies wird dadurch verwirklicht, dass für das Zuständigkeitsgebiet eine Bedarfsplanung durchgeführt wird. Mit dieser wird ermittelt, wie viele niedergelassene Ärzt*innen im jeweiligen Planungsbereich erforderlich sind. Hierbei sind eine Vielzahl von Faktoren relevant, u. a. die Bevölkerungszahl, die Bevölkerungsentwicklung, die Altersstruktur, bestehende Versorgungseinrichtungen sowie -möglichkeiten u. v. m. Wird im Rahmen der Bedarfsplanung eine Überversorgung festgestellt, können Zulassungsstopps beschlossen werden. Im Falle einer Unterversorgung können Neuzulassungen durch verschiedene Anreize gefördert werden. Neben dem Sicherstellungsauftrag übernehmen die kassenärztlichen Vereinigungen gegenüber den Krankenkassen auch die Gewähr dafür, dass die kassenärztliche Versorgung den gesetzlichen und vertraglichen Voraussetzungen entspricht. Darüber hinaus übernehmen sie die Vertretung der berufspolitischen Interessen der niedergelassenen Ärzt*innen. Kassenärztlicher Notdienst (ÄBD) Frank Sarangi, David Winkenbach Zum Sicherstellungsauftrag gehört auch die Versorgung außerhalb der Sprechstundenzeiten. Für diese Zeiten muss ein entsprechender Notdienst eingerichtet werden. Der kassenärztliche Notdienst, auch Ärztlicher Bereitschaftsdienst (ÄBD), kann unterschiedlich ausgestaltet sein, möglich sind Notdienstpraxen oder auch mobile Ärzt*innen, die zu den Patient*innen fahren. Erreichbar ist der kassenärztliche Notdienst über die bundeseinheitliche Rufnummer 116 117. Wo diese Anrufe angenommen werden, ist unterschiedlich

geregelt. Teilweise sind dafür lokale Call Center eingerichtet worden, teilweise werden die Anrufe auch von den zuständigen Rettungsleitstellen bearbeitet. Dies umfasst seit dem 31. März 2022 auch die Verpflichtung, im Rahmen des Notdienstes zusätzlich telemedizinische Leistungen zur Verfügung zu stellen. Es soll angestrebt werden, den Notdienst durch Kooperationen mit örtlichen Krankenhäusern durchzuführen, dies können z. B. Notfallpraxen sein, die räumlich an Krankenhäuser angebunden sind. Eine solche Kooperation kann auch für die zu erbringenden telemedizinischen Leistungen erbracht werden. Der Rettungsdienst kommt oftmals dann mit dem kassenärztlichen Notdienst in Berührung, wenn dieser den Rettungsdienst für einen Notfall oder eine Krankenhauseinweisung nachfordert. In diesen Fällen findet dann teilweise eine Patientenübergabe vor Ort statt oder der Rettungsdienst findet die bei den Patient*innen belassenen Einweisungspapiere vor. In der Praxis kommt es vor, dass der kassenärztliche Notdienst und der öffentlich-rechtlich organisierte Rettungsdienst zusammenwirken. Dies kann dann der Fall sein, wenn der kassenärztliche Notdienst vor Ort feststellt, dass es sich um einen akuten Notfall handelt, der unverzüglich einer rettungsdienstlichen Betreuung und ggf. notärztlichen Versorgung bedarf. Wenngleich hier ein Zusammenwirken stattfindet, bleiben die entsprechenden (haftungsrechtlichen) Verantwortungsbereiche strikt getrennt. Fehler im Zusammenhang mit der Behandlung durch den kassenärztlichen Notdienst richten sich weiterhin nach den klassischen und anerkannten Grundsätzen der Arzthaftung. Fehler im Zusammenhang mit dem Rettungsdienst richten sich nach allgemeinen Amtshaftungsgrundsätzen. Haftbar wäre daher nur der öffentlich-rechtliche Träger des Notarzt- und Rettungsdienstes (› Kap. 2.7.1). Gerade in diesem Kontext ist darauf hinzuweisen, dass der kassenärztliche Notdienst gegenüber dem Rettungsdienst (solange keine Notärzt*in vor Ort ist) zunächst einmal auch in medizinischen Dingen weisungsbefugt ist. Diese Weisungsbefugnis endet immer dann, wenn der Rettungsdienst feststellt, dass die konkrete Weisung medizinisch falsch ist (Bsp.: Der ÄBD ordnet die Applikation von Metoprolol an, obwohl die Herzfrequenz im Monitoring 50 beträgt). Die Besatzung eines Rettungswagens ist nicht verpflichtet, eine

offenkundig falsche medizinische Weisung durchzuführen. Gleiches gilt, wenn etwa durch den kassenärztlichen Notdienst ein falsches Rettungsmittel angefordert wird. Wird also etwa ein KTW bestellt und stellt sich vor Ort heraus, dass andere Rettungsmittel notwendig sind, so ist das Personal des KTW unzweifelhaft berechtigt (und verpflichtet), hier die erforderlichen Rettungsmittel anzufordern. Anderslautende Weisungen des kassenärztlichen Notdienstes sind unerheblich und müssen nicht beachtet werden. Gibt es in einem solchen Einsatzgeschehen Unstimmigkeiten bzgl. der Frage, wer denn nun entscheidet und für die Patient*in zuständig ist, gilt als Faustformel: Sobald eine Patient*in durch den Rettungsdienst übernommen wurde, liegt die medizinische Verantwortlichkeit beim Rettungsdienst. R e cht in e c h t (Fall 3.1) An einem Samstagnachmittag fordert der kassenärztliche Notdienst von der Rettungsleitstelle einen KTW an. Auf Nachfrage der Disponentin erklärt der anwesende Arzt, dass sich der Patient nicht gut fühle und eine Abklärung stationär erforderlich sei. Weitere Informationen werden nicht ausgetauscht. Vor Ort stellt die Besatzung des KTW fest, dass der Patient Symptome eines Herzinfarkts angibt. Nach Anlage des EKG und sichtbaren Hebungen in den Ableitungen II, III und aVF wird dieser Verdacht bestätigt. Die KTW-Besatzung kommuniziert dies gegenüber dem anwesenden Arzt und erklärt, dass sie nun einen RTW und ein NEF nachfordern werden. Der anwesende Arzt untersagt der Besatzung dies und besteht darauf, nun endlich zu transportieren. In diesem Fall ist es eindeutig, dass die Weisung des anwesenden Arztes falsch und damit rechtlich unerheblich ist. Der Rettungsdienst ist niemals verpflichtet, eine erkennbare falsche medizinische Weisung umzusetzen, wenn klar ist, dass hierdurch ein potenzieller Patientenschaden entstehen kann. Sofern der kassenärztliche Notdienst anbietet, den Transport zu begleiten, so ist dieses erst einmal grds. zulässig. Die Rettungsdienstgesetze der Länder sehen zwar durchweg vor, dass die ärztliche Tätigkeit im Rettungsdienst der originären Notärzt*in vorbehalten ist. Bietet der kassenärztliche Notdienst die Begleitung

an und ist für die Besatzung des Rettungsmittels erkennbar, dass dieser fachlich in der Lage ist, den Transport auch tatsächlich zu begleiten, so wäre ein solches Vorgehen zulässig. Bestehen Zweifel an der fachlichen Geeignetheit, so darf der Rettungsdienst die originäre Notärzt*in nachfordern und die Begleitung verweigern. Sind schwere fachliche Defizite erkennbar und ist ersichtlich, dass die Transportbegleitung medizinisch unvertretbar ist, so ist der Rettungsdienst sogar verpflichtet, diese abzulehnen. Pr axis tip p Es ist grds. zu beachten, dass die originären Notärzt*innen im Hinblick auf Notfalleinsätze generell, die jeweiligen Rettungsmittel, Geräte und Notfallmedikamente speziell geschult und ggf. sogar erfahren sind. Besteht also eine dringende Notarztindikation, so ist es ratsam, die originäre Notärzt*in als geeignete Fachperson nachzufordern. Strukturen der ambulanten ärztlichen Versorgung Wie bereits erläutert finden sich im System der ambulanten ärztlichen Versorgung sowohl Hausärzt*innen als auch Fachärzt*innen. Erster Anlaufpunkt für Patient*innen soll die hausärztliche Praxis sein, die bei Bedarf eine Überweisung an eine Facharztpraxis verordnet. Fachärzt*innen können in verschiedenen Bereichen tätig sein (z. B. Haut, Kardiologie, Orthopädie u. v. m.). Im System der ambulanten ärztlichen Versorgung finden sich auch viele unterschiedliche Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Es gibt Einzelpraxen, Gemeinschaftspraxen, Praxisgemeinschaften, Apparategemeinschaften und Praxiskliniken. Eine immer weiter Verbreitung findende Form der Zusammenarbeit ist das Medizinische Versorgungszentrum (MVZ). In einem MVZ arbeiten mehrere Ärzt*innen in oft großflächigen Räumlichkeiten zusammen. Sie sind dort nicht selbstständig tätig, sondern Angestellte. In MVZ können einzelne oder mehrere Fachrichtungen abgedeckt werden. Im Hinblick auf Work-Life-Balance handelt es sich um eine derzeit beliebte Form der ärztlichen Tätigkeit, mit weitestgehend festen Arbeitszeiten. Angestellte Ärzt*innen in MVZ müssen keine Investitionen in die eigene Praxis tätigen und sich auch nicht um die

entsprechenden Abläufe wie Bestellungen und administrative Tätigkeiten kümmern. Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass MVZ in Zukunft noch weiter verbreitet entstehen und auftreten. Finanzierung André Höhle Die Finanzierung der ambulanten ärztlichen Versorgung findet auf zweierlei Arten statt. Bei der privatärztlichen Versorgung durch private Praxen wird nach der GOÄ direkt mit den Patient*innen abgerechnet. Die Ärzt*innen mit einer Kassenzulassung werden Mitglieder der für ihren Bereich zuständigen kassenärztlichen Vereinigung. Diese übernimmt die Abrechnung der ärztlichen Leistungen mit den gesetzlichen Krankenkassen. Die Abrechnung erfolgt dabei über den einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM). In diesem wird festgelegt, welche Leistungen von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen werden und wie diese vergütet werden. Grundlage der Vergütung ist ein Punktesystem, welches die ärztlichen Leistungen als Pauschalen abbildet. Dabei wird versucht, verschiedene Anreize abzubilden, um Fehlanreize zu minimieren und eine bedarfsgerechte Behandlung zu gewährleisten. Im Detail handelt es sich um ein sehr komplexes und detailliertes Abrechnungssystem. Die nachstehende Grafik (› Abb. 3.3) soll einen vereinfachten Überblick über das Gesamtsystem der Vergütung schaffen.

ABB. 3.3 Abrechnung ambulante ärztliche Versorgung [L157]

3.4.2 Ambulante Pflege Ambulante Pflege beschreibt die Alten- und Krankenpflege dauerhaft pflegebedürftiger Menschen außerhalb von speziellen Pflegeeinrichtungen. Die pflegerischen Maßnahmen werden dabei bei den Patient*innen zu Hause erbracht. Dies erfolgt i. d. R. durch Angehörige oder ambulante Pflegedienste, welche die Pflegebedürftigen in regelmäßigen Abständen besuchen und die notwendigen Pflegemaßnahmen durchführen. Näheres zur Pflege allgemein findet sich in › Kap. 3.6, weitere Ausführungen konkret zur ambulanten Pflege in › Kap. 3.6.3.

3.4.3 Ambulante Rehabilitation Bei der ambulanten Rehabilitation werden die Maßnahmen der Rehabilitation wohnortnah angeboten, sodass die Patient*innen ihr gewohntes Umfeld nicht oder nur geringfügig verlassen müssen. Dazu werden i. d. R. regelmäßig Rehabilitationseinrichtungen aufgesucht, in denen die Patient*innen eine gezielte Behandlung erhalten (z. B. Physiotherapie-Praxen). In einigen Fällen werden auch Behandlungen zu Hause bzw. in Pflegeeinrichtungen angeboten. Näheres zur Rehabilitation allgemein findet sich in › Kap. 3.7.

3.4.4 Ambulante psychotherapeutische Versorgung

Psychische Erkrankungen nehmen immer mehr zu. Die ambulante psychotherapeutische Versorgung wird durch ärztliche und psychologische Psychotherapeut*innen wahrgenommen. Hinzu kommen Fachärzt*innen für Psychiatrie, Psychotherapie, Nervenheilkunde sowie für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Der Zugang zu diesen Leistungen erfolgt i. d. R. durch eine Überweisung der Hausärzt*in. Auch psychiatrische Institutsambulanzen nehmen an der Versorgung teil. Die Wartezeiten auf einen Therapieplatz sind oftmals sehr lang. Die gesetzliche Krankenversicherung übernimmt die Behandlungskosten nur unter bestimmten Voraussetzungen: • Anwendung wissenschaftlich anerkannter Verfahren, z. B. Psychoanalyse, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, Verhaltenstherapie, neuropsychologische Therapie etc. • Die Psychotherapeut*innen müssen über eine Approbation verfügen und zur kassenärztlichen Versorgung zugelassen sein. • Psychotherapie ist eine antragspflichtige Leistung. Nach Probesitzungen und Diagnosestellung muss ein Antrag bei der Krankenkasse zur Bewilligung weiterer Sitzungen gestellt werden. Neben ärztlichen Leistungen gibt es noch eine Vielzahl weiterer Hilfsangebote für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Hierzu gehören verschiedene Beratungsangebote von sozialen Verbänden, Angebote von örtlichen Gesundheitsämtern und daran angeschlossene sozialpsychiatrische Beratungs- und Hilfsangebote sowie von Betroffenen organisierte Selbsthilfegruppen. Pr axis tip p Idealerweise kennt das Rettungsdienstpersonal die lokalen Strukturen und Angebote für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Umgesetzt werden kann dies z. B. dadurch, dass auf den Rettungsmitteln ein Ordner o. Ä. mitgeführt wird, in dem sich aktuelle Übersichten und ggf. Flyer zu speziellen Angeboten vor Ort finden. So können Patient*innen, bei denen eine stationäre Behandlung nicht indiziert ist, über Hilfsangebote vor Ort informiert werden.

3.4.5 Gemeindenotfallsanitäter*innen Frank Flake Bei Gemeindenotfallsanitäter*innen handelt es sich um speziell weitergebildete Notfallsanitäter*innen, die über ein zusätzliches Rettungsmittel bestimmte Einsatzkategorien des Rettungsdienstes abfangen sollen. Der Begriff Gemeindenotfallsanitäter*in (G-NFS) leitet sich ab aus der amerikanischen Bezeichnung der „Community Paramedic“, die ein ähnliches Aufgabenfeld aufweist. Die Aufgabe dieser speziell geschulten G-NFS besteht darin, Einsätze abzuarbeiten, bei denen nach einer strukturierten Notrufabfrage (SNA) durch die Einsatzleitstelle keine Notfall- bzw. Transportindikation zu bestehen scheint. Die Notfall- bzw. Transportindikation orientiert sich vielfach anhand des NACAScores, einem international etablierten Scoring-System, das anhand von sieben Stufen die Erkrankungs- und Verletzungsschwere von Patient*innen in der Präklinik beschreibt. Einsätze, die als NACA 1–2 und als ambulant behandelbar eingestuft werden, bieten sich als Einsatzindikation für G-NFS an. Bei Einsätzen ohne erwartbare Transportindikation dienen G-NFS als „medizinische Wegweiser“ für die Patient*innen, geben Hilfestellung zur Selbstmedikation und können eigenständig erforderliche Maßnahmen ergreifen. Diese sind jeweils durch die ärztlichen Leiter*innen in Form von SOP (› Kap. 4.2.4) autorisiert. Zudem können die G-NFS den Kontakt zur weiteren (ärztlichen) Versorgung herstellen und im Falle eines notwendigen Transportes entscheiden, welches Rettungsmittel eingesetzt werden muss. Rechtlich abgesichert werden die G-NFS durch die Beteiligung der ärztlichen Leiter*innen und die Integration in das Rettungsdienstsystem des jeweiligen Rettungsdienstträgers (› Kap. 2.7.1). Aufgrund ihrer Ausrüstung und Ausstattung können G-NFS auch Notfälle mit unmittelbarer Lebensbedrohung abarbeiten, z. B. als nächstgelegenes Einsatzmittel (First Responder) oder als zusätzliche Unterstützung für ein anderes Einsatzmittel. Sollte es sich also bei einem als NACA 1–2 eingeschätzten Einsatz doch um einen Notfall handeln, markieren die G-NFS die Hilfsfrist und erhöhen damit die Rechtssicherheit der Disponent*innen in der Leitstelle.

Bei der Aus-/Weiterbildung zum G-NFS handelt es sich um eine dreimonatige Schulung, in der Inhalte vermittelt werden, die nicht Bestandteil einer Ausbildung zur Notfallsanitäter*in sind. Die Weiterbildung beinhaltet vier Wochen theoretischen Unterricht. Inhalte sind u. a. spezielle Kommunikation, Schnittstellen, chronische Erkrankungen und pharmakologische Therapie. In insgesamt acht Wochen verschiedener Hospitationen werden Kompetenzen in unterschiedlichen Bereichen wie z. B. Allgemeinmedizin, kinderärztliche Praxis, Urologie gesammelt. Innerhalb der Sektoren des Gesundheitssystems stehen die G-NFS zwischen den ambulanten Bereichen, der Klinik und dem Rettungsdienst und dienen allen Sektoren zur Entlastung. Dadurch, dass derzeit ca. 70 % der Patient*innen, die von G-NFS besucht werden, in häuslicher Umgebung belassen werden können, führt dies zu einer Entlastung des Gesundheitssystems. Das derzeitige Grundproblem besteht in der Tatsache, dass kaum noch Ressourcen im ambulanten Sektor (Hausarzt, Facharzt), aber auch im klinischen Sektor (Notaufnahme) vorhanden sind. Die Patient*innen bedürfen aber in irgendeiner Form einer Hilfe und wenden sich dazu oftmals an die 112. Das Zurückverweisen in den ambulanten Sektor funktioniert aufgrund der fehlenden Ressourcen nicht. Um dennoch Hilfe anzubieten, wird in den meisten Bereichen Deutschlands ein RTW oder anderes Rettungsmittel entsendet. Diese fehlerhafte Zuordnung führt zur Überlastung des Systems Rettungsdienst. Da der Rettungsdienst diese Patient*innen regelhaft nicht ambulant versorgen kann (z. T. auch aufgrund einer Transportpflicht), werden sie in Kliniken transportiert. Dies führt hier wiederum zur Belastung und verursacht weitere Kosten für das Gesundheitssystem, die nicht immer notwendig sind. Mit den G-NFS besteht die Möglichkeit der niedrigschwelligen Versorgung und Behandlung, womit alle Sektoren entlastet werden. Nach den ersten Anfängen in Niedersachsen übernehmen mittlerweile viele Bundesländer und Kommunen die Idee eines solchen Konzeptes. Es ist zu erwarten, dass G-NFS oder ähnliche Systeme in den kommenden Jahren zum Standard in der außerklinischen Versorgung werden.

3.5 Stationäre Versorgung

André Höhle Die stationäre Versorgung im Rahmen des Gesundheitssystems wird insb. durch • Krankenhäuser (› Kap. 3.5.1), • stationäre Pflegeeinrichtungen (› Kap. 3.5.2) und • stationäre Rehabilitationseinrichtungen wahrgenommen (› Kap. 3.5.3).

3.5.1 Krankenhäuser Krankenhäuser sind im Rahmen des Gesundheitssystems für die stationäre (akut)medizinische Versorgung zuständig. Gerade mit Krankenhäusern kommt der Rettungsdienst im Rahmen seiner Tätigkeit regelmäßig in Kontakt. Struktur und Organisation Die Gestaltung der Krankenhausstruktur ist Angelegenheit der Bundesländer. Diese haben einen Sicherstellungsauftrag für die patienten- und bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung mit Krankenhäusern. Krankenhäuser selbst können unterschiedliche Träger haben. Dabei handelt es sich um kommunale Krankenhäuser, freie gemeinnützige Träger, private Träger und die Länder als Träger von Krankenhäusern. Im Rahmen der Durchführung des Sicherstellungsauftrags werden von den Bundesländern Krankenhauspläne aufgestellt und fortgeschrieben. Die Bedarfsplanung hat zum Ziel, eine ortsnahe, bedarfsgerechte, leistungsfähige, qualitativ hochwertige und wirtschaftliche Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. In dem Krankenhausplan werden dann u. a. das Versorgungsgebiet, der Versorgungsauftrag nach Leistungsgruppen und Leistungsbereichen, die Versorgungskapazität und die Ausbildungsstätten beschrieben. Für die Krankenhäuser ist die Aufnahme in den Krankenhausplan eines Bundeslandes von entscheidender Bedeutung, diese ist die Grundlage dafür, Leistungen mit der gesetzlichen Krankenversicherung abrechnen zu können. Auf der anderen Seite entstehen mit der Zulassung auch Pflichten für die Krankenhäuser. Diese werden durch die Zulassung verpflichtet, die im

entsprechenden Zulassungsbescheid definierten Leistungen anzubieten und alle Patient*innen entsprechend zu versorgen. Bei der Versorgung haben Notfallpatient*innen Vorrang vor anderen Patient*innen. Eine wichtige Institution in Krankenhäusern stellt auch ein sozialer Dienst dar. Dieser hat die Aufgabe, Patient*innen in sozialen Fragen zu beraten und soziale Hilfen zu vermitteln. Dies kann auch Patient*innen betreffen, die vom Rettungsdienst in die Krankenhäuser gebracht werden, die von zu Hause abgeholt wurden, aufgrund ihres Zustands jedoch Probleme haben, ihr Leben selbstständig zu gestalten. Gesetzlich gefordert wird in vielen Ländern auch eine patientenorientierte Zusammenarbeit, z. B. § 8 KHGG NRW. Dazu wird geregelt, dass eine Verpflichtung der Krankenhäuser besteht, im Interesse der Patient*innen mit anderen Organisationen und Leistungserbringern patientenorientiert zusammenzuarbeiten. Die Verpflichtung zur Zusammenarbeit umfasst auch die gegenseitige Versorgung mit wichtigen Informationen, z. B. über die Auslastung etc. Diese Verpflichtung wird teilweise noch weiter gesetzlich konkretisiert, z. B. durch § 10 KHGG NRW. Dort wird geregelt, dass den Leitstellen der Rettungsdienste die nach Leistungsbereichen und Leistungsgruppen gegliederten freien Behandlungskapazitäten gemeldet werden müssen. Darüber hinaus sind Krankenhäuser verpflichtet, an der Bewältigung von Großeinsatzlagen mitzuwirken, indem entsprechende Einsatz- und Alarmpläne vorgehalten werden. Dies umfasst auch die Pflicht zur Bevorratung mit Arzneimitteln und anderen Sachmitteln. Die Struktur der Krankenhausversorgung hat auch wieder unmittelbare Auswirkungen auf den Rettungsdienst. Seit Jahren nimmt die Anzahl der Krankenhäuser ab, insb. kleinere Häuser und Standorte sind geschlossen worden. Dies führt für den Rettungsdienst zu längeren Einsatzzeiten. Sind die einzelnen Rettungsmittel länger gebunden, kann dies zu der Entscheidung führen, die Vorhaltung von Rettungsmitteln weiter zu erhöhen. Darüber hinaus streben immer mehr Krankenhäuser Spezialisierungen an. Fachabteilungen an einzelnen Standorten werden ganz geschlossen und an anderen Standorten konzentriert. Auch dies führt zu längeren Einsatzzeiten für

den Rettungsdienst, mit entsprechenden, zuvor beschriebenen Folgen. Zudem erhöht sich dadurch die Zahl der Sekundärtransporte zwischen den Kliniken, dies betrifft auch zunehmend Intensivpatient*innen. Die Folge ist, dass immer mehr Rettungsdienstträger spezielle Fahrzeuge für den Transport von Intensivpatient*innen vorhalten. Krankenhäuser bieten verschiedene Versorgungsstufen an. Diese sind in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich definiert und richten sich teilweise nach der Anzahl der Betten und/oder den vorgehaltenen Fachabteilungen. Grob unterschieden werden können Grundversorgung, Regelversorgung, Schwerpunktversorgung und Maximalversorgung. Für den Rettungsdienst ist es wichtig, die Patient*innen in ein für sie geeignetes Krankenhaus zu transportieren. Der Transport einer Patient*in in ein nicht geeignetes Krankenhaus kann einen Behandlungsfehler darstellen (› Kap. 6.3.4). Finanzierung Die Finanzierung von Krankenhäusern beruht auf zwei Säulen. Für Investitionen (Neubauten, Umbauten und Erweiterungsbauten) sind die Bundesländer zuständig. Die Betriebskosten sollen durch Benutzerentgelte gedeckt werden. Die Finanzierung durch Benutzerentgelte ist sehr komplex und unterliegt derzeit einem Wandel. Das bestehende System der Fallpauschalen (DRG-System) ist in den letzten Jahren erheblich in Kritik geraten. Eigentlich sollte dieses System die Leistungen verbessern und Anreize für Spezialisierungen setzen bzw. Fehlanreize wie z. B. lange Liegezeiten verringern. Der Fokus auf wirtschaftliche Parameter hat jedoch auch wieder zu Fehlentwicklungen geführt, die aktuell korrigiert werden sollen. Mit der Schaffung des DRG-Systems wurde nicht etwas grundlegend Neues geschaffen, Fallpauschalen gab es bereits in einigen Ländern. Vorbild für das DRG-System in Deutschland war das System aus Australien. Grundsatz der Fallpauschalen ist: „Gleicher Preis für gleiche Leistung.“ Kriterien für die Zusammensetzung einer Fallpauschale sind u. a. die Hauptdiagnose, die Behandlung und der Schweregrad.

Zuständig für die Erstellung der Fallpauschalen ist das Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK), von diesem werden bestehende Fallpauschalen auch regelmäßig aktualisiert. Aufgrund der aktuellen politischen Diskussion ist zu erwarten, dass sich die Finanzierung der Krankenhäuser in den nächsten Jahren erheblich verändern wird. Wie genau die Ausgestaltung sein wird, ist abhängig von den politischen Mehrheiten. Zuletzt vorgenommene Veränderungen am bestehenden Vergütungssystem haben z. B. bereits dazu geführt, dass der Pflege, durch die Schaffung einer Pflegebudgets, im Rahmen der Vergütung ein höherer Stellenwert eingeräumt wird.

3.5.2 Stationäre Pflege Die stationäre Pflege ist zum einen wesentlicher Bestandteil der (akut)medizinischen Versorgung in Krankenhäusern, zum anderen gibt es spezielle Pflegeeinrichtungen, deren Aufgabe die Versorgung von Menschen mit dauerhafter Pflegebedürftigkeit ist (› Kap. 3.6.2). Während in Pflegeeinrichtungen der Schwerpunkt auf der Pflege im Alltag liegt, befasst sich die (Kranken-)Pflege in Krankenhäusern i. d. R. mit der medizinischen Versorgung erkrankter Menschen. Dementsprechend werden die Patient*innen in Krankenhäusern grds. nur für einen beschränkten Zeitraum versorgt, während stationäre Pflegeeinrichtungen die Patient*innen oftmals dauerhaft betreuen. Näheres zur Pflege allgemein findet sich in › Kap. 3.6, weitere Ausführungen konkret zur stationären Pflege in › Kap. 3.6.4.

3.5.3 Stationäre Rehabilitation Stationäre Rehabilitationseinrichtungen dienen der Rehabilitation in besonders intensiver Form. In speziellen Einrichtungen (z. B. sog. Rehakliniken) wohnen die Patient*innen während der gesamten Behandlung und erhalten eine umfangreiche Versorgung. Häufig sind die Einrichtungen auf besondere Fachbereiche spezialisiert (z. B. geriatrische oder neurologische Rehabilitation). Daneben finden mitunter auch in Krankenhäusern Rehabilitationsmaßnahmen bei stationär aufgenommenen Patient*innen statt

(insb. Physiotherapie). Näheres zur Rehabilitation allgemein findet sich in › Kap. 3.7.

3.6 Pflege David Winkenbach Die Pflege ist ein wesentlicher Bestandteil des Gesundheitssystems und i. R. d. sozialstaatlichen Daseinsvorsorge Teil der ambulanten sowie stationären Versorgung (› Kap. 3.4, › Kap. 3.5). Das in der Pflege tätige Fachpersonal macht mit Abstand den größten Teil aller Beschäftigten in der Gesundheitswirtschaft aus. Dies und die stetig ansteigende Anzahl der pflegebedürftigen Menschen unterstreichen die Bedeutung und die Rolle der Pflege im Gesamtsystem.

3.6.1 Aufgaben und Strukturen Pflege lässt sich als die eigenverantwortliche Versorgung und Betreuung von Menschen aller Altersgruppen sowie von Familien, Lebensgemeinschaften, Gruppen und sozialen Gemeinschaften in allen Lebenssituationen verstehen. Sie kann dabei autonom oder in Kooperation mit anderen Berufsangehörigen erfolgen. Pflege im Allgemeinen beinhaltet vier grundlegende Verantwortlichkeiten: • Gesundheit fördern • Krankheit verhüten, • Gesundheit wiederherstellen, • Leiden lindern und würdiges Sterben schützen. Um diesen Verantwortlichkeiten gerecht zu werden, sind viele Strukturen in der Pflege gesetzlich geregelt, wie z. B. im Pflegeberufegesetz (PflBG), in der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für die Pflegeberufe (PflAPrV), im Pflegezeitgesetz (PflegeZG) oder im Hospiz- und Palliativgesetz (HPG). „Pflege“ ist dabei zunächst ein Überbegriff, der an vielen Stellen im Gesundheitssystem auftaucht und in verschiedene Arbeits- und

Handlungsfelder untergliedert werden kann. Eine wesentliche Unterscheidung hinsichtlich der Arbeitsfelder lässt sich zwischen • Gesundheits- und (Kinder-)Krankenpflege und • Altenpflege treffen. Arbeitsfelder der Gesundheits- und (Kinder-)Krankenpflege sind z. B. Krankenhäuser, Fachkliniken, Rehabilitationseinrichtungen, Pflegeheime, ambulante Pflegedienste oder Hospize. Arbeitsfelder der Altenpflege sind z. B. Krankenhäuser mit geriatrischen Stationen, ambulant betreute Wohngemeinschaften sowie geriatrische Rehabilitationseinrichtungen, Altenpflegeheime und Tageskliniken. Unabhängig von den Arbeitsfeldern lassen sich aus den grundlegenden Verantwortlichkeiten in der Pflege vier übergeordnete Handlungsfelder ableiten: • Präventive Pflege (soll Krankheit vermeiden) • Kurative Pflege (soll zur Heilung von Krankheit beitragen) • Rehabilitative Pflege (soll zur Wiederherstellung von Gesundheit und Wiedereingliederung in das gesellschaftliche Leben beitragen) • Palliative Pflege (soll zur Linderung von Symptomen und zum würdigen Sterben beitragen) Zentrales nichtärztliches Berufsbild in der Pflege ist die Pflegefachfrau/der Pflegefachmann. Nach Abschluss einer generalistischen Ausbildung werden in diesem Berufsbild die Arbeitsfelder der Krankenpflege, Kinderkrankenpflege und Altenpflege abgebildet. Daran anknüpfend können die Pflegekräfte durch spezielle Fachweiterbildungen zusätzliche Qualifikationen erlangen, so z. B. in den Fachbereichen Intensivpflege oder Notfallpflege. Qualität hat in der Pflege eine herausragende Bedeutung. Die Qualität bzw. die Qualitätsziele bemessen sich in der Pflege stets anhand sog. einrichtungsinterner Pflegestandards und nationaler Expertenstandards. Pflegestandards definieren in den jeweiligen Einrichtungen die Ziele und die Qualität konkreter Maßnahmen. Auf nationaler Ebene gibt zudem das Deutsche Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) evidenzbasierte

Expertenstandards zu bestimmten Themen heraus und aktualisiert diese regelmäßig. Sowohl die Kranken- als auch die Pflegeversicherung (› Kap. 3.2, › Kap. 3.3) müssen Pflege als Leistung anbieten. Welche der Versicherungen bzw. Kassen für die Pflege aufkommen muss, ist abhängig von der Dauer und Ursache der Pflegebedürftigkeit. Während die Pflegeversicherung für dauerhafte Pflege (absehbar mind. sechs Monate) aufkommt und von einem sog. Pflegegrad abhängig ist, kommt die Krankenversicherung für Pflege auf, die im Rahmen kurzzeitiger Krankheit (absehbar unter sechs Monaten) zur Prävention oder zur Rehabilitation nötig wird. So kann es sein, dass einige Leistungen, z. B. die sog. Grundpflege, von beiden Versicherungen angeboten werden; welche nun zahlt, ist lediglich abhängig von der (voraussichtlichen) Dauer der Inanspruchnahme.

3.6.2 Pflegebedürftigkeit Vor allem die Leistungen der Pflegekasse bemessen sich an der Pflegebedürftigkeit einer Person. Pflegebedürftigkeit liegt vor, wenn • auf Dauer (voraussichtlich für mind. 6 Monate) • und bei Bestehen eines Pflegegrades – eine körperliche, geistige oder psychische Beeinträchtigung oder – eine gesundheitlich bedingte Belastung/Anforderung • nicht mehr selbstständig kompensiert werden kann. Die Pflegebedürftigkeit kann dabei unabhängig davon bestehen, in welchem Lebensabschnitt sich eine Person befindet. Jedoch steigt das Risiko einer Pflegebedürftigkeit zunehmend mit dem Alter. Ob ein Pflegegrad vorliegt, wird v. a. vom Medizinischen Dienst (MD) beurteilt, aber auch durch andere unabhängige Gutachter*innen. Eine solche Begutachtung muss beantragt werden. Bei gesetzlich versicherten Personen geschieht dies bei der Pflegekasse, bei privat versicherten Personen über das jeweilige Versicherungsunternehmen. Zur einheitlichen Einschätzung der Pflegebedürftigkeit wird ein gesetzlich vorgegebenes Begutachtungsinstrument verwendet (§ 15 SGB XI). Dieses

soll die individuelle Beeinträchtigung einer Person unabhängig davon prüfen, ob sie körperlich, geistig oder psychisch bedingt ist. Dabei werden 6 Module bzw. Lebensbereiche geprüft, anhand derer in jeweils unterschiedlicher Gewichtung ein Pflegegrad bestimmt werden kann. Die Gesamtbewertung erfolgt anhand eines Punktesystems, in dem maximal 100 Punkte erreicht werden können. Die einzelnen Module sowie deren Gewichtung sind in › Tab. 3.1 dargestellt, die Einstufung in den jeweiligen Pflegegrad in › Tab. 3.2.

Tab. 3.1 Begutachtungsinstrument anhand der Module (max. 100 Punkte) Lebensbereich (Modul)

Beschreibung

Gewichtung

Modul 1:

„Mobilität“

V. a. Bewertung der körperlichen Beweglichkeit (z. B. allein aufstehen, Bewegen in den eigenen vier Wänden, Treppensteigen)

10 %

Modul 2:

„Geistige und kommunikative Fähigkeiten“

V. a. Bewertung des Redens und des (Wort-)Verständnisses (z. B. Orientiertheit, Verständnis von Sachverhalten, Fähigkeit, Gespräche zu führen)

Modul 2 oder 3: 15 %

(Der höhere Wert fließt in die Berechnung ein)

Modul 3:

„Verhaltensweisen und psychische Problemlagen“

V. a. Bewertung von Unruhen, Modul 2 oder Ängsten und Aggressionen, die 3: 15 %

für die betroffene Person oder (Der höhere ihre Angehörigen belastend Wert fließt sind (z. B. nächtliche Unruhen in die oder Abwehrreaktionen bei Berechnung pflegerischen Maßnahmen) ein)

Modul 4:

V. a. Bewertung der alltäglichen 40 % „Selbstversorgung“ Selbstversorgungsmaßnahmen (z. B. eigenständiges Waschen, Anziehen, zur Toilette gehen, Essen und Trinken)

Lebensbereich (Modul)

Beschreibung

Gewichtung

Modul 5:

„Selbstständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen – sowie deren Bewältigung“

V. a. Bewertung des Umgangs mit Maßnahmen und Obliegenheiten des zugrundliegenden Krankheitsbildes (z. B. selbstständige Einnahme von Medikamenten, eigenständiges Blutzuckermessen, Umgang mit Prothesen oder Hilfsmitteln, selbstständige Besuche bei Ärzt*innen.

20 %

Modul 6:

„Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte“

V. a. Bewertung des sozialen Alltagslebens (z. B. selbstständige Gestaltung des Tagesablaufs, Kontaktaufnahme zu Mitmenschen, Besuche bei Freund*innen und Verwandten)

15 %

Tab. 3.2 Übersicht der einzelnen Pflegegrade

Pflegegrad Grad der Selbstständigkeit

Punktezahl aus der ModulBewertung

1

Geringe Beeinträchtigung der Selbstständigkeit

12,5 bis unter 27

2

Erhebliche Beeinträchtigung der Selbstständigkeit

27 bis unter 47,5

3

Schwere Beeinträchtigung der Selbstständigkeit

47,5 bis unter 70

4

Schwerste Beeinträchtigung der Selbstständigkeit

70 bis unter 90

5

Schwerste Beeinträchtigung der Selbstständigkeit mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung

90 bis 100

Je nach festgestelltem Pflegegrad werden der betroffenen Person bestimmte Geld- und Sachleistungen gewährt. Je höher der Pflegegrad, desto höher sind die jeweiligen Geldbeträge und desto mehr Leistungsarten sind möglich. Leistungen, die durch einen Pflegegrad gewährleistet werden können, sind z. B.: • Pflegegeld (erst ab Pflegegrad 2) • Pflegesachleistungen (erst ab Pflegegrad 2) • Tages- und Nachtpflege, Kurzzeitpflege, Verhinderungspflege, vollstationäre Pflege (erst ab Pflegegrad 2) • Betreuungs- und Entlastungsleistungen • Wohnraumanpassung • Wohngruppenzuschuss • Zum Verbrauch bestimmte Pflegehilfsmittel

• Hausnotruf

3.6.3 Ambulante Pflege Viele pflegebedürftige Personen, die nicht in einer Pflegeeinrichtung untergebracht sind, benötigen pflegerische Unterstützung im häuslichen Bereich. Die Pflege von Personen außerhalb spezieller Einrichtungen wird ambulante Pflege genannt. Hierbei wird auch gesetzlich zwischen zwei Formen der Pflegeleistung unterschieden (§ 37 SGB V): • Grundpflege: Diese umfasst die Unterstützung bei Aufgaben und Verrichtungen des täglichen Lebens (z. B. bei Ausscheidungen, Körperpflege, Mobilität oder Ernährung). Die Grundpflege dient dazu, pflegebedürftigen Personen trotz der bestehenden Einschränkungen, einen normalen Alltag zu ermöglichen. • Häusliche Krankenpflege: Diese umfasst die im Einzelfall erforderliche Grundpflege und zusätzlich die Behandlungspflege sowie hauswirtschaftliche Versorgung. Behandlungspflege in diesem Sinne meint die medizinische Pflege (z. B. Wundversorgung, Medikamentengabe). Häusliche Krankenpflege dient dazu, betroffenen Personen die Rückkehr zur Selbstständigkeit zu ermöglichen und Krankenhausaufenthalte zu verhindern bzw. zu verkürzen (Krankenhausvermeidungspflege) sowie die Behandlungsziele einer (ambulanten) ärztlichen Versorgung zu ermöglichen bzw. zu sichern (Sicherungspflege). Die ambulante Pflege kann sowohl von Personen durchgeführt werden, die im Haushalt der pflegebedürftigen Person leben, als auch durch ambulante Pflegedienste. Dabei ist die Pflege durch nahestehende Personen stets vorranging. So besteht z. B. überhaupt erst ein Anspruch auf häusliche Krankenpflege, soweit eine im Haushalt lebende Person die kranke Person in dem erforderlichen Umfang nicht pflegen und versorgen kann (§ 37 Abs. 3 SGB V). Ambulante Pflegedienste benötigen stets eine Zulassung durch die Pflegekasse.

3.6.4 Stationäre und teilstationäre Pflege Im Gegensatz zur Pflege im häuslichen Bereich beschreibt die Pflege im stationären/teilstationären Bereich die Pflege in extra dafür vorgesehenen Einrichtungen. Stationäre und auch teilstationäre Pflege kommt grds. nur für pflegebedürftige Menschen mit mindestens Pflegegrad 2 in Betracht. Daraus folgt, dass die Pflegeleistungen durch spezielle Einrichtungen stets Leistungen der Pflegekasse sind; Einzelheiten sind demnach im SGB XI geregelt. Bei der teilstationären Pflege ist die Pflege und Betreuung in einer Einrichtung zeitlich befristet. Hierzu zählen z. B.: • Tagespflege (§ 41 SGB XI): Diese umfasst stunden- oder tageweise Betreuungs- und Pflegeleistungen. Sie beinhaltet neben der Grundpflege regelmäßig auch Freizeit- und Beschäftigungsprogramme, v. a. in Gruppen. Voraussetzung der Tagespflege ist die Transportfähigkeit der zu pflegenden Person. • Nachtpflege (§ 41 SGB XI): Diese umfasst lediglich nächtliche Betreuung und Pflege, entweder zu Hause durch einen Pflegedienst oder in stationären Einrichtungen. • Verhinderungspflege (§ 39 SGB XI): Ist die Hauptpflegeperson aus persönlichen Gründen verhindert oder braucht eine Pause, kann diese i. R. d. Verhinderungspflege kurzzeitig ersetzt werden. Dies geschieht entweder zu Hause oder in einer stationären Einrichtung. • Kurzzeitpflege (§ 42 SGB XI): Kann die häusliche Pflege zeitweise nicht, noch nicht oder nicht im erforderlichen Umfang erbracht werden und reicht auch teilstationäre Pflege nicht aus, besteht für Pflegebedürftige übergangsweise die Möglichkeit zur Pflege in einer vollstationären Einrichtung. Dies ist im Anschluss an eine stationäre (Krankenhaus-)Behandlung oder in Krisensituationen der Fall, in denen vorübergehend häusliche oder teilstationäre Pflege nicht möglich oder nicht ausreichend ist. Bei der (voll)stationären Pflege werden Pflegebedürftige rund um die Uhr in einer speziellen Einrichtung untergebracht, während sie dauerhaft und unter ständiger Verantwortung ausgebildeter Pflegekräfte gepflegt und betreut werden.

3.6.5 Finanzierung stationärer Pflegeeinrichtungen Stationäre Pflegeeinrichtungen werden durch sog. Heimentgelte finanziert. Der Betrag des Heimentgelts bemisst sich am Pflegegrad einer zu pflegenden Person und damit am Aufwand, der durch die Pflege entsteht. Zudem können Teilkosten des Heimentgelts individuell durch die Pflegebedürftigen oder durch die Einrichtungen selbst bestimmt werden. Das Heimentgelt wird zu einem Teil durch die Pflegekasse und zum anderen Teil durch die Pflegebedürftigen selbst gezahlt. Die Pflegekasse zahlt: • Den Pflegesatz (abhängig vom Pflegegrad) Die pflegebedürftigen Bewohner*innen der Einrichtung zahlen: • Unterkunft und Verpflegung: Diese Kosten (sog. „Hotelkosten“) würden auch entstehen, wenn die pflegebedürftige Person selbstständig leben würde. Sie beinhalten z. B. Kosten für Lebensmittel und Getränke, Müllentsorgung, Haus- und Wäschereinigung und Energiekosten. • Investitionskosten: Diese beinhalten Kosten für die Instandhaltung der notwendigen Gebäude sowie Herstellungs-, Beschaffungs- und Wiederbeschaffungskosten von anderen Anlagegütern, die abgeschrieben werden können. Erfasst werden hier nur solche Kosten, die nicht ohnehin schon durch öffentliche Zuschüsse gedeckt sind. • Ausbildungspauschale/Ausbildungsumlage: Diese soll die Ausbildung in den jeweiligen Einrichtungen durch eine Beteiligung der Bewohner*innen an den entstehenden Ausbildungskosten fördern. • Einrichtungseinheitlicher Eigenanteil: Dieser umfasst die Kosten für die Pflege, die über die Leistungsbeträge der Pflegekasse hinausgehen und deshalb von der pflegebedürftigen Person selbst übernommen werden müssen. Dieser Anteil wird jedoch gleichermaßen von allen Bewohner*innen der jeweiligen Einrichtung und unabhängig vom Pflegegrad solidarisch getragen. • Individuell vereinbarte Zusatzleistungen: Im Rahmen der Privatautonomie (› Kap. 6.1.2) können zwischen Einrichtung und

Bewohner*in besondere Leistungen vereinbart werden, die dann von der Bewohner*in bezahlt werden müssen (z. B. besondere Verpflegung oder ein komfortableres Einzelzimmer). Die Heimentgelte werden grds. von den Pflegebedürftigen selbst getragen. Sind diese dazu finanziell nicht in der Lage, so können entsprechend dem sog. Subsidiaritätsprinzip (› Kap. 3.2.1) auch andere zur Zahlung verpflichtet sein. Hierzu werden zunächst Familienangehörige (Verwandte gerader Linie) herangezogen (§§ 1601 ff. BGB). Sind solche nicht vorhanden oder würde eine Leistungspflicht den Lebensunterhalt der Verwandten gefährden, zahlt der Sozialhilfeträger den Betrag, der nicht aufgebracht werden kann. Wie hoch dieser Anteil genau ist, muss häufig durch ein Gericht entschieden werden.

3.6.6 Wohnformen im Alter Es gibt verschiedene Wohnformen, die für alte Menschen mit zunehmender Pflegebedürftigkeit infrage kommen. Ausgehend von einer angepassten Wohnform zu Hause gibt es diverse Einrichtungen oder Wohnangebote, die ein eigens dafür vorgesehenes Umfeld für ein altersgerechtes Wohnen anbieten. Eine wesentliche Unterscheidung bei den Einrichtungen lässt sich zunächst zwischen Pflege- und Altenheimen treffen. Pflegeheime betreuen nur Menschen, die eine Pflegebedürftigkeit anhand eines Pflegegrades aufweisen und entsprechend einer professionellen, auch medizinischen Pflege bedürfen. Altenheime hingegen legen den Schwerpunkt auf das soziale Zusammenleben und die Betreuung älterer Menschen. Hier kommt es nicht auf eine Pflegebedürftigkeit an. Neben „klassischen“ Pflege- und Altenheimen werden zunehmend auch alternative Wohnformen angeboten, welche auf die individuellen Bedürfnisse der Bewohner*innen eingehen und v. a., so gut es geht, ein selbstständiges und selbstbestimmtes Leben fördern sollen. Hierzu zählen insb.: • Das betreute Wohnen, bei dem in barrierefreien Wohnungen oder sogar Wohnanlagen ein möglichst „normales“ Alltagsleben stattfinden kann, das jedoch durch diverse Sonderausstattungen und

Unterstützungsangebote ergänzt wird (z. B. Hausnotruf, Essensangebote, pflegerische Betreuung). • Senioren-Haus- oder Wohngemeinschaften, in denen sich mehrere ältere Menschen zusammentun und passende Räumlichkeiten gemeinschaftlich bewohnen. Hierbei werden neben privaten Wohn- oder Schlafräumen einige Bereiche gemeinsam genutzt (z. B. Küche, Aufenthaltsräume) und somit ein soziales Miteinander geschaffen. Zusätzlich werden derartige Gemeinschaftseinrichtungen häufig durch fachliche Betreuungs- und Pflegedienste unterstützt. • Sog. Mehrgenerationenhäuser, in denen, angelehnt an frühere Großfamilien, Menschen aus verschiedenen Generationen unter einem Dach leben und sich gegenseitig und individuell im Sinne eines vertraglich abgesicherten Solidaritätsprinzips unterstützen. • Projekte wie „Wohnen für Hilfe“, bei denen ältere Menschen v. a. für Studierende und Auszubildende Wohnräume anbieten, deren Miete teilweise durch Hilfe im Alltag abgegolten wird (z. B. Haushaltshilfe, Einkaufen, Gartenarbeit). Davon ausgenommen sind allerdings Pflegeleistungen. Ist das Umfeld einer alten oder gar pflegebedürftigen Person optimal und in einem angemessenen Zusammenspiel aus Fördern und Fordern angepasst, kann dies erheblichen Einfluss auf die Gesundheit einer Person haben.

3.7 Rehabilitation André Höhle Rehabilitation ist ein wichtiger Bestandteil des Gesundheitssystems und bedeutet Wiederherstellung. Krankheitssituationen, Behinderungen oder Zustände der Pflegebedürftigkeit sollen durch die Rehabilitation abgewendet, beseitigt, gemindert oder ausgeglichen werden. Zudem soll ihre Verschlimmerung verhindert und die Folgen gemildert werden. Die gesetzlichen Grundlagen zum Thema Rehabilitation finden sich im SGB IX, hier geht es um die Themen Rehabilitation und Teilhabe. Medizinische

Rehabilitation ist das Ergreifen von Maßnahmen, um Pflegebedürftigkeit zu verhindern oder hinauszuzögern und Krankheitsfolgen zu mindern oder ganz zu beseitigen. Bei der Rehabilitation geht es um die Wiedereingliederung einer kranken, körperlich oder geistig behinderten oder von Behinderung bedrohten Person in das berufliche und gesellschaftliche Leben. Es gibt ambulante und stationäre Rehabilitationseinrichtungen. Stationäre Rehabilitationseinrichtungen nehmen nicht an der Notfallversorgung teil. Die Vergütung wird zwischen dem Versorgungsträger und den Landesverbänden der Krankenkassen bzw. der Rentenversicherungsträger ausgehandelt. Die Vergütungssätze können also je nach Vergütungsart und Bundesland deutlich voneinander abweichen. Durch die Vergütungssätze kann kaum der Kostenstruktur der Versorgungseinrichtungen entsprochen werden. Dabei werden insb. darin steigende Anforderungen an Personal und Qualitätssicherung oft nicht berücksichtigt. Da von den Vergütungen auch Investitionen getätigt werden müssen, gibt es bei Rehabilitationseinrichtungen oft einen erheblichen Sanierungsbedarf. Eine Investitionskostenerstattung durch die Länder gibt es hier nicht. Patient*innen müssen i. d. R. Zuzahlungen leisten.

3.8 Gesetzliche Unfallversicherung Die gesetzliche Unfallversicherung übernimmt den Versicherungsschutz bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, darüber hinaus ist die Prävention eine der Hauptaufgaben. Gesetzlich ist die Unfallversicherung im SGB VII geregelt, daneben finden sich auch Regelungen im Arbeitsschutzgesetz. Historisch geht die Gründung der gesetzlichen Unfallversicherung auf die Bismarck’schen Sozialgesetze zurück (› Kap. 3.1). Grundlagen und Strukturen der gesetzlichen Unfallversicherung werden in › Kap. 13.1.1 behandelt.

3.9 Gesundheitspolitische Akteure Das Gesundheitssystem ist ein komplexes System, an dem unterschiedliche Akteure und Institutionen beteiligt sind.

3.9.1 Bundesgesundheitsministerium

Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) ist der Bundesminister*in für Gesundheit unterstellt. Zu den Aufgaben gehört die Erarbeitung von Gesetzentwürfen, Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften mit Bezug zum Gesundheitswesen. Dies umfasst insb. die Erhaltung, Sicherung und Fortentwicklung der Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung. Bei der Erarbeitung ist die Qualität der Gesundheitsleistungen sowie die Wirtschaftlichkeit der Leistungen von besonderer Bedeutung. Zum Geschäftsbereich des Ministeriums gehören derzeit das Robert Koch-Institut, das Paul-Ehrlich-Institut, die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte.

3.9.2 Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) übernimmt verschiedene Aufgaben im Gesundheitssystem. Bei Arzneimitteln ist es für die nationale Zulassung und Registrierung von Arzneimitteln verantwortlich. Zu den weiteren Aufgaben gehören die Risikoerfassung und bewertung von Medizinprodukten, die Überwachung des Betäubungsmittel- und Grundstoffverkehrs sowie die Herausgabe medizinischer Kodiersysteme für das Gesundheitswesen. Zu den im Rettungsdienst bekannten Kodiersystemen gehört das ICD-10-System. Auch im Rahmen der EU-Zulassung von Arzneimitteln und der internationalen Zulassung kommen dem BfArM Aufgaben zu. In Bezug auf Arzneimittel und Medizinprodukte werden Aufgaben der Marktüberwachung übernommen. Kommt es hier zu Vorkommnissen, kann das BfArM die Hersteller*innen zu bestimmten Maßnahmen verpflichten. Unter gewissen Voraussetzungen können Warnhinweise gegeben, Produktrückrufe angeordnet oder bei Arzneimitteln die Zulassung widerrufen werden (› Kap. 8.1.4).

3.9.3 Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) hat die Aufgabe, die Bevölkerung zum Thema Gesundheit aufzuklären. Kampagnen

der BZgA finden sich oft an Schulen. Aufgeklärt wird u. a. über die Themen Rauchen, Alkohol, Drogen und Verhütung.

3.9.4 Paul-Ehrlich-Institut Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) ist das Institut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel (Impfstoffe und Immunsera für Mensch und Tier, Antikörper, Blutstammzellzubereitungen und andere Arzneimittel aus Blut, Allergenen, Gewebezubereitungen). Die Tätigkeit bezieht sich auf die Zulassung, wissenschaftliche Beratung zur Arzneimittelentwicklung, Genehmigung klinischer Prüfungen, die experimentelle Produktprüfung und staatliche Chargenfreigabe sowie die Bewertung von Arzneimittelnebenwirkungen.

3.9.5 Robert Koch-Institut Das Robert Koch-Institut (RKI) ist eine Behörde, die in den letzten Jahren immer mehr Aufgaben übernommen hat. Neben dem großen Tätigkeitsfeld Hygiene und Verhütung von Infektionskrankheiten übernimmt das RKI auch die Gesundheitsberichterstattung für Deutschland. Zudem ist das RKI das nationale Public-Health-Institut. In diesem Zusammenhang beschäftigt es sich intensiv mit dem Thema Public Health in Zeiten von Digitalisierung und Globalisierung. Beim RKI ist die Ständige Impfkommission angesiedelt, welche für Empfehlungen zu Impfungen zuständig ist (› Kap. 12.1.1).

3.9.6 Gemeinsamer Bundesausschuss Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) ist das zentrale Organ der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen. Vom G-BA werden die wesentlichen Entscheidungen dazu getroffen, welche Leistungen von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen werden. Die Beschlüsse werden i. d. R. in öffentlichen Sitzungen gefasst; die gefassten Beschlüsse werden mit Begründung auf der Website des G-BA veröffentlicht. Vor dem Wirksamwerden eines Beschlusses muss dieser dem BMG vorgelegt werden. Dieses kann einen Beschluss beanstanden. Ein wichtiges Regelungsinstrument des G-BA sind Richtlinien. Diese werden auf einer gesetzlichen Grundlage erlassen, § 92 SGB V. Eine wichtige Richtlinie

mit Bezug zum Rettungsdienst ist die Krankentransport-Richtlinie. Diese regelt u. a., unter welchen Voraussetzungen Krankenfahrten, Krankentransporte oder Rettungsfahrten verordnet werden. Ein wichtiger Aspekt im Zusammenhang mit der Verordnung ist die zwingende medizinische Notwendigkeit (§ 3 Krankentransport-Richtlinie). Der G-BA setzt sich zusammen aus den Spitzenverbänden der gesetzlichen Krankenversicherung, der (Zahn-)Ärzt*innen, der Krankenhäuser und Patientenvertreter*innen.

3.9.7 Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen Das unabhängige Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hat als neutrale Forschungseinrichtung die Aufgabe, Studien durchzuführen, die Grundlage für die Entscheidungen des GBA sind. Dabei geht es u. a. um Studien zur Wirksamkeit von Arzneimitteln oder neuer Behandlungsmethoden.

3.9.8 Berufskammern Berufskammern gibt es für verschiedene Berufsgruppen, z. B. Rechtsanwaltskammern, Architektenkammern und Ärztekammern. Häufig gibt es eine Kammer auf Bundesebene und Kammern auf Landesebene. Die Mitgliedschaft in einer Berufskammer ist verpflichtend. Eine Berufskammer für den Rettungsdienst gibt es nicht. Die Kammern sind Ausdruck der Selbstverwaltung der vertretenen Berufszweige. Sie übernehmen für die Berufszweige verschiedene Aufgaben, z. B. die Aufstellung von Zulassungsvoraussetzungen, Qualitätsvorgaben und Organisation von Fortbildungen. Sie erstellen Berufsordnungen, übernehmen die Berufsgerichtsbarkeit u. v. m. Mit der Zulassung zum Beruf werden die Berufsangehörigen Pflichtmitglieder in der zuständigen Kammer und müssen entsprechende Pflichtbeiträge zahlen.

3.9.9 Berufsständische Interessenvertretungen

Berufsständische Interessenvertretungen sind freiwillige Zusammenschlüsse von Angehörigen bestimmter Berufsgruppen. Sie beschäftigen sich mit Qualitätsstandards zu den vertretenen Berufen und versuchen auf politischer Ebene, die Interessen des jeweiligen Berufsstands zu vertreten. Darüber hinaus bieten sie ihren Mitgliedern verschiedene weitere Leistungen an. Für den Rettungsdienst gibt es z. B. den Deutschen Berufsverband Rettungsdienst (DBRD), für niedergelassene Ärzt*innen den Hartmannbund und für Ärzt*innen in Kliniken den Marburger Bund.

3.9.10 Institutionen der Bundesländer Auf Ebene der Bundesländer sind verschiedene Behörden und Institutionen mit unmittelbaren Gesundheitsthemen befasst. Auf oberster Ebene finden sich die Landesgesundheitsämter, Landesuntersuchungsämter, Landesprüfungsämter (für Medizin etc.) sowie die Gesundheitsministerkonferenz. Gesundheitsministerkonferenz Die Gesundheitsministerkonferenz der Bundesländer ist ein Zusammenschluss der Gesundheitsministerien der Bundesländer. Das Gremium dient dazu, sich zu gesundheitspolitischen Themen abzustimmen und dadurch ein koordiniertes Vorgehen in einzelnen Bereichen des Gesundheitswesens zu ermöglichen. Abstimmungen finden i. d. R. einmal im Jahr statt. Der Vorsitz der Konferenz wechselt regelmäßig zwischen den Bundesländern. Die Gesundheitsministerien der Bundesländer arbeiten im Rahmen der Gesundheitsministerkonferenz zudem in verschiedenen Arbeitsgruppen zusammen. Eine dieser Arbeitsgruppen befasst sich mit dem Rettungswesen. Institutionen auf kommunaler Ebene Auf kommunaler Ebene sind die kommunalen Gesundheitsämter tätig. Diese übernehmen eine Vielzahl von Aufgaben im Zusammenhang mit der öffentlichen Gesundheit. Die Aufgaben und Bezeichnungen der kommunalen Gesundheitsämter unterscheiden sich teilweise von Bundesland zu Bundesland und auch teilweise von Kommune zu Kommune.

Zu den Aufgaben gehören in vielen Fällen u. a. die Durchführung von Vorsorgeuntersuchungen, Beratungsangebote, Hygieneüberwachung und die Überwachung von Gesundheitseinrichtungen. Auch die Überwachung von Infektionskrankheiten ist oftmals eine Aufgabe der kommunalen Gesundheitsämter. Hier muss dann ein Verdacht oder das Auftreten einer Infektionskrankheit gemeldet werden und wird entsprechend weiterbearbeitet. Teilweise wird im Zuständigkeitsbereich der Gesundheitsämter auch ein Sozialpsychiatrischer Dienst angesiedelt. Dieser übernimmt spezielle Aufgaben im Zusammenhang mit der Beratung und Hilfen für Menschen mit psychischen Erkrankungen (› Kap. 10.2.1). Neben vorsorgenden Angeboten gehört auch die Krisenintervention zu den Aufgaben eines Sozialpsychiatrischen Dienstes. In diesem Zusammenhang kann es auch zu Berührungspunkten mit der Arbeit des Rettungsdienstes kommen. Das Personal besteht oftmals aus Ärzt*innen, Psycholog*innen und Sozialarbeiter*innen. Diese kennen neben ihrer eigentlichen Ausbildung bzw. Qualifikation auch eine Vielzahl von Hilfsangeboten vor Ort. Daher kann die Arbeit der Sozialpsychiatrischen Dienste in vielen Fällen auch dazu beitragen, Zwangseinweisungen zu verhindern, indem darüber andere in Betracht kommende Hilfsangebote identifiziert und die Patient*innen diesen zugeführt werden können. Rettungsdienst in der Verwaltung In den Bundesländern, in denen der Rettungsdienst öffentlich-rechtlich organisiert ist, gibt es auf Ebene des Trägers des Rettungsdienstes in vielen Fällen ein Amt oder eine Organisationseinheit, die sich mit dem Rettungsdienst befasst. Dieses Amt kann z. B. bei den Kreisverwaltungen der Kreise angesiedelt sein, bei den Stadtverwaltungen der kreisfreien Städte oder bei den Berufsfeuerwehren. Welche Aufgaben von dem Amt übernommen werden, hängt von der Organisation des Rettungsdienstes im jeweiligen Versorgungsgebiet ab. Wird die Durchführung des Rettungsdienstes an andere Organisationen vergeben, liegen die Aufgaben hauptsächlich in den Tätigkeitsfeldern Vergabe und Überwachung. Wird der Rettungsdienst selbst durchgeführt, kommt eine Vielzahl von Aufgaben hinzu, z. B. Beschaffung von Materialien, Dienstkleidung,

Personalplanung und -einteilung etc. Teilweise existieren auch Mischformen, sodass z. B. die Durchführung an unterschiedliche Organisationen vergeben wird, die Materialbeschaffung jedoch zentral durch den Träger erfolgt. In den Ämtern gibt es oftmals eine (Verwaltungs-)Leiter*in Rettungsdienst (LRD), zudem ist dort auch die Stelle der Ärztlichen Leiter*in Rettungsdienst (ÄLRD) angesiedelt.

3.10 Rettungsdienst David Winkenbach Eine wesentliche Säule im Gesundheitssystem ist die Rettung von Menschen in medizinisch bedingten Notsituationen. Außerhalb der Krankenhäuser übernimmt diese Aufgabe v. a. der Rettungsdienst, was ihn zu einem tragenden Teil des Gesundheitswesens macht.

3.10.1 Aufgaben des Rettungsdienstes Aufgabe des Rettungsdienstes ist es, die flächendeckende, bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung mit Leistungen der Notfallrettung und des Krankentransports zu gewährleisten (Rettungsdienstleistung). Demnach beinhaltet der Aufgabenbereich des Rettungsdienstes konkret • die Notfallrettung, • den qualifizierten Krankentransport sowie • die Mitwirkung im Katastrophenschutz (› Kap. 5.4). Die Notfallrettung umfasst die Durchführung lebensrettender Maßnahmen bei Notfallpatient*innen direkt am Notfallort sowie die Herstellung einer Transportfähigkeit mit anschließendem fachgerechten Transport in ein geeignetes Krankenhaus. Der qualifizierte Krankentransport stellt die fachgerechte Beförderung von Kranken, Verletzten oder sonst hilfsbedürftigen Menschen dar, die keine Notfallpatient*innen sind (vgl. dazu › Kap. 7.6.3) Dabei ist der Rettungsdienst Teil der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr (› Kap. 5) und der sozialstaatlichen öffentlichen Daseinsvorsorge (› Kap.

2.7.1). Für diese Bereiche ergibt sich aus dem Grundgesetz (Art. 30, 70 GG), dass die Durchführung des Rettungsdienstes in den Zuständigkeitsbereich der einzelnen Bundesländer fällt (› Kap. 2.3.3). Jedes Bundesland regelt den Rettungsdienst somit in eigenen Landesrettungsdienstgesetzen (› Kap. 3.10.3). M e r ke Der Rettungsdienst ist Teil der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr und der öffentlichen Daseinsvorsorge. Seine Aufgaben sind v. a. die Notfallrettung und der qualifizierte Krankentransport. Die gesetzlichen Grundlagen zur Durchführung des Rettungsdienstes sind entlang des Föderalismus in Rettungsdienstgesetzen der einzelnen Bundesländer geregelt. Die präklinische Versorgung von Verletzen oder akut erkrankten Personen durch den Rettungsdienst ist ein essenzieller Teil der Rettungskette (› Abb. 3.4). Wenngleich er im gesamten Gesundheitssystem doch eines der kleinsten Berufsfelder ist, nimmt der Rettungsdienst eine wegweisende Schlüsselfunktion zwischen Klinik und Präklinik ein, die mit einer entsprechenden Verantwortung des Rettungsdienstpersonals einhergeht.

ABB. 3.4 Rettungskette/Handlungskette [L141] Aufgabe des Rettungsdienstes ist v. a. die Versorgung von lebensbedrohlichen Erkrankungen oder Verletzungen sowie das Abwehren von schweren gesundheitlichen Schäden. Mit anderen Worten ist der Rettungsdienst für die Versorgung von Notfallpatient*innen verantwortlich, bei denen eine medizinische Versorgung sofort notwendig ist.

Vom Rettungsdienst und den hier tätigen Notärzt*innen gilt es den Ärztlichen Bereitschaftsdienst (ÄBD) zu unterscheiden. Der ÄBD, auch „ärztlicher Notdienst“ oder „Notfalldienst“, ist ein gesetzlich normierter vertragsärztlicher Bereitschaftsdienst, an den sich Patient*innen in der sprechstundenfreien Zeit wenden können, sofern ein Aufschub einer Behandlung auf den Folgetag nicht möglich ist. Dabei ist es Aufgabe der kassenärztlichen Vereinigung, eine entsprechende Versorgung flächendeckend sicherzustellen. Die kassenärztlichen Vereinigungen sind Institutionen, deren Regelung in den gesetzlichen Zuständigkeitsbereich des Bundes fällt (§ 75 SGB V). Rettungsdienst und ÄBD unterscheiden sich also insoweit hinsichtlich der Versorgungsdringlichkeit der Patient*innen sowie der gesetzlichen Grundlagen. Gerade die unscharfe Abgrenzung bei der Versorgungsdringlichkeit macht es oft schwierig, den Aufgabenbereich von Rettungsdienst und ÄBD zu trennen. Dies führt gelegentlich zu Problemen bei der Aufgabenverteilung und trägt mitunter zu einer Überlastung des Rettungsdienstes bei.

3.10.2 Struktur und Organisation des Rettungsdienstes Die Struktur und die Organisation des Rettungsdienstes richten sich im Einzelnen nach den Rettungsdienstgesetzen der Bundesländer. Dabei sind die Landes- und Kommunalbehörden grds. zuständig für die Bereitstellung eines Rettungsdienstes. Die Verantwortung der Durchführung des bodengebundenen Rettungsdienstes liegt zumeist in der Verantwortung der (Land-)Kreise und der kreisfreien Städte (Rettungsdienst-Träger), während die Luftrettung in vielen Fällen von den Ländern selbst verantwortet wird. Länder und Kommunen haben dabei den Sicherstellungsauftrag, flächendeckend Rettungsdienst vorzuhalten; für die Umsetzung werden Rettungsdienstbedarfspläne erarbeitet. Ausgangspunkt dafür ist wieder das jeweilige Landesrettungsdienstgesetz. Die tatsächliche Bedarfsplanung erfolgt meist durch externe Dienstleister*innen. Die Träger des Rettungsdienstes sind verantwortlich für die bedarfsgerechte Sicherstellung von Rettungsdienstleistungen. Die tatsächliche Durchführung kann dabei auf verschiedene Art und Weise erfolgen. Während Träger ((Land-)Kreise und kreisfreie Städte) den Rettungsdienst selbst durchführen

können, besteht zudem die Möglichkeit, diese Aufgabe an Hilfsorganisationen (HiOrg) oder private Unternehmen zu übertragen. So kommt es, dass der Rettungsdienst, trotz der eigentlich staatlichen Aufgabenzuweisung, auch flächendeckend durch Organisationen wie das Deutsche Rote Kreuz (DRK), den Malteser Hilfsdienst (MHD), die JohanniterUnfall-Hilfe (JUH) oder den Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) (u. v. m.) durchgeführt wird. Hierbei wird allerdings lediglich die konkrete Durchführung, nicht jedoch die Verantwortung für die Sicherstellung eines flächen- und bedarfsgerechten Rettungsdienstes übertragen; diese Verantwortung bleibt nach wie vor beim Träger. Die Organisationsstruktur des Rettungsdienstes ist weiter gekennzeichnet durch unterschiedliche Rettungsmittel und deren zweckgebundene Zusammenarbeit. Die rettungsdienstliche Struktur und Organisation sind nicht überall einheitlich. Dies ist zunächst den föderal unterschiedlichen Rettungsdienstgesetzen und darüber hinaus den unterschiedlichen Ansprüchen geschuldet, die regional an die Notfallversorgung gestellt werden. So variieren z. B. die Besetzungsvorgaben der einzelnen Rettungsmittel von Bundesland zu Bundesland und auch die vorgegebenen Fortbildungsstunden sind nicht in ganz Deutschland einheitlich.

3.10.3 Rettungsdienstgesetze Frank Sarangi Der föderalen Struktur der Bundesrepublik Deutschland ist es geschuldet, dass es für den Rettungsdienst keine länderübergreifenden einheitlichen Regelungen gibt. Gemäß Art. 30, 70 GG liegt die Gesetzgebungskompetenz für den Rettungsdienst bei den Ländern (› Kap. 2.3.3). Die Länder haben hierfür jeweils Landesrettungsdienstgesetze erlassen. Neben diesen Rettungsdienstgesetzen bestehen in vereinzelten Bundesländern Durchführungsvorschriften sowie Durchführungsverordnungen. Ziel aller Rettungsgesetze der Länder ist es, einen Rettungsdienst vorzuhalten, der die aktuellen medizinischen Erfordernisse berücksichtigt und dabei wirtschaftlich handelt. Die Rettungsdienstgesetze der Länder beschäftigen sich daher

schwerpunktmäßig mit der Aufgabenzuführung, mit der Definition der rettungsdienstlichen Trägerschaft sowie mit organisatorischen Fragen der Durchführung des Rettungsdienstes. Sie regeln im Weiteren, ob ein Rettungsdienst öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich organisiert ist (› Kap. 3.10.2). Abseits dieser Gesichtspunkte regeln die Rettungsdienstgesetze der Länder auch vereinzelte Finanzierungsfragen, wenngleich definitive Finanzierungsfragen in der Regel auf kommunaler Ebene durch Gebührensatzungen und Vorgaben in den Kommunalabgabengesetzen geregelt werden. Neben diesen organisatorischen Gesichtspunkten regeln die Rettungsdienstgesetze der Länder auch Fragen der • Bedarfsplanung, • Sicherstellung sowie • Finanzierung (› Kap. 3.10.4). So sehen die einzelnen Rettungsdienstgesetze der Länder vor, dass die Träger des Rettungsdienstes einen Rettungsdienst vorzuhalten haben, welcher dem jeweiligen Bedarf entspricht. Das bedeutet, dass eine ausreichende Anzahl an Standorten von Rettungswachen, bestimmte Qualitätsanforderungen, die Anzahl der erforderlichen Rettungsmittel sowie Maßnahmen für Großschadenlagen (MANV) mit der Bedarfsplanung festgelegt werden müssen. Die konkrete Bedarfsplanung obliegt dem Träger des Rettungsdienstes. Dieser hat hierbei eine sog. Einschätzungsprärogative (Einschätzungsvorrecht) und kann anhand einer gefahrenabwehrrechtlichen Prognose in die Bedarfsplanung miteinfließen lassen, welche Art und wie viele Rettungsmittel im Bedarfsplan erforderlich sind. Neben der Frage, welche sachlichen Mittel vorgehalten werden müssen, legt die Bedarfsplanung auch die Anzahl des vorzuhaltenden Personals fest. Die Rettungsdienstgesetze der Länder sind vom Notfallsanitätergesetz (NotSanG) zu trennen. Während das NotSanG ein reines Berufsausbildungsgesetz ist und vorgibt, wie die Ausbildung von Notfallsanitäter*innen durchgeführt werden muss, verhalten sich die Rettungsdienstgesetze hierzu nicht. Einzelne Rettungsdienstgesetze sehen seit dem Inkrafttreten des Notfallsanitätergesetzes zwar vor, welche Maßnahmen

durch Notfallsanitäter*innen durchgeführt werden dürfen; hierbei handelt es sich aber eher um eine Ausnahme. Beide Gesetze betreffen zwar denselben Regelungskreis, nämlich den des Rettungsdienstes, inhaltlich unterscheiden sich die Gesetze aber wesentlich. Ein essenzieller Unterschied ist auch, dass die Gesetzgebungskompetenz für das NotSanG allein beim Bund liegt, während die Rettungsdienstgesetze ausschließlich in der Zuständigkeit der Länder liegen. Der Umstand, dass jedes Bundesland eine eigene Gesetzgebungskompetenz für das Rettungsdienstgesetz hat, führt in der Konsequenz dazu, dass es deutschlandweit keine flächendeckenden einheitlichen Regelungen in jedem Rettungsdienstgesetz gibt. Für die Besonderheiten des jeweiligen Rettungsdienstes in einem Bundesland muss daher stets auf das geltende Rettungsdienstgesetz des einzelnen Bundeslandes verwiesen werden. Geht es also beispielsweise um die Frage, wie ein bestimmtes Rettungsmittel in Hessen oder Nordrhein-Westfalen zu besetzen ist, so muss hierzu ein Blick in die jeweiligen Rettungsdienstgesetze geworfen werden.

3.10.4 Finanzierung des Rettungsdienstes David Winkenbach Mit der Pflicht der Daseinsfürsorge und der Gefahrenabwehr obliegt auch die damit einhergehende Finanzierungsverantwortung den Bundesländern (Art. 104a Abs. 1 GG). Daneben sind die Krankenkassen gesetzlich dazu verpflichtet, die Transport- und Fahrkosten zu übernehmen, sofern diese im Zusammenhang mit einer Leistung der Krankenkasse aus zwingend medizinischen Gründen notwendig sind (§§ 60, 133 SGB V). Gesetzlich wird die Finanzierung des Rettungsdienstes rudimentär in den Rettungsdienstgesetzen der Länder geregelt. Diese verlangen von den Trägern des Rettungsdienstes, dass Gebührenregelungen für den Rettungsdienst getroffen und festgelegt werden. Konkretere Finanzierungsregelungen für den Rettungsdienst finden sich somit in den Kommunalabgabengesetzen der Bundesländer (z. B. KAG NRW) sowie in eigenen Gebührensatzungen der Träger des Rettungsdienstes. Die jeweiligen Kommunalabgabengesetze räumen dem Träger des Rettungsdienstes eine eigene Kompetenz ein, hierfür Gebührensatzungen zu erlassen. Bei der Gestaltung dieser Satzungen ist der

jeweilige Träger in der Gestaltung der Gebühren nicht frei. Vielmehr sind die jeweiligen Kostenträger, also die Krankenkassen, zu beteiligen und anzuhören. Die Gebühren sind dabei so zu kalkulieren, dass eine wirtschaftliche Kostendeckung stattfindet. Die Umsetzung der Finanzierung des Rettungsdienstes fußt im Wesentlichen auf den gezahlten Krankenversicherungsbeiträgen und Steuermitteln. M e r ke Die Finanzierungsverantwortung für den Rettungsdienst obliegt den Bundesländern. Die Krankenkassen sind gesetzlich dazu verpflichtet, die Transport- und Fahrkosten zu übernehmen. Bei den Kosten im Rettungsdienst und deren Finanzierung muss zwischen den Fahrkosten und den übrigen Kosten unterschieden werden. Fahrkosten sind alle im Einzelfall notwendigen Beförderungskosten und Aufwendungen, die mit dem Transport in engem Zusammenhang stehen. Hierzu zählen auch die Kosten, die für medizinische Versorgung während der Fahrt oder die Desinfektion nach einem Einsatz anfallen (Fahrkosten im engeren Sinne). Welche Fahrzeuge für die Fahrt im Einzelnen benutzt werden, richtet sich nach der medizinischen Indikation (60 Abs. 1 Satz 2 SGB V) bzw. nach der Krankentransport-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses. Die Krankenkasse muss lediglich diese Fahrkosten übernehmen; für alle übrigen Kosten (z. B. Investitionskosten) müssen die Bundesländer bzw. die Träger aufkommen. Eine Übersicht zur Finanzierung im Rettungsdienst ist in › Abb. 3.5 dargestellt.

ABB. 3.5 Finanzierung im Rettungsdienst (vereinfachte Darstellung) [L157]

Wirtschaftlichkeit des Rettungsdienstes Der Rettungsdienst untersteht dem Wirtschaftlichkeitsgebot. Dies bedeutet, dass die Leistungen ausreichend, zweckgebunden und wirtschaftlich sein müssen; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Dies soll u. a. durch eine angemessene Bedarfsplanung gewährleistet werden. Die Fahrkosten, die von den Krankenkassen bezahlt werden müssen, können entweder durch die Länder bzw. Kommunen festgelegt werden (Gebührenmodell) oder zwischen Krankenkassen und geeigneten Einrichtungen oder Unternehmen vertraglich vereinbart werden (Verhandlungsmodell). Faktisch hat die Krankenkasse in beiden Fällen verhältnismäßig wenig Einfluss auf die Gebühr bzw. Entgelte. Folge davon ist, dass die Kommunen häufig ihre übrigen Kosten über die Gebühren und Benutzerentgelte auf die Krankenkassen

umlegen. Dabei kommen die Krankenkassen nun auch für Kosten auf, die eigentlich von den Kommunen gezahlt werden müssten. Über die Fahrkosten im engeren Sinne hinaus tragen die Krankenkassen damit nahezu vollständig die Ausgaben für die Unterhaltung und den Einsatz der Rettungsmittel. Zugleich können sie allerdings kaum einen Einfluss auf Entscheidungen der Kommunen nehmen, z. B. zu Standort- oder Beschaffungsentscheidungen. Dieses Auseinanderfallen von Finanzierung des Rettungswesens und Entscheidungszuständigkeit im Rettungswesen begünstigt unwirtschaftliches Handeln, v. a. durch die Kommunen. Zudem sind Gebühren und Entgelte aufgrund der kommunalen Zuständigkeiten nicht einheitlich. Krankenkassen werden je nach Region unterschiedlich finanziell belastet. Organisations-/Finanzierungsmodelle Die Durchführung des Rettungsdienstes kann, wie bereits gezeigt, durch die jeweilige Kommune selbst oder durch beauftragte Hilfsorganisationen und/oder private Unternehmen erfolgen. Hinsichtlich der Finanzierung bzw. Abrechnung mit den Krankenkassen gibt es grds. drei Möglichkeiten, wie diese organisiert ist (sog. Betreibermodelle): • das kommunale Modell (Eigenerledigung), • das Submissionsmodell und • das Konzessionsmodell. Die drei Modelle sind in › Abb. 3.6 schematisch dargestellt.

ABB. 3.6 Organisationsmodelle im Rettungsdienst [L157] Beim kommunalen Modell führt die Kommune den Rettungsdienst eigenständig durch. Hierfür stellt sie selbst das notwendige Personal ein, beschafft die Fahrzeuge und Materialien und betreibt eigene Rettungswachen. Die Rettungsdienstleistungen werden auf kommunaler Ebene und aus eigenen Mitteln angeboten. Die Abrechnung mit den Krankenkassen erfolgt ebenfalls über die Kommune. Das kommunale Modell findet sich v. a. bei Berufsfeuerwehren, die auch den Rettungsdienst durchführen (meist in Großstädten). Die Organisation über das Submissions- oder Konzessionsmodell kommt infrage, wenn die Kommune den Rettungsdienst nicht selbst durchführt, sondern dafür externe Leistungserbringer beauftragt, z. B. Hilfsorganisationen und/oder private Unternehmen. Hierbei wird grds. in einem transparenten Verfahren ein Durchführungsauftrag an den ausgewählten Leistungserbringer vergeben. Die Leistungserbringer selbst können dabei in verschiedenen Gesellschaftsformen agieren (e. V., gGmbH, GmbH, …). Beim Submissionsmodell werden externe Leistungserbringer mit der Durchführung der Rettungsdienstleistung beauftragt. Als Gegenleistung vergütet die Kommune die erbrachten Leistungen dieser beauftragten Leistungserbringer. Die Abrechnung mit der jeweiligen Krankenkasse erfolgt durch die Kommune, diese rechnet die Leistungen im Sinne einer Refinanzierung ab. Der Leistungserbringer geht dabei nicht das Risiko ein, durch zu wenig Einsätze

nicht genug Geld zu bekommen und deshalb kleinere, wenig frequentierte Rettungswachen nicht mehr unterhalten zu können. Beim Konzessionsmodell erbringen ebenfalls externe Leistungserbringer die Rettungsdienstleistung. Anders als beim Submissionsmodell wird hier als Gegenleistung allerdings das Recht zur Nutzung der Erträge aus der Erbringung der Dienstleistung vereinbart. Dabei vergütet nicht die Kommune die im Rettungsdienst erbrachten Leistungen, sondern der Leistungserbringer rechnet selbst mit den Krankenkassen ab. Dem Leistungserbringer obliegt hierbei selbst das Risiko hinsichtlich der Deckung der entstandenen Kosten. Ob private Anbieter überhaupt an Rettungsdienstleistungen beteiligt werden können, ist in den jeweiligen Rettungsdienstgesetzen vorgegeben. Hierzu geben die entsprechenden Vorschriften vor, ob die rettungsdienstlichen Aufgaben vergeben werden „müssen“, „sollen“ oder „können“. Welches Modell schließlich Anwendung findet und wie dieses ausgestaltet wird, obliegt der Entscheidungshoheit der Kommunen sowie dem jeweiligen landesrechtlichen Rahmen. In einer weiteren Variante können private oder gewerbliche Rettungsdienstunternehmen einen Antrag darauf stellen, in einem bestimmten Gebiet den Rettungsdienst (mit) durchführen zu dürfen. Wird dies von der Kommune genehmigt, können auch diese Unternehmen in eigenem Namen und auf eigene Rechnung Rettungsdienstleistungen erbringen. Diese Variante findet sich häufig im, dem Rettungsdienst zugehörigen, qualifizierten Krankentransport.

3.11 Weitere Leistungserbringer und Berufsgruppen David Winkenbach Im Hinblick auf ein ganzheitliches Gesundheitssystem ergibt sich eine Vielfalt an Fachbereichen und entsprechenden Gesundheitsberufen. Die verschiedenen Leistungserbringer lassen sich dabei in Berufsgruppen und Ausbildungskategorien gliedern.

Der Begriff des Gesundheitsberufs ist gesetzlich nicht definiert. Allgemein werden unter diesem Begriff gemeinhin alle Berufe zusammengefasst, die im weitesten Sinne mit der menschlichen Gesundheit zu tun haben. Diese lassen sich zunächst anhand der gesetzlichen Grundlage unterteilen. Dabei sind einige Berufe in Bundes- oder Landesgesetzen geregelt, andere jedoch nicht. Unterschieden wird nach den Kategorien: 1. Geregelte Gesundheitsberufe 2. Nichtgeregelte Gesundheitsberufe (auch freie Gesundheitsberufe) Nicht gesetzlich geregelte Berufe sind in Ermangelung gesetzlicher Ausbildungsvorgaben auch nicht staatlich anerkannt. Inhaltlich beziehen sich diese Berufe meist auf nichtmedizinische Gesundheitsleistungen. Typisch dafür sind Tätigkeitsbereiche, die auf die Gesundheitsvorsorge ausgerichtet sind, wie Körperpflege, Stressbewältigung oder Persönlichkeitsentwicklungen. Gesetzlich geregelte Gesundheitsberufe sind staatlich anerkannt. Hier lässt sich unterscheiden, ob der jeweilige Beruf im Bundes- oder im Landesrecht geregelt ist. Maßgebend dafür ist die Gesetzgebungskompetenz, welche im Grundgesetz vorgibt, wer (Bund oder Land) für was (Berufsfeld) hinsichtlich der Gesetzgebung zuständig ist (› Kap. 2.3.3). Danach sind folgende Bereiche bundesrechtlich geregelt: • Heilberufe (Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG) • (Gesundheits-)Berufe nach dem Berufsbildungsgesetz (Art 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) • (Gesundheits-)Berufe nach der Handwerksordnung (sog. Gesundheitshandwerke) Heilberufe sind solche Berufe, deren inhaltlicher Tätigkeitsbereich auf die Heilung von Krankheiten und die medizinisch-helfende Behandlung und Betreuung von Patient*innen abzielt. Das Führen einer heilberuflichen Berufsbezeichnung ist staatlich geschützt, sodass eine Erlaubnis dafür nur auf Antrag erlangt werden kann. Diese kann bei besonders schwerwiegendem Fehlverhalten auch wieder von staatlicher Seite widerrufen werden (› Kap. 4.2.3). Die Ausbildung zu Heilberufen ist dabei stets in einer

Approbationsordnung oder Studien-/Ausbildungs- und Prüfungsverordnung klar vorgegeben, wodurch bundesweit eine inhaltlich und strukturell einheitliche Ausbildungsqualität gewährleistet wird (› Kap. 4.2.2). Damit werden von den Heilberufen sowohl akademische Berufe (Zulassung durch Approbation) als auch nichtakademische Berufe (Zulassung durch Berufserlaubnis) erfasst. Nichtakademische Heilberufe im Bereich der Humanmedizin werden dabei als Gesundheitsfachberufe bezeichnet. Zu den Heilberufen zählen u. a. die Tätigkeit als Ärzt*in, Apotheker*in, Hebamme, Altenpfleger*in, Gesundheitsfachfrau/-mann sowie Notfallsanitäter*in. All diese Berufe haben eine eigene bundesgesetzliche Grundlage, so wird z. B. die Ausbildung zur Gesundheitsfachfrau/-mann im Pflegeberufegesetz (PflBG) geregelt und die Ausbildung zur Notfallsanitäter*in im Notfallsanitätergesetz (NotSanG). Zu bemerken ist, dass die bundesgesetzlichen Grundlagen i. d. R. nur die Ausbildung und Zulassung, jedoch nicht die konkrete Durchführung der Berufstätigkeit regeln. Des Weiteren wird durch die Bundesgesetze jeweils nur die Erstzulassung zum Beruf geregelt, nicht aber die Fort- oder Weiterbildung nach Abschluss der Ausbildungen oder Studiengänge. Der Heilberuf der Notfallsanitäter*in stellt dabei unter den Gesundheitsberufen die medizinisch höchste, nichtakademische Qualifikation dar. Weitere (Gesundheits-)Berufe werden dual durch das Berufsbildungsgesetz (BBiG) geregelt. Die Berufe nach dem Berufsbildungsgesetz zeichnen sich inhaltlich oft durch Tätigkeiten in der Behandlungsassistenz aus, die zudem durch verwaltend-kaufmännische Inhalte ergänzt werden. Hierzu zählen z. B. medizinische und zahnmedizinische Fachangestellte sowie pharmazeutischkaufmännische Angestellte. Gesundheitshandwerke sind Gesundheitsberufe, deren Tätigkeitsschwerpunkt eher handwerklich orientiert ist. Sie unterfallen gesetzlich der Handwerksordnung (HwO). Zu den Gesundheitshandwerken zählen z. B. Zahntechniker*innen, Orthopädiemechaniker*innen oder Augenoptiker*innen.

Literatur und Internetquellen:

Bundesministerium für Gesundheit. Das deutsche Gesundheitssystem, Stand. 2023. Bundesministerium für Gesundheit, Ratgeber Pflege. 26. Aufl. 2023. Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK). Gesundheitswirtschaft Fakten & Zahlen – Daten 2021, Stand. 2023. Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste – Kurzinformation Zur Kategorisierung von Berufen im Gesundheitswesen (WD 9– 3000–058/16) Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste – Organisation der Notfallversorgung in Deutschland unter besonderer Berücksichtigung des Rettungsdienstes und des Ärztlichen Bereitschaftsdienstes (WD 9–3000–105/14) Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste – Überblick über die Notfallversorgung in Deutschland (WD 9–3000–042/22) Verlag Georg Thieme. I Care – Pflege. 2. Aufl 2020. Land. Das deutsche Gesundheitssystem – Struktur und Finanzierung. 1. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer; 2018. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/ge sundheitswesen/gesundheitsberufe/gesundheitsberufeallgemein.html (letzter Zugriff: 15. November 2023) https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/ge sundheitswesen/gesundheitswirtschaft/gesundheitswirtsc haft-als-jobmotor.html (letzter Zugriff: 15. November 2023) https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/202 0/12/PD20_N085_224.html (letzter Zugriff: 15. November 2023)

Kapitel 4 Berufsrecht David Winkenbach; Frank Sarangi; Eugen Latka

Im Rettungsdienst arbeiten und wirken verschiedene Berufsgruppen zusammen. Wesentlich geprägt werden die Rettungseinsätze dabei v. a. von • Notärzt*innen (› Kap. 4.1), • Notfallsanitäter*innen (› Kap. 4.2) und • Rettungssanitäter*innen (› Kap. 4.4). D ie s e s K ap it e l s o l l F olge nd e s ve r mitte ln: • Grundlagen zum Berufsrecht von Notärzt*innen, Notfallsanitäter*innen und Rettungssanitäter*innen • Aufgaben und Funktionen des Gesetzes über den Beruf der Notfallsanitäterin und des Notfallsanitäters (NotSanG) • Abläufe und Inhalte der Ausbildung zur Notfallsanitäter*in • Grundlagen zu den Handlungsformen im Rettungsdienst • Umfang der Kompetenzen aus dem NotSanG • Hintergrund und Besonderheiten des § 2a NotSanG • Grundlagen zur Qualifikation der Praxisanleiter*innen • Grundlagen zu Sorgfaltspflichten im Rettungsdienst insb. für Notfallsanitäter*innen • Erwägungen zum Sorgfaltsmaßstab • Hintergrund der Konsequenzen von sorgfaltswidrigem Verhalten • Die Bedeutung des Übernahmeverschuldens

W ic h tige R e ch ts q u e lle n fü r d ie s e s K ap ite l: • Gesetz über den Beruf der Notfallsanitäterin und des Notfallsanitäters (Notfallsanitätergesetz/NotSanG)

https://www.gesetze-im-internet.de/notsang/index.html • Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter (NotSanAPrV)

https://www.gesetze-im-internet.de/notsan-aprv/index.html • Gesetz über die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung (Heilpraktikergesetz/HeilprG)

https://www.gesetze-im-internet.de/heilprg/index.html • Ausbildungs- und Prüfungsverordnungen für Rettungssanitäterinnen und Rettungssanitäter sowie Rettungshelferinnen und Rettungshelfer der Bundesländer (hier z. B. RettAPrVO NRW)

https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_text_anzeigen?v_id=23220220901135350012

4.1 Notärzt*innen Frank Sarangi Auf der ärztlichen Seite im Rettungsdienst finden sich die Notärzt*innen (NA) wieder. In der Regel handelt es sich dabei um Ärzt*innen aus dem Bereich der Anästhesie, Inneren Medizin bzw. Unfallchirurgie und Chirurgie. Notärzt*innen versorgen im Rahmen der Notfallrettung gemeinsam mit dem nichtärztlichen Personal akut erkrankte und verletzte Patient*innen. Die Aufgabe von Notärzt*innen ist es primär, die lebenswichtigen Funktionen von Patient*innen wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten.

4.1.1 Ausbildung/Studium Notärzt*innen sind naturgemäß vollständig approbierte Ärzt*innen, die das übliche Studium der Humanmedizin in einem Umfang von normalerweise sechs Jahren durchlaufen und erfolgreich abgeschlossen haben. In der Regel verfügen Notärzt*innen auch noch über eine Facharztqualifikation. In der Praxis sind hier am häufigsten Fachärzt*innen für Anästhesiologie, für Unfallchirurgie sowie für Innere Medizin anzutreffen. Eine bestimmte Facharztqualifikation wird allerdings für die Tätigkeit im Notarztdienst nicht vorausgesetzt. Eine Ausnahme gilt nur, soweit eine besondere Facharztqualifikation etwa in dem Curriculum der jeweiligen Landesärztekammer zum Fachkundenachweis Rettungsdienst vorgesehen wäre.

4.1.2 Fachliche Qualifikation Im Rettungsdienst eingesetzte Notärzt*innen verfügen neben der ärztlichen Qualifikation über eine Zusatzweiterbildung in der Notfallmedizin. In der Regel handelt es sich dabei um den „Fachkundenachweis Rettungsdienst“. Bei diesem handelt es sich um eine theoretische und praktische Zusatzausbildung, die die jeweilige Ärzt*in in Bezug auf die Besonderheiten der Notfallrettung ausbildet. Wichtig ist hierbei hervorzuheben, dass es im Rettungsdienst keinen einheitlichen Facharztstandard gibt. Diese Tatsache ist u. a. dem Umstand geschuldet, dass sowohl die technischen als auch apparativen Versorgungsmöglichkeiten in der Präklinik stark begrenzt sind und unabhängig davon gelten, ob ein Unfallchirurg oder ein Anästhesist die Notfallpatient*innen versorgt. Eine fachärztliche Ausbildung zur „Notärzt*in“ existiert nicht. Die Musterweiterbildungsordnung der Bundesärztekammer in der Fassung vom 26. Juni 2021 führt als Weiterbildungsmöglichkeit die Zusatzweiterbildung „Notfallmedizin“ an. Diese Zusatzweiterbildung umfasst die Erkennung drohender und eingetretener Notfallsituationen und die Behandlung von Notfällen sowie die Wiederherstellung und Aufrechterhaltung akut bedrohlicher Vitalfunktionen. Die Weiterbildung dauert 24 Monate in der unmittelbaren Patientenversorgung sowie sechs Monate in der Intensivmedizin und der zentralen interdisziplinären Notaufnahme an. Zusätzlich werden 80 Stunden spezielle

Weiterbildung in spezieller Notfallbehandlung sowie 50 Notarzteinsätze im öffentlichen Rettungsdienst als Voraussetzungen aufgestellt. Die Ausbildung zur Notärzt*in erfordert nicht nur spezielles medizinisches Fachwissen. Sie erfordert vielmehr auch die Erfassung der Grundlagen des Rettungsdienstes sowie die Kenntnisse der Strukturen des Rettungsdienstes. Die konkrete Ausbildung richtet sich nach den jeweiligen Curricula der Ausbildungsträger. Die Bundesärztekammer hat eine Empfehlung für einen Indikationskatalog für den Notarzteinsatz (NAIK) erstellt, ohne dabei einen eigentlichen Standard zu definieren. Die erste Variante dieses Katalogs (2013) wurde im November 2023 aktualisiert. Es soll sich dabei um eine Handreichung für Telefondisponent*innen in Notdienstzentralen und Rettungsleitstellen handeln. Der Indikationskatalog für den Notarzteinsatz differenziert entlang des ABCDE-Schemas anhand verschiedener Symptome und besonderer Einsatzlagen. Zudem werden zu den Symptomen beispielhaft Krankheitsbilder genannt. Dieser Indikationskatalog stellt selbstverständlich keine verbindliche Vorgabe dar. Telefondisponent*innen sind gehalten, trotz dieses Indikationskatalogs im Einzelfall immer zu prüfen, ob die Entsendung eines NEF erforderlich ist oder nicht. Daneben sind regionale Besonderheiten zu berücksichtigen, wie etwa Vorgaben zur Standardisierten Notrufabfrage (SNA) oder Vorgaben der Ärztlichen Leiter*in Rettungsdienst. So ist es in der Praxis durchaus üblich, dass bei dem Einsatz Stichwort „stark erhöhter Blutdruck mit relevanten Begleitsymptomen“ nicht in jedem Fall eine Notärzt*in mit alarmiert wird, obwohl der Indikationskatalog der Bundesärztekammer eine solche Entsendung unter bestimmten Umständen empfiehlt. Der Katalog kann online eingesehen werden.

4.1.3 Rechtliche Stellung Die rechtliche Stellung der im Rettungsdienst eingesetzten Notärzt*innen ist nicht einheitlich. Teilweise sind diese „hauptberuflich“ tätig und damit Angestellte des Trägers des Rettungsdienstes oder einer Hilfsorganisation. Daneben gibt es die Konstellation, in der beteiligte Notärzt*innen als angestellte Krankenhausärzt*innen tätig sind und in ihrer Nebentätigkeit den Notarztdienst abdecken. In diesen Fällen obliegt die Gestellung dem jeweiligen Krankenhaus, das dann „sein“ Personal für den Notarztdienst zur Verfügung stellt. Rechtlich ist diese Unterscheidung aus Patientensicht unerheblich. Denn wenn der Träger des Rettungsdienstes auch die gesetzliche Aufgabe hat, die Notärzt*in zu stellen, so haftet dieser immer auch für etwaige Fehler dieser, und zwar unabhängig davon, ob die Notärzt*in durch ein Krankenhaus gestellt wird oder hauptberuflich tätig ist. Außerhalb der Fachkreise wird der Notarztdienst oft auch synonym für den kassenärztlichen Notfalldienst genutzt. Dieser Sprachgebrauch führt zu einer nicht ausreichenden Differenzierung bei der Betrachtung der Haftungsfrage. Natürlich haftet bei Fehlern der Notärzt*in nicht der kassenärztliche Notdienst; andersherum genauso wenig (vgl. › Kap. 3.4.1). Eine Sondersituation der rechtlichen Stellung der Notärzt*innen stellt sich für die Bereiche BadenWürttemberg und Thüringen dar. Nach einer (abzulehnenden) Entscheidung des OLG Karlsruhe [1] sei der Rettung9030sdienst in Baden-Württemberg privatrechtlich organisiert. Das OLG Karlsruhe meint, dass die eigentliche Zielsetzung der Notarztbehandlung die Durchführung der klassischen ärztlichen Heilbehandlung sei. Diese erfolge regelmäßig nicht in Ausübung eines öffentlichen Amtes. Dies bedeutet, dass bei einer Pflichtverletzung der Notärzt*innen nicht die Grundsätze der Amtshaftung greifen.

Eine weitere Sondersituation existiert in Thüringen. Mit seinem Urteil vom 12. Januar 2017 hat der Bundesgerichtshof [2] entschieden, da9035ss für Fehler des Notarztes im Rettungsdienst die kassenärztliche Vereinigung verantwortlich sei. Der Grund hierfür liege darin, dass die kassenärztliche Vereinigung nach dem einschlägigen Rettungsdienstgesetz (§ 7 Abs. 1 Thüringer Rettungsdienstgesetz) für die Gestellung und Organisation des Notarztdienstes verantwortlich sei. Eine umgekehrte Verantwortlichkeit hat das OLG Dresden in seinem Urteil vom 14. Februar 2017 [3] angenommen. Das9040 OLG Dresden hatte in einem Fall darüber zu entscheiden, ob für die nach § 28 Abs. 2 Rettungsdienstgesetz Sachsen erforderliche Sicherstellung der notärztlichen Versorgung die kassenärztliche Vereinigung oder die Landkreise und kreisfreien Städte nach § 3 Nr. 3 Rettungsdienst Sachsen zuständig wären. Im Ergebnis wurde diese Frage dahin bejaht, dass auch hier nach dem einschlägigen Rettungsdienstgesetz die kassenärztliche Vereinigung zuständig sei. Dieses Ergebnis wurde schlussendlich auch noch vom BGH [4] so bestätigt.

4.1.4 Rechte und Pflichten Notärzt*innen haben in erster Linie die Pflicht, Notfallpatient*innen ordnungsgemäß und fachgerecht zu versorgen. Der Rettungsdienst zeichnet sich aus Sicht der Notärzt*in dadurch aus, dass ein einheitlicher Standard nicht existiert. So existieren etwa beispielsweise keine AWMF-Leitlinien, die speziell für den Rettungsdienst entwickelt wurden. Vereinzelte Leitlinien (vgl. etwa die S3-Leitlinie Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung) greifen aber sehr wohl Behandlungsempfehlungen für den Bereich der Präklinik auf. Sind entsprechende Leitlinien vorhanden, die auch für den Bereich der Präklinik Vorgaben machen, so können sich diese durchaus zu einem Standard im Rettungsdienst entwickeln. In der rettungsdienstlichen Praxis ist für die Beurteilung eines möglichen Standards wiederum auf das jeweilige Landesrecht abzustellen. Den Rettungsdienstgesetzen der Länder ist gemeinsam, dass sie ebenfalls keinerlei medizinisch-fachliche Standards definieren. Die verschiedenen Landesregelungen weisen allerdings eine gemeinsame Schnittmenge auf, aus der sich folgende Aussage ableiten lässt: Der Rettungsdienst hat unter fachgerechter Betreuung in dafür ausgestatteten Rettungsmitteln bei lebensbedrohlich Verletzten oder Kranken (Notfallpatient*innen) am Notfallort lebensrettende Maßnahmen durchzuführen und die Transportfähigkeit herzustellen. Die im Rettungsdienst eingesetzten Notärzt*innen genießen, ebenso wie alle anderen Ärzt*innen außerhalb des Rettungsdienstes, eine sog. Therapiefreiheit. Therapiefreiheit bedeutet, dass die im Rettungsdienst eingesetzten Notärzt*innen allein anhand der medizinischen Indikation darüber entscheiden dürfen, welche medizinischen Maßnahmen erforderlich sind. So steht es den Notärzt*innen z. B. frei darüber zu entscheiden, ob die konkrete Analgesie mittels Esketamin oder Fentanyl durchgeführt werden soll. Ebenso wäre eine Notärzt*in z. B. frei in der Entscheidung, ob die dislozierte Fraktur des Sprunggelenkes mittels SAM Splint Schiene oder anderweitig oder überhaupt immobilisiert werden soll. Entscheidend ist, dass bei all diesen Maßnahmen im Rahmen der Therapiefreiheit der jeweils geltende medizinische Standard eingehalten werden muss. Es wurde bereits dargestellt, dass es keinen eigenen „Notärzt*innen-Facharzt“ gibt und dementsprechend die Frage eines Sorgfaltspflichtverstoßes (also eines Fehlers) auch nicht nach diesem Facharztstandard beurteilt werden kann. Kommt es im Einsatz allerdings zu einem Fehler der Notärzt*in, so ist fraglich, wie beurteilt wird, ob ein Sorgfaltspflichtverstoß gegeben ist oder nicht. Auch wenn es für die Notärzt*innen keinen speziellen Facharztstandard gibt, so gilt dennoch der übliche medizinische Standard. Betrifft also die Frage des Fehlers die Behandlung z. B. einer

Sprunggelenksfraktur in der Präklinik, so muss sich die Notärzt*in an dem hierfür geltenden Standard aus Leitlinien etc. messen lassen. Vereinfacht ausgedrückt: Gibt es für das jeweilige Krankheitsbild im Notarzteinsatz bestimmte Standards, die durch Vorgaben von ärztlichen Fachgesellschaften, Leitlinien oder gar Richtlinien definiert werden, so muss sich eine Notärzt*in hieran messen lassen, und zwar unabhängig davon, welcher ärztlichen Fachrichtung sie angehört. Gibt es also für die Behandlung einer dislozierten Sprunggelenksfraktur in der Präklinik einen bestimmten Standard, so ist dieser Standard durch die Notärzt*in einzuhalten.

4.1.5 Heilkunde Eugen Latka Der Begriff „Heilkunde“ wird in der Umgangssprache verwendet, um die Ausübung von Maßnahmen zu beschreiben, die normalerweise nur von Ärzt*innen durchgeführt werden (sog. Heilkundevorbehalt). Das „Gesetz über die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung“ (Heilpraktikergesetz oder HeilprG) wurde 1939 von der damaligen nationalsozialistischen Regierung in Deutschland beschlossen. Das HeilprG sollte v. a. die Kompetenzbereiche von ärztlichem und nichtärztlichem Personal abgrenzen und klare Kompetenzregelungen treffen. Eine Definition des Begriffs Heilkunde findet sich nur in diesem Gesetz. Der Begriff der Heilkunde ist sehr weit gefasst als „jede berufs- oder gewerbsmäßig vorgenommene Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung von Krankheiten, Leiden oder Körperschäden bei Menschen, auch wenn sie in den Diensten von anderen ausgeübt wird“. Das HeilprG legt fest, dass jemand, der die Heilkunde ohne offizielle Bestallung als Ärzt*in ausüben möchte, dazu die erforderliche Erlaubnis benötigt. Bestallung bedeutet, dass man von einer offiziellen Stelle beauftragt wurde, eine bestimmte Aufgabe oder ein Amt wahrzunehmen. Wer Heilkunde ausübt, ohne dafür eine Erlaubnis zu haben, kann nach diesem Gesetz sogar mit einer Freiheitsstrafe oder mit Geldstrafe bestraft werden (§ 5 HeilprG). Der § 2a NotSanG stellt eine Spezialregelung gegenüber dem HeilprG dar, die es Notfallsanitäter*innen ausnahmsweise erlaubt, unter bestimmten Voraussetzungen eigenverantwortlich heilkundliche Maßnahmen durchzuführen. Bevor der § 2a im Jahr 2021 im NotSanG aufgenommen wurde, konnten sich die Notfallsanitäter*innen bei der Durchführung heilkundlicher Tätigkeiten nur durch eine Berufung auf den rechtfertigenden Notstand gem. § 34 StGB vor Strafbarkeit schützen (dazu › Kap. 4.2.4).

4.2 Notfallsanitäter*innen Der Rettungsdienst ist ein unverzichtbarer Teil der staatlichen Gefahrenabwehr und Daseinsvorsorge (› Kap. 2.7.1). Aufgabe des Staates ist es sicherzustellen, dass Menschen in Notfällen • qualifizierte, • bedarfsgerechte, • zeitnahe und • flächendeckende

medizinische Hilfe erhalten, die dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik entspricht. Um diesem hohen Anspruch gerecht zu werden, ist es wichtig, dass das Rettungswesen leistungsstark und auf die Bedürfnisse der Patient*innen ausgerichtet ist. Die professionelle Zusammenarbeit von ärztlichem und nichtärztlichem Personal trägt dazu bei, dass Patient*innen optimal behandelt werden können. In diesem Zusammenhang haben die Notfallsanitäter*innen (NotSan/NFS) eine große Verantwortung. Sie besetzen die Rettungsmittel in der Notfallrettung und im Krankentransport. Darüber hinaus wirken sie bei der Versorgung einer größeren Anzahl Verletzter oder Erkrankter bei Großeinsatzlagen und Katastrophen (› Kap. 5.4) mit. Notfallsanitäter*innen sind wichtiges Fachpersonal der deutschen Rettungsdienste. Sie werden speziell ausgebildet, um schnell und effektiv auf Notfälle reagieren zu können und sind in der Lage, eine Vielzahl von medizinischen und rettungstechnischen Maßnahmen durchzuführen, um den Gesundheitszustand von Patient*innen in Notfällen zu stabilisieren und zu verbessern. Sie unterstützen Ärzt*innen bei der Notfallversorgung erkrankter und verletzter Personen. Am Einsatzort arbeiten Notfallsanitäter*innen eng mit anderen Berufsgruppen und Menschen zusammen, um sicherzustellen, dass die Patient*innen die bestmögliche Versorgung erhalten. Sie führen qualitätssichernde und organisatorische Maßnahmen im Rettungsdienst durch und sorgen dafür, dass die Einsatz- und Betriebsfähigkeit der Rettungsmittel stets gewährleistet ist. Weiter achten sie dabei auf die Einhaltung von Hygienevorschriften, rechtlichen Arbeits- und Unfallschutzvorschriften und veranlassen, dass alle notwendigen Maßnahmen ergriffen werden, um das Risiko von Unfällen und Infektionen zu minimieren. Notfallsanitäter*innen sind überwiegend im Rettungsdienst tätig, darüber hinaus aber auch in Notaufnahmen von Krankenhäusern oder dem Sanitätsdienst der Bundeswehr einsetzbar. Sie besitzen die höchste nichtärztliche Qualifikation im deutschen Rettungswesen.

4.2.1 Gesetz über den Beruf der Notfallsanitäterin und des Notfallsanitäters Der Gesetzgeber hat nach intensiven Diskussionen eine Reform des Berufsbildes von Rettungsdienstbeschäftigten, die keine ärztliche Approbation besitzen, geschaffen und den Zugang zu diesem Beruf in einem Gesetz geregelt. Das „Gesetz über den Beruf der Notfallsanitäterin und des Notfallsanitäters“ (NotSanG) trat am 1. Januar 2014 in Kraft, um das Gesetz über den Beruf der Rettungsassistentin und des Rettungsassistenten vom Juli 1989 abzulösen. Das NotSanG ist ein Ausbildungs- und Berufszulassungsgesetz für einen spezialisierten Gesundheitsfachberuf. Mit dem erfolgreichen Abschluss der Ausbildung wird durch die Erteilung der Erlaubnis, die Berufsbezeichnung „Notfallsanitäterin“ oder „Notfallsanitäter“ zu führen, der Berufszugang gewährleistet. Das Berufsbildungsgesetz (BBiG) findet keine Anwendung für die Ausbildung zur Notfallsanitäter*in. Das NotSanG ist ein Bundesgesetz. Gemäß Art. 74 Nr. 19 GG hat der Bund nur eine Gesetzgebungskompetenz für die Berufszulassung (› Kap. 2.3.3). Als Berufszulassungsgesetz hat das NotSanG keinen Einfluss auf die Organisation des Rettungsdienstes. Es regelt insb. nicht die Art und Weise der Berufsausübung, d. h. die Tätigkeit der Notfallsanitäter*innen im Rettungsdienst. Der Einsatz von Notfallsanitäter*innen im Rettungsdienst und deren Befugnisse ergeben sich vielmehr aus den Rettungsdienstgesetzen der Bundesländer und den auf deren Grundlage erlassenen Durchführungsverordnungen (› Kap. 3.10.3).

Me rke Das NotSanG ist ein Ausbildungs- und Berufszulassungsgesetz. Es regelt nicht die Organisation des Rettungsdienstes und nicht die Art und Weise der Berufsausübung. Zweck der Ausbildung zur Notfallsanitäter*in ist der Gesetzesbegründung zufolge, zur Professionalisierung der präklinischen notfallmedizinischen Versorgung beizutragen und so den Patient*innen die bestmögliche Hilfe in Notfällen zukommen zu lassen. Vor diesem Hintergrund regelt das Gesetz umfassend die Ausbildung zur Notfallsanitäter*in, die sich wesentlich von der bisherigen Ausbildung zum Beruf der Rettungsassistent*in unterscheidet (› Kap. 4.5).

4.2.2 Ausbildungs- und Prüfungsverordnung Eine Ausbildungs- und Prüfungsverordnung legt fest, wie eine Berufsausbildung strukturiert sein und wie Prüfungen der erworbenen Fähigkeiten und Kenntnisse durchgeführt werden müssen. Solche Regelwerke werden von staatlichen Institutionen oder Behörden erlassen, um die Qualität der Ausbildung und Prüfung zu gewährleisten und sicherzustellen, dass die Teilnehmenden die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten erwerben, um ihren Beruf ausüben zu können. Die „Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter“ (NotSan-APrV) wurde vom Bundesministerium für Gesundheit in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung und mit Zustimmung des Bundesrates am 16. Dezember 2013 verabschiedet. Sie basiert auf einer Verordnungsermächtigung im NotSanG (§ 11 NotSanG) und hat das Ziel, die Qualität der Ausbildung und Prüfung von Notfallsanitäter*innen bundeseinheitlich zu sichern. Die NotSan-APrV unterteilt sich in sechs verschiedene Abschnitte: Im ersten Abschnitt werden die allgemeinen Ausbildungs- und Prüfungsbestimmungen behandelt. Dieser Abschnitt enthält auch Informationen zur Gliederung der NotSan-Ausbildung und -Prüfung sowie zu den Einzelheiten der Ergänzungsausbildung und -prüfung für Rettungsassistent*innen. Der zweite Abschnitt enthält die Bestimmungen für die staatliche Prüfung, einschließlich der schriftlichen, praktischen und mündlichen Prüfung. Der dritte Abschnitt befasst sich mit den Prüfungsbestimmungen für die staatliche Ergänzungsprüfung. Der vierte Abschnitt befasst sich u. a. mit Anpassungsmaßnahmen für Inhaber von Ausbildungsnachweisen, Anerkennungsregelungen, Fristen, Bescheiden und Durchführungsbestimmungen. In den letzten beiden Abschnitten werden die Voraussetzungen für die Ausstellung der Erlaubnisurkunde (Erteilung der Erlaubnis zum Führen der Berufsbezeichnung) beschrieben. Diese Abschnitte enthalten auch Übergangsvorschriften für begonnene Ausbildungen zu Rettungsassistentinnen und Rettungsassistenten sowie Informationen zum Inkrafttreten dieser Verordnung und Außerkrafttreten der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Rettungsassistentinnen und Rettungsassistenten.

4.2.3 Ausbildung Die Ausbildung zur Notfallsanitäter*in dauert drei Jahre in Vollzeit und kann in Teilzeitform auf höchstens fünf Jahre verlängert werden. Die Ausbildung umfasst sowohl theoretischen als auch praktischen Unterricht an staatlich anerkannten Schulen sowie weitere praktische Ausbildung in Lehrrettungswachen und geeigneten Krankenhäusern. Sie schließt mit einer staatlichen Prüfung ab.

Die Ziele einer Ausbildung sind die Kenntnisse, Fähigkeiten und Kompetenzen, die während der Ausbildung von Auszubildenden grds. erworben werden müssen. Diese Ziele sollen sicherstellen, dass die Auszubildenden am Ende ihrer Ausbildung über das notwendige Know-how und die erforderlichen Kompetenzen verfügen, um ihre beruflichen Tätigkeiten erfolgreich auszuüben. Ebenso sollen sie die Qualität der Ausbildung sichern und verbessern. Im NotSanG sind die Ausbildungsziele im Sinne der zu erlangenden Kompetenzen konkret vorgegeben. Die 4.600-stündige Ausbildung gliedert sich in die folgenden Bereiche auf: • 1.920 Stunden theoretischen und praktischen Unterricht in der Schule • 1.960 Stunden praktische Ausbildung in genehmigten Lehrrettungswachen • 720 Stunden praktische Ausbildung in geeigneten Krankenhäusern Praxis tip p Anrechnung von Vorleistungen: Eine Anerkennung gleichwertiger Ausbildungen kann z. B. analog der Rettungssanitäter*innenAusbildung oder einer Feuerwehrausbildung zum Zwecke der Ausbildungsverkürzung erfolgen. Die konkreten Regelungen zur Anrechnung von Vorleistungen können je nach Bundesland und Bildungseinrichtung unterschiedlich sein. Es ist daher empfehlenswert, sich bei der entsprechenden Stelle oder Bildungseinrichtung über die genauen Regelungen zur Anerkennung von Vorleistungen zu informieren. Die Schule trägt die Gesamtverantwortung für die Organisation und Koordination von Theorie- und Praxisunterricht sowie für die praktische Ausbildung an den weiteren Lernorten, die auf das Ausbildungsziel abzielen. Sie unterstützt die praktische Ausbildung durch Beratungsbesuche der Lehrkräfte. An den weiteren Lernorten werden die Teilnehmenden durch dafür speziell geschulte praxisanleitende Personen (Praxisanleiter*innen, › Kap. 4.3) betreut. Um die Ausbildung beginnen zu können, müssen die Teilnehmenden neben der gesundheitlichen Eignung zur Ausübung für den Beruf entweder den mittleren Schulabschluss oder eine andere vergleichbare Schulbildung abgeschlossen oder eine Berufsausbildung von mindestens zweijähriger Dauer nach dem Hauptschulabschluss oder einer vergleichbaren Schulbildung erfolgreich absolviert haben. Der Bundesgesetzgeber hat sowohl im NotSanG als auch in der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung (NotSan-APrV) ausdrücklich auf die Regelung eines Mindestzugangsalters zur Ausbildung verzichtet. Stattdessen wird die Eignung nicht ausschließlich anhand des Alters beurteilt, da individuelle Eigenschaften wie Reifegrad, Einsichtigkeit und Belastbarkeit unterschiedlich ausgeprägt sein können. Wichtig ist vielmehr, dass die Bewerber*innen die notwendigen Fähigkeiten besitzen, um den Anforderungen des Berufs gewachsen zu sein. Deshalb obliegt es den Arbeitgebenden, vor Ausbildungsbeginn zu prüfen, ob eine Bewerber*in in ausreichendem Maße den persönlichen Eindruck vermittelt, die Herausforderungen des Berufs der Notfallsanitäter*in bewältigen zu können. Der Besitz eines Führerscheins ist für die Ausbildung nicht relevant, da die Hauptaufgabe der Schüler*innen während der Ausbildung nicht darin bestehen soll, Rettungsmittel zu steuern. Die Teilnehmenden müssen die vorgeschriebene Ausbildungszeit absolviert und die staatliche Prüfung erfolgreich abgeschlossen haben, um die Erlaubnis (§ 2 NotSanG) zur Ausübung des Berufs zu

erhalten. Außerdem dürfen sie sich keines Verhaltens schuldig gemacht haben, das auf Unzuverlässigkeit hinweist. Sie müssen gesundheitlich geeignet sein und über die notwendigen Kenntnisse der deutschen Sprache verfügen. A c h tu ng Die Erlaubnis, die Berufsbezeichnung „Notfallsanitäterin“ oder „Notfallsanitäter“ zu führen kann widerrufen werden, wenn nachträglich die Voraussetzungen weggefallen. Sollten die Notfallsanitäter*innen in gesundheitlicher Hinsicht zur Ausübung des Berufs ungeeignet sein oder sich eines Verhaltens schuldig gemacht haben, aus dem sich die Unzuverlässigkeit zur Ausübung des Berufs ergibt, kann nach dem NotSanG die Erlaubnis zur Führung der Berufsbezeichnung widerrufen werden. R e ch t in e ch t (Fall 4.1) Im Jahr 2015 wurde die Berufserlaubnis eines Rettungsassistenten widerrufen. Der Fall ist exemplarisch auch mit dem Widerruf der Berufserlaubnis einer Notfallsanitäter*in vergleichbar. Dem betreffenden Rettungsassistenten wurde der Besitz einer jugendpornografischen Bilddatei auf seinem Laptop nachgewiesen. Zudem fiel er durch Unzuverlässigkeit auf, weil er unberechtigt indikationslos gefahrgeneigte Medikamente verabreicht hatte. Der Widerruf der Berufserlaubnis wurde unverzüglich durchgesetzt, da das Verhalten des Rettungsassistenten darauf schließen lässt, dass er nicht die erforderliche Zuverlässigkeit besitzt, die für den Beruf notwendig ist. Im Rettungsdienst tätiges Personal steht in einem besonderen Vertrauensverhältnis zu den oft hilf- und wehrlosen Patient*innen. Es ist daher von entscheidender Bedeutung, dass Patient*innen darauf vertrauen können, dass das Personal im Rettungsdienst ihre Hilflosigkeit nicht für eigene Zwecke ausnutzt. In Anbetracht des hohen Stellenwerts des Schutzes der Gesundheit der Bevölkerung und der Integrität des Personals im Rettungsdienst, überwiegt das öffentliche Interesse an dem Widerruf der Berufserlaubnis gegenüber den privaten Interessen des Rettungsassistenten. [5] Zwischen dem Ausbildungsträger und der Schüler*in muss gemäß NotSanG ein schriftlicher Ausbildungsvertrag geschlossen werden (§ 12 NotSanG) und der Ausbildungsträger hat der Schüler*in eine angemessene Ausbildungsvergütung zu gewähren (§ 15 NotSanG). Daher ist eine private Teilnahme an der Ausbildung, also ohne einen Ausbildungsvertrag mit einem Ausbildungsträger, nicht möglich. Me rke Der Ausbildungsvertrag muss gem. § 12 Abs. 2 NotSanG mindestens Folgendes enthalten: 1. die Bezeichnung des Berufs, 2. den Beginn und die Dauer der Ausbildung, 3. Angaben über die der Ausbildung zugrunde liegenden Ausbildungs- und Prüfungsverordnung sowie über die inhaltliche und zeitliche Gliederung der praktischen Ausbildung, 4. die Dauer der regelmäßigen täglichen oder wöchentlichen Arbeitszeit, 5. die Dauer der Probezeit, 6. Angaben über Zahlung und Höhe der Ausbildungsvergütung, 7. die Dauer des Urlaubs,

8. die Voraussetzungen, unter denen der Ausbildungsvertrag gekündigt werden kann, und 9. die dem Ausbildungsvertrag zugrunde liegenden tariflichen Bestimmungen und Dienstvereinbarungen.

Im ersten Halbjahr der Ausbildung werden die Teilnehmenden mit den Grundlagen des Rettungsdienstes vertraut gemacht und erwerben i. d. R. eine Mindestqualifikation für den Einsatz im Rettungsdienst. Diese Mindestqualifikation, häufig die Ausbildung zur Rettungssanitäter*in, ist wichtig, da dies in einigen Bundesländern eine Grundvoraussetzung ist, um als zweite Kraft in der Ausbildung eingesetzt zu werden. Das zweite Halbjahr konzentriert sich auf die Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten für die Durchführung und Organisation von Krankentransporten sowie auf die erste Einführung in die Notfallrettung. Im zweiten Jahr der Ausbildung werden die Teilnehmenden mit Kenntnissen und Fertigkeiten für die Durchführung und Organisation von Einsätzen in der Notfallrettung vertraut gemacht. Im dritten Jahr der Ausbildung wird eine fachübergreifende Kompetenz erworben, die die Kenntnisse und Fertigkeiten im Rettungsdienst, insb. in der Notfallrettung, vertieft und die verantwortliche Übernahme von Notfalleinsätzen ermöglicht, sowie das Kennenlernen besonderer Einsatzbereiche. Durch den Unterricht in der Schule sollen die Teilnehmenden in die Lage versetzt werden, ihr fachliches Wissen und Können sowie allgemein anerkannte rettungsdienstliche, medizinische und bezugswissenschaftliche Erkenntnisse zu nutzen, um Aufgaben zielgerichtet, sachgerecht, methodengeleitet und selbstständig zu lösen und das Ergebnis zu beurteilen. Das Ziel des Unterrichts ist es, die Teilnehmenden auf diese Weise gut auf ihren künftigen Beruf vorzubereiten. Neben dem Fokus auf fachliches Wissen und Können soll der Unterricht auch die Entwicklung von Personal-, Sozial- und Selbstkompetenzen fördern, die für den Beruf im Rettungsdienst von großer Bedeutung sind. Die Teilnehmenden sollen zudem ausreichende Möglichkeiten bekommen, die Fertigkeiten zu entwickeln und zu üben, die für die Erreichung des Ausbildungsziels nach dem NotSanG erforderlich sind. Diese Fertigkeiten sind ebenfalls wichtig, um die Teilnehmenden gut auf ihren künftigen Beruf vorzubereiten. Die praktische Ausbildung soll den Teilnehmenden die Möglichkeit geben, ihr im Unterricht erworbenes Wissen zu vertiefen und zu lernen, wie sie es in ihrer späteren beruflichen Tätigkeit anwenden können. Durch die praktische Ausbildung können die Teilnehmenden Handlungskompetenzen entwickeln, die für die Erreichung des Ausbildungsziels erforderlich sind. Sie lernen also nicht nur die Theorie, sondern auch, wie sie das Gelernte in die Praxis umsetzen können. Während der praktischen Ausbildung in genehmigten Lehrrettungswachen sind all die Themenbereiche des theoretischen und praktischen Unterrichts aus der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Notfallsanitäter*innen (NotSan-APrV) einzuüben und zu vertiefen. Hierzu sind einsatzfreie Zeiten, aber auch praktische Einsätze zu nutzen. › Tab. 4.1 zeigt eine Aufteilung der Stunden.

Tab. 4.1 Umfang und Aufgabenbereiche der praktischen Ausbildung an der Rettungswache Aufgabenbereich

Stunden

Dienst an einer Rettungswache

40 Std.

Durchführung und Organisation von Einsätzen in der Notfallrettung

1.600

• Die Schüler*innen sind dabei zu befähigen, bei realen Einsätzen unter Aufsicht und

Std.

Anleitung Verantwortung zu entwickeln und zu übernehmen. • Hierzu haben sie an mindestens 175 realen Einsätzen (darin enthalten sein können bis zu 25 reale Einsätze im Krankentransport), von denen mindestens 50 unter Beteiligung einer Notärzt*in erfolgen müssen, teilzunehmen. • Ferner ist darauf hinzuwirken, dass die Schüler*innen Handlungskompetenz im Rahmen der Zusammenarbeit mit Feuerwehr und Polizei entwickeln. Zur freien Verteilung auf die Einsatzbereiche 1 und 2 sowie zur Hospitation an einer

320 Std.

Rettungsleitstelle oder integrierten Leitstelle Stundenzahl insgesamt

1.960 Std.

Die praktische Ausbildung in geeigneten Krankenhäusern umfasst 720 Stunden und beinhaltet in allen Funktionsbereichen die grundlegenden Prinzipien der Hygiene und des Infektionsschutzes, Verfahren der Krankenbeobachtung und Patientenüberwachung inklusive der dazugehörigen Geräte, den Umgang mit Arzneimitteln sowie Maßnahmen für ihre Vorbereitung und Verabreichung, den Prozess einer allgemeinen Patientenaufnahme sowie der Patientenübergabe, die Dokumentation, den Dienstbetrieb und die räumlichen Gegebenheiten. Die Schüler*innen sollen in allen Funktionsbereichen befähigt werden, in dem für den Beruf der Notfallsanitäter*in notwendigen Ausmaß die dafür erforderlichen Maßnahmen zu kennen und eigenständig oder unter Anleitung durchzuführen. Die Funktionsbereiche sind in › Tab. 4.2 dargestellt.

Tab. 4.2 Umfang und Funktionsbereiche der praktischen Ausbildung im Krankenhaus Funktionsbereich

Stunden

Pflegeabteilung

80 Std.

Interdisziplinäre Notfallaufnahme

120 Std.

Anästhesie- und OP-Abteilung

280 Std.

Intensivmedizinische Abteilung

120 Std.

Geburtshilfliche, pädiatrische oder kinderchirurgische Fachabteilung/Intensivstation oder

40 Std.

Station mit entsprechenden Patient*innen Psychiatrische, gerontopsychiatrische oder gerontologische Fachabteilung

80 Std.

Stundenzahl insgesamt

720 Std.

Sollte es nicht möglich sein, die praktische Anwendung in einer geeigneten klinischen Einrichtung wie einer geburtshilflichen, pädiatrischen oder kinderchirurgischen Abteilung oder Intensivstation zu gewährleisten, ist ein simulationsbasiertes Training von der Bildungseinrichtung bereitzustellen. Zudem muss eine dem Krankenhaus vergleichbare simulationsgestützte Schulung angeboten werden, wenn der direkte Patientenkontakt in einer Intensivmedizin-Abteilung nicht vollumfänglich sichergestellt ist. Dabei darf das simulationsbasierte Training höchstens 30 Stunden umfassen. Wenn der direkte Kontakt mit Patient*innen in einer Anästhesie- und OP-Abteilung nicht gewährleistet werden kann, müssen die Schule oder das Krankenhaus ein entsprechendes, dem klinischen Umfeld äquivalentes simulationsgestütztes Training bereitstellen. In diesem Fall darf das Training maximal 70 Stunden dauern. Schule und jeweilige Praxisausbildungsstätte arbeiten auf der Basis von Kooperationsvereinbarungen gemeinsam an der Erstellung und Durchführung des simulationsbasierten Trainings. R e ch t in e ch t (Fall 4.2) Während einer Lernsituation in der Schule wird das Thema der richtigen Positionierung von Klebeelektroden beim Elektrokardiogramm (EKG) behandelt. Zu Beginn werden hauptsächlich die Grundlagen der verschiedenen Ableitungen des EKG und die richtige Positionierung der Klebeelektroden in der Theorie vermittelt, wobei auch eine praktische Demonstration an einem Beispiel gezeigt wird. In den weiteren Lernorten der Ausbildung werden die Teilnehmenden die Gelegenheit bekommen, dass zuvor erworbene Wissen praktisch an Patient*innen anzuwenden, um ihre Handlungskompetenz stetig weiterzuentwickeln. Hierbei werden z. B. die erlangten Fertigkeiten zur richtigen Positionierung der EKG-Klebeelektroden an echten Patient*innen im klinischen Setting umgesetzt. Me rke Pflichten für die Schüler*innen (§ 14 NotSanG)

Die Schüler*innen haben sich zu bemühen, die aus den Ausbildungszielen abgeleiteten Fertigkeiten zu erlangen, die für das erfolgreiche Bestehen der Ausbildung erforderlich sind. Insbesondere sind sie verpflichtet, 1. an den vorgeschriebenen Ausbildungsveranstaltungen teilzunehmen, 2. die im Rahmen der Ausbildung übertragenen Aufgaben sorgfältig auszuführen und 3. die geltenden Regelungen zur Schweigepflicht sowie den Schutz von Betriebsgeheimnissen in den Lernorten Lehrrettungswachen und Krankenhäuser zu beachten.

R e ch t in e ch t (Fall 4.3) Während der schulischen Ausbildung möchte ein Lernender an einer bedeutsamen privaten Sportveranstaltung teilnehmen. Die Schule wird gefragt, ob es möglich ist, für dieses Ereignis von den obligatorischen Bildungsmaßnahmen fernzubleiben. Der Antrag wird jedoch abgelehnt, da die Schüler*innen gesetzlich verpflichtet sind, an den vorgesehenen Lehrveranstaltungen teilzunehmen und somit die Ausbildung Vorrang hat. (Fall 4.4) Im Laufe der Ausbildungszeit finden verschiedene Erfolgskontrollen statt. Zeigen Schüler*innen wiederholt mangelhafte Ergebnisse, erfüllen sie nicht ihre Pflicht, die im Rahmen der Ausbildung übertragenen Aufgaben sorgfältig auszuführen, also das Lernen. Dadurch verstoßen sie gegen die im NotSanG festgelegten Regelungen.

4.2.4 Kompetenzen von Notfallsanitäter*innen David Winkenbach, Eugen Latka Notfallsanitäter*innen agieren gemäß den anerkannten rettungsdienstlichen, medizinischen und weiteren bezugswissenschaftlichen Erkenntnissen. Sie handeln eigenverantwortlich und wirken im Team mit. Dabei werden • fachliche, • persönliche, • soziale und • methodische Fähigkeiten eingesetzt. Außerdem berücksichtigen sie bei ihrem Handeln die Lebenssituation, Lebensphase und Selbstbestimmung der Patient*innen. Im NotSanG sind verschiedene Kompetenzen normiert, die von Notfallsanitäter*innen in der dreijährigen Ausbildung erlangt werden sollen. Die hierbei getroffenen Unterscheidungen müssen Notfallsanitäter*innen zwingend geläufig sein, um rechtssicher arbeiten zu können. Notfallsanitäter*innen sind grds. dazu berechtigt und verpflichtet, diese gesetzlich normierten Kompetenzen auszuüben. Es handelt sich um Maßnahmen und Handlungen, die eine selbstständige Leistung im Rahmen der rettungsdienstlichen Tätigkeit darstellen können. Nach einer älteren Stellungnahme der Bundesärztekammer wird ein sog. Kernbereich ärztlichen Handelns beschrieben. Dieser umfasst medizinische Leistungen, die aufgrund ihrer Gefährlichkeit oder Komplexität abschließend nur von Ärzt*innen erbracht werden können (z. B. eine abschließende Diagnose). Bei den im NotSanG vorgesehenen Kompetenzen, kommt es begrifflich zu einigen

Überschneidungen mit diesem „ärztlichen Kernbereich“. Dabei kommt es jedoch keineswegs zu einem unzulässigen Eingriff in den ärztlichen Kernbereich. Bei der benannten Stellungnahme handelt es sich um eine relativ alte Ansicht, die noch weit vor dem Inkrafttreten des NotSanG öffentlich wurde und für den Rettungsdienst allenfalls eine geringe Bedeutung hat. Zudem weisen Stellungnahmen im Gegensatz zu Gesetzen keine Rechtsverbindlichkeit auf (› Kap. 2.5.4). Handlungsformen in der Notfallmedizin Um die einzelnen v. a. fachlichen Kompetenzen und deren Grenzen zu verstehen, müssen zunächst verschiedene Handlungsformen in der Notfallmedizin unterschieden werden. Hierbei wird grds. differenziert zwischen • Mitwirkung, – Assistenz – Delegation • Substitution und • Eigenverantwortlichkeit. Die Handlungsform der Mitwirkung bezieht sich auf die Beteiligung einer Person an einer Handlung oder Entscheidung einer anderen Person. Diese Beteiligung kann in unterschiedlicher Form erfolgen, bedeutet aber generell, dass aktiv dazu beigetragen wird, ein Ziel zu erreichen oder einen Prozess zu fördern. Im Rahmen der Mitwirkung kann zwischen den Unterformen Assistenz und Delegation differenziert werden. Assistenz im medizinischen Bereich bezieht sich auf die Unterstützung, die eine medizinische Fachkraft einer Ärzt*in oder anderem medizinischen Fachpersonal bei der Durchführung von Aufgaben und Verfahren leistet. Im Gegensatz zur Delegation beinhalten reine Assistenztätigkeiten lediglich untergeordnete Aufgaben und Handreichungen z. B. von Notfallsanitäter*innen im gemeinsamen Einsatz mit Ärzt*innen, ohne dass sie eine eigenständige Kompetenz hinsichtlich der Durchführung von Behandlungen bekommen. Die Delegation bezieht sich auf die Übertragung von bestimmten medizinischen Aufgaben oder Verantwortlichkeiten. Dies erfolgt häufig entlang verschiedener fachlicher Qualifikationen. In der Regel wird von einer höher qualifizierten Person eine Aufgabe an eine weniger qualifizierte Person delegiert. Die delegierende Person bleibt weiterhin für die Überwachung und Kontrolle der delegierten Maßnahmen verantwortlich, während die delegierte Person die Aufgaben ausführt. Für eine Delegation ist somit kennzeichnend, dass die fachliche Verantwortung für die Frage des „Ob“ einer delegierten Maßnahme stets bei der delegierenden Person (z. B. Ärzt*in) verbleibt. Demgegenüber geht die Verantwortlichkeit für das „Wie“ einer delegierten Maßnahme auf die Delegationsempfänger*in über. Wichtig dabei ist, dass die Person, der die Aufgaben übertragen werden, über das notwendige Wissen und die erforderlichen Fähigkeiten verfügt, um die delegierten Aufgaben sicher und effektiv auszuführen. Die durchführende Person trägt auch die Verantwortung für die tatsächliche Durchführung einer Handlung (Durchführungsverantwortung). Übernimmt eine Person eine delegierte Aufgabe, von der sie weiß, dass sie nicht über die notwendigen Fähigkeiten für dessen Durchführung verfügt, kommt ein sog. Übernahmeverschulden in Betracht (› Kap. 4.6.4). Die Delegation erfolgt regelmäßig entlang des Weisungsrechts (› Kap. 4.2.7).

Me rke Im medizinischen Bereich erfolgt die Delegation häufig durch ärztliches Personal an nichtärztliches Fachpersonal. Bei der Delegation behalten die Ärzt*innen die Entscheidungsbefugnis und die Verantwortung für die Anordnung und Überwachung der Tätigkeiten. Das nichtärztliche Personal führt die delegierten Aufgaben selbstständig aus, jedoch immer in mitwirkender Rolle und nicht in eigenverantwortlicher Ausübung. Die Verantwortung für die korrekte Durchführung der delegierten Aufgaben liegt bei der Delegationsempfänger*in. Für eine Durchführung einer Aufgabe nach Delegation muss über das dafür notwendige Wissen und die erforderlichen Fähigkeiten verfügt werden. Bei der Assistenz ist das nichtärztliche Personal in erster Linie zur Unterstützung der Ärzt*innen da, und es werden keine eigenverantwortlichen Entscheidungen oder Maßnahmen von ihm ihnen erwartet. Die Verantwortung für die Entscheidung liegt bei der Ärzt*in, während das assistierende Personal für die korrekte Durchführung der ihnen zugewiesenen Aufgaben verantwortlich ist. A c h tu ng Eine Delegation ist die Übertragung der Durchführungskompetenz. Wird eine Maßnahme zur Durchführung delegiert, handelt es sich nicht um eine eigenverantwortliche Maßnahme der durchführenden Person. Die Verantwortung hinsichtlich der Entscheidung liegt bei der delegierenden (häufig ärztlichen) Person. Die Verantwortung hinsichtlich der Durchführung liegt bei der durchführenden (häufig nichtärztlichen) Person. Substitution bezieht sich im medizinischen Kontext darauf, dass eine andere Ärzt*in oder medizinische Fachkraft anstelle der ursprünglich zuständigen Ärzt*in eine medizinische Behandlung oder Versorgung einer Patient*in übernimmt. Im Gegensatz zur Delegation, bei der nur die Verantwortung für die Durchführung einer Tätigkeit auf das nichtärztliche Personal übertragen wird, geht es bei der Substitution um eine direkte Zuweisung ärztlicher Leistungen an das nichtärztliche Personal. Dadurch hat das nichtärztliche Personal nicht nur die Verantwortung für die Durchführung, sondern auch die Entscheidungsbefugnis über u. a. heilkundliche Maßnahmen. Während im Falle einer Fehlleistung bei der Durchführung von delegierten Tätigkeiten die Ärzt*in haftungsrechtlich verantwortlich ist, liegt bei der Substitution ärztlicher Leistungen die vollständige Verantwortung allein bei dem nichtärztlichen Personal. Auch wenn an einigen Stellen hinterfragt wird, ob die Substitution im Rettungsdienst (insb. bei Notfallsanitäter*innen) Anwendung findet, ergibt sich aus der Gesetzessystematik sowie der Gesetzesbegründung, dass die Handlungsform der Substitution im Rettungsdienst aktuell nicht angedacht ist. Im September 2023 hat die „Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung“ erstmals das Prinzip der Substitution im Kontext studiengangorientierter Reformvorschläge für den Rettungsdienst vorgesehen. Hierbei handelt es sich jedoch bisher nur um Diskussionspapiere. Me rke

Im Rahmen der Substitution übernimmt das nichtärztliche Personal nicht nur die Verantwortung für die Durchführung, sondern auch die Entscheidung darüber, ob eine Maßnahme durchgeführt wird. Es handelt somit eigenständig und nicht auf Anweisung der delegierenden Ärzt*innen – bei der Substitution ersetzt das nichtärztliche Personal die Ärzt*in. Im Falle einer Fehlleistung bei der Substitution ärztlicher Leistungen liegt die vollständige Verantwortung allein bei dem nichtärztlichen Personal oder dessen Dienstherrn. Unter Eigenverantwortlichkeit versteht man die Fähigkeit und die Verpflichtung einer Person, die Verantwortung für ihre eigenen Handlungen und Entscheidungen zu übernehmen. Handelt nichtärztliches Personal eigenverantwortlich muss dieses auch für das eigene Tun und Unterlassungen einstehen und die Konsequenzen, die sich daraus ergeben können, tragen. Dies schließt auch mögliche Sanktionen und Haftung mit ein. Me rke Bei eigenverantwortlichem Handeln durch nichtärztliches Personal übernimmt die handelnde Person die Verantwortung über die Entscheidung zu einer Maßnahme und die Verantwortung für dessen Durchführung. Die Handlung ist somit autark und geht nicht von einer ärztlichen Anweisung aus. Im Falle einer Fehlleistung liegt die vollständige Haftungsverantwortung allein bei dem nichtärztlichen Personal oder dessen Dienstherrn. R e ch t in e ch t Notfallsanitäter*innen handeln jedenfalls in Form von: • Mitwirkung (Assistenz & Delegation) • Eigenverantwortlichkeit

Die Abgrenzung zwischen den einzelnen Handlungsformen ist mitunter nicht immer einfach. Eine Gegenüberstellung von Assistenz, Delegation und Substitution findet sich in › Tab. 4.3.

Tab. 4.3 Vergleich von Assistenz, Delegation und Substitution Handlungsform Definition

Charakteristika

Verantwortung Entscheidung

Assistenz

Unterstützung der Ärzt*innen bei heilkundlichen

Liegt bei der Ärzt*in, die entscheidet, ob

Bei der Assistenz übernimmt das nichtärztliche Personal unterstützende Aufgaben und Handreichungen, während es gemeinsam mit Ärzt*innen arbeitet.

Maßnahmen.

Durchführung untergeordneter Aufgaben und Handreichungen.

und wie eine Behandlung durchgeführt wird.

Keine eigenständige Durchführungskompetenz hinsichtlich der Behandlungen. Delegation

Bei der Delegation handelt es sich um die Übertragung der

Übertragung der Liegt bei der Durchführungskompetenz Ärzt*in, die zur Ausübung entscheidet, ob

Durchführungskompetenz zur Ausübung heilkundlicher Tätigkeiten von Ärzt*innen auf

heilkundlicher Tätigkeiten auf nichtärztliches Personal.

Nichtärztliches Personal agiert als Assistenz,

nichtärztliches Personal.

jedoch ohne eigenständige Ausübung der Heilkunde neben oder anstelle der Ärzt*innen.

Anordnungs- und Überwachungsbefugnis verbleiben bei den delegierenden Ärzt*innen.

und wie eine Behandlung durchgeführt wird.

V D

Handlungsform Definition

Charakteristika

Substitution

Übernahme der Behandlung oder Versorgung einer Patient*in durch nichtärztliches Personal anstelle der ursprünglich

Bei der Substitution handelt es sich um die Übernahme der Behandlung oder Versorgung einer

Verantwortung

V

Entscheidung

D

Liegt bei dem nichtärztlichen Personal (z. B. medizinische Fachkraft), das

Patientin durch eine andere Ärzt*in oder eine andere medizinische Fachkraft anstatt der

zuständigen Ärzt*in.

Nichtärztliches Personal handelt nicht auf ärztliche Anweisung, sondern

die Behandlung oder Versorgung im

ursprünglich zuständigen Ärzt*in.

stattdessen für die Ärzt*in.

Eigenständige Entscheidungsbefugnis

Rahmen der Substitution durchführt.

und Verantwortung für heilkundliche Maßnahmen bei dem nichtärztlichen Personal. Kompetenzen nach § 4 NotSanG Im Rahmen des § 4 des NotSanG werden die Ausbildungsziele in verschiedene Kompetenz-Kategorien unterteilt. § 4 Abs. 2 NotSanG unterscheidet dafür in Aufgaben, die eine Notfallsanitäter*in eigenverantwortlich vornehmen können muss (§ 4 Abs. 2 Nr. 1 NotSanG) und solche Aufgaben, die eine Notfallsanitäter*in eigenständig im Rahmen der Mitwirkung (Assistenz/Delegation) vornehmen können muss (§ 4 Abs. 2 Nr. 2 NotSanG). Eine detaillierte Beschreibung dieser Ausbildungs-/Kompetenzziele ist in › Tab. 4.4 und › Tab. 4.5 zu finden.

Tab. 4.4 Ausbildungs-/Kompetenzziele nach § 4 Abs. 2 Nr. 1 NotSanG NotSanG:

Ausbildung-/Kompetenzziel:

§ 4 Abs. 2 Befähigung dazu, folgende Aufgaben eigenverantwortlich auszuführen: Nr. 1 a)

Feststellen und Erfassen der Lage am Einsatzort und unverzügliche Einleitung notwendiger allgemeiner Maßnahmen zur Gefahrenabwehr

b)

Beurteilen des Gesundheitszustandes von erkrankten und verletzten Personen, insbesondere Erkennen einer vitalen Bedrohung, Entscheiden über die Notwendigkeit, eine Notärztin oder einen Notarzt, weiteres Personal, weitere Rettungsmittel oder sonstige ärztliche Hilfe nachzufordern, sowie Umsetzen der erforderlichen Maßnahmen

c)

Durchführen medizinischer Maßnahmen der Erstversorgung bei Patientinnen und Patienten im Notfalleinsatz und dabei Anwenden von in der Ausbildung erlernten und beherrschten, auch invasiven oder medikamentösen Maßnahmen, um einer Verschlechterung der Situation der Patientinnen und Patienten bis zum Eintreffen der Notärztin oder des Notarztes oder dem Beginn einer weiteren ärztlichen Versorgung vorzubeugen, wenn ein lebensgefährlicher Zustand vorliegt oder wesentliche Folgeschäden zu erwarten sind

d)

Angemessener Umgang mit Menschen in Notfall- und Krisensituationen

e)

Herstellen und Sichern der Transportfähigkeit der Patientinnen und Patienten im Notfalleinsatz

f)

Auswählen des geeigneten Transportzielortes sowie Überwachen des medizinischen Zustandes der Patientinnen und Patienten und seiner Entwicklung während des Transports

g)

Sachgerechtes Übergeben der Patientinnen und Patienten in die ärztliche Weiterbehandlung einschließlich Beschreiben und Dokumentieren ihres medizinischen Zustandes und seiner Entwicklung

h)

Kommunizieren mit am Einsatz beteiligten oder zu beteiligenden Personen, Institutionen oder Behörden

i)

Durchführen von qualitätssichernden und organisatorischen Maßnahmen im Rettungsdienst sowie Dokumentieren der angewendeten notfallmedizinischen und einsatztaktischen Maßnahmen

j)

Sicherstellen der Einsatz- und Betriebsfähigkeit der Rettungsmittel einschließlich Beachten sowie Einhalten der Hygienevorschriften und rechtlichen Arbeits- und Unfallschutzvorschriften

Tab. 4.5 Ausbildungs-/Kompetenzziele nach § 4 Abs. 2 Nr. 2 NotSanG NotSanG: Ausbildung-/Kompetenzziel:

§ 4 Abs. 2 Befähigung dazu, folgende Aufgaben im Rahmen der Mitwirkung Nr. 2

auszuführen:

a)

Assistieren bei der ärztlichen Notfall- und Akutversorgung von Patientinnen und Patienten im Notfalleinsatz

b)

Eigenständiges Durchführen ärztlich veranlasster Maßnahmen bei Patientinnen und Patienten im Notfalleinsatz

c)

Eigenständiges Durchführen von heilkundlichen Maßnahmen, die vom Ärztlichen Leiter Rettungsdienst oder entsprechend verantwortlichen Ärztinnen oder Ärzten bei bestimmten notfallmedizinischen Zustandsbildern und -situationen standardmäßig vorgegeben, überprüft und verantwortet werden

Unter Ausbildungsgesichtspunkten ist es das Ziel, alle in § 4 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 NotSanG genannten Kompetenzen zu erlernen und zu beherrschen (vgl. › Kap. 4.2.5), unabhängig davon, ob sie letztlich eigenverantwortlich oder im Rahmen einer Mitwirkung ausgeführt werden sollen. Kompetenzen im Rahmen der eigenverantwortlichen Entscheidung und Durchführung (§ 4 Abs. 2 Nr. 1 NotSanG) In § 4 Abs. 2 Nr. 1 NotSanG sind Maßnahmen beschrieben, die den Kernbereich des Ausbildungsberufs darstellen (vgl. › Tab. 4.4). Zu den hier genannten Maßnahmen sollen Notfallsanitäter*innen durch die Ausbildung befähigt werden; bei der Ausführung dieser Aufgaben im Berufsleben handeln sie dann eigenverantwortlich, also „auf eigene Verantwortung“. Juristisch meint „Eigenverantwortlichkeit“ die Fähigkeit oder Berechtigung, eine Tätigkeit oder Aufgabe selbstständig und ohne externe Unterstützung oder Anleitung auszuführen. Eine Notfallsanitäter*in, die eigenverantwortlich handelt, übernimmt die volle Verantwortung für ihre Handlungen und trifft unabhängig Entscheidungen im Rahmen der geltenden Gesetze und Vorschriften. Weiter gedacht bedeutet dies auch, dass Notfallsanitäter*innen die volle Haftungsverantwortung für die eigenverantwortlich durchgeführte Maßnahme tragen. Inwieweit in Haftungsfällen die sog. Amtshaftung greift und welcher Maßstab dabei anzusetzen ist, wird in › Kap. 6.5.2 und › Kap. 4.6.2 beschrieben. Me rke Bei einer tatsächlich eigenverantwortlichen Handlung im Sinne des § 4 Abs. 2 Nr. 1 NotSanG wird die Handlung von der Notfallsanitäter*in • eigenverantwortlich veranlasst bzw. entschieden und • auch eigenverantwortlich durchgeführt. Die Notfallsanitäter*in übernimmt dabei die Entscheidungs- und die Durchführungsverantwortung.

„1c-Maßnahmen“ (Maßnahmen nach § 4 Abs. 2 Nr. 1c NotSanG) Im Rahmen des § 4 Abs. 2 Nr. 1 NotSanG beschreibt Nr. 1c dieser Vorschrift Maßnahmen zur notfallmäßigen Erstversorgung. Notfallsanitäter*innen sollen durch die Ausbildung dazu befähigt werden, derartige medizinische, auch invasive oder medikamentöse Maßnahmen eigenverantwortlich durchführen zu können. Vereinfacht werden diese Maßnahmen „1cMaßnahmen“ genannt. Me rke „1c-Maßnahmen“ sind umgangssprachlich Maßnahmen, die nach § 4 Abs. 2 Nr. 1c NotSanG durchgeführt werden dürfen. 1c-Maßnahmen können im Berufsalltag nicht ohne Weiteres angewendet werden. Das NotSanG knüpft daran gewisse Voraussetzungen (Tatbestandsvoraussetzungen), die vorliegen müssen, um ein Handeln in diesem Kompetenzbereich zu legitimieren. Die Tatbestandsvoraussetzungen sind: • Die nötigen „Skills“ müssen vorhanden sein (kumulativ): – Die Maßnahme muss erlernt worden sein. und – Die Maßnahme muss beherrscht werden. • Eine entsprechende Notfallsituation muss vorliegen (alternativ): – Die Maßnahme muss medizinisch indiziert sein, um eine Verschlechterung der Situation der Patient*in vorzubeugen, wenn Lebensgefahr besteht. oder – Die Maßnahme muss medizinisch indiziert sein, um eine Verschlechterung der Situation der Patient*in vorzubeugen, wenn wesentliche Folgeschäden zu erwarten sind. • Eine ärztliche Weiterversorgung muss grds. folgen (alternativ): – Anwendung nur bis zum Eintreffen einer Notärzt*in. oder – Eine weiter ärztliche Versorgung muss eingeleitet werden (z. B. im Krankenhaus). Liegen diese Voraussetzungen vor, dürfen und müssen Notfallsanitäter*innen entsprechende medizinische Maßnahmen, auch invasive oder medikamentöse Maßnahmen durchführen. Dies ist auch notwendig, da nur so eine adäquate und der Situation angemessene Erstversorgung stattfinden kann. Welche Maßnahmen im Einzelnen durchgeführt werden sollen, beschreibt das Gesetz nicht. Näheres, v. a. zu den Fähigkeiten, die erlernt werden sollen, bestimmt die NotSan-APrV (› Kap. 4.2.2). Weiter orientiert sich die Indikation einzelner 1c-Maßnahmen – angepasst an das Berufsbild – am aktuellen medizinischen Standard (dazu auch › Kap. 4.6.2). Werden in diesem Kontext Maßnahmen durchgeführt, die als Heilkunde qualifiziert sind, gelten zudem die spezifischen Voraussetzungen des § 2a NotSanG.

Die Voraussetzung des Erlernt-haben und Beherrschen ist im Gesetz nur sehr allgemein formuliert; nähere Ausführungen dazu sind in › Kap. 4.2.5 zu finden. Durch die Maßnahme muss einer Verschlechterung der Patientensituation bei Lebensgefahr oder drohenden Folgeschädigung abgewendet werden. Notfallsanitäter*innen sind folglich dazu verpflichtet, die konkrete Einsatzsituation sorgfältig zu prüfen und zu bewerten, um festzustellen, ob ein lebensbedrohlicher Zustand oder ein Zustand mit drohenden wesentlichen Folgeschäden vorliegt, bevor sie (heilkundliche) Maßnahmen durchführen. Bei dieser Bewertung kommt es maßgeblich darauf an, wie sich die Situation für die Notfallsanitäter*in im Moment der Maßnahme dargestellt hat (sog. Exante-Betrachtung). Auch wenn sich im Nachgang herausstellt, dass die Voraussetzungen der Lebensgefahr oder der drohenden Folgeschädigung tatsächlich doch nicht vorlagen (sog. Ex-postBetrachtung), ist dies unschädlich, sofern die Notfallsanitäter*in im Moment der Maßnahme aufgrund einer sorgfältigen Situationsbeurteilung annehmen durfte, dass die Voraussetzungen vorlagen. Zeitlich sind die 1c-Maßnahmen auf Situationen beschränkt, in denen keine Ärzt*in anwesend ist. Allerdings setzt das Gesetz grds. nach der eigenverantwortlichen Durchführung einer solchen Maßnahme voraus, dass die betroffene Patient*in einer Ärzt*in zugeführt wird; in welchem konkreten Zeitraum dies geschehen muss wird nicht benannt. Die ärztliche Weiterversorgung kann entweder durch eine Notärzt*in vor Ort, eine telenotärztliche Konsultation oder durch den Transport in eine Klinik erfolgen. Theoretisch wäre es sogar ausreichend, die Patient*in einer Hausärzt*in zuzuführen. Dies ist jedoch i. d. R. medizinisch nicht angebracht, da 1c-Maßnahmen stets Lebensgefahr oder drohende Folgeschäden voraussetzen, was meist eine klinische Untersuchung nötig macht. Die Notwendigkeit der ärztlichen Weiterversorgung kann durch die Privatautonomie (› Kap. 6.1.2) der Patient*in durchbrochen werden, z. B. in Fällen, in denen eine 1c-Maßnahme durch die behandelnde Notfallsanitäter*in notwendigerweise durchgeführt wurde, die Patient*in aber anschließend den Transport verweigert (› Kap. 7.6.4). In solchen Fällen ist es nicht zwingend notwendig, eine Notärzt*in nachzualarmieren, um den Voraussetzungen aus § 4 Abs. 2 Nr. 1c NotSanG gerecht zu werden. Bei bestehender Lebensgefahr oder drohenden schweren Folgeschäden sind die Anforderungen an die Aufklärung der Patient*innen allerdings sehr hoch. Unter Umständen kann es bei einer Verweigerung in solchen Situationen auch geboten sein, die verweigernde Patient*in zu überreden (› Kap. 7.6.5). Vor dem Hintergrund dieser hohen Anforderungen ist es in diesen Situationen zu empfehlen, eine Notärzt*in nachzufordern. Hier muss immer professionell abgewogen werden, ob eine Notärzt*in vor Ort der medizinischen und rechtlichen Situation zuträglich wäre. Kompetenzen im Rahmen der Mitwirkung (§ 4 Abs. 2 Nr. 2 NotSanG) § 4 Abs. 2 Nr. 2 NotSanG werden Aufgaben beschrieben, welche Notfallsanitäter*innen im Rahmen der Mitwirkung durchführen sollen. Dies bedeutet, dass Notfallsanitäter*innen als Teil des Rettungsteams unter der fachlichen Verantwortung der Notärzt*innen oder entsprechend verantwortlichen Ärzt*innen handeln und ihre Anweisungen befolgen. In diesem Zusammenhang assistieren sie den Ärzt*innen bei der Erstversorgung von Patient*innen im Notfalleinsatz. Weiter können Notfallsanitäter*innen im Notfalleinsatz ärztlich veranlasste Maßnahmen eigenständig – nicht eigenverantwortlich – bei Patient*innen durchführen. Im Rahmen der Mitwirkung können Notfallsanitäter*innen bei bestimmten notfallmedizinischen Zustandsbildern und -situationen sogar heilkundliche Maßnahmen „eigenständig“ durchführen. Heilkundliche Maßnahmen sind Maßnahmen, die normalerweise nur von Ärzt*innen durchgeführt

werden dürfen (› Kap. 4.1.5). In Abgrenzung zur eigenverantwortlichen Durchführung der in § 4 Abs. 2 Nr. 1 oder § 2a NotSanG (Entscheidung und Durchführung erfolgt durch Notfallsanitäter*in), ist hier nur die eigenständige Durchführung nach Delegation gemeint. Me rke Bei einer Mitwirkung im Sinne des § 4 Abs. 2 Nr. 2 NotSanG erfolgt die • Veranlassung/Entscheidung zu einer Handlung durch eine Ärzt*in. Die Notfallsanitäter*in • assistiert bei dieser Handlung oder • übernimmt aufgrund einer (Vorab-)Delegation eigenständig die Durchführung.

Eine Delegation einer Ärzt*in an nichtärztliches Rettungsdienstpersonal ist nicht grenzenlos möglich. Im medizinischen Bereich bestehen absolute und relative Delegationshindernisse. Liegt ein absolutes Delegationshindernis vor, ist eine Delegation grds. unzulässig. Ein absolutes Delegationshindernis ist gegeben, wenn • eine höchstpersönliche Leistungspflicht einer Ärzt*in besteht (insb. ein normierter Arztvorbehalt) oder • der Kernbereich ärztlichen Handelns betroffen ist. Der Kernbereich ärztlichen Handelns ist dann anzunehmen, wenn eine Maßnahme aufgrund ihrer Art und Schwierigkeit, der Umstände ihrer Erbringung oder der Gefährlichkeit und/oder Unvorhersehbarkeit zwingend von einer Ärzt*in erbracht werden muss. Dies gilt es für jeden Einzelfall zu beurteilen. Befindet sich eine Maßnahme im gesetzlichen Kompetenzbereich des Berufsbildes Notfallsanitäter*in, besteht kein absolutes Delegationshindernis. Liegen die genannten Voraussetzungen nicht vor, besteht für viele rettungsdienstlichen Maßnahmen jedoch trotzdem ein relatives Delegationshindernis. Um dieses zu überwinden, müssen wiederum Voraussetzungen eingehalten werden. Hierzu zählen bezogen auf die Delegationsempfänger*innen • eine Auswahlpflicht, • eine Anleitungspflicht, • eine Überwachungspflicht und • die „Rufweite“ des ärztlichen Personals. Im Rettungsdienst können diese Voraussetzungen regelmäßig erfüllt werden. Wie die Umsetzung im Einzelnen ausgestaltet ist, ist dabei auch abhängig von der Maßnahme oder Handlung, die jeweils delegiert werden soll. Die Auswahlpflicht gibt vor, dass vorab geeignete Delegationsempfänger*innen ausgewählt werden müssen. Dem kann damit genüge getan werden, dass bestimmte Maßnahmen an eine konkrete Berufsgruppe (z. B. Notfallsanitäter*innen) delegiert werden. Der Berufsstand befähigt also anhand des Ausbildungsstandards dazu, bestimmte Handlungen vorzunehmen.

Die Anleitungspflicht setzt voraus, dass Delegationsempfänger*innen sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht mit der durchzuführenden Maßnahme betraut werden. Hierzu können im Rettungsdienst z. B. bereichsinterne Fortbildungen oder Schulungen dienen. Der Umfang der Anleitung hängt sowohl von der Qualifikation der Delegationsempfänger*in als auch der konkreten Komplexität der Maßnahme ab. Die Überwachungspflicht dient dazu, die Qualität der ausgeführten Handlungen zu kontrollieren. Die Überwachung korreliert dabei mit der Anleitung und prüft dessen Effektivität. Eine Überwachung kann z. B. durch fortlaufende – ggf. stichprobenartige – Kontrollen über die theoretischen Kenntnisse und praktischen Fertigkeiten stattfinden. Es muss sichergestellt werden, dass die Delegationsempfänger*innen auch nach einem bestimmten Zeitablauf die Fertigkeit zur Durchführung der Aufgaben aufweisen. Letztlich ist zudem erforderlich, dass im Einzelfall ärztliches Personal in medizinisch vertretbarer Zeit anwesend sein kann. Ziel dabei ist es, im Falle eines medizinischen Zwischenfalls durch die delegierte Maßnahme ärztlicherseits eingreifen zu können. Im Rettungsdienst ist ärztliches Personal durch die vorhandenen NEF stets in angemessener „Rufweite“ verfügbar. „2c-Maßnahmen“ (Maßnahmen nach § 4 Abs. 2 Nr. 2c NotSanG) Juristisch betrachtet ist eine Delegation im medizinischen Bereich prinzipiell dadurch gekennzeichnet, dass auf Grundlage einer ärztlichen Untersuchung eine ärztliche Entscheidung getroffen wird, deren Durchführung an nichtärztliches Personal übertragen wird. Ist eine Ärzt*in nicht am Einsatz beteiligt, ist schon die notwendige ärztliche Untersuchung nicht möglich, was u. U. die Delegationsfähigkeit hier notwendiger Maßnahmen infrage stellt. Abhilfe schafft hierbei die sog. Vorabdelegation anhand standardisierter Vorgaben, die durch die jeweiligen Ärztlichen Leiter*innen Rettungsdienst oder entsprechend verantwortlichen Ärzt*innen (ÄLRD) für den jeweiligen Rettungsdienstbereich freigegeben werden. Solche Vorgaben werden häufig über Algorithmen, Standard Operating Procedure (SOP), Standardarbeitsanweisungen (SAA) oder Behandlungspfade im Rettungsdienst (BPR) gestaltet. § 4 Abs. 2 Nr. 2c NotSanG spricht das Handeln nach diesen standardisierten Vorgaben der ÄLRD an. Maßnahmen, die nach dieser Norm durchgeführt werden dürfen, werden umgangssprachlich „2cMaßnahmen“ genannt. Me rke „2c-Maßnahmen“ sind umgangssprachlich Maßnahmen, die nach § 4 Abs. 2 Nr. 2c NotSanG durchgeführt werden dürfen. Voraussetzung für eine solche Durchführung nach (Vorab-)Delegation ist dabei, dass die jeweiligen Maßnahmen von den ÄLRD vorgegeben, überprüft und verantwortet werden. ÄLRD sind damit in der Pflicht, medizinische Maßnahmen, die vom Rettungsdienstpersonal durchgeführt werden, im Rahmen der Qualitätssicherung zu überwachen und unter qualitativen Gesichtspunkten zu bewerten. Es obliegt ihnen, qualitative Mängel zu identifizieren und auszubessern. Diese Verpflichtung lässt sich aus der Rolle der ÄLRD in Kombination mit den Voraussetzungen relativer Delegationshindernisse ableiten und wird in den Rettungsdienstgesetzen der Bundesländer entsprechend konkretisiert. Bei falsch

durchgeführten delegierten Tätigkeiten können ggf. die ÄLRD oder dessen Dienstherr haftungsrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Ist eine Notfallsituation nicht in einer standardisierten Vorgabe erfasst, muss auf die 1c-Maßnahmen ggf. i. V. m. § 2a NotSanG zurückgegriffen werden. Die Applikation von Medikamenten, die unter Anlage III des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) fallen, kommt für Notfallsanitäter*innen nach § 13 Abs. 1b BtMG nur dann in Betracht, wenn diese als standardisierte ärztliche Vorgabe, also regelmäßig als Vorabdelegation im Sinne einer 2c-Maßnahme, vorliegen (› Kap. 9.2.3). Me rke Algorithmen, SOP, SAA und BPR können eine Form der Delegation darstellen (Vorabdelegation). Sie geben in einer standardisierten Weise vor, wie in bestimmten Situationen gehandelt werden soll. Diese allgemeinen Anweisungen (Wenn …, dann…) können u. U. als Ersatz der eigentlichen ärztlichen Entscheidung zu der entsprechenden Handlung/Maßnahme verstanden werden. Somit kann das Handeln nach Algorithmen/SOP/SAA/BPR die Handlungsform der Mitwirkung verkörpern. Das Handeln anhand von Algorithmen/SOP/SAA/BPR ist damit ein Handeln aufgrund einer ärztlichen (Vorab-)Delegation. Ärztliche Leiter*innen Rettungsdienst oder entsprechend verantwortliche Ärzt*innen delegieren durch die Algorithmen/SOP/SAA/BPR bestimmte Maßnahmen. Handelt eine Notfallsanitäter*in z. B. aufgrund eines Algorithmus, handelt sie nicht komplett eigenverantwortlich, sondern führt lediglich eigenständig durch. Sie trifft folglich auch nur die Durchführungsverantwortung. Funktion von Algorithmen/SOP/SAA/BPR Für die Delegation gem. § 4 Abs. 2 Nr. 2c NotSanG können die ÄLRD bei bestimmten notfallmedizinischen Zustandsbildern und -situationen standardmäßige Vorgaben freigeben (Algorithmen/SOP/SAA/BPR). Die Handlungsvorschriften orientieren sich an den Ausbildungszielbestimmungen des NotSanG und geben inhaltlich medizinische Maßnahmen und Handlungen vor, die sich im Idealfall an den aktuellen medizinischen Standards für die jeweilige Notfallsituation orientieren. Me rke Algorithmen/SOP/SAA/BPR können standardmäßige Vorgaben im Sinne einer Delegation darstellen. Die ÄLRD sind dabei verpflichtet, die Kompetenzen des durchführenden Rettungsdienstpersonals zu überprüfen und sicherzustellen. Neben der Delegationsfunktion haben Algorithmen/SOP/SAA/BPR die Funktion, eine standardisierte und einheitliche medizinische Versorgung zu gewährleisten, die sich an aktuellen medizinischen Erkenntnissen orientiert. Insoweit können die Algorithmen/SOP/SAA/BPR auch als medizinische Handlungsempfehlungen für deren Adressaten (Rettungsdienstpersonal) gesehen werden. Dies gilt v. a. dann, wenn Notfallsanitäter*innen i. R. d. § 2a NotSanG eigenverantwortlich handeln. Sie sind in diesem Fall nicht auf eine Delegation der durchzuführenden Maßnahmen angewiesen, können (und müssen) sich dabei jedoch auch an aktuelle medizinische Standards halten.

Relevanz hat diese Funktion zudem auch bei Algorithmen/SOP/SAA/BPR, die nicht auf konkrete medizinische Maßnahmen abzielen, sondern strukturelle oder taktische Abläufe beschreiben. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Algorithmen/SOP/SAA/BPR in gewisser Hinsicht eine Doppelfunktion haben. Telenotärzt*innen Telenotärzt*innen (TNA) sind erfahrene Notärzt*innen mit ergänzenden Schulungen im Rettungsdienst und speziellen Qualifikationen in der Telenotfallmedizin. Über digitale Kommunikationswege (Echtzeit-Übertragung von Vitaldaten, Sprach- und Sichtkontakt) behandeln TNA zusammen mit dem Rettungsdienstpersonal Patient*innen am Einsatzort. In medizinischen Notfällen wird i. d. R. ein Rettungswagen (RTW) von den Leitstellen ausgesandt, der mit nichtärztlichem, aber notfallmedizinisch geschultem Personal besetzt ist. Bei besonderen Notfällen trifft eine Notärzt*in am Einsatzort ein (im sog. „Rendezvous-System“). R e ch t in e ch t In Aachen, im Kreis Heinsberg und im Kreis Euskirchen wurde das Projekt TNA mehrere Jahre erforscht. Das Aachener System hat z. B. eine Senkung der Notarztquote um mehr als 50 Prozent ermöglicht. Auch kürzere Intervalle ohne Therapie und schnelle Verordnung von Medikamenten wurden durch den Einsatz der Telenotärzt*innen nachgewiesen. Mit der Einführung des § 2a NotSanG wurde zum ersten Mal auch der Begriff „Teleärzte“ verwendet. Laut Gesetzesbegründung soll die Einführung des Begriffs der teleärztlichen Versorgung im Gesetz klarstellen, dass eine ärztliche Versorgung auch dann gegeben ist, wenn sie über eine räumliche Distanz erfolgt, solange die Entscheidung über die durchzuführenden Maßnahmen von einer Ärzt*in getroffen wird. Me rke Auch eine (digitale) Delegation durch eine TNA stellt eine ärztliche Delegation dar. Wie sich die Möglichkeit der teleärztlichen Versorgung auf bewährte Vorgehensweisen wie etwa die Verwendung sog. standardisierter Handlungsanweisungen nach § 4 Abs. 2 Nr. 2c NotSanG auswirkt, ist noch nicht geregelt. Der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages nahm über eine Kurzinformation zur Anwendung von Standard Operating Procedures (SOP) durch Notfallsanitäter*innen bei Verfügbarkeit eines Telenotarztdienstes Stellung: „[…] Daraus ergibt sich auch für Fälle, in denen § 2a NotSanG keine Anwendung fin9055det, dass durch die Delegation im Wege der SOP eine ärztliche Behandlung als gegeben anzusehen sein dürfte. Die Hinzuziehung des Telenotarztes dürfte insoweit nicht mehr erforderlich sein, wenn SOP angewendet werden können. Sobald eine weitergehende ärztliche Begleitung erforderlich ist, kann diese sowohl durch den Notarzt vor Ort oder den Telearzt erfolgen. […]“[6]. Daneben wird auch durchaus Kritik am System „Telenotärzt*innen“ geübt. Dieses untergrabe nach einigen Ansichten die eigentliche Funktion der Notfallsanitäter*innen und mache dessen Rolle im Rettungswesen, die durch die Reform seit 2014 ja gerade angestrebt wurde, obsolet. Me rke

Die Einführung von Telenotärzt*innen hat in jüngster Zeit aufgrund gemischter Erfahrungen unterschiedliche Standpunkte hervorgerufen. Die Rolle der Telenotärzt*in beschränkt sich nicht nur auf die Zeit vor dem Eintreffen des regulären Notarztes, sondern erstreckt sich darauf, diesem bei der Entlastung vor Ort beizustehen. In vielen Situationen sind es weniger die manuellen Fähigkeiten der Notärzt*in, die gefragt sind, als vielmehr dessen medizinisches Know-how oder Entscheidungskompetenz. Da Notfallsanitäter*innen durch ihre flächendeckende Präsenz oft früher am Einsatzort sind, erledigen sie in vielen Fällen die Hauptarbeit. Einige Notfallsanitäter*innen befürchten, dass die Einführung des Telenotarztes ihre Unabhängigkeit einschränkt und die Patientenversorgung erschwert. Andererseits begrüßen manche die Zusammenarbeit mit dem Telenotarzt in Situationen wie beispielsweise der Ablehnung eines medizinisch nicht notwendigen Transports. In solchen Fällen kann die Entscheidung, den Transport zu verweigern, gemeinsam mit dem Telenotarzt getroffen werden. Die Telenotfallmedizin ist somit ein intensiv debattiertes Thema im deutschen Rettungswesen. Kompetenzen nach § 2a NotSanG Wenn Notfallsanitäter*innen in Notfallsituation i. S. v. § 4 Abs. 2 Nr. 1c NotSanG handeln, kann es sein, dass einige der durchgeführten Maßnahmen (1c-Maßnahmen) unter den Begriff der Heilkunde fallen (› Kap. 4.1.5). Vor der Einführung des § 2a NotSanG im März 2021 führte dies zu Problemen und Unsicherheiten, da doch die Heilkunde grds. ärztlichem Personal vorbehalten ist (§ 1 HeilprG). Der § 2a NotSanG regelt die eigenverantwortliche Durchführung heilkundlicher Maßnahmen durch Notfallsanitäter*innen. Bis zum Eintreffen der Notärztin oder des Notarztes oder bis zum Beginn einer weiteren ärztlichen, auch teleärztlichen Versorgung dürfen Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter heilkundliche Maßnahmen, einschließlich heilkundlicher Maßnahmen invasiver oder medikamentöser Art, dann eigenverantwortlich durchführen, wenn 1. sie diese Maßnahmen in ihrer Ausbildung erlernt haben und beherrschen und 2. die Maßnahmen jeweils erforderlich sind, um Lebensgefahr oder wesentliche Folgeschäden von der Patientin oder dem Patienten abzuwenden. § 2a NotSanG stellt eine Spezialregelung zum Heilpraktikergesetz (HeilprG) dar. Er verkörpert eine gesetzliche Ausnahme zum im HeilprG festgelegten Grundsatz, der die Ausübung der Heilkunde grds. Ärzt*innen bzw. Heilpraktiker*innen vorbehält. Aus den scharfen Beschränkungen des Anwendungsbereiches des § 2a NotSanG lässt sich entnehmen, dass eigenverantwortliche heilkundliche Maßnahmen durch Notfallsanitäter*innen die Ausnahme bleiben müssen. Die Regelung ist für kritische medizinische Notfälle vorgesehen. Außerhalb von Einsatzsituationen, in denen Lebensgefahr besteht oder wesentliche Folgeschäden drohen, ist es nicht die originäre Aufgabe von Notfallsanitäter*innen, eigenverantwortlich Heilkunde auszuüben. Es ist somit auch nicht das originäre Ziel der Kompetenzvermittlung in der Ausbildung. Konkretes Regelungsziel des § 2a NotSanG ist, dass notfallmäßige heilkundliche Maßnahmen nicht mehr behelfsmäßig über den rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB, › Kap. 7.3.3) begründet werden müssen. Die Legitimation zu diesen Maßnahmen gibt nunmehr die Regelung in § 2a NotSanG. Me rke

Es ist zu beachten, dass die eigenverantwortliche Ausübung von Heilkunde keine originäre Aufgabe von Gesundheitsfachberufen ist und auch nicht das originäre Ziel von Kompetenzvermittlungen in der Ausbildung. Aus diesem Grund wird die Ausübung von Heilkunde im Interesse der Patient*innen auf die Situationen beschränkt werden, in denen akut keine ärztliche Versorgung möglich ist, und das Leben von Patient*innen durch Notfallsanitäter*innen vor Ort geschützt oder schwere gesundheitliche Folgeschäden vermieden werden müssen. Die heilkundlichen Befugnisse von Notfallsanitäter*innen dienen auch dem Schutz der Berufsangehörigen selbst. Diese übernehmen ab dem Zeitpunkt, ab welchem sie eigenverantwortlich entscheiden, eine heilkundliche Tätigkeit an Patient*innen vorzunehmen, haftungsrechtlich auch die alleinige Verantwortung für diese Tätigkeit und dafür, dass die vorgenommene Maßnahme zum Zeitpunkt ihrer Durchführung die einzig mögliche und angemessene Option ist. Heilkunde nach § 2a NotSanG oder als 2c-Maßnahme Sowohl in § 2a als auch in § 4 Abs. 2 Nr. 2c NotSanG ist die Rede von der Durchführung heilkundlicher Maßnahmen. • § 2a NotSanG beschreibt die eigenverantwortliche Durchführung heilkundlicher Maßnahmen • § 4 Abs. 2 Nr. 2c NotSanG beschreibt die eigenständige Durchführung heilkundlicher Maßnahmen im Rahmen der Mitwirkung (2c-Maßnahmen) Je nach Einsatzsituation können heilkundliche Maßnahmen entweder nach Maßgabe des § 2a NotSanG oder als „2c-Maßnahme“ anhand einer standardisierten Vorgabe durchgeführt werden. Die Anwendung des § 2a NotSanG kommt v. a. in Betracht, wenn Notfallsanitäter*innen aufgrund von § 4 Abs. 2 Nr. 1c NotSanG tätig werden (1c-Maßnahme) und sich die Behandlung als Heilkunde qualifizieren lässt. Generell gilt, dass die Durchführung nach § 2a NotSanG strengeren Voraussetzungen unterliegt als die 2c-Maßnahmen und daher nur dann greift, wenn keine standardisierte Vorgabe besteht. Dies kann der Fall sein, wenn sich eine Notfallsituation aufgrund ihrer Vielschichtigkeit und Komplexität gerade nicht für eine standardmäßige Vorabdelegation eignet oder aber auch, wenn die zuständige ÄLRD keine passende Vorgabe vorgesehen hat. Ein wesentlicher Unterschied bei der Durchführung ist die Haftungsverantwortung. Handelt eine Notfallsanitäter*in eigenverantwortlich (§ 2a NotSanG) so trifft sie – wie bei den 1c-Maßnahmen auch – selbst die Handlungsentscheidung und übernimmt folglich die vollständige Haftungsverantwortung. Soweit eine Notfallsanitäter*in nach den standardisierten Vorgaben der ÄLRD handelt, ist sie i. R. d. Mitwirkung tätig und übernimmt lediglich die Haftungsverantwortung für die Durchführung der Maßnahme – vorausgesetzt, sie hält sich genau an die jeweilige Vorgabe. Voraussetzungen für eigenverantwortliche heilkundliche Maßnahmen Notfallsanitäter*innen dürfen nach § 2a NotSanG heilkundliche Maßnahmen, einschließlich heilkundlicher Maßnahmen invasiver oder medikamentöser Art, eigenverantwortlich durchführen, wenn sie diese Maßnahmen in ihrer Ausbildung erlernt haben und beherrschen und die konkrete Maßnahme erforderlich ist, um Lebensgefahr oder wesentliche Folgeschäden von Patient*innen abzuwenden (sog. 2a-Maßnahmen). Zeitlich begrenzt die Norm die Durchführung solcher Maßnahmen auf einen Zeitraum bis zum Eintreffen der Notärzt*in oder bis zum Beginn einer weiteren ärztlichen,

auch teleärztlichen Versorgung. Auch die Eigenverantwortlichkeit endet i. d. R. mit dem Eintreffen der Notärzt*in oder dem Beginn einer weiteren ärztlichen, auch teleärztlichen Versorgung. A c h tu ng Notfallsanitäter*innen dürfen heilkundliche Maßnahmen nur unter strengen Bedingungen eigenverantwortlich durchführen: • Die jeweilige Maßnahme muss erlernt sein und beherrscht werden. • Sie muss erforderlich sein, um Lebensgefahr oder wesentliche Folgeschäden bei einer Patient*in abzuwenden. Die heilkundliche Kompetenz für Notfallsanitäter*innen ist hier auf lebensrettende und schadenabwendende Maßnahmen beschränkt (vergleichbar mit den Voraussetzungen der „1cMaßnahmen“), bei denen eine Notärzt*in nicht rechtzeitig vor Ort sein kann, aber eigentlich notwendig wäre. Außerhalb dieser Maßgaben ist die Durchführung heilkundlicher Maßnahmen nur im Rahmen einer ärztlichen Delegation, z. B. nach § 4 Abs. 2 Nr. 2c NotSanG, möglich. Die Voraussetzungen des § 2a NotSanG orientieren sich an den Vorgaben der 1c-Maßnahmen. Hintergrund ist, dass heilkundliche Maßnahmen besondere – als Heilkunde qualifizierte – 1cMaßnahmen sind und somit ein Gleichlauf beider gesetzlichen Vorgaben besteht. Das Verhältnis der beiden Normen ist in › Abb. 4.1 dargestellt.

ABB. 4.1 Heilkundliche Maßnahmen im Rahmen des § 4 Abs. 2 Nr. 1c NotSanG [L157]

R e ch t in e ch t (Fall 4.5) Notfallsanitäter Fabian und Rettungssanitäterin Ida werden zusammen mit einem NEF aus einem benachbarten Dorf zu einem Notfalleinsatz – „56 Jahre, weiblich, Herzrasen“ – gerufen. Auf der Anfahrt meldet das NEF, dass es eine Anfahrtszeit von ca. 17 Minuten habe. Als Fabian und Ida bei der Patientin ankommen, liegt diese eingetrübt auf dem Sofa. Das Team kann nach der ABCDEErsteinschätzung eine starke Atemnot mit beginnendem Lungenödem, eine blasse, kaltschweißige Haut bei massiver Tachykardie und eine GCS von 8 feststellen. Als Ida ein EKG klebt, ist in allen Ableitungen eine regelmäßige Breitkomplextachykardie zu erkennen. Eine Bedarfstachykardie kann bei einer Frequenz von 230/min ausgeschlossen werden, sodass Fabian richtigerweise zu der Verdachtsdiagnose gelangt, dass die Patientin eine lebensbedrohliche (instabile) Kammertachykardie (VT) hat. Auch wenn im Rettungsdienstbereich von Fabian und Ida neben der Defibrillation keine weiteren Elektrotherapien als Algorithmus o. Ä. vorgegeben sind, entscheidet sich Fabian, eine

Elektrokardioversion durchzuführen. Er hat diese Maßnahme erlernt und trainiert sie regelmäßig in Fallbeispielen und am Gerät, sodass er sich in der Anwendung sicher fühlt. Da die Patientin zunehmend weggetreten wirkt und keine Patientenverfügung o. Ä. vorliegt, gehen Fabian und Ida von einer mutmaßlichen Einwilligung aus. Nach der zweiten Kardioversion konvertiert die VT in einen Sinusrhythmus und die Patientin klart auf. Für Fabian lagen hier die Voraussetzungen des § 2a NotSanG vor. Die Kardioversion war als Maßnahme der Wahl erforderlich, um die durch eine VT hervorgerufene Lebensgefahr von der Patientin abzuwehren. Zudem hat Fabian die Maßnahme (objektiv nachweislich) erlernt und beherrscht. R e ch t in e ch t (Fall 4.6) Notfallsanitäterin Marie und Rettungssanitäter Till werden zu einem Sportunfall alarmiert. Aufgrund der am Telefon dargestellten Unfallmeldung entschied sich die zuständige Disponentin, nur einen Rettungswagen zum Einsatzort zu schicken. Als Marie und Till bei dem Patienten ankommen, stellen sie eine sehr schmerzhafte Unterarmfraktur fest. Der Patient gibt glaubhaft eine „Neun“ auf der Numerischen Rating-Skala (NRS) an, sodass die beiden gemäß lokalem Indikationskatalog ein NEF nachfordern. Da sich das zuständige NEF gerade im Einsatz befindet, wird ein weiter entferntes NEF alarmiert, das eine Anfahrt von über 15 Minuten haben wird. Eine Telenotärzt*in gibt es im Rettungsdienstbereich von Marie und Till nicht. Unter den Schmerzen bittet der Patient das Rettungsteam darum, doch „endlich etwas gegen die Schmerzen zu machen“. Marie hat die Schmerztherapie mit Ketamin und Midazolam erlernt und trainiert diese regelmäßig anhand von Fallbeispielen. Gleiches gilt für die Anlage von i. v.-Zugängen. Auch wenn die Schmerztherapie in ihrem Rettungsdienstbereich nicht als Algorithmus o. Ä. vorgegeben ist, entscheidet sich Marie nach genauer Beurteilung der Situation, eine solche durchzuführen, um den Patienten von seinen Schmerzen zu befreien. Sie klärt diesen fachgerecht auf und holt sich dessen Einwilligung zu den notwendigen Maßnahmen ein. Anschließend wird die Schmerztherapie durchgeführt und der Patient mit dem dazugestoßenen NEF ins Krankenhaus gebracht. Auch hier lagen für Marie die Voraussetzungen des § 2a NotSanG vor. Die Linderung von Schmerzzuständen kann unter bestimmten Voraussetzungen als Abwendung wesentlicher Folgeschäden verstanden werden. Da Marie die Analgesie mit Ketamin und Midazolam erlernt hat und beherrscht, darf sie diese medikamentöse Maßnahme nach §§ 4 Abs. 2 Nr. 1c, 2a NotSanG durchführen. (Fall 4.7) Neben der Analgesie mit Ketamin und Midazolam hat Marie auch die Analgesie mit Morphin erlernt und beherrscht diese Maßnahme. Eine Analgesie mit Betäubungsmitteln (z. B. Morphin) wäre für Marie jedoch nur erlaubt, wenn diese als standardisierte ärztliche Vorgabe z. B. in den lokalen Protokollen vorgesehen ist. Eine eigenverantwortliche Gabe von Betäubungsmitteln nach §§ 4 Abs. 2 Nr. 1c, 2a NotSanG kommt wegen der Anforderungen aus § 13 Abs. 1b BtMG nicht in Betracht. A c h tu ng Es kann mitunter fraglich sein, ob Schmerzzustände unter die gesetzliche Bestimmung des § 2a NotSanG fallen. Auch wenn sie in Entwurfs- und Gesetzesbegründungen angesprochen wurden, haben sie nie Einzug in den Wortlaut des NotSanG gehalten. Dennoch ist allgemein anerkannt, dass

starke Schmerzzustände die Indikations-Voraussetzungen des § 2a NotSanG erfüllen. Als Argumentation kann insb. aufgeführt werden, dass wenn schon medikamentöse lebensrettende Maßnahmen indiziert sind, die oft unter weniger kontrollierten Umständen durchgeführt werden müssen und deutlich invasiver sind, eine medikamentöse Analgesie bei starken Schmerzzuständen erst recht unter die Voraussetzungen aus § 2a NotSanG fallen muss. Eine Abweichung wäre folglich systemwidrig. Zudem wurde im Gesetzesentwurf für eine Änderung des NotSanG 2023 (das Wort „medikamentös“ wurde in § 2a und § 4 Abs. 2 Nr. 1c NotSanG aufgenommen) explizit klargestellt, dass eine medikamentöse Therapie bei starken Schmerzzuständen von dem Regelungsbereich des § 2a NotSanG erfasst ist [7]. Dies könnte grds. auch für die Applikation von Betäubungsmitteln gelten, allerdings gibt das Betäubungsmittelrecht vor, dass dies nur auf der Basis von standardisierten ärztlichen Vorgaben erlaubt ist. Gemeint sind z. B. SOP, sodass eine Analgesie mit Betäubungsmitteln nicht ohne Weiteres eigenverantwortlich im Rahmen von § 2a NotSanG, sondern lediglich mit konkreter ärztlicher Vorgabe und damit regelmäßig nur als „2c-Maßnahme“ möglich ist. Rechtssicherheit § 5 HeilprG stellt die unerlaubte Ausübung der Heilkunde von nichtärztlichem Personal grds. unter Strafe. Wer vor der Einführung des § 2a NotSanG als Notfallsanitäter*in heilkundliche Maßnahmen durchgeführt hat, ohne eine Erlaubnis zu haben (z. B. Delegation), erfüllte den Tatbestand dieser Strafnorm. Straffreiheit konnte lediglich durch einen strafrechtlichen Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund erreicht werden, wofür häufig der rechtfertigende Notstand (§ 34 StGB) herangezogen werden musste (› Kap. 7.3.3). Heilkundliche Maßnahmen, die von Notfallsanitäter*innen in lebensbedrohlichen Notfallsituationen durchgeführt wurden, ließen sich also oft nur durch den „rechtfertigenden Notstand“ legitimieren. Dies war jedenfalls dann der Fall, wenn die jeweilige Maßnahme bzw. Situation nicht durch eine entsprechende ärztliche Handlungsanweisung abgedeckt wurde (Delegation i. S. v. § 4 Abs. 2 Nr. 2 NotSanG). Dank des § 2a NotSanG verstoßen Notfallsanitäter*innen in den dort geregelten Fällen nicht (mehr) gegen das HeilprG. Er stellt einen Spezialfall gegenüber dem HeilprG und somit eine Ausnahme von dem dort vorgegebenen Grundsatz des ärztlichen Heilkunde-Vorbehalts dar. Unter den konkreten Voraussetzungen des § 2a NotSanG ist eine Rechtfertigung der heilkundlichen Tätigkeit über einen Notstand nun nicht mehr nötig. Insoweit lässt sich sagen, dass § 2a NotSanG ein Stück weit mehr Rechtssicherheit für Notfallsanitäter*innen bei der Ausübung ihres Berufes schafft. Zu beachten bleibt jedoch, dass lediglich die Ausübung der Heilkunde nicht mehr gerechtfertigt werden muss. Erfüllt eine Maßnahme neben dem Tatbestand der Strafvorschrift aus dem HeilprG auch noch den Tatbestand einer anderen Strafvorschrift (z. B. die Körperverletzung nach § 223 StGB, › Kap. 7.5.1), so ist es weiterhin notwendig, dass diese Maßnahme rechtlich gerechtfertigt wird. Dies kann i. d. R. durch die rechtfertigende Einwilligung geschehen (› Kap. 6.3.3). Die Notwendigkeit einer rechtlichen Rechtfertigung für Handlungen, die einen Straftatbestand erfüllen, trifft im Übrigen auch Ärzt*innen – und das, obwohl diese originär dazu befugt sind, Heilkunde auszuüben. Durch die Einführung des § 2a NotSanG werden den Notfallsanitäter*innen zwar Kompetenzen zugesprochen, letztlich jedoch auch erhöhte Anforderungen aufgestellt, die sich auch auf den Bewertungsmaßstab etwaiger anderer Rechtfertigungsgründe auswirken können. So stellen sich die

Kriterien des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB) vergleichsweise weit dar, während der § 2a NotSanG sehr strenge Voraussetzungen mit sich bringt, die Notfallsanitäter*innen überwinden müssen, um rechtssicher zu handeln. Hier ist insb. das „Beherrschen-müssen“ hervorzuheben (› Kap. 4.2.5). Vor diesem Hintergrund und aufgrund der Tatsache, dass insb. invasive heilkundliche Maßnahmen regelmäßig den Tatbestand der Körperverletzung (§ 223 StGB) erfüllen und somit sowieso über Rechtfertigungsgründe legitimiert werden müssen, ist die strafrechtliche Rechtssicherheit, die durch den § 2a NotSanG hinsichtlich der Heilkunde geschaffen wurde, vergleichsweise gering. Me rke § 2a NotSanG legitimiert in bestimmten Fällen die Ausübung der Heilkunde durch Notfallsanitäter*innen. § 2a NotSanG legitimiert jedoch nicht, wenn (objektiv und subjektiv) ein Straftatbestand wie z. B. der Körperverletzung erfüllt wird (i. v.-Zugang, Intubation, Medikamentengabe, etc.). Ist ein solcher Straftatbestand erfüllt, muss weiterhin auf Rechtfertigungsgründe wie die rechtfertigende Einwilligung zurückgegriffen werden, um Straffreiheit zu erlangen. Heilkundliche Maßnahmen erfüllen i. d. R. zumindest den Tatbestand der Körperverletzung (§ 223 StGB, › Kap. 7.5.1). Me rke Auch Ärzt*innen können bei ihrer Tätigkeit Straftatbestände verwirklichen. Um straflos zu bleiben, muss aber auch hier ein einschlägiger Rechtfertigungsgrund erfüllt sein. Lediglich für die Ausübung der Heilkunde ist dies nicht notwendig, da Ärzt*innen durch das HeilprG originär dazu ermächtigt sind. Erfüllt die ärztlich durchgeführte heilkundliche Maßnahme einen Straftatbestand, gelten dieselben „Regeln“ wie für nichtärztliches Personal. Neben den vergleichsweise geringen Auswirkungen auf die strafrechtlichen Risiken, entfaltet § 2a NotSanG v. a. im arbeitsrechtlichen Kontext erhebliche Wirkung. Der im HeilprG beschriebene „Arztvorbehalt“ der Heilkunde diente historisch betrachtet v. a. der Abgrenzung verschiedener Kompetenzbereiche und führte mitunter zu einer scharfen Trennung der Handlungsbereiche von ärztlichem und nichtärztlichem Personal. Mit der Einführung des Berufsbildes Notfallsanitäter*in kommt es ein Stück weit zu Überschneidungen der Aufgabenbereiche von Notärzt*innen und Notfallsanitäter*innen. Insbesondere mit Inkrafttreten des § 2a NotSanG wird der Wille des Gesetzgebers deutlich, bis wohin der Aufgabenbereich der nichtärztlichen Notfallsanitäter*innen reichen soll. Soweit in der Ausbildung erlernte Maßnahmen, die beherrscht werden und im Sinne des § 2a Nr. 2 NotSanG erforderlich sind, dürfen und sollen diese durchgeführt werden. Da dies seit 2021 gesetzlich festgehalten ist, müssen auch Träger von Rettungsdiensten und Arbeitgeber*innen diesen Kompetenzbereich anerkennen. Vor Einführung des § 2a NotSanG herrschte bei den Trägern aber auch beim Rettungspersonal und den Arbeitgeber*innen häufig (Rechts-)Unsicherheit, was den Aufgaben- und Kompetenzbereich der Notfallsanitäter*innen angeht. Folge davon war, dass Notfallsanitäter*innen, wenn sie erforderliche invasive oder auch heilkundliche Maßnahmen durchgeführt haben, ggf. mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen konfrontiert waren, weil sie vermeintlich „ungesetzlich“ gehandelt haben. Dieses Problem trat insb. dann auf, wenn die ÄLRD notwendige Notfallmaßnahmen nicht als Vorabdelegation (2c-Maßnahmen) vorgesehen haben, da das Handeln der Notfallsanitäter*innen dann mitunter weder in

lokalen Protokollen noch im Gesetz klar beschrieben war. Notfallsanitäter*innen, die über die Meinung der ÄLRD hinweg notwendige heilkundliche Maßnahmen eigenverantwortlich ergriffen haben, mussten u. U. mit Herabstufungen, Abmahnungen oder gar Kündigungen rechnen. Selbst wenn die betroffenen Notfallsanitäter*innen keine strafrechtlichen Konsequenzen zu fürchten hatten, ging mit den „drohenden arbeitsrechtlichen Folgen“ also eine hohe (Rechts-)Unsicherheit einher. § 2a NotSanG wirkt ggf. bestehenden Unsicherheiten entgegen, indem den Notfallsanitäter*innen klare gesetzliche Kompetenzen zugesprochen werden. Dies ist v. a. ein politisches Signal und eine Wertschätzung gegenüber diesem Berufsbild, was insgesamt zu mehr Sicherheit im alltäglichen Arbeiten geführt hat. R e ch t in e ch t Besonderes Aufsehen erregte 2021 ein Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs (VGH) München [8]. Dabei wurde zu9075 einem Beschluss eines Verwaltungsgerichts (VG Regensburg) Stellung genommen, in dem (fälschlicherweise) die Rechtmäßigkeit eines Widerrufs einer Delegationserlaubnis festgestellt wurde. Der Beschluss des VGH München stellte die Rechtswidrigkeit des Widerrufs fest und verwies auf den nun in § 2a NotSanG klargestellten Kompetenzbereich der Notfallsanitäter*innen. Ausgangslage war eine heilkundliche, invasive Maßnahme, die nicht von einer Vorabdelegation (z. B. Algorithmus) durch den ÄLRD gedeckt war, aber trotzdem durch einen Notfallsanitäter durchgeführt wurde. Der Fall ereignete sich, noch bevor der § 2a NotSanG in Kraft getreten war. Der VGH München hat in seinem Beschluss Bezug auf den nunmehr eingeführten § 2a NotSanG genommen und klargestellt, dass Notfallsanitäter*innen unter den gesetzlichen Voraussetzungen heilkundliche Tätigkeiten ausdrücklich durchführen dürfen und sogar müssen, soweit die gesetzlichen Voraussetzungen in der jeweiligen Einsatzsituation gegeben sind. Eine solche Ausübung der Heilkunde wurde vom VGH allerdings ausdrücklich auf Notfälle beschränkt, in denen akut keine ärztliche Versorgung möglich ist. Hervorgehoben wurde zudem, dass es hinsichtlich einer Entscheidung bzw. Verpflichtung zur Durchführung heilkundlicher Maßnahmen primär auf die subjektive Situationseinschätzung der handelnden Notfallsanitäter*in ankommt (Einschätzungsprärogative). Maßgeblicher Zeitpunkt ist hierfür der Augenblick des Handelns (Ex-ante-Betrachtung). Bei einer nachträglichen Beurteilung (Ex-post-Betrachtung) ist immer die bestehende Anspannung im Einsatz zu berücksichtigen. Sofern sich im Nachhinein, entgegen einer nachvollziehbaren Ex-ante-Einschätzung der handelnden Notfallsanitäter*in, herausstellt, dass für die Patient*in tatsächlich gar keine Lebensgefahr bestand oder keine wesentlichen Folgeschäden zu erwarten waren, so liegt zwar objektiv eine unzulässige Handlung vor, diese ist jedoch nicht als subjektiv vorwerfbare Ausübung der Heilkunde zu bewerten. Da es sich um eine eigenverantwortliche Handlung handelt, übernehmen Notfallsanitäter*innen in diesen Situationen allerdings allein die volle (auch haftungsrechtliche) Verantwortung für die jeweilige Tätigkeit und gleichzeitig auch dafür, dass die vorgenommene Maßnahme zum Zeitpunkt ihrer Durchführung die einzig mögliche und angemessene Option ist. Die Entscheidungskriterien müssen dabei sorgfältig geprüft und bewertet werden. Nach dem Beschluss des VGH München wurde das Verfahren an das VG Regensburg zurückverwiesen und im Einvernehmen mit den Parteien eingestellt; eine abschließende Entscheidung in der Sache erging nicht. Dennoch kann die Einschätzung des VGH München als

wegweisend betrachtet werden; sie steht exemplarisch für eine gerichtliche Bewertung der Heilkundeausübung durch Notfallsanitäter*innen. Zu beachten bleibt jedoch, dass eine höchstrichterliche Einschätzung dazu (z. B. durch das Bundesverwaltungsgericht) bisher noch nicht ergangen ist. Folglich besteht, jedenfalls in anderen Bundesländern als Bayern, die Möglichkeit abweichender gerichtlicher Einschätzungen.

4.2.5 Erlernen und beherrschen David Winkenbach Sowohl in § 4 Abs. 2 Nr. 1c als auch in § 2a NotSanG wird bestimmt, dass Maßnahmen nur dann durchgeführt werden dürfen, wenn sie in der Ausbildung erlernt worden sind und beherrscht werden. Gerade weil dies dem Wortlaut zufolge eine notwendige Bedingung für die eigenverantwortliche Durchführung der Maßnahmen ist, stellt sich die Frage, wann das „Erlernt-haben“ und das „Beherrschen“ im konkreten Fall gegeben sind. Erlernt-haben Im Hinblick auf das Erlernen kann zunächst v. a. auf den Abschluss der Berufsausbildung und die absolvierten Prüfungen abgestellt werden. Der Berufsabschluss gewährleistet, dass die notwendigen Fachkompetenzen jedenfalls in Form von theoretischem Wissen bei den Absolvent*innen vorhanden sind. Dies kann insb. durch die Abschlussprüfungen nachgewiesen werden. Später sorgt eine jährliche Fortbildungspflicht dafür, dass zumindest ein gewisses Maß an erlerntem Fachwissen aufrechterhalten wird. Allerdings sind die Pflichtfortbildungen zeitlich begrenzt (laut RettG NRW z. B. 30 Stunden jährlich), sodass nicht immer alle Inhalte vermittelt werden können, die eigentlich notwendig wären. Es kann demnach vorkommen, dass Notfallsanitäter*innen im Laufe der Zeit nach ihrer Ausbildung/Ergänzungsprüfung Fachwissen vergessen und dann faktisch nicht mehr erlernt haben. Weiterhin kann es sein, dass sich medizinisches Fachwissen durch die wissenschaftliche Entwicklung erneuert. Auch hier ist nicht immer gewährleistet, dass Notfallsanitäter*innen dieses erneuerte Wissen erlernen. Insgesamt lässt sich jedoch sagen, dass sich das Erlernt-haben von Wissen, auch bezüglich konkreter Maßnahmen, relativ gut darstellen und nachweisen lässt. Es bedarf jedoch regelmäßiger Übung und Erneuerung. Praxis tip p Um Fachwissen aufrechtzuerhalten, ist es allen Notfallsanitäter*innen zu empfehlen, regelmäßig in Fachbüchern und Fachzeitschriften zu lesen oder sich über andere Kanäle zu informieren. An den meisten Rettungswachen wird sogar Literatur zur Verfügung gestellt. Als Einstieg kann es helfen, nach den Einsätzen deren medizinischen Hintergrund zu wiederholen oder nachzuarbeiten. Beherrschen Der Begriff des Beherrschens wirft einige Fragen auf. Dass dieser sehr allgemein gehaltenen Formulierung eine derart bedeutende Rolle im NotSanG zugesprochen wird, stößt auf vielerlei Kritik und löst Unsicherheit aus. Bildungswissenschaftlich lässt sich Beherrschen als die Fähigkeit zur psychomotorischen Ausübung einer konkreten Handlung definieren, dessen Aufrechterhaltung

regelmäßiges Training und Überprüfen erfordert. Beherrschen stellt somit eine hohe Befähigungsstufe i. S. e. Handlungskompetenz dar, die von reinem Wissen abzugrenzen ist. Me rke Schlichtes Wissen stellt noch keine Handlungskompetenz im Sinne eines Beherrschens dar. Zum Beherrschen medizinischer Maßnahmen lässt sich weiter ausführen, dass neben dem motorischen Durchführen einer bestimmten Handlung auch die Vielschichtigkeit einer Maßnahme in ihrer Gänze überblickt werden muss. Beherrschen beinhaltet demnach auch, dass jeweils Komplikationen antizipiert werden, auf die adäquat reagiert werden muss. Weiter umfasst das Beherrschen die Abwägung in Bezug auf alternative Maßnahmen, Therapieerfolge und Risiken. Maßnahmen in all ihrer Kompliziertheit und auch in schwierigen Einsatzsituationen sehr gut zu beherrschen, bringt also im Ergebnis enorm hohe Anforderungen mit sich. Hierbei ist zweifelhaft, ob alle Notfallsanitäter*innen diesen Anforderungen stets gerecht werden können. Es stellt sich also die Frage, ob es sich bei der gesetzlichen Voraussetzung „beherrschen“ aus §§ 2a, 4 Abs. 2 Nr. 1c NotSanG nicht um überhöhte Anforderungen an die Notfallsanitäter*innen handelt, denen in der Praxis nur selten Genüge getan werden kann; zumal das „Beherrschen“ kaum messbar ist und daher auch nur schwer nachgewiesen werden kann. Nach einer Gesetzesbegründung des Deutschen Bundestages wird eine Maßnahme nach den allgemeinen Maßstäben beruflicher Bildung bereits beherrscht, „wenn sie auf der Basis sicheren theoretischen Wissens praktisch sicher angewendet werden kann. Dass Notfallsanitäter*innen die anzuwendenden Maßnahmen beherrschen, haben sie in aller Regel mit dem Bestehen der staatlichen Prüfung nachgewiesen“ [9]. Folgt man dies9080em Gedanken, so würde das Beherrschen auf das „in der Ausbildung Erlernt-haben“ heruntergebrochen. Dementgegen gibt schon der Wortlaut des NotSanG an, dass Erlernen und Beherrschen eben nicht gleichgesetzt werden können. Beherrschen ist v. a. subjektiv geprägt und durchaus mit einer zeitlichen Dynamik versehen. So kann sich das Beherrschen im Laufe der Zeit verändern – sowohl in ein „besser beherrschen“, z. B. durch wachsende Routine, als auch in ein „schlechter beherrschen“, z. B. durch fehlende Routine. Die Vielfalt der echten Notfalleinsätze gibt es nicht immer her, alle Maßnahmen so regelmäßig anzuwenden, dass eine Routine entwickelt werden könnte, die ein Beherrschen langfristig begründet oder aufrechterhält. Kognitive Kompetenzen, die in der Berufsausbildung erlernt werden, können folglich nicht automatisch mit dem Kompetenzniveau des Beherrschens gleichgesetzt werden. Dies gilt v. a. in Hinblick auf die zeitliche Entwicklung und den Kompetenzerhalt, der damit einhergeht – ganz abgesehen von Maßnahmen, die nach der Ausbildung neu dazukommen. Neben dem fachlichen Wissen bedarf es demnach immer einer praktischen Umsetzung in Form von regelmäßigem Üben, damit das Kompetenzniveau des Beherrschens begründet werden kann. A c h tu ng Erlernt-haben kann nicht mit Beherrschen gleichgesetzt werden! Eine Gesetzesbegründung kann zwar zur Interpretation des Beherrschen-Begriffs herangezogen werden, im oben angesprochenen Fall ist diese allerdings so allgemein gehalten, dass dadurch

Missverständnisse hervorgerufen werden können. Letztendlich kommt es bei der Beurteilung einer Norm maßgeblich auf den Wortlaut im Gesetz an. Im Übrigen wird in derselben Gesetzesbegründung [9] auch auf den We9085rt einer subjektiven Komponente beim Beherrschen hingewiesen. So wird im Hinblick auf eine Kompetenzvergabe beschrieben, „dass die handelnde Notfallsanitäter*in im Moment der Übernahme der Tätigkeit selbst davon überzeugt“ sein sollte, „die Maßnahme ausreichend zu beherrschen“. Diese Formulierung unterstützt und legitimiert v. a. die Handlungskompetenz von Notfallsanitäter*innen, die Maßnahmen tatsächlich beherrschen. Sie impliziert aber zugleich, dass auch der subjektive Teil des Beherrschens eine wesentliche Rolle bei dessen Bewertung spielt. Demnach wäre ein Beherrschen schon dann nicht mehr gegeben, wenn die handelnde Notfallsanitäter*in im Moment der Tätigkeit selbst nicht davon überzeugt ist, die Maßnahme ausreichend zu beherrschen, sei es durch Unsicherheit oder auch aufgrund fehlender Handlungskompetenzen, die im Laufe der Zeit verlorengingen. Es wird deutlich, dass „Beherrschen“ stets eine persönliche Kompetenz ist, die individuell und regelmäßig neu beurteilt werden muss. Me rke Beherrschen ist eine persönliche Kompetenz, die aufgrund von Ausbildung, beruflicher Erfahrung und individuellen Fertigkeiten bewertet werden muss. Individuelle Kompetenzstufen Im ersten Referentenentwurf zur NotSan-APrVO wurde eine Bewertungsmatrix erstellt, die anhand des Zusammenwirkens der theoretischen Kenntnisse mit handwerklicher Praxisbeherrschung ein bestimmtes Kompetenzniveau angezeigt hat. Ein Beherrschen wurde hierbei ausschließlich für ein Verstehen im Kontext von Umgebungsfaktoren bei sehr guten praktischen Fähigkeiten angenommen. Zum zweiten Referentenentwurf wurde diese Bewertungsmatrix zwar gestrichen, es wurde aber bereits deutlich, dass für das Kompetenzniveau „beherrschen“ scharfe Kriterien im Hinblick auf Theorie und Praxis gelten müssen. Um Fachpersonal ein individuelles Kompetenzniveau zuordnen zu können, wurden vom Bundesverband der Ärztlichen Leitungen Rettungsdienst Deutschland vier Kompetenzstufen entwickelt (› Tab. 4.6,› Tab. 4.7): I. „Kennen“ ist dabei die Fähigkeit, Maßnahmen einer medizinischen Situation als erforderlich zuordnen und dessen Ablauf beschreiben zu können. II. „Können“ ist darauf aufbauend gegeben, wenn die jeweilige Maßnahme unter einfachen Bedingungen durchgeführt bzw. angewendet werden kann. III. „Beherrschen“ erfordert die Fähigkeit, unter realen Einsatzbedingungen die jeweilige Indikation einer Maßnahme erkennen und mit den zur Verfügung stehenden Mitteln durchführen zu können, auch unter Berücksichtigung und Bewältigung möglicher Komplikationen. IV. „Experte“ ist die höchste Kompetenzstufe und erweitert die Fähigkeiten um Spezialfertigkeiten und die Durchführung der jeweiligen Maßnahme unter schwierigen Einsatzbedingungen, auch unter Berücksichtigung und Bewältigung schwieriger Komplikationen.

Tab. 4.6 Kompetenzmodell des Bundesverbandes der Ärztlichen Leitungen Rettungsdienst Deutschland (BV ÄLRD) Kompetenzstufe

Handlungsniveau Beschreibung

Kompetenzstufe I

Kennen

Kennt Maßnahme und Anwendung

Kompetenzstufe II

Können

Kann Maßnahmen unter einfachen Bedingungen anwenden

Kompetenzstufe

Beherrschen

Kann Maßnahmen situationsgerecht anwenden

III Kompetenzstufe IV Experte

Kann Maßnahmen auch unter schwierigen Einsatzbedingungen anwenden

Tab. 4.7 Beschreibung der vier Kompetenzniveaus des Bundesverbandes der Ärztlichen Leitungen Rettungsdienst Deutschland (BV ÄLRD) in gewichteter Form StandardEinsatz; Kompetenzstufe Fachwissen

Einfache Anwendung

sichere

Situationsgerec Erkennen von

Anwendung unterschiedlich

Anwendung Komplikationen Methoden auch bei und Beheben unter schwierig eindeutiger Einsatzbedingu Indikation

Kennen (I)

+

(+)







Können (II)

++

++

+

+



Beherrschen (III)

+++

+++

++++

++

++

Experte (IV)

++++

++++

++++

++++

++++

Diese Kompetenzstufen sollen einen Orientierungsrahmen festlegen, an dem sowohl Qualifikationsziele als auch deren Überprüfung ausgerichtet werden können. Sinn und Zweck der Maßgabe Sinn und Zweck hinter der Formulierung „Beherrschen“ im NotSanG ist letztlich die allgemeine Voraussetzung, dass nur Maßnahmen angewendet werden sollen, die kognitiv verstanden sind und praktisch sicher umgesetzt werden können. Bei der Frage, wie der Begriff verstanden bzw. ausgelegt werden soll, ist dies stets zu beachten. Wird eine Maßnahme erfolgreich durchgeführt, ohne dass es zu Durchführungsfehlern kommt, so wird rechtlich grds. vermutet, dass die Maßnahme beherrscht wurde. Folglich drohen jedenfalls im Außenverhältnis auch keine rechtlichen Konsequenzen.

Fest steht, dass ein gesetzmäßiges Beherrschen von Maßnahmen Übung und Training erfordert; zum einen, um das Kompetenzniveau des Beherrschens überhaupt zu erreichen, zum anderen, um dieses Niveau aufrechtzuerhalten. Bei Betrachtung des Sinn und Zwecks der betreffenden Normen könnte die Bedingung des Beherrschens wie folgt „übersetzt“ werden: „Maßnahmen dürfen bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen durchgeführt werden, wenn sie in der Ausbildung erlernt wurden und regelmäßig trainiert oder angewendet werden, sodass situationsabhängig eine erfolgreiche Durchführung objektiv und subjektiv zu erwarten ist.“ Praxis tip p Notfallsanitäter*innen sind auch selbst gefordert, das eigene Beherrschen zu hinterfragen, und können durch gezielte Selbstreflexion das eigene Kompetenzniveau einschätzen: • Allgemein:

„Beherrsche ich eine Maßnahme grds. und traue mir allgemein zu, diese in Einsatzsituationen durchzuführen?“ • Im Einsatz:

„Beherrsche ich eine Maßnahme im Kontext der aktuellen Notfallsituation und traue mir zu, diese jetzt und hier durchzuführen?“

Übung und Training Soweit die Notfalleinsätze die regelmäßige Durchführung einiger Maßnahmen nicht hergeben, ist hierfür auf periodische Wiederholung durch Training und insb. Simulationen zurückzugreifen. Neben einem tatsächlichen Lerneffekt besteht hierbei auch die Möglichkeit, einen Nachweis über die erbrachten Leistungen zu erhalten. Die Etablierung derartiger Methoden könnten v. a. durch die ÄLRD übernommen werden. Zum einen sind diese nach § 4 Abs. 2 Nr. 2c NotSanG sowieso dazu verpflichtet, jedenfalls die Durchführungskompetenz der Notfallsanitäter*innen bezüglich der von ihnen standardmäßig vorgegebenen Maßnahmen zu überprüfen. Zum anderen könnte anhand bestimmter Überprüfungsmethoden – auch unter Einbeziehung des Kompetenzmodells, › Tab. 4.6 – ein Qualitätsmanagement aufgebaut werden, das die Qualität der Rettungsdienste im Interesse der ÄLRD nachhaltig sicherstellt und verbessert. Praxis tip p Die Handlungskompetenz des Beherrschens wird v. a. durch regelmäßiges Üben und Trainieren erreicht. An vielen Rettungswachen findet sich zwischen den Einsätzen Zeit, einzelne Maßnahmen oder Einsatzabläufe zu üben. Hierzu bietet sich häufig auch das Setting im Rettungswagen an. Gemeinsam können hier Fallbeispiele oder Skilltrainings durchgeführt werden. Wichtig dabei ist, dass solche Übungen in einem Rahmen stattfinden können, in dem niemand „vorgeführt“ wird oder sich schlecht fühlen muss, wenn ein Fehler passiert – es geht darum, das individuelle Kompetenzniveau aufrechtzuerhalten und auszubauen, egal bei welchem Niveau man startet. Als „abgespeckte“ Form können die Maßnahmen auch regelmäßig im Kopf durchgegangen werden.

4.2.6 Pyramidenprozess Im NotSanG und in der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Notfallsanitäter*innen werden zwar Ausbildungsbereiche und allgemeine Kompetenzen beschrieben, die Notfallsanitäter*innen haben sollen (z. B. Durchführen von invasiven Maßnahmen), allerdings werden keine konkreten Maßnahmen benannt. Eine Konkretisierung der Maßnahmen liegt somit in der Verantwortung der Curricula der Länder oder der Schulen. Um die Umsetzung des NotSanG v. a. hinsichtlich invasiver Maßnahmen möglichst einheitlich zu gestalten, hat der Bundesverband der Ärztlichen Leitungen Rettungsdienst in einem umfangreichen Entwicklungs- und Abstimmungsprozess konkrete Maßnahmen und Medikamente herausgearbeitet, die zur Durchführung durch Notfallsanitäter*innen für bestimmte Einsatzsituationen in Betracht kommen. An diesem Prozess waren verschiedene Institutionen und Interessenvertreter*innen beteiligt, die hintereinander und aufeinander aufbauend konkrete Fragestellungen zu den Maßnahmen bearbeitet haben. Dieser Stufen-Prozess wurde Pyramidenprozess genannt. Die verschiedenen Stufen des Pyramidenprozesses sind in › Abb. 4.2 dargestellt.

ABB. 4.2 Der Pyramidenprozess (BV ÄLRD e. V.) [L157]

Me rke Der Pyramidenprozess war ein Entwicklungs- und Abstimmungsprozess verschiedener Institutionen und Interessenvertreter*innen, dessen Ziel eine einheitliche Umsetzung des NotSanG war. Hierzu sollten v. a. konkrete invasive Maßnahmen und deren Anwendungsbereiche bestimmt werden.

Nach einer Bearbeitungsdauer von ca. sieben Monaten wurden die Ergebnisse des Pyramidenprozesses am 15. Februar 2014 und damit nur ca. 1,5 Monate nach Inkrafttreten des NotSanG veröffentlicht. Ergebnisse des Pyramidenprozesses waren u. a. • ein konkreter Maßnahmenkatalog (› Tab. 4.8) und

Tab. 4.8 Katalog invasiver Maßnahmen zur Durchführung durch Notfallsanitäter*innen Nr. Maßnahme

Notfallmedizinisches Zustandsbild und Situation

Nachweiskatalog Mindestanzahl

1

i. v.-Zugang

-

50 × an der Patient*in

2

intraossärer Zugang

Reanimation

10 × am Phantom

3

supraglottischer Atemweg

Reanimation/Atemwegssicherung 20 × am Phantom

45 × an der Patient*in

4

Laryngoskopie plus McGillZange

Bolussuche und -entfernung

20 × am Phantom

10 × im Rahmen der Intubationsnarkose in der Klinik

5

CPAP

COPD, kardiales Lungenödem

10 × an der Patient*in

6

Torniquet/pneumatische

Amputation mit

5 × am Phantom plus

Blutsperre

nichtabdrückbarer Blutung

wechselseitiges Üben unter Kontrolle des Pulsverlustes

7

Beckenschlinge

Beckentrauma

5 × am Phantom

8

achsengerechte Lagerung

grobe Fehlstellung bei

5 × am Phantom

unter Zug

Extremitätenfrakturen

9

Thoraxpunktion

Spannungspneumothorax

10 × am Phantom

10

manuelle Defibrillation

-

20 × am Simulator

11

Kardioversion

instabile Tachykardie mit Bewusstlosigkeit

20 × am Simulator 20 × EKG-Bilder richtig erkennen

12

externe Schrittmacheranlage

13

Geburtsbegleitung

instabile Bradykardie mit

20 × am Simulator

Bewusstlosigkeit Geburt eines Kindes

5 × Geburtsphantom, Anwesenheit bei mindestens 2 Geburten im Kreißsaal

Nr. Maßnahme 14

Umgang mit tracheotomierten

Notfallmedizinisches

Nachweiskatalog

Zustandsbild und Situation

Mindestanzahl

-

5 × am Phantom

2 × Mitwirkung bei

Patienten (einschl. Wechsel des

der Tracheostomapflege

Tracheostomas)

auf der Intensivstation

15

tiefes endobronchiales Absaugen

-

• ein konkreter Medikamentenkatalog (› Tab. 4.9).

10 × auf der Intensivstation

Tab. 4.9 Medikamentenkatalog zur Applikation durch Notfallsanitäter*innen Nr. Medikament

Besonderer Anwendungsbereich

1

Adrenalin i. m.

Anaphylaxie

2

Adrenalin i. v.

Reanimation, Anaphylaxie, Bradykardie

3

Adrenalin inhalativ

Asthma, Anaphylaxie, Pseudokrupp

4

Amiodaron

Reanimation, ventrikuläre Tachykardie

5

Antiemetika

starke Übelkeit und Erbrechen

6

Acetylsalizylsäure

ACS

7

Atropin

Bradykardie, Intoxikation mit Alkylphosphaten

8

Benzodiazepine

(Fieber-)Krampfanfall, Status epilepticus, Sedierung, Erregungszustände

9

Beta2-Sympathomimetika und Ipratropiumbromid

Asthma, COPD, Bronchitis

10

Butylscopolamin

Koliken

11

Furosemid

Lungenödem

12

Glukose

Hypoglykämie

13

H1- und H2-Blocker

allergische Reaktion

14

Heparin

ACS

15

Ibuprofen oder Paracetamol

Antipyretika, Analgesie

16

Ketamin

Analgesie

17

Kortison

Asthma, Allergie

18

Kristalloide Infusion (balancierte

Volumenersatz, Medikamententräger

VEL) 19

Kolloidale Lösungen

-

20

Lidocain

intraossäre Punktion

21

Metamizol

Antipyretika, Analgesie

22

Naloxon

Opiatintoxikation

23

Nitrate

ACS, Lungenödem

24

Opiate

Analgesie bei ACS und Trauma

Nr. Medikament

Besonderer Anwendungsbereich

25

hypertone Krise

Nitrendipin

Beide Listen basieren auf aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen und Standards (z. B. Leitlinien). Bei den Erwägungen im Pyramidenprozess wurden ausschließlich fachliche Aspekte berücksichtigt; berufspolitische Fragestellungen z. B. blieben weitestgehend unbeachtet. Wesentliche Kriterien, die laut BV ÄLRD für die Anwendung invasiver Maßnahmen durch Notfallsanitäter*innen beachtet wurden, sind: • „Sie müssen aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse lebensrettend wirken oder geeignet sein, schwere Folgeschäden zu vermeiden. • Sie müssen im Rahmen der 3-jährigen Ausbildung auch bis zum vorgesehenen Kompetenzniveau ausbildbar sein. • Für jede einzelne Maßnahme muss eine Risiko-Nutzen-Abwägung vorgenommen werden, in die die Anwendungshäufigkeit und die mit einer Anwendung verbundene Gefahr eingehen.“ [10] Zudem wurde eine Vorgabe hinsichtlich gewisser Mindestanzahlen an Übungen/Trainings gemacht, die gewährleisten sollen, dass ein gewisses Mindest-Kompetenzniveau erreicht wird. Die Ergebnisse des Pyramidenprozesses sind keine Rechtsnormen (› Kap. 2.4); vielmehr haben sie einen Empfehlungscharakter und sind damit rechtlich nicht bindend.

4.2.7 Weisungen von und gegenüber Notfallsanitäter*innen Generell gilt, dass im medizinischen Bereich die fachlich höchstqualifizierte Person gegenüber anderen weniger qualifizierten Personen weisungsbefugt ist. Für den Rettungsdienst ergibt sich dabei z. B. die • medizinische Weisungsbefugnis der Notärzt*innen gegenüber dem nichtärztlichen Rettungsdienstpersonal (Notfallsanitäter*innen, Rettungssanitäter*innen, etc.) und • die medizinische Weisungsbefugnis der Notfallsanitäter*innen gegenüber den Rettungssanitäter*innen oder Rettungshelfer*innen. Neben diesem Grundsatz ist die Weisungsbefugnis der Notärzt*innen gegenüber nichtärztlichem Personal auch häufig explizit in den Landesrettungsdienstgesetzen geregelt (so z. B. in § 4 Abs. 3 Satz 3 RettG NRW). Gerade im Verhältnis Notärzt*in/Notfallsanitäter*in ist jedoch zu beachten, dass sich die Weisungsbefugnis auf medizinische Belange beschränkt; sie endet folglich bei z. B. technischen Angelegenheiten. Me rke Notärzt*innen können nichtärztlichem Personal in medizinischen Fragen Weisungen erteilen. Das Weisungsrecht der höchstqualifizierten Person gilt jedoch nicht uneingeschränkt. Weisungen, die offensichtlich fachlich falsch sind, insb. solche, die Patient*innen schädigen könnten, müssen und dürfen nicht befolgt werden. Auch wenn sich bis zu einem gewissen Grad auf die Kompetenz und Autorität der höchstqualifizierten Person verlassen werden kann, ist das übrige am Einsatz beteiligte

Rettungsfachpersonal nicht von jeglicher Verantwortung entbunden. Vielmehr darf sich dieses bei erkennbar groben Versäumnissen nicht hinter der höchstqualifizierten Person „zurückziehen“ und untätig bleiben, sondern muss zum Wohle der Patient*in intervenieren. Strafrechtlich betrachtet lässt sich sagen, dass die Garantenstellung stets weiter besteht, auch wenn höher qualifiziertes Personal an der Patientenversorgung beteiligt ist (› Kap. 7.2.3, insb. Fall 7.17). A c h tu ng Auch wenn eine höherqualifizierte Person anwesend ist, ist das Rettungsfachpersonal nicht automatisch von seiner Verantwortung gegenüber den Patient*innen entbunden. Es ist sogar dazu verpflichtet zu intervenieren, wenn erkennbar ist, dass es durch das Handeln einer höherqualifizierten Person zu groben Versäumnissen kommen würde. Befinden sich im Rettungsdienst zwei gleichqualifizierte Personen auf einem Rettungsmittel (z. B. zwei Notfallsanitäter*innen), sind diese grds. fachlich gleichberechtigt. Die Gesamtverantwortung für etwaige Einsätze sowie die abschließende Dokumentation trägt dabei jedoch diejenige Person, die im Einsatz Transportführer*in ist. Auch hier gilt jedoch, dass die andere gleichqualifizierte Person nicht von sämtlicher Verantwortung entbunden ist. Wenngleich Fahrzeugführer*innen nicht immer in die medizinischen Entscheidungen eingebunden sind, sind sie entsprechend ihrer Qualifikation dazu verpflichtet, bei erkennbaren groben Versäumnissen zu intervenieren. Gleichermaßen gilt dies, wenn Entscheidungen getroffen werden, die rechtlich nicht tragbar sind, z. B. eine Maßnahme, die zwar medizinisch nicht falsch wäre, aber die rechtliche Befugnis der durchführenden Person übersteigt. Die Aufteilung der „Positionen“ und Aufgaben ist im Rettungsdienst sinnvoll und legitim, sie darf jedoch nicht dazu führen, dass sich die assistierende Person (Fahrzeugführer*in) vollständig auf die Assistenzrolle reduziert. Alle Personen im Einsatz tragen entsprechend ihrer Qualifikation eine gewisse Verantwortung, die nicht nur deshalb entfällt, weil eine höher- oder gleichqualifizierte Person am Einsatz beteiligt ist. Rettungsdienst ist und bleibt Teamarbeit. Me rke Auch wenn Fahrzeugführer*innen nicht immer in die medizinischen Entscheidungen eingebunden sind, können sie entsprechend ihrer Qualifikation beratend hinzugezogen werden und müssen intervenieren, wenn offensichtlich falsche Entscheidungen von den Transportführer*innen getroffen werden. R e ch t in e ch t (Fall 4.8) Notfallsanitäter Fabian und Notfallsanitäterin Marie werden zusammen auf dem RTW zu einem Notfalleinsatz am städtischen Bahnhof alarmiert. Marie nimmt dabei die Rolle der Transportführerin ein, Fabian die des Fahrzeugführers. Somit ist insb. Marie für die medizinischen Maßnahmen und die Einsatzdokumentation zuständig. Vor Ort stellt sich ein Patient dar, der lebensbedrohlich erkrankt ist und für den laut lokalen Protokollen die Nachforderung eines NEF indiziert wäre. Während Fabian dies rasch erkennt, vergisst Marie diese Maßnahme. Da die Nachalarmierung einen vorgeschriebenen und medizinisch notwendigen Handlungsschritt darstellt, ist Fabian dazu angehalten, Marie darauf aufmerksam zu machen. Tut er dies nicht, wäre ihm dies vorwerfbar.

Fabian ist indes nicht dazu verpflichtet, das Protokoll von Marie zu überprüfen.

4.3 Praxisanleiter*innen Eugen Latka Die praktische Ausbildung der Notfallsanitäter*innen wird von Praxisanleiter*innen (PAL) an genehmigten Lehrrettungswachen und geeigneten Krankenhäusern verantwortet und durchgeführt. Somit müssen nach dem NotSanG und der NotSan-APrV die Einrichtungen der praktischen Ausbildung die Praxisanleitung der Teilnehmenden durch geeignete Fachkräfte sicherstellen. Geeignete Fachkräfte, die als Praxisanleiter*innen in der praktischen Ausbildung tätig sind, müssen die Erlaubnis der Berufsbezeichnung „Notfallsanitäter*in“ führen und über mindestens zwei Jahre Berufserfahrung als Notfallsanitäter*in verfügen. Sie müssen zuvor eine berufspädagogische Zusatzqualifikation im Umfang von mindestens 300 Stunden absolvieren und sich kontinuierlich fortbilden. Die berufspädagogischen Fortbildungen haben einen Umfang von mindestens 24 Stunden jährlich. Die Hauptaufgabe der praxisanleitenden Personen ist es, die Schüler*innen schrittweise an die selbstständige Durchführung ihrer beruflichen Pflichten heranzuführen und den Zusammenhang zwischen dem Theorieunterricht an der Schule und der praktischen Ausbildung im Krankenhaus oder auf der Lehrrettungswache sicherzustellen. Dabei sollen sie den Schüler*innen die Möglichkeit geben, ihr im Unterricht erworbenes Wissen zu vertiefen und zu lernen, wie sie dieses Wissen in ihrer späteren beruflichen Tätigkeit anwenden können. Praxisanleitende Personen haben zudem Notfallsanitäter*innen vorzuschlagen, die die Schüler*innen während ihrer Teilnahme an regulären, dienstplanmäßigen Einsatzdiensten betreuen. Darüber hinaus wirken sie verbindlich als Fachprüfer*innen bei den staatlichen Prüfungen nach der NotSan-APrV mit. Zur Erfüllung der Aufgaben als Praxisanleiter*in ist ein angemessenes Verhältnis zwischen der Zahl der Schüler*innen und der Zahl der praxisanleitenden Personen in dem jeweiligen Aufgaben- und Funktionsbereich sicherzustellen. Das angemessene Verhältnis wird von den Bundesländern selbst definiert und unterscheidet sich vielerorts. Die Praxisanleiter*innen werden bei ihrer Tätigkeit durch Lehrkräfte der Schulen mit Praxisbegleitbesuchen unterstützt. Die praxisbegleitenden Lehrkräfte sollten regelmäßig persönlich anwesend sein, um die Schüler*innen in den Einrichtungen der praktischen Ausbildung zu betreuen und die praxisanleitenden Personen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben zu beraten und zu unterstützen. Die Praxisanleiter*innen dürfen den Schüler*innen nur Aufgaben übertragen, die dem Ausbildungszweck und dem Ausbildungsstand entsprechen. Die übertragenen Aufgaben sollen den physischen und psychischen Kräften der Schüler*innen angemessen sein. A c h tu ng Während der praktischen Ausbildung an einer genehmigten Lehrrettungswache können die Schüler*innen auch zu regulären, dienstplanmäßigen Einsatzdiensten herangezogen werden, wenn die Teilnahme am Einsatzdienst dem Zweck der Ausbildung dient und sich der Ausbildungsträger nach einer Überprüfung ihrer Kompetenz vergewissert hat, dass die Schüler*in dazu in der Lage ist.

4.4 Rettungssanitäter*innen Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs musste ein funktionierender Rettungsdienst aufgebaut werden. Der Rettungsdienst hatte zunächst hauptsächlich die Aufgabe, Patient*innen schnell in Krankenhäuser zu transportieren. Es setzte sich jedoch bald die Praxis durch, bei lebensbedrohlich Erkrankten oder Verletzten bereits vor Ort medizinische Maßnahmen durchzuführen. Ärzt*innen mussten zum Einsatzort transportiert werden und medizinisches Hilfs- und Assistenzpersonal qualifiziert werden. Die Beschäftigten im Rettungsdienst forderten daher bald die Einführung einer anerkannten Berufsausbildung. Im Jahr 1977 beschloss der „Bund/Länder-Ausschuss Rettungswesen“ eine 520-stündige Ausbildung zur Rettungssanitäter*in (RettSan/RS), die von den Bundesländern eigenständig reguliert wurde. Diese Qualifikation war zwar immer noch keine anerkannte Berufsausbildung, ist aber bis heute die Mindestvoraussetzung, um einen Rettungswagen zu fahren. Im qualifizierten Krankentransport üben Rettungssanitäter*innen die Rolle der Transportführer*in auf einem Krankentransportwagen aus, während sie in der Notfallrettung als Teil der Besatzung von Rettungswagen, in einigen Bundesländern auch auf Notarztwagen oder auf Notarzteinsatzfahrzeugen eingesetzt werden. Zu ihren Aufgaben gehört es, die Versorgung der Patient*innen zu initiieren und bei der Wiederherstellung oder Aufrechterhaltung lebenswichtiger Körperfunktionen und der Herstellung der Transportfähigkeit der Patient*in, die Notärzt*in und die Notfallsanitäter*in zu unterstützen. A c h tu ng Die RettSan-Ausbildung wird nicht als „richtige Ausbildung“ im Sinne des Einkommensteuergesetzes (EStG) (§ 9 Abs. 6 Satz 2 EStG) betrachtet, sondern als „berufsvorbereitende Maßnahme“ oder als „Anlernphase“ (§ 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG). Daher haben nicht alle Bundesländer Verordnungen zur Durchführung und den Inhalten der Ausbildung erlassen. A c h tu ng Rechtsverhältnis zwischen NotSan und RettSan: In den meisten Ausbildungs- und Prüfungsverordnungen der Bundesländer für Rettungssanitäter*innen (RettSan-APrV) ist festgelegt, dass die Ausbildung die Befähigung vermitteln soll, in Notfallsituationen die Notfallsanitäter*innen oder Notärzt*innen zu unterstützen. Des Weiteren geht aus allen Rettungsdienstgesetzen der Bundesländer hervor, dass Rettungssanitäter*innen als Fahrer von Rettungswagen in der Notfallrettung tätig sind. Aus diesen Passagen lässt sich schließen, dass die höher qualifizierte Notfallsanitäter*in im Einsatzfall gegenüber Rettungssanitätern*innen weisungsbefugt ist. Ebenso verhält es sich mit Notärzt*innen, die im medizinischen Bereich über die Weisungsbefugnis gegenüber nichtärztlichem Rettungsdienstpersonal verfügen.

4.4.1 Gesetzliche Grundlagen Obwohl der Bundesfinanzhof die Rettungssanitäter*in als Berufsausbildung im steuerrechtlichen Sinne anerkennt [11], handelt es si9095ch bisher nicht um einen anerkannten Ausbildungsberuf. Daher gibt es bisher keine bundesweit einheitliche Regelung für deren Ausbildung.

Der Rettungsdienst ist gemäß Art. 30 und 70 GG Sache der Bundesländer (› Kap. 2.3.3). Um gemeinsame Interessen auf Bundesebene zu koordinieren, gab es bis 1997 den Bund-Länder-Ausschuss Rettungswesen, der beim Bundesverkehrsministerium („Unfallrettung“) angesiedelt war. Seitdem gibt es den Ausschuss Rettungswesen, in dem die Länderministerien weiterhin vertreten sind. Auch Vertretungen der kommunalen Spitzenverbände und weiteren Vereinigung nehmen an den Sitzungen teil. Der Ausschuss ist zugeordnet dem „Arbeitskreis V“ der Innenministerkonferenz der Länder und der Arbeitsgemeinschaft der Obersten Landesgesundheitsbehörden (AOLG). Nach dem Beschluss des Bund-Länder Ausschusses „Rettungswesen“ vom 20. September 1977 sollte die Ausbildung des Rettungspersonals mindestens 520 Stunden dauern und damit zu einer Vereinheitlichung der Ausbildung auf Länderebene beitragen. Mit der Einführung des Berufsbildes des Rettungsassistenten im Jahr 1989 und der neu geschaffenen Ausbildung zur Notfallsanitäter*in im Jahr 2014, hat sich auch die Tätigkeit von Rettungssanitäter*innen verändert, sodass neben einer einheitlichen Empfehlung für die Ausbildung und Prüfung vom 17. September 2008 nochmal eine Empfehlung des Ausschusses Rettungswesen von 2019 erfolgte.

4.4.2 Ausbildung zur Rettungssanitäter*in Der Ausschuss Rettungswesen, der dem Bund-Länder-Ausschuss „Rettungswesen“ nachgefolgt ist, hat 2008 nichtbindende Empfehlungen für die Ausbildung von Rettungssanitäter*innen veröffentlicht. 2019 hat das Gremium schließlich eine Empfehlung für eine Verordnung über die Ausbildung und Prüfung von Rettungssanitäterinnen und Rettungssanitätern publiziert (RettAPO). Die Empfehlungen des Ausschusses Rettungswesen enthalten Grundlagen für eine bundesweit einheitliche Ausbildung von Rettungssanitäter*innen sowohl in Theorie als auch in Praxis. Allerdings dient diese Empfehlung lediglich als Orientierung. In der Regel ist die Ausbildung jeweils landesrechtlich geregelt, weshalb auch nach wie vor Unterschiede in der Ausbildung von Rettungssanitäter*innen bestehen (z. B. RettAPrVO NRW oder APVO-RettSan Nds.). In einer Arbeit vom Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages vom 20. September 2022 werden die Unterschiede in den einzelnen Bundesländern bezüglich der Ausbildung und Kompetenzvermittlung deutlich gegenübergestellt. So sind die Voraussetzungen nach der Recherche des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages für den Zugang zur Qualifikation von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. Es wird jedoch in allen Ländern eine gesundheitliche Eignung für die Tätigkeit als Rettungssanitäter*in und ein allgemeinbildender Abschluss einer Schulform der mittleren Bildung (Haupt-/Mittelschule) oder einer abgeschlossenen Berufsausbildung als Eintrittsqualifikation verlangt. In einigen Bundesländern muss als weitere Voraussetzung das 17. bzw. 18. Lebensjahr vollendet sein. Einige Bundesländer verlangen zudem, dass man in den letzten zwölf Monaten eine Erste-HilfeAusbildung absolviert haben muss, während andere die Kenntnisse der deutschen Sprache voraussetzen. Zudem muss in vielen Fällen eine Zuverlässigkeitsbescheinigung oder ein Führungszeugnis vorgelegt werden. Die Ausbildung zur Rettungssanitäter*in dauert in allen Bundesländern, in denen Verordnungen verabschiedet wurden, mindestens 520 Stunden. Es gibt jedoch Unterschiede zwischen den Bundesländern hinsichtlich der Aufteilung der Stunden auf die verschiedenen Ausbildungsabschnitte. Diese Unterschiede resultieren daraus, dass einige der Verordnungen auf der Empfehlung des Ausschusses Rettungswesen von 2008 basieren oder auf diese verweisen.

In der Empfehlung aus dem Jahr 2008 wird die Ausbildung eingeteilt in: • Theoretische und praktische Ausbildung an einer anerkannten Ausbildungsstätte für Rettungssanitäter*innen (160 Std.) • Klinikpraktikum (160 Std.) • Rettungswachenpraktikum (160 Std.) • Lehrgang mit Abschlussprüfung (40 Std.) Die Empfehlung des Ausschusses Rettungswesen aus dem Jahr 2019 gliedert sich wie folgt: • Theoretische-praktische Ausbildung an einer staatlich anerkannten Ausbildungsstätte für Rettungssanitäter*innen, einschließlich der Erfolgskontrolle zum Abschluss des Ausbildungsabschnittes (240 Std.) • Praktische Ausbildung in einer geeigneten Einrichtung der Patientenversorgung (80 Std.) • Praktische Ausbildung im Rettungsdienst (160 Std.) • Abschlusslehrgang (40 Std.) • Abschlussprüfung Praxis tip p Eine Regelung hinsichtlich Ausbildungsvergütung und Ausbildungskosten existiert nicht. Die Ausbildung kann privat finanziert werden. Es gibt aber auch Hilfsorganisationen, private Leistungserbringer im Rettungsdienst und Träger der Rettungsdienste, die über ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) oder dem Bundesfreiwilligendienst (BFD) die Kosten für den Lehrgang und Prüfungen übernehmen.

4.4.3 Rettungshelfer*innen Nach dem Zweiten Weltkrieg suchten sich die Bundesländer für die Organisation des Rettungsdienstes in vielen Fällen Orientierung bei den Besatzungsmächten. In einigen Bundesländern wurde die Zuständigkeit auf die Feuerwehr übertragen, während in anderen rein ehrenamtliche Strukturen geschaffen wurden. Um eine Kompromisslösung zwischen haupt- und ehrenamtlichem Personal zu finden, insb. während der Zeit, als es noch Zivildienstleistende gab, wurde die Qualifikation Rettungshelfer*in (RettH/RH) eingeführt, die bald von allen Bundesländern übernommen wurde. Die Qualifikation zur Rettungshelfer*in im Rettungsdienst und Krankentransport ist in Deutschland nicht bundesweit einheitlich geregelt. Die Vorschriften für den Einsatz der Beschäftigten im Rettungsdienst werden in den Rettungsdienstgesetzen der einzelnen Bundesländer festgelegt. Die Regelausbildung zur Rettungshelfer*in umfasst • eine theoretische Schulung (160 Std.), • ein 80-stündiges Praktikum im Krankenhaus und • ein 80-stündiges Praktikum in einer Rettungswache. Die Anzahl der Praktikumsstunden kann jedoch von Bundesland zu Bundesland variieren. In einigen Fällen wird z. B. auf das Krankenhauspraktikum verzichtet und stattdessen ein 160-stündiges Praktikum

auf der Rettungswache absolviert. Die Inhalte der theoretischen Ausbildung sind in der Regel identisch mit denen der Ausbildung zur Rettungssanitäter*in. In einigen Bundesländern gibt es aber auch absolute Sonderformen. So gibt es in NordrheinWestfalen die „Rettungshelfer*in-NRW“. Die Qualifikation besteht aus • einer theoretisch-praktischen Ausbildung einschließlich Prüfung von mindestens 80 Unterrichtsstunden zu je 45 Minuten und • einer praktischen Ausbildung von mindestens 80 Ausbildungsstunden zu je 60 Minuten in einer genehmigten Lehrrettungswache Rettungshelfer*innen sind überwiegend im Krankentransport oder im ehrenamtlichen Bereich (z. B. Katastrophenschutz) tätig und leisten Hilfe beim Transport und der Versorgung von Patient*innen. Sie sind in der Lage, Notfälle zu erkennen und die erforderlichen Maßnahmen einzuleiten. Im Krankentransport sind sie i. d. R. als Fahrer*innen tätig und arbeiten unter Anleitung von qualifiziertem Personal. In vielen Bundesländern sind Rettungshelfer*innen wichtiger Bestandteil von Einsatzgruppen und Einheiten im Bevölkerungs- und Katastrophenschutz. Dies liegt u. a. auch daran, dass die Qualifikation für die überwiegend ehrenamtlich tätigen Helfer*innen im Bevölkerungsund Katastrophenschutz auch gut nebenberuflich absolviert werden kann.

4.4.4 Rettungssanitäter*innen Plus Frank Flake In zwei Bundesländern gibt es für Rettungssanitäter*innen noch zusätzliche Ausbildungen, um auf bestimmten Rettungsmitteln tätig werden zu dürfen – sog. Rettungssanitäter*in Plus (RettSan+/RS+). Hierbei handelt es sich um Erweiterungen der eigentlichen 520-Stunden Ausbildung in Form von nachzuweisender praktischer Arbeit und theoretischem Unterricht. Die Regelungen gelten grds. nur für Rettungssanitäter*innen und werden nicht auf Rettungsassistent*innen nach alter Ausbildung angewendet. Niedersachsen Um den Einsatzwert des Notfallkrankenwagens (NKTW) nach dessen Einführung in Niedersachsen als neues Rettungsmittel zu erweitern, musste die Ausbildung der Rettungssanitäter*in angepasst werden. Der NKTW wird für Patient*innen eingesetzt, die nach Einschätzung der Leitstellendisponent*innen zwar zeitnah eine Versorgung benötigen, aber nicht vital bedroht sind. Die Besetzung des NKTW erfolgt in Niedersachsen von zwei Rettungssanitäter*innen, wovon mindestens eine die Qualifikation zur „Rettungssanitäter*in Plus“ oder „Einsatzführer*in NKTW“ besitzt. Dies war notwendig, da man die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung (APVORettSan) für Rettungssanitäter*innen in Niedersachsen nach 2013 inhaltlich verändert und auf die Begleitung von Krankentransporten zugeschnitten hat. Invasive Maßnahmen und die Ersteinschätzung von Patient*innen waren dabei weniger notwendig. Die Kernkompetenz lag auf den sog. „weichen Lerninhalten“ wie Kommunikation, Betreuung und Begleitung von Patient*innen etc. Als Transportführer*in eines NKTW hingegen muss eine RS+ v. a. erkennen, ob eine Patient*in (potenziell) kritisch krank oder verletzt ist und zusätzliche Hilfe, z. B. in Form eines RTW, benötigt. Ebenfalls muss eine RS+ bis zum Eintreffen weiterer Rettungsmittel ein gewisses Repertoire an Kenntnissen und Fertigkeiten beherrschen und anwenden. Zum 1. Juli 2021 wurde die APVO-RettSan inhaltlich

erneut angepasst und der theoretische Anteil der Ausbildung verlängert. Die Idee war, die seit 2013 fehlenden Inhalte wieder zu integrieren, sodass neu ausgebildete Rettungssanitäter*innen keinen zusätzlichen Lehrgang zur Qualifikation RS+ mehr benötigen. Dies wurde jedoch nicht in der Empfehlung zur Ausbildung festgeschrieben. Derzeit gibt es verschiedene differente Aussagen zur Ausbildung der RS+. Entscheidend ist die lokale, durch den ÄLRD erlassene Regelung zur Qualifizierung. Die offizielle Empfehlung des Landesausschusses Rettungsdienst (LARD) lautet folgendermaßen: 1. Rettungssanitäter*innen, die ihre Ausbildung bis 2013 (alte APVO) beendet haben: – Gegenüber der ÄLRD: Nachweis einer bisher regelmäßigen und erfolgreichen Teilnahme an den von der ÄLRD vorgegebenen Rettungsdienstfortbildungen von 30 Stunden pro Jahr zu den Themen „NUN-Algorithmen, Advanced Life Support, Erkennen von kritischen Patientenzuständen und Einleiten von Notfallmaßnahmen nach cABCDE“ sowie „Assistenz bei der Notfallversorgung durch Notfallsanitäter/Notfallsanitäterinnen (NotSan) oder Notärzte/Notärztinnen (NÄ) nach cABCDE“ – Bestehende Einsatzerfahrung in der Notfallrettung durch 100 dokumentierte Einsätze 2. Rettungssanitäter*innen, die ihre Ausbildung nach 2013 bis zur in 2020 geplanten Novellierung der APVO absolviert haben oder absolvieren werden: – Absolvierung eines 40-stündigen Kurses zu folgenden Themen: „NUN-Algorithmen, Advanced Life Support, Erkennen von kritischen Patientenzuständen und Einleiten von Notfallmaßnahmen nach cABCDE“ sowie „Assistenz bei der Notfallversorgung durch NotSan oder NÄ nach cABCDE“ – Erfolgreiche Durchführung eines 40-stündigen Praktikums als RTW-Regelbesatzung auf einer Lehrrettungswache mit Einweisung in die lokalen Algorithmen – Bestehende Einsatzerfahrung in der Notfallrettung durch 100 dokumentierte Einsätze 3. Rettungssanitäter*innen, die ihre Ausbildung nach der Novellierung der APVO absolvieren werden: – Absolvierung eines 40-stündigen Kurses zu folgenden Themen: „NUN-Algorithmen, Advanced Life Support, Erkennen von kritischen Patientenzuständen und Einleiten von Notfallmaßnahmen nach cABCDE“ sowie „Assistenz bei der Notfallversorgung durch NotSan oder NA nach cABCDE“ – Einsatzerfahrung in der Notfallrettung durch 100 dokumentierte Einsätze Das erfolgreiche Absolvieren der Kurse und Praktika unterliegt der Aufsicht, Erfolgskontrolle und Verantwortung der ÄLRD im jeweiligen Rettungsdienstbereich. Innerhalb des niedersächsischen Rettungsdienstgesetzes (NRettDG) ist im Gesetzestext nur der Nachweis von 100 Einsätzen in der Notfallrettung gefordert. Leider fehlen auch hier rechtlich bindende Regelungen zur Absolvierung der Einsätze. Zu regeln wäre beispielsweise, ob die Einsätze auch auf einem NKTW absolviert werden können oder ob die innerhalb der Ausbildung zum RS absolvierten Einsätze ebenfalls zu zählen sind. So zählt auch hier, was die ÄLRD vor Ort entscheidet. Zur Besetzung der Fahrerposition eines RTW ist keine Qualifikation als RS+ erforderlich. Schleswig-Holstein

Eine Besonderheit im Rettungsdienstgesetz Schleswig-Holstein (SHRDG) ist ebenfalls die Qualifikation RS+ (früher RS 100). Dem Gesetzeslaut folgend muss sowohl der RTW (Fahrer*in) als auch der KTW (Transportführer*in) von einer Rettungssanitäter*in mit Einsatzerfahrung besetzt werden. Näheres zur Begriffsbestimmung regelt der § 2 Abs. 7 SHRDG. Dort heißt es: „Rettungssanitäterin oder Rettungssanitäter mit Einsatzerfahrung ist, wer nach Abschluss der Ausbildung mindestens 100 Einsätze in der Notfallrettung absolviert hat.“ Hier ist deutlich geregelt, welche Qualifikation zu welchem Zeitpunkt erlangt werden muss: 100 Einsätze in der Notfallrettung nach Abschluss der Rettungssanitäter*innen-Ausbildung. Da der RTW regelhaft mit einer RS 100 besetzt sein muss, besteht hier nur die Möglichkeit, die Einsatzerfahrung als dritte Person auf dem RTW zu erwerben. Dies kann v. a. in ländlichen Bereichen viel Zeit in Anspruch nehmen. Noch schwieriger wird es auf kleinen Wachen, auf denen nur ein RTW stationiert ist. Rettungsassistent*innen müssen keinen Nachweis erbringen.

4.5 Rettungsassistent*innen In Deutschland stellten die Rettungsassistenten*innen (RettAss/RA) den ersten staatlich anerkannten Beruf im Bereich Rettungsdienst dar. Dieser wurde zum 1. Januar 2014 durch den Notfallsanitäter*in abgelöst, der durch das Gesetz über den Beruf der Notfallsanitäter*in (NotSanG) eingeführt wurde. Die Aufgaben der Rettungsassistent*innen waren darauf ausgerichtet, als Helfer*in der Ärzt*innen am Notfallort lebensrettende Maßnahmen bei Notfallpatient*innen durchzuführen, die Transportfähigkeit von Patient*innen sicherzustellen, die lebenswichtigen Körperfunktionen während des Transports zum Krankenhaus zu überwachen und aufrechtzuerhalten sowie kranke, verletzte und sonstige hilfsbedürftige Personen unter sachgerechter Betreuung zu befördern. Die Ausbildung mit einer Dauer von zwei Jahren wurde im Rettungsassistent*innen-Gesetz geregelt. Als Rettungsassistent*in war man im Ausnahmefall berechtigt, bestimmte ärztliche Maßnahmen durchzuführen, obwohl diese Maßnahmen normalerweise Ärzt*innen vorbehalten waren. Eine Stellungnahme der Bundesärztekammer führte zu unterschiedlichen Empfehlungen solcher in der sog. Notkompetenz liegenden Maßnahmen. Rettungsassistent*innen, die eine Erlaubnis nach dem Rettungsassistent*innen-Gesetz besitzen, dürfen diese Berufsbezeichnung weiterhin führen. Innerhalb eines Zeitraums von zehn Jahren nach Inkrafttreten des NotSanG, also bis zum Ende des Jahres 2023, bestand für Rettungsassistent*innen die Möglichkeit, den Beruf der Notfallsanitäter*in zu ergreifen, indem sie erfolgreich die staatliche Ergänzungsprüfung ablegten. Diese Prüfung bestand aus zwei praktischen Falldemonstrationen, einem traumatischen und einem internistischen Notfall, sowie einer mündlichen Prüfung und stellte eine vereinfachte Form der regulären NotSan-Prüfung dar. Abhängig von der Tätigkeitszeit als Rettungsassistent*in konnte die Ergänzungsprüfung entweder unmittelbar oder nach Absolvierung von Schulungsmaßnahmen durchgeführt werden. Für Rettungsassistent*innen mit weniger als fünf Jahren Berufspraxis bestand auch die Möglichkeit, die umfassende staatliche Prüfung zur Notfallsanitäter*in zu absolvieren.

4.6 Sorgfalts- und Handlungspflichten David Winkenbach

Eine Vielzahl von Berufsgruppen müssen bei ihrer Tätigkeit Sorgfaltspflichten beachten und haften in den Fällen, wenn diese Sorgfaltspflichten nicht beachtet werden. Dies gilt auch für die Bereiche Rettungsdienst und Notfallmedizin. Sorgfaltspflichten beschreiben die Art und Weise, wie das Rettungsdienstpersonal die berufliche Tätigkeit auszuführen hat. Die erwartete Fach- und Handlungskompetenz einzelner Berufe bemisst sich jeweils daran, was von einem Berufsstand erwartet werden kann. Notärzt*innen, Notfallsanitäter*innen, Rettungssanitäter*innen etc. sind dazu verpflichtet, gemäß ihrem Berufsstand angemessen zu handeln und entsprechende Kompetenzen vorzuweisen sowie die beruflichen Handlungen sorgfältig durchzuführen. Wird die Sorgfaltspflicht verletzt und kommt es dadurch zu negativen Folgen für die Patient*innen, kann dies z. B. einen Behandlungsfehler begründen. Der Maßstab des sorgfältigen Handelns bemisst sich dabei am Begriff der Fahrlässigkeit. Handelt eine Person im Rettungsdienst fahrlässig, so handelt sie sorgfaltswidrig. Fahrlässigkeit lässt sich einfach beschreiben als das Außer-Acht-Lassen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt (Näheres dazu in › Kap. 7.1.4). Me rke Sorgfaltspflicht bedeutet die Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt. Die Sorgfaltspflicht des Rettungsdienstpersonals beinhaltet dabei eine Fach- und Handlungskompetenz, die dem jeweiligen Berufsbild im Rettungsdienst angemessen ist. Die Sorgfaltspflicht des Rettungsdienstpersonals erstreckt sich auf den gesamten Rettungseinsatz und damit auch auf die einzelnen Einsatzphasen. In den verschiedenen Phasen bilden sich die Sorgfaltspflichten entsprechend unterschiedlich aus. Wird die notwendige Sorgfalt außer Acht gelassen, kommt (grob) fahrlässiges Verhalten im Sinne eines Behandlungsfehlers in Betracht (vgl. › Kap. 6.3.4). Aus den verschiedenen Einsatzphasen, in denen sorgfaltswidrig Behandlungsfehler gemacht werden können, haben sich sog. Fallgruppen herausgebildet: • Die Rettungshandlung an sich ist entsprechend dem aktuellen fachlichen und medizinischen Standard vorzunehmen. Zudem ist sie so durchzuführen, dass andere und das Rettungsteam selbst dadurch nicht gefährdet werden. In diesem Sinne hat auch Sicherheit Vorrang vor Schnelligkeit. Ferner entspricht es der Sorgfaltspflicht des Rettungsteams, weitere ggf. spezifische Einsatzkräfte nachzufordern, wenn dies die Situation erfordert. Insbesondere ist hier die Nachalarmierung des NEF zu nennen. • In Notfalleinsätzen gehört es zur Sorgfaltspflicht des Rettungspersonals, bei Patient*innen eine umfassende Untersuchung und Anamnese durchzuführen. Zudem müssen die gebotenen Befunde und Vitalparameter erhoben werden. Insgesamt muss nicht nur das akute Beschwerdebild, sondern auch die Krankheitsvorgeschichte (im Rahmen der Möglichkeiten) berücksichtigt werden. Der Umfang der Untersuchung und Befundung ist abhängig vom jeweiligen Krankheitsbild, welches aufgrund der Symptome und des etwaigen Unfallgeschehens in Betracht kommt. • Anhand der Befunde und der Anamnese gilt es eine (Verdachts-)Diagnose zu stellen. Auch dies muss sorgfältig geschehen, allerdings werden gerade präklinisch Diagnose-Irrtümer nicht pauschal als Sorgfaltspflichtverstoß gewertet. Die Verschiedenheit der Patient*innen und

Symptombilder bei Erkrankungen machen die Diagnosefindung oft schwierig, sodass im Rettungsdienst nicht grds. verlangt wird, immer die richtige Diagnose zu finden (vgl. Fall 4.12). Anders gestaltet sich dies nur dann, wenn sich eine Diagnose förmlich aufdrängt, aber nicht ausreichend berücksichtigt wird. Ist eine Diagnose unklar, so muss pflichtgemäß von der vital bedrohlichsten Möglichkeit ausgegangen werden. • Im Rahmen der Sorgfaltspflicht ist das Rettungsdienstpersonal dazu verpflichtet, eine prioritätenorientierte Therapie auszuwählen und diese sorgfältig durchzuführen. Fehler bei der Durchführung einer Therapiemaßnahme können sorgfaltswidrig sein. Die Auswahl der Therapieform erfolgt anhand medizinischer Prioritäten (z. B. ABCDE-Schema); die Durchführung lebensrettender Maßnahmen hat immer Vorrang. Zwar muss nicht immer die sicherste Therapie ausgewählt werden, allerdings müssen eingegangene Risiken stets angemessen gerechtfertigt sein. Die Wirksamkeit der Therapie gilt es zu überprüfen. • Es besteht die Sorgfaltspflicht zur situationsangemessenen Aufklärung. Der Umfang einer Aufklärung ist abhängig von der angestrebten Maßnahme sowie der Notfallsituation (vgl. › Kap. 6.3.3). Je nach Situation ist über Notwendigkeit, Dringlichkeit, mutmaßlicher Therapieerfolg, Folgen und Gefahren bei Durchführung sowie Verweigerung der Maßnahme, Nebenwirkungen sowie Alternativen aufzuklären. • Es obliegt der rettungsdienstlichen Sorgfaltspflicht, ein geeignetes Zielkrankenhaus für die Patient*innen auszuwählen. Die Geeignetheit bemisst sich dabei nach dem zugrundeliegenden Krankheitsbild sowie dem Zustand der betroffenen Patient*in. Hier gilt es u. U. abzuwägen, ob das nächstgelegene Krankenhaus oder ein passendes Fachkrankenhaus angefahren werden muss. Die Entscheidung dazu ist einzelfallabhängig. Weiter ist der Rettungsdienst dazu verpflichtet, die Patient*innen im Zielkrankenhaus voranzumelden. • Im Verlauf von Notfalleinsätzen ist der Rettungsdienst zu einer angemessenen Verlaufskontrolle sowie einem sorgfältigen Transport verpflichtet. Der Umfang der Kontrolle richtet sich nach dem jeweiligen Krankheits- und Beschwerdebild der Patient*innen. Es muss sichergestellt werden, dass auf etwaige Verschlechterungen reagiert werden kann. Soweit es technische Kontrollfunktionen gibt, sind diese einzusetzen. Für die Verlaufskontrolle ist es unabdingbar, dass Patient*innen im Patientenraum des jeweiligen Fahrzeugs betreut werden. Die Art und Weise des Transports ist an den Zustand der Patient*innen anzupassen. Die Sicherheit der Fahrzeuginsassen, insb. der Patient*in, hat dabei höchste Priorität; Verkehrsunfälle müssen, so gut es geht, verhindert werden. • Die Einsätze müssen vom Rettungsdienst sorgfältig und umfassend dokumentiert werden. Umfang sowie Inhalt der Dokumentation sind einzelfallabhängig und bestimmen sich nach der jeweiligen medizinischen Gebotenheit. Jedenfalls muss die Dokumentation jedoch diejenigen Informationen enthalten, die für die derzeitige und künftige Versorgung notwendig sind. Insbesondere hat die Dokumentation Einsatzsituation, Untersuchung, Untersuchungsergebnisse, Anamnese, Befunde, Diagnosen, Therapie, durchgeführte Maßnahmen und deren Wirkung, Aufklärungen sowie Einwilligungen und Verweigerungen zu beinhalten. • Die Sorgfaltspflicht des Rettungsdienstes beinhaltet die sorgfältige Einhaltung der Hygienevorschriften. Diese bestimmt sich an den dafür vorgesehenen aktuellen Hygienestandards sowie der jeweiligen Einsatzsituation.

• Bei Transport und (Um-)Lagerung muss der Rettungsdienst sorgfältig und vorausschauend arbeiten. Fehler wie z. B. Stürze beim Umlagern sind unter allen Umständen zu vermeiden.

4.6.1 Folgen von Sorgfaltspflichtverletzungen Werden die Sorgfaltspflichten nicht erfüllt, kann dies zu zivilrechtlichen und strafrechtlichen Konsequenzen führen. Das Außer-Acht-Lassen der erforderlichen Sorgfalt (= Sorgfaltsverstoß) wird juristisch auch Fahrlässigkeit genannt. Diese kann auch dann gegeben sein, wenn die handelnde Person eigentlich darauf vertraut, dass trotz der unsorgfältigen Handlung „schon alles gut geht“. • Etwaige strafrechtliche Konsequenz kann zunächst eine persönliche Strafbarkeit nach einer einschlägigen Strafvorschrift sein (› Kap. 7.1.3); • zivilrechtliche Konsequenz ist möglicherweise eine Haftung auf Schadensersatz und/oder Schmerzensgeld (› Kap. 6.6). Im Rahmen einer zivilrechtlichen Haftung kommen regelmäßig die Amtshaftungsgrundsätze zur Anwendung (› Kap. 6.5.2). Wird absichtlich gegen die einzuhaltende Sorgfaltspflicht verstoßen, oder ein Verstoß billigend in Kauf genommen, handelt es sich um Vorsatz (› Kap. 7.1.4). Vorsätzliches, patientenschädigendes Verhalten ist im medizinischen Bereich selten. Problematisch kann unsorgfältiges, fachlich nicht korrektes oder unmotiviertes Handeln sein. Zentrale Verschuldensform bei dem Verstoß gegen Sorgfaltspflichten im Rettungsdienst ist die Fahrlässigkeit. Der Begriff Fahrlässigkeit wird sowohl im Strafrecht als auch im Zivilrecht verwendet, unterliegt jedoch unterschiedlichen Voraussetzungen. • Die zivilrechtliche Fahrlässigkeit orientiert sich an einem objektiv-abstrakten Sorgfaltspflichtenmaßstab; zusätzlich wird hier zwischen einfacher und grober Fahrlässigkeit unterschieden. • Die strafrechtliche Fahrlässigkeit bemisst sich nach der persönlichen (subjektiven) Vorwerfbarkeit. A c h tu ng Eine Sorgfaltspflichtverletzung kann immer Fahrlässigkeit darstellen. Die Begriffe „objektiv“ und „subjektiv“ prägen dabei die Unterscheidung der zivilrechtlichen und strafrechtlichen Bewertung. • Eine objektive Betrachtung basiert lediglich auf nachprüfbaren Erkenntnissen und Fakten. „Objektiv“ meint in diesem Kontext also eine rein fachliche Betrachtung, unabhängig von persönlichen Gefühlen oder Beweggründen der handelnden Personen. • Eine subjektive Betrachtung bezieht sich dagegen auf die Perspektive einer einzelnen Person. „Subjektiv“ meint in dem Kontext also eine individuelle Betrachtung aus Sicht der handelnden Personen, auch unter Berücksichtigung von Gefühlen und Beweggründen. Für eine zivilrechtliche Haftung ist es weniger erheblich welche Beweggründe die handelnde Person hatte; es kommt hauptsächlich auf eine objektive Betrachtung an. Erfährt eine in Not geratene Person z. B. eine schlechte rettungsdienstliche Versorgung, kann sie vom Rettungsdienst Entschädigung

verlangen. Selbst wenn der Rettungsdienst „gute Gründe“ hatte, warum die Versorgung nicht gut gelaufen ist, hat die in Not geratene Person einen Schaden erlitten. Da es im Strafrecht um persönliche Strafe geht (vgl. › Kap. 7.1.4), werden bei der strafrechtlichen Bewertung die individuellen Beweggründe berücksichtigt. Es wird geprüft, warum sich die handelnde Person so verhalten hat, wie sie sich verhalten hat. Voraussetzung ist dabei natürlich, dass bei neutraler (objektiver) Betrachtung Fehler vorliegen. Strafrechtliche Sanktionen und zivilrechtliche Haftung schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern können nebeneinanderstehen. So kann z. B. eine zivilrechtliche Haftung bestehen, obwohl eine persönliche Strafbarkeit ausgeschlossen ist. Eine Gegenüberstellung der zivilrechtlichen und strafrechtlichen Bewertung findet sich in › Abb. 4.3.

ABB. 4.3 Konsequenzen bei Sorgfaltspflichtverstößen [L157] Im Hinblick auf eine rechtliche Bewertung der Fahrlässigkeit können Zivil- und Strafrecht demnach zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Für das Rettungsdienstpersonal ist zudem von besonderer Bedeutung, dass es trotz Amtshaftung auch im Zivilrecht für grobe Fahrlässigkeit persönlich haften kann. Für einfache Fahrlässigkeit haftet i. d. R. nur der Träger im Rahmen der Amtshaftung (› Kap. 6.5.2). Me rke Zivilrechtliche Fahrlässigkeit betrifft das Außer-Acht-Lassen der objektiv erwartbaren Sorgfalt. Hier wird objektiv auf die Situation geschaut und eine objektive Fahrlässigkeitsbewertung angelegt. Strafrechtliche Fahrlässigkeit betrifft das Außer-Acht-Lassen der persönlich erwartbaren Sorgfalt. Hier wird aus der Sicht der handelnden Person auf die Situation geschaut und eine persönliche Fahrlässigkeitsbewertung angelegt. Während das Strafrecht nur schlicht von Fahrlässigkeit spricht, wird zivilrechtlich zwischen einfacher und grober Fahrlässigkeit unterschieden. Grobe Fahrlässigkeit ist dabei das Außer-AchtLassen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt in besonders schwerem Maße. Relevanz bekommt

diese Unterscheidung im Hinblick auf die Beweiserleichterungen nach § 630h BGB (› Kap. 6.3.6) sowie den Rückgriff bei der Amtshaftung. Sorgfaltsverstöße können immer sowohl durch aktives Tun als auch durch das Unterlassen einer Handlung begangen werden (zum Strafrecht siehe › Kap. 7.2). R e ch t in e ch t (Fall 4.9) Ärztin Lola ist beim Intubieren nicht so geübt, da sie im Rahmen ihrer Tätigkeit bisher wenige Intubationen durchführen musste. Kommt es bei Lola durch eine fehlerhaft durchgeführte Intubation zu einem Gesundheitsschaden einer Patient*in, kann Lola der Umstand, dass sie in der Maßnahmen nicht so geübt war, zivilrechtlich nicht entlasten. Vielmehr wird hier darauf abgestellt, was die Patient*in objektiv als fachlichen Standard erwarten kann, unabhängig von persönlichen, individuellen Fähigkeiten. (Fall 4.10) Ärztin Lola ist beim Intubieren nicht so geübt, da sie im Rahmen ihrer Tätigkeit bisher wenige Intubationen durchführen musste. Kommt es bei Lola durch eine fehlerhaft durchgeführte Intubation zu einem Gesundheitsschaden einer Patient*in, kann Lola der Umstand, dass sie in der Maßnahmen nicht so geübt war, strafrechtlich grds. nicht vorgeworfen werden. Vielmehr stellt das Strafrecht auf eine persönliche Vorwerfbarkeit ab. Sind persönliche, individuelle Fähigkeiten eingeschränkt, kann es ihr nicht vorgeworfen werden, diese auch nur entsprechend eingeschränkt angewendet zu haben. Die zivilrechtliche Wertung im Hinblick auf zivilrechtliche Ansprüche (Fall 4.9) besteht jedoch weiter.

4.6.2 Sorgfalts- und Handlungsmaßstab David Winkenbach, Frank Sarangi Wenngleich sich die Bewertung der Fahrlässigkeit im Zivil- und Strafrecht unterscheidet, ist der anzusetzende objektive Maßstab zunächst derselbe. Im professionellen Rettungswesen hängt dieser von dem Berufsstand einer Person und vom geltenden medizinischen Standard ab. Dabei wird bei der konkreten Bewertung auch immer die jeweils zu betrachtende Situation zugrunde gelegt. Medizinischer Standard Für die Annahme eines Verstoßes gegen den Sorgfaltsmaßstab einer bestimmten rettungsdienstlichen Berufsgruppe kommt es auf den zum Zeitpunkt der Behandlung geltenden medizinischen Standard an. Daran ändert sich nichts, wenn zu einem späteren Zeitpunkt ein anderer Standard Geltung beansprucht hat. Dieser kann sich rückwirkend nicht nachteilig auf die zu fordernde Berufsgruppensorgfalt auswirken. Ob die jeweils im Einsatz handelnde Person ihre berufsspezifischen Sorgfaltspflichten verletzt hat, ist ausschließlich nach medizinischen Gesichtspunkten zu beurteilen. Die Beurteilung dieser medizinischen Gesichtspunkte ist vor Gericht der Einholung eines Sachverständigengutachtens vorbehalten. Im Falle einer gerichtlichen Auseinandersetzung ist es dem Gericht untersagt, den Standard selbstständig festzustellen. Das Gericht ist ausnahmslos dazu verpflichtet, auf die Ausführungen eines Sachverständigengutachtens zurückzugreifen. Dabei ist entscheidend darauf hinzuweisen, dass die Einholung eines solchen Sachverständigengutachtens nur durch einen klinisch erfahrenen Sachverständigen aus demselben Fachgebiet erfolgen darf.

Me rke Der Sorgfaltsmaßstab orientiert sich am aktuellen medizinischen Standard. Bei einer gerichtlichen Auseinandersetzung wird dieser stets individuell durch ein Sachverständigengutachten beurteilt. Für den klassischen ärztlichen Bereich wird zur Bestimmung des berufsfachlichen Sorgfaltsmaßstabs auf Leitlinien, Richtlinien oder Empfehlungen der jeweiligen ärztlichen Fachgesellschaften zurückgegriffen. Der Stellenwert solcher Leitlinien, Richtlinien bzw. Empfehlungen ist in der Rechtsprechung umstritten und wird nicht einheitlich beantwortet (zu Leitlinien siehe vertiefend › Kap. 2.5.3). Von Leitlinien kann bzw. muss sogar in (medizinisch) begründeten Fällen abgewichen werden. Sie können aber im Einzelfall eine Indizwirkung für das Vorliegen eines Sorgfaltsverstoßes entfalten. Ein Verstoß gegen eine S1- oder S2-Leitlinie indiziert aber nicht stets das Vorliegen einer Sorgfaltspflichtverletzung und damit eines Behandlungsfehlers. Hingegen kann etwa der Verstoß gegen eine S3-Leitlinie eine gewisse Indizwirkung für das Vorliegen eines Behandlungsfehlers beinhalten. Klassische Leitlinien, Richtlinien bzw. Empfehlungen konkret für nichtärztliches Rettungsdienstpersonal sind nicht existent. Sofern Leitlinien, Richtlinien bzw. Empfehlungen hingegen Abläufe für den präklinischen Bereich definieren, ist davon auszugehen, dass diese auch für den rettungsdienstlichen Bereich (haftungsbegründend) relevant sind (so z. B. die S3-Leitlinie der AWMF zu Polytrauma/Schwerverletztenversorgung). Weiter kann auf die Empfehlungen und Guidelines des European Resuscitation Council (ERC) abgestellt werden, da diese durch wissenschaftliche Gremien und auf der Grundlage evidenzbasierter Medizin erstellt werden. Me rke Auch wenn es keine Leitlinien speziell für die rettungsdienstliche Notfallversorgung gibt, können Passagen oder einzelne Empfehlungen einiger Leitlinien als „notfallmedizinischer Standard“ verstanden werden, wenn diese sich auf die präklinische Notfallversorgung beziehen. Verkehrserwartung David Winkenbach Maßgebend ist zudem, was von einem bestimmten Berufsbild durchschnittlich erwartet werden kann – die allgemeine Verkehrserwartung. Es ist zu fragen, wie besonnene und gewissenhafte Angehörige der jeweiligen Berufsgruppe in der konkreten Lage gehandelt hätten. Während bei ärztlichem Personal teilweise auf den sog. Facharztstandard zurückgegriffen wird, orientiert sich der Erwartungshorizont des nichtärztlichen Personals an den definierten Ausbildungsstandards der jeweiligen Berufsgruppe. Führt nichtärztliches Personal heilkundliche, also originär ärztliche Maßnahmen durch, so muss allerdings auch vom nichtärztlichen Personal der Standard eingehalten werden, der für Ärzt*innen gelten würde. Wird z. B. durch eine Notfallsanitäter*in eine heilkundliche Maßnahme eigenverantwortlich durchgeführt, gilt als Bewertungsmaßstab mitunter ein Facharztstandard. Dies gilt auch für die Aufklärung. A c h tu ng

Bei der Durchführung von heilkundlichen Maßnahmen durch Notfallsanitäter*innen ist der gleiche (Facharzt-)Standard einzuhalten, der auch für Ärzt*innen gelten würde. Die im Verkehr erforderliche Sorgfalt ist streng abzugrenzen von der im Verkehr üblichen Sorgfalt. Die erforderliche Sorgfalt beschreibt den fachlich richtigen Mindeststandard, der oben bereits beschrieben wurde. Die übliche Sorgfalt beschreibt die Sorgfalt, die von einem gewissen Kreis an Personen regelmäßig an den Tag gelegt wird. Die im Verkehr übliche Sorgfalt begründet dabei niemals einen eigenen Maßstab. Vielmehr muss sie sich an der fachlich richtigen (erforderlichen) Sorgfalt orientieren. R e ch t in e ch t (Fall 4.11) Notfallsanitäter Fabian und Rettungssanitäter Till befinden sich mitten in einer Reanimationssituation. Sie werden dabei von dem Team aus einem NEF unterstützt, sodass ausreichend Personen an der Einsatzstelle sind. Die Reanimation läuft bereits seit sieben Minuten und die „Chaos-Phase“ ist vorbei. Der Patient ist intubiert und wird beatmet, reversible Ursachen wurden besprochen und werden behandelt – es stehen lediglich die Thoraxkompressionen und die regelmäßigen Medikamentengaben an. Fabian und sein Team entscheiden sich, dabei den Feedbacksensor für die Thoraxkompressionen nicht zu verwenden, weil dann „ständig nervige Meldungen vom Gerät angezeigt werden“. Außerdem wechseln sie nur nach „Lust und Laune“, vielleicht alle fünf Minuten, die Helferposition für die Thoraxkompressionen. Diese Vorgehensweise ist im Rettungsdienstbereich „so üblich“, und fast alle Mitarbeitenden führen die Reanimationen so durch. Hier liegt, jedenfalls objektiv, eine Sorgfaltspflichtverletzung vor. Auch wenn die Vorgehensweise von Fabian und seinem Team der üblichen Sorgfalt in ihrem Rettungsdienstbereich entspricht, läuft diese doch der eigentlich erforderlichen Sorgfalt zuwider. Es ist medizinischer Standard, dass Feedbacksysteme bei Reanimationen eingesetzt werden sollen, wenn sie vorhanden sind und dass alle zwei Minuten ein Helferwechsel bei den Thoraxkompressionen stattfindet. Notsituationen Die Sorgfaltspflicht des Rettungsdienstes ist nicht starr festgelegt, sondern muss an die jeweiligen Umstände und Situationen angepasst werden. Bei der Bemessung der Sorgfaltspflicht wird in präklinischen Notsituationen berücksichtigt, dass z. B. äußere Einflüsse am Einsatzort, psychische Belastung und Stress sowie begrenztes Equipment die Handlungsfähigkeit des Rettungspersonals einschränken können. Es kann damit i. d. R. nicht dieselbe Sorgfaltspflicht zugrunde gelegt werden wie in einem klinischen Setting. Zudem ist zu berücksichtigen, dass viele Handlungen im Rettungsdienst und der Notfallmedizin sehr individuell und damit schwer zu standardisieren sind. Daraus ergibt sich ein großzügigerer Spielraum für Fehler, der bei der Beurteilung der Sorgfaltspflichten berücksichtigt wird. R e ch t in e ch t (Fall 4.12) Notfallsanitäter Fabian wird zusammen mit dem NEF zu einem Patienten (78 Jahre) mit Brustschmerzen gerufen. Der Patient wollte zunächst mit dem Taxi ins Krankenhaus fahren, hat dann

aber doch den Notruf gewählt. Vor Ort stellt sich der Patient mit plötzlich aufgetretenen leichten Brustschmerzen dar, die in den Rücken ausstrahlen. Der Patient ist sonst „gut zuwege“; weitere Symptome bestehen nicht; als Vorerkrankung besteht ein arterieller Hypertonus. Im EKG stellen sich ST-Strecken-Hebungen dar (V2-V5). Fabian entscheidet sich zusammen mit der zuständigen Notärztin für die Arbeitsdiagnose „Herzinfarkt“. Es wird eine Therapie mit Acetylsalicylsäure (ASS) und Heparin begonnen, und der Patient wird in einem Herzkatheterlabor angemeldet. Sicherheitshalber werden die Fast-Patches auf die Brust des Patienten geklebt. Tatsächlich wird der Patient auf der Fahrt reanimationspflichtig; die Wiederbelebungsmaßnahmen bleiben jedoch ohne Erfolg. Im Nachhinein stellt sich heraus, dass der Patient eine Aortendissektion hatte, die vom Rettungsdienst nicht erkannt wurde. Vor diesem Hintergrund wurde sogar eine kontraindizierte Medikation eingesetzt. Allerdings muss hier dem Rettungsteam zugestanden werden, dass die Untersuchungs- und Diagnostikmöglichkeiten nur beschränkt waren. Zudem war es anhand der Symptomatik des Patienten in der Notsituation schwer, auf eine Aortendissektion zu schließen. Der Blutdruck stellte sich an beiden Armen gleich dar, lediglich die ST-Strecken-Hebungen veränderten ihre Morphologie und Lokalität, was dem Team jedoch nicht aufgefallen ist. Hier wird die Sorgfaltspflicht von Fabian und seinem Team im Rahmen der Notfallsituation wohl insoweit reduziert sein, dass anerkannt und hingenommen wird, dass die richtige Diagnose sehr schwer zu erkennen war. Es wurde eine angemessene Untersuchung durchgeführt, insoweit kann dem Team wohl keine Sorgfaltspflichtverletzung und somit auch kein fahrlässiges Handeln vorgeworfen werden. Allerdings darf die Arbeit mit Patient*innen in Notsituationen keine generelle „Ausrede“ sein, um sorgfaltswidriges Handeln zu rechtfertigen. Eine solche „Ausrede“ würde vor Gericht auch nicht zu einer Entlastung führen. Schließlich ist der Rettungsdienst gerade für Notsituationen da, das Personal entsprechend ausgebildet und das Equipment angepasst. Die Sorgfaltspflicht wird auch in Notsituationen stets individuell beurteilt und dabei trotz der notfallmäßigen Umstände ein angemessen hoher Anspruch an das Rettungspersonal gestellt.

4.6.3 Maßstab für Notfallsanitäter*innen Der Sorgfalts- und Handlungsmaßstab einer Notfallsanitäter*in bestimmt sich an der allgemeinen Verkehrserwartung des Berufsbildes und am aktuellen medizinischen Standard (› Kap. 4.6.2). Bei einer objektiven Betrachtung spielt es keine Rolle, ob eine Notfallsanitäter*in tatsächlich die notwendige Fachkompetenz besitzt, um den Verkehrserwartungen gerecht zu werden. Eine schlechte Ausbildung, fehlende praktische Erfahrung oder reduzierte Fachkenntnisse sind für diese Bewertung unerheblich, selbst dann, wenn die betroffene Notfallsanitäter*in etwaige Defizite gar nicht zu vertreten hat. Wenn ein bestimmter Sorgfalts- oder Handlungsmaßstab geboten ist, ist diesem bei objektiver Betrachtung auch gerecht zu werden. Kann der Standard von der jeweiligen Notfallsanitäter*in nicht erfüllt werden, kommt bei einer daraus resultierenden Sorgfaltspflichtverletzung (Fahrlässigkeit) eine zivilrechtliche Haftung für dadurch entstehende Schäden in Betracht. Bei besonders erheblicher Sorgfaltswidrigkeit kann es sich sogar um grobe Fahrlässigkeit handeln. Bei einer zusätzlichen persönlichen/subjektiven Betrachtung können hingegen Faktoren wie schlechte Ausbildung, fehlende praktische Erfahrung oder reduzierte Fachkenntnisse durchaus eine Rolle spielen. So kann es einer Person z. B. nicht persönlich vorgeworfen werden, schlecht ausgebildet

worden zu sein. Gleiches gilt für fehlende Erfahrung, z. B. bei Berufsanfänger*innen. Da die allgemeinen Regeln des Strafrechts immer eine persönliche Vorwerfbarkeit verlangen, kommt eine Strafbarkeit oft nicht in Betracht, wenn derartige Faktoren vorliegen. Im Einzelnen kann die Bewertung dazu jedoch schwierig sein und ist immer einzelfallabhängig. Mindestmaß und besondere Kenntnisse Der Versuch, einen konkreten Sorgfalts- oder Handlungsmaßstab für Notfallsanitäter*innen zu formulieren, wirft Probleme auf. So stellt sich die Frage, was von einer Notfallsanitäter*in mindestens erwartet werden kann und wie mit etwaigen besonderen Fachkenntnissen umzugehen ist, welche die Standardkompetenz des Berufsbildes übersteigen. Für Notfallsanitäter*innen ergibt sich der Sorgfalts- und Handlungsmaßstab zunächst aus dem definierten Ausbildungsstandard. Dieser setzt sich aus dem NotSanG, speziell aus §§ 4 ff. sowie den konkretisierenden Ausbildungsvorschriften zusammen. Eine Notfallsanitäter*in ist danach grds. dazu verpflichtet, alle in der Ausbildung erlernten und beherrschten Maßnahmen angemessen durchzuführen, wenn diese indiziert sind. Nähere Ausführungen zum „Erlenen und Beherrschen“ finden sich in › Kap. 4.2.5. In einer Gesetzesbegründung des Bundestags zum NotSanG [12] wird zudem deu9100tlich beschrieben, dass gerade im Rahmen der Erstversorgungen von Notfallsanitäter*innen erwartet wird, Maßnahmen (auch invasiver oder medikamentöser Art) durchzuführen, wenn das Leben der Patient*innen in Gefahr ist oder es wesentlichen Folgeschäden vorzubeugen gilt. Dabei handelt es sich um eine allgegenwärtige Erwartungshaltung an eine Notfallsanitäter*in, die sich insoweit auch auf den Sorgfalts- und Handlungsmaßstab niederschlägt. Hinsichtlich der Bedeutung dieser gesetzlichen Erwartungshaltung muss wieder zwischen Zivilrecht und Strafrecht unterschieden werden. Eine allgemeine Übersicht dazu ist in › Tab. 4.10 dargestellt. Tab. 4.10 Bedeutung der Mindesterwartung an Notfallsanitäter*innen für Zivil- und Strafrecht Zivilrecht

Strafrecht

Zivilrechtlich gefordert sind grds. alle

Strafrechtlich gefordert ist

Kenntnisse und Maßnahmen, die für das Berufsbild Notfallsanitäter*in bestehen.

Dies kann durch lokale Vorgaben im jeweiligen Rettungsdienstbereich angepasst sein. Das Wissen und Beherrschen aller

1. nur das, was erlernt und beherrscht wird. 2. jedenfalls ein gewisses Mindestmaß an Fach- und Handlungskompetenz, die das Berufsbild ausmachen. Bei dem Wissen und Beherrschen von Kenntnissen und

Kenntnisse und Maßnahmen wird grds. vorausgesetzt.

Nicht-Wissen und Nicht-Beherrschen können somit grds. zu einer

Maßnahmen kommt es auf die individuellen Fähigkeiten an.

Nicht-Wissen und Nicht-Beherrschen können nur geahndet werden, wenn Betroffene dies persönlich

zivilrechtlichen Haftung führen.

zu vertreten haben (persönliche Strafbarkeit).

Zivilrecht Da das Zivilrecht lediglich objektiv-abstrakt bewertet, wird hier schlicht vorausgesetzt, dass Notfallsanitäter*innen im Einsatz sämtliche Kenntnisse erlernt haben und Maßnahmen beherrschen, die für das Berufsbild bestehen. Auf die tatsächlichen Kenntnisse und Maßnahmenkompetenzen der behandelnden Notfallsanitäter*in kommt es hier nicht an. Maßgebend ist das definierte „Können-müssen“. Erfüllt eine Notfallsanitäter*in nicht den vorgegebenen Standard, kann dies als Verletzung der Sorgfaltspflicht, also als Fahrlässigkeit gewertet werden und im Schadensfall einen zivilrechtlichen Anspruch der betroffenen Patient*in begründen. Auch wenn Notfallsanitäter*innen grds. von den Regeln der Amtshaftung erfasst sind, kommt ein Rückgriff und damit eine persönliche Haftung in Betracht, wenn das Handeln der Notfallsanitäter*in sogar als grob fahrlässig eingestuft wird (› Kap. 6.5.2). Vor diesem Hintergrund befindet sich zudem das „Können-müssen“ auf einer Ebene mit dem „Dürfen“. Notfallsanitäter*innen sind bei zivilrechtlicher Betrachtung objektiv dazu imstande, gemäß dem Ausbildungsstandard alle Kenntnisse und Maßnahmen anzuwenden, und dürfen dies auch tun. Me rke Ein Abweichen vom definierten Ausbildungsstandard (Können-müssen) kann als fahrlässiges Handeln bewertet werden, das im Schadensfall eine zivilrechtliche Haftung begründen kann. Hierbei ist es unerheblich, ob die handelnde Notfallsanitäter*in das Abweichen vom Standard persönlich zu vertreten hat oder nicht. Wird eine Handlung sogar als grob fahrlässig gewertet, muss die betroffene Notfallsanitäter*in im Rahmen eines Rückgriffs trotz Amtshaftung auch mit persönlichen Konsequenzen rechnen. Eine Einschränkung könnte die zivilrechtliche Betrachtungsweise lediglich durch lokale Vorgaben wie Algorithmen, SOP, SAA, etc. erfahren. Hierbei können die Weisungen aus den jeweiligen Rettungsdienstbereichen den Ausbildungsstandard konkretisieren. Strafrecht Während es bei einer zivilrechtlichen Beurteilung unerheblich ist, ob die handelnde Notfallsanitäter*in eine Maßnahme tatsächlich erlernt hat und beherrscht, kommt es bei der strafrechtlichen Bewertung gerade auf diese individuellen Fähigkeiten an. Allerdings müssen auch strafrechtlich Mindestanforderungen an Notfallsanitäter*innen gestellt werden, die auch durch die persönlichen Fähigkeiten nicht aufgeweicht werden können. So kann es durchaus persönlich vorwerfbar sein, den Beruf der Notfallsanitäter*in auszuüben, ohne die notwendige Fach- und Handlungskompetenz aufzuweisen (› Kap. 4.6.2). Wer als Notfallsanitäter*in dieses Mindestmaß an Fach- und Handlungskompetenz nicht aufweist, kann sich durch sorgfaltswidriges, also fahrlässiges Handeln strafbar machen. Dies kann durch fahrlässiges Handeln (› Kap. 7.1.4) oder durch fahrlässiges Unterlassen eines Garanten geschehen (› Kap. 7.2.3). Welche konkreten Anforderungen dies im Einzelnen sind, kann nicht klar abgegrenzt werden. Es handelt sich jedenfalls nicht um fortgeschrittene Medikamentenapplikationen, sondern eher um wichtige Grundlagenkompetenzen wie z. B. die Seitenlage bei bewusstlosen Patient*innen oder Basis-Reanimationsmaßnahmen. Neben den Mindestanforderungen wird von Notfallsanitäter*innen in der Rolle eines Garanten strafrechtlich jedenfalls das gefordert, was tatsächlich erlernt wurde und beherrscht wird. Sprich:

Was eine Notfallsanitäter*in erlernt hat und beherrscht, muss sie auch anwenden. Tut sie dies nicht, kann das als fahrlässiges Unterlassen gewertet werden. Beherrscht eine Notfallsanitäter*in eine Maßnahme jedoch nicht oder hat sie nie erlernt, kann sie grds. auch nicht strafrechtlich belangt werden, sie nicht durchzuführen, da ihre individuellen Fähigkeiten sie gar nicht erst dazu befähigen, die Maßnahme durchzuführen. Näheres zum „Erlernen und Beherrschen“ ist in › Kap. 4.2.5 zu finden. Me rke Bei strafrechtlicher Betrachtung kann von Notfallsanitäter*innen nur das gefordert werden, was tatsächlich erlernt wurde und auch wirklich beherrscht wird. Es kommt auf die individuellen Fähigkeiten der Notfallsanitäter*in an. Fehlt es an einer adäquaten Fachkenntnis oder dem sicheren Beherrschen einer Maßnahme, so liegen die individuellen Fähigkeiten, die zur Durchführung dieser Maßnahme benötigt werden, nicht vor. Wird diese Maßnahme nun gar nicht oder schlecht durchgeführt, ist dies persönlich nicht vorwerfbar und begründet nach strafrechtlicher Betrachtung zunächst keine Fahrlässigkeit bzw. Sorgfaltspflichtverletzung. Dies ist auch sinnvoll, da Notfallsanitäter*innen die reduzierten Fach- und Handlungskompetenzen nicht immer selbst zu vertreten haben, z. B. die fehlende Routine bei wenigen Einsätzen oder spezielles, in Vergessenheit geratenes Fachwissen bei mangelhafter Fortbildung. Selbst wenn eine Notfallsanitäter*in als Garant zu einer Handlung verpflichtet ist, ist ihr das Unterlassen dann nicht persönlich vorwerfbar. Eine wichtige und für den Rettungsdienst sehr relevante Ausnahme dazu bildet die Übernahmefahrlässigkeit (› Kap. 4.6.4). Hierbei kann eine Fahrlässigkeit beim Handeln u. U. doch bejaht werden, selbst wenn die betreffende Notfallsanitäter*in die zur Sorgfaltspflichtverletzung führende, mangelhafte Kompetenz nicht selbst zu vertreten hat. Besitzt eine Notfallsanitäter*in erweitertes Fachwissen oder Sonderfähigkeiten, welche über die durchschnittliche Kompetenz des Berufsstandes hinausgehen, muss auch dieses individualisiert betrachtet werden. Maßstab ist hierbei wieder, was die Notfallsanitäter*in tatsächlich weiß und beherrscht, soweit sie im Moment der Übernahme der Tätigkeit auch selbst davon überzeugt ist. Strafrechtlich kann nun auch erwartet werden, dass erweitertes Fachwissen und Sonderfähigkeiten angewendet werden, insoweit dies im Kompetenzbereich des jeweiligen Berufsbildes liegt. Vorwerfbarkeit mangelhafter Fähigkeiten Beherrschen Notfallsanitäter*innen Maßnahmen nicht oder besitzen kein ausreichendes Fachwissen, stellt sich die Frage, inwieweit dies den Notfallsanitäter*innen vorgeworfen werden kann. Mangelhafte fachliche Fähigkeiten können verschiedene Ursachen haben. Unterschieden werden müssen Faktoren, für welche die Notfallsanitäter*innen selbst verantwortlich sind, und solche, die sie nicht selbst zu vertreten haben. Selbst vertreten müssen Notfallsanitäter*innen z. B. Übernahmeverschulden (› Kap. 4.6.4) sowie das persönliche Engagement an Fort- und Weiterbildungen. Ist eine Notfallsanitäter*in überhaupt nicht gewillt, Fachwissen aufrechtzuerhalten oder auf den neuesten Stand zu bringen, so kann daraus resultierendes fachlich unrichtiges Handeln der betreffenden Notfallsanitäter*in auch persönlich vorgeworfen werden. Dass hierbei das fahrlässige Handeln zeitlich weit vor dem eigentlichen

Einsatz stattfindet, ist unerheblich, da die Fahrlässigkeit dabei trotzdem ursächlich für das sorgfaltswidrige Handeln ist. Hier wird von einer vorgelagerten Fahrlässigkeit gesprochen. R e ch t in e ch t (Fall 4.13) Fabian befindet sich auf einer bereichsinternen Fortbildung zum Thema Untersuchungstechniken. Die Fortbildung wird von hochkarätigen Dozent*innen auf einem angemessenen und qualitativ hohen Niveau durchgeführt. Fabian hegt allerdings eine Antipathie gegen diese „Oberretter“ und hält „diese ganze Buchstabenherangehensweise“ sowieso für „Quatsch“. Während der Fortbildung ist Fabian daher sehr unaufmerksam, spielt hauptsächlich am Handy und beteiligt sich weder am Unterricht noch an den angebotenen Fallbeispielen. Auch bei mehrmaligem Auffordern der Dozent*innen weigert sich Fabian mitzumachen und behauptet, er „brauche das alles nicht“. Am Ende der Fortbildung hat Fabian aufgrund seines Verhaltens kein Wissen zum Thema der Fortbildung erlangt und keine der vorgestellten Techniken trainiert. Dieses Verhalten ist Fabian persönlich vorzuwerfen. Nicht vorwerfbar sind mangelhafte Fähigkeiten z. B. dann, wenn es die Einsatzlage nicht hergibt, Maßnahmen regelmäßig anzuwenden und dadurch keine Anwendungsroutine besteht. Weiter können Notfallsanitäter*innen nicht für die Qualität der Fortbildungen herangezogen werden, die sie besuchen. Eine Verlagerung der beruflichen Weiterbildung in die Freizeit kann grds. nicht verlangt werden, weshalb Notfallsanitäter*innen vor diesem Hintergrund wohl nicht jedes fachliche Defizit zu vertreten haben. Gerade im Hinblick auf konkrete Maßnahmen, die in lokalen Vorgaben (z. B. Algorithmen, SOP, SAA) festgehalten sind, liegt es in der Verantwortung der Ärztlichen Leiter*innen Rettungsdienst (ÄLRD), regelmäßig zu prüfen und sicherzustellen, dass die vorgegebenen Maßnahmen beherrscht werden. Wenn also von den Notfallsanitäter*innen im jeweiligen Rettungsdienstbereich verbindlich verlangt werden soll, die vorgegebenen Maßnahmen anzuwenden, muss durch entsprechende Ausbildungs- und Trainingskonzepte sichergestellt werden, dass Fachwissen und Anwendungsroutine vorhanden sind. Nur wenn ein solches Konzept ausreichend besteht, können fachliche Defizite zu diesen Maßnahmen den Notfallsanitäter*innen persönlich vorgeworfen werden. Ferner ist auch die mangelnde Routine von Berufsanfänger*innen grds. nicht persönlich vorwerfbar. R e ch t in e ch t (Fall 4.14) Notfallsanitäterin Marie arbeitet in einem Rettungsdienstbereich, in dem in lokalen Algorithmen ein bestimmter Katalog an Maßnahmen für Notfallsanitäter*innen vorgesehen ist. Zu diesen Maßnahmen werden jedoch keine Fortbildungen angeboten. Lediglich einmal im Jahr gibt es qualitativ bedenkliche Weiterbildungsmöglichkeiten, deren zentrales Ziel es ist, die Fortbildungsstunden der Mitarbeitenden irgendwie zu Papier zu bringen. Auf einzelne Maßnahmen wird in diesem Fortbildungsformat nicht eingegangen. Da Marie während der Arbeitszeit (Großstadtrettung) voll ausgelastet ist, hat sie während der Schichten auch keine zeitliche und kognitive Kapazität, sich fortzubilden. Beherrscht Marie einzelne Maßnahmen der lokalen Vorgaben nicht, so ist ihr dies nicht persönlich vorzuwerfen. A c h tu ng

Wenngleich mangelhafte Fähigkeiten als tatsächlicher Zustand den Notfallsanitäter*innen nicht immer persönlich vorwerfbar sind, schließt dies die Vorwerfbarkeit eines Übernahmeverschuldens nicht zwangsläufig aus. Informations- und Weiterbildungspflicht Ärzt*innen wird allgemein und auch durch die Rechtsprechung die Pflicht auferlegt, sich regelmäßig und in eigener Verantwortung weiterzubilden und auf dem neuesten medizinischen Stand zu halten. Diese Informations- und Weiterbildungspflicht besteht, auch wenn sie nicht ausdrücklich gesetzlich festgehalten ist, und lässt sich damit der ärztlichen Sorgfaltspflicht zuordnen. Konsequenz dieser Pflicht kann z. B. das Besuchen von Fortbildungen oder auch die Lektüre einschlägiger Fachliteratur sein. Ziel ist es, ein umfassendes und aktuelles Fachwissen der Ärzt*innen zu garantieren, auf das Dritte (z. B. Patient*innen oder nichtärztliches Personal) vertrauen können. Hintergrund dabei ist, dass gerade komplexes Fachwissen mit der Zeit verloren geht und im medizinischen Bereich eine große Dynamik in der Wissenschaft besteht. Das richtige Fachwissen von heute kann schon morgen überholt oder gar falsch sein. Wenngleich die Arbeit als Ärzt*in oft sehr fordernd und zeitaufwändig ist, wird es dem ärztlichen Personal zugemutet, sich notfalls in ihrer Freizeit zu informieren und weiterzubilden. Wird dies nicht gewährleistet, kann ein persönliches Verschulden der Ärzt*in im Sinne einer vorverlagerten Fahrlässigkeit angenommen werden. Vor dem Hintergrund der wachsenden Verantwortung für Notfallsanitäter*innen, gerade in Bezug auf die Ausübung heilkundlicher Maßnahmen, stellt sich die Frage, ob auch nichtärztlichem medizinischen Personal eine persönliche Informations- und Weiterbildungspflicht zugesprochen wird, die über die gesetzliche Pflichtfortbildung hinausgeht. Während dies bei Ärzt*innen von der Rechtsprechung bejaht wird, besteht eine solche für Notfallsanitäter*innen im Ergebnis wohl v. a. deshalb nicht, weil sich die Handlungskompetenz von nichtärztlichem Rettungsdienstpersonal v. a. an standardisierte Vorgaben wie Algorithmen, SOP oder SAA orientiert und keine generelle Therapiefreiheit herrscht. Der Entscheidungsspielraum, der Notfallsanitäter*innen zugesprochen wird, ist gerade hinsichtlich präklinischer Maßnahmen nicht vergleichbar mit der ärztlichen Therapiefreiheit. Eine gewisse Pflicht zum selbstständigen Informieren und Weiterbilden kann sich jedoch aus der Sorgfaltspflicht des Fachpersonals ergeben, ein Mindestmaß an Fachkompetenz zu gewährleisten. Weiter müssen gerade Notfallsanitäter*innen einem gewissen fachlichen und technischen Standard gerecht werden, um einen Sorgfaltspflichtverstoß durch Übernahmeverschulden zu vermeiden (› Kap. 4.6.4). Insoweit drängt auch die Rechtsfigur des Übernahmeverschuldens ein Stück weit zu eigenständigen Informations- und Weiterbildungsbestrebungen. Dies ist jedoch nicht vergleichbar mit der ärztlichen Informations- und Weiterbildungspflicht. Praxis tip p Für Notfallsanitäter*innen ist es ratsam, die Fachkompetenz des definierten Ausbildungsstandards aufrechtzuerhalten. Hierzu hilft es, regelmäßig Ausbildungsliteratur, Fachbücher oder aktuelle Fachzeitschriften zu lesen. Zudem kann es hilfreich sein, sich selbst ehrlich danach zu fragen, was man alles „schon mal genauer wusste“. Auch externe Fortbildungen und/oder (zertifizierte) Kurse können zu Aufrechterhaltung und Ausbau des Fachwissens beitragen. Viele Arbeitgeber*innen unterstützen solche Angebote sogar finanziell.

4.6.4 Übernahmeverschulden Im Strafrecht gibt es die Rechtsfigur des Übernahmeverschuldens. Danach liegt auch dann Fahrlässigkeit vor, wenn eine Person eine Aufgabe übernimmt, von der diese Person weiß oder hätte wissen können, dass sie ihr nicht gewachsen ist. Die Übernahme einer nicht adäquat erfüllbaren Aufgabe gilt dabei als persönlich vorwerfbar. Dies wird auch Übernahmefahrlässigkeit genannt und begründet schuldhaftes und damit auch strafbares Verhalten. Selbst wenn es im Moment des Handelns der Person nicht persönlich vorwerfbar ist, z. B. eine Maßnahme zu unterlassen, die sie gar nicht beherrscht, wird ihr vorgeworfen, sich überhaupt in diese Situation gebracht zu haben. Die Fahrlässigkeit der vorgelagerten Entscheidung, sich in eine Situation gebracht zu haben, der man nicht gerecht werden kann, wird der Person im Moment des (Nicht-)Handelns dann persönlich vorgeworfen. Im Rettungsdienst kann dies v. a. vorkommen, wenn • eine Schicht auf einem Rettungsmittel übernommen wird, obwohl man den damit einhergehenden Aufgaben (z. B. Notfallrettung nach aktuellem medizinischen Standard) nicht gerecht werden kann. • eine konkrete Aufgabe übernommen wird (z. B. CPAP-Beatmung einstellen), der man nicht gerecht werden kann. Am Beispiel einer fahrlässig übernommenen RTW-Schicht ist das Übernahmeverschulden in › Abb. 4.4 dargestellt.

ABB. 4.4 Übernahmeverschulden am Beispiel einer RTW-Schicht [L157] Bei der Bewertung eines Übernahmeverschuldens wird zum einen bewertet, ob die persönlichen, körperlichen und geistigen Umstände der betreffenden Person zur Erfüllung der Aufgabe geeignet sind, und zum anderen, ob diese Person erkannt hat oder hätte erkennen können/müssen, dass die zur

Verfügung stehenden persönlichen, körperlichen und geistigen Fähigkeiten nicht ausreichend sind. Die Fähigkeiten beziehen sich hier auf die persönliche Kompetenz sowie die psychische und physische Verfassung einer Person. Wie bei einer „einfachen“ Fahrlässigkeit erfordert auch die Übernahmefahrlässigkeit strafrechtlich die Vorhersehbarkeit eines Straftaterfolges. Zusammengefasst kann sich aus einem Übernahmeverschulden fahrlässiges Handeln ergeben, welches zu strafrechtlichen Sanktionen führen kann, auch wenn die mangelhaften Fähigkeiten an sich nicht persönlich vorwerfbar sind. Relevant für den Rettungsdienst wird das Übernahmeverschulden dann, wenn z. B. eine Notfallsanitäter*in eine Schicht, einen Einsatz oder eine Aufgabe übernimmt, für die ihre eigenen Fähigkeiten nicht ausreichen. Die Fähigkeiten einer Rettungsdienstmitarbeiter*in können ggf. nicht ausreichend sein, wenn: • die persönliche Fachkompetenz nicht geeignet ist, die Notfallbehandlungen angemessen durchzuführen (z. B. mangelhafte Fachkenntnisse oder technische Fertigkeiten, fehlende praktische Übung, veraltetes Fachwissen). • die geistige Verfassung eine angemessene Durchführung der Notfallbehandlungen nicht zulässt (z. B. psychische Ausnahmezustände, Beeinträchtigung kognitiver Fähigkeiten durch Alkohol/Drogen/Medikamente) • die körperliche Verfassung eine angemessene Durchführung der Notfallbehandlungen nicht zulässt (z. B. Schlafmangel, Verletzungen und Erkrankungen, Alkohol-/Drogen-/Medikamenteneinfluss) Die Sorgfaltspflicht der Rettungsdienstmitarbeiter*innen liegt hier darin, bei nicht ausreichenden Fähigkeiten die Übernahme einer gefährlichen Handlung zu unterlassen. Eine gefährliche Handlung in diesem Sinne meint für den Rettungsdienst allgemein die Behandlungen von Notfallpatient*innen oder auch eine konkrete Aufgabe im Rahmen einer solchen Behandlung. Von einer Vorhersehbarkeit ist im Rettungsdienst auszugehen, da in jeder Schicht damit zu rechnen ist, dass verschiedenste Notfälle zu versorgen sind. Wird ein Übernahmeverschulden nachgewiesen, kommt es im Zivilrecht u. U. zu einer Beweislastumkehr (vgl. › Kap. 6.3.6). Das bedeutet, es wird grds. vermutet, dass ein etwaig eingetretener Gesundheitsschaden aufgrund der mangelnden Fähigkeiten entstanden ist. Me rke Für den Rettungsdienst besteht die Sorgfaltspflicht, die Übernahme von gefährlichen Handlungen zu unterlassen, wenn die betroffene Mitarbeiter*in weiß oder wissen könnte, dass sie der Aufgabe aufgrund mangelhafter Fach- oder Handlungskompetenzen nicht gewachsen ist. Wird ein solche Handlung trotzdem übernommen, begründet dies eine Übernahmefahrlässigkeit. Praxis tip p Kernbereich des Rettungsdienstes ist die qualifizierte Patientenversorgung. Dieser kommt es nicht zugute, wenn Mitarbeitende vermeintlich „heroisch“ Schichten oder Aufgaben übernehmen, obwohl sie eigentlich nicht dazu in der Lage sind. Zum einen leiden die Qualität der Versorgung und somit die einzelnen Patient*in darunter, zum anderen eröffnet ein solches Handeln die Möglichkeit einer Übernahmefahrlässigkeit.

A c h tu ng Ein Übernahmeverschulden kann im Zivilrecht zu einer Beweislastumkehr führen. Treffen Notfallsanitäter*innen eigenverantwortliche Entscheidungen, müssen sie diese auch selbst verantworten (vgl. › Kap. 4.2.4). Wird Notfallsanitäter*innen von einer Notärzt*in eine Aufgabe delegiert, trifft sie jedenfalls die Verantwortung für die fachgerechte Durchführung der Aufgabe. Sowohl hinsichtlich der Eigenverantwortung als auch hinsichtlich der Durchführungsverantwortung kann Notfallsanitäter*innen ein Übernahmeverschulden treffen. Übernimmt eine Notfallsanitäter*in trotz mangelhafter Fähigkeiten eine Behandlung und trifft aufgrund dessen eine falsche Entscheidung oder führt Maßnahmen aufgrund dessen nicht bzw. falsch durch, so kann ihr zwar strafrechtlich die unzureichende Kompetenz u. U. nicht persönlich vorgeworfen werden, wohl aber die fahrlässige Übernahme der Behandlung. Delegiert eine Notärzt*in einer Notfallsanitäter*in eine Maßnahme, die die Notfallsanitäter*in aufgrund mangelhafter Fähigkeiten nicht sicher durchführen kann, so kann ihr auch hier die unzureichende Kompetenz u. U. nicht persönlich vorgeworfen werden, wohl aber die fahrlässige Übernahme der Durchführung. Ab welchem Fähigkeitsdefizit ein Übernahmeverschulden vorliegt, lässt sich nicht genau bestimmen. Allgemein lässt sich sagen, dass eine fahrlässige Übernahme der Rettungsdiensttätigkeit jedenfalls dann vorliegt, wenn Kompetenzen aus dem Kernbereich des Berufsfeldes nicht mehr gewährleistet sind. Insoweit kann von Mitarbeitenden im Rettungsdienst und gerade von Notfallsanitäter*innen ein gewisser fachlicher Mindeststandard sowie ausreichende körperliche und kognitive Leistungsfähigkeit erwartet werden. Konkret hängt aber auch die Bewertung eines Übernahmeverschuldens vom jeweiligen Einzelfall ab. So muss eine Übernahmefahrlässigkeit zu einem konkreten Schaden führen, damit sie überhaupt zivil- oder strafrechtlich relevant wird. Solange z. B. durch fehlende Fachkompetenz im Einsatz kein Schaden herbeigeführt oder kein Straftatbestand verwirklicht wird, ist eine etwaige Übernahmefahrlässigkeit rechtlich unerheblich. Allein die Gefährdung durch die mangelhaften Fähigkeiten ist noch nicht persönlich vorwerfbar. Letztlich ist die Feststellung eines Übernahmeverschuldens auch immer an eine Klage und damit verbundene gerichtliche Aufarbeitung gebunden. Da es im Rettungsdienst bisher eher selten zu Klagen in dieser Hinsicht gekommen ist, gibt es wenig Erkenntnisse dazu, wie Gerichte solche Situationen einschätzen. Arbeitsrechtlich kann dies ggf. anders sein und zu arbeitsrechtlichen Konsequenzen führen. Dies gilt dann, wenn die Arbeitsleistungen erheblich unter dem Durchschnitt anderer Beschäftigter mit gleicher Qualifikation liegen (sog. Minderleister). R e ch t in e ch t (Fall 4.15) Notfallsanitäterin Marie konnte aufgrund einer Schlafstörung seit zwei Tagen nicht schlafen. Nun, am dritten Tag, hat sie Dienst auf dem Rettungswagen. Marie ist durch den Schlafmangel kognitiv derart eingeschränkt, dass es ihr nicht möglich ist, die notwendige Konzentration und Denkfähigkeit für Rettungseinsätze zu erbringen. Es ist vorhersehbar, dass die Qualität ihrer Behandlung in den Einsätzen stark darunter leidet und ihr womöglich (grob) fahrlässige Fehler passieren. Dies kann und muss Marie auch erkennen. Übernimmt sie tatsächlich die RTW-Schicht und es kommt aufgrund ihrer körperlichen Verfassung zu folgenschweren Komplikationen, stellt schon die Übernahme eine Sorgfaltspflichtverletzung dar. Für Marie kommt

dann ein Übernahmeverschulden in Betracht. Entsteht durch die sorgfaltswidrige Übernahme eines Einsatzes z. B. eine Körperverletzung an einer Patient*in, die ohne die Konzentrationsdefizite nicht eingetreten wäre, kommt für Marie eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Körperverletzung in Betracht. Dabei würde Marie nicht vorgeworfen werden, sich nicht konzentrieren zu können, sondern den Einsatz trotz des Defizits übernommen zu haben. Des Weiteren kommt ein zivilrechtlicher Schadensersatz-/Schmerzensgeldanspruch der Patient*in gegen Marie in Betracht. (Fall 4.16) Notfallsanitäter Franz hat vor Jahren hauptamtlich im Rettungsdienst gearbeitet, ist jedoch, seitdem er den Beruf gewechselt hat, nur noch ehrenamtlich in der SEG tätig gewesen. Über die SEG-Abende konnte er sich die nötigen Fortbildungsstunden bescheinigen lassen. Franz hatte damals schon die Ergänzungsprüfung zum Notfallsanitäter nur mit Ach und Krach und gutem Willen der Prüfer*innen bestanden und bezeichnet sich selbst als „Retter der alten Schule“. Von „dem ganzen neumodischen Kram“ hält Franz nichts und sowieso ist er der Ansicht, er müsse hauptsächlich zuarbeiten, während Maßnahmen wie i. v.-Zugänge und Medikamente „Sache des Notarztes“ seien. Nun braucht Franz Geld und möchte wieder eine Teilzeitstelle auf einer Rettungswache als Notfallsanitäter bekleiden. Er ist sich bewusst, dass er die Patient*innen nicht unbedingt nach dem aktuellen Stand der Medizin versorgen kann, vertraut aber darauf, dass schon alles gutgehen wird und er sich zu jedem „komplizierten“ Einsatz ein NEF nachfordern kann. Franz ist aufgrund seiner mangelhaften Fachkompetenz u. U. nicht mehr dazu in der Lage, jede Notfallbehandlung angemessen durchzuführen. Dies ist auch vorhersehbar, da er jederzeit „komplizierte“ Einsätze abarbeiten können müsste, in denen nicht sofort ein NEF verfügbar ist. Übernimmt Franz nun tatsächlich eine RTWSchicht und es kommt aufgrund seiner reduzierten Fachkompetenz zu folgenschweren Komplikationen, stellt schon die Übernahme eine Sorgfaltspflichtverletzung dar. Folglich kommt auch für Franz hier ein Übernahmeverschulden in Betracht. Der Weg für etwaige Fahrlässigkeitsdelikte ist damit eröffnet.

Quellen: [1] OLG Karlsru9105he, Urt. v. 13.05.2016, 13 U 103/13 [2] BGH, Urt. v9110. 12.01.2017, III ZR 312/16 [3] OLG Dresden9115, Urt. v. 14.02.2017, 4 U 1256/16 [4] BGH, Urt. v9120. 15.11.2018 III ZR 69/17 [5] VG Hannover9125, 11.11.2015, 7 B 3794/15 [6] Wissenschaf9130tlicher Dienst des deutschen Bundestages, Kurzinformation Anwendung von Standard Operating Procedures durch Notfallsanitäter bei Verfügbarkeit eines Telenotarztdienstes [7] BT Drucksac9135he 20/7397 S30 [8] VGH München,9140 Beschl. v. 21.04.2021 – 12 CS 21.702 [9] BT Drucksac9145he 19/24447 [10] Lechleuthner. Der Pyramidenprozess – die fachliche Abstimmung der Maßnahmen im Rahmen der Umsetzung des Notfallsanitätergesetzes. Notarzt. 2014;30:112–117. [11] vgl. Bunde9155sfinanzhof, Urteil vom 27. Oktober 2011, Az. VI R 52/10 [12] BT Drucksa9160che 17/11689

Gerichtsurteile und Beschlüsse: BGH. MDR. 2015.587. BGH. GesR. 2011.417. BGH. VersR. 2009.257. BGH. VersR. 2009.1405. BGH. GesR. 2008.361. BGH. NJW. 2004.1452. BGH, Urt. v. 19.11.1997 – 3 StR 271–97 BGH, Urt. v. 24.06.1975 – VI ZR 72/74 OLG. Köln VersR. 2012.1305. OLG. Jena MedR. 2012.266. OLG. Naumburg GesR. 2011.478. OLG. Naumburg GesR. 2010.73. OLG. Düsseldorf GesR. 2007.110. OLG Düsseldorf, Urt. v. 26.04.2007 – U8 37/05 OLG Dresden, Urt. v. 24.07.2007 – 4 U 1857/07 OLG. 110. Hamm ZMGR. 2006. OLG. 176. Hamm OLG-R. 2002. OLG. 1801. Hamm NJW. 2000. VG Regensburg, Beschl. v. 21.03.2023 – RN 4 K 20.3243 VGH München, Beschl. v. 21.04.2021 – 12 CS 21.702 Weitere Literatur und Internetquellen: Ausführungsbestimmungen zur Notfallsanitäter-Ausbildung in NRW – Teil I und II. 2015. BT Drucksache 17/12524 BT Drucksache 19/26249 BT Drucksache 19/24447 BT Drucksache 20/7397 Bundesverband ÄLRD. Stellungnahme zum Referentenentwurf des MTA-Reform-Gesetzes, speziell zu Artikel 12 (Änderung des NotSanG). vom. 2020;19:08. Dielmann Malottke. Notfallsanitätergesetz – Text und Kommentar. 2017. Deutscher Bundestag WD 9 - 3000 - 049/22 Deutscher Bundestages WD 9 - 3000 - 042/16 Heberlein. ZMGR. 2012.75 ff. Laufs/Kern/Rehborn. Handbuch des Arztrechts. 5. Aufl 2019. Lechleuthner. Der Pyramidenprozess – die fachliche Abstimmung der Maßnahmen im Rahmen der Umsetzung des Notfallsanitätergesetzes. Notarzt. 2014;30:112–117. Lechleuthner, et al. Orientierungsrahmen für ein sicherstellbares Kompetenzniveau von invasiven Maßnahmen im Rettungsdienst – Eine Empfehlung des Bundesverbandes der Ärztlichen Leitungen Rettungsdienst Deutschland (BV-ÄLRD). Notfall + Rettungsmedizin. 2019;7: 667 ff.

Lissel. Strafrechtliche Verantwortung in der präklinischen Notfallmedizin: Dissertationsschrift (Europäische Hochschulschriften Recht, Band 3125). 2001. Lissel. Rechtsfragen im Rettungswesen, 3. Aufl.. 2014. Münchner Kommentar zum BGB. 9. Aufl 2023. Neupert/Sarangi. Der Notarzt. 2014.118. Saliger/Tsambikakis. Strafrecht der Medizin. 2022. Siebig. Die Krankenversicherung. 2011.316. Spickhoff. Medizinrecht. 4. Aufl 2022. Tries, Handbuch des Rettungswesens, Die Not mit der Kompetenz – Juristische Bestandsaufnahme einer unendlichen Geschichte, Mendel Verlag Wenzel. Der Arzthaftungsprozess. 2. Aufl 2023. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/presse/pressemitteilungen/regi erungskommission-legt-rettungsdienst-konzept-vor-pm-07-09-23.html (letzter Zugriff: 15. November 2023)

Kapitel 5 Zusammenarbeit mit Dritten im Rahmen der Gefahrenabwehr André Höhle

Im Einsatz kommt es regelmäßig zur Zusammenarbeit zwischen Rettungsdienst und anderen Institutionen der Gefahrenabwehr. Dies können Einsätze zusammen mit der Polizei, der Feuerwehr, Hilfsorganisationen und weiteren Institutionen sein. Jede Institution hat dabei eigene spezialisierte Ausrüstung und Fähigkeiten und unterliegt eigenen gesetzlichen Regelungen. Der Rettungsdienst selbst ist Teil der Gefahrenabwehr und in vielen Situationen mit als erster am Ort des Geschehens. Solche Situationen können z. B. überörtliche Einsätze, Großeinsatzlagen und Katastrophenlagen sein. Das folgende Kapitel gibt einen Überblick über die Institutionen, mit welchen im Rahmen der Gefahrenabwehr zusammengearbeitet werden kann, sowie Strukturen und Verantwortlichkeiten für die Bewältigung größerer Einsatzlagen bis hin zu Katastrophen. Hier wird insb. auch auf die gesetzlichen Hintergründe eingegangen. Zuletzt folgt ein kurzer Überblick über das Thema Zivilschutz.

D ie s e s K ap ite l s o l l F olge nde s ve rm itte ln: • Grundlagen und Arten der Gefahrenabwehr • Gesetzgebungskompetenzen im Kontext der Gefahrenabwehr • Aufgaben und Strukturen der Feuerwehr • Zusammenarbeit mit der Feuerwehr • Aufgaben und Strukturen der Polizei • Zusammenarbeit mit der Polizei • Aufgaben und Strukturen des Zivil- und Katastrophenschutzes

W ic h tige R e c ht s qu e l le n fü r d ie s e s K ap ite l: • Grundgesetz

https://www.gesetze-im-internet.de/gg/ • Feuerwehr- und Katastrophenschutzgesetze der Bundesländer (z. B. das BHKG NRW)

https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_text_anzeigen? v_id=61120160624160758031 • Polizeigesetze der Bundesländer (z. B. das PolG NRW)

https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_text_anzeigen? v_id=3120071121100036031 • Zivil- und Katastrophenschutzgesetz des Bundes (ZSKG)

https://www.gesetze-im-internet.de/zsg/

5.1 Grundbegriffe und Gesetzgebungskompetenzen

Gefahren können aus unterschiedlichen Bereichen herrühren und viele verschiedene Ursachen haben. Eine grobe Unterscheidung kann zunächst zwischen polizeilicher und nichtpolizeilicher Gefahrenabwehr getroffen werden. Die polizeiliche Gefahrenabwehr hat in erster Linie die Aufgabe, die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten. Die nichtpolizeiliche Gefahrenabwehr ist zuständig für alle weiteren Gefahren, soweit diesen Gefahren durch die speziellen Kompetenzen der jeweiligen Institution begegnet werden kann (› Abb. 5.1). Dies ist z. B. die Brandbekämpfung durch die Feuerwehr.

ABB. 5.1 Übersicht Gefahrenabwehr [L157]

Me r k e Beim Begriff Gefahrenabwehr wird zwischen polizeilicher und nichtpolizeilicher Gefahrenabwehr unterschieden.

Gefahren, die im Rahmen der Gefahrenabwehr von Bedeutung sein können, sind u. a. Brände, Naturkatastrophen, Ausbreitung von Infektionskrankheiten, Straftaten von großen Menschengruppen im Zusammenhang mit Demonstrationen oder Sportereignissen, Straftaten einzelner Personen sowie Terrorismus. Aus dieser Auflistung lässt sich bereits erkennen, dass Gefahren einerseits in einem eng begrenzten Rahmen auftreten können, z. B. die Straftat einer einzelnen Person oder der Mülltonnenbrand, andererseits können Gefahren auch in einem erheblich größeren Ausmaß auftreten und dabei eine Vielzahl von Menschen und Sachwerten gefährden, z. B. ein Hochwasser oder ein Sturm. Bei allen Gefahren besteht das Risiko, dass aus kleineren Gefahren größere Gefahren werden, z. B. der Brand eines Hauses, der sich auf weitere Häuser ausbreitet, oder die Demonstration, die zunächst friedlich beginnt, dann jedoch in Gewalt gegen Menschen und Sachen umschlägt. Der Rettungsdienst kann bei allen genannten Gefahren mit im Einsatz sein, z. B. beim Brand, um verletzte Menschen aus einem brennenden Gebäude oder verletzte Einsatzkräfte zu versorgen, bei der Demonstration, die außer Kontrolle gerät, um verletzte Teilnehmende oder Einsatzkräfte zu versorgen, oder bei extremer Hitze und Trockenheit, um Menschen mit Kreislaufproblemen aufgrund von Dehydration zu versorgen. Im Rahmen solcher Einsätze arbeitet der Rettungsdienst eng mit anderen Institutionen der Gefahrenabwehr zusammen. Andersherum können diese Institutionen auch bei einem originären Rettungsdiensteinsatz mitbeteiligt sein. Die Feuerwehr hilft z. B. dabei, eine verletzte Person aus unwegsamem Gelände zu retten und

zum RTW zu transportieren. Oder die Polizei fixiert eine hilf- und orientierungslose gewalttätige Patient*in, damit diese die notwendige medizinische Versorgung erhalten kann. Die Organisation der Gefahrenabwehr gehört zu den staatlichen Aufgaben. Sie ist Folge der Schutzpflicht des Staates für Leben und körperliche Unversehrtheit (› Kap. 2.2.2), der Schutzpflicht des Staates für die Würde des Menschen (› Kap. 2.2.2) sowie des Sozialstaatsprinzips (› Kap. 2.3.1). Dabei ist der Staat nicht verpflichtet, absolute Sicherheit zu gewährleisten. Dies wäre aufgrund der Vielzahl möglicher Gefahren und der Unvorhersehbarkeit, wie sich Gefahren entwickeln können, auch tatsächlich kaum möglich. Der Staat darf sich bei der Gestaltung der Gefahrenabwehr am Grundsatz der praktischen Vernunft orientieren und ist nur in diesem Rahmen verpflichtet, Vorkehrungen für Gefahren zu treffen. Restrisiken dürfen hier bestehen bleiben. Me r k e Gefahrenabwehr ist staatliche Aufgabe, diese ergibt sich aus der grundgesetzlich geregelten Schutzpflicht des Staates für Leben und körperliche Unversehrtheit sowie aus dem Sozialstaatsprinzip. Gefahrenabwehr bedeutet jedoch nicht, dass der Staat absolute Sicherheit gewährleisten muss. Die Gesetzgebungskompetenzen für die Gefahrenabwehr obliegen überwiegend den Bundesländern (› Kap. 2.3.3). Der Bund hat die Gesetzgebungsbefugnis für den Zivilschutz (Art. 73 Abs. 1 Nr. 1 GG), wobei Zivilschutz nur der Zivilschutz im Verteidigungsfall, also im Fall einer militärischen Auseinandersetzung ist. Zudem obliegt dem Bund die

Gesetzgebungskompetenz für die Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus (Art. 73 Abs. 1 Nr. 9a GG) sowie der Bund-Länder-Zusammenarbeit im Zusammenhang mit der Kriminalitätsbekämpfung und beim Verfassungsschutz (Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 GG). Wenn Gefahren ein großes Ausmaß erreichen, können einzelne Bundesländer und die dort bestehenden Strukturen schnell an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gelangen. Für diese Fälle sieht das Grundgesetz in Art. 35 GG eine Verpflichtung zur gegenseitigen Rechts- und Amtshilfe vor. Me r k e Die Gesetzgebungskompetenzen für den Brandschutz, Rettungsdienst, Katastrophenschutz und die Arbeit der Polizei liegen überwiegend bei den Bundesländern. Der Bund hat nur in den Bereichen Gesetzgebungskompetenzen, in denen ihm diese vom Grundgesetz explizit zugewiesen werden. Im Zusammenhang mit der Gefahrenabwehr betrifft dies insb. den Zivilschutz. Kommt es aufgrund einer Katastrophe oder einer Großschadenslage zu einer Überforderung des betroffenen Bundeslandes, bestehen umfassende Pflichten zur gegenseitigen Hilfe.

5.2 Feuerwehr Gesetzliche Regelungen zur Feuerwehr werden von den einzelnen Bundesländern erlassen. Daher finden sich in den einzelnen Bundesländern auch unterschiedliche Gesetze dazu. Da hier nicht auf jedes einzelne Landesgesetz eingegangen werden kann, erfolgt die Darstellung der Feuerwehr am Beispiel des Landesgesetzes aus

Nordrhein-Westfalen (Gesetz über den Brandschutz, die Hilfeleistung und den Katastrophenschutz – BHKG). Die Namen der Gesetze in den einzelnen Bundesländern unterscheiden sich leicht, und es gibt auch Unterschiede im Detail, jedoch ist die grundsätzliche Struktur im Hinblick auf die Aufgaben und die Organisation der Feuerwehr in vielen Bundesländern sehr ähnlich. Im Hinblick auf die Struktur ist zu bemerken, dass der Katastrophenschutz, der außerhalb des Zivilschutzes Ländersache ist, in einigen Bundesländern zusammen mit dem Brandschutz und sonstigen Hilfeleistungen in einem Gesetz geregelt wird (z. B. NRW). In anderen Bundesländern gibt es hingegen separate Gesetze für Brandschutz und Katastrophenschutz (z. B. Bayern).

5.2.1 Aufgaben der Feuerwehr Die Aufgaben der Feuerwehr lassen sich zunächst allgemein in vorbeugende und abwehrende Maßnahmen unterteilen. Entsprechend der Regelungen im BHKG können sie weiter in drei Bereiche aufgeteilt werden: • Vorbeugende und abwehrende Maßnahmen bzgl. Brandgefahren, • vorbeugende und abwehrende Maßnahmen bei Unglücksfällen oder öffentliche Notstände, die durch Naturereignisse, Explosionen oder ähnliche Vorkommnisse verursacht werden und • vorbeugende und abwehrende Maßnahmen bei Großeinsatzlagen und Katastrophen.

Wenn von Bränden die Rede ist, wird häufig zwischen sog. Schadensfeuern und Nutzfeuern unterschieden. Die Feuerwehr ist primär nur für die Bekämpfung von Schadensfeuern zuständig. Schadensfeuer sind solche Feuer, die selbstständig fortschreiten und unkontrollierbar sind, außerhalb einer Feuerstätte auftreten, keine nutzlosen Gegenstände betreffen und Personenschäden verursachen können. Nutzfeuer werden i. d. R. in einer dafür vorgesehenen Feuerstätte initiiert und betreffen nutzlose Gegenstände, die verbrannt werden. [1] Neben den Aufgaben in Bezug auf Brände haben Feuerwehren noch weitere Aufgaben. Dazu gehört z. B. die Hilfeleistung bei Unglücksfällen oder öffentlichen Notständen, die durch Naturereignisse, Explosionen oder ähnliche Vorkommnisse verursacht wurden. Die zur Konkretisierung der öffentlichen Notstände aufgeführten Naturkatastrophen, Explosionen und ähnliche Vorkommnisse dienen zur Abgrenzung von öffentlichen Notständen, deren Bewältigung anderen Institutionen obliegen, z. B. öffentliche Notstände durch randalierende Demonstranten, welche im Hinblick auf die Demonstranten eine polizeiliche Aufgabe sind. Weitere Aufgabe ist der Einsatz bei Großeinsatzlagen und Katastrophen. Bei diesen sind regelmäßig Leben oder Gesundheit zahlreicher Menschen und Tiere oder erhebliche Sachwerte gefährdet. Bei einer Katastrophe besteht die Gefährdung darüber hinaus noch in einem ungewöhnlichen Ausmaß, sodass die Zusammenarbeit einer Vielzahl von Behörden, Dienststellen, Organisationen und eingesetzter Kräfte unter einer einheitlichen Gesamteinsatzleitung erforderlich ist.

R e ch t in e c ht Während eines Festivals mit zehntausend Besucher*innen kam es zu starkem Sturm und Gewittern. Teile der Bühne drohten einzustürzen, und durch einen Blitzschlag wurden 50 Personen verletzt. Die Wetterlage und der Blitzschlag führten dazu, dass auf dem begrenzten Bereich des Festivalgeländes eine Vielzahl von Personen und Sachwerten gefährdet waren. Bei einem solchen Geschehen handelt es sich um eine Großeinsatzlage. Beim Hochwasser im Ahrtal im Jahr 2022 handelte es sich auch um ein Unwetterereignis. Durch das Unwetter und die dadurch verursachten Überflutungen waren eine Vielzahl von Menschenleben und Sachwerten in einem großen, nicht genau abgrenzbaren Gebiet betroffen. Die Schäden an der Infrastruktur (Wasserversorgung, Stromversorgung, Straßen, Schienen) führten zu erheblichen Versorgungsproblemen der Bevölkerung über einen längeren Zeitraum. Zur Bewältigung der Situation waren eine Vielzahl von Behörden und Organisationen eingebunden, die über einen längeren Zeitraum unter erheblichem Koordinierungsaufwand zusammenarbeiten mussten. Bei einem solchen Geschehen handelt es sich um eine Katastrophe. Die Feuerwehr ist nicht dazu verpflichtet, Folgeschäden zu beseitigen. Ist die Feuerwehr im Rahmen der Gefahrenabwehr tätig geworden und ist die Gefahr beseitigt, ist ihre Aufgabe erfüllt. R e ch t in e c ht (Fall 5.1) Anna ist Feuerwehrfrau und auf dem HilfeleistungsLöschgruppenfahrzeug (HLF) eingesetzt. Kurz vor Ende ihrer Schicht wird sie mit ihrem Team zu einem schweren

Verkehrsunfall mit eingeklemmter Person gerufen. Da die Feuerwehr stets für die Gefahrenabwehr und konkret für derartige Unglücksfälle zuständig ist, fährt das HLF sofort zum Einsatzort. Anna und ihre Kolleg *innen befreien die eingeklemmte Person, kümmern sich um auslaufende Betriebsstoffe und sichern die Einsatzstelle während des Einsatzes ab. Anschließend verlassen Anna und alle anderen Feuerwehrleute die Einsatzstelle. Der Abtransport der beschädigten Fahrzeuge gehört nicht mehr zur Gefahrenabwehr und folglich auch nicht zu den Aufgaben der Feuerwehr.

5.2.2 Schnittstelle Feuerwehr und Rettungsdienst Schnittstellen zwischen Rettungsdienst und Feuerwehr können u. a. in folgenden Einsatzsituationen in Betracht kommen: • Brände von Gebäuden mit potenzieller Personengefährdung (auch BMA-Alarmierung) • Einsätze, bei denen Einsatzkräfte der Feuerwehr besonders gefährdet sind, z. B. Brände, bei denen Atemschutzträger*innen im Einsatz sind • Verkehrsunfälle mit z. B. eingeklemmten Personen • Verkehrsunfälle mit auslaufenden Betriebs- oder Gefahrstoffen und einer daraus resultierenden Gefährdung • Naturkatastrophen, z. B. Rettung von Menschen aus Häusern bei Starkregen und Überflutungen • Infektionskrankheiten in Gemeinschaftseinrichtungen, z. B. Noro-Virus im Altenheim oder in der Jugendherberge

• Medizinische Not- und Unfälle im Straßenverkehr, die einer Absicherung durch die Feuerwehr bedürfen • Medizinische Not- und Unfälle, bei denen der Transport der Patient*innen einer technischen Hilfeleistung bedarf (z. B. Rettung aus Wohnung im Obergeschoss mit Drehleiter o. Ä., Türöffnungen) • Medizinische Not- und Unfälle, bei denen mehr personelle Ressourcen und besondere Hilfsmaterialien notwendig sind (z. B. Tragehilfe, lange Reanimationen)

5.2.3 Vorbeugender Brandschutz Der Rettungsdienst arbeitet i. d. R. in solchen Situationen mit der Feuerwehr zusammen, in denen bereits etwas passiert ist. Eine wesentliche Aufgabe der Feuerwehr und anderer Behörden ist es jedoch auch, die Entstehung von Bränden und Unglücksfällen zu verhindern. Schadensfeuer breiten sich unkontrolliert aus; aus einem anfänglich kleinen Brand können schnell Gefährdungen für ganze Stadtteile und eine Vielzahl von Menschenleben entstehen. Daher kommt dem vorbeugenden Brandschutz in vielen Brandschutzgesetzen eine bedeutsame Stellung zu. Beim vorbeugenden Brandschutz ist insb. der bauliche Brandschutz bedeutsam, zu diesem gehört im weiteren Sinne auch der anlagentechnische Brandschutz durch Sprinkleranlagen, Brandmeldeanlagen, Rauchabzüge, Rauchschutztüren, Feuerlöscher u. v. m. Darüber hinaus trägt der organisatorische Brandschutz dazu bei, gerade in Einrichtungen, in denen viele Menschen leben oder arbeiten, bei einem Brandalarm einen geregelten Ablauf

sicherzustellen, durch Evakuierungspläne, Aushänge, Fluchtpläne, Piktogramme, Brandschutzhelfer*innen u. v. m. R e ch t in e c ht Auch auf Rettungswachen finden sich einige der zuvor beschriebenen Einrichtungen des vorbeugenden Brandschutzes, z. B. Feuerlöscher und gekennzeichnete Fluchtwege. Pr axis tip p Beim Brand oder der Auslösung einer Brandmeldeanlage in größeren Objekten müssen sich Personen aus dem betroffenen Gebäude, entsprechend interner Evakuierungspläne, unverzüglich zu vorgesehenen Sammelplätzen begeben (organisatorischer Brandschutz). Diese Sammelplätze sind wie in › Abb. 5.2 abgebildet gekennzeichnet. An den Sammelplätzen sind oftmals Brandschutzhelfer*innen (organisatorischer Brandschutz) anzutreffen, die die Anwesenheit der Personen aus dem Gebäude oder einem Gebäudeteil feststellen. Diese Brandschutzhelfer*innen sind eine gute Auskunftsquelle darüber, ob alle Personen das Gebäude verlassen haben oder ob noch Personen vermisst werden.

ABB. 5.2 Kennzeichnung von Sammelplätzen [X333]

Regelungen zum baulichen Brandschutz finden sich nicht in den Landesgesetzen zum Brandschutz, sondern in den Landesbauordnungen und ergänzenden Bestimmungen. Die Wahrnehmung des baulichen Brandschutzes erfolgt in NRW durch die Brandschutzdienststelle, welche entweder bei der Gemeinde oder auf Ebene der Kreise angesiedelt sein kann. Die Feuerwehren übernehmen im Zusammenhang mit der Vorbeugung von Bränden zudem Aufgaben der Brandschutzerziehung, Brandschutzbegehungen sowie Brandsicherheitswachen bei Veranstaltungen.

Pr axis tip p Ist bei einer Veranstaltung eine Brandsicherheitswache vor Ort, kann diese eine erste und kompetente Ansprechpartner*in für den Rettungsdienst im Hinblick auf verletzte Personen, räumliche Gegebenheiten, bestehende Gefahren etc. sein. Brandsicherheitswachen können Anordnungen treffen, um Brände zu verhüten oder zu bekämpfen und um Rettungs- und Angriffswege zu sichern. Die Vorbereitung auf den Ernstfall spielt auch bei der Feuerwehr selbst eine große Rolle, indem Brandschutzbedarfspläne aufgestellt und im Rahmen der Einsatzvorbereitung Einsatzpläne mit Alarm- und Ausrückeordnungen (Alarmstichworte und Alarmstufen) entwickelt werden.

5.2.4 Struktur der Gesetze zum Brandschutz Gesetze zum Brandschutz beinhalten oftmals Regelungen zu folgenden Themenbereichen: • Aufgaben der Feuerwehr • Träger der Feuerwehr • Weitere Aufgabenträger • Struktur der Feuerwehr • Vorbeugender Brandschutz • Leitstelle • Einsatzleitung und Befugnisse der Feuerwehr • Ggf. Regelungen zu Großeinsatzlagen und Katastrophen • Pflichten der Bevölkerung • Amtshilfe

5.2.5 Aufgaben der Gemeinden Die Organisation von Brandschutz und Hilfeleistung liegt in der Gesetzgebungskompetenz der Bundesländer (Art. 30, 70 GG). Charakteristisch für die Verantwortung für den Brandschutz und die Hilfeleistung vor Ort ist das Örtlichkeitsprinzip, als Folge des Subsidiaritätsprinzips (› Kap. 3.2.1). Dies bedeutet, dass die Gemeinden, als kleinste Einheit unter den Gebietskörperschaften, hier originär verantwortlich sind. Den Gemeinden obliegt in diesem Zusammenhang ein Sicherstellungsauftrag für eine den örtlichen Verhältnissen entsprechende leistungsfähige Feuerwehr. A c ht u ng Auch hier taucht wieder der Begriff „Sicherstellungsauftrag“ auf. Dieser wurde bereits in den Kapiteln Gesundheitswesen (› Kap. 3.4) und Rettungsdienst (› Kap. 3.10) angesprochen. Hierbei handelt es sich um einen wichtigen Begriff, der Mitarbeitenden des Rettungsdienstes in den unterschiedlichen Kontexten bekannt sein muss. Der Sicherstellungsauftrag wird durch die Erstellung von Brandschutzbedarfsplänen und Plänen für den Einsatz der Feuerwehr umgesetzt. Aus den entsprechenden Brandschutzbedarfsplänen ergibt sich u. a. die konkrete Zahl und der Ort von Feuerwachen, die Anzahl und Art von erforderlichen Fahrzeugen und des erforderlichen Personals. Der Sicherstellungsauftrag umfasst auch Pflichten im Zusammenhang mit der Warnung der Bevölkerung. Me r k e

Der Sicherstellungsauftrag im Rahmen des Brandschutzes wird u. a. durch die Aufstellung und Fortschreibung durch Brandschutzbedarfspläne umgesetzt. Der Sicherstellungsauftrag im Rettungsdienst wird u. a. durch die Aufstellung und Fortschreibung von Rettungsdienstbedarfsplänen umgesetzt. Neben der Errichtung und Unterhaltung einer leistungsfähigen Feuerwehr gehört es auch zu den Aufgaben der Gemeinden, Maßnahmen zur Verhütung von Bränden zu treffen und eine Löschwasserversorgung sicherzustellen, die den örtlichen Verhältnissen angemessen ist. Die Verhütung von Bränden beginnt schon beim Wissen und den Kompetenzen der Einwohner*innen einer Gemeinde, daher obliegt den Gemeinden auch die Aufgabe, für eine Brandschutzerziehung der Einwohner*innen Sorge zu tragen, welche die Verhütung von Bränden, den sachgerechten Umgang mit Feuer sowie das Verhalten bei Bränden beinhalten soll. Die Mitgliederstruktur der Feuerwehr in Gemeinden ist überwiegend ehrenamtlich geprägt. In den Gesetzen zum Brandschutz finden sich häufig spezielle Regelungen dafür, dass Ehrenamt zu fördern (z. B. § 9 Abs. 3 BHKG). Ehrenamtlichen Mitgliedern der Feuerwehren dürfen keine Nachteile durch ihr Ehrenamt entstehen. Dies umfasst die Pflicht von Arbeitgeber*innen, ehrenamtliche Mitglieder der Feuerwehren für Einsätze, Übungen und Fortbildungen freizustellen, sowie die Pflicht zur Lohnfortzahlung im Rahmen dieser Freistellungen. Die für die Zeiten der Abwesenheit gezahlten Löhne können jedoch auf Antrag von der Gemeinde erstattet werden.

In NRW gelten die Vorgaben für Gemeinden ebenfalls für kreisfreie Städte.

5.2.6 Aufgaben der Kreise Gemeinden sind oftmals klein und die finanziellen Möglichkeiten sind begrenzt. Aus diesem Grund sind Kreise verpflichtet, Einheiten und Einrichtungen für den Brandschutz und die Hilfeleistung für den überörtlichen Bedarf bereitzuhalten (z. B. Abrollcontainer Atemschutz, ELW 2, mobile Tankstelle, Sandsackfüllmaschine, Sonderlöschmittel). Zudem haben die Kreise die Aufgabe, kreisangehörige Gemeinden bei der Wahrnehmung der diesen obliegenden Aufgaben zu beraten und unterstützen. Die Unterstützung kann darin bestehen, dass Einrichtungen für alle gemeindlichen Feuerwehren bereitgehalten und betrieben werden, z. B. Werkstätten (für Atemschutz, Fahrzeuge und Funk), Schlauchpflege. Die Kreise sind zudem für die weitergehende Ausund Fortbildung der Angehörigen der Feuerwehr der kreisangehörigen Gemeinden verantwortlich. Die Grundausbildung obliegt hingegen den Gemeinden. Auch im Hinblick auf Großeinsatzlagen und Katastrophen (› Kap. 5.4) haben die Kreise Aufgaben und Kompetenzen. Darüber hinaus unterhalten sie eine einheitliche Leitstelle für Brandschutz, Hilfeleistung, Katastrophenschutz und Rettungsdienst. Me r k e Beim Brandschutz haben die Kreise einerseits eigene Aufgaben wie die Organisation der überörtlichen Hilfe, andererseits Unterstützungsaufgaben für die kreisangehörigen Gemeinden, z. B. Beratung der kreisangehörigen Gemeinden.

5.2.7 Aufgaben der Bundesländer Die Bundesländer übernehmen übergeordnete Aufgaben für den Brandschutz und die Hilfeleistungen. Eine wichtige Aufgabe ist dabei, die Gemeinden und Kreise bei ihrer Aufgabenwahrnehmung durch Zuwendungen zu unterstützen. Darüber hinaus werden von den Bundesländern eigene Maßnahmen zur Organisation und Konzeptionierung landesweiter Hilfe getroffen, zu diesem Zweck werden entsprechende Alarm- und Einsatzpläne sowie Landeskonzepte entwickelt (z. B. Konzept Behandlungsplatz, Konzept Betreuungsplatz). Für Großschadenslagen und Katastrophen werden Krisenstäbe vorgehalten, die bei entsprechenden Einsatzlagen schnell die Arbeit aufnehmen können. In vielen Bundesländern gibt es eine zentrale Aus- und Fortbildungseinrichtung, in der auch geforscht wird und neue Konzepte für Brandschutz, Hilfeleistung und Katastrophenschutz entwickelt werden. In NRW übernimmt diese Tätigkeit das Institut der Feuerwehr in Münster.

5.2.8 Arten von Feuerwehren Es gibt verschiedene Arten von Feuerwehren: • Betriebsfeuerwehren Diese sind für den Schutz eigener Anlagen und der Mitarbeitenden zuständig. Die Mitglieder der Betriebsfeuerwehr sind Betriebsangehörige. • Werkfeuerwehren Werkfeuerwehren sind staatlich anerkannte oder angeordnete Feuerwehren. Sie werden dann eingerichtet, wenn in einem

Unternehmen die Gefahr eines Brandes oder einer Explosion besonders hoch ist. • Berufsfeuerwehren Berufsfeuerwehren haben hauptamtliches Personal. In NRW besteht für kreisfreie Städte die Pflicht zur Einrichtung und Unterhaltung einer Berufsfeuerwehr. Große kreisangehörige Gemeinden können eine Berufsfeuerwehr einrichten. • Freiwillige Feuerwehren Die überwiegende Zahl von Feuerwehren sind freiwillige Feuerwehren und werden durch ehrenamtliche Kräfte getragen. Freiwillige Feuerwehren können hauptamtlich besetzte Wachen einrichten. Dazu verpflichtet sind in NRW mittlere und große kreisangehörige Gemeinden, hier sind jedoch auch Ausnahmen möglich. Kommt in einer Gemeinde keine freiwillige Feuerwehr zustande oder kann eine bestehende öffentliche Feuerwehr einen ausreichenden Brandschutz nicht gewährleisten, kann eine Pflichtfeuerwehr eingerichtet werden. Dazu können alle Einwohner*innen vom vollendeten 18. Lebensjahr bis zum vollendeten 60. Lebensjahr herangezogen werden. Ausnahmen hiervon sind möglich, wenn ein wichtiger Grund vorliegt oder die betreffenden Personen z. B. bereits Mitglieder einer Hilfsorganisation oder bei der Polizei tätig sind.

5.2.9 Hierarchien bei der Feuerwehr Auf Gemeindeebene gibt es eine Leiter*in der freiwilligen Feuerwehr sowie Stellvertreter*innen. Die Leiter*in einer freiwilligen Feuerwehr ist auch Vorgesetzte einer hauptamtlich

besetzten Wache. Leiter*innen einer freiwilligen Feuerwehr werden vom Gemeinderat bestellt, die Ernennung erfolgt durch die Bürgermeister*in. Die Amtszeit ist zeitlich begrenzt, in NRW beträgt sie aktuell sechs Jahre. Besteht eine freiwillige Feuerwehr neben einer Berufsfeuerwehr, obliegt die Führung der freiwilligen Feuerwehr der Leiter*in der Berufsfeuerwehr. Auf Kreisebene wird eine Kreisbrandmeister*in ernannt. Diese unterstützt die Landrät*in bei der Aufsicht über die kreisangehörigen Feuerwehren und bei den dem Kreis übertragenen Aufgaben. Diese Stelle kann haupt- oder ehrenamtlich besetzt werden. In NRW gibt es noch Bezirksregierungen, in diesen wird eine Bezirksbrandmeister*in eingerichtet, welche die Bezirksregierung bei der Aufsicht unterstützt. Berufsfeuerwehren haben eine hauptamtliche Leitungsstruktur mit einer Leiter*in der Feuerwehr, Stellvertreter*in und weiteren Führungsstrukturen.

5.2.10 Leitstelle Die Aufgabe zur Einrichtung und zum Betrieb einer ständig besetzten Leitstelle für den Brandschutz, die Hilfeleistung, den Katastrophenschutz sowie den Rettungsdienst obliegt in NRW den Kreisen und kreisfreien Städten. Diese ist unter der europaweit einheitlichen Notrufnummer 112 erreichbar. Eine Vorwahl muss nicht gewählt werden. In anderen Bundesländern, z. B. Niedersachsen und SchleswigHolstein, wird explizit die Möglichkeit eröffnet, dass mehrere kommunale Träger gemeinsam eine Leitstelle betreiben können.

Davon wird auch bereits in größerem Umfang Gebrauch gemacht, z. B. mit der Großleitstelle Oldenburger Land in Niedersachsen. Leitstellen nehmen Notrufe entgegen und alarmieren die erforderlichen Einsatzkräfte entsprechend der aufgestellten Alarmierungspläne. Reichen die zur Verfügung stehenden Kräfte nicht aus, organisiert die Leitstelle überörtliche Hilfe. Mitarbeitende in Leitstellen müssen grds. über eine feuerwehrtechnische Ausbildung verfügen sowie darüber hinaus eine ergänzende Ausbildung für die Tätigkeit in der Leitstelle. Für Zwecke der Abwicklung von Einsätzen, zur Beweissicherung und zum Beschwerdemanagement dürfen eingehende Sprachanrufe und andere Notrufe aufgezeichnet werden, ebenso wie der Funkverkehr. Me r k e Bundesweit üblich sind inzwischen integrierte Leitstellen, also Leitstellen für Feuerwehr, Katastrophenschutz und Rettungsdienst.

5.2.11 Einsatzleitung bei der Feuerwehr Die Einsatzleitung der Einsätze der Feuerwehren wird von durch die Gemeinde bestellten Einsatzleiter*innen übernommen. Bis zum Zeitpunkt des Eintreffens erfolgt die Leitung des Einsatzes durch die zuerst am Einsatzort eintreffende Einsatzführer*in. Bei größeren Einsatzlagen wird die Einsatzleitung durch Führungsassistent*innen und Hilfskräfte unterstützt. Bei einem gemeinsamen Einsatz von Feuerwehr, Katastrophenschutz und/oder Rettungsdienst ist die Einsatzleitung

so zu organisieren, dass ein abgestimmtes Handeln unter einheitlicher Leitung gewährleistet ist. Diese Einsatzleitung übernimmt dabei oftmals die Feuerwehr. Darunter werden dann verschiedene Einsatzabschnitte mit fachbezogenen Leitungspositionen gebildet. Den Einsatzabschnitt Rettungsdienst leitet für gewöhnlich ein OrgL (Organisatorische Leiter*in Rettungsdienst). OrgL sind dabei jedoch grds. den Weisungen der Einsatzleitung der Feuerwehr unterstellt, sofern es sich nicht ausschließlich um eine medizinische Lage handelt, z. B. ein Norovirus-Ausbruch in einer Gemeinschaftseinrichtung mit einer Vielzahl von Betroffenen. Die Feuerwehr übernimmt die Einsatzleitung auch dann nicht, wenn es Gründe gibt, dass die Polizei die Einsatzleitung übernehmen muss. Im Rahmen eines Einsatzes sind die vorgegebenen Befehls- und Meldewege einzuhalten. Die Führung der Feuerwehr ist im Einsatz hierarchisch organisiert und erfolgt von Führungskräften vor Ort, also an der Einsatzstelle. Diese Hierarchie erkennt man an der Kennzeichnung mit entsprechenden Westen (› Abb. 5.3). Anhand der Kennzeichnung der Helme lässt sich die Qualifikation der Einsatzkräfte feststellen. Im Einsatz kann es immer nur eine Einsatzleiter*in der Feuerwehr geben. Jedes Fahrzeug der Feuerwehr ist mit einer Gruppenführer*in besetzt. Sind mehrere Fahrzeuge im Einsatz, gibt es über den Gruppenführer*innen der Fahrzeuge eine einheitliche Einsatzleitung, die i. d. R. mit einem Einsatzleitwagen (ELW) mit zur Einsatzstelle fährt.

ABB. 5.3 Kennzeichnungswesten nach der Empfehlung des Deutschen Feuerwehrverbandes (Auszug) (gelbe Weste: Einsatzleiter*in; weiße Weste: Einsatzabschnittsleiter*in; rote Weste: Zugführer*in) [M1347]

Pr axis tip p Bei einem gemeinsamen Einsatz mit der Feuerwehr ist die jeweilige Einsatzleiter*in der Feuerwehr zentrale Ansprechpartner*in auch für den Rettungsdienst. Die Einsatzleitung erkennt man an einer speziellen Kennzeichnung durch eine entsprechende Weste. In vielen

Einsatzsituationen ist die Feuerwehr mit einem als solchen gekennzeichneten ELW vor Ort. Wer die Einsatzleitung bei einem Einsatz hat, entscheidet sich auch hier danach, um was für eine Art von Lage es sich handelt. Handelt es sich um eine Lage nach Feuerwehrgesetz, z. B. einen Brand oder eine Rettung aus großer Höhe, liegt die Einsatzleitung bei der Feuerwehr. Handelt es sich um eine Lage nach RettG, obliegt die Einsatzleitung dem Rettungsdienst, z. B. eine verletzte Person in unwegsamem Gelände. In einzelnen Bundesländern kann es abweichende Regelungen geben. Soziale Kompetenz und Kommunikationsfähigkeit sind bei größeren Einsatzlagen von besonderer Bedeutung. Andere beteiligte Institutionen müssen frühzeitig in Planungs- und Entscheidungsprozesse miteinbezogen werden.

5.2.12 Amtshilfe Amtshilfe bedeutet, dass sich Behörden gegenseitig unterstützen. Sie kann auf verschiedenen Ebenen stattfinden. Voraussetzung ist, dass die Behörde, die Amtshilfe benötigt, die Behörde, die Amtshilfe leisten soll, darum ersucht. Sofern keine rechtlichen oder tatsächlichen Hindernisse bestehen, besteht eine Verpflichtung zur Leistung von Amtshilfe. Diese Amtshilfe kann insb. bei Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung sowie bei Naturkatastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen relevant werden. In diesen Fällen können Kräfte des Bundes oder

anderer Bundesländer zur Bewältigung der Gefahrenlage angefordert werden. Rechtliche Grundlage für die Verpflichtung zur Amtshilfe ist Art. 35 GG. Zudem findet sich die Verpflichtung zur Amtshilfe auch in den Landesgesetzen zum Brandschutz sowie in den Verwaltungsverfahrensgesetzen der Bundesländer (z. B. §§ 4–8 Verwaltungsverfahrensgesetz NRW). Die Amtshilfe kann im Rahmen der überörtlichen oder nachbarschaftlichen Hilfe in Betracht kommen, wenn z. B. die Kapazitäten von Feuerwehr oder Rettungsdienst bei einem Einsatz nicht ausreichen, um die Einsatzlage zu bewältigen. Für diese Situation gibt es in vielen Bundesländern auch bestehende Einsatzkonzepte, z. B. Konzept für vorgeplante überörtliche Hilfe im Brandschutz und der Hilfeleistung durch Feuerwehren in NRW. Amtshilfe kann jedoch auch zwischen verschiedenen Institutionen innerhalb einer Gemeinde oder eines Kreises zum Tragen kommen. Benötigt der Rettungsdienst z. B. Unterstützung beim Retten einer Person aus unwegsamem Gelände, kann im Rahmen der Amtshilfe auf die Feuerwehr zurückgegriffen werden. Dies gilt auch, wenn Kranke oder Verletzte aus Gebäuden mittels Drehleiter gerettet werden müssen. Bei medizinischen Einsätzen auf Autobahnen fahren in einigen Regionen Fahrzeuge der Feuerwehr mit, um den Einsatz des Rettungsdienstes abzusichern. Bei der Tätigkeit im Rettungsdienst ist es sehr wahrscheinlich, dass es in diesem Zusammenhang regelmäßig zu einer Zusammenarbeit mit der Feuerwehr kommt. Die ersuchende Stelle ist für die Rechtmäßigkeit der Anordnung von Amts- oder Vollzugshilfemaßnahmen

verantwortlich. Die Amts- oder Vollzugshilfe leistende Stelle ist jedoch für die rechtmäßige Durchführung der Amts- bzw. Vollzugshilfemaßnahme verantwortlich.

5.2.13 Besondere Befugnisse der Feuerwehr Zur Erfüllung ihrer Aufgaben hat die Feuerwehr eine Vielzahl von Befugnissen, die auch mit einer Einschränkung von Grundrechten einhergehen können. Eine besondere Rolle kommt in diesem Zusammenhang der Einsatzleitung zu: Sie hat alle Befugnisse einer Ordnungsbehörde, soweit die Polizei oder andere Stellen nicht in der Lage sind, entsprechende Maßnahmen zu treffen (§ 34 Abs. 2 BHKG). Die Einsatzleitung kann insb. das Betreten des Einsatzgebietes oder einzelner Einsatzbereiche verbieten und Personen von dort verweisen. Dies ist möglich, um Gefährdungen für diese Personen und Störungen des Einsatzes zu vermeiden. Zu diesen Zwecken dürfen Einsatzbereiche gesperrt oder geräumt werden. Daher ist die Feuerwehr z. B. bei einem Verkehrsunfall befugt, die direkte Einsatzstelle für den Verkehr zu sperren. Für sonstige verkehrsregelnde Maßnahmen und Umleitungen des Verkehrs ist jedoch die Polizei zuständig. Die Einsatzleitung muss die Maßnahmen nicht selbst veranlassen, sondern kann Personen damit beauftragen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass die Einsatzleitung im Übrigen keine polizeilichen Befugnisse hat; sie ist insb. nicht zur Strafverfolgung berechtigt. Die Einsatzleitung kann Personen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, zur Hilfeleistung bei Bränden, Unglücksfällen

oder öffentlichen Notständen verpflichten (§ 43 Abs. 1 BHKG). Zudem können dringend benötigte Hilfsmittel, insb. Fahrzeuge und Geräte, von jedermann gefordert werden (§ 43 Abs. 2 BHKG). Wird der Einsatz durch Gegenstände, z. B. geparkte Fahrzeuge, behindert, besteht die Verpflichtung, diese entweder selbst zu entfernen oder deren Entfernung durch die Einsatzkräfte zu dulden (§ 43 Abs. 3 BHKG).

5.2.14 Pflichten der Bevölkerung Auch der Bevölkerung obliegen Pflichten. So hat sich jede Person so zu verhalten, dass Menschen und erhebliche Sachwerte nicht gefährdet werden (§ 41 BHKG). Ist es bereits zu einer Gefahr, z. B. einem Brand, gekommen, ist jede Person verpflichtet, die bestehende Gefahr zu bekämpfen, soweit ihr dies zumutbar ist (§ 41 BHKG). Diese Pflicht korrespondiert mit der allgemeinen Hilfeleistungspflicht, die in § 323c StGB geregelt ist (› Kap. 7.2.2). Auch dort wird eine Hilfeleistung bei Unglücksfällen im Rahmen des Zumutbaren gefordert. Zudem besteht eine Meldepflicht in Fällen, in denen ein Schadensfeuer, ein Unglücksfall oder ein anderes Ereignis bemerkt wird, durch welches Menschen oder erhebliche Sachwerte gefährdet werden. Die Meldung muss unverzüglich über die Notrufe 112 oder 110 erfolgen (§ 42 BHKG). Alle Personen, die an Hilfsmaßnahmen oder Übungen nicht beteiligt sind, dürfen diese nicht stören. Sie sind verpflichtet, den Anweisungen der Einsatzleitung Folge zu leisten (§ 43 Abs. 5 BHKG). Eigentümer*innen von Grundstücken, Gebäuden etc., die durch Schadensfeuer, Unglücksfälle oder öffentliche Notstände

betroffen sind, müssen alle Maßnahmen der Einsatzkräfte zur Abwehr der Gefahr dulden. Diese Verpflichtung betrifft auch die Eigentümer*innen umliegender Grundstücke und Gebäude (§ 44 BHKG). Wird gegen die vorstehenden Pflichten verstoßen, können Bußgelder gegen die Betroffenen verhängt werden. In NRW kann dies aktuell ein Bußgeld von bis zu 50.000 Euro bedeuten. Im Detail bestehen noch eine Vielzahl weiterer Rechte der Feuerwehr bzw. Pflichten der Bevölkerung, z. B. in den Bereichen Informationserhebung, Informationsverarbeitung und der Weitergabe von Daten. Eine Übersicht über die Strukturen und Aufgaben der Feuerwehr ist in › Abb. 5.4 dargestellt.

ABB. 5.4 Übersicht Feuerwehr [L157]

R e ch t in e c ht (Fall 5.2) Gertrud wohnt in einem Mehrfamilienhaus. In einer angrenzenden, leerstehenden Wohnung bricht ein Feuer aus. Gertrud ist die erste, die das Feuer bemerkt. Sie ist nun verpflichtet, unverzüglich über die 112 die Feuerwehr zu alarmieren. Im Verlauf der Löscharbeiten wird Gertrud von dem Feuerwehrmann Kadir angewiesen, ihre Wohnung zu verlassen. Kadir wurde von der Einsatzleitung dazu beauftragt, diese

Weisung auszusprechen. Gertrud ist nun verpflichtet, den Anweisungen von Kadir nachzukommen. Allerdings weigert sich Gertrud vehement, aus ihrer Wohnung zu gehen. Da sie dadurch den Einsatz stört, kann sie von der Einsatzstelle verwiesen werden und hat dieser Vorgabe Folge zu leisten. Eine Strafverfolgung durch die Einsatzleitung ist nicht möglich. Allerdings kann die Einsatzleitung Anzeige gegen sie erstatten. Die Verfolgung dieser möglichen Straftat obliegt dann der Polizei.

5.3 Polizei Die Polizei arbeitet auf unterschiedlichen gesetzlichen Grundlagen. Im Rahmen der Gefahrenabwehr erfolgt die Arbeit der Polizei i. d. R. auf Grundlage der Polizeigesetze der Bundesländer. Geht es um die Verfolgung von Straftaten, ist die Grundlage der Arbeit der Polizei die Strafprozessordnung (StPO). Weitere wichtige Aufgaben der Polizei sind die Amts- und Vollzugshilfe für andere Behörden. Me r k e Die Polizei hat eine Doppelfunktion: Bei der Gefahrenabwehr geht es um Prävention, bei der Strafverfolgung geht es um Repression. Darüber hinaus leistet die Polizei anderen Behörden Amts- und Vollzugshilfe. Weitere Rechtsgrundlagen für die polizeiliche und nichtpolizeiliche Gefahrenabwehr auf Bundesebene sind u. a. • Bundespolizeigesetz

• Waffen- und Sprengstoffrecht • Aufenthalts- und Asylrecht • Infektionsschutzgesetz • Lebensmittelrecht • Immissions- und Abfallbeseitigungsrecht Alle diese Regelungsbereiche dienen der Gefahrenabwehr in den jeweils spezifischen Bereichen.

5.3.1 Organisation der Polizei auf Bundes- und Landesebene Bei der Organisation der Polizei kann nach Organisation auf Bundesebene und auf Ebene der Bundesländer unterschieden werden. Bundesbehörden Bundesbehörden der polizeilichen Gefahrenabwehr sind insb. die Bundespolizei und das Bundeskriminalamt. Mit der Bundespolizei kann der Rettungsdienst v. a. dann in Berührung kommen, wenn es sich um einen Einsatz an Grenzen, Häfen, Flughäfen und auf Bahnanlagen handelt. Darüber hinaus kann die Bundespolizei auch zur Unterstützung der Landespolizei im Einsatz sein. Das Bundeskriminalamt (BKA) hat die Aufgabe, die Bundesländer zu unterstützen und länderübergreifende Aufgaben zu koordinieren. Eine besondere Rolle spielt die Arbeit des BKA auch bei der Bekämpfung von Straftaten mit internationalem Bezug und des Terrorismus.

Behörden in den Bundesländern Auf Ebene der Bundesländer kann zunächst zwischen Ordnungsbehörden und der Polizei unterschieden werden. Dabei ist die Polizei auf Landesebene organisiert, die Ordnungsbehörden sind im Gegensatz dazu auf kommunaler Ebene angesiedelt. Ordnungsbehörden sind auch im Rahmen der polizeilichen Gefahrenabwehr tätig. Rechtsgrundlage für ihre Arbeit sind die Ordnungsbehördengesetze der Bundesländer. Die Arbeit der Ordnungsbehörden ist gekennzeichnet durch Innendienst, Ortsferne, das Agieren durch Verwaltungsakte und schriftliches Vorgehen. Ordnungsbehörden teilen sich auf in allgemeine Ordnungsbehörden und Sonderordnungsbehörden, z. B. Bauaufsicht, Gewerbeaufsicht. Mit der örtlichen Ordnungsbehörde kommt der Rettungsdienst in vielen Gemeinden dann in Kontakt, wenn es um Unterbringungen nach PsychKG (› Kap. 10.2) geht. Die Arbeit der Polizei ist im Vergleich zu den Ordnungsbehörden geprägt durch Außendienst, Tätigkeit direkt am Ort der Gefahr, direktes und informelles Vorgehen.

5.3.2 Führung von Einsätzen Einsätze von Rettungsdienst und Feuerwehr werden durch Führungsstrukturen an der Einsatzstelle geführt (› Kap. 5.1). Die Einsatzführung bei der Polizei erfolgt bei größeren Lagen durch die Leitstelle oder durch einen Stab, der je nach Einsatzlage gebildet wird, jedoch nicht an der Einsatzstelle vor Ort ist. Bei kleineren Einsätzen gibt es auf jedem Fahrzeug eine sog. Streifenführer*in, die für das entsprechende Fahrzeug die Leitungsfunktion innehat. Bei

Einsätzen mit einer begrenzten Anzahl von Fahrzeugen obliegt die Leitung der Dienstgruppenleiter*in, die dann i. d. R. auch mit vor Ort an der Einsatzstelle ist. Je nach Einsatzsituation wird eine Besondere Aufbauorganisation (BAO) gebildet, dies geschieht beispielsweise bei Bedrohungslagen, z. B. Amoklagen. Pr axis tip p Bei kleinen übersichtlichen Einsatzlagen können die vor Ort eingesetzten Polizeidienstkräfte Entscheidungen i. d. R. selbst treffen. Bei größeren und komplexeren Einsatzlagen kann es für den Rettungsdienst jedoch schwierig sein, vor Ort einen entscheidungsfähigen Ansprechpartner der Polizei zu finden. Müssen Entscheidungen getroffen werden, kann dies u. U. etwas dauern, gerade wenn die entscheidungsbefugte Einsatzleitung selbst nicht vor Ort ist. Im Gegensatz zur Feuerwehr und dem Rettungsdienst gibt es bei der Polizei i. d. R. keine äußerlich erkennbare Kennzeichnung der Einsatzleitung. Einsatzleitung bei der Zusammenarbeit mit der Polizei Wer die Einsatzleitung bei einem Einsatz hat, entscheidet sich auch hier insb. danach, um was für eine Art von Lage es sich handelt. Bei einer Lage nach Polizeigesetz, z. B. in einer Amoklage oder wenn eine unverletzte Person droht sich umzubringen, hat die Polizei die Einsatzleitung. Handelt es sich um eine Lage nach RettG, obliegt die Einsatzleitung dem Rettungsdienst, z. B. eine verletzte orientierungslose Person, die versorgt werden muss, aber um sich schlägt. Auch hier gilt wieder, dass die Institution, die die Einsatzleitung hat, für die Rechtmäßigkeit der Anordnung von Amts-

oder Vollzugshilfemaßnahmen verantwortlich ist. Die Amts- oder Vollzugshilfe leistende Institution ist jedoch für die rechtmäßige Durchführung der Amts- bzw. Vollzugshilfemaßnahmen verantwortlich. Hier lässt sich abermals unterstreichen, dass soziale Kompetenz und Kommunikationsfähigkeit bei größeren Einsatzlagen von besonderer Bedeutung sind. Andere beteiligte Institutionen müssen frühzeitig in Planungs- und Entscheidungsprozesse miteinbezogen werden.

5.3.3 Aufgaben der Polizei Die Polizei hat bei der Gefahrenabwehr die Aufgabe, Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung abzuwehren (z. B. § 1 PolG NRW). Private Rechte werden nur geschützt, sofern andere Hilfe nicht zur Verfügung steht. Zudem leistet die Polizei Vollzugshilfe für andere Behörden. Vollzugshilfe ist ein Unterfall der Amtshilfe, sie kommt dann in Betracht, wenn es um die Anwendung unmittelbaren Zwangs geht. Unmittelbarer Zwang ist das stärkste Zwangsmittel in der Verwaltungsvollstreckung. Durch ihn wird direkt auf den Körper eines Menschen oder Sachen eingewirkt, um eine Handlung, Duldung oder Unterlassung zu erzwingen. Für die Anwendung unmittelbaren Zwangs stehen der Polizei verschiedene Mittel zur Verfügung, z. B. Körperkraft, Handschellen, Reizstoffe. Dies ist auch ein Einsatzszenario, bei dem der Rettungsdienst auf die Vollzugshilfe der Polizei angewiesen sein kann, denn der Rettungsdienst ist nicht berechtigt, unmittelbaren Zwang anzuwenden (› Kap. 10.2.2). R e ch t in e c ht (Fall 5.3) Notfallsanitäter Fabian und Rettungssanitäter Till sind im Einsatz und versorgen eine schwer verletzte Patientin in einem

öffentlichen Park. Es ist nicht möglich, mit dem RTW in den Park zu fahren, sodass dieser etwas weiter weg geparkt werden muss. Aufgrund der Verletzungen der Patientin kann diese nicht gleich in den RTW gebracht werden, sondern muss vor Ort versorgt werden. Dabei wird die Versorgung durch eine dritte Person massiv gestört. Trotz mehrfacher Aufforderung lässt diese nicht von den Störungen ab, sodass Fabian und Till die Polizei nachfordern. Als die Polizei endlich eintrifft, sichern zwei Beamtinnen den Einsatz des Rettungsdienstes und erteilen der Person einen Platzverweis. Nachdem die störende Person auch diesem nicht nachkommt, wird sie von der Polizei mit unmittelbarem Zwang daran gehindert, den Notfalleinsatz weiter zu behindern. Die Arbeit der Polizei im Rahmen der Gefahrenabwehr umfasst auch den Schutz der Individualrechtsgüter Leib, Leben und Gesundheit. Dies kann in Bezug auf die Zusammenarbeit mit dem Rettungsdienst dann relevant sein, wenn eine Person im Zustand der Willenlosigkeit versucht, sich selbst zu verletzen. Der Schutz von Personen vor sich selbst im Falle solcher Einsatzsituationen gehört auch zu den Aufgaben der Polizei bzw. gehört zur Schutzplicht des Staates für den Einzelnen (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, › Kap. 2.2.2). Die Polizei ist immer dann zur Ergreifung von Maßnahmen im Rahmen der Gefahrenabwehr berechtigt, wenn eine Gefahr für die zuvor genannten Schutzgüter droht. Eine Gefahr liegt immer dann vor, wenn eine Schädigung eines der Schutzgüter hinreichend wahrscheinlich ist. Unterschiedliche Eingriffe erfordern teilweise unterschiedliche Arten von Gefahren, z. B. eine konkrete Gefahr,

eine dringende Gefahr, eine erhebliche Gefahr, Gefahr in Verzug, oder ein Gefahrenverdacht. Die Polizei hat im Hinblick auf Gefahren sowohl Befugnisse, um Gefahren aufzuklären, also zunächst einmal Klarheit darüber zu gewinnen, ob tatsächlich eine Gefahr vorliegt, als auch Befugnisse, um eine Gefahr zu beseitigen. Darüber hinaus hat die Polizei noch eine Vielzahl anderer Aufgaben, wie die Verhütung von Straftaten mittels Gefährderansprachen, Strafverfolgung, Verkehrsregelung und Verkehrsüberwachung u. v. m.

5.3.4 Befugnisse der Polizei Zur Erfüllung ihrer Aufgaben hat die Polizei eine Vielzahl von Befugnissen. Da Maßnahmen der Polizei häufig mit Eingriffen in Grundrechte verbunden sind, müssen diese eine gesetzliche Grundlage haben. Somit sind viele Maßnahmen, die im Rahmen der polizeilichen Arbeit regelmäßig zum Tragen kommen, speziell gesetzlich geregelt. Diese Regelungen sind die sog. Standardmaßnahmen. Zu ihnen gehören z. B. die Identitätsfeststellung, die Durchsuchung, der Platzverweis, die Sicherstellung, der Gewahrsam etc. Da die polizeiliche Arbeit sehr vielfältig ist und die Polizei immer wieder mit neuen Situationen konfrontiert wird, gibt es neben den Standardmaßnahmen noch die sog. Generalklausel. Nach dieser darf die Polizei notwendige Maßnahmen treffen, um eine im einzelnen Fall bestehende konkrete Gefahr abzuwehren, soweit nicht in den definierten Standardmaßnahmen besondere Befugnisse geregelt sind.

5.3.5 Zusammenarbeit zwischen Polizei und Rettungsdienst Wie zuvor geschildert kann die Polizei bei Eingriffen in Grundrechte von gesetzlich festgelegten Standardmaßnahmen Gebrauch machen. Diese können bei der rettungsdienstlichen Tätigkeit hilfreich sein. Aus der Zusammenarbeit zwischen Polizei und Rettungsdienst können sich jedoch auch Konflikte ergeben. Dies kann insb. in Situationen relevant sein, in denen der Rettungsdienst gegenüber der Polizei Angaben zu Tatsachen machen soll, die der Verpflichtung zur Verschwiegenheit unterliegen (› Kap. 7.5.5). Identitätsfeststellung Die Identitätsfeststellung ist eine polizeiliche Standardmaßnahme. Sie kann im Zusammenhang mit einem Einsatz des Rettungsdienstes bedeutsam sein, wenn eine Patient*in bewusstlos oder im Zustand der Willenlosigkeit ist und keine Angaben zu ihrer Person machen kann. Sie kann jedoch auch dann bedeutsam sein, wenn eine Patient*in im Zusammenhang mit einer Versorgung nicht bereit ist, notwendige personenbezogene Daten für die Dokumentation und Abrechnung ihres Einsatzes herauszugeben und diese Informationen auf anderem Wege nicht beschafft werden können. Die Polizei hat das Recht, jede Person zu befragen, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass diese sachdienliche Angaben machen kann, die zur Erfüllung einer bestimmten polizeilichen Aufgabe erforderlich sind. Die Person kann für die Dauer der Befragung angehalten werden. Sie ist in diesen Fällen

dazu verpflichtet, mindestens Name, Vorname, Geburtsdatum, Wohnanschrift und Staatsangehörigkeit anzugeben. Es besteht keine Pflicht dazu, ständig einen Personalausweis (Identitätsnachweis) mitzuführen. Eine solche Anforderung ergibt sich weder aus dem Personalausweisgesetz noch aus den Polizeigesetzen der Bundesländer. Anders ist dies bei sog. Berechtigungsscheinen, z. B. Fahrzeugführerschein, Jagdschein. Diese Berechtigungsscheine sind bei der Ausübung der entsprechenden Tätigkeit mitzuführen. Platzverweis Wie bereits beschrieben, kann die Einsatzleitung der Feuerwehr für Einsatzstellen Platzverweise aussprechen. Die Polizei ist zu dieser Maßnahme ebenfalls berechtigt. Dies kann im Zusammenhang mit der Arbeit des Rettungsdienstes in den Fällen bedeutsam sein, in denen Dritte das Rettungsdienstpersonal bei der Arbeit behindern. In diesen Fällen kann die Polizei um Amtshilfe gebeten werden, und von dieser können dann Platzverweise ausgesprochen werden. In Fällen häuslicher Gewalt ist die Polizei unter bestimmten Voraussetzungen berechtigt, eine Person aus einer Wohnung sowie aus deren unmittelbaren Umgebung zu verweisen und die Rückkehr dahin zu untersagen. Mit dieser Maßnahme soll die gefährdete Person geschützt werden. Die Maßnahme ist auf wenige Tage befristet. Die gefährdete Person kann die Zeit jedoch nutzen, um auf zivilgerichtlichem Weg eine gerichtliche Anordnung von längerer Dauer zu erlangen. Rechtsgrundlage dafür ist das Gesetz zum

zivilrechtlichen Schutz vor Gewalttaten und Nachstellungen (GewSchG). Wird einem Platzverweis oder einer Wohnungsverweisung mit Rückkehrverbot nicht Folge geleistet, kann die Polizei die betreffende Person in Gewahrsam nehmen. Gewahrsam Neben der Möglichkeit, eine Person zur Durchsetzung eines Platzverweises oder einer Wohnungsverweisung in Gewahrsam zu nehmen, gibt es noch weitere Möglichkeiten, diese Standardmaßnahme umzusetzen. Die Polizei kann eine Person darüber hinaus in Gewahrsam nehmen, wenn dies zum Schutz der Person gegen eine Gefahr für Leib oder Leben erforderlich ist. Dies kann insb. in den rettungsdienstlich relevanten Fällen in Betracht kommen, in denen sich eine Person erkennbar in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand oder sonst in hilfloser Lage befindet. R e ch t in e c ht (Fall 5.4) Notfallsanitäterin Marie und ihre Kollegin Ida sind im Einsatz bei einem Patienten, der eine stark blutende, behandlungsbedürftige Kopfplatzwunde hat. Der Patient ist nicht orientiert und lehnt einen notwendigen Transport in die Klinik zur weiteren Versorgung ab. Trotz deutlicher Erklärung ist der Patient nicht in der Lage zu verstehen, dass eine unterbleibende klinische Untersuchung und Versorgung zu schwerwiegenden gesundheitlichen Schäden führen kann. In solchen Fällen könnten Marie und Ida die Polizei zur Unterstützung anfordern (Vollzugshilfe), um den Patienten auch

gegen seinen ausdrücklichen Willen, unter Anwendung von ggf. unmittelbarem Zwang, zur Behandlung in die Klinik zu bringen. Nach der Ingewahrsamnahme ist die Polizei i. d. R.verpflichtet, unverzüglich eine richterliche Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer der Freiheitsentziehung einzuholen. Die Dauer der Freiheitsentziehung ist stets zeitlich beschränkt.

5.3.6 Einsätze mit der Polizei im Rahmen der Strafverfolgung Im Rettungsdienst kann es zu Einsätzen kommen, bei denen keine Gefahrenabwehr der Polizei nach dem Polizeigesetz in Betracht kommt, sondern Ermittlungsmaßnahmen nach der StPO zur Erforschung einer Straftat notwendig sind. Dies kann insb. dann der Fall sein, wenn es sich um einen ungeklärten oder nicht natürlichen Todesfall handelt. In solchen Einsätzen gehen die Interessen von Polizei und Rettungsdienst teilweise auseinander. Der Rettungsdienst hat nach dem Auffinden einer leblosen Person zunächst die Aufgabe, diese Person zu untersuchen und ggf. Wiederbelebungsmaßnahmen einzuleiten. Beides ist damit verbunden, dass der Ort des Geschehens betreten wird und die leblose Person sowie ggf. umstehende Objekte (Möbelstücke etc.) bewegt werden. Das Interesse der Polizei geht in solchen Situationen dahin, dass am sog. Tatort möglichst wenig bis gar nichts verändert wird, um evtl. vorhandene Spuren nicht zu verändern oder vernichten. Beide Interessen erschweren die Aufgabenerfüllung der jeweils anderen Organisation. Der Rettungsdienst kann eine leblose Person

in vielen Fällen nicht angemessen versorgen, ohne diese Person und sich selbst am Ort des Geschehens zu bewegen. Die Polizei hat nach Abschluss rettungsdienstlicher Maßnahmen Schwierigkeiten, Spuren zu sichern. Pr axis tip p Sofern nicht offensichtlich sichere Todeszeichen oder mit dem Leben unvereinbare Verletzungen vorliegen, sollte der Rettungsdienst die Patient*in entsprechend der erlernten Standards untersuchen und ggf. behandeln. Bevor vor Ort Sachen verändert werden, sollte sich der Rettungsdienst einprägen, was genau und wie verändert wurde, um dies im Nachhinein zu dokumentieren und der Polizei mitzuteilen. Sind keine Maßnahmen mehr notwendig oder notwendige Maßnahmen abgeschlossen, sollte der Rettungsdienst bemüht sein, nichts weiter an der Einsatzstelle zu verändern. Sofern Maßnahmen zur Versorgung einer leblosen Person ergriffen wurden, sollte alles Verbrauchsmaterial, so wie es im letzten Moment der Versorgung am oder im Patienten verwendet wurde, so verbleiben, wie es ist. Dies betrifft insb. Tuben, Zugänge, Elektroden etc.

5.4 Katastrophenschutz/ Hilfsorganisationen Bei Katastrophen kann es sein, dass der Rettungsdienst sehr früh an der Einsatzstelle ist und sich plötzlich in Strukturen wiederfindet,

die stark von denen aus der alltäglichen Individualmedizin abweichen und mitunter unbekannt sind.

5.4.1 Institutionen auf Bundesebene Katastrophenschutz ist grds. Angelegenheit der Bundesländer. Zivilschutz ist Sache des Bundes, dieser greift jedoch nur im Verteidigungsfall. Gleichwohl gibt es auf Bundesebene Institutionen und Einrichtungen, die sich mit dem Katastrophenschutz unabhängig vom Verteidigungsfall befassen. Dabei handelt es sich um folgende Institutionen: • Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) • Technisches Hilfswerk (THW) • Robert Koch-Institut (RKI) • Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) • Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) • Deutscher Wetterdienst (DWD)

5.4.2 Institutionen auf Landesebene Auf Landesebene finden sich i. d. R. folgende Institutionen, die sich mit dem Katastrophenschutz befassen: • Ministerien • Regierungspräsidien oder Landesämter • Kreise und kreisfreie Städte • Gemeinden

5.4.3 Gemeinsames Melde- und Lagezentrum des Bundes und der Länder Um die Zusammenarbeit zwischen Bund und Bundesländern beim Katastrophenschutz zu verbessern, wurde im Jahr 2002 von der Innenministerkonferenz unter Beteiligung aller im Katastrophenschutz und Rettungswesen tätigen Behörden und Organisationen beschlossen, ein gemeinsames Melde- und Lagezentrum zur Verbesserung des Informationsaustauschs und das Ressourcenmanagement zu schaffen. Darüber hinaus ist das gemeinsame Melde- und Lagezentrum zentraler Ansprechpartner der Bundesrepublik Deutschland für internationale Hilfeleistungsersuchen im Katastrophenschutzverfahren der EU.

5.4.4 Grundprinzipien des Katastrophenrechts Das Katastrophenrecht wird durch die Prinzipien Vermeidung und Subsidiarität geprägt. Das Vermeidungsprinzip umfasst Vorsorge und Prävention. Das Subsidiaritätsprinzip besagt, dass zunächst die kleinere Einheit für die Gefahrenabwehr in der Verantwortung ist. Erst wenn diese Einheit nicht mehr in der Lage ist, die Gefahr zu bewältigen, wird die nächsthöhere in die Verantwortung genommen. Entsprechend dieses Prinzips ist das erste Ziel im Katastrophenschutzrecht, die Selbstschutzfähigkeit des Einzelnen zu fördern. Dies umfasst v. a. Informationen und Angebote, um Selbstschutzfähigkeiten zu entwickeln und zu stärken.

5.4.5 Landeskonzepte für Großeinsatzlagen und den Katastrophenschutz Die Bundesländer sind verpflichtet, Landeskonzepte für Großeinsatzlagen und den Katastrophenschutz aufzustellen. In diesen Landeskonzepten finden sich oft auch Regelungen zur nachbarrechtlichen Hilfe und der Rolle des Rettungsdienstes. In den Landeskonzepten wird u. a. festgelegt, welche Einheiten für die Bewältigung von Großschadenslagen und Katastrophen zur Verfügung stehen und wer für deren Vorhaltung verantwortlich ist. Die Landeskonzepte unterscheiden oftmals zwischen den Kategorien Versorgung von Verletzten und Erkrankten, Betreuung von unverletzten Betroffenen und Transport sowie ggf. VerletztenDekontamination. Je nach Ausmaß des Großschadensereignisses bzw. der Katastrophe stehen dann unterschiedliche Einheiten zur Verfügung. Im Detail gibt es zu diesen dann Regelungen zu den Punkten Führungsstrukturen, Art der Fahrzeuge, Besetzung der Fahrzeuge, Anzahl der eingesetzten Personen, Vorlaufzeiten für die Einsatzbereitschaft, Platzbedarf u. v. m. Wichtig ist, dass manche Landeskonzepte (z. B. NRW) auch Hilfsmittel für die Sichtung und Kategorisierung von Verletzten und Erkrankten zur Verfügung stellen sowie in diesem Zusammenhang konkrete Vorgaben, z. B. hinsichtlich Verletztenanhängekarten, machen. In den meisten Bundesländern ist jedoch die Verletztenanhängekarte des DRK als Standard vorgegeben. Im Landeskonzept NRW (Sanitäts- und Betreuungsdienst) für Großeinsatzlagen und Katastrophen haben die Kreise und kreisfreien Städte eine herausragende Stellung und sind in diesem Zusammenhang für die entsprechende

Vorhaltung verantwortlich. Dafür ist ein Katastrophenschutzplan aufzustellen; bei der Planung müssen die kreisangehörigen Gemeinden beteiligt werden. Zudem sind Einheiten und Einrichtungen für solche Fälle vorzuhalten. Darüber hinaus kommen den Kreisen bei Großeinsatzlagen und Katastrophen Leitungs- und Koordinierungsaufgaben zu. Entsprechend örtlicher Konzepte entwickeln Kreise und kreisfreie Städte Strukturen für Schnelleinsatzgruppen (SEG) für die Bereiche Sanität und Betreuung, die bei der Bewältigung örtlicher Schadenslagen alarmiert werden können, in denen der Regelbedarf an Einsatzmitteln und Einsatzkräften nicht ausreicht. Darüber hinaus gibt es in NRW ein ÜMANV-S-Konzept. Danach werden im Rahmen der nachbarschaftlichen Hilfe Fahrzeuge aus dem Regelrettungsdienst zur Verfügung gestellt, um größere Einsatzlagen bewältigen zu können. Die Fahrzeuge, die im Rahmen der ÜMANVS-Alarmierung eingesetzt werden, kommen aus dem Regelrettungsdienst und fahren ab der Alarmierung direkt zum Einsatzort oder dem dazu definierten Bereitstellungsraum. Ein vorheriges Sammeln und ein gemeinsamer Abmarsch finden bei diesem Konzept nicht statt. Ein wichtiges Einsatzkonzept zur Unterstützung des Rettungsdienstes beim Massenanfall von Verletzten ist das Konzept der Schnelleinsatzgruppen (SEG). SEG sind nach einer Alarmierung i. d. R. schnell einsatzbereit und dafür ausgerüstet und ausgebildet, bei Großschadenslagen Verletzte, Erkrankte und weitere Betroffene zu versorgen. Die SEG können unterschiedliche Aufgaben übernehmen, z. B. als SEG-San/RD oder SEG-Behandlungsplatz. Für den Rettungsdienst ist es wichtig, auch hierzu die lokalen Strukturen

und Abläufe zu kennen, damit die Bewältigung von größeren Einsatzlagen und die Zusammenarbeit reibungslos funktionieren. Pr axis tip p Jedes Rettungsmittel des Regelrettungsdienstes kann ersteintreffendes Fahrzeug bei einer Großschadenslage oder Katastrophe sein. Es ist daher für alle Mitarbeitenden des Rettungsdienstes wichtig, die entsprechenden Landeskonzepte für diese Fälle zu kennen. Das Wissen um die vorhandenen Strukturen und Ressourcen ist notwendig, um nach diesem Konzept handeln zu können. A c ht u ng In Katastrophenfällen gibt es komplett andere Führungsstrukturen. Verantwortlich sind hier i. d. R. Krisenstäbe, z. B. der Stab für außergewöhnliche Ereignisse auf kommunaler Ebene (NRW) und Krisenstäbe auf Landesebene. Auf kommunaler Ebene ist die Landrät*in die verantwortliche Person. Im späteren Einsatzverlauf werden weitere Strukturen relevant, z. B. Personenauskunftsstellen und Hotlines für die Bevölkerung. Daher ist im Einsatz sorgfältige Dokumentation der Patient*innen wichtig, u. a. körperlicher Merkmale und Kleidung, sofern keine Ausweisdokumente o. Ä. verfügbar sind. Im Katastrophenfall gibt es oft spezielle Einsatzstrukturen und Führungswege, die stark vom „Normaleinsatz“ abweichen. Ggf. muss auch mit langen Wartezeiten in Bereitstellungsräumen gerechnet werden.

5.5 Zivilschutz Der Zivilschutz des Bundes ist im Gesetz über den Zivilschutz und die Katastrophenhilfe des Bundes (ZSKG) geregelt. Dieser hat die Aufgabe, durch nichtmilitärische Maßnahmen die Bevölkerung und andere Schutzgüter vor Kriegseinwirkungen zu schützen, deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern (§ 1 Abs. 1 ZSKG). Auch der Zivilschutz wird durch das Prinzip der Vorsorge geprägt. Dabei werden die Selbstschutzfähigkeiten der Bevölkerung, Behörden und Betriebe angestrebt, Warnsysteme eingerichtet, Schutzbauten betrieben und weitere zuvorkommende Maßnahmen getroffen (§§ 1 Abs. 2, 5, 6, 7 ZSKG). Zudem fördert der Bund auch die Ausbildung der Bevölkerung in Erster Hilfe mit Selbstschutzinhalten sowie die Ausbildung von Pflegehilfskräften (§ 24 ZSKG). Die zentrale Einrichtung für den Zivilschutz ist das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK). Das BBK ist eine Bundesoberbehörde, die zum Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) gehört und dabei Aufgaben des Bevölkerungsschutzes und der Katastrophenhilfe wahrnimmt. Mit dem BBK sollte im Mai 2004 eine zentrale Stelle geschaffen werden, die eine Vielzahl von Aufgaben im Hinblick auf die zivile Sicherheit bündelt. Hintergrund für die Schaffung des BBK waren u. a. die Anschläge vom 11. September 2001 in den USA und das Hochwasser an der Elbe im Jahr 2002. Beide Ereignisse haben deutlich gemacht, dass zwar die grundsätzliche Zuständigkeit der Bundesländer für den Katastrophenschutz sinnvoll ist, es jedoch darüber hinaus einer besseren Abstimmung zwischen den Bundesländern sowie zwischen

den Bundesländern und dem Bund bedarf. Besonders hervorgehoben werden für diese Fälle eine bessere Verzahnung bestehender Hilfspotenziale und neue Koordinierungsinstrumente für ein besseres Zusammenwirken in Krisenfällen. Zu den wichtigsten Aufgaben des BBK gehören u. a.: • Erfüllung von Aufgaben des Bundes im Bevölkerungsschutz • Planung und Vorbereitung von Maßnahmen der Notfallvorsorge und Notfallplanung • Katastrophenmedizin • Warnung und Information der Bevölkerung (u. a. WarnApp NINA) • Risikomanagement (insb. Risikoanalysen) • Förderung des Ehrenamtes • Medizinische Taskforce Da der Bund kaum über eigene Einheiten des Katastrophenschutzes verfügt, können im Verteidigungsfall im Katastrophenschutz der Länder mitwirkende Einheiten und Einrichtungen sowie Einheiten des Technischen Hilfswerks (THW) mit herangezogen werden (§ 11 ZSKG). Umgekehrt können die Bundesländer im Katastrophenfall auch auf Ressourcen des Bundes zurückgreifen (§ 12 ZSKG). Durch diese Regelungen wird dem Grundsatz der gegenseitigen Hilfe (Art. 35 GG) Rechnung getragen. Im Hinblick auf die Ausstattung ist der Bund verpflichtet, die Ausstattung des Katastrophenschutzes der Bundesländer in den

Bereichen Brandschutz, ABC-Schutz, Sanitätswesen und Betreuung zu ergänzen. Das Ehrenamt ist die wesentliche Säule für einen funktionierenden Zivil- und Katastrophenschutz. Vor diesem Hintergrund sieht § 20 ZSKG eine Verpflichtung des Bundes vor, das Ehrenamt in diesem Bereich zu unterstützen. Im Verteidigungsfall kommt der gesundheitlichen Versorgung insgesamt eine herausragende Stellung zu. Die nach Landesrecht zuständigen Behörden haben in diesem Zusammenhang Maßnahmen zur gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung im Verteidigungsfall zu planen. Diese Planung bezieht sich insb. darauf, wie die Kapazitäten vorhandener Einrichtungen im Bedarfsfall erweitert werden können. In diese Planungen müssen auch die gesetzlichen Berufsvertretungen von Ärzt*innen, Zahnärzt*innen, Tierärzt*innen, Apotheker*innen und weiteren Einrichtungen des Gesundheitssystems mit einbezogen werden. Träger von Krankenhäusern können verpflichtet werden, Einsatz- und Alarmpläne für die gesundheitliche Versorgung aufzustellen und fortzuschreiben.

Quellen: [1] OVG Münster, Urt. v. 24.06.2008, Az. 9 A 3961/06 (zur Definition Schadensfeuer)

Weitere Literatur und Internetquellen: Doppmeier. Die Befugnisse der Feuerwehr zur Gefahrenabwehr in Nordrhein-Westfalen. Baden Baden.

2020. Lüder/Arndt/Schimanski. Recht und Praxis der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr. 5. Aufl Herdecke/Köln; 2020. Mokros. Polizeiorganisation in Nordrhein-Westfalen: POG mit Erläuterungen und einer Einführung. Stuttgart. 2021. Thiel. Polizei- und Ordnungsrecht. 5. Aufl Baden-Baden; 2022. bbk https://www.bbk.bund.de/DE/Home/home_no de.html (letzter Zugriff: 15. November 2023) idf https://www.idf.nrw.de/ (letzter Zugriff: 15. November 2023)

Kapitel 6 Zivilrecht David Winkenbach; André Höhle; Frank Sarangi

Das Zivilrecht ist neben dem Strafrecht (› Kap. 7) und dem öffentlichen Recht (vgl. › Kap. 2) eines der drei großen Rechtsgebiete in Deutschland. Das Zivilrecht, auch Privatrecht genannt, beschäftigt sich mit den Rechtsverhältnissen der Bürger*innen untereinander. Akteure im Zivilrecht können sowohl natürliche Personen als auch juristische Personen sein (z. B. Unternehmen, › Kap. 2.1.1). Sie sind dabei grds. gleichgestellt, d. h. alle Personen befinden sich in einer Gleichordnung auf Augenhöhe. Für Rettungsdienst und Notfallmedizin hat das Zivilrecht in vielfältiger Hinsicht Bedeutung. Die im Schuldrecht enthaltenen Regelungen zum Behandlungsvertrag, die Regelungen zur Vorsorgevollmacht, Patientenverfügung und zur Betreuung aus dem Familienrecht sowie die Regelungen zur Haftung muss jede im Rettungsdienst tätige Person in den Grundzügen kennen und im Rahmen der täglichen Arbeit anwenden können. D ie s e s K ap it e l s o l l F o lge nd e s v e rm it te l n: • Grundlagen zum Zivilrecht und zum Bürgerlichen Gesetzbuch • Bestimmungen im Hinblick auf das Handeln für andere, insb. im Zusammenhang mit Gesundheitsangelegenheiten • Die Bedeutung und Wirkung der gesetzlichen Vorschriften zum Behandlungsvertrag auf den Rettungsdienst • Hilfestellungen zur Prüfung der Einwilligungsfähigkeit • Die Bedeutung und rechtlich korrekte Umsetzung von Aufklärung und Einwilligung • Hilfestellungen zur Durchführung rechtssicherer Dokumentation

• Grundlagen zu Behandlungsfehlern und der Beweislastumkehr • Die Bedeutung der Patientenverfügung im Rettungsdienst • Grundlagen zur zivilrechtlichen Haftung bei unerlaubten Handlungen oder Vertragsverletzungen, insb. der Amtshaftung • Regelungen zum Schadensersatz und Grundzüge des Schadensrechts

W ic htige R e c h t s qu e l le n fü r d ie s e s K ap ite l: • Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)

https://www.gesetze-im-internet.de/bgb/ • Gesetz über den Beruf der Notfallsanitäterin und des Notfallsanitäters (Notfallsanitätergesetz/NotSanG)

https://www.gesetze-im-internet.de/notsang/index.html

6.1 Grundlagen zum Bürgerlichen Gesetzbuch David Winkenbach Es gibt Teile des Zivilrechts, die für jedermann gelten (Bürgerliches Recht). Ein anderer Teil des Zivilrechts betrifft nur besondere Anwendungsbereiche (Sonderprivatrecht), wobei auch das Sonderprivatrecht auf dem Bürgerlichen Recht aufbaut. Zum Sonderprivatrecht gehören z. B. das Handelsrecht, das Gesellschaftsrecht und das Arbeitsrecht (› Kap. 13). Zentrales Gesetz des Zivilrechts, insb. des Bürgerlichen Rechts, ist das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB). Hierin sind einerseits wesentliche Grundsätze, andererseits aber auch detailreiche Regelungen zu verschiedenen Sachverhalten normiert, auf denen fast das gesamte Zivilrecht aufgebaut ist. Das BGB in seiner wesentlichen Rolle trat am 1. Januar 1900 in Kraft und ist seitdem in (West-)Deutschland gültig. Im Laufe der Jahre haben viele Änderungen und Reformen stattgefunden, die das BGB an die stetig wachsenden und moderner werdenden Ansprüche im Zivilrecht angepasst haben.

6.1.1 Aufbau BGB

Das BGB ist in fünf Bücher eingeteilt: • Allgemeiner Teil (§§ 1–240 BGB) • Recht der Schuldverhältnisse (§§ 241–853 BGB) • Sachenrecht (§§ 854–1296 BGB) • Familienrecht (§§ 1297–1921 BGB) • Erbrecht (§§ 1922–2385 BGB) Der allgemeine Teil des BGB ist dabei die Grundlage für alle folgenden Bücher. Er bezieht sich auf alles Folgende und findet somit auch für alle Bücher Geltung. Die restlichen Teile des BGB beschäftigen sich mit spezielleren Rechtsbereichen. So enthält das zweite Buch (Recht der Schuldverhältnisse) z. B. Vorschriften zu sämtlichen Verträgen, die zwischen Personen vereinbart werden können. Die Normen §§ 630a bis 630h BGB enthalten Regelungen zum Behandlungsvertrag, die auch für den Rettungsdienst Anwendung finden (› Kap. 6.3). Im Schuldrecht finden sich zudem Regelungen zu Konsequenzen bei unerlaubten Handlungen (z. B. Körperverletzungen) oder Vertragsverletzungen (Schadensersatz) (› Kap. 6.6). Das Sachenrecht regelt die Rechtszuordnung von Sachen und Grundstücken zu Personen, insb. deren Eigentum und Besitz. Der Regelungsinhalt des Familien- und Erbrechts erklärt sich im Wesentlichen selbst.

6.1.2 Verträge Verträge, oder auch Rechtsgeschäfte, sind eine bedeutsame Rechtsfigur zur Gestaltung der rechtlichen Beziehungen zwischen Menschen. Ein Vertrag lässt sich juristisch definieren als mehrseitiges Rechtsgeschäft, das zwischen den Parteien ein sog. Schuldverhältnis entstehen lässt. Ein wirksamer Vertrag kommt dabei nur zustande, wenn mindestens zwei übereinstimmende Willenserklärungen (Angebot und Annahme) im Hinblick auf den wesentlichen Vertragsinhalt vorliegen. So kommen z. B. Kaufverträge, Werkverträge, Mietverträge oder auch Behandlungsverträge zustande. An einem Vertrag müssen mindestens zwei Personen beteiligt sein, die sich jeweils zu Leistung oder Gegenleistung verpflichten. An der Kasse eines Supermarktes entsteht z. B. ein Kaufvertrag, an dem sich die eine Seite

(Supermarkt) zur Leistung im Sinne der Übereignung und Herausgabe der Waren, die andere Seite (Käufer) zur Gegenleistung im Sinne der Zahlung des Kaufpreises verpflichtet. Ein solches Rechtsgeschäft wird auch zweiseitiger Vertrag genannt. Beim Abschluss von Verträgen gilt grds. die Privatautonomie. Danach dominiert v. a. im Zivilrecht das grundrechtlich geschützte Grundprinzip der Vertragsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG). Dies bedeutet, dass alle Personen ihre Rechtsverhältnisse nach ihren eigenen Wünschen gestalten bzw. selbst entscheiden können, ob und mit wem sie kontrahieren (= Verträge abschließen) wollen und was etwaige Verträge zum Inhalt haben (Abschluss- und Inhaltsfreiheit). Beide Parteien (oder mehrere) müssen sich dabei stets einig sein. Das Gegenteil der Privatautonomie und der Vertragsfreiheit ist der sog. Kontrahierungszwang. Ein solcher ist zwar eher selten, tritt aber insb. im Gesundheitswesen auf. So besteht z. B. für Krankenversicherungen (› Kap. 3.2), aber auch für Ärzt*innen im Notfall sowie für Ärzt*innen mit gesetzlicher Zulassung bei der Behandlung gesetzlich Versicherter grds. ein Kontrahierungszwang. Verträge können grds. formlos, also auch mündlich, geschlossen werden. Auch diese sog. Formfreiheit ist somit Folge der Privatautonomie. Zur besseren Dokumentation und Beweisbarkeit werden insb. kompliziertere Verträge jedoch häufig schriftlich festgehalten. Zudem gibt es für bestimmte Verträge auch gesetzliche Formvorgaben, wonach z. B. die Schriftform oder sogar eine notarielle Beurkundung für deren Wirksamkeit gefordert wird.

6.1.3 Rechts-, Geschäfts- und Einwilligungsfähigkeit • Rechtsfähigkeit, • Geschäftsfähigkeit und • Einwilligungsfähigkeit sind wichtige rechtliche Begriffe, die in verschiedenen Rechtsgebieten auftauchen und die es klar zu differenzieren gilt. Rechtsfähigkeit Rechtsfähigkeit ist die Fähigkeit einer Person, Träger von Rechten und Pflichten zu sein. Dies wird jedenfalls allen natürlichen Personen ab dem

Zeitpunkt ihrer Geburt zugesprochen (§ 1 BGB). Daneben können auch juristische Personen rechtsfähig sein. Zu den juristischen Personen zählen z. B. Personenvereinigungen (z. B. Vereine), Kapitalgesellschaften (z. B. Aktiengesellschaften) und Zweckvermögen (Stiftungen) (vgl. › Kap. 2.1.1). Geschäftsfähigkeit Geschäftsfähig sind Personen, die rechtsverbindlich Rechtsgeschäfte (Verträge) abschließen, also wirksam Willenserklärungen abgeben und entgegennehmen können. Dies ist grds. mit der Vollendung des 18. Lebensjahres, also bei allen erwachsenen Personen, der Fall (Volljährigkeit). Die Geschäftsfähigkeit kann jedoch auch beschränkt sein (§ 106 BGB). Beschränkt geschäftsfähige Personen sind für den wirksamen Abschluss von Rechtsgeschäften (Abgabe von Willenserklärungen) grds. auf die Zustimmung ihrer gesetzlichen Vertreter*innen angewiesen. Dies ist z. B. bei minderjährigen Personen der Fall, die bereits das siebte nicht jedoch das 18. Lebensjahr vollendet haben. Daneben können unter bestimmten Voraussetzungen aber auch solche Personen beschränkt geschäftsfähig sein, die aufgrund von Krankheit oder Behinderung selbst nicht mehr in der Lage sind, ihre Angelegenheiten zu regeln (› Kap. 6.2.1). Ist eine Person geschäftsunfähig, kann sie überhaupt keine rechtsverbindlichen Rechtsgeschäfte abschließen; die Willenserklärung einer geschäftsunfähigen Person ist nichtig (§ 104 BGB). Hierzu zählen minderjährige Personen, die das siebte Lebensjahr noch nicht vollendet haben und Personen, die dauerhaft unter einer schweren psychischen Erkrankung leiden, durch welche eine freie Willensbildung ausgeschlossen ist. Personen, die stark alkoholisiert sind oder sich in einem anderen Rauschzustand befinden, sind mitunter zwar auch nicht mehr in der Lage, einen freien Willen zu bilden. Sie sind deshalb jedoch noch nicht geschäftsunfähig, da dieser Zustand naturgemäß nur vorübergehend ist. Unter Umständen greift allerdings eine Spezialregelung (§ 105 II BGB), wonach sich Personen in einem Zustand vorübergehender Störung der Geistestätigkeit nicht rechtsgeschäftlich binden können. Gleiches gilt für bewusstlose Personen. Me r ke Voll geschäftsfähig:

• Grds. volljährige natürliche Personen • Juristische Personen Beschränkt geschäftsfähig: • Minderjährige ab Vollendung des siebten Lebensjahres („mit 7“) • Unter Umständen Personen, die aufgrund von Krankheit oder Behinderung selbst nicht mehr in der Lage sind, ihre Angelegenheiten rechtlich zu regeln Geschäftsunfähig: • Minderjährige, die das siebte Lebensjahr noch nicht erreicht haben („unter 7“) • Personen mit einer dauerhaften psychischen Erkrankung, welche eine freie Willensbildung ausschließt

Einwilligungsfähigkeit Die Einwilligung einer Person in eine (ärztliche) Heilbehandlung ist nicht gleichzusetzen mit einer rechtlichen Willenserklärung, sondern vielmehr als Gestattung einer tatsächlichen Handlung zu verstehen, die in den Rechtskreis dieser Person eingreift. Insoweit ist die Einwilligungsfähigkeit scharf von der Geschäftsfähigkeit zu differenzieren. Zudem kommt sie überhaupt nur für natürliche Personen in Betracht. Me r ke Die Einwilligungsfähigkeit ist nicht gleichzusetzen mit der Geschäftsfähigkeit. Die Einwilligungsfähigkeit hängt von der geistig-sittlichen Reife einer Person ab, die Bedeutung und Tragweite des Eingriffs (z. B. in die körperliche Unversehrtheit) zu verstehen und beurteilen zu können. Das bedeutet, dass grds. auch minderjährige Personen einwilligungsfähig sein können. Näheres zu Einwilligungsfähigkeit und zur Einwilligung in › Kap. 6.3.3.

6.2 Handeln für Dritte

Im Rechtsverkehr können Personen für sich selbst handeln, aber auch für eine andere Person („Dritte“). Bei diesem Handeln für Dritte können z. B. Willenserklärungen einer anderen Person übermittelt werden (Botenschaft) oder eigene Willenserklärungen in fremdem Namen abgegeben werden (Stellvertretung). Für Rettungsdienst und Notfallmedizin ist insb. die Stellvertretung von Bedeutung. Eine Stellvertretung kann sich aus einem Rechtsgeschäft (Vertrag) ergeben oder aus dem Gesetz.

6.2.1 Gesetzliche Stellvertretung Von einer gesetzlichen Stellvertretung spricht man, wenn sich die Stellvertretung einer Person durch ein Gesetz ergibt. Dies ist z. B. bei Minderjährigen der Fall, deren gesetzliche Stellvertreter*innen grds. ihre Eltern sind (§§ 1626, 1629 BGB). Kommt es bei einer volljährigen Person zu einer Krankheit oder Behinderung, die dazu führt, dass die Person ihre Angelegenheiten rechtlich nicht mehr besorgen kann, so bestellt ein Betreuungsgericht für sie eine rechtliche Betreuer*in (§ 1814 BGB), soweit dies erforderlich ist. Der Umfang dieser gesetzlichen Betreuung wird ebenfalls vom Betreuungsgericht festgelegt und an die Situation und den Zustand der betroffenen Person angepasst. Auf die Auswahl der gesetzlichen Betreuer*in kann die zu betreuende volljährige Person Einfluss nehmen und diesbezüglich auch Wünsche äußern. Dabei werden insb. auch familiäre Beziehungen berücksichtigt. Es ist außerdem möglich, im Voraus, sog. Betreuungsverfügungen zu errichten, in denen festgelegt wird, wer vom Gericht als Betreuer*in ausgewählt werden soll oder wer auf gar keinen Fall in Betracht kommt. Gegen den freien Willen der volljährigen Person darf eine Betreuer*in nicht bestellt werden. Me r ke Eine rechtliche Betreuung darf nur durch ein Betreuungsgericht eingerichtet werden. Das Gericht bestimmt dabei auch über die Entscheidungsbefugnisse der Betreuungsperson. Mögliche Entscheidungsbereiche einer gesetzlichen Betreuung sind: • Gesetzlich festgelegte Stellvertretung

• Vermögenssorge • Behörden-, Post- und Fernmeldeangelegenheiten • Personensorge – Gesundheitssorge – Aufenthalts- und Wohnungsangelegenheiten Für Ehepartner*innen besteht ein Notvertretungsrecht. Hiernach kann eine Ehepartner*in kurzfristig (max. sechs Monate) die Betreuung/Stellvertretung der Partner*in übernehmen, wenn dies notwendig ist und keine Vorsorgevollmacht (› Kap. 6.2.3) besteht. Allerdings ist diese Notvertretung neben der zeitlichen Maßgabe auf Gesundheitsangelegenheiten und Entscheidungen über eine kurzfristige freiheitsentziehende Maßnahme beschränkt. Die Regelung gilt gleichermaßen für eingetragene Lebenspartnerschaften. Elterliche Sorge Die Eltern haben die Pflicht und das Recht, für das minderjährige Kind zu sorgen; dies nennt man elterliche Sorge (§ 1626 BGB). Dabei tragen grds. beide Elternteile die Rechte und Pflichten aus der gesetzlichen Sorgepflicht gemeinsam. Die elterliche Sorge umfasst konkret • die gesetzliche Vertretung, • die Personensorge und • die Vermögenssorge des minderjährigen Kindes. Die gesetzliche Stellvertretung ist also ein Teil der gesetzlich vorgeschriebenen Sorgepflicht der Eltern für ihr minderjähriges Kind. Eltern sind folglich nicht nur berechtigt, ihr minderjähriges Kind zu vertreten, sondern sogar gesetzlich dazu verpflichtet. Die Personensorge umfasst z. B. die Pflege, Erziehung, Beaufsichtigung, Aufenthaltsbestimmung, Ausbildungs- und Berufswahl, mit Freiheitsentzug verbundene Unterbringungen oder Bestimmung des Umgangs mit anderen Personen des minderjährigen Kindes. Zudem beinhaltet die elterliche Personensorge auch die Einwilligung bei medizinischen Maßnahmen, wenn das minderjährige Kind nicht einwilligungsfähig ist, also die Bedeutung und Tragweite

des Eingriffs nicht erfassen kann. Für den Rettungsdienst ist die Einwilligung oder Verweigerung in solchen Fällen bindend. Die Vermögenssorge umfasst die Erhaltung, Vermehrung und Verwertung des Vermögens des minderjährigen Kindes.

6.2.2 Vertragliche Stellvertretung Bei der vertraglichen Stellvertretung ergibt sich die Stellvertretung aus einer rechtsgeschäftlichen Vereinbarung zwischen zwei Parteien. Dieses Rechtsgeschäft bzw. dieser Vertrag wird Vollmacht genannt (§§ 166 Abs. 2 BGB). Hierbei können die Parteien, insb. die Person, die vertreten werden soll, den genauen Umfang der Stellvertretung vereinbaren (sog. Vertretungsmacht). Voraussetzung für die Wirksamkeit einer Vollmacht ist, dass die ausstellende Person geschäftsfähig ist. Anders als bei der gesetzlichen Stellvertretung fallen die Erteilung der Vollmacht sowie dessen Umfang grds. unter die Privatautonomie.

6.2.3 Vorsorgevollmacht Eine besondere Form der vertraglichen Stellvertretung ist die Vorsorgevollmacht. Durch eine Vorsorgevollmacht kann eine volljährige Person vorsorglich festlegen, dass eine andere Person in einem klar bestimmten Umfang stellvertretend für sie handeln kann, soweit die selbstständige Regelung ihrer Angelegenheiten aufgrund einer Krankheit oder Behinderung nicht mehr möglich ist. Die Vorsorgevollmacht ist somit die antizipierte Form der rechtlichen Betreuung (› Kap. 6.2.1). Während ohne eine Vorsorgevollmacht in solchen Situationen ein Betreuungsgericht eine rechtliche Betreuer*in bestimmen muss, entfällt dieser Schritt, wenn eine Betreuungsperson bereits durch die Vorsorgevollmacht bestimmt ist. Die Entscheidungs- bzw. Aufgabenbereiche einer Vorsorgevollmacht sind mit denen einer gesetzlichen Betreuung identisch. Dabei muss eine Vorsorgevollmacht jedoch nicht alle Bereiche erfassen, sondern kann sich auch nur auf einzelne Bereiche beschränken: • Vertraglich festgelegte Stellvertretung • Vermögenssorge • Behörden-, Post- und Fernmeldeangelegenheiten • Personensorge – Gesundheitssorge

– Aufenthalts- und Wohnungsangelegenheiten Höchstpersönliche Angelegenheiten, z. B. die Errichtung eines Testaments oder das Wahlrecht, können nicht durch eine Vollmacht übertragen werden. Ist nur ein Teil der Bereiche durch eine Vorsorgevollmacht geregelt, muss, wenn dies nötig ist, für die übrigen Bereiche eine rechtliche Betreuer*in durch ein Betreuungsgericht bestimmt werden. Me r ke Kommt es bei einer volljährigen Person zu einer Krankheit oder Behinderung, aufgrund der die betroffene Person ihre Angelegenheiten rechtlich nicht mehr selbst besorgen kann, ist es notwendig, dass jemand anders ihre Angelegenheiten für sie regelt. Ist dies in einer Vorsorgevollmacht geregelt, kommt zunächst die darin bestimmte Person für diese Aufgabe in Betracht. Besteht keine Vorsorgevollmacht oder möchte die durch Vollmacht bestimmte Person diese Aufgabe nicht wahrnehmen, so muss von einem Betreuungsgericht eine rechtliche Betreuer*in bestimmt werden. Die vertragliche Vorsorgevollmacht hat also Vorrang vor der gesetzlichen Betreuung. Wie für jede andere Vollmacht auch, muss die ausstellende Person einer Vorsorgevollmacht zum Zeitpunkt der Ausstellung (jedenfalls partiell) geschäftsfähig sein. Als Formerfordernis ist die Schriftform vorgegeben. In der Vollmacht können Bereiche und Umfang der Stellvertretung genau geregelt werden. So kann z. B. eine Einzelvollmacht für einzelne Aufgaben oder auch eine Generalvollmacht für die vollständige Übertragung aller Aufgaben bestimmt werden. Auch können einzelne Bereiche auf verschiedene Personen verteilt oder eine gemeinsame Stellvertretung festgelegt werden. Um für die vollmachtgebende Person handeln zu können, ist es zwingend erforderlich, dass die Originalvollmacht vorgelegt wird. A ch tu ng Es kann nur stellvertretend im Rahmen einer Vorsorgevollmacht gehandelt werden, wenn die Vollmacht im Original vorliegt.

Gesundheitliche Angelegenheiten Besonders relevant für Rettungsdienst und Notfallmedizin ist die Vorsorgevollmacht für den Bereich der Gesundheitssorge. Durch eine Vorsorgevollmacht kann geregelt werden, dass die betroffene Person im Fall des Unvermögens, gesundheitliche Angelegenheiten zu besorgen, durch eine dritte Person in diesem Bereich vertreten wird. Dies bedeutet insb., dass die durch Vollmacht bestimmte Person medizinisch relevante Entscheidungen für die betroffene Person treffen kann. Hierzu zählt auch die Einwilligung in konkrete Maßnahmen wie medizinische Behandlungen oder (ärztliche) Eingriffe. Die Einwilligung durch eine Vertreter*in im Rahmen der Vorsorgevollmacht kommt nur dann in Betracht, wenn die betroffene Person nicht mehr in der Lage ist, die Bedeutung und Tragweite der Maßnahme und seiner Gestattung zu ermessen, also wenn die betroffene Person einwilligungsunfähig ist (› Kap. 6.3.3). Bei der Einwilligung in medizinische Maßnahmen durch eine Stellvertreter*in ist zu beachten, dass die für die Einwilligung nötige Aufklärung auch gegenüber der Vertreter*in erfolgen muss. Zudem ist die bevollmächtigte Person bei ihrer Entscheidung zur Einwilligung nicht völlig frei. Auch vertraglich bestimmte Stellvertreter*innen sind dabei an den Willen der vertretenen Person gebunden. Dieser Wille kann sich z. B. tatsächlich aus einer Patientenverfügung ergeben. Ist der tatsächliche Wille der betroffenen Person für eine konkrete Entscheidung nicht eindeutig ermittelbar, muss auf deren mutmaßlichen Willen abgestellt werden. Dieser kann sich z. B. aus vorangegangenen Äußerungen der betroffenen Person ergeben. A ch tu ng Eine durch eine Vorsorgevollmacht bestimmte Vertreter*in ist hinsichtlich der Einwilligung in medizinische Maßnahmen an den Willen der betroffenen Person gebunden. Hierbei kann auf den tatsächlichen Willen (z. B. aus einer Patientenverfügung) oder den mutmaßlichen Willen der betroffenen Person abgestellt werden (z. B. aus persönlichen Äußerungen in der Vergangenheit). R e ch t in e ch t (Fall 6.1) Pflegefachfrau Merle wurde von ihrer Mutter in einer Vorsorgevollmacht dazu bestimmt, im Falle eines krankheitsbedingten

Unvermögens zur Regelung der eigenen Angelegenheiten ihre Gesundheitssorge zu übernehmen. Einige Zeit später tritt bei Merles Mutter eine ausgeprägte Altersdemenz ein, die zu besagtem Unvermögen führt. Durch die Vorsorgevollmacht ist Merle nun im Hinblick auf die Gesundheitssorge ihrer Mutter grds. entscheidungsbefugt. Da in ihrer Familie schon häufiger Darmkrebs aufgetreten ist, ist Merle der Meinung, dass ihre Mutter sich regelmäßig sicherheitshalber einer Koloskopie (Darmspiegelung) unterziehen sollte. Dies ist insb. wegen der in der Familie aufgetretenen Fälle durchaus sinnvoll. Allerdings weiß Merle, dass ihre Mutter es stets abgelehnt hat, sich einer solchen Untersuchung zu unterziehen. „Keine zehn Pferde werden mich jemals dazu bringen, eine Darmspiegelung machen zu lassen!“ hatte sie z. B. in der Vergangenheit mehrmals gegenüber Merle geäußert. Auch wenn Merle eine Koloskopie für sinnvoll hält, muss sie diesbezüglich den Willen ihrer Mutter respektieren. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Merle im Rahmen der Vorsorgevollmacht als Stellvertreterin für gesundheitliche Angelegenheiten bestimmt wurde. Für (ärztliche) Eingriffe, bei denen die Gefahr besteht, dass die betroffene Person stirbt oder einen schweren und länger dauernden gesundheitlichen Schaden erleidet, werden für eine Einwilligung durch eine dritte Person zusätzliche Anforderungen gestellt. Besteht zwischen der bevollmächtigten Person und der behandelnden Ärzt*in Uneinigkeit oder Unsicherheit, ob der Eingriff dem Willen der vertretenen Person entspricht, so bedarf es dazu einer Entscheidung des Betreuungsgerichts. Eine solche ist jedoch entbehrlich, wenn die damit verbundene Verzögerung eine gesundheitliche Gefahr für die betroffene Person darstellt. Pr axis t ip p Kommt der Rettungsdienst in eine Situation, in der eine Person aufgrund einer Vorsorgevollmacht für eine andere Person handelt, ist Folgendes zu beachten: • Es sollte differenziert werden, ob es sich überhaupt um eine Vertretung im Rahmen einer Vorsorgevollmacht oder um die Vertretung durch eine gerichtlich bestimmte rechtliche Betreuer*in handelt.

• Die Originalvollmacht muss vorliegen. • Es muss festgestellt werden, dass sich die Vollmacht auf die notwendigen Aufgabenbereiche bezieht (jedenfalls auf die Gesundheitssorge). • Ist die betroffene Person einwilligungsunfähig, kann die in der Vorsorgevollmacht dazu bestimmte Stellvertreter*in in medizinische Maßnahmen und Eingriffe einwilligen. In solchen Fällen muss die Aufklärung gegenüber dieser Stellvertreter*in erfolgen. • Der tatsächliche oder mutmaßliche Wille der betroffenen Person ist immer zu berücksichtigen. • Schwerwiegende Entscheidungen, welche grds. die Hinzuziehung eines Betreuungsgerichts bedürfen, können im Rettungsdienst auch ohne gerichtliche Betätigung getroffen werden, wenn – eine Verzögerung eine gesundheitliche Gefahr für die betroffene Person darstellt oder – das (ärztliche) Personal und die Stellvertreter*in sich darüber einig sind, dass die Maßnahme dem Willen der betroffenen Person entspricht.

Freiheitsentziehende Maßnahmen Sollen/müssen freiheitsentziehende Maßnahmen an einer Person durchgeführt werden, die durch eine Stellvertreter*in im Rahmen einer Vorsorgevollmacht vertreten wird, so ist auch hier eine Genehmigung durch ein Betreuungsgericht einzuholen. Dies gilt selbst dann, wenn die Möglichkeit, solche Maßnahmen anzuordnen, in der Vorsorgevollmacht geregelt ist. Bei dringenden Maßnahmen, deren Verzögerung eine Gefahr für die betroffene Person darstellt, kann zwar zunächst ohne gerichtliche Entscheidung gehandelt werden, allerdings ist der Weg über das Gericht nicht vollständig entbehrlich. Die gerichtliche Genehmigung ist in solchen Fällen durch die bevollmächtigte Person unverzüglich nachzuholen. Zudem ist hinsichtlich freiheitsentziehender Maßnahmen eine Entscheidung durch ein Betreuungsgericht auch dann nicht entbehrlich, wenn sich die Stellvertreter*in und das behandelnde (ärztliche) Personal über die Notwendigkeit dieser Maßnahme einig sind.

6.3 Behandlungsvertrag

Frank Sarangi Das gesamte Rettungsdienst- und Notarztwesen fußt von der Organisation her auf öffentlich-rechtlichen Vorschriften, wie den Rettungsdienstgesetzen der Länder (› Kap. 2.3.3). Die rettungsdienstliche Behandlung als solche ist hingegen rein zivilrechtlich ausgestaltet, sodass sich die Rechte und Pflichten aus der zivilrechtlichen Behandlung aus den §§ 630a ff. BGB ergeben. In rechtlicher Hinsicht ist nicht ganz unumstritten, ob zwischen den Beteiligten im Rettungsdienst und der Patient*in ein zivilrechtlicher Behandlungsvertrag zustande kommt oder ob es sich um ein öffentlich-rechtliches Behandlungsverhältnis eigener Art handelt. In den Bundesländern, in denen der Rettungs- und Notarztdienst öffentlich-rechtlich organisiert ist, ist diese Frage unerheblich. Hier erfolgt die Haftung stets nach Amtshaftungsgrundsätzen, unabhängig davon, welches Rechtsverhältnis besteht (vgl. › Kap. 6.5.2). Anders ist dies hingegen in den Bundesländern, in denen der Rettungsdienst privatrechtlich ausgestaltet ist (z. B. Baden-Württemberg). Dort finden die Vorschriften der §§ 630a ff. BGB direkte Anwendung. Diese Diskussion ist rechtstheoretisch sicherlich interessant, für die Praktiker*in aber ungeeignet. Sie führt nämlich nicht dazu, dass die in den §§ 630a ff. BGB beschriebenen Rechtsfiguren und Anforderungen, wie etwa eine ausreichende Befunderhebung, eine korrekte Diagnostik sowie die Einhaltung von organisatorischen Standards, nicht eingehalten werden müssen. Das Gegenteil ist der Fall. So hat etwa das Kammergericht (KG) Berlin durch zwei Beschlüsse [1] entschieden, dass die Rechtsfiguren der Arzthaftung (die eben in §§ 630a ff. BGB niedergelegt sind) im Rahmen der Amtshaftung Anwendung finden. Auf dieser Linie lag auch ein Urteil des Bundesgerichtshofs [2]. Daher gilt auch im Rettungs- und Notarztdienst, dass die Grundlagen der vorbenannten Vorschriften zu berücksichtigen sind. Me r ke Die in den §§ 630a ff. BGB festgeschriebenen Grundsätze finden auch dann für die Behandlung und Versorgung durch den Rettungsdienst Anwendung, wenn dieser selbst keine Behandlungsverträge abschließt.

6.3.1 Wesen des Behandlungsvertrages

Wie bereits erwähnt, finden sich die gesetzlichen Grundlagen des Behandlungsvertrages in den §§ 630a ff. BGB wieder. In diesem Abschnitt wird in einer Reihe von Paragrafen geregelt, welche Rechte und Pflichten der Rettungsdienst gegenüber den Patient*innen hat. Die §§ 630a ff. BGB regeln u. a.: • Vertragstypische Pflichten (§ 630a BGB) • Mitwirkung der Parteien (§ 630c BGB) • Einwilligung der Patient*in (§ 630d BGB) • Aufklärungspflichten (§ 630e BGB) • Dokumentationspflichten (§ 630f BGB) • Beweislast bei Haftung (§ 630h BGB) § 630a Abs. 1 BGB stellt die zentrale Ausgangsvorschrift dar, in der grob die Leistung (Behandlung) und Gegenleistung (Vergütung) beschrieben wird. Dabei ist der Behandlungsvertrag als klassischer Dienstvertrag ausgestaltet. Das bedeutet, dass die Behandelnden nach dem Wortlaut von § 630a BGB lediglich eine ordnungsgemäße, also den jeweils zum Zeitpunkt der Behandlung geltenden Standards entsprechende Behandlung schuldet und gerade keinen Behandlungserfolg. Vereinfacht ausgedrückt: Im Rettungsdiensteinsatz wird nicht verlangt, dass es den Patient*innen nach dem Einsatz bzw. bei der Übergabe in der Klinik gesundheitlich wieder gut oder besser geht. Verlangt wird aber, dass der gesamte Rettungsdiensteinsatz nach dem geltenden medizinischen Standard abgearbeitet wird und alle relevanten Sorgfaltspflichten eingehalten werden (› Kap. 4.6). § 630a Abs. 2 BGB konkretisiert die zu erbringende Leistung des Rettungsdienstes und bestimmt, dass die Behandlung nach den jeweils anerkannten fachlichen Standards zu erfolgen hat. § 630c BGB enthält weitere relevante Vorgaben. Demnach sind Behandler*in und Patient*in verpflichtet, zur Durchführung der Behandlung zusammenzuwirken. Die Behandler*in ist verpflichtet, der Patient*in in verständlicher Weise zu Beginn der Behandlung und auch im weiteren Verlauf sämtliche für die Behandlung wesentlichen Umstände zu erläutern. Diese Regelung gilt selbstredend auch im Rettungsdienst. Auch hier besteht die Verpflichtung, mit den Patient*innen zusammenzuwirken und diesen den Ablauf des Einsatzes und das medizinische Handeln zu erläutern. Patient*innen sind

verpflichtet, im Rahmen der Anamnese wahrheitsgemäße Angaben zu machen und auch von sich aus wesentliche Umstände offenzulegen, die ihren Gesundheitszustand betreffen. Kommen Patient*innen dem nicht nach und resultiert daraus ein späterer Gesundheitsschaden, so können die behandelnden Personen hierfür i. d. R. nicht in Anspruch genommen werden, weil durch die unwahren Angaben der Patient*innen deren Mitverschulden überwiegen würde.

6.3.2 Pflichten der Parteien Die Hauptpflichten der Parteien liegen in einem gemeinschaftlichen, also partnerschaftlichen, Zusammenwirken. Es gibt also im Behandlungsverhältnis keine klassische Über- und Unterordnung. Das Gesetz geht vielmehr davon aus, dass eine Behandlung partnerschaftlich „auf Augenhöhe“ stattfinden soll, woraus die Aufklärungs-, Informations- und Mitwirkungspflichten resultieren. Die Rechte und Pflichten aus dem Behandlungsvertrag sind vereinfacht in › Tab. 6.1 dargestellt.

Tab. 6.1 Rechte und Pflichten aus dem Behandlungsvertrag (nicht abschließend) Rechte und Pflichten

Rechte und Pflichten

Rettungsdienst/Notärzt*in

Patient*in

Behandlung nach dem zum Zeitpunkt des

Angabe aller relevanten

Einsatzes geltenden Standard

medizinischen Daten im

(Diagnostik/Befunderhebung/Auswertung)

Rahmen der Anamnese

Einbeziehung der Patient*in durch:

• Entscheidung über das „Ob“ einer Behandlung

• Aufklärung

• Mitwirkung bei der Behandlung

• Anleitung

• Therapiegerechtes Verhalten

• Sicherstellung der Compliance

• Angabe des Versicherungsstatus zur Abrechnung

§ 630a BGB Vertragstypische Pflichten beim Behandlungsvertrag (1) Durch den Behandlungsvertrag wird derjenige, welcher die medizinische Behandlung eines Patienten zusagt (Behandelnder), zur Leistung der versprochenen Behandlung, der andere Teil (Patient) zur Gewährung der vereinbarten Vergütung verpflichtet, soweit nicht ein Dritter zur Zahlung verpflichtet ist.

(2) Die Behandlung hat nach den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards zu erfolgen, soweit nicht etwas anderes vereinbart ist. Pflichten der Behandelnden Die behandelnde Person (egal ob Notärzt*in oder nichtärztliches Rettungsdienstpersonal) ist verpflichtet, die Behandlung nach den jeweils zum Zeitpunkt des Einsatzes geltenden medizinischen Standards zu erbringen. Me r ke Durch die Regelungen zum Behandlungsvertrag wird vom Rettungsdienst eine Behandlung nach aktuellem medizinischen Standard gefordert. Darüber hinaus besteht die Pflicht, ausreichend Diagnostik durchzuführen, diese korrekt auszuwerten und entsprechend medizinisch indizierte Maßnahmen einzuleiten. Ein wesentlicher Punkt der Hauptleistungspflicht auf der Behandlerseite ist die sog. Befunderhebungspflicht. Das Gesetz bestimmt in § 630h Abs. 5 BGB die Pflicht, im Rettungsdiensteinsatz alle medizinisch gebotenen Befunde zu erheben. Dies bedeutet, dass neben der Anamnese auch eine symptombezogene (Geräte-)Diagnostik durchgeführt werden muss. Grundsätzlich sind die Behandelnden auch dazu verpflichtet, die Patient*innen über die bevorstehenden Maßnahmen aufzuklären und die wesentlichen Risiken der geplanten Maßnahme zu erläutern, damit sich diese für oder gegen die Maßnahme entscheiden können. Diese Pflicht stellt für den Rettungsdienst in Notfallsituationen eine untergeordnete Pflicht dar, da die Aufklärungspflichten geringer werden, je dringlicher eine Maßnahme bzw. Behandlung indiziert ist. In Situationen, in denen eine Maßnahme vital, also zur Lebensrettung, indiziert ist, entfällt die Aufklärungspflicht vollständig. Speziell für den Rettungsdienst besteht noch die Pflicht, eine ordnungsgemäße Übergabe in der Klinik zu gewährleisten und dort alle medizinisch relevanten Daten mitzuteilen, die für die weitere Behandlung notwendig sind. Eine Übergabe ist juristisch nur dann „ordnungsgemäß“, wenn der aufnehmenden Ärzt*in oder dem Pflegepersonal in der Klinik alle relevanten medizinischen Daten der Patient*in mitgeteilt werden, damit ein nahtloser Übergang in die stationäre Behandlung ermöglicht wird. Das Personal in der Aufnahme muss also durch die Übergabe in die Lage

versetzt werden, die Behandlung ohne weitere Nachfragen durchführen zu können. Dies setzt nicht nur eine Schilderung der medizinischen Ist-Situation voraus, sondern auch die Mitteilung aller relevanten medizinischen Gesichtspunkte der Auffindesituation und des Transportverlaufs sowie die Übergabe eines medizinisch korrekt ausgefüllten Rettungsdienstprotokolls. Pr axis t ip p Um eine Übergabe möglichst vollständig und damit auch juristisch stichhaltig zu gestalten, kann es hilfreich sein, sich Übergabeschemata bzw. Akronyme zunutze zu machen (z. B. SBAR, AT(De)MIST). Pflichten der Patient*in Auf Seite der Patient*innen sieht das Gesetz die Verpflichtung vor, eine vereinbarte Vergütung zu entrichten, soweit nicht ein Dritter zur Zahlung verpflichtet ist. Diese Vorschrift hat für den Rettungsdienst lediglich untergeordnete Relevanz. Im Regelfall besteht bei den zu behandelnden Patient*innen ein Krankenversicherungsschutz, sodass die Kosten des Rettungsdiensteinsatzes und der Behandlung von der gesetzlichen oder privaten Krankenversicherung gezahlt werden. Besteht kein Versicherungsschutz, etwa bei obdachlosen Patient*innen, so greift i. d. R. § 25 SGB XII ein. Danach muss in Eilfällen und in Fällen der Nothilfe Dritter der Träger der Sozialhilfe die Kosten übernehmen. Als wesentliche Hauptleistungspflicht auf Patientenseite besteht die Pflicht zur ordnungsgemäßen Mitwirkung. Patient*innen sind dazu verpflichtet, im Rahmen der Anamnese ordnungs- und wahrheitsgemäße Angaben zu machen. Tun sie dies nicht und verschweigen sie ggf. bewusst relevante medizinische Tatsachen, so kann hieraus ein Mitverschulden begründet werden. Dieses Mitverschulden hat ggf. zur Konsequenz, dass medizinisch fehlerhafte Handlungen des Rettungsdienstes, die auf dieser unvollständigen oder falschen Angabe beruhen, rechtlich betrachtet keine Konsequenzen für das Rettungsdienstpersonal haben. Rechte und Pflichten in Notfallsituationen Die vorgenannten Rechte und Pflichten gelten auch im Rettungsdiensteinsatz. Das Gesetz macht im Hinblick auf die beschriebenen Pflichtenkreise keinen

Unterschied dahingehend, ob es sich um eine reguläre Behandlungssituation oder einen Notfall handelt. Ein Unterschied ergibt sich allenfalls im Hinblick auf die Intensität der wechselseitigen Pflichten (vgl. › Kap. 4.6.2). So gilt auch im Rettungsdiensteinsatz die Pflicht zur ordnungsgemäßen Befunderhebung und Diagnostik sowie zur Aufklärung der Patient*innen. Umgekehrt gilt für die Patient*innen auch im Notfall, dass sie wahrheitsgemäße Angaben im Rahmen der Anamnese machen müssen – insofern dies gesundheitlich möglich ist.

6.3.3 Aufklärung und Einwilligung André Höhle, Frank Sarangi § 630d BGB Einwilligung (1) Vor Durchführung einer medizinischen Maßnahme, insbesondere eines Eingriffs in den Körper oder die Gesundheit, ist der Behandelnde verpflichtet, die Einwilligung des Patienten einzuholen. Ist der Patient einwilligungsunfähig, ist die Einwilligung eines hierzu Berechtigten einzuholen, soweit nicht eine Patientenverfügung nach § 1827 Absatz 1 Satz 1 die Maßnahme gestattet oder untersagt. Weitergehende Anforderungen an die Einwilligung aus anderen Vorschriften bleiben unberührt. Kann eine Einwilligung für eine unaufschiebbare Maßnahme nicht rechtzeitig eingeholt werden, darf sie ohne Einwilligung durchgeführt werden, wenn sie dem mutmaßlichen Willen des Patienten entspricht. (2) Die Wirksamkeit der Einwilligung setzt voraus, dass der Patient oder im Fall des Absatzes 1 Satz 2 der zur Einwilligung Berechtigte vor der Einwilligung nach Maßgabe von § 630e Absatz 1 bis 4 aufgeklärt worden ist. (3) Die Einwilligung kann jederzeit und ohne Angabe von Gründen formlos widerrufen werden. Die Behandlung von Notfallpatient*innen setzt deren Einwilligung voraus. Dies ist eindeutig im BGB geregelt und folgt zudem aus dem juristischen Grundsatz, dass jede Maßnahme der medizinischen Heilbehandlung eine strafbare Körperverletzung darstellt (vgl. › Kap. 7.5.1) und damit gerechtfertigt werden muss. Die Strafbarkeit einer solchen Maßnahme kann demnach grds. nur entfallen,

wenn eine (ausdrückliche oder mutmaßliche) Einwilligung der jeweiligen Patient*in vorliegt (vgl. auch § 228 StGB). Eine solche Einwilligung kann nur dann wirksam erteilt werden, wenn die betroffenen Patient*innen einwilligungsfähig sind und nach einer ordnungsgemäßen Aufklärung überhaupt wissen, worin sie einwilligen. Denn auch im Notfall sollen die Patient*innen frei darüber entscheiden können, ob sie eine medizinische Maßnahme durchführen lassen oder nicht. Damit eine solche Einwilligung wirksam ist, müssen grds. einige aufeinander aufbauende Voraussetzungen erfüllt sein: • Einwilligungsfähigkeit der Patient*in • Aufklärung der Patient*in • Erteilung der Einwilligung Diese Voraussetzungen sind hierarchisch voneinander abhängig. Wie bei einer Treppe muss zuerst die unterste Stufe erreicht werden, um zur nächsten zu kommen usw. Es kann also kein Schritt übersprungen werden. Das Stufenmodell der Einwilligung ist in › Abb. 6.1 dargestellt.

ABB. 6.1 Stufenmodell der Einwilligung [L157] In besonderen Situationen, in denen eine Patient*in nicht einwilligungsfähig ist, kommt alternativ eine mutmaßliche Einwilligung in Betracht. Diese unterliegt wiederum eigenen Voraussetzungen. Mit der Aufnahme dieser Regelungen trägt der Gesetzgeber dem Recht auf Selbstbestimmung Rechnung. Auch die Regelungen zur Patientenverfügung sind gesetzliche Folge des Selbstbestimmungsrechts. Das Selbstbestimmungsrecht beinhaltet grds. auch das Recht, unvernünftige Entscheidungen zu treffen. Einwilligungsfähigkeit Eine wirksame Einwilligung ist nur in den Fällen möglich, in denen die Patient*innen einwilligungsfähig sind. Die Einwilligungsfähigkeit ist dabei nicht von festen Altersgrenzen abhängig und insb. von der Geschäftsfähigkeit abzugrenzen (vgl. › Kap. 6.1.3). Vielmehr kommt es auf die natürliche/tatsächliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit einer Person an. Nach der Rechtsprechung ist eine Person dann einwilligungsfähig, wenn sie die geistig-sittliche Reife dazu besitzt, die Bedeutung und Tragweite ihrer Entscheidung zu erkennen. Es muss eine sachgerechte Beurteilung der Situation

erforderlich sein und eine zutreffende Vorstellung vom voraussichtlichen Verlauf und den Folgen bestehen. Einschränkungen dieser Beurteilungs- und damit Einwilligungsfähigkeit können psychische, krankheits- und verletzungsbedingte oder sonstige Ursachen haben. Konkretere Ursachen sind in › Tab. 6.2 aufgeführt. Für den Rettungsdienst können allgemein Akutsituationen hervorgehoben werden, in denen die kognitive Leistungsfähigkeit aufgrund des Notfalls eingeschränkt ist. Tab. 6.2 Mögliche Gründe für fehlende Einwilligungsfähigkeit Psychisch

Krankheits-/Verletzungsbedingt Sonstige

Psychosen

Intoxikationen (Alkohol, Drogen,

(Wahnvorstellungen,

Medikamente etc.)

Geistige Behinderung

Schizophrenie, Depression etc.) Degenerative

Traumata (Kopfverletzungen etc.)

Kinder (sofern

Erkrankungen

geistig-

(Demenz etc.)

sittliche Reife fehlt)

Delir

Neurologische Notfälle (Apoplex, Krampfanfall etc.) Hypoglykämie Starke Schmerzen

Me r ke Die Einwilligungsfähigkeit ist nicht mit der Geschäftsfähigkeit gleichzusetzen. Einwilligungsfähig ist, wer die geistig-sittliche Reife dazu besitzt, die jeweilige Entscheidung zu verstehen, sie zu verarbeiten und sie umfassend zu bewerten. Es ist demnach entscheidend, ob eine Person die tatsächliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit dazu besitzt, die Sachlage und Tragweite der jeweiligen Maßnahme erfassen zu können.

Im Rahmen der Ersteinschätzung kann die Einwilligungsfähigkeit durch den Rettungsdienst überprüft werden, indem beurteilt wird, ob die Patient*in zeitlich, örtlich, in Bezug auf die Person und in Bezug auf die aktuelle Situation orientiert ist. Sofern bei einem der genannten Kriterien Zweifel darüber bestehen, dass die Patient*in orientiert ist, muss davon ausgegangen werden, dass sie nicht einwilligungsfähig ist. Pr axis t ip p Zur Einschätzung der Einwilligungsfähigkeit erlauben folgende Kriterien einen ersten Überblick: Orientiert in Bezug auf: • Person • Ort • Zeit • Situation

Che c kl is te Einwilligungsfähigkeit • Überprüfung des Alters der Patient*in – Unter 14 Jahren ist i. d. R. keine eigene Einwilligung möglich. – Alter zwischen 14 und 18 Jahren: Geistig-sittliche Reife? Kann Patient*in den Ausführungen folgen? Kann Patient*in Bedeutung der Ausführungen nachvollziehen und selber wiedergeben? Handelt es sich um eine Routinemaßnahme? • Liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Einwilligungsfähigkeit krankheits-/verletzungsbedingt beeinträchtigt oder ausgeschlossen sein kann? • Liegen keine Anhaltspunkte für eine psychische Erkrankung vor? • Ist Patient*in orientiert (s. Praxistipp)?

• Liegen keine sonstigen Anhaltspunkte dafür vor, dass die Einwilligungsfähigkeit beeinträchtigt oder ausgeschlossen sein kann? Können alle Punkte mit „Ja“ beantwortet werden, kann von der Einwilligungsfähigkeit ausgegangen werden. Ist die Patient*in einwilligungsfähig, kann eine eigene Einwilligung abgegeben werden. Fehlt es an der Einwilligungsfähigkeit, muss geprüft werden, ob ggf. eine vertretungsberechtigte Person erreichbar ist, die eine Einwilligung abgeben kann. Dies sind bei einwilligungsunfähigen Minderjährigen i. d. R. die Eltern (› Kap. 6.2.1). Bei betreuten Erwachsenen kann die Einwilligung durch eine Betreuer*in erfolgen, wenn die Betreuung für den Aufgabenbereich Gesundheitsangelegenheiten eingerichtet wurde. Besondere Patientengruppen im Zusammenhang mit der Einwilligungsfähigkeit Besondere Relevanz hinsichtlich der Einwilligungsfähigkeit haben Minderjährige, betreute Patient*innen und alkoholisierte Personen oder solche unter Drogeneinfluss. Minderjährige Auch für minderjährige Patient*innen gelten zunächst die allgemeinen Vorgaben zur Einwilligungsfähigkeit. Entscheidend ist demnach die natürliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit. Wenngleich es keine festen Altersgrenzen gibt, kann davon ausgegangen werden, dass bei Minderjährigen unter 14 Jahren keine Einwilligungsfähigkeit vorliegt. In diesen Fällen kommt es auf die Einwilligung der Eltern an. Deren Erziehungsrecht (Sorgerecht) ist grundgesetzlich geschützt (Art. 6 Abs. 2 GG) und daher vorrangig zu beachten. Dieses grundgesetzlich geschützte Recht der Eltern findet jedoch dort seine Grenze, wo eine Gefährdung des Kindeswohls infrage kommt. Entscheidungen der Eltern in der Ausübung des Sorgerechts haben sich demnach am Kindeswohl auszurichten. Da die elterliche Sorge i. d. R. von beiden Elternteilen gemeinschaftlich ausgeübt wird, ist grds. die Entscheidung beider Elternteile erforderlich, die zuvor auch beide entsprechend aufzuklären sind. Sofern es sich um einen Notfall handelt, reicht auch die Einwilligung eines

Elternteils aus. In Fällen, in denen kein Elternteil vor Ort ist oder erreicht werden kann, kann auf die mutmaßliche Einwilligung zurückgegriffen werden. Ab 18 Jahren wird von der Einwilligungsfähigkeit ausgegangen, solange dem nicht andere Umstände entgegenstehen (vgl. dazu › Abb. 6.1). Im Alter zwischen 14 und 18 Jahren hängt die Einwilligungsfähigkeit vom Entwicklungsstand, der Komplexität der in Rede stehenden Maßnahme, den denkbaren Folgen der Maßnahme sowie dem konkreten Verständnis ab. Wie sich diese Kriterien darstellen, muss jeweils im Einzelfall beurteilt werden. Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass bei einfach gelagerten medizinischen Interventionen (Routineeingriffen) von einer Einwilligungsfähigkeit ausgegangen werden kann. Zudem kann angenommen werden, dass eine eigene Einwilligungsfähigkeit einer minderjährigen Person umso eher vorliegt, je näher diese an der Volljährigkeit ist. Problematisch können hier die Fälle werden, in denen eine minderjährige Patient*in nicht einwilligungsfähig ist, die Eltern jedoch in eine medizinisch notwendige Maßnahme keine Einwilligung erteilen. Die Entscheidung der Eltern ist grds. in den Fällen zu beachten, in denen diese berechtigt sind, eine Einwilligung zu erteilen oder zu verweigern. In diesem Zusammenhang sind auch unvernünftige Entscheidungen zu respektieren. Die Grenze verläuft jedoch dort, wo die Entscheidung zu einer Gefährdung des Kindeswohls (körperlich und seelisch) führt. In diesen Fällen sieht das Gesetz vor, dass das Familiengericht Maßnahmen treffen kann, um die Gefahr für das Kind abzuwenden. In solchen Fällen ist i. d. R. der Rechtsweg zu beschreiten und eine Entscheidung des Familiengerichts einzuholen. Ist dies aus zeitlichen Gründen nicht möglich (typischerweise in notfallmedizinischen Einsätzen), kann im Einzelfall auch ohne das Vorliegen einer richterlichen Entscheidung vorgegangen werden. Dies muss allerdings gut und ausführlich dokumentiert werden. R e ch t in e ch t (Fall 6.2) Ein 10-jähriger Patient wird vom Rettungsdienst versorgt, er hat eine offene Unterschenkelfraktur. Der Patient hat sehr starke Schmerzen. Um ihn überhaupt bewegen zu können, bedarf es einer Schmerztherapie. Die Eltern lehnen das Legen eines Zugangs und die Gabe von Schmerzmitteln ab. Da in

diesem Fall sofort gehandelt werden muss, um Leben und Gesundheit des Patienten zu schützen, kommt ein gerichtliches Vorgehen gegen die Entscheidung der Eltern nicht in Betracht. Die Entscheidung, ohne Schmerztherapie vorzugehen, würde zu erheblichen körperlichen und auch psychischen Beeinträchtigungen führen. Daher wäre ein Vorgehen entgegen der Entscheidung der Eltern hier vertretbar. Die Umstände sollten jedoch detailliert dokumentiert werden. Weiter ist zu beachten, dass auch einwilligungsunfähigen Personen ein sog. Vetorecht zusteht. Bei Minderjährigen greift dieses ab 14 Jahren. Ein Veto liegt dann vor, wenn eine einwilligungsunfähige Person, die sich äußern kann, die Durchführung einer Maßnahme ablehnt. Ein solches Veto sollte grds. beachtet werden. Ausgenommen sind die Fälle, in denen Lebensgefahr oder schwere gesundheitliche Schäden drohen. Gerade bei aufschiebbaren Eingriffen ist ein Veto beachtlich und sollte respektiert werden. In Fällen von Lebensgefahr und schweren gesundheitlichen Schäden gilt die Einwilligung der Eltern. Sollte in einem solchen Fall die Anwendung unmittelbaren Zwangs erforderlich sein, ist dafür wieder die Polizei hinzuzuziehen. Als Ausdruck des eigenen Persönlichkeitsrechts steht den minderjährigen Patient*innen aber mitunter frei, die Entscheidung für oder gegen eine Behandlung auch gegen den Willen der Eltern zu treffen. Das OLG Hamm führte hierzu etwa wie folgt wörtlich aus: „Eine Minderjährige bedarf […] nicht der Zustimmung ihrer gesetzlichen Vertreter, wenn sie einwilligungsfähig ist, also nach ihrer geistigen und sittlichen Reife die Tragweite dieses Eingriffs erfassen und ihren Willen hiernach ausrichten kann.“ [3] Es kann an dieser Stelle keine Universallösung oder eine Art verbindlicher Leitfaden für den Einsatz gegeben werden. Die oben genannten Voraussetzungen sind in jedem Einsatzeinzelfall zu prüfen. Alle maßgeblichen Gesichtspunkte, die für oder gegen die eigene Einwilligungsfähigkeit der minderjährigen Patient*in sprechen, müssen im RTW- oder NEF-Protokoll dokumentiert werden. Betreute Patient*innen

Im Falle einer Betreuungssituation hat sich der Rettungsdienst zunächst zu vergewissern, ob eine wirksame Betreuung für gesundheitliche Angelegenheiten besteht (vgl. › Kap. 6.2.1). Zudem ist zu beachten, dass die Betreuung immer erst dann greift, wenn die betreute Person eine bestimmte Angelegenheit nicht mehr selbst besorgen kann. Kann sie die gesundheitliche Entscheidung noch ausreichend überblicken, ist grds. der Wille der Patient*in entscheidend. Macht eine einwilligungsunfähige, aber äußerungsfähige betreute Patient*in deutlich, dass sie eine medizinisch notwendige Maßnahme ablehnt, muss dieses Vetorecht beachtet werden – auch wenn eine etwaige Betreuer*in möchte, dass die Maßnahme durchgeführt wird. Ausgenommen sind hier wieder Fälle von Lebensgefahr oder schwerer gesundheitlicher Schäden. In diesen Fällen zählt die Einwilligung der Betreuer*in. R e ch t in e ch t (Fall 6.3) Eine Patientin mit leichter Demenz ist gestürzt und hat sich am Knie gestoßen. Die wirksam bestellte Betreuerin möchte, dass die Patientin in eine Klinik gebracht wird, um das Knie untersuchen zu lassen. Dieses schmerzt zwar etwas, kann jedoch bewegt werden. Auch Auftreten und Gehen sind noch möglich. Die Patientin möchte auf keinen Fall in die Klinik und lehnt einen Transport explizit ab. Hier hat die bestellte Betreuerin grds. die Entscheidungskompetenz inne. Allerdings greift in diesem Fall das Vetorecht der Patientin, auch wenn sie die Situation selbst nicht beurteilen kann. Das Vetorecht kann hier akzeptiert werden, da es sich nicht um eine lebensbedrohliche bzw. kritische Verletzung handelt. Alkoholisierte Patient*innen oder Patient*innen unter BtM-/Rauschmitteleinfluss Nur weil eine Person Alkohol getrunken hat, ist diese Person nicht auch automatisch einwilligungsunfähig. Der Konsum von Alkohol stellt lediglich ein Indiz für eine mögliche Einwilligungsunfähigkeit dar, das den Rettungsdienst dazu veranlassen muss, die Einwilligungsfähigkeit genauer zu prüfen. Bei der Beurteilung spielen Trinkverhalten, Trinkmenge und Art der Getränke eine entscheidende Rolle. Darüber hinaus können wieder die zuvor dargestellten

Kriterien zur Orientiertheit (Person, Ort, Zeit, Situation) herangezogen werden. Ähnliches gilt für Personen, die Betäubungs- oder andere Rauschmittel konsumiert haben. In diesen Fällen gilt, dass bei einer nicht erteilten Einwilligung in medizinisch notwendige Maßnahmen zunächst eine Notärzt*in zur weiteren Untersuchung und Aufklärung der Patient*in hinzugezogen werden sollte. Wird nach entsprechender weitergehender Aufklärung/Erklärung noch immer eine medizinisch notwendige Maßnahme oder ein medizinisch notwendiger Transport abgelehnt, ist bei Lebensgefahr oder drohenden schweren gesundheitlichen Schäden zu überlegen, ob die Patient*in unter Anwendung unmittelbaren Zwangs in eine Klinik transportiert werden sollte. Ist dies erforderlich, ist wieder die Polizei hinzuzuziehen. R e ch t in e ch t (Fall 6.4) Der Rettungsdienst wird zu einer hilflosen Person am Straßenrand einer Landstraße alarmiert. Es ist November, 23 Uhr, die Temperatur beträgt 4 Grad und es regnet leicht. Angetroffen wird ein Mann, 28 Jahre, bekleidet mit TShirt, Jeans und Sneakern. Er hat eine stark blutende Kopfplatzwunde, mehrere Schürfungen an Armen und Beinen und kann sich nicht erinnern, was passiert ist. Er kann lediglich angeben, dass er von einer Party in der Nähe gekommen ist. Er möchte auf keinen Fall in eine Klinik transportiert werden. Aufgrund der Alkoholisierung und der eingeschränkten Orientiertheit kann hier davon ausgegangen werden, dass der Patient nicht einwilligungsfähig ist. In diesem Fall ist es erforderlich, dem Patienten deutlich die Notwendigkeit eines Transports in die Klinik vor Augen zu führen. Führt auch dieses Vorgehen nicht zur Einsicht des Patienten, ist aufgrund der bestehenden Lebensgefahr ein zwangsweiser Transport zu veranlassen und dafür die Polizei hinzuzuziehen. Aufklärung Um eine selbstbestimmte Entscheidung treffen zu können, ist es erforderlich zu wissen, in was genau überhaupt eingewilligt wird. Um dies sicherzustellen, verlangt der Gesetzgeber eine Aufklärung (§ 630e BGB). Bei einer einwilligungsfähigen Patient*in erfolgt die Aufklärung persönlich. Ansonsten kann die Aufklärung auch

gegenüber einer vertretungsberechtigten Person (› Kap. 6.2) erfolgen, sofern eine solche erreichbar ist. In Ausführungen zum Thema Aufklärung werden teilweise die Begriffe „Eingriffs- und Risikoaufklärung“ oder „Sicherungsaufklärung“ verwendet. Unter einer Eingriffs- und Risikoaufklärung wird dabei die Aufklärung verstanden, die erfolgen muss, bevor eine medizinische Maßnahme durchgeführt wird, die in die körperliche Unversehrtheit der Patient*innen eingreift. Dies ist demnach die Art der Aufklärung, die auch im Rettungsdienst erforderlich ist, bevor z. B. ein i. v.-Zugang gelegt wird oder Medikamente verabreicht werden. Die Eingriffs- und Risikoaufklärung ist die Aufklärung, die im Zusammenhang mit der rechtfertigenden Einwilligung von besonderer Bedeutung ist, denn hier geht es darum, Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit rechtlich zu legitimieren. Von einer Sicherungsaufklärung wird dann gesprochen, wenn es darum geht, die Patient*in zu einem bestimmten Verhalten zu bewegen, das den Heilungserfolg sichern soll oder sich allgemein auf ein Verhalten der Patient*in bezieht. Eine Sicherungsaufklärung liegt insb. dann vor, wenn der Rettungsdienst Patient*innen über die Folgen einer abgelehnten Behandlung oder die Folgen der Verweigerung des Transports in eine Klinik aufklärt. Der notwendige Inhalt einer Aufklärung ergibt sich aus § 630e BGB. Die dort geregelten Voraussetzungen sind sehr umfangreich. Dazu heißt es in Abs. 1: (1) Der Behandelnde ist verpflichtet, den Patienten über sämtliche für die Einwilligung wesentlichen Umstände aufzuklären. Dazu gehören insbesondere Art, Umfang, Durchführung, zu erwartende Folgen und Risiken der Maßnahme sowie ihre Notwendigkeit, Dringlichkeit, Eignung und Erfolgsaussichten im Hinblick auf die Diagnose oder die Therapie. Bei der Aufklärung ist auch auf Alternativen zur Maßnahme hinzuweisen, wenn mehrere medizinisch gleichermaßen indizierte und übliche Methoden zu wesentlich unterschiedlichen Belastungen, Risiken oder Heilungschancen führen können. Im Aufklärungsgespräch erfolgt demnach eine Diagnose-, Verlaufs- und Risikoaufklärung. A ch tu ng

Vor einer Behandlung besteht grds. eine gesetzliche Pflicht dazu, Patient*innen über die wesentlichen Umstände einer Maßnahme aufzuklären (§ 630e BGB). Me r ke Mit der Aufklärung sollen Patient*innen über die Tragweite und Folgen einer Behandlungsmaßnahme in Kenntnis gesetzt werden. Dazu gehören insb.: • Diagnoseaufklärung – Erläuterung des erhobenen Befundes bzw. der (Verdachts-)Diagnose – Notwendigkeit der Maßnahme im Hinblick auf die (Verdachts-)Diagnose oder die Therapie – Dringlichkeit der Maßnahme im Hinblick auf die (Verdachts-)Diagnose oder die Therapie – Eignung und Erfolgsaussichten der Maßnahme im Hinblick auf die (Verdachts-)Diagnose oder die Therapie • Verlaufsaufklärung – Art der Maßnahme – Umfang der Maßnahme – Durchführung der Maßnahme – zu erwartende Folgen • Risikoaufklärung – Risiken der Maßnahme – mögliche Neben- und Wechselwirkungen der Maßnahme – Alternativen zu der Maßnahme (wenn vorhanden)

Eine Aufklärung hat dabei lediglich „im Großen und Ganzen“ zu erfolgen. Den Patient*innen müssen nicht alle denkbaren medizinischen Risiken exakt oder in allen möglichen Erscheinungsformen dargestellt werden. Im Notfalleinsatz kann es an der Zeit fehlen, derart detailliert aufzuklären. Ist eine detaillierte Aufklärung aus zeitlichen Gründen nicht möglich, reicht eine situationsangemessene Aufklärung aus. Der Umfang einer solchen Aufklärung hängt vom jeweiligen Einzelfall ab, sie kann im Zweifel auch sehr knapp gehalten werden oder gänzlich

entfallen. So muss etwa ein akuter Infarktpatient nicht umfangreich darüber aufgeklärt werden, dass die dringend indizierte Anlage eines i. v.-Zugangs zur Applikation von ASS oder Morphin zu einer Phlebitis führen kann. Dies darf allerdings nicht als „Ausrede“ für jeden Rettungsdiensteinsatz verstanden werden. Vielmehr handelt es sich um eine einzelfallabhängige Beurteilung, die in jedem Einsatz neu erwogen werden muss. Juristisch betrachtet gilt, dass eine Aufklärung umso weniger umfangreich erfolgen muss, je dringender indiziert die Behandlung bzw. Maßnahme ist. Umgekehrt gilt, dass eine Aufklärung umso intensiver und umfangreicher zu erfolgen hat, je weniger indiziert eine Maßnahme ist. In § 630e BGB heißt es weiter: (2) Die Aufklärung muss 1. mündlich durch den Behandelnden oder durch eine Person erfolgen, die über die zur Durchführung der Maßnahme notwendige Ausbildung verfügt; ergänzend kann auch auf Unterlagen Bezug genommen werden, die der Patient in Textform erhält, 2. so rechtzeitig erfolgen, dass der Patient seine Entscheidung über die Einwilligung wohlüberlegt treffen kann, 3. für den Patienten verständlich sein. […] (3) Der Aufklärung des Patienten bedarf es nicht, soweit diese ausnahmsweise aufgrund besonderer Umstände entbehrlich ist, insbesondere wenn die Maßnahme unaufschiebbar ist oder der Patient auf die Aufklärung ausdrücklich verzichtet hat. Demnach kann und muss auch durch nichtärztliches Personal eine Aufklärung durchgeführt werden. Diese erfolgt mündlich. Im Einsatz muss die Aufklärung grds. frühzeitig erfolgen, um der betroffenen Patient*in ausreichend Zeit zu geben, über eine Entscheidung nachzudenken. Das dient dazu, die Patient*innen nicht mit Informationen zu „überrumpeln“. Allerdings sind Maßnahmen im Rettungsdienst und der Notfallmedizin regelmäßig dringend, sodass der Zeitpunkt der Aufklärung an die Situation angepasst werden muss. Die Aufklärung muss so erfolgen, dass die betroffene Patient*in sie inhaltlich auch verstehen kann. Das bedeutet, dass die inhaltlichen Ausführungen an die Patient*innen angepasst werden müssen. Hierzu kann es nötig sein, eine sehr einfache Sprache, frei von Fachbegriffen, zu nutzen. Besteht eine

Sprachbarriere, kann versucht werden, diese durch eine Dolmetscher*in oder andere Übersetzungsmöglichkeiten zu überwinden. Ist dies nicht möglich, muss abgewogen werden, ob oder inwieweit die Patient*in trotzdem einwilligungsfähig ist und ggf. auf den mutmaßlichen Willen abgestellt werden. Eine Aufklärung in der Muttersprache ist in Notfallsituationen nicht erforderlich. Eine Aufklärung kann gänzlich entfallen, wenn Patient*innen auf ihr Aufklärungsrecht verzichten oder eine Notfallsituation zeitlich gar keine Möglichkeit dazu bietet. Letzteres ist eine Ausnahme. Me r ke Die Vorgaben für eine rechtlich korrekte Aufklärung sind sehr umfangreich. Für Rettungsdienst und Notfallmedizin gilt allerdings, dass lediglich eine situationsangemessene Aufklärung erfolgen muss. Die Grundsätze aus § 630e BGB gelten in Notfallsituation also immer nur modifiziert. R e ch t in e ch t (Fall 6.5) Notfallsanitäterin Marie und Rettungssanitäter Till sind mit dem RTW bei einen Notfalleinsatz in einem Altenheim. Die 80-jährige Patientin, die als Vorerkrankung eine COPD hat, klagt über schwere Atemnot. Sie ist geistig noch fit und in der aktuellen Situation auch voll orientiert. Aufgrund der schweren Atemnot ist sie jedoch kaum in der Lage, ein Wort zu sprechen. Zudem ist sie sehr aufgeregt und ringt um Luft. Nach einer ersten Untersuchung besteht aus Sicht von Marie und Till die Indikation und Notwendigkeit, der Patientin über eine O2-Maske ein Medikament vernebelt zu verabreichen und ihr einen i. v.-Zugang zu legen, um darüber weitere Medikamente zu verabreichen. Gerade wenn Medikamente verabreicht werden sollen, ist i. d. R. eine möglichst genaue Aufklärung zu Art, Wirkungen, Nebenwirkungen etc. des Medikaments erforderlich. In dieser Situation besteht jedoch Lebensgefahr für die Patientin. Vor diesem Hintergrund kann die Aufklärung sehr kurz ausfallen und sich ggf. darauf beschränken, mögliche Kontraindikationen abzufragen. Die Patientin wäre in dieser Situation überhaupt nicht in der Lage, einer detaillierten und vollständigen Aufklärung gedanklich zu folgen und daraufhin eine sorgfältig überlegte Entscheidung zu treffen.

Wird von einer einwilligungsfähigen Patient*in trotz ordnungsgemäßer Aufklärung keine Einwilligung in eine Maßnahme erteilt, ist dieser Wille auch dann zu akzeptieren, wenn dieser objektiv unvernünftig erscheint und die Maßnahme aus medizinischer Sicht notwendig wäre. Grundsätzlich gilt, dass auch unvernünftige Entscheidungen akzeptiert werden müssen. Jedoch kann bei unvernünftigen Entscheidungen nie ganz ausgeschlossen werden, dass diese ggf. doch nicht ganz freiverantwortlich erfolgen. Daher darf in diesen Fällen nichts unversucht gelassen werden, die Patient*in durch Einwirkungs- und Überredungsversuche zu einer vernünftigen Entscheidung zu bewegen. Wohlgemerkt, nicht drängen oder nötigen, sondern nicht gleich aufgeben, sondern beharrlich argumentieren und ggf. versuchen, die Gründe, aus denen eine Ablehnung der Einwilligung erfolgt, zu erfassen und, wenn möglich, zu entkräften. Pr axis t ip p Patient*innen, die trotz medizinischer Indikation nicht in ein Krankenhaus transportiert werden wollen, sind i. d. R. nicht die „Lieblings-“Patient*innen der Rettungsdienstmitarbeitenden und verursachen im Einsatz eher Unmut. Häufig kommt es dann dazu, dass der Umgangston aufseiten des Rettungsdienstes eher schroff und unfreundlich wird. Dies führt mitunter allerdings zu weiteren Trotzreaktionen der Patient*in, sodass dem Transport erst recht nicht zugestimmt wird. Dadurch wird das Ziel, die Patient*in zu einer vernünftigen Entscheidung zu leiten, verfehlt. Die Professionalität der Rettungsdienstmitarbeiter*innen gebietet es, in solchen Situationen freundlich und zielorientiert auf die Patient*in einzugehen. Dokumentation Das Aufzeichnen der Einwilligungsfähigkeit, der Aufklärung und einer ggf. erteilten Einwilligung ist Bestandteil einer jeden ordnungsgemäßen Dokumentation (§ 630f BGB). Dabei ist zu jedem der Punkte mindestens ein Satz erforderlich. Bei Problemen sowie Besonderheiten hinsichtlich der Einwilligung oder der dazu erforderlichen Schritte werden diese gesondert im Protokoll vermerkt. So wird z. B. nach einem zeitkritischen Notfall dokumentiert, dass die Aufklärung aufgrund der Notfallsituation nur kurz ausfallen konnte. Ist eine

Aufklärung erfolgt, muss möglichst genau dokumentiert werden, welchen Inhalt diese gehabt hat. A ch tu ng Gibt es an irgendeiner Stelle (Einwilligungsfähigkeit, Aufklärung, erteilte Einwilligung) ein Problem, muss dies ausführlich dokumentiert und hinreichend begründet werden, warum in Rede stehende Maßnahmen daraufhin durchgeführt bzw. nicht durchgeführt worden sind. Pr axis t ip p Eine Dokumentation zur Einwilligung kann entlang der Einwilligungstreppe erfolgen (› Abb. 6.1). Dabei wird mindestens je ein Satz zu Einwilligungsfähigkeit, Aufklärung und Erteilung der Einwilligung geschrieben. • Beispiel zur Einwilligungsfähigkeit:

„Der Patient war wach, orientiert und konnte den Ausführungen zur Aufklärung folgen.“ • Beispiel zur Aufklärung:

„Der Patient wurde darüber aufgeklärt, dass ihm über einen venösen Zugang im Unterarm das Medikament Urapidil zur Senkung des Blutdrucks verabreicht werden kann. Die relevanten Nebenwirkungen Schwindel, Kopfschmerzen und Übelkeit wurden explizit erwähnt.“ • Beispiel zur Erteilung der Einwilligung:

„Der Patient hat der Maßnahme ausdrücklich zugestimmt.“

R e ch t in e ch t (Fall 6.6) Notfallsanitäter Fabian und Rettungssanitäterin Ida sind mit dem RTW bei einem Notfalleinsatz in der Wohnung einer Patientin. Diese ist kollabiert und war wenige Sekunden bewusstlos. Beim Eintreffen von Fabian und Ida war die Patientin wach und ansprechbar, jedoch war der Blutdruck systolisch bei 80 mmHg, weshalb Fabian und Ida der Patientin gerne einen Zugang legen, eine Infusion anlegen und sie ins Krankenhaus bringen würden. Jedoch spricht und versteht die Patientin ausschließlich bulgarisch. Eine genaue

Anamnese und Aufklärung zu weiteren Maßnahmen sind nicht unmittelbar möglich. Glücklicherweise befindet sich auch eine Tante der Patientin am Einsatzort, sie heißt Nikol Dikov. Sie spricht sowohl deutsch als auch bulgarisch und kann daher in beide Richtungen übersetzen. Durch „Nicken“ kann die Patientin den Erklärungen der Tante zustimmen. In der Dokumentation der Einwilligungsfähigkeit, Aufklärung und erteilten Einwilligung hat Fabian anschließend folgenden Text verfasst: „Die Patientin war bei Eintreffen wach und ansprechbar. Eine direkte Kommunikation war aufgrund einer Sprachbarriere (Patientin spricht nur bulgarisch) nicht möglich. Frau Nikol Dikov (Name wurde genau aufgenommen), die Tante der Patientin (auch die Beziehung der übersetzenden Person zur Patientin wurde genau dokumentiert) hat im Gespräch mit der Patientin übersetzt. Frau Dikov wurde erläutert, dass die Patientin Flüssigkeit über einen venösen Zugang im Unterarm erhalten kann, um damit dem niedrigen Blutdruck entgegenzuwirken und den Kreislauf zu stabilisieren. Frau Dikov hat dies der Patientin übersetzt, diese hat genickt und die Maßnahme ohne Widerspruch durchführen lassen. Besteht eine Sprachbarriere und ist auch keine Person zum Übersetzen vor Ort, muss die Patient*in trotzdem den Umständen entsprechend angemessen untersucht und versorgt werden. In diesen Situationen ist ein Stück weit Improvisation erforderlich, ggf. kann eine App beim Übersetzen unterstützen. In jedem Fall müssen die Rahmenbedingungen der Sprachbarriere und die Art und Weise der Untersuchung und Behandlung bei diesen Einsätzen genau dokumentiert werden. Dies umfasst auch mögliche und zumutbare Versuche, eine Person zum Übersetzen zu finden. Mutmaßliche Einwilligung Ist die Patient*in nicht einwilligungsfähig, kann eine mutmaßliche Einwilligung in Betracht kommen. Die Gründe für eine fehlende Einwilligungsfähigkeit können sehr unterschiedlich sein (vgl. › Tab. 6.2). Generell gilt, dass eine tatsächliche Einwilligung, auch von berechtigten Dritten (z. B. Betreuungspersonen, Eltern), immer Vorrang vor der mutmaßlichen Einwilligung hat. Folglich wird stets geprüft, ob eine tatsächliche Einwilligung

eingeholt werden kann. Wenn nicht, kann auf die mutmaßliche Einwilligung zurückgegriffen werden. Die mutmaßliche Einwilligung ist durch ein Handeln im mutmaßlichen Interesse der einwilligungsunfähigen Person geprägt. Sie kann dann relevant werden, wenn eine Einwilligung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann, da durch ein Abwarten wesentliche Interessen des Einwilligungsunfähigen verletzt würden. A ch tu ng Eine mutmaßliche Einwilligung kommt im Rettungsdienst nur dann infrage, wenn Patient*innen einwilligungsunfähig sind und eine Einwilligung durch Dritte nicht schnell genug eingeholt werden kann, um Interessensverletzungen (z. B. Gesundheitsschädigungen) zu verhindern. Liegen diese Voraussetzungen vor, muss geprüft werden, was der mutmaßliche Wille der einwilligungsunfähigen Person in der jeweiligen Situation wäre. Entscheidend ist hier die Erforschung des wirklichen Willens und nicht die eines vermeintlich objektiven Willens. Der individuelle Wille ist gekennzeichnet durch individuelle • Ansichten, • Interessen, • Wünsche, • Bedürfnisse und • Wertvorstellungen. Der individuelle Wille als Grundlage für eine mutmaßliche Einwilligung kann sich z. B. aus früheren Äußerungen, religiösen Überzeugungen oder geäußerten persönlichen Wertvorstellungen ergeben. Me r ke Entscheidend ist zunächst der individuelle mutmaßliche Patientenwille, nicht das, was objektiv vernünftig erscheint. Nur dann, wenn keine Anhaltspunkte für den individuellen Willen vorliegen, kann darauf zurückgegriffen werden, was objektiv vernünftig erscheint.

Liegen keine Anhaltpunkte für den mutmaßlichen Willen der einwilligungsunfähigen Person vor, so kann im Zweifel angenommen werden, dass diese die optimale medizinische Versorgung unter Inanspruchnahme aller zur Verfügung stehenden Mittel wünscht. Che c kl is te Mutmaßliche Einwilligung • Wirksame Einwilligung kann nicht eingeholt werden (z. B. bei Bewusstlosigkeit oder fehlender Einwilligungsfähigkeit) • Kein erkennbar entgegenstehender Wille der Patient*in (z. B. aus Patientenverfügung) • Gefahr in Verzug für Leben oder Gesundheit der Patient*in • Einwilligung (auch ggf. Dritter) kann nicht rechtzeitig eingeholt werden • Es liegen keine Anhaltpunkte für den wirklichen Willen der Patient*in für die jeweilige Situation vor (z. B. aus Patientenverfügung) Sofern alle Punkte mit „Ja“ beantwortet werden konnten, kann davon ausgegangen werden, dass die Patient*in die optimale medizinische Behandlung wünscht. Liegen hingegen Anhaltpunkte für einen entgegenstehenden Willen vor, muss geprüft werden, ob dieser Wille in der jeweiligen Situation beachtlich ist. A ch tu ng Bei einem erkennbar entgegenstehenden Willen der Patient*in ist eine mutmaßliche Einwilligung ausgeschlossen. Dies gilt auch dann, wenn der entgegenstehende Wille unvernünftig erscheint. Ein Handeln gegen diesen Willen der Patient*in bedeutet, dass eine (mutmaßliche) Einwilligung als Rechtfertigungsgrund für eine strafbare Handlung nicht in Betracht kommt. R e ch t in e ch t (Fall 6.7) Notfallsanitäterin Marie und Rettungssanitäterin Ida sind mit dem RTW zu einem Notfalleinsatz „bewusstlose Person“ alarmiert worden. Bei Eintreffen an der Einsatzstelle liegt ein bewusstloser Patient mittleren Alters

allein im Garten, Atmung ist noch vorhanden. Ein Nachbar berichtet von einem bekannten Diabetes und äußert den Verdacht, der Patient könne unterzuckert sein. Bei diesen Informationen sind im weiteren Verlauf invasive Maßnahmen (Messung Blutzucker, intravenöser Zugang, Verabreichung Glukose) erforderlich, zu deren Einwilligung der Patient nicht befragt werden kann. Zudem besteht hier eine potenzielle Lebensgefahr, die ein weiteres Abwarten nicht gestattet. Mangels entgegenstehender Anhaltspunkte können Marie und Ida von der Annahme ausgehen, dass der Patient in der konkreten Situation die Durchführung aller medizinisch erforderlichen Maßnahmen wünscht und in diesem Zusammenhang auch in invasive Maßnahmen einwilligen würde. Einwilligung durch schlüssiges Verhalten Eine Einwilligung muss, um wirksam zu sein, nicht ausdrücklich erteilt werden. Auch durch ein schlüssiges Handeln in einer Situation kann sich aus dem Zusammenhang eine Einwilligung ergeben. Dies wird juristisch als konkludente Einwilligung bezeichnet. Eine konkludente Einwilligung ist wirksam. R e ch t in e ch t (Fall 6.8) Notfallsanitäterin Marie und Rettungssanitäter Till sind im Einsatz und versorgen einen 25-jährigen einwilligungsfähigen Patienten im RTW. Der Patient hat beim Fußballspielen einen Tritt abbekommen, ist gestürzt und hat wahrscheinlich eine Patella-Luxation mit Schmerzen NRS 7. Marie klärt den Patienten situationsangemessen darüber auf, dass sie ihm einen Zugang legen und ein Schmerzmittel verabreichen kann. Der Patient zieht daraufhin seinen Ärmel vom Pullover hoch und hält Marie den Arm hin. In diesem Verhalten liegt eine konkludente Einwilligung in die zuvor von Marie beschriebene Maßnahme.

6.3.4 Behandlungsfehler Frank Sarangi Unter einem Behandlungsfehler versteht man – allgemein formuliert – eine unzulässige Unterschreitung des medizinischen Standards, der im Zeitraum der jeweiligen Behandlung gelten würde. So führt z. B. § 630a Abs. 2 BGB aus, dass die Behandlung nach den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards zu erfolgen habe. Für diesen „Standard“

ist zu beachten, dass es für die Bestimmung bzw. Festlegung immer nur auf die jeweils handelnde Berufsgruppe ankommt und somit der Standard als berufsfachliche Sorgfalt zu verstehen ist. So ist etwa für die Frage eines Behandlungsfehlers einer Notfallsanitäter*in immer nur die berufsfachliche Sorgfalt dieses Berufsbildes maßgeblich, während bei einer Notärzt*in nur die für diese geltende berufsfachliche Sorgfalt maßgeblich ist (vgl. › Kap. 4.6.2). Me r ke Ein Behandlungsfehler beschreibt das Unterschreiten des medizinischen Standards, das für die jeweils handelnde Berufsgruppe angebracht und in der jeweiligen Situation indiziert ist. Im Bereich des Medizinrechts und speziell des Haftungsrechts im Kontext mit Behandlungen und Einsätzen haben sich verschiedene Fallgruppen von Behandlungsfehlern gebildet, die seit dem Jahr 2013 auch mitunter im Gesetz geregelt sind: • Fehler im Bereich der Diagnosestellung • Fehler bei nicht ausreichender Diagnostik • Therapiefehler • Fehlerhafte Sicherungsaufklärung • Fehler im organisatorischen Bereich (vollbeherrschbares Risiko) Zudem kann es zu Fehlern bei der Delegation kommen. Eine Übersicht zu den Behandlungsfehlertypen ist in › Tab. 6.3 zu finden.

Tab. 6.3 Übersicht der relevanten Behandlungsfehlertypen Fehlertyp

Was ist falsch?

Konsequenz

Diagnoseirrtum

Erhobene Befunde

Keine Haftung, da

(Diagnostik) werden in

kein Fehler

einem bestimmten Rahmen fehlinterpretiert Diagnosefehler

Wie oben, der Rahmen der

Haftung gegeben, da

zulässigen

(einfacher)

Fehlinterpretation wird

Behandlungsfehler

aber überschritten Unterlassene Befunderhebung

Trotz medizinscher

Haftung gegeben,

Indikation wurden nicht

wenn weitere

alle gebotenen Befunde

Diagnostik

erhoben (zu wenig

medizinisch

Diagnostik)

indiziert gewesen wäre

Therapiefehler

Es wird keine dem Standard Haftung gegeben, da entsprechende Therapie angewandt

Vollbeherrschbares Risiko

Fehler im Bereich der Organisation

(einfacher) Behandlungsfehler Haftung gegeben, da (einfacher) Behandlungsfehler

Die Bestimmung des Standards Die Bestimmung des Standards für den Rettungs- und Notarztdienst ist mitunter sehr diffizil, da es auf ärztlicher Ebene keine klassische Fachärzt*in für Notfallmedizin gibt und die Vorgaben für nichtärztliches Personal von Bundesland zu Bundesland bzw. von Kommune zu Kommune oder gar von den individuellen

Vorgaben der Ärztlichen Leiter*innen Rettungsdienst (ÄLRD) abhängen können. Der Rettungsdienst zeichnet sich daher dadurch aus, dass ein einheitlicher Standard nicht existiert. So liegen z. B. keine AWMF-Leitlinien vor, die speziell für den Rettungsdienst entwickelt wurden. Vereinzelte Leitlinien greifen aber sehr wohl Behandlungsempfehlungen für den Bereich der Präklinik auf. Sind entsprechende Leitlinien vorhanden, die auch für den Bereich der Präklinik Vorgaben machen, so können sich diese durchaus zu einem Standard im Rettungsdienst entwickeln (z. B. die S3-Leitlinie der AWMF zu Polytrauma/Schwerverletztenversorgung). Näheres zum Sorgfalts- und Handlungsmaßstab im Rettungsdienst und speziell für Notfallsanitäter*innen ist in › Kap. 4.6.2 zu finden. Für ärztliches Personal gelten zudem Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschlusses (G-BA, §§ 91 ff. SGB V). Dies sind Regelungen des Handelns und Unterlassens, deren Nichtbeachtung definierte Sanktionen nach sich ziehen kann, sodass im Falle eines Verstoßes von einem haftungsbegründenden Behandlungsfehler auszugehen ist. Fehler im Bereich der Diagnosestellung Die in der Praxis am häufigsten anzutreffenden Fehlervorwürfe beziehen sich auf die Diagnose. Geht es um den Vorwurf einer unzutreffenden (Verdachts-)Diagnose, spricht man von einem Diagnoseirrtum und in Abgrenzung dazu von einem Diagnosefehler (vgl.› Tab. 6.4). Nach ständiger Rechtsprechung sind Diagnoseirrtümer nicht ohne Weiteres als Behandlungsfehler zu bewerten. Wegen der Unterschiedlichkeiten des menschlichen Organismus, die Anzeichen ein und derselben Krankheit in stets anderer Form und Ausprägung darbieten können, sind Diagnoseirrtümer, die objektiv auf eine Fehlinterpretation der Befunde zurückzuführen sind, nur mit äußerster Zurückhaltung als haftungsbegründende Behandlungsfehler zu bewerten. In erster Linie sind sie erst dann Gegenstand von Haftungsfällen in der (präklinischen) Medizin, wenn Krankheitserscheinungen in völlig unvertretbarer, der Schulmedizin entgegenstehender Weise gedeutet werden.

Tab. 6.4 Abgrenzung Diagnoseirrtum/Diagnosefehler Diagnoseirrtum Beispiel aus der

Diagnoseirrtum

nein,

Rechtsprechung

ja

Diagnosefehler ja

Herzinfarkt nicht diagnostiziert wegen atypischer Symptome und

Diagnoseirrtum bejaht

unklarem EKG bei jungem Pat. Schlaganfall trotz klarer Symptome als Migräne eingestuft Lungenembolie verkannt, trotz mäßiger Luftnot nach langer

Diagnosefehler bejaht Diagnosefehler bejaht

Flugreise Im Rettungsdienst besteht die Pflicht zur korrekten (Verdachts-)Diagnosestellung. Hieraus wird sowohl die Pflicht des ärztlichen als auch des nichtärztlichen Personals abgeleitet, alle für die Diagnosestellung erforderlichen Befunde zu erheben und korrekt auszuwerten. Hierbei besteht sowohl eine Pflicht zur korrekten Anamneseerhebung (soweit möglich) als auch zur korrekten Gerätediagnostik und Interpretation derselben. Fehlinterpretationen im Bereich der Diagnosen werden nur dann zu einem haftungsbegründenden Behandlungsfehler, wenn eine bestimmte „Schwelle“ der Fehlinterpretation überschritten ist. Fehler bei nicht ausreichender Diagnostik Der Rettungsdienst zeichnet sich durch limitierte diagnostische Möglichkeiten aus. Notfalleinsätze sind also dadurch gekennzeichnet, dass zwar eine umfangreiche Anamnese durchgeführt werden kann. Allerdings ist die Gesamtdiagnostik gerätespezifisch limitiert. Gesetz und Gerichte fordern bei allen Notfallpatient*innen, dass eine ausreichende Befunderhebung, also Diagnostik, durchgeführt wird. Passiert dieses nicht, spricht man von einer „unterlassenen

Befunderhebung“, die weitreichende Folgen zur Konsequenz hat. Kommt man nämlich zu dem Ergebnis, dass auf der Grundlage der Symptomatik der Patient*in nicht alle erforderlichen Befunde erhoben worden sind, um eine adäquate Verdachtsdiagnose zu stellen bzw. eine adäquate Therapie einzuleiten, führt dies i. d. R. zu einer Beweislastumkehr zwischen eingetretenem Gesundheitsschaden und der unterlassenen Befunderhebung (vgl. › Kap. 4.6). R e ch t in e ch t (Fall 6.9) Im Rahmen einer morgendlichen Alarmierung findet Notfallsanitäter Fabian eine Patientin auf dem Bett sitzend vor. Es sind keine Vorerkrankungen bekannt; eine Medikamenteneinnahme besteht nicht. Die Atemfrequenz ist etwas erhöht. Die Patientin klagt über ein Unwohlsein und diffuse Oberbauchbeschwerden. Fabian führt eine körperliche Inspektion durch, misst den Blutdruck (115/75 mmHg), den Puls (90/min) und die Sauerstoffsättigung (94 %). Die Patientin erhält von Fabian einen i. v.-Zugang und eine Infusion. 15 Minuten später wird die Patientin im RTW reanimationspflichtig – sie hatte einen ST-Hebungsinfarkt. Hier stellt sich also die Frage, ob bei der Diagnosefindung innerhalb der Wohnung sämtliche Befunde ausreichend erhoben worden sind. Im konkreten Fall wäre es ggf. vorwerfbar, dass keine EKG-Ableitung angelegt worden ist. Diese hätte eine ST-Streckenhebung in den Ableitungen II, III und aVF gezeigt. Die Symptomatik des diffusen Oberbauchschmerzes resultierte aus einem akuten Herzinfarkt. Im Wege der Beweislastumkehr würde hier als Gesundheitsschaden unterstellt, dass der Eintritt der Reanimationspflichtigkeit bei Anlage eines EKG verhindert worden wäre, weil nach der Sichtung der STHebung eine entsprechende Medikation eingeleitet worden wäre. Für die Beurteilung einer derartigen Haftungsfrage (Fall 6.9) ist auch stets die Abgrenzung zwischen einem rein diagnostischen Versäumnis und einer unterlassenen Befunderhebung zu beachten. Ein oben benannter Diagnoseirrtum liegt dann vor, wenn erhobene Befunde fehlerhaft interpretiert und deshalb nicht die gebotenen Maßnahmen ergriffen werden. Werden also Symptome fehlerhaft gedeutet und deshalb keine weiteren Befunde erhoben, so ist der Rechtsfigur der unterlassenen Befunderhebung der Weg versperrt. Die Pflicht

zur korrekten (Verdachts-)Diagnosestellung umfasst auch die Pflicht, im Zweifel eine Notärzt*in hinzuzuziehen, um eine unklare Symptomatik weiter abzuklären und eine weitere Diagnostik durchzuführen. R e ch t in e ch t (Fortsetzung Fall 6.9) Im vorliegenden Einsatzbeispiel (Fall 6.9) wurde durch den gerichtlich bestellten Sachverständigen im Haftungsprozess entschieden, dass allenfalls ein Diagnoseirrtum vorlag und damit eben kein haftungsbegründender Behandlungsfehler in Form des Diagnosefehlers. Der Sachverständige führte aus, dass die geschilderten Symptome nicht als Erstes auf einen Herzinfarkt hingedeutet hätten. Im Kontext mit der Anamnese war es daher auch nicht zwingend, ein EKG anzulegen. Therapiefehler Was die konkrete Therapie im Einzelfall anbelangt, billigte die Rechtsprechung [4] der jeweiligen Notärzt*in bzw. dem am Einsatz beteiligten nichtärztlichen Personal einen Entscheidungs- und Ermessensspielraum zu, solange die gewählte Therapie dem zu fordernden Standard entspricht. Erst wenn dieser begrenzt überprüfbare medizinische Ermessensspielraum überschritten ist, kommt die mögliche Verletzung einer berufsfachlichen Sorgfalt in Form eines einfachen oder groben Behandlungsfehlers in Betracht. Dabei ist hervorzuheben, dass der Entscheidungsund Ermessensspielraum auch maßgeblich von den jeweiligen Besonderheiten des Einsatzes im Einzelfall abhängt. Es ist nicht verpflichtend, die jeweils aktuelle und beste Therapie anzuwenden. Vielmehr kann auch eine „Second-Line-Therapie“ lege artis sein, wenn sie im konkreten patientenspezifischen Einzelfall als medizinisch sinnvoll anzusehen ist. Für ärztliches und nichtärztliches Rettungsdienstpersonal ist dieser Typus des Behandlungsfehlers eher theoretischer Natur, da im Rahmen eines Notfalleinsatzes i. d. R. nicht verschiedene Möglichkeiten der Akuttherapie zur Verfügung stehen. Fehlerhafte Sicherungsaufklärung Der Bereich der Sicherungsaufklärung (vgl. › Kap. 6.3.3) betrifft die Fallkonstellation, in der eine Patient*in die Mitfahrt verweigert bzw. eine rettungsdienstliche oder stationäre Behandlung ablehnt (vgl. › Kap. 7.6.4). Die

Rechtsprechung verlangt in diesen Fällen, dass die Patient*innen ausreichend darüber aufgeklärt werden, wie sie sich zu verhalten haben, um gesundheitliche Schäden zu vermeiden. Es reicht nicht aus, den allgemeinen Hinweis zu erteilen, dass man im Falle einer unterlassenen Behandlung „sterben könne“. Vielmehr bedarf es einer dezidierten Aufklärung über mögliche Risiken der Behandlungsverweigerung. In jedem Fall ist es erforderlich, diese Sicherungsaufklärung auf dem Rettungsdienstprotokoll zu dokumentieren. Vordrucke auf Protokollen genügen nur dann den rechtlichen Anforderungen, wenn diese inhaltlich eine ausreichende Individualisierung in Bezug auf die konkrete Notfallsituation zulassen (vgl. › Kap. 6.3.3). Die praktischen Erfahrungen in der Rechtsprechung sowie die damit teilweise lebensfremden Anforderungen an die Beweisführung legen nahe, hier eine ausführliche Dokumentation anzufertigen. Entscheidend ist es, dass die Patient*in mit der Sicherungsaufklärung in die Lage versetzt wird, dem möglichen Krankheitsbild entsprechende Symptome zu erkennen und sich therapiegerecht zu verhalten. A ch tu ng Jede Patient*in kann jede Art der medizinischen Behandlung ablehnen, auch wenn die Ablehnung medizinisch völlig unvernünftig wäre. Es gilt der Grundsatz „Patientenwille sticht Indikation“. Eine solche Ablehnung kann durch den Rettungsdienst nur dann rechtssicher akzeptiert werden, wenn die Patient*in klar und verständlich über die medizinische Erforderlichkeit der Maßnahme (etwa der stationären Abklärung) und die Folgen des Unterlassens aufgeklärt wird! Eine solche Sicherungsaufklärung ist wiederum nur dann wirksam, wenn die Patient*in zum Zeitpunkt der Sicherungsaufklärung einwilligungsfähig ist. Einwilligungsfähigkeit bedeutet, dass die Patient*in die Tragweite und die Konsequenzen der ablehnenden Entscheidung versteht und intellektuell in der Lage ist, die Konsequenzen zu überblicken. An der Einwilligungsfähigkeit kann es z. B. fehlen bei Patient*innen mit einer erheblichen Alkohol- oder Tablettenintoxikation, einer geistigen Behinderung oder bei sonstigen, die natürliche Willensbildung einschränkenden Zuständen. Die Einwilligungsfähigkeit ist nicht zu verwechseln mit der Geschäftsfähigkeit und knüpft an keine starre Altersgrenze an.

Pr axis t ip p Lehnen Patient*innen eine geplante Maßnahme ab, muss in einem sachlichen Gespräch versucht werden, sie dennoch zur Behandlung zu bewegen. Klappt das nicht, muss sich aus der Dokumentation des Einsatzprotokolls ergeben, dass die Patient*in einwilligungsfähig war. Das kann durch die Dokumentation der neurologischen Qualitäten und des Gesamtzustandes geschehen. Sodann muss die Sicherungsaufklärung erfolgen, die inhaltlich mindestens durch die stichpunktartige Angabe vom Inhalt der Aufklärung dokumentiert werden muss. Me r ke Für Dritte, die am Einsatz nicht beteiligt waren, muss sich aus dem Einsatzprotokoll ergeben, dass die Patient*in einwilligungsfähig war und was Gegenstand der Sicherungsaufklärung gewesen ist. Fehler im organisatorischen Bereich Fehler bzw. Defizite im organisatorischen Bereich werden als vollbeherrschbare Risiken bezeichnet. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Realisierung nicht den Besonderheiten des menschlichen Organismus, also der Erkrankung und der Behandlung der Erkrankung, geschuldet ist, sondern einem Defizit im Bereich der Organisation, das durch geeignete organisatorische Maßnahmen durch die Behandelnden sicher beherrscht und ausgeschlossen werden kann. Verwirklicht sich eine Gefahr aus dem Bereich des vollbeherrschbaren Risikos, wird ein Behandlungsfehler grds. vermutet. Bei dieser gesetzlichen Vermutung ist es unbeachtlich, ob das Risiko in der konkreten Situation vermeidbar war. Allerdings sind die Patient*innen auch im Rettungsdienst regelmäßig für das Vorliegen eines vollbeherrschbaren Risikos beweisbelastet (› Kap. 6.3.6). Es muss also der Vollbeweis geführt werden, dass sich ein vollbeherrschbares Risiko verwirklicht hat. Erst dann greift eine Verschuldensvermutung mit der Konsequenz ein, dass der Gegenbeweis zu führen ist. Die Anwendungsbereiche des vollbeherrschbaren Risikos sind im Rettungsdienst recht überschaubar. Relevant sind insb. Transportverletzungen, etwa Sturzfälle der Patient*in beim Umlagern von der Behandlungstrage auf die

Behandlungsliege des Krankenhauses. Denkbar sind ebenfalls Stürze während der Mobilisation vom Einsatzort in das jeweilige Rettungsmittel. Als weitere Gesichtspunkte des vollbeherrschbaren Risikos kommen in Betracht: Medikamentenverwechselungen (wegen nahezu deckungsgleicher AmpullenOptik) oder Verstöße gegen Hygienevorschriften im Zusammenhang mit der Desinfektion der Rettungsmittel. A ch tu ng Klassische Fallgruppen des vollbeherrschbaren Risikos sind • Medikamentenverwechselungen, • Transportverletzungen wie z. B. Stürze von Patient*innen im Einsatz oder • Verstöße gegen Hygienevorgaben.

Ein besonders hervorzuhebendes Beispiel des voll beherrschbaren Risikos ist die Auswahl eines nicht geeigneten Krankenhauses für die jeweilige Notfallpatient*in. Pr axis t ip p Die Auswahl der Zielklinik muss sorgfältig erfolgen. Besteht der Verdacht einer Diagnose, die nur in einer speziellen Klinik versorgt werden kann (z. B. ein Herzinfarkt in einer Klinik mit Herzkatheterlabor), so muss grds. auch eine solche spezielle Klinik angefahren werden. Das gilt grds. auch für Differenzialdiagnosen, die nicht ausgeschlossen werden können. Im Zweifel muss hier ein Konsens zwischen dem Rettungsteam und der Leitstelle hergestellt werden. Gibt es Entscheidungsproblematiken, ist es hilfreich, eine fundierte Begründung für die letztliche Entscheidung ins Protokoll aufzunehmen. Das macht die Entscheidung und deren Beweggründe später für Dritte nachvollziehbar. R e ch t in e ch t Wird etwa ein kardiologischer Notfall einer Klinik zugeführt, die erkennbar keine kardiologische Abteilung hat und auch fachlich außerstande ist, die notfallmedizinische Erstversorgung durchzuführen, so liegt eine

Fallkonstellation des vollbeherrschbaren Risikos vor und es kommt ein Behandlungsfehler in Betracht. Fraglich ist, ob die Fallgruppe des vollbeherrschbaren Risikos auch dann einschlägig ist, wenn ein voll ausgelastetes Krankenhaus erkennbar nicht in der Lage ist, eine Notfallpatient*in zu versorgen und aufzunehmen. Damit korreliert die Frage, ob der Rettungsdienst verpflichtet ist, auch „sehenden Auges“ ein nicht mehr aufnahmefähiges Krankenhaus zum Zwecke der Erstversorgung anzufahren. Die einzelnen Landesrettungsdienstgesetze verpflichten den Rettungsdienst dazu, Patient*innen stets in ein „fachlich geeignetes“ Krankenhaus zu fahren. Krankenhäuser sind gemäß ihres Versorgungsauftrages dazu verpflichtet, nach dem jeweils allgemein anerkannten (Facharzt-)Standard zu behandeln. Diese Verpflichtung betrifft sowohl die sachliche, technische und auch personelle Sicherstellung. Der fachliche Versorgungsauftrag der Krankenhäuser begrenzt aber auch zugleich die Verpflichtung zur Behandlung. Die personelle und/oder sachliche Unmöglichkeit führt laut dem OLG Hamm grds. zur Unzulässigkeit der Aufnahme [5]. Es ist dabei weiter fraglich, ob ungeachtet einer vollen Belegung trotzdem stets die notfallmäßige Erstversorgung zu gewährleisten ist. In der Entscheidung des OLG Hamm hatten die Richter*innen entschieden, dass die Pflicht eines Krankenhauses zur notfallmäßigen Erstversorgung dann entfallen kann, wenn selbst diese notfallmäßige Erstversorgung mit anschließender Weiterverlegung unmöglich ist. In Nordrhein-Westfalen etwa ist diese Situation nun durch einen Erlass des zuständigen Gesundheitsministeriums weiter konkretisiert worden [6]. Dieser Erlass legt zunächst begrifflich fest, dass als „Notfallbehandlung“ diejenige Erste Hilfe und Sofortversorgung zählen, die im gesundheitlichen Interesse der Patient*in keinen Aufschub dulden. Dieser Erlass hat zur Konsequenz, dass akute Notfälle im Rahmen der erforderlichen Notfallversorgung behandelt werden müssen und eine Abweisung nicht mehr zulässig sein wird. Speziell eine Abmeldung gegenüber der Leitstelle reicht nicht mehr aus. Darüber hinaus geht der Erlass davon aus, dass in Krankenhäusern grds. immer mehrere Ärzt*innen vorhanden sind und demensprechend eine Versorgung immer möglich gemacht werden müsse.

Wenn ein Krankenhaus allerdings feststellt, dass es auch die Erstversorgung nicht gewährleisten kann, muss es nach dem Erlass wie folgt vorgehen: 1. Durchführung einer Sichtung und Triagierung. 2. Bei Feststellung einer zwingenden erforderlichen Notfallbehandlung Durchführung derselben. 3. Bei Überlastung der Notaufnahme mit der Folge nicht ausreichender Kapazitäten, um alle unverzüglichen behandlungsbedürftigen Notfälle zu versorgen, muss eine Überprüfung erfolgen, ob ein Arzt im Krankenhaus außerhalb der Notaufnahme die Notfallversorgung gewährleisten kann. Nur wenn diese hohen Hürden genommen werden, wäre es seit dem 22. Dezember 2022 überhaupt nur möglich und denkbar, auch eine notfallmäßige Erstversorgung mit anschließender Weiterverlegung abzulehnen. Mit diesem Erlass ist die im Alltag mitunter gelebte Praxis, bei der der Rettungsdienst zurückgewiesen wird, faktisch nicht mehr umsetzbar. Der Erlass geht (rechtlich) davon aus, dass Kliniken im Zweifel immer eine Erstversorgung durchführen können bzw. müssen. Me r ke Für den Rettungsdienst gilt: Solange eine Klinik ihre Notaufnahme gegenüber der Leitstelle nicht proaktiv von der Erstversorgung abmeldet, kann diese Klinik angefahren werden. Die Frage der sekundären Weiterverlegung ist bei fehlender Aufnahmekapazität dann durch die Klinik zu organisieren. Weitere Fehler im organisatorischen Bereich können mangelhafte oder fehlende Checklisten der Fahrzeuge und deren Beladungen sein, der Einsatz von Praktikant*innen und anderem Personal ohne die erforderliche Einweisung sowie etwa der Einsatz von Medizinprodukten, ohne dass die Mitarbeitenden in diese eingewiesen sind. Pr axis t ip p Die Hürden für Krankenhäuser, Notfallpatient*innen abzulehnen, sind sehr hoch. Auch wenn es manchmal zu gewissen Spannungen zwischen dem Rettungsdienst- und dem Klinikpersonal kommt, darf in diesem Kontext nicht

vergessen werden, dass die Versorgung der Patient*innen im Mittelpunkt steht und dies eine interprofessionelle Teamarbeit ist. Für Patient*innen ist es regelmäßig kein Vorteil, wenn der Rettungsdienst sie in eine überlastete Klinik bringt, nur weil dies rechtlich zulässig ist. Im Rettungsdienst-Klinik-Verhältnis sollte stets Rücksicht auf die Situation der jeweils anderen Partei genommen werden und immer so gehandelt werden, dass Gesundheit und Interessen der Patient*innen im Mittelpunkt stehen. Fehler bei der Delegation Fehler im Zusammenhang mit delegierten medizinischen Maßnahmen fallen zunächst einmal unter die übliche Systematik der Behandlungsfehler. Wird etwa eine Maßnahme auf jemanden delegiert, der ersichtlich nicht in der Lage ist, diese Maßnahme durchzuführen, und wird sie gleichwohl durchgeführt, so spricht man von einem Anfängereingriff bzw. Übernahmeverschulden (› Kap. 4.6.4) mit der beweisrechtlichen Konsequenz, dass das Vorliegen eines Behandlungsfehlers vermutet wird. Näheres zur Delegation findet sich in › Kap. 4.2.4.

6.3.5 Dokumentation Auch die Dokumentation des Einsatzes spielt für den Rettungsdienst eine gewichtige Rolle. § 630f Abs. 1 BGB verpflichtet die behandelnde Person zur Dokumentation, Abs. 2 konkretisiert den zu dokumentierenden Inhalt. § 630f BGB Dokumentation der Behandelnden (1) Der Behandelnde ist verpflichtet, zum Zwecke der Dokumentation in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Behandlung eine Patientenakte in Papierform oder elektronisch zu führen. Berichtigungen und Änderungen von Eintragungen in der Patientenakte sind nur zulässig, wenn neben dem ursprünglichen Inhalt erkennbar bleibt, wann sie vorgenommen worden sind. Dies ist auch für elektronisch geführte Patientenakten sicherzustellen. […] Um es vorwegzunehmen: Die elektronische oder papiergeführte Dokumentation im Rettungsdienst stellt eine „Patientenakte“ im Sinne des Gesetzes dar.

Neben der zentralen Vorschrift des § 630f BGB sehen auch vereinzelte Rettungsdienstgesetze der Länder eine ähnliche Verpflichtung vor. So verlangt § 7a RettG NRW, dass die Durchführung der Rettungsdiensteinsätze und deren Abwicklung zu dokumentieren sind. Für Notärzt*innen besteht daneben die spezielle berufsrechtliche Vorgabe aus § 10 Abs. 1 MBOÄ (Musterberufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte). § 4 Abs. 2 Nr. 1g NotSanG schreibt als Ausbildungsziel vor, dass ein sachgerechtes Übergeben der Patient*innen in die ärztliche Weiterbehandlung einschließlich Beschreibung und Dokumentation des medizinischen Zustandes und seiner Entwicklung gewährleistet sein sollen. § 4 Abs. 2 Nr. 1i NotSanG sieht die Durchführung von qualitätssichernden organisatorischen Maßnahmen im Rettungsdienst sowie die Dokumentation der angewendeten notfallmedizinischen und einsatztaktischen Maßnahmen als ausdrückliches Ausbildungsziel vor. Arten der Dokumentation Weder die einzelnen Rettungsdienstgesetze selbst noch das ärztliche Berufsrecht oder auch das BGB geben vor, welche Art der Dokumentation zwingend ist. § 630f BGB führt in Abs. 1 aus, dass die Dokumentation in Papierform oder elektronisch zu führen ist. Das Gesetz führt weiter an gleicher Stelle aus, dass Berichtigungen und Änderungen von Eintragungen zulässig sind, wenn neben dem ursprünglichen Inhalt erkennbar bleibt, wann sie vorgenommen worden sind. Speziell für den Bereich der elektronischen Dokumentation (in vielen Rettungsdiensten mittlerweile Standard) ist eine Entscheidung des BGH aus 2021 relevant [7]. Das Gericht hat entschieden, dass eine elektronische Dokumentation nur dann einen gewissen Beweiswert haben kann, wenn sie über eine „fälschungssichere Organisation“ verfüge. Das bedeutet schlicht, dass nur solche Software eingesetzt werden darf, die nachträgliche Änderungen erkennbar macht bzw. mit deren Hilfe nachträgliche Änderungen angezeigt werden können. Erfüllt eine elektronische Dokumentation diese Anforderungen nicht, so kommt der gesamten Dokumentation nur ein deutlich eingeschränkter Beweiswert zu. Dokumentationsanforderungen

Natürlich muss im Rettungsdiensteinsatz nicht jedes Detail des Einsatzes dokumentiert werden. Die Dokumentation im Rettungsdiensteinsatz dient in erster Linie der Sicherheit der Patient*in (therapeutische Sicherheit). Dies gilt insb. für das therapeutische Interesse im Hinblick auf die weitere Behandlung. Die Dokumentation im Rettungsdienst dient also durch das korrekte Ausfüllen der Protokolle dazu, die weitere Behandlung nach der Übergabe im Krankenhaus reibungslos zu gewährleisten. Die dortigen Mitbehandelnden müssen durch den Umfang der Dokumentation in die Lage versetzt werden, den medizinischen Zustand der Patient*in zum Zeitpunkt des Rettungsdiensteinsatzes zu beurteilen. Gerade auch in den Fällen, in denen die Übergabe im Krankenhaus beeinträchtigt wird, weil etwa die Schilderungen des Rettungsdienstes abgetan werden oder das Personal in der Notaufnahme nicht zuhört, ist ein vollständig und korrekt ausgefülltes Rettungsdienstprotokoll eine essenzielle rechtliche Absicherung. In § 630f BGB heißt es zum Inhalt der Dokumentation: § 630f BGB Dokumentation der Behandelnden (2) Der Behandelnde ist verpflichtet, in der Patientenakte sämtliche aus fachlicher Sicht für die derzeitige und künftige Behandlung wesentlichen Maßnahmen und deren Ergebnisse aufzuzeichnen, insbesondere die Anamnese, Diagnosen, Untersuchungen, Untersuchungsergebnisse, Befunde, Therapien und ihre Wirkungen, Eingriffe und ihre Wirkungen, Einwilligungen und Aufklärungen. Arztbriefe sind in die Patientenakte aufzunehmen. […] Es gilt, dass nur die wichtigsten diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen dokumentationspflichtig sind, die aus medizinischer Sicht relevant sind. Anerkannt ist auch, dass die Dokumentation in Stichpunkten und durch die Nutzung von Kürzeln und Symbolen ausreichend ist. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Nutzung von Stichpunkten, Kürzeln und Symbolen nicht den therapeutischen Wert der Dokumentation schmälern darf. Weiter ist bei Symbolen und Abkürzungen zu beachten, dass diese den üblichen Symbolen bzw. Abkürzungen entsprechen müssen. Maßgeblich sind also nicht etwa eigens kreierte Abkürzungen und Symbole, sondern ausschließlich die in der medizinischen Praxis üblicherweise verwendeten. Umstände und Tatsachen, deren Aufzeichnung und Aufbewahrung für die weitere Behandlung der Patient*innen

medizinisch nicht erforderlich sind, sind auch aus Rechtsgründen nicht dokumentationspflichtig, sodass aus dem Unterbleiben derartiger Aufzeichnungen keine beweisrechtlichen Folgerungen gezogen werden dürfen. So spielen im Rettungsdienst insb. die primäre Auffindesituation der Patient*in, die Aufklärung, die Einwilligung, der Verlauf der Symptomatik bzw. der Kreislaufparameter während des Transports eine entscheidende Rolle. Auch die erhobene Anamnese und die dort erhobenen Symptome sind zu dokumentieren. Diese Symptome können bei der Übergabe in der Klinik zwar bereits abgeklungen, aber gleichwohl für die weitere Behandlung von Bedeutung sein. Mit der Übergabe des Protokolls in der Notaufnahme muss also gewährleistet sein, dass die weitere Behandlung in der Klinik reibungslos möglich ist. Eine zwingende Form für die Dokumentation ist im Rettungsdienstbereich nicht vorgesehen. Hier stehen die üblichen Protokolle zur Verfügung; diese sind daher zu verwenden. Pr axis t ip p Die Dokumentation muss inhaltlich so ausfallen, dass Dritte (i. d. R. medizinisches Fachpersonal), die nicht am Einsatz beteiligt waren und die Patient*in nicht kennen, ohne weitere Nachfrage und nur durch das Lesen des Protokolls in die Lage versetzt werden, den Gesundheitszustand und das Einsatzgeschehen plausibel nachzuvollziehen. Wie bereits dargelegt, sind nur die medizinisch erforderlichen Gesichtspunkte des Einsatzes zu dokumentieren. Unterbleibt allerdings eine solche Dokumentation, so kann im Falle eines Haftungsprozesses aus einer fehlenden, mangelhaften oder unvollständigen Dokumentation bis zum Beweis des Gegenteils unterstellt werden, dass die nicht dokumentierten Maßnahmen auch nicht durchgeführt worden sind. R e ch t in e ch t (Fall 6.10) Notfallsanitäterin Marie wird auf dem RTW zusammen mit der Notärztin Lola auf dem NEF in den Morgenstunden zu einer Patientin mit Rückenschmerzen und einer Schmerzausstrahlung in den linken Arm alarmiert. Bei Eintreffen führt Marie eine Anamnese durch und misst den Blutdruck. Dieser liegt bei 220/140 mmHg. Ein EKG wird nicht geschrieben. Da die

Patientin sehr aufgeregt ist, erhält sie von Lola ein Sedativum über einen i. v.Zugang. Daneben werden „zwei Hub Nitro“ (0,8 mg Glyceroltrinitrat) sublingual verabreicht. Die Symptomatik verbessert sich hierunter. Die Patientin verbleibt vor Ort. Eine Stunde später wird der Rettungsdienst erneut alarmiert. Die Patientin ist nunmehr reanimationspflichtig und verstirbt. Im späteren Haftungsprozess ist zwischen den Parteien streitig, ob die Anamnese sorgfältig durchgeführt worden ist und ob sich aus dieser Anamnese Hinweise für ein Akutes Koronarsyndrom (ACS) ergeben haben. Das NEFProtokoll enthält hierzu keinerlei Hinweise. Es wird lediglich beschrieben, dass bei der Klägerin im Rahmen einer Mobilisation starke Rückenschmerzen vorherrschen mit Einschuss in den linken Arm. Weiter ist dokumentiert, dass die Patientin auf „zwei Hub Nitro“ positiv reagiert habe. Im Prozess kommt es entscheidend auf die Frage an, ob hier eine kardiale Anamnese ausgeschlossen wurde. Aus dem NEF-Protokoll ergeben sich dafür keinerlei Hinweise. Es wird somit unterstellt, dass diese Anamnese nicht erhoben wurde. Es ist daher Sache des Rettungsdienstträgers bzw. der am Einsatz Beteiligten darzulegen und zu beweisen, dass bei diesem Einsatz konkret nach den Symptomen gefragt worden ist. Eine solche Beweisführung kann nach Ablauf von Jahren erheblich erschwert sein. Allein auf der Grundlage dieser unzureichenden Dokumentation droht die Gefahr, diesen Prozess zu verlieren. A ch tu ng In allen Fällen, in denen für bestimmte Maßnahmen oder Befunde eine Dokumentationspflicht besteht, weil diese Dokumentation medizinisch erforderlich ist, gilt, dass alle nicht dokumentierten Maßnahmen oder Befunde als nicht durchgeführt gelten. Dies hat zur Konsequenz, dass der Rettungsdienst (auch nach Ablauf von mehreren Jahren) nachweisen muss, dass eine nichtdokumentierte Maßnahme tatsächlich durchgeführt worden ist. Pr axis t ip p Sofern ein Einsatz heikel oder rechtlich fraglich war, bietet es sich an, im Nachgang ein mit Datum versehenes Gedächtnisprotokoll anzufertigen. Kommt es nach mehreren Monaten oder Jahren zu einem Klageverfahren etc., so ist es i. d. R. schwierig, die Details dieses Einsatzes wiederzugeben. Ein

datiertes Gedächtnisprotokoll legen die Gerichte i. d. R. als Urkunde und damit als gegebenen Sachverhalt zugrunde. In einem solchen Gedächtnisprotokoll sollte der Einsatz immer objektiv geschildert werden. Vorwürfe gegen Kolleg*innen verbieten sich. Das Gedächtnisprotokoll wird dabei zunächst nicht an das RTW/NEF-Protokoll geheftet. Kommt es nämlich zu einem Ermittlungsverfahren und zu einer Beschlagnahme des RTW/NEF-Protokolls, so wird auch das Gedächtnisprotokoll beschlagnahmt. Letzteres kann im Einzelfall aber auch Informationen beinhalten, die nicht für Ermittlungsbehörden bestimmt sind. Die in der Praxis häufig anzutreffende Frage, ob der RTW ein eigenes Protokoll anfertigen muss, wenn bereits das NEF eines anfertigt, kann nicht einheitlich beantwortet werden. Grundsätzlich gilt, dass jedes Rettungsmittel ein Protokoll anfertigen muss. Dies gilt insb. dann, wenn die Untersuchung und Behandlung zeitlich versetzt erfolgen, wenn also etwa das NEF später eintrifft als der Rettungswagen oder das NEF gar nachgefordert wird. Ob bei gleichzeitigem Eintreffen ebenfalls beide Rettungsmittel ein eigenes Protokoll anfertigen müssen, hängt von den regionalen Besonderheiten ab. Verzichtet man als RTW-Besatzung auf ein eigenes Protokoll, so muss sichergestellt sein, dass das Protokoll der NEFBesatzung alle Anforderungen an ein ordnungsgemäßes Protokoll erfüllt; andersherum gilt dies genauso. Pr axis t ip p Es ist zu empfehlen, dass jedes Rettungsmittel ein eigenes Protokoll anfertigt, auch wenn z. B. RTW und NEF gemeinsam am Einsatz beteiligt sind. So kann sichergestellt werden, dass alle Eindrücke aus dem Einsatz festgehalten werden und jedenfalls das eigene Protokoll den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Dokumentation gerecht wird. R e ch t in e ch t (Fall 6.11) Notfallsanitäter Fabian (RTW) und Notarzt René (NEF) werden parallel zu einem Notfalleinsatz alarmiert. Da der NEF-Standort deutlich weiter vom Einsatzort entfernt ist als der RTW-Standort, ist Fabian ca. 6 Minuten vor René beim Patienten. Innerhalb dieser 6 Minuten hat Fabian den Patienten

bereits untersucht und einen i. v.-Zugang gelegt. Als René am Einsatzort eintrifft, findet er einen bereits (vor-)versorgten Patienten vor. Auch wenn letztlich ein Notarzt an der Einsatzstelle war, muss Fabian ein eigenes Einsatzprotokoll anfertigen. Im Gegensatz zu René kann nur Fabian die ursprüngliche Auffindesituation beschreiben und Angaben zu Aufklärung und Einwilligung hinsichtlich des i. v.-Zugangs machen. René kann wiederum hinsichtlich Auffindesituation und i. v.-Zugang auf das RTW-Protokoll verweisen. Die Dokumentation muss nicht höchstpersönlich durch die Transportführer*in oder die Notärzt*in erfolgen. Eine Delegation ist hier möglich. Wichtig ist nur, dass der Delegierende eine Überprüfung dahingehend vornimmt, ob das Protokoll die erforderlichen inhaltlichen Anforderungen erfüllt. Me r ke Die Dokumentation kann delegiert werden. Diejenige Person, die den Einsatz verantwortet (i. d. R. transportführende Notfallsanitäter*in oder Notärzt*in) muss jedoch das Protokoll überprüfen. Eine Unterschrift ist auf Rettungsdienstprotokollen rechtlich nicht zwingend erforderlich. Es muss allerdings deutlich werden, wer das Protokoll geschrieben hat, und idealerweise auch, von wem etwaig protokollierte Maßnahmen durchgeführt wurden. Zudem muss nicht die höchstqualifizierte Person selbst das Protokoll schreiben; hier gelten die Regeln der Delegation (› Kap. 4.3.4). Bei einer Protokollierung durch Rettungssanitäter*innen oder Auszubildende kann es je nach Berufserfahrung oder Fortschritt der Ausbildung sinnvoll sein, dass die verantwortliche Notfallsanitäter*in das Protokoll kontrolliert.

6.3.6 Beweislast und Beweislastumkehr Wollen Patient*innen im Zusammenhang mit dem Rettungsdiensteinsatz Ansprüche auf Schadensersatz bzw. Schmerzensgeld geltend machen (zivilrechtliche Ansprüche), so ist dies auf mehreren Wegen möglich. Entscheiden sich Patient*innen zur Klage, so gilt es zu beachten, dass eine Klage nur Erfolg haben kann, wenn bestimmte Tatsachen (etwa die behauptete fehlende Anlage des EKG) bewiesen werden.

Me r ke Ein Schadensersatzprozess zeichnet sich dadurch aus, dass all diejenigen Tatsachen, die eine Patient*in im Kontext eines Einsatzes als fehlerhaft behauptet, auch bewiesen werden müssen. Als Beweis wird das positive Ergebnis eines auf die Feststellung von Tatsachen gerichteten Beweisverfahrens bezeichnet. Klagende Patient*innen müssen also zur Geltendmachung von Schadensersatzund Schmerzensgeld beweisen, dass die gesetzlichen Voraussetzungen des von ihnen behaupteten Schadensersatz- und Schmerzensgeldanspruchs gegeben sind. Im Zivilprozess stellt sich immer die Frage, wer zur Geltendmachung solcher Ansprüche was genau beweisen muss. Die Darlegungs- und Beweislast für einen Fehler des ärztlichen oder nichtärztlichen Personals im Rettungsdienst, den Eintritt eines Körper- oder Gesundheitsschadens und die Ursächlichkeit zwischen diesem Fehler und dem Körper- oder Gesundheitsschaden trägt grds. erst einmal immer die Patient*in. Patient*innen müssen also neben dem Vorliegen eines Behandlungsfehlers auch dessen Ursächlichkeit für den Eintritt des Gesundheitsschadens beweisen. Die Systematik der Darlegungs- und Beweislast ist in › Abb. 6.2 dargestellt.

ABB. 6.2 Systematik der Darlegungs- und Beweislast (vereinfachte Darstellung) [L157]

Me r ke Grundsätzlich tragen die Patient*innen vor Gericht die Darlegungs- und Beweislast, um zivilrechtliche Ansprüche (z. B. Schadensersatz) geltend zu machen. Aus Patientensicht handelt es sich dabei fraglos um eine hohe Hürde. Gerade bei medizinischen Sachverhalten oder gar Notfallsituationen kann der genaue Kausalverlauf häufig nicht aufgeklärt werden. Die Rechtsprechung des BGH hat wegen dieser Schwierigkeiten die Notwendigkeit gesehen, in bestimmten Konstellationen regelmäßig Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr anzunehmen. Diese Rechtsprechung des BGH hat inzwischen Eingang in eigene gesetzliche Regelungen gefunden. In § 630h BGB werden die Fälle der Beweislastumkehr ausdrücklich beschrieben. Ziel der Norm

ist es, durch eine angepasste Risikoverteilung gleiche „Chancen“ vor Gericht zu schaffen. Für das medizinische Personal, also auch Rettungsdienstmitarbeitende, bedeutet dies eine gesetzlich erweiterte Haftung durch die Zuweisung des Risikos bei nicht oder schlecht aufklärbaren Kausalverläufen. Eine Beweiserleichterung zugunsten der Patient*innen wird nach § 630h in folgenden Fällen angenommen: • Wenn sich die Gefahr eines voll beherrschbaren (Behandlungs-)Risikos verwirklicht hat, welches zur Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit der Patient*in geführt hat, wird vermutet, dass ein Fehler der behandelnden Person vorliegt (§ 630h Abs. 1 BGB). • Hinsichtlich der erforderlichen Einwilligung (§ 630d BGB) und Aufklärung (§ 630e BGB) müssen die Behandelnden beweisen, dass diese entsprechend den gesetzlichen Anforderungen erfolgt sind. Dies gilt nur, soweit nicht eine mutmaßliche Einwilligung angenommen werden kann (§ 630h Abs. 2 BGB). • Jede gebotene medizinische Maßnahme, die nicht durch die Behandelnden adäquat dokumentiert wurde (§ 630f BGB), gilt als nicht durchgeführt (§ 630h Abs. 3 BGB). • Wenn eine behandelnde Person zur Durchführung einer Maßnahme nicht befähigt war, sie jedoch trotzdem durchgeführt hat, wird vermutet, dass die mangelnde Befähigung ursächlich für etwaig eingetretene Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit der Patient*in war (§ 630h Abs. 4 BGB). • Wird durch eine behandelnde Person ein grober Behandlungsfehler gemacht, der grds. dazu geeignet ist, etwaig eingetretene Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit der Patient*in herbeizuführen, wird vermutet, dass der grobe Behandlungsfehler ursächlich für die eingetretene Verletzung war. Gleiches gilt, wenn eine angemessene Befunderhebung unterlassen wurde und die nicht erhobenen Befunde wahrscheinlich Anlass zu weiteren Maßnahmen gegeben hätten, die wiederum fachlich gesehen nicht hätten unterlassen werden dürfen (§ 630h Abs. 5 BGB).

Behandlungsfehler und unterlassene Befunderhebung Eine besondere Relevanz hat hierbei § 630h Abs. 5 BGB und die darin normierten Beweiserleichterungen bzw. Umkehr der Beweislast bei Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers oder bei der sog. unterlassenen Befunderhebung. § 630h Abs. 5 BGB bestimmt, dass die Ursächlichkeit zwischen dem eingetretenen Gesundheitsschaden und dem behaupteten Fehler des Rettungsdienstpersonals vermutet wird, wenn ein sog. grober Behandlungsfehler vorliegt. Was genau ein grober Behandlungsfehler ist, ist im Gesetz nicht definiert. In der Rechtsprechung des BGH wird ein Behandlungsfehler immer dann als grob angesehen, „wenn ein medizinisches Verhalten vorliegt, das aus objektiver ärztlicher Sicht bei Anlegung des für den Arzt geltenden Ausbildung- und Wissensmaßstabes nicht mehr verständlich und verantwortbar erscheint, weil ein solcher Fehler aus dieser Sicht schlechterdings nicht unterlaufen darf“ [8]. Vereinfacht ausgedrückt: Wenn im Rahmen des Rettungsdiensteinsatzes gegen das „Fettgedruckte“ der Medizin verstoßen wird, liegt ein grober Behandlungsfehler vor. Die vorgenannte Definition des BGH beinhaltet zwar ausdrücklich nur das ärztliche Personal, die Gerichte wenden die Definition aber ebenso auf die Bewertung eines Fehlers bei nichtärztlichem Personal an. A ch tu ng Ein grober Behandlungsfehler liegt vor, wenn ein Verhalten aus objektiver Sicht bei Anlegung des für die handelnde Person geltenden Ausbildung- und Wissensmaßstabes nicht mehr verständlich und verantwortbar erscheint, weil ein solcher Fehler aus dieser Sicht schlechterdings nicht unterlaufen darf. Liegt ein solcher grober Behandlungsfehler vor (den die Patient*in zunächst beweisen muss) und dreht sich die Beweislast um, so wird unterstellt, dass der eingetretene Gesundheitsschaden der Patient*in auf den groben Behandlungsfehler zurückzuführen ist. Hat die Patient*in den groben Behandlungsfehler bewiesen und dreht sich demnach die Beweislast um, so muss seitens des Rettungsdienstes der Gegenbeweis geführt werden. Dies bedeutet,

dass der Rettungsdienst beweisen muss, dass der eingetretene Gesundheitsschaden auch bei ordnungsgemäßem Handeln eingetreten wäre. Ebenso wird eine Beweislastumkehr angenommen, wenn trotz medizinischer Indikation nicht ausreichend medizinische Befunde erhoben werden (Anamnese und/oder Diagnostik). In diesen Fällen spricht man von einer unterlassenen Befunderhebung. Teil der rettungsdienstlichen Sorgfaltspflicht ist es, bei jeder Notfallpatient*in ausreichende medizinische Befunde zu erheben (› Kap. 4.6). Dies bedeutet, dass eine ausreichende Anamnese erhoben werden muss und auch entsprechend ausreichend (Geräte-)Diagnostik zu erfolgen hat. Unterbleibt eine solche Befunderhebung trotz medizinischer Indikation, so wird von einer unterlassenen Befunderhebung ausgegangen. Wenn diese dann hypothetisch mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 50 % einen behandlungspflichtigen Befund gezeigt hätte, dessen Übersehen oder falsches Interpretieren völlig unverständlich wäre, ist eine Beweislastumkehr gegeben. Eine Übersicht zu der Beweislastverteilung in Bezug auf § 603h Abs. 5 BGB findet sich in› Tab. 6.5.

Tab. 6.5 Beweislastverteilung nach § 603h Abs. 5 BGB Fehlertyp

Beweislast/Beweissituation

Behandlungsfehler

Patient*in muss Kausalität nachweisen

Grober Behandlungsfehler

Beweislastumkehr der Kausalität zum Nachteil des Rettungsdienstes

Unterlassene Befunderhebung

Patient*in muss Kausalität beweisen

Unterlassene Befunderhebung, wenn mit mehr als 50 % Wahrscheinlichkeit bei weiterer Diagnostik ein behandlungsbedürftiges

Beweislastumkehr der Kausalität zum Nachteil des Rettungsdienstes

Ergebnis aufgefallen wäre R e ch t in e ch t (Fall 6.12) Notfallsanitäterin Marie (auf dem RTW) und Notärztin Lola (auf dem NEF) werden mit dem Stichwort „internistischer Notfall“ zu einer Patientin alarmiert. Die Patientin wird sitzend und ansprechbar im Wohnzimmer vorgefunden. Sie ist kaltschweißig und hat ein blasses Hautkolorit. Marie erhebt einige Vitalparameter: RR: 240/120 mmHg, SpO2: 95 %, P: 140/min, BZ: 123 mg/dl. Die Patientin klagt über starke Rückenschmerzen, die in beide Arme ausstrahlen. Sie sei bereits bei ihrem Hausarzt gewesen; dieser habe ein „BWSSyndrom“ diagnostiziert. Lola verabreicht 0,8 mg Glyceroltrinitrat (Nitro) sublingual. Die Symptomatik verbessert sich. Ein EKG wird nicht angelegt. Nach kurzer Absprache mit Marie entscheidet sich Lola dazu, die Patientin zu Hause zu lassen. 30 Minuten später erfolgt eine erneute Alarmierung zur selben Patientin mit dem Stichwort „laufende Reanimation“. Die Patientin konnte erfolgreich reanimiert werden, verstarb jedoch mehrere Stunden später auf der Intensivstation. Bei der Patientin lag ein fulminanter Vorderwandinfarkt vor,

den man nach dem Ergebnis der Pathologie in einem hypothetisch angelegten EKG im ersten Einsatz in jedem Fall gesehen hätte. In diesem Fall lag klar eine unterlassene Befunderhebung vor; die Anlage eines EKG wäre hier zwingend gewesen. Aus dem Ergebnis der Pathologie konnte hergeleitet werden, dass ein angelegtes EKG im ersten Einsatz mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 50 % den fulminanten Infarkt gezeigt hätte. Das Übersehen dieses Infarktes im EKG wäre laut dem Sachverständigen als grober Behandlungsfehler zu bewerten. Diese Konstellation führt dazu, dass die Ursächlichkeit zwischen dem Fehler des Rettungsdienstes (Unterlassen des EKG und Unterlassen einer Krankenhauszuführung) und dem eingetretenen Gesundheitsschaden (Tod) vermutet wird. Der Rettungsdienst müsste nun beweisen, dass die Patientin auch bei einer ordnungsgemäßen Behandlung während des ersten Einsatzes mit einer Wahrscheinlichkeit von nahezu 100 % verstorben wäre. Diese Beweisführung ist in der Praxis i. d. R. nicht möglich. Verwirklichung einer Gefahr des voll beherrschbaren Risikos Eine weitere anzusprechende Beweiserleichterung für die Patientenseite ergibt sich für die Fallgruppe des voll beherrschbaren Risikos. Diese Fallgruppe ist einschlägig, wenn es eben nicht um Versäumnisse im medizinischen Bereich geht, sondern Versäumnisse im Bereich der Organisation vorliegen. Mängel und Fehler in der Organisation werden nach allgemeinen deliktsrechtlichen Grundsätzen beurteilt (› Kap. 6.5), ihre Vermeidung stellt aber eine wesentliche Pflicht aus dem Behandlungsverhältnis dar. Die Besonderheit von Organisationspflichtverletzungen liegt darin, dass die Fallgruppe mit einer Verschuldensvermutung einhergeht, sodass der Rettungsdienst jeweils den sog. „Exkulpationsbeweis“ führen muss. Exkulpationsbeweis bedeutet, dass der Rettungsdienst beweisen muss, dass der gleiche Fehler auch bei Einhaltung aller Sorgfalt passiert wäre, es sich also um einen unvermeidbaren Fehler gehandelt hat. Organisationsfehler führen grds. nicht zu einer Beweislastumkehr hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Fehler und eingetretenem Gesundheitsschaden. Es wird vielmehr nur vermutet, dass überhaupt ein Fehler des Rettungsdienstes vorliegt. Vollbeherrschbare Risiken zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Realisierung nicht den Besonderheiten des menschlichen Organismus, also der

Erkrankung und der Behandlung der Erkrankung, geschuldet ist, sondern einem Defizit im Bereich der Organisation, das durch geeignete organisatorische Maßnahmen aufseiten der Behandelnden sicher beherrscht und ausgeschlossen werden kann. Kurzum handelt es sich um solche Fehler, die durch eine ordnungsgemäße Organisation im Rettungsdienst sicher vermeidbar sind. Hierzu zählen insb. (nicht abschließend): • Stürze der Patient*innen beim Umlagern • Stürze der Patient*innen beim Transport • Stürze während der Verbringung in ein Rettungsmittel • Nicht ordnungsgemäß gesicherte Medizinprodukte im Patientenraum • Missachtung von Hygienevorschriften • Anfahrt eines fachlich ungeeigneten Krankenhauses • Aufziehen eines falschen Medikamentes wegen einer AmpullenVerwechselung In all diesen Fallkonstellationen, in denen der Fehler also nicht im Bereich der Medizin, sondern im Bereich der Organisation liegt, wird zulasten des Rettungsdienstes vermutet, dass ein haftungsbegründender Behandlungsfehler gegeben ist. Die Patient*innen müssen diesen also nicht mehr beweisen.

6.4 Patientenverfügung André Höhle Patientenverfügungen erlangen eine stetig wachsende Bedeutung im Kontext der medizinischen Versorgung. Der hohe Lebensstandard sowie eine gute medizinische Versorgung führen dazu, dass Menschen immer älter werden. Trotz dieses Umstands nehmen mit zunehmendem Alter oftmals die körperlichen und geistigen Fähigkeiten ab. Insbesondere die Abnahme der geistigen Fähigkeiten kann dazu führen, dass jemand ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr in der Lage ist, seine aktuelle gesundheitliche Situation sachgerecht einzuschätzen und eigenständige Entscheidungen dazu zu treffen. Auch Unfälle und sonstige schwere Erkrankungen können dazu führen, dass dies von einem Tag auf den anderen nicht mehr möglich ist.

Für den Fall, dass man zu einem in der Zukunft liegenden Zeitpunkt nicht mehr in der Lage ist, eigenständig über eigene Gesundheitsangelegenheiten zu entscheiden, gibt es die Möglichkeit, eine Patientenverfügung zu errichten. Der Gesetzgeber hat die entsprechenden gesetzlichen Rahmenbedingungen dafür geschaffen. Darin wird geregelt, wie und unter welchen Voraussetzungen eine Patientenverfügung aufzusetzen ist und welche Anforderungen sich daraus für die Adressaten der Patientenverfügung ergeben. Auch der Rettungsdienst wird zunehmend mit Patientenverfügungen konfrontiert. Für die Mitarbeitenden ist es daher wichtig, wie mit Situationen umgegangen werden soll, in denen man im Einsatz mit einer Patientenverfügung konfrontiert wird. Hier sind ggf. schnell Entscheidungen zu treffen, die für das Leben der Patient*innen von entscheidender Bedeutung sein können.

6.4.1 Grundlage: das Selbstbestimmungsrecht Grundlage dafür, dass die Errichtung einer Patientenverfügung möglich ist, sind die Menschenwürde (Art. 1 GG) sowie das Selbstbestimmungsrecht (Art. 2 GG). Hiernach hat jeder Mensch grds. das Recht, selbst über sein Leben und seine Gesundheit zu bestimmen. Dies umfasst auch das Recht, Maßnahmen abzulehnen, die aus medizinischer Sicht sinnvoll sind und empfohlen werden. Das Selbstbestimmungsrecht umfasst daher auch das Recht, Entscheidungen zu treffen, die anderen unvernünftig erscheinen oder für andere nicht nachvollziehbar sind. Dies gilt zumindest so lange, wie diese Entscheidung auf einem freien Willen beruht. Insbesondere im Rettungsdiensteinsatz kann das Grundrecht auf Selbstbestimmung mit einer anderen grundgesetzlichen Wertung kollidieren, namentlich der Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG (› Abb. 6.3).

ABB. 6.3 Selbstbestimmung vs. Schutzpflicht des Staates [L157] Konkrete Regelungen zur Patientenverfügung finden sich im BGB im Kontext der Regelungen zur rechtlichen Betreuung. Das gesamte Betreuungsrecht wurde vom Gesetzgeber mit Wirkung zum 1. Januar 2023 umgestaltet und neu strukturiert. Die Regelung zur Patientenverfügung findet sich nun in § 1827 BGB.

6.4.2 Voraussetzungen für die Errichtung einer Patientenverfügung Um eine Patientenverfügung wirksam errichten zu können, muss die Person volljährig und einwilligungsfähig sein. Dies bedeutet, dass minderjährige Personen oder solche, die beispielsweise an einer geistigen Behinderung leiden, und aus diesem Grund nicht einwilligungsfähig sind, keine wirksame Patientenverfügung errichten können.

Eine Patientenverfügung muss zudem freiwillig errichtet worden sein. Niemand darf dazu gezwungen werden. Eine Patientenverfügung muss schriftlich errichtet werden. Dies bedeutet, dass diese eigenhändig unterschrieben sein muss. Die Voraussetzungen für die Errichtung einer Patientenverfügung sind in › Abb. 6.4 vereinfacht dargestellt.

ABB. 6.4 Errichtung Patientenverfügung [L157] Entgegen häufiger Annahmen ist eine notarielle Beglaubigung der Unterschrift oder gar eine Beurkundung nicht zwingend vorgeschrieben. Eine solche Form der Errichtung kann jedoch in Betracht kommen, wenn es sich um eine Person handelt, die körperlich nicht in der Lage ist, eine Unterschrift zu leisten. Me r ke Es ist grds. nicht notwendig, dass eine Patientenverfügung notariell beglaubigt ist. Entscheidend ist, dass das Dokument im Original und unterschrieben vorliegt. Liegt eine Patientenverfügung nicht im Original vor, so kann diese Kopie dennoch zur Ermittlung des mutmaßlichen Patientenwillens (› Kap. 6.3.3) herangezogen werden.

6.4.3 Inhalte einer Patientenverfügung

Inhaltlich ist es erforderlich, dass die Person bestimmte Festlegungen zu Untersuchungen, Heilbehandlungen oder ärztlichen Eingriffen trifft, die zum Zeitpunkt der Errichtung noch nicht unmittelbar bevorstehen. Bei diesen Festlegungen muss es sich um Einwilligungen und Untersagungen bzgl. konkret festzulegender Maßnahmen handeln. Das können sowohl medizinische als auch pflegerische Maßnahmen sein. Allgemeine Formulierungen, z. B. „… ich möchte nicht reanimiert werden“ sind nicht zulässig und brauchen nicht beachtet werden, sofern diese Formulierung losgelöst von jeglicher Behandlungssituation steht. Me r ke Inhaltlich hat eine Patientenverfügung oftmals folgende Struktur: 1. Beschreibung Situation 2. Maßnahmen, in die eingewilligt wird bzw. Maßnahmen, die abgelehnt werden. Beispiele: „Für den Fall, dass ich mich im Endstadium einer unheilbaren, tödlich verlaufenden Erkrankung befinde, selbst wenn der Todeszeitpunkt noch nicht absehbar ist, wünsche ich, dass die Notärzt*in nicht verständigt wird bzw. im Fall einer Hinzuziehung unverzüglich über meine Ablehnung von Wiederbelebungsmaßnahmen informiert wird.“ „Für den Fall, dass ich infolge eines weit fortgeschrittenen Hirnabbauprozesses (z. B. bei Demenzerkrankung) auch mit ausdauernder Hilfestellung nicht mehr in der Lage bin, Nahrung und Flüssigkeit auf natürliche Weise aufzunehmen, wünsche ich, dass keine künstliche Ernährung, unabhängig von der Form der künstlichen Zuführung von Nahrung, und keine künstliche Flüssigkeitszufuhr erfolgen.“ Um eine wirksame Einwilligung zu erhalten, ist es i. d. R. erforderlich, dass vorher eine Aufklärung stattfindet. Dies ist bei der Patientenverfügung jedoch nicht notwendig. Für die Errichtung bedarf es keiner vorherigen Aufklärung im Hinblick auf die in der Patientenverfügung aufgeführten medizinischen Maßnahmen. Dies ist problematisch, da medizinische Laien oftmals kaum

Vorstellungen darüber haben, welche Maßnahmen in welchen Situationen ggf. notwendig oder sinnvoll sind. Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, die Patientenverfügung nach einer ärztlichen Beratung, z. B. durch Hausärzte, zu verfassen. Für die Struktur und die inhaltlichen Formulierungen kann entweder auf Vorlagen zurückgegriffen werden oder die Errichtung kann komplett eigenständig erfolgen. Es sollen Situationen geschildert werden und zu diesen Situationen die Maßnahmen festgelegt werden, die gewünscht werden bzw. zu denen eine Einwilligung erteilt wird, oder Maßnahmen, die nicht gewünscht bzw. abgelehnt werden. Aufgrund dieser Struktur können die Adressaten einer Patientenverfügung leicht verstehen, welche Maßnahmen ergriffen werden sollen und welche abgelehnt werden. Um den Adressaten eine Hilfestellung für solche Situationen zu geben, die nicht eindeutig geregelt sind, sollen Interpretationshilfen mit niedergeschrieben werden. Dabei kann es sich um die Formulierung von Wertvorstellungen handeln, die für die errichtende Person bedeutsam sind. Grundsätzlich entstehen für eine selbst errichtete Patientenverfügung keine Kosten. Sofern Vorlagen verwendet werden oder anwaltliche Hilfe bei der Errichtung in Anspruch genommen wird, können u. U. Kosten entstehen.

6.4.4 Gültigkeitsdauer Eine Patientenverfügung hat kein Ablaufdatum, sie ist grds. unbegrenzt wirksam. Mit zunehmender Zeitdauer bietet es sich jedoch an zu überprüfen, ob die getroffenen Festlegungen tatsächlich noch dem aktuellen Willen der betroffenen Person entsprechen. Personen, die eine Patientenverfügung errichtet haben, wird empfohlen, diese regelmäßig zu überprüfen und ggf. zu aktualisieren. Dies ist auch deshalb zu empfehlen, da die medizinische Forschung regelmäßig neue Fortschritte macht. Krankheiten, die vor Jahren als unheilbar galten, sind heute bereits gut behandelbar (z. B. HIV, Masern, Tuberkulose). Eine Patientenverfügung kann von Betroffenen jederzeit widerrufen werden. Für den wirksamen Widerruf ist dabei jedoch wieder eine Einwilligungsfähigkeit erforderlich. Solange keine Anhaltpunkte für einen Widerruf vorliegen, kann von einer fortbestehenden Wirksamkeit der Patientenverfügung ausgegangen werden.

6.4.5 Adressaten der Patientenverfügung Adressaten der Patientenverfügung sind alle, die Behandlungs- und Pflegemaßnahmen durchzuführen haben. Adressat ist damit auch der Rettungsdienst. Werden Maßnahmen durchgeführt, die nach dem Willen der Patient*in untersagt sind, fehlt es für die Maßnahmen an der rechtfertigenden Einwilligung. Dies kann schlimmstenfalls zu einer Strafbarkeit führen, z. B. einer Körperverletzung. Die grundlegende Wirkung einer Patientenverfügung ist in › Abb. 6.5 zusammengefasst.

ABB. 6.5 Wirkungen der Patientenverfügung [L157]

Me r ke Auch der Rettungsdienst ist Adressat einer Patientenverfügung.

6.4.6 Bedeutung für den Rettungsdienst Patientenverfügungen richten sich auch an den Rettungsdienst und binden diesen im Hinblick auf die Durchführung von Maßnahmen. Damit der Rettungsdienst im Einsatz die in der Patientenverfügung getroffenen Regelungen berücksichtigen kann, muss sich dieser vergewissern, dass für die konkrete Patient*in eine formgerechte Patientenverfügung vorliegt. In einem zweiten Schritt muss inhaltlich geprüft werden, ob der aktuelle Grund für den Rettungsdiensteinsatz, also die Erkrankung oder die Verletzung, in der Patientenverfügung geschildert

wird und welche Maßnahmen für diese Situation gewünscht oder abgelehnt werden. Liegen für die konkrete Situation eindeutige Regelungen vor, müssen diese berücksichtigt werden. Erfolgt ein Transport ins Krankenhaus, muss die Patientenverfügung in jedem Fall mitgenommen werden. In diesem Zusammenhang kann es in folgenden Situationen zu der Frage nach einer Patientenverfügung kommen: A) Reanimation oder akut lebensbedrohlicher Zustand einer Patient*in B) Eine Notfallpatient*in ist krank, aber stabil C) Patient*in ist einwilligungsunfähig, die Angehörigen fordern die Durchführung von Maßnahmen oder einen Transport in Klinik, die Patientenverfügung verbietet jedoch weitere Maßnahmen Reanimation oder akut lebensbedrohlicher Zustand einer Patient*in (Fall A) In einer Notfallsituation, in der jede Sekunde zählt, um irreversible Schäden von Patient*innen abzuwenden, kann die ersteintreffende Rettungsdienstbesatzung i. d. R. zunächst keine Zeit darauf verwenden zu prüfen, ob eine formell richtige und inhaltlich zutreffende Patientenverfügung vorliegt. Solche Situation liegen z. B. bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand, einer akuten Verlegung der Atemwege oder einer lebensbedrohlichen Blutung vor. Es besteht ein hohes Risiko, dass die Patientenverfügung mit erheblichem Zeitaufwand geprüft wird und danach festgestellt werden muss, dass die eingetretene Situation gar nicht geregelt ist. In dieser Zeit könnten unnötigerweise erhebliche gesundheitliche Schäden bei der betroffenen Person eintreten. In kritischen Notfallsituationen führt die ersteintreffende Rettungsdienstbesatzung also zunächst alle erforderlichen Maßnahmen durch. Etwaig später hinzukommende Besatzungen (z. B. NEF) können die Patientenverfügung ggf. prüfen und bewerten, wenn die Situation es zulässt. Kommt keine weitere Besatzung hinzu, wird die Patientenverfügung dann geprüft, wenn die Patient*in stabilisiert wurde und entsprechend Zeit dafür ist. Me r ke Bei einem akuten Notfall, bei dem unmittelbar die Durchführung von Maßnahmen erforderlich ist, um irreversible Gesundheitsschäden zu verhindern,

kann eine vorliegende Patientenverfügung zunächst nicht geprüft werden. Es zählt der mutmaßliche Patientenwille. Fehlen entgegenstehende Anhaltspunkte, kann immer davon ausgegangen werden, dass Patient*innen im Notfall eine optimale Versorgung wünschen. Wird in Notfallsituationen eine Entscheidung aufgrund einer Patientenverfügung getroffen, ist es wichtig, dass sich die Besatzung selbst bzw. die konkrete Notfallsanitäter*in oder Notärzt*in mit der Patientenverfügung beschäftigt. Um eine solche Entscheidung fundiert treffen zu können, ohne etwas zu übersehen, ist eine genaue Überprüfung der Verfügung maßgeblich – dies kann nicht an Dritte, z. B. Angehörige oder Pflegepersonal, weitergegeben werden. Wer auf Basis einer Patientenverfügung entscheidet, überprüft diese auch selbst. Notfallpatient*in ist krank, aber stabil (Fall B) Ist der Zustand der Patient*in soweit stabil und liegt eine Patientenverfügung vor, muss diese durch den Rettungsdienst zur Kenntnis genommen und berücksichtigt werden. Hier ist zunächst zu prüfen, ob die Patientenverfügung tatsächlich die Patient*in betrifft und ob diese unterschrieben oder im Einzelfall notariell beglaubigt ist. Liegen diese formellen Voraussetzungen vor, muss geprüft werden, ob die aktuelle Erkrankung bzw. Einsatzsituation in der Patientenverfügung aufgeführt ist und welche Maßnahmen für diese Situation gewünscht oder abgelehnt werden. Eine weitere Versorgung und ein Transport in die Klinik können u. a. dann erfolgen, wenn die konkrete Situation in der Patientenverfügung geregelt ist und eine Einwilligung in weitere Maßnahmen vorliegt. Ist die aktuelle Situation nicht in der Patientenverfügung geregelt, ist entsprechend des mutmaßlichen Willens der Patient*in zu verfahren. Soweit keine gegenteiligen Anhaltspunkte vorliegen, kann davon ausgegangen werden, dass diese im Fall eines Notfalls/einer Erkrankung die bestmögliche medizinische Versorgung wünscht. Me r ke Enthält eine Patientenverfügung keine Regelungen zur konkreten Einsatzsituation oder sind die enthaltenen Regelungen unklar, ist die

Patientenverfügung insoweit nicht verbindlich. Es muss auf den mutmaßlichen Patientenwillen abgestellt werden. Patient*in ist einwilligungsunfähig, Angehörige fordern Maßnahmen oder Transport, Patientenverfügung verbietet Maßnahmen (Fall C) Mitunter kann es auch zu Situationen kommen, in denen Angehörige einer Patient*in Maßnahmen oder einen Transport fordern, obwohl die Patientenverfügung ausdrücklich weitere Maßnahmen verbietet. Diese Situation kann u. U. zu einem Konflikt vor Ort führen. Sofern die konkrete Situation in der Patientenverfügung geregelt ist und eine weitere Versorgung bzw. ein Transport in die Klinik für diesen Fall abgelehnt wird, muss dieser Patientenwille beachtet werden. Dies gilt auch dann, wenn Angehörige einen Transport in die Klinik fordern. Ein Beispiel für den Aufbau einer Patientenverfügung ist in › Abb. 6.6 dargestellt. Wichtig ist hier, danach zu unterscheiden, auf was sich die Äußerungen der Angehörigen beziehen. Wenn sie sich darauf beziehen, dass der Inhalt der Patientenverfügung nicht mehr dem aktuellen Willen/der aktuellen Lebenssituation der Patient*in entspricht, so ist dieser aktuelle Patientenwille zu beachten. Handelt es sich hingegen um einen eigenen Wunsch der Angehörigen, losgelöst vom Patientenwillen, gilt der Inhalt der Patientenverfügung.

ABB. 6.6 Patientenverfügung Beispiel [L157]

Me r ke Trifft die Patientenverfügung eindeutige Regelungen zur konkreten Einsatzsituation, ist der Patientenwille zu beachten. Entgegenstehende Wünsche von Angehörigen sind grds. unbeachtlich, es sei denn, es wird nachvollziehbar mitgeteilt, dass die (ältere) Patientenverfügung nicht mehr der aktuellen Lebenssituation entspricht und sich der Wille der Patient*in daher geändert hat. Hier ist fein abzugrenzen und entsprechend zu dokumentieren. Handelt es sich um eine Situation, in der die Angehörigen entgegen des bestehenden Willens der Patient*in klar sagen: „wir wollen“? Oder beziehen sich die Angehörigen auf einen geänderten Patientenwillen? In diesem zweiten Fall sollte wegen bestehender Zweifel ein Transport durchgeführt werden, im ersten Fall hingegen nicht. Che c kl is te Prüfung Patientenverfügung Besteht aufgrund der Einsatzsituation ausreichend Zeit, eine vorliegende Patientenverfügung zu prüfen, werden folgende Kriterien beachtet:

• Passt die Patientenverfügung zur Patient*in (Namen prüfen)?

→ Wenn nicht, ist die Patientenverfügung unbeachtlich. • Liegt die Patientenverfügung im Original vor?

→ Wenn nicht, ist die vorliegende Kopie unbeachtlich. • Ist die Patientenverfügung von der Patient*in unterschrieben oder liegt eine notariell beglaubigte Fassung vor?

→ Wenn nicht, ist die Patientenverfügung unbeachtlich. • Sind in der Patientenverfügung konkrete Situationen beschrieben?

→ Wenn nicht, ist die Patientenverfügung unverbindlich. • Liegt eine der konkret beschriebenen Situationen vor?

→ Wenn nicht, ist die Patientenverfügung unverbindlich. • Welche Maßnahmen/Untersagungen werden für die konkrete Situation geregelt?

→ Beschriebene Anordnungen sind zu beachten. • Gibt es bzgl. der konkret beschriebenen Situation und/oder der dazu beschriebenen Maßnahmen Unklarheiten?

→ Bei Unklarheiten ist die Patientenverfügung insoweit unverbindlich. • Gibt es Hinweise darauf, dass der Inhalt der Patientenverfügung nicht mehr der aktuellen Lebenssituation entspricht?

→ Dann Patient*in im Zweifel bestmöglich versorgen und transportieren. Liegt eine unbeachtliche/unverbindliche Patientenverfügung vor, ist der mutmaßliche Patientenwille zu ermitteln und danach zu handeln. Im Zweifel kann immer davon ausgegangen werden, dass die Patient*in eine optimale Versorgung wünscht.

6.5 Haftung bei Schäden Erleiden Patient*innen einen Schaden durch eine Handlung oder Unterlassung des Rettungsdienstes, kommt nicht nur eine Strafanzeige in Betracht. Mit dem Ziel, Schadensersatz oder Schmerzensgeld zu erhalten, können Patient*innen auch zivilrechtlich gegen den Rettungsdienst vorgehen. Schadensrecht ist Ausdruck von ethischen Überzeugungen einer Gesellschaft sowie der wirtschaftlichen und sozialen Situation in einer Epoche. Dabei ist die

Frage von Bedeutung, unter welchen Umständen Schäden selbst getragen werden müssen (Unglück oder Schicksal) oder unter welchen Umständen der Ersatz von Schäden auf andere übergeleitet werden kann.

6.5.1 Unerlaubte Handlung Die zentrale Norm für eine zivilrechtliche Haftung in den Fällen, in denen keine vertragliche Haftung in Betracht kommt, ist die Haftung aus sog. unerlaubter Handlung (§ 823 BGB). Wie in › Kap. 6.3 dargestellt, kommt zwischen dem Rettungsdienst und Patient*innen kein Behandlungsvertrag zustande. Eine vertragliche Haftung des Rettungsdienstes scheidet daher aus. § 823 Schadensersatzpflicht (1) Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet. § 823 BGB als zentrale außervertragliche Haftungsvorschrift schützt eine Vielzahl von Rechtsgütern. Im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Rettungsdienstes können insb. Schädigungen von Leben, Gesundheit und informationelle Selbstbestimmung in Betracht kommen. Diese Rechtsgüter werden von § 823 BGB geschützt, die informationelle Selbstbestimmung als sonstiges Rechtsgut. Liegt ein entsprechender Schaden vor, ist für einen Anspruch auf Schadensersatz erforderlich, dass der Schaden auf eine Handlung oder Unterlassung der schädigenden Person zurückzuführen ist. Es muss also eine ursächliche Verletzungshandlung für den Schaden geben. Die Handlung oder Unterlassung muss schuldhaft gewesen sein. Dies bedeutet entweder mit Vorsatz oder Fahrlässigkeit (› Kap. 7.1.4), wobei es hier auf eine objektiv-abstrakte Bewertung ankommt (› Kap. 4.6.1). In praktischer Hinsicht ist bedeutsam, dass die Haftung für Schäden heutzutage immer häufiger auf Versicherungen verlagert wird. Oftmals streiten sich somit nicht Schädiger und Geschädigte, sondern Versicherungen darüber, wer für einen Schaden aufkommen muss.

Rechtfertigungsgründe aus dem BGB Im Zivilrecht gibt es, genau wie im Strafrecht (› Kap. 7.3), Rechtfertigungsgründe. Dies bedeutet, allein der Umstand, dass ein Rechtsgut einer anderen Person geschädigt wurde, ist für eine Haftung nicht ausreichend. Eine Haftung kommt vielmehr erst dann in Betracht, wenn keine Rechtfertigungsgründe einschlägig sind. Zivilrechtliche Rechtfertigungsgründe sind: • Notwehr (§ 227 BGB) • Defensiver Notstand (§ 228 BGB) • Aggressiver Notstand (§ 904 BGB) • Selbsthilfe (§ 229 BGB) • Einwilligung und mutmaßliche Einwilligung (vgl. dazu › Kap. 6.3.3) Haftungsbeschränkungen In einigen Lebensbereichen gibt es Haftungsbeschränkungen, z. B. im Arbeitsverhältnis (› Kap. 13.2.5). Dabei muss die betroffene Person oft nicht vollumfänglich selbst haften, sondern z. B. nur in einem gewissen Sorgfaltsrahmen, oder auch gar nicht, wenn die Haftung von jemandem übernommen wird. Verletzung eines Schutzgesetzes Unabhängig von den vorherigen Ausführungen kann eine Haftung auf Schadensersatz auch dann in Betracht kommen, wenn Vorschriften aus anderen Gesetzen verletzt wurden, soweit diese speziell den Sinn und Zweck haben, die individuellen Interessen einer Person zu schützen. Die Körperverletzung (§ 223 StGB, › Kap. 7.5.1) ist z. B. eine Vorschrift, welche die individuelle körperliche Unversehrtheit einer Person schützen soll. Wird dieser Straftatbestand verwirklicht, kann dies Grundlage für die Inanspruchnahme auf Zahlung von Schadensersatz sein.

6.5.2 Amtshaftung Aus historischen Gründen gibt es für die sog. Amtshaftung spezielle Regeln. Bevor diese eingeführt wurde, haben Amtsträger*innen selbst für Pflichtverletzungen gehaftet, die diese in Ausübung des Amtes begangen haben. Dieser Umstand hat dazu geführt, dass die Motivation, Entscheidungen zu treffen,

aus Angst vor einer Haftung sehr gering war. Um die Entscheidungsfreudigkeit von Amtsträger*innen zu erhöhen, wurde die Amtshaftung eingeführt. Diese führt zu einer Verlagerung der Haftung auf den Staat; dieser kann jedoch unter bestimmten Voraussetzungen sog. Rückgriff beim Amtsträger nehmen. Da der Rettungsdienst in den meisten Bundesländern öffentlich-rechtlich organisiert ist (› Kap. 3.10.2), greifen bei Schäden, die durch den Rettungsdienst verursacht wurden, die Grundsätze der Amtshaftung. Gesetzliche Grundlage für die Amtshaftung ist § 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG. Voraussetzung der Amtshaftung ist, dass eine Amtsträger*in eine Amtspflichtverletzung begangen hat. Liegt diese Voraussetzung vor, erfolgt eine Überleitung der Haftung auf den Staat. Dies bedeutet, dass die Personen, die die Verletzungshandlung begangen haben, durch Geschädigte nicht unmittelbar selbst in Anspruch genommen werden können. Eine Inanspruchnahme muss sich gegen den Staat richten und sperrt damit eine direkte Inanspruchnahme der handelnden Personen. Dieser Mechanismus hat Vorteile sowohl für die Betroffenen als auch für die Schädiger. Die Schädiger können zunächst einmal nicht selbst von den Betroffenen in Anspruch genommen werden. Die Betroffenen haben mit dem Staat einen zahlungskräftigen Schuldner gegenüberstehen. Sollte es zu einer Verurteilung auf Schadensersatz oder Schmerzensgeld kommen, was bei Körperverletzungen oder Gesundheitsschädigungen schnell höhere Beträge sein können, gibt es mit dem Staat eine Institution, die auf jeden Fall zahlen kann. Die Betroffenen haben also nicht das Risiko der Zahlungsunfähigkeit, wie dies bei einer Einzelperson der Fall wäre. Die Amtshaftung hat damit für beide Seiten Vorteile. Die Voraussetzungen der Amtshaftung sind vereinfacht in › Abb. 6.7 dargestellt.

ABB. 6.7 Voraussetzungen der Amtshaftung (vereinfachte Darstellung) [L157]

Amtsträger*in Liest man den § 839 BGB kann die Frage aufkommen, ob Mitarbeitende des Rettungsdienstes Amtsträger*innen sind. Die Formulierung lautet dort: „Verletzt ein Beamter […]“. Viele Mitarbeitende des Rettungsdienstes sind keine verbeamteten Personen, daher könnten Zweifel bestehen, ob diese von der Amtshaftung profitieren können. Etwas klarer wird der Anwendungsbereich der Amtshaftung, wenn man zu dem § 839 BGB noch den Art. 34 GG liest. Die Formulierung dort lautet: „Verletzt jemand in Ausübung eines ihm anvertrauten öffentlichen Amtes […]“. Insbesondere aus der Formulierung in Art. 34 GG wird deutlich, dass es sich nicht um eine verbeamtete Person handeln muss (Beamter im formellen Sinne), sondern, dass die Amtshaftung für alle Personen in Betracht kommt, die öffentliche Aufgaben wahrnehmen (Beamter im haftungsrechtlichen Sinne). Näheres hinsichtlich des Rettungsdienstes als

öffentliche Aufgabe ergibt sich aus den Rettungsdienstgesetzen der Bundesländer, die dort in leicht abgewandelter Form Regelungen enthalten. Beispiel: § 1 Abs. 1 RettG Niedersachsen: Dieses Gesetz regelt den Rettungsdienst als öffentliche Aufgabe und die Zulassung Dritter zum qualifizierten Krankentransport außerhalb des Rettungsdienstes. Somit können im Ergebnis auch Mitarbeitende des Rettungsdienstes von der Amtshaftung profitieren. Dies gilt unabhängig davon, ob diese bei einer Hilfsorganisation, der Feuerwehr oder einem privaten Träger angestellt sind. Adressat ist dann, wer die entsprechende öffentliche Aufgabe verantwortet. Beim Rettungsdienst ist dies der Träger des Rettungsdienstes, gegenüber welchem die Ansprüche geltend gemacht werden müssten. Wer Träger des Rettungsdienstes ist, ergibt sich wiederum aus den Rettungsdienstgesetzen der Bundesländer (› Kap. 3.10.3). Beispiel: § 6 Abs. 1 RettG NRW: Die Kreise und kreisfreien Städte sind als Träger des Rettungsdienstes verpflichtet, die bedarfsgerechte und flächendeckende Versorgung der Bevölkerung mit Leistungen der Notfallrettung einschließlich der notärztlichen Versorgung im Rettungsdienst und des Krankentransports sicherzustellen. Me r ke Mitarbeitende des Rettungsdienstes sind i. d. R. Amtsträger*innen im haftungsrechtlichen Sinne, mit der Folge, dass bei Amtspflichtverletzungen die Grundsätze der Amtshaftung greifen. Somit erfolgt in diesen Fällen eine Haftung des Trägers des Rettungsdienstes. R e ch t in e ch t (Fall 6.13) Während eines Rettungsdiensteinsatzes in NRW erleidet eine Patientin eine Beckenfraktur durch den Sturz von einer Trage. In dem Kreis, in dem sich der Vorfall ereignet hat, wird der Rettungsdienst nicht durch den Träger selbst, sondern die Hilfsorganisation Lebensretter e. V. durchgeführt. Bei dieser sind Notfallsanitäter Fabian und Rettungssanitäter Till angestellt. Durch Unachtsamkeit und mangelnde Sicherung ist die Patientin von der Trage gefallen. Sie verlangt Schadensersatz und Schmerzensgeld.

Hier greifen die Grundsätze der Amtshaftung, da der Rettungsdienst in NRW öffentliche Aufgabe ist. Zwar sind Fabian und Till keine Beamten, sondern Angestellte einer Hilfsorganisation. Dies ist für die Amtshaftung jedoch nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass beide während ihres Dienstes eine öffentliche Aufgabe wahrgenommen haben. Die Hilfsorganisation wurde durch den Kreis (Träger des Rettungsdienstes) mit der Durchführung beauftragt. Die Patientin muss sich mit ihren Schadensersatzansprüchen demnach an den Kreis als Träger des Rettungsdienstes wenden. Weder die unmittelbar handelnden Personen Fabian und Till noch die Hilfsorganisation ist der richtige Adressat für die Geltendmachung der Ansprüche. Eine Amtshaftung kommt nur dann in Betracht, wenn die Verletzungshandlung in Ausübung eines öffentlichen Amtes erfolgt und nicht nur bei Gelegenheit. R e ch t in e ch t (Fall 6.14) Notfallsanitäter Fabian stiehlt bei manchen Einsätzen wertvolle Gegenstände aus den Wohnungen der Patient*innen, die er dort herumliegen sieht. Diese Diebstähle erfolgen nicht in Ausübung der Rettungsdiensttätigkeit, sondern bei deren Gelegenheit. Wird er dabei entdeckt, kommen keine Amtshaftungsansprüche in Betracht, sondern Fabian müsste persönlich in Haftung genommen werden. Amtspflichtverletzung Zu den Amtspflichten gehört es auch, Eingriffe in die in § 823 BGB genannten Rechte, Rechtsgüter und rechtlich geschützten Interessen der Bürger*innen zu unterlassen. Im Zusammenhang mit der Tätigkeit im Rettungsdienst kommen hier i. d. R. Verletzungen des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Betracht. Pflichten, die gerade gegenüber den Patient*innen bestehen, und die zu derartigen Rechtsverletzungen führen können, sind z. B. Pflicht zur fachgerechten Untersuchung, Versorgung, zum fachgerechten Transport, zum rechtmäßigen Umgang mit Patienteninformationen etc. Amtspflichtverletzungen können auch durch Unterlassen begangen werden (vgl. › Kap. 7.2.3).

Rechtswidrigkeit und Verschulden Auch im Rahmen der Amtshaftung ist es möglich, dass eine Verletzungshandlung zwar Amtspflichten verletzt, dies jedoch durch einen Rechtfertigungsgrund gedeckt ist, z. B. die Einwilligung bei invasiven Maßnahmen. Als Verschuldensformen kommen hier wieder Vorsatz und Fahrlässigkeit in Betracht (› Kap. 7.1.4). Überleitung der Haftung auf den Staat Liegen die Voraussetzungen der Amtshaftung vor, erfolgt eine Überleitung der Haftung auf den Staat. Diese sperrt eine persönliche Inanspruchnahme der handelnden Personen durch die verletzten Personen. Im Rettungsdienst erfolgt somit die Überleitung der Haftung i. d. R. auf den jeweiligen Träger des Rettungsdienstes. Rückgriffsrecht Gänzlich ohne Haftung bleiben die handelnden Personen jedoch nicht in allen Fällen. Der Staat kann in den Fällen, in denen die handelnden Personen vorsätzlich oder grob fahrlässig gehandelt haben, Rückgriff nehmen. Dies bedeutet, dass die Handelnden dann dem Staat den Betrag zahlen müssen, den dieser als Schadensersatz oder Schmerzensgeld an die durch die Amtshandlung Geschädigten gezahlt hat. Die Wirkungen der Amtshaftung sind in › Abb. 6.8 zusammengefasst.

ABB. 6.8 Wirkungen der Amtshaftung [L157]

Me r ke Bei vorsätzlichem oder grob fahrlässigem Handeln gibt es die Möglichkeit des Rückgriffs auf die unmittelbar handelnden Personen. Dies hat zur Folge, dass diese dann im Ergebnis doch verpflichtet sind zu zahlen. Eine Notfallsanitäter*in, die grob fahrlässig oder vorsätzlich eine Pflichtverletzung begeht, würde z. B. entsprechend in die Haftung genommen.

6.6 Höhe des Schadensersatzes Vergleicht man die Höhe von Schadensersatzbeträgen, die in Deutschland von Gerichten ausgeurteilt werden, mit denen in anderen Rechtsordnungen (z. B. USA), fällt schnell auf, dass bei der Entscheidung über die Höhe des Schadensersatzes unterschiedliche Maßstäbe angewendet werden. Das Schadensrecht in den USA kennt z. B. den sog. „Punitive Damage“, übersetzt kann man dies als Strafschadensersatz bezeichnen. Neben dem eigentlichen Ausgleich der entstandenen Schäden soll Punitive Damage auch eine Strafe für die Schädiger sein und diese dadurch von weiteren schädigenden Handlungen abhalten. Vor diesem Hintergrund wird Punitive Damage auch nur bei vorsätzlichem oder grob schuldhaftem Verhalten ausgeurteilt und nicht bei lediglich fahrlässigem Verhalten. Die beschriebene Form des Strafschadensersatzes ist dem deutschen Recht fremd. Für die Höhe des Schadensersatzes gilt hier der Grundsatz der Naturalrestitution. Dies bedeutet, dass die geschädigte Person so gestellt werden soll, wie sie stehen würde, wenn der Schaden nie eingetreten wäre. Es werden hier also nur die durch ein Schadensereignis konkret eingetretenen Schäden und Nachteile ersetzt. Rechtsgrundlage für die Naturalrestitution ist § 249 Abs. 1 BGB: Wer zum Schadensersatz verpflichtet ist, hat den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre. Was dort steht, muss wörtlich genommen werden. Die Schädiger müssen den Zustand wiederherstellen, der bestehen würde, wenn die schädigende Handlung nicht erfolgt wäre. So müsste sich eine Patient*in nach einem ärztlichen Behandlungsfehler grds. auch von diesem wieder behandeln lassen, um den

eingetretenen Schaden zu beseitigen. Dass dies in vielen Fällen, in denen das Vertrauen in die Ärzt*in gestört wäre, nicht zumutbar wäre, liegt auf der Hand. Daher bietet hier § 249 Abs. 2 BGB eine Lösung für diese Fälle: Ist wegen Verletzung einer Person oder wegen Beschädigung einer Sache Schadensersatz zu leisten, so kann der Gläubiger statt der Herstellung den dazu erforderlichen Geldbetrag verlangen. […] Patient*innen können sich folglich auch in andere Behandlung begeben und statt der Wiederherstellung den Schadensersatz in Geld verlangen. R e ch t in e ch t (Fall 6.15) In dem zuvor geschilderten Fall (Fall 6.13) musste die Patientin operiert werden und lag drei Wochen im Krankenhaus. In dieser Zeit konnte sie nicht arbeiten und hatte entsprechenden Verdienstausfall. Nach dem Krankenhausaufenthalt konnte sie sich als Alleinstehende zu Hause noch nicht selbst versorgen und brauchte eine Haushaltshilfe. Zudem musste sie noch weitere drei Wochen zur ambulanten Rehabilitation und konnte auch in dieser Zeit nicht arbeiten. Die Patientin kann als Schadensersatz verlangen, so gestellt zu werden, wie sie ohne das schädigende Ereignis stehen würde. Dies bedeutet, sie kann Ersatz verlangen für die Behandlungskosten, den Verdienstausfall, die Kosten für die Haushaltshilfe und die Rehabilitation sowie für alle weiteren Kosten, die sie bedingt durch das schädigende Ereignis hatte.

6.6.1 Schmerzenzgeld Unabhängig von konkreten materiellen Schäden können durch schädigende Handlungen auch immaterielle Schäden entstehen. Beim Schmerzensgeld geht es um Ausgleich und Genugtuung für den erlittenen Schaden und damit eine Wiedergutmachung des erfahrenen Unrechts. Im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Rettungsdienstes sind in erster Linie Körper- und Gesundheitsschäden oder das allgemeine Persönlichkeitsrecht relevant. § 253 Abs. 2 BGB regelt dazu: Ist wegen einer Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung Schadensersatz zu leisten, kann auch wegen des

Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld gefordert werden. Im Rahmen der Ausgleichsfunktion des Schmerzensgeldes werden z. B. Heftigkeit und Dauer der Schmerzen, Leiden, Entstellungen und psychische Beeinträchtigungen, Zahl und Schwere der Operationen, Dauer der Heilbehandlung berücksichtigt. Im Rahmen der Genugtuungsfunktion wird die Schwere des Verschuldens berücksichtigt. Dass ein Schmerzensgeld nicht exorbitant hoch wird, zeigt sich bereits an der Formulierung „billige Entschädigung“. Einige Beispiele für Schmerzensgeldbeträge finden sich in › Tab. 6.6. Schmerzensgeld ist eine eigenständige Anspruchsgrundlage und kann neben dem eigentlichen Schadensersatz gefordert werden, wenn die Voraussetzungen dazu vorliegen.

Tab. 6.6 Beispiele für Schmerzensgeld Gericht

Schaden

Schmerzensgeld

OLG München, 06.04.2016

Kopfplatzwunde und Gehirnerschütterung mit

3.000 Euro

Lagerungsschwindel OLG Oldenburg, 02.09.2014

Polytrauma mit schwerster Gehirnverletzung (Wachkoma)

500.000 Euro

OLG Frankfurt am Main,

Psychische Beeinträchtigung (hier: Depressionen; Ängste und

15.000 Euro

12.01.2010

Posttraumatische Belastungsstörung eines lebensbedrohlichen Traumas im Zusammenhang mit einer ärztlichen Fehlbehandlung)

LG München, 14.01.2009

LG Oldenburg, 20.02.2006 OLG Bamberg, 05.12.2000

Dekubitus (hier: Druckgeschwüre im Lendenwirbelbereich und in der linken Kniekehle) Schürfwunden und Blutergüsse sowie

4.000 Euro

Prellungen an Armen und Beinen Tastbare Verspannungen als Folge eines

1.000 Euro

HWS Syndroms

OLG Augenverletzung (hier: Teilerblindung Zweibrücken, durch Verlust des rechten Auges nach 17.12.1998

15.000 Euro

30.677,51 Euro

Schlägerei; Entstellung des Gesichts durch Glasauge)

6.6.2 Mitverschulden In jedem Fall wird immer geprüft, ob den Geschädigten in Bezug auf den Schaden ein Mitverschulden trifft. Schädiger müssen nur insoweit haften, wie diese den

Schaden konkret verursacht haben. Hat ein Verhalten der Geschädigten zur Entstehung des Schadens beigetragen, muss dies entsprechend berücksichtigt werden und mindert die Ersatzpflicht der Schädiger in dem Umfang, in welchem ein Mitverschulden vorliegt. In diesem Zusammenhang kann das Gericht dann Haftungsquoten bilden, z. B. 60:40 oder 20:80 Prozent.

6.6.3 Ersatzpflicht bei Verletzung oder Tötung einer Person Im Falle der Verletzung einer Person steht dieser ein Anspruch auf Schadensersatz und Schmerzensgeld zu. Bei der Tötung einer Person kann diese unmittelbar keine Schadensersatzansprüche mehr geltend machen. Schäden können jedoch bei Dritten (z. B. Angehörigen) entstehen; dies betrifft z. B. die Beerdigungskosten. Dritten können auch dann Schäden entstehen, wenn die getötete Person ihnen gegenüber unterhaltspflichtig war. In diesem Fall haben die Unterhaltsberechtigten gegen die Schädiger einen Anspruch auf Unterhalt für die Zeitdauer, für welche die getötete Person unterhaltspflichtig gewesen wäre. Im Fall einer Tötung steht Personen, die in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis zu der getöteten Person standen, zudem ein Anspruch auf Schmerzensgeld zu.

6.6.4 Mittäter*innen und Beteiligte Eine weitere wichtige Regelung zum Schadensersatz ist in § 830 BGB zu finden. Diese knüpft u. a. an die aus dem Strafrecht bekannten Formen der Durchführung und Beteiligung an eine Tat an. Sowohl Mittäter*innen als auch Teilnehmer*innen (Anstifter*innen und Gehilf*innen, › Kap. 7.1.4) haften auch zivilrechtlich. Dabei stehen Anstifter*innen und Gehilf*innen den Mittäter*innen gleich. Zudem wird geregelt, dass in dem Fall, dass mehrere Personen für einen Schaden verantwortlich sind und sich nicht ermitteln lässt, wessen Handlung den Schaden verursacht hat, alle Beteiligten haften. Auch diese Regelung stellt eine Erleichterung für den Betroffenen dar. Im Rettungsdienst kann diese Vorschrift relevant werden, da im Einsatz immer mindestens zwei Rettungskräfte beteiligt sind, durch deren Handlungen es zu einer Verletzung oder einem Gesundheitsschaden kommen kann. Hier haften dann im Zweifel alle

Beteiligten der betroffenen Person gegenüber, wenn sich nicht genau feststellen lässt, durch wessen Handlung ein Schaden verursacht wurde.

6.6.5 Haftung mehrerer Personen Sind mehrere Personen für eine Verletzung oder einen Gesundheitsschaden verantwortlich, kann die geschädigte Person von jedem der Schädiger den vollen Ersatz verlangen. Die Schädiger müssen dann im Zweifel untereinander für einen Ausgleich sorgen, entsprechend der wechselseitigen Verursachungsbeiträge. Diese Vorschrift stellt sicher, dass Geschädigte nicht mühsam gegenüber jedem Schädiger den auf diesen entfallenen Betrag geltend machen müssen.

6.6.6 Geldrente In manchen Fällen kann eine Verletzung oder Schädigung der Gesundheit so schwerwiegend sein, dass die geschädigten Personen nicht mehr in der Lage sind, einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen und damit ein regelmäßiges Einkommen zu erwirtschaften. Für diese Situation gibt es die Möglichkeit von Schädigern eine Geldrente als Schadensersatz zu erhalten. Dadurch soll der Verlust des Einkommens kompensiert werden. Gleiches gilt für den Fall, in dem aufgrund der Schädigung vermehrte Bedürfnisse und damit auch Kosten dadurch entstehen, dass der bestehende Lebensstandard aufrechterhalten werden kann. Hierunter fallen Kosten für orthopädische und technische Hilfsmittel (Rollstühle, Spezialschuhe, einen Blindenhund), behindertengerechte Umbauten, erhöhte Lebenshaltungskosten, Pflegekräfte u. v. m. Auch diese sind im Rahmen des Schadensersatzes auszugleichen. Der Anspruch im Hinblick auf vermehrte Bedürfnisse besteht so lange, wie der Mehrbedarf anfällt. Im Zweifel kann es sein, dass die Zahlungen auf Lebenszeit erfolgen müssen, da die Bedürfnisse nicht mit dem Eintritt ins Rentenalter wegfallen. Erwerbsschadens- und Mehrbedarfsrenten sind grds. für drei Monate im Voraus zu zahlen. Pr axis t ip p

Um sich einen Überblick darüber zu verschaffen, ob es für die Fälle des Rückgriffs eine Möglichkeit gibt, sich zu versichern, lohnt sich Folgendes: • Nachfrage bei der privaten Haftpflichtversicherung, ob und in welchem Umfang Schäden abgedeckt sind, die in Ausübung der beruflichen Tätigkeit entstehen. Wenn dies der Fall ist, muss auch nachgefragt werden, unter welchen Voraussetzungen die Haftpflichtversicherung nicht greift. Dies könnte z. B. bei Vorsatz und grober Fahrlässigkeit der Fall sein. • Werden derartige Schäden nicht von der privaten Haftpflichtversicherung abgedeckt, kann bei einer Versicherung oder einem Berufsverband nachgefragt werden, ob es spezielle Versicherungen für derartige Schäden gibt. • Kommt es zu einem Rückgriff, sind die genauen Umstände der Haftung häufig umstritten. In diesen Fällen kann es zu einer gerichtlichen Auseinandersetzung kommen. Dafür sind eine anwaltliche Beratung und Vertretung ratsam. Eine Rechtsschutzversicherung, die insb. auch Streitigkeiten im beruflichen Kontext mit abdeckt, kann hier sinnvoll sein, um die Finanzierung einer anwaltlichen Beratung und Vertretung im Streitfall zu übernehmen.

Quellen: [1] KG Berlin, Beschl. v. 20.03.2017–20 U 147/16 sowie KG Berlin, Beschl. v. 19.06.2017–20 U 147/16 [2] BGH, Urt. v. 11.05.2017 – III ZR 92/16 [3] OLG Hamm, Urt. v. 29.11.2019–12 UF 236/19 [4] BGH, Urt. v. 18.11.2008 – VI ZR 798/07; BGH NJW 1999, 1779 [5] BGH NJW 1993, 1374; für den Rettungsdient OLG Hamm MedR 2008, 210; LG Dortmund, Urt. v. 18.03.2015–4 O 152/15 [6] Erlass v. 22.12.2022 – IV A 2–2022–0017994 [7] BGH, Urt. v. 27.04.2021 – VI ZR 84/19 [8] BGH NJW 2018, 309; BGH NJW 2016, 563

Gerichtsurteile und Beschlüsse: BGH, Urt. v. 26.05.2021 – VI ZR 213/19 BGH, Beschl. v. 16.08.2016 – VI ZR 634/15 BGH, Urt. v. 26.01.2016 – VI ZR 146/16 BGH GesR 2011, 24 BGH VersR 2010, 1220 BGH NJW 1999, 3408 OLG Dresden, Urt. v. 29.03.2022–4 U 980/21 OLG Frankfurt am Main, Urt. v. 16.07.2019–8 U 228/17 OLG Hamm BeckRS 2015, 11986 OLG Koblenz, Beschl. v. 26.08.2014–5 U 222/14 OLG München, Urt. v. 19.09.2013–1 U 20 71/12 OLG Hamm, Beschl. v. 04.01.2013–26 U 159/12 OLG Hamm, Beschl. v. 02.03.2011 – I 3 U 92/10 OLG Koblenz MedR 2010 OLG Hamm, Urt. v. 19.11.2007–3 O 83/07 OLG Brandenburg OLGR 2005, 489 OLG Hamm GesR 2003, 273 Weitere Literatur: Bitter/Röder. BGB Allgemeiner Teil. 5. Aufl 2020 München. Bittler/Dommermühl. Patientenverfügung und andere Vorsorgemöglichkeiten: Entscheiden Sie über Ihr Leben autonom. 11. Aufl 2020 Regensburg. Bundesärztekammer und Kassenärztliche Bundesvereinigung, Persönliche Leistungserbringung, Möglichkeiten und Grenzen der ärztlichen Delegation, Stand: 29.08.2008 Bundesministerium für Gesundheit. Ratgeber Pflege. 26. Aufl 2023. Jäckel, Patientenrechtegesetz. Notfall- und Rettungsmedizin. 2013;16:593–597. Musterberufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte in der Fassung der Beschlüsse des 121. Erfurt: Deutschen Ärztetages; 2018.

Spickhoff. Medizinrecht. 4. Aufl 2022 München. Steegmann, Kommentar zum RettG NRW, 45. Aktualisierung 2022

Kapitel 7 Strafrecht David Winkenbach; André Höhle

Das Strafrecht ist ein wichtiges Rechtsgebiet im Kontext von Rettungsdienst und Notfallmedizin. Beim Strafrecht geht es im Ernstfall um persönliche Konsequenzen, die Einfluss auf das gesamte restliche Leben und die berufliche Zukunft haben können. Wird jemand zu einer Freiheitsstrafe verurteilt oder ist jemand vorbestraft, erschwert dies viele Dinge im weiteren Leben, die sonst problemlos möglich wären, z. B. die Berufswahl, das Finden eines Arbeitsplatzes und damit die Schaffung einer Existenzgrundlage für das Leben. Das Strafrecht ist ein Teilgebiet des öffentlichen Rechts, das die Aufgabe hat, in der Vergangenheit liegende Rechtsverletzungen zu sanktionieren. Neben der Sanktionierung sollen jedoch noch weitere Ziele erreicht werden. Durch die Androhung von Strafe soll allgemein davor abgeschreckt werden, Straftaten zu begehen, zudem soll das Vertrauen der Gesellschaft in die Durchsetzung von Verhaltensregeln durch den Staat gestärkt werden. Das Strafrecht dient der Durchsetzung gesellschaftlich besonders wichtiger Verhaltensregeln, dies ist ein wichtiger Leitgedanke für den Gesetzgeber. Nicht jede Übertretung von Verhaltensregeln soll

mit Strafe belegt werden, sondern eben nur „besonders wichtige“. Dies bezeichnet man auch als „Ultima-ratio-Prinzip“ des Strafrechts. Das Strafrecht ist darüber hinaus die Kehrseite des staatlichen Gewaltmonopols, welches private Vergeltung untersagt. Schutzgegenstand des Strafrechts sind Rechtsgüter. Dies können einerseits Rechtsgüter des Einzelnen sein, z. B. körperliche Unversehrtheit, Leben oder Eigentum, andererseits werden auch Rechtsgüter der Allgemeinheit geschützt, z. B. die Rechtspflege, Unbestechlichkeit von Amtsträger*innen und die Zuverlässigkeit von Urkunden. Im Rahmen von Rettungsdienst und Notfallmedizin sind v. a. solche Strafnormen relevant, deren Schutzrichtung das Leben und die Gesundheit betreffen können. „Strafrecht ist ein unverzichtbares Element zur Sicherung der Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung.“ [1] D ie s e s K ap ite l s o l l F olge nde s ve rm itte ln: • Grundlagen zum Strafrecht • Unterscheidung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit • Die Garantenstellung und ihre Relevanz für den Rettungsdienst • Die Strafbarkeit des „Begehen durch Unterlassen“ • Formen der Strafbarkeit des „Begehen durch Unterlassen“ • Die Unterscheidung von „Begehen durch Unterlassen“ und „unterlassener Hilfeleistung“ • Gründe für eine rechtliche Rechtfertigung • Gründe für eine rechtliche Entschuldigung • Die relevantesten Straftatbestände für den Rettungsdienst

W ic h tige R e c ht s qu e l le n fü r d ie s e s K ap ite l: • Strafgesetzbuch (StGB)

https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/ • Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (Betäubungsmittelgesetz – BtMG)

https://www.gesetze-im-internet.de/btmg_1981/ • Gesetz über Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter (NotSanG)

https://www.gesetze-iminternet.de/notsang/BJNR134810013.html

7.1 Grundlagen David Winkenbach Nähert man sich dem Themengebiet Strafrecht, können zunächst zwei große Bereiche unterschieden werden. Den Kernbereich bildet das materielle Strafrecht; dieses findet sich im Strafgesetzbuch (StGB) und einigen anderen Gesetzen, z. B. dem Betäubungsmittelgesetz (BtMG) oder dem Straßenverkehrsgesetz (StVG). Das materielle Strafrecht regelt, unter welchen Umständen eine Handlung strafbar sein kann. Der zweite große Bereich ist das prozessuale Strafrecht. Im prozessualen Strafrecht ist u. a. geregelt, wie Straftaten ermittelt und sanktioniert werden können. Die Vorgaben hierzu sind in der Strafprozessordnung (StPO) und im Gesetz für Ordnungswidrigkeiten (OWiG) festgelegt.

Straftaten können in Verbrechen und Vergehen unterteilt werden. Verbrechen sind Straftaten, die mit einer Strafandrohung von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe oder darüber versehen sind (z. B. „nicht unter einem Jahr“). Vergehen sind stets mit einer geringeren Freiheitsstrafe oder mit einer Geldstrafe angedroht (z. B. „bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe“). Vergehen werden stets ohne erhöhtes Mindestmaß einer Freiheitsstrafe oder mit Geldstrafe bestraft; Verbrechen mit einer Freiheitsstrafe im Mindestmaß von einem Jahr. Neben den hier genannten strafrechtlichen Sanktionen (auch Kriminalstrafen, › Kap. 7.1.3) können auch Ordnungswidrigkeiten geahndet werden. Ordnungswidrigkeiten sind Verstöße gegen Verhaltensregeln, die als nicht so gravierend eingeschätzt und i. d. R. mit Bußgeldern geahndet werden.

7.1.1 Rettungsdienst und Strafrecht „Als Notfallsanitäter*in steht man immer mit einem Bein im Knast.“ Diese oder ähnliche Aussagen sind auf Rettungswachen des Öfteren zu hören. Allerdings stimmt diese Aussage in ihrer Absolutheit nicht. Rettungsdienstmitarbeiter*innen, die gewissenhaft und fachkundig arbeiten, haben i. d. R. nichts zu befürchten. Dennoch impliziert das Zitat richtigerweise, dass es Risiken bei der Tätigkeit in Rettungsdienst und Notfallmedizin gibt, mit dem Strafrecht in Berührung zu kommen. Im Rettungsdienst müssen unter unübersichtlichen und stressigen Bedingungen schwierige Entscheidungen getroffen werden. Es ist sehr herausfordernd, sämtliche Folgen einer Entscheidung, die oft innerhalb von Sekunden gefällt werden muss, in allen ihren Konsequenzen zu beurteilen. Damit besteht ein erhöhtes Risiko,

falsche, strafrechtlich relevante Entscheidungen zu treffen. Hinzu kommt die Tatsache, dass etwaige Fehler mit der Folge von Gesundheitsbeeinträchtigungen bei Menschen einhergehen können. Fehler bei der Untersuchung und Behandlung von Patient*innen werden Behandlungsfehler genannt (› Kap. 6.3.4). Diese Behandlungsfehler können strafrechtlich relevant werden und zu entsprechenden Sanktionen führen. Die Notfallversorgung der Patient*innen erfolgt unmittelbar am Menschen und teilweise durch Eingriffe in dessen körperliche Unversehrtheit. Hinzu kommt, dass der Rettungsdienst regelmäßig mit sensiblen Informationen und Daten umgehen muss, die der Öffentlichkeit sonst nicht zugänglich sind. Dies birgt die Gefahr, dass derartiges Wissen nach außen dringt, was möglicherweise eine Strafbarkeit begründen kann. Letztlich ist jeder Fall anders und es gibt viele Lebensbereiche, die juristisch nicht vollständig geklärt sind. Es bestehen demnach Rechtsunsicherheiten, die zur Folge haben, dass nicht immer eindeutig klar ist, was strafbar ist und was nicht. Die Grenzen sind dabei teilweise fließend. Pr axis tip p Folgende einfache Möglichkeiten tragen dazu bei, das Risiko einer Strafbarkeit erheblich zu reduzieren. Gute Arbeit Je gewissenhafter die Arbeit ist, umso geringer ist das Fehlerrisiko. Durch Fachwissen, Erfahrung und strukturiertes Handeln können Fehler und deren Auswirkungen minimiert werden. Auch Algorithmen/SOP oder Checklisten können die Qualität der Arbeit verbessern.

Weiterhin ist es wichtig, dass lokale Vorgaben sowie aktuelle medizinische Standards bekannt sind und das Fachwissen regelmäßig auf den neuesten Stand gebracht wird. Gute Dokumentation Eine gute Dokumentation hat einen hohen Beweiswert; dies gilt auch für Rettungsdienstprotokolle. Ist ein Rettungsdiensteinsatz ausführlich dokumentiert, führt dies nachträglich zu einem detaillierteren Bild der ggf. streitigen Situation. Da etwaige Verfahren oft erst nach Monaten oder gar Jahren abgeschlossen werden, kann die Dokumentation zudem auch als eigene Gedankenstütze dienen. Nach heiklen Einsätzen kann es sinnvoll sein, ein zusätzliches eigenes Gedankenprotokoll anzufertigen. Gutes Klima „Wo kein Kläger, da kein Richter.“ Den Anlass zur Klage geben auftretende Komplikationen oft nur im Zusammenhang mit einer Unzufriedenheit der Betroffenen. Herrscht zwischen Behandelnden und Betroffenen ein gutes Klima und haben die Betroffenen das Gefühl, trotz etwaiger Komplikationen gut und richtig versorgt worden zu sein, liegt der Gedanke oftmals fern, die Behandelnden zu verklagen oder anzuzeigen. Ein stets höfliches und professionelles Auftreten, auch in angespannten Situationen, sollte bei jedem Einsatz selbstverständlich sein.

7.1.2 Aufbau Strafgesetzbuch und Nebengesetze mit Strafvorschriften

Im Strafgesetzbuch (StGB) wird beschrieben, welches Verhalten strafbar sein kann. Taten, die im StGB (oder in speziellen Nebengesetzen) mit einer Strafandrohung versehen sind, nennt man Straftaten. Das StGB ist in einen allgemeinen und einen besonderen Teil gegliedert. Im allgemeinen Teil ist normiert, wann ein Verhalten eine Straftat ist. Zudem finden sich dort Regelungen z. B. zu strafrechtlichen Rechtfertigungsgründen sowie den Strafen und deren Bemessung. Anschließend werden im besonderen Teil die verschiedenen Delikte wie „Diebstahl“, „Körperverletzung“ oder „Mord“ geregelt. Im Zusammenhang mit jeder beschriebenen Straftat wird auch geregelt, was für eine Strafe verhängt werden kann (sog. Strafrahmen). Daneben gibt es auch in anderen spezielleren Gesetzen Vorschriften, die eine Strafe androhen. Im Betäubungsmittelgesetz (BtMG) ist z. B. normiert, wie ein missbräuchlicher Umgang mit Betäubungsmitteln zu ahnden ist (§ 29 BtMG). Allgemein gilt, dass eine Tat nur dann bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde (§ 1 StGB, Art. 103 Abs. 2 GG). Strafvorschriften sind wie alle Rechtsnormen abstrakt generell formuliert, um auf eine Vielzahl von Fällen und Personen anwendbar zu sein (› Kap. 2.4). Sie bestehen grds. aus einem Tatbestand und einer Rechtsfolge. Bei Strafvorschriften wird der Tatbestand Straftatbestand genannt und die Rechtsfolge führt stets zu einer strafrechtlichen Sanktion bzw. Strafe.

7.1.3 Strafrechtliche Sanktionen

Strafrechtliche Sanktionen sollen mehrere Funktionen erfüllen. Zunächst soll in Bezug auf die Täter*in Vergeltung für das begangene Unrecht geübt werden (Sanktionierung). Zudem soll erreicht werden, dass die Täter*in sich dadurch bessert (positive Spezialprävention). Kommt es zu einer Freiheitsstrafe, wird damit auch die Gesellschaft vor der Täter*in geschützt (negative Spezialprävention). In Bezug auf die gesamte Gesellschaft sollen Strafen abschreckend wirken und das Vertrauen in die Rechtsordnung stärken (Generalprävention). Es gibt verschiedene Formen von strafrechtlichen Sanktionen. Welche konkrete Strafe in Betracht kommt, hängt zunächst von der begangenen Straftat ab. Strafen aufgrund von Straftaten werden auch Kriminalstrafen genannt, dabei ist für jeden Straftatbestand ein Strafrahmen bestimmt. Die Richter*innen entscheiden dann, wie die Strafe in diesem Rahmen im Einzelfall ausfallen soll. Kriminalstrafen sind: • Freiheitsstrafe • Geldstrafe Zudem können diese ergänzend mit spezifischen Nebenfolgen verhängt werden. R e ch t in e c ht In § 223 StGB Abs. 1 heißt es z. B. zur Körperverletzung (Vergehen): Wer eine andere Person körperlich misshandelt oder an der Gesundheit schädigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Die Richter*innen können bei einfacher Körperverletzung also eine Freiheitsstrafe von höchstens fünf Jahren oder eine Geldstrafe verhängen. Neben Straftaten können auch Ordnungswidrigkeiten sanktioniert werden. Ordnungswidrigkeiten sind Verstöße gegen die Rechtsordnung, die als geringfügig eingeschätzt werden und daher nicht mit einer Kriminalstrafe bedroht sind. Sie werden meist von Verwaltungsbehörden geahndet und ergeben sich aus verschiedenen Gesetzen, z. B. dem Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG), dem Straßenverkehrsgesetz (StVG) oder dem Infektionsschutzgesetz (IfSG). Sanktionen hierbei sind meist Bußgelder oder spezielle Nebenfolgen. Häufig wird der Sanktionsrahmen von Ordnungswidrigkeiten durch (Landes-)Verordnungen festgelegt. So wurden z. B. in der Corona-Pandemie vom IfSG bestimmte Ordnungswidrigkeiten bezüglich des Nicht-Tragens einer Maske bestimmt, die CoronaSchutzverordnungen der einzelnen Länder haben dann den Rahmen der Sanktion bestimmt. So kommt es vor, dass die Sanktionsandrohungen von Bundesland zu Bundesland variieren können. Da das StGB sowie die Nebengesetze mit Strafandrohung Bundesgesetze sind, sind die hier angedrohten Kriminalstrafen bundesweit einheitlich. Freiheits- und Geldstrafe Die Freiheitsstrafe ist eine Form der Sanktionierung von Straftaten. Eine Freiheitsstrafe kann vollzogen werden (Vollzug), sodass Betroffene tatsächlich inhaftiert werden, also ins Gefängnis müssen; sie kann jedoch auch zur Bewährung ausgesetzt werden.

Die Bewährungszeit darf fünf Jahre nicht überschreiten und zwei Jahre nicht unterschreiten. Eine Strafaussetzung zur Bewährung erfolgt dabei meist mit Auflagen oder Weisungen (z. B. Bewährungshelfer*in, Schadenswiedergutmachung). Eine Vielzahl von Straftaten kann (statt einer Freiheitsstrafe) mit einer Geldstrafe sanktioniert werden. Abzugrenzen sind die Geldstrafen v. a. von der Sanktionsform des Bußgeldes und von zivilrechtlichen Geldforderungen, z. B. Schadensersatz, Schmerzensgeld (› Kap. 6.5). Bußgelder werden nur bei Ordnungswidrigkeiten verhängt. Weitere Folgen einer Tat Neben den allgemeinen Geld- und Freiheitsstrafen ist es in einigen Fällen möglich und angebracht, Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten mit spezifischen weiteren Maßnahmen zu sanktionieren. Diese leiten sich dann aus einer konkreten Tat ab und sollen i. d. R. die Möglichkeit der Wiederholung derselben oder ähnlicher Taten verhindern. Typische Nebenfolgen sind z. B. Fahroder Berufsverbote. Im Zusammenhang mit der Verurteilung wegen einer Straftat können Richter*innen ein Fahrverbot verhängen, wenn dies als zusätzliche Maßnahme erforderlich erscheint oder dadurch von einer Freiheitsstrafe abgesehen werden kann. Hierbei ist es nicht nötig, dass die Straftat einen Bezug zum Straßenverkehr hatte. Auch bei Ordnungswidrigkeiten kann neben einem Bußgeld ein Fahrverbot verhängt werden. Allerdings ist es hierbei erforderlich, dass die Ordnungswidrigkeit im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs (KFZ) begangen wurde.

Werden Straftaten unter Missbrauch der beruflichen Funktion oder der damit verbundenen Pflichten begangen, kann ein Gericht ein Berufsverbot verhängen. Dieses wird als reine Sicherungsmaßnahme verstanden. Dadurch soll die Allgemeinheit vor der Begehung von Straftaten im Rahmen einer beruflichen Tätigkeit geschützt werden. Für Rettungsdienstmitarbeiter*innen bedeutet dies, dass Straftaten, die während ihrer Berufsausübung im Zusammenhang mit den damit verbundenen Pflichten oder unter Missbrauch ihres Berufes begangen werden, neben Geld- und Freiheitsstrafen zusätzlich auch mit einem Berufsverbot geahndet werden können. Dabei würde ihnen die Berufsbezeichnung nicht aberkannt, sondern ihnen verboten werden, in ihrer beruflichen Funktion zu arbeiten. Hat sich eine Notfallsanitäter*in eines Verhaltens schuldig gemacht, aus dem sich die Unzuverlässigkeit zur Ausübung des Berufs ergibt, so kann die Erlaubnis zum Führen der Berufsbezeichnung (Notfallsanitäter*in) widerrufen werden (§ 2 NotSanG) (› Kap. 4.2.3). Hier wird, anders als bei einem Berufsverbot, den Betroffenen die Berufsbezeichnung gänzlich aberkannt. Die Entscheidung darüber trifft die zuständige Behörde, die für die Erteilung der Berufszulassung zuständig ist. Es handelt sich um ein eigenständiges Verwaltungsverfahren, die entscheidenden Personen sind dabei nicht an die Einschätzung des Strafgerichts gebunden. Auch wenn keine strafrechtliche Verurteilung erfolgt ist, kann es daher zum Widerruf der Zulassung kommen.

7.1.4 Grundlagen der Strafbarkeit

Damit eine Strafe verhängt werden kann, müssen eine Vielzahl von Voraussetzungen erfüllt sein. Diese werden stets akribisch von den zuständigen Richter*innen geprüft. Hierbei wird beleuchtet, ob zum Zeitpunkt der Tat objektiv betrachtet eine Straftat vorlag, wie die Täter*in subjektiv zur Tathandlung eingestellt war, ob eine Rechtswidrigkeit vorlag und ob die Täter*in schuldhaft handelte. Die Prüfung einer Strafbarkeit folgt demnach stets einem einheitlichen Schema. Dieses Schema ist in › Abb. 7.1 dargestellt.

ABB. 7.1 Allgemeines Schema einer Strafbarkeitsprüfung [L157] Für jede Strafbarkeit müssen folgende Elemente vorliegen:

• Objektive Komponente (objektiver Tatbestand) • Subjektive Komponente (subjektiver Tatbestand) • Rechtswidrigkeit (keine Rechtfertigung) • Schuld (keine Entschuldigung) Der Straftatbestand (objektive Komponente) Was Unrecht und damit strafbar ist, muss im Gesetz klar geregelt sein (Art. 103 Abs. 2 GG). Daher ist in den einzelnen Strafnormen genau beschrieben, was als Straftat gilt und somit bestraft werden kann. Diese Beschreibung eines strafbaren Verhaltens nennt man auch (Straf-)Tatbestand. Ein Tatbestand kann z. B. ein Handeln, ein Unterlassen, eine Gefährdung oder auch ein sog. Erfolg sein. Ein solcher Straftat-Erfolg ist dabei das Ergebnis einer strafbaren Handlung (z. B. der Tod oder die Verletzung eines Menschen). Delikte, bei denen ein solcher Erfolg gefordert wird, heißen Erfolgsdelikte; Delikte, bei denen ein Unterlassen beschrieben wird, heißen Unterlassungsdelikte (usw.). Me r k e Bei Erfolgsdelikten spricht man juristisch vom Eintritt des Straftaterfolgs oder auch Erfolgs, wenn das Verhalten einer Person zu einem rechtlich missbilligten Ergebnis geführt hat. Wenngleich der Begriff „Erfolg“ im allgemeinen Sprachgebrauch durchaus positiv konnotiert ist (mit positiven Eigenschaften versehen), kann er im strafrechtlichen Zusammenhang etwas sehr Negatives beschreiben. So ist z. B. der Tod eines Menschen auch der Erfolg einiger Strafnormen (z. B. §§ 211, 212, 222 StGB)

Der Tatbestand einer Strafnorm muss für eine Vielzahl von Fällen anwendbar sein. Daher ist dieser immer sehr abstrakt und generell formuliert, sodass genau geprüft werden muss, ob ein Sachverhalt sich zu einer Strafnorm zuordnen lässt (Subsumtion). In vielen Strafvorschriften werden zudem mehrere Voraussetzungen beschrieben, welche allesamt erfüllt sein müssen. Diese einzelnen Voraussetzungen werden Tatbestandsmerkmale genannt. Sind alle Tatbestandsmerkmale einer Strafvorschrift erfüllt, ist objektiv betrachtet der Tatbestand dieser Strafvorschrift erfüllt. An dieser Stelle der Strafbarkeitsprüfung ist es unerheblich, was die Beweggründe für etwaige Tathandlungen waren und ob es Gründe gibt, die sie rechtfertigen oder entschuldigen können. Hier wird zunächst nur rein objektiv anhand der Tatbestandsmerkmale geprüft, ob der Straftatbestand erfüllt ist. Diese Komponente der Strafbarkeit wird deshalb auch objektiver Tatbestand genannt und stellt ein vorläufiges Unrechtsurteil dar. Für Erfolgsdelikte (z. B. Körperverletzung, Totschlag oder Mord) ist es notwendig, dass sie durch eine Handlung, die sog. Tathandlung, verwirklicht werden. Diese Tathandlungen müssen zudem ursächlich (kausal) für den Erfolg sein und dem Handelnden objektiv zurechenbar sein. R e ch t in e c ht § 223 StGB Körperverletzung (1) Wer eine andere Person körperlich misshandelt oder an der Gesundheit schädigt, wird […] bestraft.

Die körperliche Misshandlung oder die Gesundheitsschädigung sind der Taterfolg, z. B. eine Kopfplatzwunde nach einem Schlag auf den Kopf. Die Formulierung „Wer misshandelt oder schädigt“ verlangt eine Tathandlung, die ursächlich (kausal) und zurechenbar zu dem Taterfolg geführt hat. (Fall 7.1) Notfallsanitäter Fabian sticht mit der Nadel (Stahlmandrin) einer Venenverweilkanüle durch die Haut einer Patientin in ihre Vene, um einen peripher-venösen Zugang zu legen. Das tut der Patientin weh; es kommt im Verlauf zu einem Hämatom (Bluterguss) und einer Rötung der Einstichstelle. Das Stechen mit der Nadel ist eine Handlung, die kausal für eine körperliche Misshandlung (Schmerz) und Gesundheitsschädigung (Hämatom, ggf. Rötung) ist. Sie ist Fabian auch objektiv zurechenbar. Damit ist objektiv der Tatbestand der Körperverletzung erfüllt. R e ch t in e c ht Die Straftatbestände beschreiben die Merkmale der Straftat oft abstrakt. Daher erarbeiten Jurist*innen für die jeweiligen Begriffe Definitionen, um sie besser auf konkrete Fälle anwenden zu können. Für die Körperverletzung sehen die Definitionen z. B. wie folgt aus: • Eine körperliche Misshandlung ist jede üble, unangemessene Behandlung, die das körperliche Wohlbefinden oder die körperliche Unversehrtheit nicht nur unerheblich beeinträchtigt.

• Eine Gesundheitsschädigung ist das Hervorrufen oder Steigern eines vom Normalzustand negativ abweichenden pathologischen Zustands. Nun wird geprüft, ob Tatsachen (z. B. Schmerz) unter einer dieser Definitionen eingeordnet (subsumiert) werden können. Schmerzen können z. B. als körperliche Misshandlung angesehen werden.

Vorsatz und Fahrlässigkeit (subjektive Komponente) Um die Strafbarkeit einer Person bewerten zu können, ist es notwendig zu prüfen, was für Kenntnisse, Beweggründe und Gedanken diese bei einer etwaigen Straftat gehabt hat. Die Tat wird also aus der Sicht des Handelnden betrachtet. Man nennt diese subjektive Komponente der Straftat auch subjektiver Tatbestand. Vom Gesetzgeber ist vorgesehen, dass grds. nur bestraft wird, wer bei der Tathandlung wissentlich und willentlich vorgeht, wer also z. B. einen Taterfolg herbeiführen wollte und wusste, dass sein Handeln auch zum Taterfolg führt. Das Handeln mit Wissen und Wollen hinsichtlich der Straftat wird Vorsatz genannt. Allerdings kann es auch zur Verletzung von fremden Rechtsgütern kommen, wenn man z. B. unachtsam gehandelt hat, die tatsächliche Verletzung aber gar nicht wollte. Das Außer-Acht-Lassen der nötigen Vorsicht bzw. Sorgfalt kennzeichnet die Fahrlässigkeit. Weiß eine Person beim Handeln um ihr fahrlässiges Verhalten und nimmt es in Kauf, nennt man dies bewusste Fahrlässigkeit. Merkt eine Person hingegen gar nicht, dass sie fahrlässig handelt, wird dies unbewusste Fahrlässigkeit genannt. In beiden Fällen liegt

Fahrlässigkeit vor; Unterschiede werden nur bei der Strafzumessung gemacht. Fahrlässigkeit kann nur dann bestraft werden, wenn von einer Person situationsbedingt ein sorgfältiges Handeln pflichtgemäß erwartet werden kann. Dies ist im Gesetz dann aber ausdrücklich bestimmt. Die Strafen für fahrlässiges Handeln fallen deutlich milder aus als die Strafen für vorsätzliches Handeln. Me r k e Strafbar ist nur vorsätzliches Handeln, wenn nicht das Gesetz ausdrücklich fahrlässiges Handeln mit Strafe bedroht (§ 15 StGB). Vorsatz ist der Wille zur Verwirklichung eines Straftatbestandes in Kenntnis all seiner objektiven Tatumstände. Fahrlässigkeit ist die pflichtwidrige Vernachlässigung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt. R e ch t in e c ht Vorsatzdelikt: § 223 StGB Körperverletzung (1) Wer eine andere Person körperlich misshandelt oder an der Gesundheit schädigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ Fahrlässigkeitsdelikt: § 229 StGB Fahrlässige Körperverletzung Wer durch Fahrlässigkeit die Körperverletzung einer anderen Person verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Nach § 223 Abs. 1 StGB kann nur bestraft werden, wer vorsätzlich handelt. Nach § 229 StGB kann nur bestraft werden, wer fahrlässig handelt. Vorsatz Es können drei Formen des Vorsatzes unterschieden werden. Die Vorsatz-Formen sind in › Abb. 7.2 vergleichend dargestellt. Alle drei Varianten erfüllen das subjektive Kriterium des Vorsatzes. • Absicht • Direkter Vorsatz • Bedingter Vorsatz

ABB. 7.2 Vorsatzformen [L157]

R e ch t in e c ht Zurück zur oben beschriebenen Situation (Fall 7.1): Fabian wusste, dass ein Stich mit der Nadel zu Schmerzen und damit zu einer körperlichen Misshandlung führt. Ihm war bewusst, dass er mit dem Stich die Haut und die Vene verletzt, was eine Gesundheitsschädigung darstellt. Auch wusste er, dass das Stechen mit der Nadel diese Folgen hervorruft. Insgesamt wollte Fabian sogar genau diese Folgen durch seine Handlung erreichen. Fabian hat damit vorsätzlich gehandelt und erfüllt folglich auch die notwendige subjektive Tatbestandskomponente (subjektiver Tatbestand). Fabian hat damit vorsätzlich den Straftatbestand verwirklicht. A c ht u ng Jedes Mal, wenn einer Person ein intravenöser Zugang gelegt wird, wird grds. vorsätzlich der Straftatbestand der Körperverletzung verwirklicht. Dies gilt für viele invasive oder medikamentöse Maßnahmen. Fahrlässigkeit Fahrlässig im Sinne des Strafrechts handelt eine Person, wenn sie die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt, zu der sie nach den konkreten Umständen und nach ihren persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten verpflichtet und imstande ist. Für den Rettungsdienst spielt die Fahrlässigkeit eine besondere Rolle. So kommt es in Einsatzsituationen eher selten vor, dass Mitarbeitende absichtlich – also vorsätzlich – einen Fehler begehen, um Patient*innen zu schaden. Vielmehr passieren Fehler aus

Versehen, durch Unachtsamkeit oder ungenaues Arbeiten. Ausgangspunkt für die Fahrlässigkeitsbewertung sind die Sorgfaltspflichten des Rettungsdienstpersonals (› Kap. 4.6). Bei der Bewertung, ob Fahrlässigkeit vorliegt, werden alle Umstände der jeweiligen Situation berücksichtigt. Dabei fällt z. B. ins Gewicht, dass Einsatzgeschehen häufig laut, unübersichtlich und von Anspannung geprägt sind. Dennoch kann von einer Notfallsanitäter*in im Einsatz ein gewisses Maß an Souveränität und damit auch eine gewisse Entscheidungskompetenz in angespannten Situationen erwartet werden – dies entspricht der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt, die von einer Notfallsanitäter*in anhand ihres Berufsstandes erwartet werden kann. Besonders relevant im Rettungsdienst ist außerdem, dass es auch fahrlässig sein kann, nicht zu handeln (fahrlässiges Unterlassen). Ausgangspunkt dafür ist die Garantenstellung des Rettungsdienstpersonals (Näheres zur Garantenstellung und zum fahrlässigen Unterlassen in › Kap. 7.2.3). A c ht u ng Es wäre (grob) fahrlässig, wenn eine Notfallsanitäter*in invasive oder heilkundliche Maßnahmen einleitet, weil sie, unter Verstoß gegen Sorgfaltspflichten bei der Untersuchung, fälschlicherweise annimmt, es läge ein lebensbedrohlicher Zustand oder die Gefahr wesentlicher Folgeschäden vor (fahrlässiges Handeln). Gleichlaufend wäre es (grob) fahrlässig, wenn eine Notfallsanitäter*in invasive oder heilkundliche Maßnahmen nicht einleitet, weil sie, unter Verstoß gegen Sorgfaltspflichten bei der Untersuchung, übersieht oder verkennt, dass ein

lebensbedrohlicher Zustand oder die Gefahr wesentlicher Folgeschäden tatsächlich vorliegt (fahrlässiges Unterlassen). Eine Strafe wegen fahrlässigen Handelns kommt nur in Betracht, wenn einer Person ihr Verhalten persönlich vorwerfbar ist und es für sie vorhersehbar war, dass der Tatbestandserfolg eintreten könnte (Näheres dazu in › Kap. 7.2.3). Unter bestimmten Voraussetzungen kann fahrlässiges Verhalten auch begründet werden, indem sich eine Person selbst in eine Situation begibt, von der sie weiß, dass sie ihr (z. B. fachlich) nicht gerecht werden kann. Selbst wenn eine Sorgfaltspflichtverletzung in der Situation nicht persönlich vorwerfbar ist, kann es der Person doch vorgeworfen werden, sich in diese Lage gebracht zu haben. Man spricht dabei von einem sog. Übernahmeverschulden (Näheres dazu in › Kap. 4.6.4). R e ch t in e c ht (Fall 7.2) Notfallsanitäterin Marie versorgt einen Patienten, der wegen Atemnot und Schwindel den Rettungsdienst alarmiert hat. Der Einsatzort ist ein aufgeräumtes Wohnzimmer, der Patient stellt sich als sehr hektisch und tachypnoeisch dar, während sich seine Finger pfötchenartig verkrampfen. Eine Zyanose besteht nicht, die Umgebung ist ansonsten ruhig. Aufgrund der Panik des Patienten, der aufgeregt ruft, er würde ersticken, entscheidet sich Marie, ihn mit hochdosiertem Sauerstoff, einer SalbutamolVernebelung sowie einem Kortisonpräparat über einen i. v.Zugang zu versorgen. Daraufhin bekommt der Patient plötzlich Herzrasen und ihm wird zunehmend schwindelig.

Marie denkt, es handle sich um eine lebensbedrohliche Situation. Dabei verkennt sie, dass es sich um eine nichtkritische Hyperventilationssituation handelt. Dies zu erkennen, war Gegenstand ihrer Ausbildung und in diesem Fall auch konkret aus der Situation heraus ersichtlich. Es gehört zur im Verkehr erforderlichen Sorgfalt einer Notfallsanitäterin, eine solche Differenzialdiagnose auszuschließen, bevor invasive Maßnahmen eingeleitet werden – selbst wenn Marie die Maßnahmen gut gemeint getroffen hat, um dem Patienten zu helfen. Es ist zudem vorhersehbar, dass eine nicht indizierte medikamentöse Therapie zu pathologischen Reaktionen im Körper führen kann. Marie hat damit fahrlässig gehandelt. Es kommt eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Körperverletzung (§ 229 StGB) in Betracht. (Fall 7.3) Notfallsanitäter Fabian befindet sich in einem Notfalleinsatz. Die adipöse Patientin, die er versorgt, gibt ein Brennen in der Brust und Oberbauchschmerzen an. Ähnliche Beschwerden habe sie in letzter Zeit häufiger, v. a. bei Stress. Zudem ist die Patientin tachykard, leicht kaltschweißig und musste sich heute bereits mehrmals „dunkel“ übergeben. Das EKG ist zwar unauffällig, Fabian tippt aber dennoch auf einen Herzinfarkt und beginnt mit der medikamentösen Therapie. Er hat dabei die Absicht, der Patientin zu helfen. Ohne weitere Untersuchungen hinsichtlich des Erbrechens oder der Vorgeschichte der Patientin appliziert Fabian ihr ASS (Acetylsalicylsäure) und Heparin, zwei „blutverdünnende“ Medikamente. Dabei fragt er auch nicht die Kontraindikationen der Medikamente ab. Er ist sich zwar unsicher, ob die Patientin

wirklich einen Herzinfarkt hat, vertraut aber darauf, dass es schon nichts anderes sein werde. Im Nachhinein stellt sich heraus, dass die Patientin ein blutendes Magengeschwür hatte und die gegebenen Medikamente zu einer erheblichen Verschlechterung der Situation und Genesung geführt haben. Fabian hat in Ermangelung einer ausführlichen Untersuchung nicht erkannt, dass die Patientin kaffeesatzartig erbrochen hat. Weiterhin hat er die Kontraindikation der GI-Blutung für beide Medikamente nicht ausreichend ausgeschlossen. Es handelt sich folglich um einen Diagnosefehler, der hätte verhindert werden können, da dies Gegenstand der Ausbildung zum Notfallsanitäter ist (vgl. › Kap. 4.6.2). Auch war vorhersehbar, dass eine „blutverdünnende“ Therapie negative Folgen für die Patientin haben kann. Fabians Verhalten kann als Außer-Acht-Lassen der für einen Notfallsanitäter erforderlichen Sorgfalt gewertet werden, sodass für Fabian eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Körperverletzung (§ 229 StGB) in Betracht kommt. Bedingter Vorsatz und bewusste Fahrlässigkeit Die Abgrenzung zwischen bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit ist im Rettungsdienst und der Notfallmedizin von erheblicher Bedeutung, da viele Straftatbestände nur vorsätzliches Handeln unter Strafe stellen (› Abb. 7.3).

ABB. 7.3 Bedingter Vorsatz und bewusste Fahrlässigkeit [L138] Zur Erinnerung: • Beim bedingten Vorsatz erkennt die handelnde Person das Risiko, dass der tatbestandliche Erfolg (z. B. die Körperverletzung) eintritt. Sie hält den Eintritt dabei für ernsthaft möglich, nimmt das jedoch billigend in Kauf. • Bei bewusster Fahrlässigkeit erkennt die handelnde Person ebenfalls das Risiko, dass der tatbestandliche Erfolg (z. B. die Körperverletzung) eintreten könnte. Allerdings vertraut sie hierbei auf das Ausbleiben des Erfolgs. Es kommt bei der Unterscheidung zwischen bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit also auf den genauen Willen der mutmaßlichen Täter*innen an. Während beim bedingten Vorsatz das Risiko der Tatbestandsverwirklichung hingenommen und sich damit abgefunden wird, dass der Erfolg eintreten könnte, wird bei bewusst fahrlässigem Handeln

auf das Ausbleiben des tatbestandlichen Erfolgs vertraut. In Abgrenzung zum bedingten Vorsatz kommt es bei der bewussten Fahrlässigkeit darauf an, dass man noch ernsthaft auf einen guten Ausgang vertrauen kann und das Vertrauen durch Tatsachen belegbar ist. Vertrauen ist folglich nur schutzwürdig, wenn dieses auf konkrete Umstände gestützt werden kann. Daneben ist auch die objektive Gefährlichkeit einer Handlung entscheidend, also das Risiko, das einer bestimmten Handlung naturgemäß anhaftet. Je gefährlicher eine Handlung ist, desto eher muss auch mit einer Verwirklichung der Gefahr gerechnet werden und desto schwieriger ist es, auf einen guten Ausgang zu vertrauen. R e ch t in e c ht Die Abgrenzung von bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit ist auch im Rettungsdienst von großer Bedeutung. Fahrlässigkeitsdelikte werden deutlich milder bestraft. Zudem wird der Großteil aller Straftaten nur bei vorsätzlichem Handeln bestraft. § 203 StGB stellt die Verletzung der Schweigepflicht unter Strafe (› Kap. 7.5.5). Es handelt sich dabei um ein Vorsatzdelikt. Eine Norm, die eine fahrlässige Verletzung der Schweigepflicht unter Strafe stellt, gibt es im StGB nicht. Folglich können auch nur vorsätzliche Schweigepflichtverletzungen bestraft werden. Bei der Bewertung der Strafbarkeit nach § 203 StGB kommt es also wesentlich auf die Abgrenzung zwischen bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit an. Eine Verletzung der Schweigepflicht, die aus bewusst fahrlässigem Verhalten resultiert, bleibt ungestraft.

A c ht u ng Im Streitfall ist es nicht ausreichend, sich „einfach“ darauf zu berufen, man habe auf das Ausbleiben des Taterfolgs vertraut. Neben dem ernsthaften Vertrauen auf ein Ausbleiben ist erforderlich, dass dieses Vertrauen auch durch Tatsachen belegbar ist. [2] Rechtfertigung Eine Handlung ist nur dann strafbar, wenn sie rechtswidrig ist. Rechtswidrig sind Handlungen, die den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklichen (s. o.) und nicht gerechtfertigt werden können. In manchen Fällen kann eine Straftat ausnahmsweise gerechtfertigt sein, sodass keine Rechtswidrigkeit mehr besteht und eine Strafbarkeit damit ausgeschlossen ist. Rechtfertigungsgründe können z. B. sein: • Einwilligung • Notwehr (§ 32 StGB) • Rechtfertigender Notstand (§ 34 StGB) • Rechtfertigende Pflichtenkollision Die Rechtfertigungsgründe sind detailliert in › Kap. 7.3 beschrieben. In der Medizin kommt es häufig vor, dass die Verletzung von Rechtsgütern notwendig ist (z. B. Körperverletzung bei invasiven Maßnahmen). Dies führt jedoch regelmäßig nicht zu einer Strafbarkeit, da eine ordnungsgemäße Einwilligung oder der rechtfertigende Notstand entsprechende Maßnahmen legitimieren können.

Me r k e Rechtsgutverletzende Handlungen können ausnahmsweise gerechtfertigt sein, wenn ein Rechtfertigungsgrund (z. B. Einwilligung, rechtfertigender Notstand) vorliegt. R e ch t in e c ht Noch einmal zurück zu Fall 7.1: Fabian hat durch das Stechen mit der Nadel objektiv und subjektiv einen Straftatbestand erfüllt (Körperverletzung). Dies kann ausnahmsweise gerechtfertigt sein, wenn die Patientin in die Maßnahme eingewilligt hat (die Einwilligung ist ein strafrechtlicher Rechtfertigungsgrund). Liegt eine Rechtfertigung vor, bleibt Fabian straffrei. Schuld Eine Strafe setzt immer persönliche Vorwerfbarkeit (Schuld) voraus. Ist eine Tat einer Person nicht persönlich vorwerfbar, kann dies dazu führen, dass sie straffrei bleibt. Gründe hierfür werden Entschuldigungsgründe genannt. Daneben kann z. B. auch eine Schuldunfähigkeit oder ein fehlendes Unrechtsbewusstsein die persönliche Schuld entfallen lassen. Me r k e Rechtfertigungsgründe und Entschuldigungsgründe können eigentlich strafbares Verhalten ausnahmsweise straffrei machen. Entschuldigungsgründe kommen im Bereich Rettungsdienst und Notfallmedizin eher selten in Betracht. Relevante

Entschuldigungsgründe sind: • Notwehrexzess (§ 33 StGB) • Entschuldigender Notstand (§ 35 StGB) Auf die Entschuldigungsgründe wird in › Kap. 7.4 näher eingegangen. Die persönliche Vorwerfbarkeit muss sowohl bei Vorsatzdelikten als auch bei Fahrlässigkeitsdelikten (Fahrlässigkeitsschuldvorwurf) vorliegen. Täterschaft und Teilnahme Wer selbst handelt oder pflichtwidrig nicht handelt und damit einen Straftatbestand verwirklicht (Täterschaft), kann dafür auch verantwortlich gemacht, also bestraft werden. Allerdings können auch Handlungen um die eigentliche Straftat herum eine Strafbarkeit begründen. Neben der eigentlichen Täterschaft können auch Mittäterschaft, Anstiftung oder Beihilfe als Straftaten sanktioniert werden. Täterschaft Die Täterschaft (§ 25 Abs. 1 StGB) beschreibt die eigenständige Begehung oder pflichtwidrige Unterlassung der eigentlichen Tat. Als Täter*in wird danach zunächst bestraft, wer die Straftat selbst begeht. Daneben wird allerdings ebenfalls als (mittelbare) Täter*in bestraft, wer eine Straftat durch eine andere Person begeht und dabei die Tatherrschaft (Willens- und Wissensherrschaft) innehat. Mittäterschaft

Begehen mehrere Personen die Straftat gemeinschaftlich, werden alle Personen als Täter*innen verstanden und auch als solche bestraft. Besteht ein gemeinsamer Tatplan, wird das Handeln einer Person den anderen Beteiligten grds. zugerechnet. So eine gemeinschaftliche Täterschaft wird Mittäterschaft (§ 25 Abs. 2 StGB) genannt. Anstiftung Eine Person, die selbst nicht Täter*in ist, kann dennoch in strafbarer Weise an einer Straftat teilnehmen. Bestimmt eine Person vorsätzlich eine andere Person dazu, eine Straftat zu begehen, wird dies Anstiftung genannt (§ 26 StGB). „Bestimmen“ meint dabei das Hervorrufen des Tatentschlusses bei jemand anderem. Die Teilnahme an einer Straftat als Anstifter*in wird genauso bestraft, als hätte die anstiftende Person die Tat selbst als Täter*in begangen. Beihilfe Auch die Beihilfe zu einer Straftat (§ 27 StGB) kann als strafbare Form der Teilnahme geahndet werden. Beihilfe leistet eine Person, wenn sie vorsätzlich einer anderen Person dabei hilft, eine Straftat zu begehen. Beihilfe wird zwar nicht so hart bestraft wie die Täterschaft, jedoch orientiert sich die Strafe an der Täter*in. R e ch t in e c ht Fabian ist Notfallsanitäter und versorgt täglich Patient*innen. (Fall 7.4) Appliziert Fabian einer Patientin nun vorsätzlich ein tödliches Medikament, so ist er Täter. (Fall 7.5) Delegiert Fabian seiner Kollegin Ida, der Patientin ein Medikament zu spritzen, von dem Ida denkt, es würde der

Patientin helfen, Fabian jedoch weiß, dass es sich um ein tödliches Mittel handelt, so ist Fabian mittelbarer Täter, obwohl Ida (unwissentlich) die tödliche Handlung vollzogen hat. (Fall 7.6) Entschließt sich Fabian zusammen mit seiner Kollegin Ida, eine Patientin anhand eines gemeinsamen Tatplans umzubringen, wobei Fabian das tödliche Medikament aufzieht und Ida es appliziert, so werden beide als Täter bzw. Mittäter verstanden. (Fall 7.7) Motiviert Fabian seine Kollegin Ida, eine konkrete Straftat zu begehen oder bringt sie zu dem Entschluss, es ihm gleichzutun und ebenfalls eine Patientin zu töten, so ist Ida Täterin und Fabian Anstifter. (Fall 7.8) Weiß Fabian von Idas Plan, eine Patientin zu töten und zieht für sie das tödliche Mittel auf, so hat er Beihilfe geleistet, auch wenn er den Tod der Patientin selbst nicht will. Versuch und minder schwere Fälle Tritt der Tatbestandserfolg einer Strafvorschrift ein, ist die Straftat vollendet und es kommt eine Strafbarkeit in Betracht. Allerdings sehen einige Strafnormen auch dann eine Strafe vor, wenn eine Straftat nur versucht, aber nicht erfolgreich vollendet wurde. Dabei wird von einer sog. Versuchsstrafbarkeit gesprochen. Der Versuch eines Verbrechens ist stets strafbar. Ob der Versuch eines Vergehens strafbar ist, ist in den jeweiligen Normen immer eindeutig geregelt. So gibt § 223 Abs. 2 StGB an: „Der Versuch ist strafbar“ (versuchte Körperverletzung). Ein Versuch beginnt, wenn die handelnde Person zur Verwirklichung des Tatbestands unmittelbar ansetzt. Grundsätzlich kann von dem Versuch einer Straftat

zurückgetreten werden, wenn die weitere Ausführung der Tat freiwillig aufgegeben oder die Vollendung der Tat verhindert wird. Ein Rücktritt ist zudem möglich, wenn die Täter*in sich freiwillig und ernsthaft bemüht, die Vollendung der Tat zu verhindern. Zudem wird in einigen Normen von minder schweren Fällen gesprochen. Dabei handelt es sich um Strafzumessungsvorschriften, die eine in Rede stehende Strafe unter besonderen Umständen korrigieren können. Wenn es im Gesetz nicht näher beschrieben ist, handelt es sich dann um einen minder schweren Fall, wenn das Tatbild bei einer Gesamtbetrachtung der belastenden und entlastenden Umstände in einem erheblichen Maße von den gewöhnlich vorkommenden Fällen abweicht, sodass die Anwendung eines niedrigeren Strafrahmens geboten erscheint. Unter diesen Voraussetzungen ist z. B. gem. § 226 Abs. 3 StGB ein minder schwerer Fall der schweren Körperverletzung möglich.

7.2 Das Unterlassungsdelikt Aktives Tun kann strafbar sein, wenn die Handlung einen Straftatbestand erfüllt, rechtswidrig und schuldhaft war (Begehungsdelikt) (› Kap. 7.1.4). Ein Begehungsdelikt kommt z. B. in Betracht, wenn eine nicht indizierte medizinische Maßnahme durchgeführt und die Patient*in dadurch geschädigt wird. Allerdings kann es strafrechtlich auch relevant sein, wenn nicht gehandelt wird, obwohl gehandelt werden müsste. Dieses „Nichthandeln“ nennt man Unterlassen. Wenn vom Gesetz in bestimmten Situationen ein Handeln gefordert wird, kann das Unterlassen dieses Handelns strafbar sein (Unterlassungsdelikt). Ein Unterlassungsdelikt kommt z. B. in Betracht, wenn eine

medizinische Maßnahme nicht durchgeführt wird, obwohl sie indiziert ist, oder eine Patient*in zu Hause gelassen wird, obwohl eine medizinische Intervention dringend indiziert wäre. Me r k e Wer ein Geschehen selbst in Gang setzt und dabei in eine bestimmte Richtung lenkt, tut etwas. Wer einem Geschehen seinen Lauf lässt und von der Möglichkeit des Eingreifens keinen Gebrauch macht, unterlässt etwas.

7.2.1 Allgemeines In einigen Normen wird das Unterlassen einer Handlungspflicht unmittelbar unter Strafe gestellt (z. B. § 323c StGB). Diese Delikte nenn man echte Unterlassungsdelikte (› Kap. 7.2.2). Daneben gibt es Fälle, in denen erst eine Schutzfunktion einer Person eine besondere Handlungspflicht begründet. Diese Handlungspflicht ist dann sehr umfangreich und das Unterlassen der geforderten Handlung wird entsprechend hart sanktioniert. Durch Unterlassen kann dabei sozusagen ein „normales“ Begehungsdelikt verwirklicht werden (z. B. Körperverletzung). Unterlassungsdelikte, bei denen Begehungsdelikte durch Unterlassen begangen werden, nennt man unechte Unterlassungsdelikte (› Kap. 7.2.3). Inwieweit von einer Person ein Handeln gefordert werden kann, hängt also von der jeweiligen Situation ab. Me r k e Bei echten Unterlassungsdelikten ergibt sich die Strafbarkeit aus der Norm selbst.

Echte Unterlassungsdelikte sind z. B.: • Unterlassene Hilfeleistung (gem. § 323c Abs. 1 StGB) (› Kap. 7.2.2) • Nichtanzeige einer geplanten Straftat (gem. § 138 StGB) • Hausfriedensbruch durch unbefugtes Verweilen (gem. § 123 Abs. 1 Var. 2 StGB) Unechte Unterlassungsdelikte sind Begehungsdelikte, die unter den Voraussetzungen des § 13 StGB in ein Unterlassungsdelikt umgewandelt werden. Zentrale Voraussetzungen des „Begehen durch Unterlassen“ ist eine besondere Schutzfunktion – die Garantenstellung (› Kap. 7.2.3). Mögliche Delikte sind z. B.: • Körperverletzung durch Unterlassen (§§ 223 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB) • Totschlag durch Unterlassen (§§ 212 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB)

7.2.2 Unterlassene Hilfeleistung Das für den Rettungsdienst relevanteste echte Unterlassungsdelikt ist die unterlassene Hilfeleistung. Unterlassene Hilfeleistung ist in § 323c Abs. 1 StGB geregelt. Hier wird allgemein unter Strafe gestellt, in Notsituationen keine Hilfe zu leisten, obwohl dies erforderlich, möglich und zumutbar gewesen wäre. Für die Strafe wird ein Strafrahmen vorgegeben (Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe). Für den

Strafrahmen spielt es nur eine nachrangige Rolle, ob wegen der unterlassenen Hilfe jemand zu Tode kommt oder nur verletzt wird, die Strafmöglichkeiten sind dieselben. Zusätzlich wird in § 323c Abs. 2 StGB auch die Behinderung von Hilfeleistungen mit einer Strafandrohung versehen. § 323c Unterlassene Hilfeleistung (1) Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer in diesen Situationen eine Person behindert, die einem Dritten Hilfe leistet oder leisten will. Die Norm § 323c StGB gilt allgemein für jeden. Das bedeutet, es bedarf keiner besonderen Qualifikation oder Beziehung der Beteiligten untereinander, um von diesem Straftatbestand erfasst zu sein. Der Staat erwartet von jedem Menschen, dass er in Notsituationen ein gewisses Maß an mitmenschlicher Solidarität aufbringt und jedenfalls nicht untätig bleibt. Wer diese Solidarität nicht an den Tag legt, kann sanktioniert werden. Eine Hilfeleistung wird nach § 323c StGB in individuellen Unglücksfällen und Gefahren- oder Notsituationen gefordert, die die Allgemeinheit betreffen. Unglücksfälle sind dabei plötzlich eintretende Ereignisse, die (potenziell) eine erhebliche Gefahr mit sich bringen. Die Allgemeinheit betreffende Gefahr- und

Notsituationen fordern Hilfeleistung zudem bei z. B. Naturkatastrophen, Großschadenslagen oder Bränden. Sehr umstritten ist, ob ein Suizidversuch als individueller Unglücksfall zu verstehen ist. Einigkeit besteht hierbei wohl darin, dass § 323c StGB keine Hilfeleistung fordert, wenn es sich um einen freiverantwortlichen Suizidversuch handelt und die Hilfe gegen den (mutmaßlichen) Willen des Suizidierenden verstoßen würde. Dies objektiv zu bewerten, ist jedoch im Einsatz schwierig. Daher muss für Rettungskräfte im Zweifel die Notwendigkeit einer Hilfeleistung angenommen werden, sofern keine eindeutigen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Suizid freiverantwortlich ist. Die Anforderungen an die gesetzlich geforderte Hilfeleistung sind von der jeweiligen Situation und den individuellen Fähigkeiten der hilfspflichtigen Person abhängig. Gefordert ist, was subjektiv erforderlich ist; maßgebend ist also die persönliche Sicht des Hilfeleistenden. Insgesamt werden jedoch keine besonders hohen Anforderungen an die Hilfe gestellt. Es kommt vielmehr darauf an, dass überhaupt eine Handlung erfolgt, die hilft. So reicht es für gewöhnlich aus, wenn eine Person ohne spezifische Fachkenntnis in Notsituationen den Notruf absetzt. Ist eine Person fachlich qualifiziert (z. B. Gesundheitsfachfrau/-mann, Ärzt*in, Notfallsanitäter*in) werden höhere Anforderungen gestellt. Hier kann erwartet werden, dass eine Fachperson ihren Fähigkeiten entsprechende Hilfe leistet und folglich auch mehr tut, als den Notruf abzusetzen. Eine Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung kommt nur dann in Betracht, wenn es der betroffenen Person zumutbar gewesen wäre, Hilfe zu leisten. Grenze der Zumutbarkeit ist dabei

stets die eigene Sicherheit. Niemandem wird zugemutet, sich selbst in Gefahr zu bringen, um jemand anderem zu helfen. Außerdem können die physischen und psychischen Möglichkeiten einer Person den Bewertungsmaßstab der Zumutbarkeit beeinflussen. So kann es niemandem vorwerfbar sein, eine sehr schwer verletzte Person im Notfall nicht aus einem Auto gezogen zu haben, wenn man körperlich (Muskelkraft) gar nicht dazu in der Lage ist. Zusammenfassend ist die Zumutbarkeit einer Hilfeleistung immer abhängig von der ganz konkreten Situation. R e ch t in e c ht (Fall 7.9) Gertrud ist Personalmanagerin in einer großen Klinik. Wenngleich sie in einem Krankenhaus arbeitet, hat sie keine medizinische Ausbildung. Auf dem Weg zur Arbeit kommt sie an einer fremden Person vorbei, die bewusstlos auf dem Rücken liegt – ein Unglücksfall. Gertrud setzt sofort einen Notruf ab, trifft ansonsten jedoch keine weiteren Maßnahmen. Die bewusstlose Person erstickt noch bevor der Rettungswagen eintrifft; ihre Zunge hat die Atemwege verlegt. Gertrud hat die ihr zumutbare Hilfe geleistet. Weitere Maßnahmen, wie die stabile Seitenlage oder andere Atemwegssicherungen müssen von ihr nicht erwartet werden. Gertrud hat sich folglich auch nicht der unterlassenen Hilfeleistung gem. § 323c Abs. 1 StGB strafbar gemacht. (Fall 7.10) Die gleiche Situation widerfährt dem Notfallsanitäter Fabian, der sich nicht im Dienst befindet. Auch Fabian setzt unmittelbar nach Auffinden der bewusstlosen Person den Notruf ab. Allerdings vollzieht auch Fabian keine weiteren Maßnahmen und die Person erstickt an ihrer Zunge. Von Fabian

kann als Notfallsanitäter in zumutbarer Weise erwartet werden, dass er die Risiken in diesem Unglücksfall erkennt und entsprechende Maßnahmen einleitet. Er hat jedoch keine weitere Untersuchung oder Atemwegssicherung (z. B. durch stabile Seitenlage) durchgeführt und somit nicht seinen Fähigkeiten entsprechend geholfen. Für Fabian kommt also eine Strafbarkeit nach § 323c Abs. 1 StGB in Betracht. Auch wenn die Person verstirbt, kommt eine Strafe wegen Tötungsdelikten durch Unterlassen nicht infrage, da Fabian gegenüber der fremden Person keine besondere Schutzpflicht (Garantenstellung) hatte. (Fall 7.11) Notarzt René kommt auf dem Weg zur Arbeit an einem schweren Verkehrsunfall vorbei. Er hält an und möchte helfen. Eine Passantin hat bereits den Notruf abgesetzt. In einem brennenden PKW befindet sich eine bewusstlose Person. René findet es zu gefährlich, sich dem PKW zu nähern und zu helfen. Die Person im Auto verbrennt. René ist zwar Arzt und hätte ggf. fachkundige Hilfe leisten können; allerdings ist es niemandem zuzumuten, sich bei einer Hilfeleistung selbst in Gefahr zu bringen. Das eigene Leben hat immer Vorrang. Eine Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung kommt demnach nicht infrage. (Fall 7.12) Jürgen ist ein abenteuerlustiger Rentner. Durch Zufall kommt er auf einer Landstraße an einem schweren Verkehrsunfall vorbei. Hilfskräfte der Feuerwehr und des Rettungsdienstes befreien gerade eine verletzte Person aus ihrem verunfallten PKW. Jürgen wittert ein neues Abenteuer, nähert sich der Einsatzstelle und beginnt, Fotos zu machen. Die

Rettungskräfte sind abgelenkt und versuchen, Jürgen durch lautes Rufen davon abzuhalten. Um die Privatsphäre der verletzten Person zu schützen, müssen zusätzlich mehrere Feuerwehrleute damit gebunden werden, die Situation mit großen Decken abzuschirmen. Jürgen hat durch sein Verhalten die Hilfsmaßnahmen der Rettungskräfte erschwert und sogar zusätzliche Hilfsmaßnahmen (Abschirmen) notwendig gemacht. Für ihn kommt also eine Strafbarkeit durch Behinderung von Hilfeleistungen gem. § 323c Abs. 2 StGB in Betracht.

7.2.3 Garantenstellung und Begehen durch Unterlassen Der Gesetzgeber unterscheidet bei der Strafbarkeit des Unterlassens zwischen • Personen, die keine besondere Schutzfunktion gegenüber anderen haben, und • Personen, die eine besondere Schutzfunktion gegenüber anderen haben, welche eine Schutzpflicht begründet. Hat eine Person keine besondere Schutzfunktion, so kann sie beim Nichthandeln nur nach echten Unterlassungsdelikten bestraft werden (› Kap. 7.2.2). Nimmt eine Person hingegen eine besondere Schutzfunktion ein, so ist sie verpflichtet, diesen Schutz zu garantieren. Eine solche Schutzstellung wird juristisch Garantenstellung genannt; die betroffene Person ist dann ein sog. Garant. Dem Nichthandeln eines Garanten kommt dabei ein hoher Stellenwert zu. Kommt ein Garant seiner Handlungspflicht nicht

nach und resultiert daraus, dass der Erfolg eines Straftatbestands eintritt (z. B. Körperverletzung), so wird dies nach § 13 StGB so bewertet, als hätte der Garant die Straftat selbst begangen. Natürlich ist dies nur der Fall, wenn der Garant den Erfolgseintritt tatsächlich in zumutbarer Weise hätte verhindern können und das Unterlassen ursächlich für den Erfolgseintritt gewesen ist. A c ht u ng Zur Erinnerung: Die Verwirklichung des im Gesetz beschriebenen Tatbestands nennt man Straftaterfolg oder auch Erfolg. So ist z. B. der Tod eines Menschen oder eine Körperverletzung der Erfolg einiger Strafnormen. Me r k e Garanten haben gegenüber bestimmten Personen eine besondere Schutzpflicht (sog. Garantenstellung). Diese Garantenstellung verpflichtet den Garanten dazu, den Erfolg von Straftatbeständen (z. B. Körperverletzung, Tod) abzuwenden. Der Garant muss dafür einstehen, dass der Erfolg nicht eintritt, soweit ihm dies möglich und zumutbar ist. Unterlässt ein Garant die notwendige, mögliche und zumutbare Hilfsmaßnahme, wird dies strafrechtlich so gewertet, als hätte er die Straftat (z. B. Körperverletzung, Totschlag) selbst begangen. Eine solche Strafbarkeit nennt man Begehen durch Unterlassen; sie ist in § 13 StGB geregelt. § 13 StGB Begehen durch Unterlassen

(1) Wer es unterlässt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört, ist nach diesem Gesetz nur dann strafbar, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt, und wenn das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht. Für die Gleichstellung von Unterlassen und aktivem Tun benennt § 13 Abs. 1 StGB als zentrale Voraussetzung die Garantenstellung („wenn er rechtlich dafür einzustehen hat“). Es gibt zwei Arten von Garantenstellungen; die Beschützergarantenstellung und die Überwachungsgarantenstellung. A c ht u ng Sowohl durch aktives Tun als auch durch Unterlassen können Sorgfaltspflichten des Rettungsdienstpersonals verletzt und Straftatbestände verwirklicht werden. Besteht eine Garantenstellung, so ist es für eine Strafbarkeit unerheblich, ob eine kontraindizierte Maßnahme durchgeführt wird oder eine indizierte Maßnahme unterlassen wird. Überwachungsgarantenstellung Überwachungsgaranten müssen eine bestimmte Gefahrenquelle überwachen. Sie haben dabei gewisse Sicherungspflichten und müssen dafür sorgen, dass sich die von der Gefahrenquelle ausgehende Gefahr nicht verwirklicht. Hierzu zählen z. B.:

• Verkehrssicherungspflichten von Hausbesitzer*innen, KFZ-Halter*innen, Tierhalter*innen oder bei Veranstaltungen • Sicherungspflicht durch pflichtwidriges gefährdendes Vorverhalten (sog. Ingerenz) • Sicherungspflicht hinsichtlich einer „gefährlichen“ Person als Gefahrenquelle R e ch t in e c ht Pflichtwidriges gefährdendes Vorverhalten (Ingerenz) (Fall 7.13) Gertrud hat bei der Betriebsfeier entgegen ihrem Plan, nüchtern zu bleiben, Alkohol getrunken. Dennoch fährt sie mit dem Auto nach Hause, um es später nicht holen zu müssen. Aus Unachtsamkeit infolge des Alkoholkonsums fährt Gertrud beim Abbiegen einen Fußgänger an. Sie steigt aus und erkennt, dass der Fußgänger lebensgefährlich verletzt ist und sofortige Hilfe benötigt. Aus Angst vor möglichen Folgen für sie entschließt sich Gertrud, den Vorfall zu ignorieren, steigt in ihr Auto und fährt tatenlos davon. Erst später findet ein weiteres Auto den verletzten Fußgänger und ruft den Rettungsdienst. Der verletzte Fußgänger verstirbt noch an der Unfallstelle, es lässt sich jedoch nachträglich nachweisen, dass der Fußgänger bei früherer Hilfe hätte gerettet werden können. Gertrud hatte die Pflicht, bei dem durch ihr pflichtwidriges Vorverhalten entstandenen Unfall zu helfen. Da sie das nicht gemacht hat, kommt eine Strafbarkeit wegen Totschlags durch Unterlassen in Betracht (als hätte sie den Totschlag selbst begangen). Person als Gefahrenquelle

(Fall 7.14) Notfallsanitäter Fabian versorgt eine gestürzte Patientin im Pflegeheim. Im Laufe der Anamnese stellt sich heraus, dass die Patientin neben einer Kopfplatzwunde auch einen MRSA-Keim (Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus) im Mund-Nasen-Rachenraum hat. Fabian möchte die Patientin im Krankenhaus versorgen lassen und meldet sie unter dem Stichwort „KoPlaWu“ im nächstgelegenen Krankenhaus an; die MRSA-Infektion erwähnt er nicht. Auch in der Klinik unterlässt es Fabian, den Versorgenden von der ansteckenden Begleiterkrankung zu berichten. Die Patientin wird in ein Behandlungszimmer mit zwei weiteren Patienten gebracht; sie trägt dabei keine Maske. Einer der beiden Zimmernachbarn ist an einer Immunschwäche vorerkrankt und steckt sich nun mit dem MRSA-Keim an. Er erkrankt dadurch schwer. Fabian kannte die Gefahr, die von der Patientin ausging. Er ist dabei Überwachungsgarant und dafür verantwortlich, die Gefahrenquelle „Patient“ zu sichern. Dennoch hat er es unterlassen, das Krankenhauspersonal über die Gefahr zu informieren, der Patientin eine Maske aufzusetzen oder zu verhindern, dass Patientenkontakt zu Dritten entsteht. Durch die Ansteckung hat der Zimmernachbar eine schwere Erkrankung (= Körperverletzung) erlitten. Durch das Unterlassen seiner Sicherungspflichten kommt für Fabian als Garant eine Strafbarkeit derart in Betracht, als hätte er die Körperverletzung selbst begangen (fahrlässige Körperverletzung durch Unterlassen). Beschützergarantenstellung

Beschützer- oder Obhutsgaranten haben eine besondere Schutzpflicht gegenüber bestimmten Personen oder Rechtsgütern. Für den Garanten besteht also eine Obhutspflicht für eine bestimmte Person zum Schutz vor von außen kommenden Gefahren. Beschützergaranten sind demnach dafür verantwortlich, dass der betreffenden Person „nichts weiter passiert“. Dafür, wann eine solche Beschützergarantenstellung entsteht, wurden durch die Rechtsprechung verschiedene Fallgruppen entwickelt. Eine Beschützergarantenstellung kann sich ergeben aus: • Enger natürlicher und rechtlicher Verbundenheit (z. B. Eltern-Kind-Beziehung, Ehepaare) • Besonderen Lebens- oder Gefahrengemeinschaften (z. B. eheähnliche Lebensgemeinschaft, Bergsteigergemeinschaften) • Vertraglicher und tatsächlicher Übernahme von Schutzpflichten (z. B. Behandlungsvertrag zwischen Ärzt*in und Patient*in, Übernahme einer Behandlung durch den Rettungsdienst, Babysitter*innen) Im Rettungsdienst kommt ein Behandlungsvertrag i. d. R. nicht zustande (› Kap. 6.3). Die Garantenstellung der behandelnden Sanitäter*innen oder Notärzt*innen ergibt sich hier durch die tatsächliche Übernahme der Behandlung einer Patient*in. Dass Rettungsdienstmitarbeiter*innen zur Übernahme dieser Behandlung verpflichtet sind, resultiert bereits aus deren dienstlichen Aufgaben. Nach herrschender Auffassung entsteht die Garantenstellung zeitlich erst mit Übernahme der persönlichen Behandlung an

der Patient*in und nicht schon mit der Übernahme des Einsatzes an der Rettungswache oder auf der Anfahrt. Sobald das Rettungsteam also selbst bei der Patient*in eintrifft, haben grds. alle Teammitglieder (ausgenommen Praktikant*innen o. Ä.) eine besondere Schutzpflicht gegenüber der Patient*in. Sie sind nun Garanten dafür, die Patient*in vor weiteren gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu bewahren, soweit dies möglich ist. Unterlassen sie es nun, der Patient*in adäquat zu helfen, ist gem. § 13 StGB eine Strafbarkeit durch Unterlassen denkbar. Allerdings haben Rettungsdienstmitarbeitende nicht allein ihrer Ausbildung oder Qualifikation wegen eine allgegenwärtige Garantenstellung. Diese besteht nur im Verhältnis zu Patient*innen während des Dienstes. Es gibt demnach keinen „Berufsgaranten“, der immer und überall eine Garantenstellung innehat. Außerhalb der beruflichen Tätigkeit besteht auch für Fachkräfte gegenüber Hilfebedürftigen keine besondere Schutzfunktion, sodass auch eine Rettungsdienstmitarbeiter*in bei einem etwaigen Unterlassen nicht nach § 13 StGB, sondern nur wegen „normaler“ unterlassener Hilfeleistung gem. § 323c StGB betraft werden könnte. Die Anforderungen an die konkrete Art der Hilfeleistung sind jedoch an die jeweilige Berufsqualifikation angepasst (› Kap. 4.6.2). Die Garantenstellung des Rettungsdienstpersonals endet mit der Beendigung der Behandlung oder mit der Übernahme der Behandlung durch eine andere Person/Institution. Denkbar sind hierbei z. B. die Patientenübernahme im Krankenhaus oder die Übernahme durch andere Rettungsmittel. Maßgeblicher Zeitpunkt ist hierfür die Übergabe der jeweiligen Patient*in.

Bevor eine Behandlung durch den Rettungsdienst erfolgt, wenden sich Hilfesuchende meist über den Notruf an die Rettungsleitstelle. Die zuständige Disponent*in nimmt dabei ab Annahme des Notrufs eine Beschützergarantenstellung ein und ist in besonderem Maße verpflichtet, der Anrufer*in Hilfe zukommen zu lassen. Unterbleibt eine adäquate Hilfe durch die Disponent*in, kommt auch hier eine Strafbarkeit durch Unterlassen nach § 13 StGB in Betracht. Me r k e Die Garantenstellung einer Notärzt*in, Notfall- oder Rettungssanitäter*in ergibt sich aus der tatsächlichen Übernahme der Behandlung einer Patient*in. Der BGH schreibt dazu (sinngemäß): Nehmen Rettungsdienstmitarbeitende ihre Aufgabe wahr, entsteht ein Obhutsverhältnis gegenüber dem Betroffenen, das wesentlich von der Pflicht bestimmt ist, diesen vor weiteren gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu bewahren (Garantenstellung durch die tatsächliche Übernahme der Gewähr für das Rechtsgut Gesundheit). [3] R e ch t in e c ht (Fall 7.15) Notfallsanitäterin Marie bekommt während ihrer Nachtschicht die Einsatzmeldung „gestürzte Person, männlich, 65 Jahre“. Sie übernimmt sogleich den Einsatz und fährt mit ihrem Team zum Einsatzort. Dort angekommen begibt sich Marie umgehend zum Patienten – jetzt übernimmt sie die tatsächliche Behandlung. Ab diesem Moment hat Marie eine Beschützergarantenstellung gegenüber dem Patienten. Sie ist nun dazu verpflichtet, weitere Gefahren (z. B. gesundheitliche

Beeinträchtigungen) von ihm abzuwehren. Kommt Marie dieser Pflicht nicht nach, läuft sie Gefahr, sich für dadurch entstehende gesundheitliche Beeinträchtigungen derart verantwortlich zu machen, als hätte sie diese selbst herbeigeführt. (Fall 7.16) Nach Feierabend kommt Marie an einem Verkehrsunfall vorbei. Sie nähert sich der Einsatzstelle und hilft einer verletzten Person, nachdem sie den Notruf abgesetzt hat. Marie hat gegenüber dieser Person keine Garantenstellung, auch wenn sie Notfallsanitäterin ist. Würde Marie anstatt zu helfen alle Bemühungen unterlassen, kommt ein „Tun durch Unterlassen“ gem. § 13 StGB nicht in Betracht. Vielmehr würde eine Strafbarkeit wegen „normaler“ unterlassener Hilfeleistung gem. § 323c StGB infrage kommen. (Fall 7.17) Notfallsanitäterin Marie und Rettungssanitäter Till besetzen zusammen einen Rettungswagen. Am späten Abend werden die beiden zu einer hilflosen Person gerufen. Es stellt sich heraus, dass es sich um einen stark alkoholisierten Mann handelt, der sich bei einem Sturz eine Kopfplatzwunde zugezogen hat. Marie und Till übernehmen gemäß ihren dienstlichen Aufgaben die tatsächliche Behandlung des Mannes und haben damit eine Garantenstellung gegenüber dem Patienten. Im Rettungswagen versorgt Marie die Verletzung des Patienten, als dieser beginnt, sie wüst zu beschimpfen. Marie lässt sich das nicht bieten und schlägt auf den Mann ein (Körperverletzung). Till, der sich bereits um eine Krankenhausanmeldung kümmern wollte, sieht, wie Marie mit zunehmender Intensität auf den Patienten einschlägt. Seine Garantenstellung verpflichtet Till, den Patienten vor von außen kommenden Gefahren zu schützen. In diesem Fall stellt auch

Marie eine von außen kommende Gefahr für den Patienten dar. Till ist folglich verpflichtet, Marie davon abzuhalten, dem Patienten weitere Körperverletzungen zuzufügen. Tut er das nicht, kommt eine Strafbarkeit wegen „Tun durch Unterlassen“ in Betracht. Er könnte folglich so bestraft werden, als hätte er dem Patienten die Körperverletzung selbst zugefügt. Umfang und Grenzen der Garantenpflicht Ein Garant im Rettungsdienst kann nicht für alles verantwortlich gemacht werden, was den Patient*innen wiederfährt. Die Handlungen, die von einem Garanten erwartet werden, sind begrenzt und haben einen gewissen Rahmen ( › Abb. 7.4). Einflussfaktoren auf Umfang und Grenzen der Garantenpflicht sind: • Berufliche Qualifikation (individuelle Fähigkeiten) • Tatsächliche Handlungsmöglichkeiten • Tatsächlich vermeidbares Ereignis • Zumutbarkeit der Handlung

ABB. 7.4 Umfang der Handlungspflicht von Rettungsdienstmitarbeiter*innen [L157]

Handlung nach beruflicher Qualifikation In welchem Umfang und mit welcher Sorgfalt ein Garant im professionellen Kontext handeln muss, hängt zunächst objektiv von dessen beruflicher Qualifikation und den damit einhergehenden Sorgfaltspflichten ab. Maßgebend ist dabei zunächst die allgemeine Verkehrserwartung, die an einen Fachberuf gestellt

werden kann. Das bedeutet, es kann von einem Garanten grds. ein Handeln entsprechend seinem Berufsstand erwartet werden. Me r k e Von medizinischem Personal in einer Garantenstellung kann grds. ein fachkundiges Handeln entsprechend dem Berufsstand erwartet werden. Die beruflichen Sorgfaltspflichten sind näher in › Kap. 4.6 beschrieben. Wenngleich sich der Umfang der Garantenstellung objektiv an der allgemeinen Verkehrserwartung orientiert, ist am Ende nur das strafbar, was einer Person auch persönlich vorwerfbar ist. Es kommt also für eine Strafbarkeit auf die individuellen Fähigkeiten einer Person im Moment der Unterlassungshandlung an. Dies ist dem strafrechtlichen Aufbau geschuldet, nach welchem es letztlich auf die individuelle Verantwortlichkeit ankommt (vgl. › Kap. 4.6.2). Tatsächliche Handlungsmöglichkeiten Selbstverständlich können von einem Garanten nur Handlungen erwartet werden, die in der speziellen Situation auch tatsächlich möglich sind. Voraussetzung für eine etwaige Strafbarkeit durch Unterlassen ist demnach die physisch-reale Möglichkeit der zur Erfolgsabwendung erforderlichen Handlung. Hierbei kommt es auf die vorhandenen Gegebenheiten in der jeweiligen Einsatzsituation an. Es kann nur das erwartet werden, was die räumlichen, personellen und sachlichen Ressourcen hergeben. R e ch t in e c ht

(Fall 7.18) Notfallsanitäterin Marie versorgt einen Patienten mit einem fulminanten Herzinfarkt. Im Rahmen der Therapie erkennt Marie, dass die Indikation zur Gabe von Morphin vorliegt. Sie kennt das Medikament und beherrscht dessen Umgang. Auch die Voraussetzungen zur Gabe des Opiats sind erfüllt (› Kap. 9.2.3). Allerdings ist Morphin planmäßig nicht auf dem Rettungswagen vorhanden, sodass es schon an der physisch-realen Möglichkeit fehlt, das Medikament zu geben. Folglich kann es Marie auch nicht angelastet werden, dass sie das Medikament nicht appliziert. Abzugrenzen ist die tatsächliche Handlungsmöglichkeit von einem Übernahmeverschulden. Ein Übernahmeverschulden beschreibt, dass eine Rettungsdienstmitarbeiter*in eine Behandlung übernimmt oder sich in eine Situation begibt, von der sie schon im Vornhinein weiß, dass die erforderlichen Fachkenntnisse fehlen oder offensichtlich unzureichende räumliche, personelle oder sachliche Ressourcen vorhanden sind. Hinsichtlich des vorwerfbaren Verhaltens wird dabei auf den Zeitpunkt der Übernahme abgestellt. Das Übernahmeverschulden ist ausführlich in › Kap. 4.6.4 beschrieben. Vermeidbares Ereignis Weiterhin muss auch bei Unterlassungsdelikten ein kausaler und zurechenbarer Zusammenhang zwischen Unterlassen und Eintritt des Straftaterfolges bestehen (vgl. › Kap. 7.1.4). Das Eintreten des Erfolges muss dabei tatsächlich vermeidbar gewesen sein und die unterlassene Handlung hätte den

Erfolgseintritt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindern müssen. Me r k e Das Unterlassen muss mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ursächlich für den Erfolgseintritt gewesen sein, damit es nach § 13 StGB als „Begehen durch Unterlassen“ strafbar ist. Dieser Zusammenhang muss konstruiert werden; man nennt ihn daher auch hypothetische Kausalität. Die Hürde dieses Kriteriums ist sehr hoch und im medizinischen Kontext oft schwer zu belegen. Vor Gericht würden medizinische Gutachter*innen sehr genau prüfen müssen, ob die unterlassene Handlung den Erfolgseintritt tatsächlich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert hätte oder ob der Erfolg möglicherweise auch eingetreten wäre, wenn die Handlung nicht unterlassen worden wäre. Aus dem Kriterium des vermeidbaren Ereignisses ergibt sich zudem, dass der Umfang der Garantenstellung nur Handlungen erfasst, die auch im Kontrollbereich der handelnden Person liegen. Für Ereignisse, die auch hypothetisch nicht von der handelnden Person kontrolliert werden können, kann trotz einer Garantenstellung keine strafrechtliche Verantwortung entstehen. Zumutbarkeit Wie bei der unterlassenen Hilfeleistung wird auch von einem Garanten nur das erwartet, was ihm zumutbar ist (› Kap. 7.1.4). Zwar werden insgesamt höhere Anforderungen an einen Garanten

gestellt, dennoch begrenzt die Zumutbarkeit die Handlungspflicht. So kann z. B. auch einem Garanten nicht zugemutet werden, sich selbst in Gefahr zu bringen. Das eigene Leben und die eigene Sicherheit gehen immer vor. Weiter können spezielle Umstände, wie Erschöpfung nach einer durchgearbeiteten 24-Stunden-Schicht, Einfluss darauf nehmen, was einem Garanten zugemutet werden kann. Vorsatz und Fahrlässigkeit eines Garanten Wie bei der Begehung eines Begehungsdelikts wird auch bei einem Begehen durch Unterlassen Vorsatz oder Fahrlässigkeit als subjektive Komponente einer Strafbarkeit gefordert (› Kap. 7.1.4). Ein Garant muss also vorsätzlich oder fahrlässig eine Handlung unterlassen, um sich strafbar zu machen. Während absichtliches Unterlassen und Unterlassen mit direktem Vorsatz im notfallmedizinischen Setting glücklicherweise eher selten vorkommen, sind für den Rettungsdienst v. a. der bedingte Vorsatz und Fahrlässigkeit relevant. Vorsatz des Garanten beim Unterlassen Begehen durch vorsätzliches Unterlassen kommt nur für alle Vorsatzdelikte infrage (z. B. Körperverletzung gem. § 223 StGB). Vorsatz meint dabei den Willen zur Verwirklichung des Straftatbestandes in Kenntnis (Wissen) all seiner objektiven Umstände. Im Rahmen des „Begehen durch vorsätzliches Unterlassen“ bedeutet das für die Annahme einer Strafbarkeit: • Der Garant muss um seine Garantenstellung wissen (davon wird bei medizinischen Fachberufen ausgegangen).

• Der Garant muss den Erfolgseintritt wollen oder mindestens billigend in Kauf nehmen (bedingter Vorsatz ist ausreichend). • Der Garant muss sich der konkreten Handlungsmöglichkeiten bewusst sein, mit der er den Erfolgseintritt verhindern kann. • Der Garant muss sich bewusst sein, dass er den Erfolg mit an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit abwehren kann. Entscheidend ist bei vorsätzlichem Unterlassen die Entscheidung zwischen Untätigbleiben und möglichem Tun, also der Wille zum Untätigbleiben. Bedingter Vorsatz ist hierfür bereits ausreichend. Bedingter Vorsatz beim Unterlassen ist gegeben, wenn der Garant den Eintritt eines Ereignisses (das den Erfolg eines Straftatbestands verwirklicht), für möglich hält, aber billigend in Kauf nimmt, dass dies geschieht und es deshalb unterlässt, Maßnahmen zur Verhinderung dieses Ereignisses zu treffen. Fahrlässigkeit des Garanten beim Unterlassen Begehen durch fahrlässiges Unterlassen kommt nur für Normen infrage, in denen das Gesetz eine Strafbarkeit wegen Fahrlässigkeit explizit vorsieht (z. B. fahrlässige Körperverletzung gem. § 229 StGB). Fahrlässiges Unterlassen kommt im Rettungsdienst v. a. in zwei Erscheinungsformen vor: 1. Der unterlassende Garant verkennt sorgfaltswidrig die zum Einschreiten verpflichtende Gefahr. Dies wäre z. B. der Fall, wenn eine Notfallsanitäter*in oder Notärzt*in eine kritische Situation bei einer Patient*in verkennt und

deshalb nicht handelt (unbewusste Fahrlässigkeit). Diese Form des Unterlassens wäre zudem auch gegeben, wenn eine Notfallsanitäter*in oder Notärzt*in zwar eine kritische Situation erkennt, aber durch konkrete Tatsachen belegbar darauf vertraut, dass sich der Zustand einer Patient*in schon nicht verschlechtere (bewusste Fahrlässigkeit). 2. Der Garant führt die gebotene Handlung sorgfaltswidrig aus und verursacht damit den Erfolg. Dies wäre z. B. der Fall, wenn eine Notfallsanitäter*in oder Notärzt*in einer Patient*in sorgfaltswidrig eine weniger wirksame Therapie zukommen lassen würde, obwohl eine erfolgversprechendere Behandlung ohne Weiteres möglich gewesen wäre. Denkbar ist dabei auch die Situation, in der eine Patient*in sorgfaltswidrig in ein Krankenhaus gebracht wird, das das zugrundeliegende Krankheitsbild gar nicht behandeln kann. R e ch t in e c ht (Fall 7.19) Notfallsanitäterin Marie versorgt eine Patientin, die aufgrund wiederkehrender Brustschmerzen den Rettungsdienst gerufen hat. Da Marie die Patientin bereits aus einem anderen Einsatz kennt und überhaupt nicht leiden kann, untersucht sie die Patientin kaum. Dabei ist Marie der Meinung, dass es der Patientin doch eigentlich gut gehe und trägt ihr auf, mit dem Taxi ins Krankenhaus zu fahren. Marie verkennt dabei, dass die Patientin einen ST-Strecken-Hebungsinfarkt hat und sich in einem lebensbedrohlichen Zustand befindet. Die Patientin erleidet im Taxi einen Herz-Kreislauf-Stillstand. Da die Taxifahrerin rasch

Wiederbelebungsmaßnahmen eingeleitet hat, überlebt die Patientin zwar, trägt jedoch schwere Schäden davon. Marie hat den Ernst der Lage fahrlässig nicht erkannt. Für sie kommt nun eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Körperverletzung durch Unterlassen in Betracht (§§ 229, 13 StGB). (Fall 7.20) Notfallsanitäter Fabian versorgt einen Patienten, der aufgrund wiederkehrender Brustschmerzen den Rettungsdienst gerufen hat. Auch Fabian kennt seinen Patienten aus einem vorherigen Einsatz und kann ihn überhaupt nicht leiden. Der Patient wohnt direkt gegenüber einem kleinen Krankenhaus. Fabian ist sauer und ärgert sich, warum der Patient nicht einfach rüber in die Klinik gegangen ist. Um nun noch einen langen Einsatz zu vermeiden, möchte er den Patienten rasch in das gegenüberliegende Krankenhaus bringen. Da dieses jedoch nur über eine unfallchirurgische Ambulanz verfügt, meldet Fabian dort „Wirbelsäulenschmerzen, die in die Brust ziehen“ an. Weitere Untersuchungen führt er nicht durch, um Zeit zu sparen. In der Ambulanz wird der Patient aufgrund Fabians Anmeldung nicht sofort untersucht und muss lange auf eine Untersuchung warten, bis er schließlich einen Herz-Kreislauf-Stillstand erleidet. Da die Pflegekräfte zwar rasch mit den Wiederbelebungsmaßnahmen beginnen, überlebt der Patient, trägt jedoch schwere Schäden davon. Bereits in der ersten EKG-Untersuchung nach dem ROSC (return of spontaneous circulation) wird festgestellt, dass der Patient einen fulminanten ST-Strecken-Hebungsinfarkt hat. Fabian hat die gebotene Handlung (eine seinem Berufstand entsprechende Untersuchung und den Transport in ein geeignetes Krankenhaus) sorgfaltswidrig durchgeführt und den Patienten

leichtsinnigerweise in ein ungeeignetes Krankenhaus transportiert. Für ihn kommt nun eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Körperverletzung durch Unterlassen in Betracht (§§ 229, 13 StGB). Da Fahrlässigkeit ohnehin schon durch ein Unterlassen geprägt ist (das Außer-Acht-Lassen der erforderlichen Sorgfalt), ist die Abgrenzung zwischen bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit besonders schwierig (› Kap. 7.1.4). Neben dem Außer-Acht-Lassen der erforderlichen Sorgfalt kommt es bei fahrlässigen Unterlassungsdelikten zusätzlich darauf an, ob der Erfolgseintritt (z. B. Körperverletzung) objektiv und subjektiv vorhersehbar war. Dies ist nur logisch; es kann einer Notfallsanitäter*in schließlich nicht vorgeworfen werden, ein völlig unwahrscheinliches Ereignis nicht verhindert oder eine Handlung unterlassen zu haben, zu der sie persönlich gar nicht in der Lage war. Im Rahmen des „Begehen durch fahrlässiges Unterlassen“ bedeutet das für die Annahme einer Strafbarkeit: • Der Erfolgseintritt muss für den Garanten objektiv erkennbar sein (objektive Vorhersehbarkeit). • Der Garant muss objektiv betrachtet die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lassen (objektive Sorgfaltspflichtverletzung). • Der Garant muss anhand seiner persönlichen Kenntnisse in der Lage gewesen sein, die Folgen seines Nichthandelns erkennen zu können (subjektive Vorhersehbarkeit). • Der Garant muss die persönliche Fähigkeit besitzen, die im Verkehr erforderliche Sorgfaltspflicht zu erfüllen (subjektive

Sorgfaltspflichtverletzung). Fahrlässiges Unterlassen liegt demnach vor, wenn der Garant die jeweils erforderliche Sorgfalt vernachlässigt, keine Maßnahmen trifft und deshalb ein objektiv und subjektiv vorhersehbares Ereignis (das den Erfolg eines Straftatbestands verwirklicht) eintritt, welches hätte verhindert werden können. Der Sorgfaltsmaßstab orientiert sich an der jeweiligen beruflichen Qualifikation des Garanten. Gefordert wird grds. die im Verkehr übliche Sorgfalt des Berufsbildes (› Kap. 4.6.2). Für eine Strafbarkeit kommt es jedoch maßgeblich auf die persönlichen Kenntnisse und Fähigkeiten der handelnden Person an. Objektiv vorhersehbar ist ein Ereignis immer dann, wenn ein gewissenhafter und besonnener Mensch in der konkreten Lage und in der Rolle des behandelnden Garanten nach allgemeiner Lebenserfahrung die Gefahr des Erfolgseintritts erkannt hätte. Auch hierbei wird wieder darauf abgestellt, was von dem jeweiligen Berufsbild erwartet werden kann. Subjektiv/persönlich vorhersehbar ist ein Ereignis immer dann, wenn die handelnde Person anhand ihrer individuellen Kenntnisse und Fähigkeiten in der konkreten Lage die Gefahr des Erfolgseintritts hätte erkennen können. Hier wird darauf abgestellt, was von der handelnden Person persönlich erwartet werden kann. Nur wenn objektive und subjektive Vorhersehbarkeit vorliegt, kommt eine Strafbarkeit in Betracht. Zu beachten ist, dass die Fahrlässigkeit wie der Vorsatz für gewisse Aspekte zeitlich vorverlagert werden kann. So kann es bereits sorgfaltswidrig sein, sich nicht ausreichend auf Fortbildungen einzulassen oder sich fortschrittlichen Untersuchungs- und

Behandlungsmethoden zu verschließen und trotzdem eine verantwortliche Tätigkeit auf einem Rettungsmittel zu übernehmen (Übernahmeverschulden, vgl. › Kap. 4.6.4). Im konkreten Rettungsdiensteinsatz hängt die Vorhersehbarkeit eines Ereignisses stark mit der Untersuchung der Notfallpatient*innen zusammen. Was vorhersehbar ist, wird überhaupt erst durch eine angemessene Untersuchung deutlich. Wird eine solche nicht adäquat durchgeführt, so kann dies als AußerAcht-Lassen der erforderlichen Sorgfalt verstanden werden. „Überrascht“ dann ein Ereignis das Rettungsdienstteam, obwohl das Ereignis bei einer Untersuchung entsprechend den bestehenden Standards vorhersehbar gewesen wäre, kann nicht auf ein „unvorhersehbares Ereignis“ abgestellt werden. Auch wenn das Team das Ereignis dann tatsächlich nicht vorhersehen konnte, hätte es eine sorgfältigere Untersuchung durchführen müssen. Schon das Unterlassen einer angemessenen Untersuchung des Garanten kann demnach u. U. eine Strafbarkeit wegen fahrlässigen Unterlassens begründen (z. B. § 13 StGB, z. B. in Verbindung mit § 229 StGB, Begehen einer fahrlässigen Körperverletzung durch Unterlassen). Pr axis tip p Die behandelnden Garanten müssen im Umgang mit Notfallpatient*innen stets eine angemessene, dem fachlichen Standard entsprechende Untersuchung durchführen und diese dokumentieren, um fahrlässiges Handeln ihrerseits auszuschließen. Dies ist notwendig, da das Nicht-angemessenUntersuchen bereits ein fahrlässiges Unterlassen darstellen kann.

R e ch t in e c ht (Fall 7.21) Notfallsanitäterin Marie versorgt einen Notfallpatienten. Sie entscheidet richtigerweise, ihm einen intravenösen Zugang zu legen. Nachdem Marie den Patienten angemessen aufgeklärt und dieser in die Behandlung eingewilligt hat, bittet Marie ihren Kollegen Till alles Weitere bereitzulegen. Till vergisst bei der Vorbereitung allerdings das Desinfektionsmittel. Als Marie nun den Zugang legen möchte, fällt ihr Tills Fehler auf, sie ignoriert ihn jedoch. Sie weiß zwar um das Risiko einer Infektion, denkt sich aber „es wird schon nichts passieren“ und sticht die Nadel, ohne zu desinfizieren, in die Vene des Patienten. Anschließend wird der Patient ins Krankenhaus gebracht. Im Einsatz selbst kommt es nicht zu Komplikationen, allerdings entzündet sich die Vene des Patienten im Bereich der Einstichstelle während des Krankenhausaufenthalts (Phlebitis). Eine Phlebitis lässt sich unter den Tatbestand einer Körperverletzung im Sinne von §§ 223 ff., 229 StGB einordnen. Die Entzündung lässt sich dabei auf die mangelhafte Hygiene beim Legen der Venenverweilkanüle zurückführen und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wäre es bei adäquater Desinfektion nicht dazu gekommen. Marie hat nicht billigend in Kauf genommen, dass dies passiert, sondern darauf vertraut, dass „schon alles gut geht“, da es i. d. R. auch ohne Desinfektion nicht zu Komplikationen kommt. Folglich hat Marie zwar nicht vorsätzlich, wohl aber sorgfaltswidrig und damit fahrlässig gehandelt. Von einer Notfallsanitäterin kann aufgrund der beruflichen Qualifikation erwartet werden, dass sie bei invasiven

Maßnahmen die erforderliche Sorgfalt beachtet. Marie persönlich wusste auch um diese nötige Sorgfalt und ist eigentlich in der Lage, diese einzuhalten. Da Marie gegenüber dem Patienten eine Garantenstellung hat, kommt hier eine Strafbarkeit wegen Begehen einer fahrlässigen Körperverletzung durch Unterlassen in Betracht (§§ 229, 13 StGB). (Fall 7.22) Notfallsanitäter Fabian wird zu einer Patientin mit „Oberbauchschmerzen“ gerufen. Die Schmerzen seien in den letzten Tagen mehrmals kurzzeitig aufgetreten, nun jedoch anhaltend und sehr stark, sagt sie. Die Patientin ist Fabian aus vorherigen Einsätzen bekannt. Er weiß, dass sie zwar durchaus vorerkrankt ist, aber dem Rettungsdienst als Hypochonderin schon des Öfteren Probleme bereitet hat. Infolgedessen nimmt Fabian die Beschwerden der Patientin nicht richtig ernst. Er palpiert (abtasten) zwar den Bauch, kann aber nichts feststellen und verbringt die Patientin ohne weitere Untersuchung in den Rettungswagen. Er will ihr zwar nichts Böses, vertraut aber darauf, dass sie sich „wieder nur anstellt“. Im Rettungswagen meldet Fabian „unklare Bauchschmerzen“ in einer kleinen Klinik mit einer Allgemeinchirurgie an. Auf der Fahrt zum Krankenhaus werden die Schmerzen der Patientin immer stärker und sie wird zudem kaltschweißig. Fabian ist total überrascht. Er weist seine Kollegin Ida an, von nun an Sonder- und Wegerechte in Anspruch zu nehmen (› Kap. 11.3) und dem Krankenhaus eine unvorhergesehene Verschlechterung anzumelden. In der Notfallaufnahme angekommen hat sich der Zustand der Patientin noch weiter verschlechtert. Nun wird sie ganzheitlich vom Krankenhauspersonal untersucht, und es wird festgestellt, dass die

Patientin einen fulminanten Herzinfarkt hat. Im EKG wird eine ausgeprägte ST-Strecken-Hebung (STEMI) festgestellt, weshalb eine Intervention in einem Herzkatheterlabor dringend notwendig ist. Das Krankenhaus, in welches die Patientin verbracht wurde, besitzt so eine Fachrichtung nicht. Die Patientin wird kurz mit den entsprechenden Medikamenten versorgt und muss anschließend in eine Klinik mit entsprechendem Fachbereich weiterverlegt werden. Zwar überlebt die Patientin den Herzinfarkt, aber es kommt zu schweren Schäden des Herzmuskels, die nachweislich hätten verhindert werden können, wäre sie schneller in einer entsprechenden Fachklinik gewesen. Die Schäden am Herzmuskel lassen sich unter den Tatbestand einer Körperverletzung im Sinne von §§ 223 ff., 229 StGB einordnen. Fabian hat die Patientin nur wenig begutachtet und eine ausführliche Untersuchung unterlassen. Dabei hat er die für einen Notfallsanitäter erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen. Fabian persönlich wusste auch um diese nötige Sorgfalt und ist normalerweise in der Lage, diese einzuhalten. Er hat sich jedoch von seinen Vorurteilen der Patientin gegenüber leiten lassen. Hätte Fabian eine ausführliche Untersuchung und Anamnese durchgeführt, wäre ihm aufgefallen, dass es sich um eine Patientin mit Herzinfarkt/STEMI handeln kann. Eine Verschlechterung des Zustands der Patientin sowie eine Schädigung des Herzmuskels durch lange Transportwege wären folglich vorhersehbar gewesen. Durch das Unterlassen der Untersuchung kommt für Fabian eine Strafbarkeit wegen Begehen einer fahrlässigen Körperverletzung durch Unterlassen in Betracht (§§ 229, 13 StGB).

7.2.4 Abgrenzung zur unterlassenen Hilfeleistung Die Abgrenzung zwischen unterlassener Hilfeleistung und einem Tun durch Unterlassen eines Garanten erfolgt maßgeblich anhand der Garantenstellung. Um in den Strafbereich des § 13 StGB (Begehen durch Unterlassen) zu gelangen, muss eine Person eine Garantenstellung innehaben (› Kap.7.2.3). Besteht eine solche Garantenstellung, fällt eine Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung (§ 323c StGB) hinter der Strafbarkeit wegen Begehen durch Unterlassen (§ 13 StGB) zurück. Es kann folglich niemand für dieselbe Nichthandlung gleichzeitig nach § 13 StGB und § 323c StGB bestraft werden. Hat eine Person keine Garantenstellung oder wird die Strafbarkeit nach § 13 StGB aus anderen Gründen verneint, kommt eine Strafbarkeit nach § 323c StGB wieder in Betracht. Unterlassene Hilfeleistung wird daher auch teilweise als Auffangtatbestand bezeichnet. Me r k e Wird eine Handlung rechtswidrig unterlassen, kommt für diese unterlassene Handlung eine Strafbarkeit entweder nach § 13 StGB (Begehen durch Unterlassen) oder nach § 323c (unterlassene Hilfeleistung) in Betracht. Niemals kann in Bezug auf eine unterlassene Handlung eine Strafbarkeit wegen beider Delikte gleichzeitig bestehen. Entscheidend ist, ob die unterlassende Person eine Garantenstellung innehat. R e ch t in e c ht (Fall 7.23) Auf einer Landstraße passiert ein Fahrradunfall, bei dem sich eine Person schwer verletzt. Notarzt René beobachtet das

Unglück zufällig und ruft den Notruf; er befindet sich nicht im Dienst. Kurz darauf trifft Notfallsanitäterin Marie mit dem Rettungswagen ein. Wenngleich René Notarzt ist, hat er gegenüber der verunfallten Person keine Garantenstellung gem. § 13 StGB. Als Arzt können von ihm zwar gewisse Hilfeleistungen erwartet werden, allerdings kann er sich nur gem. § 323c StGB strafbar machen, wenn er die Hilfeleistung unterlässt. Marie hingegen hat durch die tatsächliche Übernahme der Behandlung im Rahmen ihrer dienstlichen Aufgaben eine Garantenstellung gegenüber der verletzten Person. Unterlässt sie nun die Hilfeleistung, kann sie sich gem. § 13 StGB Begehen durch Unterlassen strafbar machen (z. B. Körperverletzung durch Unterlassen, §§ 223, 13 StGB). (Fall 7.24) Fabian hat Dienst auf dem RTW und bekommt zusammen mit dem NEF einen Notfall-Einsatz. Fabian hat keine Lust, vor dem NEF einzutreffen und den „Hiwi“ zu spielen. Er wartet daher noch etwas an der Rettungswache, bis er losfährt und macht dann einen größeren Umweg zur Einsatzstelle. Da er die tatsächliche Behandlung noch nicht übernommen hat, hat er zu diesem Zeitpunkt nach herrschender Meinung noch keine Garantenstellung inne. Eine Strafbarkeit nach § 13 StGB (Begehen durch Unterlassen) kommt daher nicht in Betracht. Möglich ist aber dennoch eine Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung nach § 323c StGB wegen der Verzögerung der Hilfeleistung. [4]

7.2.5 Aussetzung

Neben Begehungs- und Unterlassungsdelikten gibt es auch noch sog. Gefährdungsdelikte. Das relevanteste ist die Aussetzung gem. § 221 StGB. Hierbei wird es strafrechtlich geahndet, eine andere Person einer Gefahr auszusetzen. Bei einem solchen Gefährdungsdelikt kommt es nicht darauf an, ob sich die Gefahr auch tatsächlich verwirklicht, allein der Umstand, eine Person einer entsprechenden Gefahr auszusetzen, führt zu einem Strafbarkeitsrisiko. Dabei ist bereits die Aussetzung einer Gefahr von dem Tatbestand des § 221 StGB erfasst. Eine Form der Aussetzung (§ 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB) hängt eng mit der Garantenstellung zusammen. Dabei wird bestraft, wer eine Person in einer hilflosen Lage im Stich lässt, obwohl er sie in seiner Obhut hat. Dies meint die bereits aus § 13 StGB bekannte Garantenstellung, womit folglich die Relevanz dieser Straftat für den Rettungsdienst begründet wird. Me r k e Ein Garant kann sich auch strafbar machen, wenn er eine Person in einer hilflosen Lage im Stich lässt und sie dabei einer Gefahr für Leib und Leben aussetzt. Ob sich die Gefahr tatsächlich verwirklicht, spielt keine Rolle. Eine hilflose Lage ist in diesem Sinne als eine Situation zu verstehen, in der sich eine Person nicht selbst vor potenziellen Gefahren für Leib und Leben schützen und auch sonst keine Hilfe erlangen kann. Eine konkrete Gefahr ist gegeben, wenn es in der Situation lediglich vom Zufall abhängt, ob die Schädigung (z. B. Verletzung) eintritt oder nicht. Das Im-Stich-Lassen eines Garanten ist das Unterlassen von Hilfe und Beistand. Dabei ist es

unwesentlich, ob der Garant die Situation räumlich verlässt oder nicht. Dies ähnelt insoweit den Unterlassungsdelikten, mit dem markanten Unterschied, dass es im Rahmen der Aussetzung durch einen Garanten (§ 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB) egal ist, ob tatsächlich etwas passiert ist oder nicht. Subjektive Voraussetzung für eine Strafbarkeit wegen Aussetzung ist ein Vorsatz (› Kap. 7.1.4) bezüglich der Gefährdung der Person (Gefährdungsvorsatz). Der Garant muss sich also der hilflosen Lage der Person bewusst sein und die Gefahr erkennen können. Eine andere Form der Unterlassung kann vorliegen, wenn eine Person überhaupt erst in eine hilflose Lage gebracht wird und ihr anschließend nicht geholfen wird (§ 221 Abs. 1 Nr. 1 StGB). Diese Form der Aussetzung kann allerdings von jedem begangen werden und erfordert keine Garantenstellung. R e ch t in e c ht (Fall 7.25) Notfallsanitäterin Marie wird in einer Samstagnacht zu einem Einsatz auf einer Hausparty gerufen. Dort hat sich ein junger Mann (22) so stark betrunken, dass er nicht mehr laufen und kaum noch richtig sprechen kann. Als Marie beim Patienten ankommt, stellt sie fest, dass der junge Mann zwar tatsächlich sehr stark alkoholisiert ist und sich bereits übergeben hat, er aber keine Verletzungen o. Ä. aufweist. Sie lässt den Patienten von anderen Partygästen, die selbst alle erheblich alkoholisiert sind und schnell wieder zur Party wollen, ins Bett bringen, wo er seinen Rausch ausschlafen soll. Anschließend verlässt Marie den Einsatzort und meldet sich „frei auf Rückfahrt“. Zu einem weiteren Einsatz kommt es diese Nacht nicht. Der junge Mann wacht zwar am

nächsten Tag mit Kopfschmerzen auf, hat jedoch ansonsten keine Beschwerden oder Beeinträchtigungen. Marie hat gegenüber dem Patienten eine Garantenstellung. Der Patient war so betrunken, dass er nicht laufen und nicht sprechen konnte. Vor potenziellen Stürzen oder einer eintretenden Bewusstlosigkeit durch den Alkohol konnte er sich nicht mehr selbst schützen (das lässt sich für sehr stark alkoholisierte Personen i. d. R. feststellen). Der junge Mann befand sich also in einer hilflosen Lage. Auch hing es vom Zufall ab, ob es zu einem Sturz, einer Bewusstlosigkeit oder Komplikationen beim Erbrechen (z. B. im Liegen) kommt. Es bestand also die konkrete Gefahr, dass etwas passiert. Marie hat es unterlassen, dem Patienten fachgerecht Beistand zu leisten und ihn medizinisch zu überwachen, damit die Gefahren nicht eintreten. Als Notfallsanitäterin muss Marie die möglichen Komplikationen bei Alkoholintoxikationen kennen. Sie hat den jungen Mann demnach bewusst den Gefahren ausgesetzt. Glücklicherweise ist dem Patienten nichts passiert; darauf kommt es im Rahmen des Gefährdungsdelikts der Aussetzung aber nicht an. Marie hat als Garant den Patienten in einer hilflosen Lage bei einer konkreten Gefahr im Stich gelassen. Es kommt daher eine Strafbarkeit wegen Aussetzung (§ 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB) in Betracht. Wäre dem Patienten tatsächlich etwas passiert und es hätte sich die Gefahr verwirklicht, so käme ein Begehen durch Unterlassen (§ 13 StGB) in Betracht. Auch die Aussetzung ist insoweit ein sog. Auffangtatbestand. Wer über § 13 StGB (Begehen durch Unterlassen) bestraft wird, kann

nicht auch wegen § 221 StGB (Aussetzung) bestraft werden. Bei einem Begehen durch Unterlassen wird ein Garant bestraft, wenn er etwas unterlassen hat und dadurch ein tatbestandlicher Erfolg eintritt (z. B. Körperverletzung, Tod einer Person). Bei der Aussetzung wird der Garant dafür bestraft, dass er etwas unterlassen hat und dadurch eine Person einer Gefahr aussetzt. Ob dabei tatsächlich etwas passiert, spielt keine Rolle. Auch wenn kein tatbestandlicher Erfolg eintritt, ist eine Strafbarkeit wegen Aussetzung möglich. Das Strafmaß der Aussetzung ist jedoch geringer als bei einem Begehen durch Unterlassen.

7.3 Rechtfertigungsgründe André Höhle Die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe sind für den Rettungsdienst von erheblicher Bedeutung. Im Rahmen der rettungsdienstlichen Tätigkeit kommt es oftmals zu Situationen, in denen strafrechtliche Tatbestände verwirklicht werden (› Kap. 7.1.4). Damit aus einer solchen Verwirklichung eines Straftatbestands nicht auch eine Strafbarkeit resultiert, helfen die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe. Die Rechtfertigungsgründe sind • Notwehr, • rechtfertigender Notstand, • rechtfertigende Einwilligung und die • rechtfertigende Pflichtenkollision.

Für das Eingreifen der Rechtfertigungsgründe ist erforderlich, dass eine bestimmte tatsächliche Ausgangssituation vorliegt, für welche die jeweiligen Rechtfertigungsgründe vorgesehen sind, z. B. die Notwehrlage oder die Notstandslage. Liegt eine solche Situation vor, kann unter bestimmten Umständen vom einschlägigen Rechtfertigungsgrund Gebrauch gemacht werden; diese Umstände sind teilweise gesetzlich definiert. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass Mitarbeitende im Rettungsdienst wissen, in welchen Situationen das Eingreifen von strafrechtlichen Rechtfertigungsgründen relevant wird und wie sie sich in dieser Situation konkret zu verhalten haben. Me r k e Damit Rechtfertigungsgründe greifen, bedarf es stets einer bestimmten tatsächlichen Ausgangssituation (z. B. Notwehrlage, Notstandslage). Für das Rettungsdienstpersonal ist es wichtig, dass diese Situationen im Einsatz erkannt werden können. Bei der rechtmäßigen Inanspruchnahme der strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe wird ein rechtsverletzendes Verhalten ausnahmsweise gestattet. Den strafrechtlichen Rechtfertigungsgründen liegt das Prinzip des überwiegenden Interesses zugrunde.

7.3.1 Notwehr Die Notwehr ist der im alltäglichen Leben wohl bekannteste Rechtfertigungsgrund. Gesetzliche Grundlage dafür ist § 32 StGB. Notwehr ermöglicht es, sich gegen Angreifer zu verteidigen und diese

körperlich zu verletzen, ohne sich selbst strafbar zu machen. Die Arbeit des Rettungsdienstes ist dadurch gekennzeichnet, mit Menschen zu arbeiten, die sich teilweise in Ausnahmesituationen befinden. Dabei kann es auch zu Konflikten kommen, die schlimmstenfalls zu einem körperlichen Übergriff auf Einsatzkräfte führen können. Wird Rettungsdienstpersonal angegriffen, sind Notwehr und Nothilfe unter bestimmten Voraussetzungen zulässig. Es bedarf dafür jedenfalls immer eine Notwehrlage und eine Notwehrhandlung. Notwehrlage Die Ausgangssituation bei der Notwehr ist durch einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff gekennzeichnet. Ein Angriff kann dabei jede Handlung eines Menschen sein, durch welche die Verletzung rechtlich geschützter Güter oder Interessen droht, z. B. eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit oder eine Verletzung von Sachwerten. R e ch t in e c ht (Fall 7.26) Notfallsanitäterin Marie und Rettungssanitäter Till sind mit dem RTW zu einer hilfsbedürftigen Person auf einem Parkplatz alarmiert worden. Bei Eintreffen werden sie von einer dritten Person – einem jungen Mann – angegriffen. Der Dritte tritt zunächst mehrfach gegen die Frontscheinwerfer des RTW, sodass diese beschädigt werden. Dann versucht er, Till mit einem Gürtel zu schlagen. In dieser Situation liegt ein Angriff auf Sachwerte und auf die körperliche Unversehrtheit vor.

Wichtig ist, dass es sich bei dem Angriff um einen gegenwärtigen Angriff handeln muss. Dies bedeutet, dass der Angriff entweder bereits begonnen haben oder unmittelbar bevorstehen muss. Beendet ist ein Angriff immer dann, wenn er durch eine etwaige Gegenwehr nicht mehr abgewendet werden kann. Die Grenzen können hier fließend sein, daher lassen sich bei der Vielzahl an möglichen Situationen im Rahmen eines Einsatzes auch nicht alle möglichen Konstellationen darstellen. R e ch t in e c ht Im zuvor geschilderten Fall (Fall 7.26) verlässt der Dritte den Parkplatz und Marie und Till können sich um die hilfsbedürftige Person kümmern. Kurze Zeit später kommt der junge Mann zurück zum Parkplatz, geht jedoch nicht Richtung RTW, sondern in eine ganz andere Richtung, zu einem dort geparkten PKW. Till erkennt in dem Dritten den Angreifer von vor einigen Minuten wieder, rennt auf diesen zu und tritt ihm von hinten in den Rücken, um ihn kampfunfähig zu machen. In diesem Fall besteht keine Notwehrlage mehr. Der Angriff war mit dem Wegdrehen nach dem Schlag mit dem Gürtel und dem Verlassen des Parkplatzes beendet. Es droht keine unmittelbare Verletzung rechtlicher Güter/Interessen; der Dritte bewegt sich nicht einmal in die Richtung des RTW. Der Tritt in den Rücken bei erneutem Auftauchen des Dritten erfolgt demnach nicht mehr aufgrund einer Notwehrlage. Dies schließt die Berufung auf diesen Rechtfertigungsgrund aus. Der Angriff muss zudem rechtswidrig sein. Dies ist zunächst immer dann der Fall, wenn die Angriffshandlung objektiv gegen die

Rechtsordnung verstößt. Allerdings kann ein Angriff womöglich selbst durch einen Rechtfertigungsgrund gerechtfertigt sein. Ein gerechtfertigter Angriff ist in diesem Fall nicht rechtswidrig. Gegen einen gerechtfertigten Angriff im Rahmen der Notwehr oder des rechtfertigenden Notstands ist keine Notwehr zulässig. Liegt ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff vor, ist es zulässig, sich im Rahmen der nachfolgenden Darstellungen auf Notwehr zu berufen. Notwehrhandlung Die Möglichkeiten, sich im Rahmen einer Notwehrlage zu verteidigen, sind zwar sehr umfassend, jedoch nicht vollkommen ohne Beschränkungen. Die Beschränkungen des Einsatzes von Notwehr werden durch die Erforderlichkeit und Gebotenheit beschränkt. Dies bedeutet, dass sich die angegriffene Person mit dem mildesten wirksamen Mittel verteidigen darf. Dabei braucht sich die Person jedoch nicht auf unsichere Mittel zu verlassen, sondern darf sich des wirksamsten Mittels bedienen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu wissen, dass das Abwehrmittel u. a. von der Gefährlichkeit der angreifenden Person abhängt und auch davon, ob diese ggf. selbst bewaffnet ist. Bei alledem wird eine Flucht oder Weglaufen grds. nicht verlangt. Entsprechend dem Grundsatz, dass „das Recht dem Unrecht nicht zu weichen braucht“, muss dies aus rechtlicher Sicht nicht in Betracht gezogen werden. Jedoch können, je nach Situation, andere Verteidigungsmaßnahmen angemessen sein, z. B. Beiseitetreten, Ducken, Ausweichen oder die verfügbare Hilfe Dritter in Anspruch nehmen.

Zwar werden von Mitarbeitenden des Rettungsdienstes im Rahmen der beruflichen Tätigkeit keine Schusswaffen oder Messer mitgeführt, der Vollständigkeit halber sei hier jedoch erwähnt, dass der Einsatz solcher Mittel nur als Ultima Ratio, also als letztmöglicher Weg, zulässig ist. Insbesondere darf beim Vorhandensein solcher Mittel nur nach einem abgestuften Vorgehen gehandelt werden. Dies bedeutet, der Einsatz eines solchen Mittels muss zunächst angedroht werden. Führt diese Androhung nicht zu einer Beendigung des Angriffs, darf mit dem Mittel zunächst nur auf weniger sensible Körperteile gezielt werden, also solche, bei denen keine lebensgefährlichen Verletzungen zu erwarten sind. Erst als letzte Möglichkeit darf das Mittel unbeschränkt eingesetzt werden, wenn die anderen beiden Möglichkeiten nicht zu einer Beendigung des Angriffs geführt haben. Im Gegensatz zum rechtfertigenden Notstand findet im Rahmen der Notwehr keine Güterabwägung statt. Jedoch kann das Notwehrrecht bei einem krassen Missverhältnis zwischen Abwehr und drohendem Schaden eingeschränkt sein. R e ch t in e c ht (Fall 7.27) Notfallsanitäterin Marie und Rettungssanitäterin Ida sind mit dem RTW im Einsatz in einer Patientenwohnung. Der Patient hat leichte Atembeschwerden und wird von Marie und Ida untersucht. Während der Untersuchung läuft das sechsjährige Kind des Patienten im Zimmer herum und bewirft Marie gelegentlich mit leichten Kunststoff-Bauklötzen. Als diese einen der Bauklötze gegen das Auge bekommt, was mit einem leichten Schmerz verbunden ist, geht sie zu dem 6-jährigen Kind, holt aus und schlägt ihm mit der flachen Hand kräftig auf die Wange.

Dies ist ein Beispiel für ein krasses Missverhältnis zwischen Abwehr und drohendem Schaden. Ein solch krasses Missverhältnis kann oftmals bei Angriffen von Kindern relevant werden. Besonderheiten im Rettungsdienst Das Notwehrrecht kann in bestimmten Situationen eingeschränkt sein, eine solche Situation kann auch im Rahmen der rettungsdienstlichen Tätigkeit Bedeutung gewinnen. Dabei handelt es sich um die Fallgruppe, bei welcher der Angriff ungezielt ist und durch eine schuldlos handelnde Person erfolgt. Unter diese Personengruppe können Menschen mit psychischen Erkrankungen, Betrunkene oder sonstige Personen fallen, die aufgrund des Konsums von Drogen oder Medikamenten beeinträchtigt sind. Kommt es durch derartige Personen zu Angriffen, bei der diese z. B. ungezielt um sich schlagen, darf die Notwehrhandlung nur entsprechend einem abgestuften Vorgehen erfolgen. Zunächst muss hier nach Möglichkeit ausgewichen werden. Sofern dies nicht ausreicht, ist Schutzwehr zulässig, also alle Maßnahmen, durch die der Angriff abgeblockt wird. Erst wenn auch dies nicht erfolgreich ist, darf zur sog. Trutzwehr übergegangen werden, also auf die angreifende Person mit dem mildesten wirksamen Mittel eingewirkt werden, um den Angriff zu beenden. Me r k e Abgestuftes Vorgehen bedeutet: • Ausweichen • Schutzwehr → Abblocken des Angriffs

• Trutzwehr → Gegenangriff auf die körperliche Unversehrtheit der angreifenden Person

Ein derart abgestuftes Vorgehen wird auch in solchen Fällen verlangt, in denen der Angriff durch die angegriffene Person provoziert wurde.

7.3.2 Nothilfe Der Einsatz von Notwehr ist nicht nur in den Fällen zulässig in denen man selbst angegriffen wird. Auch wenn Dritte angegriffen werden, darf dieser Angriff entsprechend den zuvor beschriebenen Möglichkeiten beendet werden (Nothilfe). Dies kann z. B. dann relevant werden, wenn Kolleg*innen oder Patient*innen angegriffen werden. R e ch t in e c ht (Fall 7.28) Notfallsanitäterin Marie und Rettungssanitäter Till befinden sich mit dem RTW in einem Notfalleinsatz und behandeln eine 60-jährige Patientin in deren Wohnung nach einem Schwächeanfall. Nach kurzer Zeit kommt der Mitbewohner in die Wohnung und ist aufgebracht, dass fremde Personen in der Wohnung sind. Er ist wütend, schreit und lässt sich durch die Patientin nicht beruhigen. Plötzlich greift der Mitbewohner die Patientin am Kragen, zieht sie aus dem Sessel hoch und drückt sie gegen eine Wand. Hier liegt ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff des Mitbewohners auf die Patientin vor. Dies berechtigt Marie und Till im Rahmen der Nothilfe tätig zu werden.

7.3.3 Rechtfertigender Notstand Der rechtfertigende Notstand ist ein Rechtfertigungsgrund, der im Rahmen der rettungsdienstlichen Tätigkeit in verschiedenen Situationen Bedeutung gewinnen kann. Gesetzliche Grundlage für den rechtfertigenden Notstand ist § 34 StGB. § 34 StGB Rechtfertigender Notstand Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden. Der rechtfertigende Notstand greift als Rechtfertigungsgrund dann, wenn eine Notstandslage vorliegt und eine zulässige Notstandshandlung vorgenommen wird. Notstandslage Für die Inanspruchnahme des rechtfertigenden Notstands ist es erforderlich, dass eine Notstandslage besteht. Die Notstandslage ist gekennzeichnet durch eine gegenwärtige Gefahr für ein notstandsfähiges Rechtsgut. In § 34 StGB werden u. a. die Rechtsgüter Leben, Leib, Freiheit und Eigentum genannt, diese Rechtsgüter können im rettungsdienstlichen Kontext bedeutsam sein. Me r k e

Gefährdete Rechtsgüter, die für den Rettungsdienst eine Notstandslage begründen können, sind insb. Leben, Leib, Freiheit und Eigentum. Für eines dieser Rechtsgüter muss eine gegenwärtige Gefahr bestehen. Eine solche Gefahr liegt immer dann vor, wenn die Weiterentwicklung eines Zustands den Eintritt oder die Intensivierung eines Schadens ernsthaft befürchten lässt. Beispiele aus dem Rettungsdienst können dabei z. B. folgende Situationen sein: • Angriffe durch Tiere (hier kommt juristisch keine Notwehr in Betracht, da diese nur gegen einen Angriff durch Menschen möglich ist), • Einwirkung auf Sachwerte (Türen, Fenster, Zäune), um Zugang zur Patient*in zu bekommen, oder • Verletzung der Schweigepflicht, um höherwertige Rechtsgüter zu schützen. • Die Durchführung einer medizinischen Maßnahme, zu welcher die handelnde Berufsgruppe originär nicht befugt ist. Im Rahmen des rechtfertigenden Notstands kann auch eine Dauergefahr eine Notstandslage begründen. Eine solche Dauergefahr liegt immer dann vor, wenn in einer aktuellen Situation zwar keine Gefahr besteht, diese jedoch aufgrund der Umstände jederzeit eintreten und zu Rechtsgutbeeinträchtigungen führen kann.

Notstandshandlung Die Notstandshandlung muss geeignet sein, die Gefahr abzuwenden. Dabei findet eine Abwägung der gegenüberstehenden Rechtsgüter statt. Auf der einen Seite das Rechtsgut, für welches eine Gefahr besteht, auf der anderen Seite das Rechtsgut, in welches eingegriffen wird. Im Rahmen der Notstandshandlung ist ein Eingriff in ein anderes Rechtsgut nur dann zulässig, wenn das Rechtsgut, für welches eine Gefahr besteht, dieses andere Rechtsgut wesentlich überwiegt. Beispielsweise werden Leben und Gesundheit i. d. R. stets Sachwerte überwiegen. Es muss demnach stets ein Rangverhältnis gebildet werden. Dabei muss das geschützte Rechtsgut gegenüber dem verletzten Rechtsgut im Rahmen der Abwägung wesentlich überwiegen. Steht das Rangverhältnis fest, gilt für die Notstandshandlung, dass bei mehreren möglichen Handlungsalternativen das mildeste wirksame Mittel gewählt werden muss. Me r k e Im Rahmen der Notstandshandlung findet immer eine Abwägung der gegenüberstehenden Rechtsgüter statt. Das geschützte Rechtsgut muss dabei wesentlich gegenüber dem Rechtsgut überwiegen, in das eingegriffen wird. Das Leben und die Gesundheit überwiegen stets gegenüber Sachwerten. R e ch t in e c ht (Fall 7.29) Notfallsanitäterin Marie und Rettungssanitäter Till sind mit dem RTW zu einem Einsatz in einer Erdgeschosswohnung alarmiert. Der Nachbar hat seine Nachbarin

bewusstlos im Wohnzimmer liegen sehen. Türen und Fenster sind verschlossen. Bei Eintreffen liegt eine blasse Patientin bewusstlos auf dem Boden im Wohnzimmer, Lebenszeichen sind nicht erkennbar. Zwar ist die Feuerwehr zur Türöffnung mitalarmiert, jedoch braucht diese noch mindestens zehn Minuten zur abgelegenen Einsatzstelle. Marie entschließt sich kurzerhand, mit einem Gartenstuhl, der vor der verschlossenen Tür steht, die Scheibe einzuschlagen und darüber in die Wohnung zu gelangen. Durch das Einschlagen der Scheibe erfüllt Marie den Straftatbestand der Sachbeschädigung (› Kap. 7.5.8). Strafbar ist sie in diesem Fall jedoch nicht, da der rechtfertigende Notstand als Rechtfertigungsgrund greift. Hier bestand eine gegenwärtige Gefahr für die Gesundheit der Patientin, diese lag bewusstlos im Wohnzimmer. Ein schneller Zugang zur Patientin war nicht möglich. Um sich Zugang zu verschaffen, hat Marie die Scheibe der Wohnzimmertür mit einem Gartenstuhl eingeschlagen. Beim Vergleich der beiden betroffenen Rechtsgüter – auf der einen Seite das Leben und die Gesundheit der Patientin, auf der anderen Seite der Sachwert der Wohnzimmertür – ist von einem Überwiegen des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit auszugehen. Die tatbestandliche Sachbeschädigung ist damit gerechtfertigt und Marie nicht strafbar. Besonderheiten im Rettungsdienst Im Rettungsdienst kann der rechtfertigende Notstand insb. dann relevant werden, wenn zur Rettung des Lebens und zur Versorgung von lebensbedrohlich Erkrankten und Verletzten ein Eingriff in Sachwerte erforderlich ist. In rechtlicher Hinsicht stehen sich in

diesen Situationen Leben bzw. Gesundheit und Eigentum gegenüber. Hier können nach einer entsprechenden Abwägung Leben und Gesundheit als schützenswerter angesehen werden, mit der Folge, dass in Sachwerte bzw. Eigentum eingegriffen werden darf. Dies betrifft z. B. Situationen, in denen Patient*innen hinter verschlossener Tür vorgefunden werden. Liegt hier eine lebensbedrohliche Situation vor und gibt es keine Möglichkeit, die Wohnung auf andere Weise zu betreten, kann es im Rahmen des rechtfertigenden Notstands gerechtfertigt sein, Türen oder Fenster zu beschädigen, um Zutritt zur Wohnung zu erlangen. Jeder Eingriff in die körperliche Unversehrtheit einer Patient*in erfüllt den Straftatbestand der Körperverletzung. Dabei ist unerheblich, ob der Eingriff zum Zwecke der Schädigung oder der Heilung erfolgt. Maßnahmen des Rettungsdienstes, die mit einem Eingriff in die körperliche Unversehrtheit verbunden sind, erfüllen damit zunächst einmal den Straftatbestand der Körperverletzung. Um nicht strafbar zu sein, bedarf es eines Rechtfertigungsgrundes. Dies ist i. d. R. die rechtfertigende Einwilligung (ausdrücklich oder mutmaßlich). Neben diesem Aspekt muss jedoch beachtet werden, dass invasive Maßnahmen des Rettungsdienstes i. d. R. heilkundliche Maßnahmen sind. Die Ausübung der Heilkunde ist in Deutschland streng geregelt, diese Regelungen finden sich im Heilpraktikergesetz (HeilprG). Wer Heilkunde ausüben möchte, bedarf danach einer Erlaubnis (vgl. › Kap. 4.1.5). Diese Anforderung kann nicht durch eine Einwilligung der Patient*in umgangen werden. Dies bedeutet, dass selbst dann, wenn eine invasive Maßnahme in strafrechtlicher Hinsicht durch eine

Einwilligung gerechtfertigt wäre, noch immer ein Verstoß gegen das HeilprG vorliegen würde, der gem. § 5 HeilprG strafbar ist. Vor diesem Hintergrund hat die Bundesärztekammer im Jahr 1992 eine Stellungnahme veröffentlicht, mit welcher eine sog. Notkompetenz für Rettungsassistent*innen in den Raum gestellt wurde. In dieser Stellungnahme wurde geregelt, wie ärztliche Leistungen an Rettungsassistent*innen delegiert werden können und wie Rettungsassistent*innen ohne ärztliche Delegation im Einzelfall heilkundlich tätig werden können. Für die zweite Kategorie wurde ausgeführt, dass es sich bei der Ausübung der Heilkunde im Einzelfall ohne ärztliche Delegation um einen Fall des rechtfertigenden Notstands handele, der als Notkompetenz bezeichnet wurde. Das Handeln im Rahmen der Notkompetenz wurde an enge Voraussetzungen geknüpft. Für Notfallsanitäter*innen gibt es bzgl. der Ausübung heilkundlicher Maßnahmen auch invasiver oder medikamentöser Art nunmehr spezielle gesetzliche Regelungen aus § 2a und § 4 NotSanG (› Kap. 4.2.4). Danach dürfen Notfallsanitäter*innen derartige Maßnahmen unter bestimmten Voraussetzungen durchführen, ohne auf den rechtfertigenden Notstand angewiesen zu sein. Die Notkompetenzregelung ist für Notfallsanitäter*innen an dieser Stelle also obsolet. Für alle anderen Qualifikationsstufen im Rettungsdienst (RettAss, RettSan, RettH) kann eine Berufung auf den rechtfertigenden Notstand jedoch weiterhin von Bedeutung sein. Voraussetzung für die Inanspruchnahme dieses Rechtfertigungsgrundes ist zunächst eine den Umständen angemessene umfassende Untersuchung der

Patient*in. Darüber hinaus sind die von der Bundesärztekammer vorgegebenen Voraussetzungen zu beachten: • Die behandelnde Person ist auf sich gestellt und eine ärztliche Hilfe ist nicht rechtzeitig erreichbar. • Die Maßnahmen dienen der unmittelbaren Abwehr einer Gefahr für das Leben oder die Gesundheit der Patient*in. • Es gibt keine weniger invasiven Maßnahmen, die das Ziel ebenso gut erreichen. • Die Durchführung der Maßnahme ist der behandelnden Person unter den Umständen des Einzelfalls zumutbar (die behandelnde Person hat die Maßnahme erlernt und beherrscht sie). Bei genauer Betrachtung fällt auf, dass diese Notkompetenzregelung als „Regelkompetenz“ der Notfallsanitäter*innen in das NotSanG aufgenommen wurde (insb. in §§ 2a, 4 Abs. 2 Nr. 1c NotSanG). Me r k e Mit Einführung des Berufsbildes Notfallsanitäter*in und dem dazugehörigen NotSanG (insb. §§ 2a, 4 Abs. 2 Nr. 1c NotSanG) hat die sog. Notkompetenz im Rahmen des rechtfertigenden Notstands massiv an Bedeutung verloren. Zur Rechtfertigung im Rettungsdienst kommt diese nur noch äußerst selten zur Anwendung.

7.3.4 Rechtfertigende Einwilligung

Die rechtfertigende Einwilligung ist ein strafrechtlicher Rechtfertigungsgrund und gesetzliche Folge des Selbstbestimmungsrechts sowie des Rechts auf körperliche Unversehrtheit (› Kap. 2.2.2). Sie dient dem Schutz der Patient*innen vor Körperverletzungen und gewährleistet gleichzeitig Patientenautonomie. Jede invasive Maßnahme erfüllt den Straftatbestand der Körperverletzung (› Kap. 7.5.1). Allerdings können diese Körperverletzungen gerechtfertigt und somit straffrei sein, wenn ein Rechtfertigungsgrund vorliegt. In Rettungsdienst und Notfallmedizin ist dies im Regelfall die rechtfertigende Einwilligung. Me r k e Die rechtfertigende Einwilligung ist für den Rettungsdienst der wichtigste und häufigste Rechtfertigungsgrund. Damit eine solche Einwilligung wirksam und dadurch rechtfertigend ist, müssen grds. einige aufeinander aufbauende Voraussetzungen erfüllt sein: • Einwilligungsfähigkeit der Patient*in • Aufklärung der Patient*in • Erteilung der Einwilligung Detaillierte Ausführungen zu den Themen Einwilligungsfähigkeit, Aufklärung und Dokumentation finden sich in › Kap. 6.3.3.

7.3.5 Rechtfertigende Pflichtenkollision Ein weiterer für den Rettungsdienst relevanter Rechtfertigungsgrund ist die rechtfertigende Pflichtenkollision. Dieser

Rechtfertigungsgrund kommt immer dann zur Anwendung, wenn eine Person verpflichtet ist, mehrere Pflichten zu erfüllen, dies jedoch in der konkreten Situation tatsächlich nicht kann. Wenn eine Pflicht nicht gleichzeitig neben einer anderen Pflicht erfüllt werden kann, muss zwangsläufig eine der Pflichten unterlassen werden. Eine Strafbarkeit in Form des „Begehen durch Unterlassen“ ist im Rettungsdienst in mehreren Situationen denkbar (› Kap. 7.2.3); hier kann die rechtfertigende Pflichtenkollision ein eigentlich strafbares Unterlassen rechtfertigen. Die rechtfertigende Pflichtenkollision kann im Einsatz insb. dann in Betracht kommen, wenn eine RTW-Besatzung ersteintreffend an einer Einsatzstelle ist, an der sich mehrere verletzte Personen befinden. In diesen Fällen ist es tatsächlich nicht möglich, alle Verletzten gleichzeitig zu versorgen. Dieser Umstand darf dann jedoch nicht zu einer Strafbarkeit wegen Unterlassung führen. Daher ist es rechtlich zulässig, das Vorgehen in diesen Fällen zu priorisieren. Dies bedeutet, dass bei einer unklaren Lage zunächst eine erste Vorsichtung durchgeführt werden darf, um schnell und zielgerichtet weitere Einsatzkräfte zur Einsatzstelle nachzufordern. Anschließend kann entsprechend der medizinischen Notwendigkeit eine priorisierte Behandlung einzelner Patient*innen vorgenommen werden. Eine etwaige Unterlassung der Hilfe anderer Verletzter ist dann aufgrund des Rechtfertigungsgrundes der rechtfertigenden Pflichtenkollision nicht strafbar. Triage Stehen für eine große Anzahl von Patient*innen nur eine begrenzte Anzahl an Versorgungskapazitäten zur Verfügung, die nicht

ausreichen, um alle entsprechend der medizinischen Notwendigkeit zu versorgen, muss entschieden werden, wer behandelt werden kann und wer nicht (Triage). Ist der Rettungsdienst im Rahmen eines größeren Schadensereignisses mit einer solchen Situation konfrontiert, kann nach einer Sichtung aller Betroffenen eine priorisierte Behandlung der Patient*innen entsprechend der medizinischen Notwendigkeit erfolgen. Die medizinische Sichtung wird durch die leitende Notärzt*in vorgenommen.

7.4 Entschuldigungsgründe Ist der Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht und greifen keine Rechtfertigungsgründe, besteht noch eine weitere Möglichkeit, dafür nicht strafbar zu sein (› Kap. 7.1.4). Auf der Ebene der Entschuldigungsgründe wird geprüft, ob der handelnden oder unterlassenden Person aus bestimmten persönlichen Gründen nicht zugemutet werden kann, sich normgemäß zu verhalten. Liegt eine solche Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens vor, kann eine Strafbarkeit ausscheiden. Da die Entschuldigungsgründe auf individuelle persönliche Situationen Bezug nehmen, ist die Relevanz für die Tätigkeit im Rettungsdienst überschaubar. Vor diesem Hintergrund soll hier nur erwähnt werden, dass es auch einen entschuldigenden Notstand gibt, der in § 35 StGB geregelt ist.

7.4.1 Überschreitung der Grenzen der Notwehr Eine gewisse Relevanz für den Rettungsdienst kann die Situation erlangen, in der die Grenzen der Notwehr überschritten werden (sog. Notwehrexzess). Dieser Entschuldigungsgrund kann

immer dann relevant werden, wenn eine Notwehrlage vorliegt, das Handeln des Notwehr Ausübenden jedoch die Grenzen der Notwehr überschreitet. A c ht u ng Liegt schon in zeitlicher Hinsicht keine Notwehrlage (gegenwärtiger Angriff) vor, kommt eine Berufung auf den Notwehrexzess nicht in Betracht. Eine zeitliche Überschreitung der Grenzen der Notwehr kann unter Berufung auf § 33 StGB nicht entschuldigt werden. In Betracht kommt lediglich die Handlung, in welcher sich die verteidigende Person intensiver verteidigt, als eigentlich erforderlich wäre. Entschuldigt werden kann die Handlung zudem nur dann, wenn die angegriffene Person die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken überschreitet und sich dabei intensiver verteidigt, als es in der jeweiligen Situation angemessen wäre. R e ch t in e c ht (Fall 7.30) Notfallsanitäterin Marie und Rettungssanitäter Till haben mit dem RTW einen Notfalleinsatz in der Wohnung einer Patientin. Die Patientin hat einen Herzinfarkt. Vor Ort ist die Stimmung aufgeheizt, da der Ehemann der Patientin fortwährend die Versorgung der Patientin stört und meint, die Versorgung sei nicht angemessen. Bei einer Diskussion zwischen Till und dem Ehemann greift dieser Till mit der Hand an den Oberarm, um ihn beiseitezuschieben. Till erschreckt sich aufgrund des plötzlichen körperlichen Übergriffs und schlägt dem Ehemann mit der Faust

mehrfach so stark ins Gesicht, dass dieser benommen zu Boden taumelt und eine Nasenbeinfraktur erleidet. In dieser Situation lag zwar ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff vor, die Abwehrhandlung von Till stand jedoch in einem krassen Missverhältnis zur Art des Angriffs. Da die überzogene Notwehrhandlung hier jedoch durch den Schrecken hervorgerufen wurde, wäre Till am Ende nicht strafbar.

7.5 Relevante Straftatbestände aus dem StGB David Winkenbach Im StGB gibt es eine Vielzahl von Straftatbeständen. Für Rettungsdienst und Notfallmedizin lassen sich einige Strafnormen hervorheben, die einen besonderen Bezug zu Notfalleinsätzen aufweisen. Um im Einsatz rechtssicher handeln zu können, kommen Rettungsdienstmitarbeitende nicht umhin, diese Vorschriften zu kennen.

7.5.1 Körperverletzungsdelikte Durch die Strafandrohung der Körperverletzungsdelikte werden die körperliche Integrität und Gesundheit einer Person geschützt. Die Körperverletzungsdelikte sind im StGB u. a. in den §§ 223, 224, 226, 227, 229 StGB geregelt und lassen sich zunächst in vorsätzliche und fahrlässige Delikte unterteilen (vgl. zu Vorsatz und Fahrlässigkeit › Kap. 7.1.4). Bei vorsätzlicher Körperverletzung wollen Handelnde die Verletzung einer anderen Person und

wissen, dass die jeweilige Handlung zu einer Verletzung führen wird. Hierzu zählen: • Einfache Körperverletzung, § 223 StGB • Gefährliche Körperverletzung, § 224 StGB • Schwere Körperverletzung, § 226 StGB • Körperverletzung mit Todesfolge, § 227 StGB Bei fahrlässiger Körperverletzung resultiert die Verletzung einer anderen Person aus einem Außer-Acht-Lassen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt der Handelnden. Hierzu gibt es nur eine Strafvorschrift: • Fahrlässige Körperverletzung, § 229 StGB Grundsätzlich können alle Körperverletzungsdelikte durch aktives Tun, aber auch durch Unterlassen eines Garanten im Sinne des § 13 StGB begangen werden (› Kap. 7.2.3). Dies hat vor dem Hintergrund der Garantenstellung von behandelnden Fachkräften eine besondere Relevanz für den Rettungsdienst. In § 223 StGB ist das Grunddelikt, die einfache Körperverletzung, normiert. Der hier beschriebene Grundtatbestand muss für alle Körperverletzungsdelikte erfüllt sein und ist besonders relevant, da er die Schwelle zur Strafbarkeit wegen jeglicher Körperverletzung darstellt. Das Grunddelikt kann in vorsätzlicher (§ 223 StGB) und fahrlässiger Form (§ 229 StGB) begangen werden. Dazu kommen weitere Körperverletzungsdelikte, die eine einfache Körperverletzung durch einen besonderen Erfolg oder eine

besondere Handlung qualifizieren, und dadurch mit einer höheren Strafe bedroht sind. Einfache Körperverletzung § 223 StGB Die einfache Körperverletzung (Grunddelikt) ist in § 223 StGB geregelt. Hier wird beschrieben, dass bestraft wird, wer vorsätzlich eine körperliche Misshandlung oder eine Gesundheitsschädigung an einer anderen Person herbeiführt (vgl. › Kap. 7.1.4). § 223 StGB Körperverletzung (1) Wer eine andere Person körperlich misshandelt oder an der Gesundheit schädigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Die Begriffe „körperliche Misshandlung“ und „Gesundheitsschädigung“ sind sehr abstrakt. Daher wurden Definitionen erarbeitet, um diese besser auf konkrete Fälle anwenden zu können. • Eine körperliche Misshandlung ist jede üble, unangemessene Behandlung, die das körperliche Wohlbefinden oder die körperliche Unversehrtheit nicht nur unerheblich beeinträchtigt. • Eine Gesundheitsschädigung ist das Hervorrufen oder Steigern eines vom Normalzustand negativ abweichenden, pathologischen Zustands. Alles, was sich unter diese Definitionen einordnen (subsumieren) lässt, kann folglich als Tatbestandserfolg im Sinne einer

Körperverletzung verstanden werden. R e ch t in e c ht Beispiele und Negativbeispiele zur körperlichen Misshandlung • Schmerzhafte Ohrfeige (erhebliches Beeinträchtigen des körperlichen Wohlbefindens) • Faustschläge oder Würgen (erhebliches Beeinträchtigen des körperlichen Wohlbefindens) • Beschmieren des Körpers mit schwer entfernbaren Materialen (erhebliches Beeinträchtigen des körperlichen Wohlbefindens) • NICHT: Spucken ins Gesicht (nur unerhebliche Beeinträchtigen des körperlichen Wohlbefindens) • NICHT: Festes Zupacken am Arm (nur unerhebliche Beeinträchtigen des körperlichen Wohlbefindens) • NICHT: Angsteinflößen oder starken Ekel auslösen (nur Beeinträchtigung des psychischen Wohlbefindens) Beispiele und Negativbeispiele zur Gesundheitsschädigung • Hervorrufen von Erkrankungen, Frakturen, Infektionen, Wunden, Hämatomen, Vergiftungen, Bauchschmerzen, Übelkeit und Erbrechen (vom Normalzustand negativ abweichender Zustand) • Herbeiführen von Trunkenheit, Rauschzuständen, Bewusstlosigkeit oder Schlaf durch Alkohol, Drogen oder

Tabletten (vom Normalzustand negativ abweichender Zustand) • NICHT: Hautrötungen, sehr kleine Nadelstiche oder Kratzer (unterhalb der Erheblichkeitsschwelle) • NICHT: Psychisch bedingtes Herzklopfen/-rasen oder Weinkrämpfe (unterhalb der Erheblichkeitsschwelle)

In vielen Fällen treten die Merkmale der körperlichen Misshandlung und der Gesundheitsschädigung in Kombination auf. Es ist nicht zwingend notwendig, hier in jedem Fall zu differenzieren, die Merkmale können einzeln oder zusammen den Tatbestand der Körperverletzung erfüllen. Ein kräftiger Schlag auf den Brustkorb einer Person kann z. B. zum einen starke Schmerzen hervorrufen (körperliche Misshandlung) und gleichzeitig zu einer Rippenfraktur und einem Hämatom führen (Gesundheitsschädigung). Der Tatbestand der Körperverletzung wäre in jedem Fall erfüllt. Allerdings wäre er auch dann erfüllt, wenn nur eines der beiden Merkmale vorläge. Auch Körperverletzungsdelikte können durch das Unterlassen eines Garanten verwirklicht werden (› Kap. 7.2.3). Sofern eine Rechtspflicht zum Einschreiten besteht (Garantenpflicht, § 13 StGB), kann schon das bloße Aufrechterhalten eines Zustands, der den Tatbestand der Körperverletzung verwirklicht, ein Begehen der Körperverletzung durch Unterlassen darstellen, z. B. Aufrechterhalten von Schmerzen. Körperverletzung bei Heilberufen

Im Kontext vieler Heilberufe (z. B. Ärzt*in, Notfallsanitäter*in oder Pflegefachfrau/-mann) kommen häufig Eingriffe vor, die sich unter die Tatbestände der Körperverletzungsdelikte einordnen (subsumieren) lassen. Allerdings ist das Bestreben solcher Heilbehandlungen eigentlich, die Gesundheit der Patient*innen zu verbessern, sodass es mitunter schwerfällt, derartige Behandlungen als Gesundheitsschädigung oder körperliche Misshandlung zu verstehen. Es wird jedoch allgemein vertreten, dass es sich auch bei Heileingriffen um Körperverletzungen im Sinne der §§ 223 ff. StGB handelt, wenn sie eine gewisse Erheblichkeitsschwelle überschreiten. Diese Erheblichkeitsschwelle kann dabei allerdings bereits beim Stechen mit einer medizinischen Nadel (insb. Venenverweilkanüle) erreicht werden. Me r k e Medizinische Heilbehandlungen erfüllen den Tatbestand der Körperverletzung, auch wenn sie dazu dienen, die Gesundheitssituation der Patient*innen zu verbessern. Daran ändert es auch nichts, wenn die Heilbehandlung, z. B. durch ein medizinisches Instrument oder Medikament, korrekt und „der Kunst gerecht“ durchgeführt wird. Hintergrund dafür ist, dem Selbstbestimmungsrecht der Patient*innen ausreichend Rechnung zu tragen. Patient*innen müssen die Behandlung selbst uneingeschränkt wollen und folglich in jedweden Eingriff sowie die damit verbundenen Folgen oder Risiken einwilligen. Aufklärung und Einwilligung erlangen damit eine bedeutende Rolle für den Ausschluss einer Strafbarkeit wegen

Körperverletzungen im medizinischen Bereich. Das medizinische Personal gelangt dadurch unter einen hohen Rechtfertigungsdruck im juristischen Sinne, sobald Heilbehandlungen durchgeführt werden, die den Tatbestand eines Körperverletzungsdelikts verwirklichen können. A c ht u ng Häufig bewirken nur Rechtfertigungsgründe (z. B. Einwilligung, mutmaßliche Einwilligung, selten auch der rechtfertigende Notstand), dass ein medizinischer Heileingriff keine strafbare Körperverletzung darstellt, obwohl der Tatbestand bereits erfüllt ist. Gefährliche Körperverletzung Wird eine Körperverletzung durch eine besonders schwerwiegende Handlung verursacht, liegt eine gefährliche Körperverletzung vor. Fünf gefährliche Begehungsweisen führen zu einer gefährlichen Körperverletzung: § 224 StGB Gefährliche Körperverletzung (1) Wer die Körperverletzung 1. durch Beibringung von Gift oder anderen gesundheitsschädlichen Stoffen, 2. mittels einer Waffe oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs, 3. mittels eines hinterlistigen Überfalls, 4. mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich oder 5. mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung

begeht, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis

zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. Diese Vorschrift hat auch für den Rettungsdienst eine besondere Relevanz, da sich einige Begehungsweisen auf alltägliche Handlungen in der Notfallmedizin beziehen lassen. So können z. B. Medikamente mit starken Nebenwirkungen durch ihre chemische/chemisch-physikalische Wirkung ein (gefährliches) Gift (§ 224 Abs. 1 Nr. 1 StGB) oder medizinische Geräte und Instrumente ein gefährliches Werkzeug (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB) darstellen. Hinzu kommt, dass an Rettungsdiensteinsätzen immer mehrere Personen zusammen agieren, was unter bestimmten Voraussetzungen als gemeinschaftliches Beteiligen (§ 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB) an einer Handlung gewertet werden kann. Auch sind Notfalleinsätze oft dadurch geprägt, dass das Leben der Patient*innen auf dem Spiel steht. Da Rettungsdienstmitarbeitende gegenüber den Patient*innen eine Garantenstellung innehaben, ist stets der Weg zu einem Begehen durch Unterlassen offen, was zur Folge hat, dass schließlich auch eine das Leben gefährdende (Nicht-)Behandlung (§ 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB) durch den Rettungsdienst in Betracht kommt. Wird eine das Leben rettende Behandlung unterlassen, kommt dadurch auch gefährliche Körperverletzung durch Unterlassen in Betracht. Wichtig ist, dass für die gefährliche Körperverletzung als subjektive Strafbarkeitskomponente (subjektiver Tatbestand) immer Vorsatz des Handelnden vorliegen muss. Der Vorsatz erstreckt sich dabei auch auf die gefährliche Begehungsweise (Qualifikation). Dies bedeutet, dass für das Bestehen einer vorsätzlichen gefährlichen

Körperverletzung die handelnde Person wissen muss, dass es sich z. B. bei einem Gegenstand um ein gefährliches Werkzeug handelt, das aufgrund seiner Beschaffenheit oder Art der Benutzung eine erhebliche Verletzung hervorrufen kann und diese erhebliche Verletzung auch will. R e ch t in e c ht (Fall 7.31) Notfallsanitäterin Marie versorgt einen bewusstseinsgetrübten Patienten mit einer instabilen tachykarden Herzrhythmusstörung. Sie entscheidet sich richtigerweise gem. den dafür vorgesehenen lokalen Protokollen, eine elektrische Kardioversion, zunächst mit 120 Joule, durchzuführen. Bei einer Kardioversion wird durch den Defibrillator ein RZacken-synchronisierter Stromschlag in den Körper des Patienten abgegeben. Hierdurch können u. a. starke Schmerzen, Herzmuskelverletzungen und ggf. Hitzeverletzungen hervorgerufen werden. Dies lässt sich als erhebliche Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens und damit als tatbestandliche Körperverletzung (§ 223 StGB) verstehen. Marie kommt es jedoch gerade auf die Wirkung des Stromschlages an, da die extreme Wirkweise der Kardioversion auch dazu geeignet ist, das Herz ggf. in einen physiologischen Rhythmus konvertieren zu lassen. Sie will und beabsichtigt den Stromschlag also, sodass Vorsatz bezüglich der Körperverletzung vorliegt. Der Defibrillator ist nach seiner objektiven Beschaffenheit und nach der Art seiner Benutzung im konkreten Fall dazu geeignet, erhebliche Verletzungen bzw. Schäden herbeizuführen. Bei dem Defibrillator handelt es sich folglich um ein gefährliches Werkzeug im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB. Da Marie die

konkrete „gefährliche“ Wirkung (und auch die damit einhergehenden Risiken) beabsichtigt, handelt sie auch vorsätzlich in Bezug auf diese Qualifikation. Bei der Kardioversion mit dem Defibrillator kommt also der tatbestandliche Erfolg der gefährlichen Körperverletzung (§§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB) in Betracht. Nun kommt es für eine etwaige Strafbarkeit von Marie maßgeblich darauf an, ob die Kardioversion rechtswidrig erfolgt ist. Hier könnte z. B. eine (mutmaßliche) Einwilligung die Handlungen rechtfertigen. Ist eine solche gegeben (› Kap. 6.3.3), kommt eine Strafbarkeit wegen der tatbestandlichen (gefährlichen) Körperverletzung nicht mehr infrage. Im Einzelnen besteht Uneinigkeit darüber, in welchen konkreten Zusammenhängen medizinische Maßnahmen als gefährliche Körperverletzung gewertet werden können. Teilweise wird bei dieser Bewertung auch die medizinische Qualifikation der handelnden Person berücksichtigt. Die meisten medizinischen Instrumente (sogar Venenverweilkanülen) lassen sich jedoch jedenfalls dann als gefährliches Werkzeug qualifizieren, wenn sie zu einer vorsätzlichen Schädigung und nicht zur medizinischen Hilfe genutzt werden. Dies ist dann nicht der Fall, wenn das handelnde Fachpersonal beabsichtigt zu helfen. Fehler, die nur aus Unachtsamkeit bei der Anwendung medizinischer Instrumente passieren, stellen eine fahrlässige Körperverletzung dar. Bei der fahrlässigen Körperverletzung gibt es keine weitere Strafverschärfung, wenn

gefährliche Gegenstände dabei verwendet werden; eine Qualifikation zur gefährlichen Körperverletzung ist folglich nicht möglich. Schwere Körperverletzung Resultieren aus einer Körperverletzung besonders schwerwiegende Folgen, regelt § 226 StGB die Qualifikation der einfachen Körperverletzung zu einer schweren Körperverletzung (sog. Erfolgsqualifikation). Hierzu gibt diese Strafnorm einen Katalog mit Folgearten an. § 226 StGB Schwere Körperverletzung (1) Hat die Körperverletzung zur Folge, dass die verletzte Person 1. das Sehvermögen auf einem Auge oder beiden Augen, das Gehör, das Sprechvermögen oder die Fortpflanzungsfähigkeit verliert, 2. ein wichtiges Glied des Körpers verliert oder dauernd nicht mehr gebrauchen kann oder 3. in erheblicher Weise dauernd entstellt wird oder in Siechtum, Lähmung oder geistige Krankheit oder Behinderung verfällt,

so ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren. (2) Verursacht der Täter eine der in Absatz 1 bezeichneten Folgen absichtlich oder wissentlich, so ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren. Tritt durch die Körperverletzung eine dieser Folgen ein, kommt eine Qualifikation zur schweren Körperverletzung in Betracht.

Wichtig ist dabei, dass zwischen dem Grunddelikt (der einfachen Körperverletzung) und dem qualifizierenden Erfolg (Nr. 1–3) ein spezifischer Zusammenhang bestehen muss. Voraussetzung ist also, dass schon die ursprüngliche einfache Körperverletzung (Grundtatbestand) die Gefahr beinhaltet, zu besonders schweren Folgen im Sinne des § 226 StGB zu führen. Eine Qualifikation von der einfachen zur schweren Körperverletzung kann nur aus dem Grunddelikt der einfachen vorsätzlichen Körperverletzung erfolgen. Ist die zugrundeliegende Körperverletzung fahrlässig begangen worden, kommt die Qualifizierung zur schweren Körperverletzung nicht in Betracht. Die schweren Folgen hingegen können sowohl vorsätzlich als auch fahrlässig passiert sein. Körperverletzung mit Todesfolge In § 227 StGB ist eine weitere, noch schwerwiegendere Qualifikationsfolge der Körperverletzung geregelt. Hier kann die einfache vorsätzliche Körperverletzung zu einer Körperverletzung mit Todesfolge qualifiziert werden, wenn die verletzte Person durch die Verletzung zu Tode kommt. § 227 StGB ähnelt insoweit dem § 226 (schwere Körperverletzung), nur dass die Folge eine andere ist – hier der Tod der verletzten Person. Voraussetzung ist demnach auch hier die vorsätzliche Verwirklichung des Grundtatbestands. Weitere Voraussetzung ist, dass zwischen dem Grunddelikt und dem qualifizierenden Erfolg (Tod) ein spezifischer Zusammenhang bestehen muss, durch den sich die Gefahr des tödlichen Erfolgs verwirklicht. § 227 StGB Körperverletzung mit Todesfolge

(1) Verursacht der Täter durch die Körperverletzung (§§223 bis 226a) den Tod der verletzten Person, so ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren. Für die Qualifikation der Körperverletzung mit Todesfolge ist Vorsatz hinsichtlich der zugrundeliegenden einfachen Körperverletzung und Fahrlässigkeit hinsichtlich der Todesfolge notwendig. Eine Körperverletzung mit Todesfolge verwirklicht gleichzeitig immer den Tatbestand der fahrlässigen Tötung (§ 222 StGB), welche jedoch hinter dem § 227 StGB zurückfällt. R e ch t in e c ht (Fall 7.32) Notfallsanitäter Fabian sitzt vor der Rettungswache und genießt seine Pause, als er an der anderen Straßenseite einen alten Bekannten sieht, der ihm noch eine erhebliche Menge Geld schuldet, sich aber nie bei Fabian gemeldet hat. Um ihm eine Abreibung zu verpassen, geht Fabian zu seinem Bekannten und schlägt ihm vorsätzlich mit der Faust ins Gesicht (= Körperverletzung). Dieser hat nicht mit dem Schlag gerechnet, gerät ins Taumeln und stürzt so unglücklich auf den Kopf, dass er ein schweres Schädel-Hirn-Trauma mit intrakranieller Blutung erleidet. Im Verlauf dieser Kopfverletzung kommt es zu derart schweren Hirnschädigungen, dass der Bekannte von Fabian schlussendlich durch eine geistige Behinderung dauerhaft stark eingeschränkt ist (= Erfolgsqualifikation zur schweren Körperverletzung). Diese schwere Folge wollte Fabian gar nicht. Allerdings gehört es zum zusammenhängenden Risiko eines solchen Faustschlags, dass die geschlagene Person auf den Kopf

stürzen und sich nachhaltige schwere Verletzungen zuziehen kann (= spezifischer Gefahrverwirklichungszusammenhang). Für Fabian kommt eine Strafbarkeit der schweren Körperverletzung in Betracht (§§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 3 i. V. m. § 18 StGB). (Fall 7.33) Würde Fabians Bekannter wie im obigen Fall (Fall 7.32) ebenfalls durch den Schlag ins Gesicht stürzen, sich allerdings dabei das Genick brechen und versterben, so kommt eine Strafbarkeit der Körperverletzung mit Todesfolge (§§ 223, 227 StGB) in Betracht. Auch wenn Fabian die tödliche Folge nicht wollte, kann hier gleichermaßen gesagt werden, dass ein Schlag ins Gesicht immer die Gefahr birgt, dass die geschlagene Person stürzt und sich dabei schwere oder auch tödliche Verletzungen zuzieht. Fahrlässige Körperverletzung Die fahrlässige Körperverletzung ist in § 229 StGB normiert. Auch hier muss eine körperliche Misshandlung und/oder eine Gesundheitsschädigend vorliegen. Entscheidend ist jedoch, dass dieser Straftatbestand durch Fahrlässigkeit, also das Außer-AchtLassen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt, begangen wird (› Kap. 7.1.4). § 229 StGB Fährlässige Körperverletzung Wer durch Fahrlässigkeit die Körperverletzung einer anderen Person verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Die fahrlässige Körperverletzung kann entweder durch aktives Tun, aber auch durch Unterlassen eines Garanten (§13 StGB)

verwirklicht werden. Insoweit hat dies besondere Relevanz für den Rettungsdienst und die damit verbundene Garantenstellung der Mitarbeitenden. Die Fahrlässigkeit kann auch zeitlich vorverlagert sein. So kommt Fahrlässigkeit bei einer aktuellen Patientenversorgung auch dann in Betracht, wenn z. B. zuvor der Rettungswagen in fahrlässiger Weise nicht adäquat gecheckt worden ist oder eine Rettungsdienstmitarbeiter*in trotz unzureichender Fachkompetenz in fahrlässiger Weise eine Schicht auf dem Rettungswagen übernimmt (› Kap. 4.6.4). Bei einer fahrlässigen Körperverletzung ist eine Qualifikation zur schweren Körperverletzung oder Körperverletzung mit Todesfolge nicht möglich. Solche schweren Folgen einer fahrlässigen Körperverletzung werden lediglich in der Strafzumessung (also bei dem Umfang der Strafe) berücksichtigt (ergibt sich aus § 46 StGB). Tritt jedoch durch eine fahrlässige Körperverletzung der Tod der verletzten Person ein, kommt die Strafvorschrift der fahrlässigen Tötung in Betracht (§ 222 StGB) (› Kap. 7.5.2).

7.5.2 Tötungsdelikte Tötungsdelikte sind Straftaten gegen das Leben eines Menschen. Schutzrichtung dieser Normen ist das Rechtsgut „Leben“ jedes Einzelnen. Je nach Beweggrund und Situation der Tötung gibt es verschiedene Strafvorschriften, die den Straftatbestand „Tod eines anderen Menschen“ unter Strafe stellen. Hierzu zählen z. B.: • Mord, § 211 StGB • Totschlag, § 212 StGB • Minder schwerer Fall des Totschlags, § 213 StGB • Tötung auf Verlangen, § 216 StGB

• Fahrlässige Tötung, § 222 StGB Für Rettungsdienst und Notfallmedizin ist v. a. die fahrlässige Tötung im Sinne des § 222 StGB relevant und dabei insb. die fahrlässige Tötung durch Unterlassen (§§ 222, 13 StGB) hervorzuheben. Zu den anderen hier genannten Strafvorschriften gilt, dass es stets Vorsatz hinsichtlich der Tötung bedarf, um eine Strafbarkeit zu begründen (sog. Tötungsvorsatz). Dies gilt für Tötung durch aktives Tun genauso wie für Tötung durch Unterlassen. Speziell für einen Mord (§ 211 StGB) gilt, dass die Art und Weise oder die Beweggründe der Tötungshandlung in besonderem Maße verwerflich ist, etwa aufgrund von Mordlust, Befriedigung des Geschlechtstriebs, Habgier, Heimtücke oder zur Verdeckung einer Straftat sowie durch gemeingefährliche Mittel. Fahrlässige Tötung und Fahrlässige Tötung durch Unterlassen Eine fahrlässige Tötung liegt vor, wenn jemand die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt und dadurch ein Mensch zu Tode kommt (vgl. › Kap. 7.1.4). § 222 StGB Fahrlässige Tötung Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Dieses Delikt kann sowohl durch ein aktives Tun als auch durch das Unterlassen eines Garanten verwirklicht werden. Zudem ist es hier nicht erforderlich, dass die handelnde Person den Tod des Menschen beabsichtigt oder billigend in Kauf nimmt. Subjektive Voraussetzung ist lediglich das eigenverantwortliche Außer-Acht-

Lassen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt (bewusst oder unbewusst). Hierdurch gewinnt die fahrlässige Tötung gem. § 222 StGB eine große Bedeutung für den Rettungsdienst. Wie bei anderen Fahrlässigkeitsdelikten muss auch bei der fahrlässigen Tötung das Handeln oder Nichthandeln der betroffenen Person ursächlich (kausal) für den Tatbestandserfolg der Tötung sowie ihr objektiv zurechenbar sein (vgl. › Kap. 7.1.4). Der Erfolg des Todes muss also gerade auf dem Pflichtverstoß der handelnden Person beruhen. Weiter muss der Tod vorhersehbar gewesen sein, was sich im notfallmedizinischen Kontext aber relativ häufig bejahen lässt. Notfallpatient*innen sind oft lebensbedrohlich erkrankt oder verletzt. Damit ist auch der Tatbestandserfolg der Tötungsdelikte oft in greifbarer Nähe. Zudem kann es in solch kritischen Notfallsituationen sein, dass das Leben einer Patient*in explizit vom Handeln oder Nichthandeln des Rettungsdienstpersonals abhängt. Ist eine der behandelnden Personen in einer solchen Lage unachtsam oder arbeitet ungenau und passiert dadurch ein Fehler, der dann zum Tod der Patient*in führt, kommt eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung in Betracht. Ähnlich steht es auch bei der fahrlässigen Körperverletzung, wenn die Patient*in nicht verstirbt, sondern körperliche oder gesundheitliche Schäden erleidet. R e ch t in e c ht (Fall 7.34) René ist als Assistenzarzt in der Notfallambulanz eingesetzt. Ihm wird eine Patientin zugeteilt, die fußläufig in die Ambulanz gekommen ist und über Atemnot klagt. Nach einigen Untersuchungen (u. a. Röntgenuntersuchung) stellt René fest, dass die Patientin einen „spontanen“ Pneumothorax aufweist,

welcher sich kurz darauf zu einem Spannungspneumothorax entwickelt. René entschließt sich dazu, eine Thoraxdrainage zu legen und klärt die Patientin dahingehend auf. Die Maßnahme gelingt problemlos und führt zunächst zu einer Verbesserung des Zustands der Patientin. Allerdings verschlechtert sich der Zustand kurz darauf wieder und nach einer weiteren Röntgenkontrolle muss René abermals einen ausgeprägten Pneumothorax feststellen. Er entschließt sich in der Absicht, der Patientin zu helfen dazu, eine größere Thoraxdrainage einzulegen, klärt die Patientin darüber aber nicht nochmal auf. Bei der Anlage der Thoraxdrainage benutzt er den dafür gewöhnlicherweise genutzten Trokar (Punktionsinstrument) nicht nur zum Punktieren des Lungenfells, sondern auch als Führungsschiene für die Drainage. Letzteres verstößt ausdrücklich gegen die geltenden Leitlinien. Während René die zweite Drainage mit dem Trokar als Führungsschiene einführt, verletzt er im Thorax der Patientin versehentlich die Pleurakuppe und eine dahinterliegende größere Vene. René merkt nichts von seinem Fehler, und als es der Patientin abermals besser geht, verzichtet er auf eine erneute Röntgenkontrolle, um die Patientin vor „unnötigen Strahlen“ zu schützen. Die Patientin blutet im Verlauf langsam in den Brustkorb ein und verstirbt schließlich nachweisbar aufgrund der inneren Verletzung, die René herbeigeführt hat. René hat sich nicht an den medizinischen Standard im Sinne der medizinischen Leitlinien gehalten. Auch wenn es grds. legitim sein kann, von diesem Standard abzuweichen, lässt sich dies in diesem Fall fachlich und rechtlich nicht begründen. René hat damit nicht die im Verkehr erforderliche Sorgfalt an den Tag gelegt. Er hat folglich

fahrlässig gehandelt, obwohl er der Patientin eigentlich helfen wollte. Da die fahrlässig herbeigeführte Blutung ursächlich für den Tod der Patientin war, kommt für René eine Strafbarkeit gemäß § 222 StGB (fahrlässige Tötung) in Betracht. [5] Berufe in der Notfallrettung sind mit der Gefahr behaftet, in Reichweite einiger Fahrlässigkeits-Straftatbestände zu sein. Auch wenn eine Rettungsdienstmitarbeiter*in stets Gutes im Sinn hat und darauf vertraut, dass schon alles gut gehen werde, befreit dies nicht von der Pflicht, sorgfältig und achtsam entsprechend der Verkehrserwartung zu arbeiten. Grenzen des Lebensschutzes (Suizid) Gerade im Kontext der Körperverletzungs- und Lebensschutzdelikte spielt das Selbstbestimmungsrecht eine besondere Rolle. Diesem wird in vielerlei Hinsicht Rechnung getragen, z. B. darin, dass Patient*innen grds. in alle Heilbehandlungen einwilligen müssen und auch „unvernünftige“ Entscheidungen treffen können. Eine aktuelle Debatte dreht sich um das Thema, wie weit die Selbstbestimmung gehen darf und ob es Grenzen für den Lebensschutz gibt. Kernthema hierbei ist der selbstbestimmte Suizid und die aktive Sterbehilfe. Während es in anderen Ländern die Möglichkeit gibt, einen selbstbestimmten Suizid durchzuführen und auch legal aktive Sterbehilfe betrieben werden kann, ermöglichen die deutschen Gesetze dies noch nicht (vgl. z. B.§ 216 StGB). Es gibt jedoch Tendenzen und Bestrebungen auch seitens des deutschen Gesetzgebers, derartige Regelungen aufzulockern.

7.5.3 Beteiligung an einer Schlägerei In § 231 StGB wird die Beteiligung an einer Schlägerei unter Strafe gestellt. Eine Strafe kommt dabei allerdings nur dann in Betracht, wenn durch die Schlägerei eine schwere Körperverletzung als Folge verursacht wird. Es handelt sich bei § 231 StGB um ein abstraktes Gefährdungsdelikt. Abstrakte Gefährdung in diesem Zusammenhang bedeutet, dass durch Schlägereien schwere Verletzungen entstehen können. Aufgrund der Unübersichtlichkeit einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen mehreren Personen, können konkrete Verletzungshandlungen oft nicht mehr der jeweiligen Täter*in zugeordnet werden. So ist es im schlimmsten Fall so, dass jemand schwer verletzt wurde, diese schwere Verletzung jedoch niemandem konkret zugeordnet werden kann. Vor diesem Hintergrund können dann zumindest alle Beteiligten an der Schlägerei nach § 231 StGB strafbar sein. Beteiligt sein können dabei nicht nur Personen, die aktiv physisch an der Schlägerei mitwirken, sondern auch solche Personen, die von außen psychisch anheizen, z. B. durch Anfeuern, Personen, die andere davon abhalten zu schlichten, oder Personen, die (gefährliche) Gegenstände anreichen. Nicht beteiligt sind hingegen Personen, die versuchen zu schlichten, oder Schaulustige. In solchen Einsatzsituationen muss der Rettungsdienst unbedingt den Eigenschutz beachten. Me r k e Kommt der Rettungsdienst zu einer Einsatzstelle, an welcher eine Schlägerei stattfindet, hat zunächst der Eigenschutz Vorrang. Trifft das Rettungsteam die Entscheidung, schlichtend in die

Auseinandersetzung einzugreifen, gilt dieses nicht als Beteiligung an der Schlägerei.

7.5.4 Misshandlung von Schutzbefohlenen § 225 StGB stellt die Misshandlung von Person aus einem geschützten Personenkreis gesondert unter Strafe. Hierzu zählen zum einen unter 18-Jährige, aber auch alte und wegen Gebrechlichkeit oder Krankheit wehrlose Menschen. Bestraft werden kann dabei nur, wer in einem besonderen Schutzverhältnis zur jeweiligen Person steht. Ein solches Schutzverhältnis ergibt sich z. B. durch die Garantenstellung der Rettungsdienstmitarbeiter*innen gegenüber ihren Patient*innen (§ 225 Abs. 1 Nr. 1 StGB). Kommt es also in diesem Rettungsdienst-Patient*innen-Verhältnis dazu, dass eine alte oder wehrlose Patient*in gequält, roh misshandelt oder böswillig durch Vernachlässigung der Sorgepflicht in der Gesundheit geschädigt wird, kommt eine Strafbarkeit nach § 225 StGB in Betracht. A c ht u ng Aufgrund der Garantenstellung ist jeder Mitarbeitende des Rettungsdienstes verpflichtet einzuschreiten, wenn Kolleg*innen Patient*innen entsprechend unangemessen behandeln. Wird in solchen Situationen nicht eingeschritten, kommt eine Strafbarkeit durch Unterlassen in Betracht.

7.5.5 Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs

Bei der Arbeit im Rettungsdienst kommt das Rettungsdienstpersonal täglich mit dem höchstpersönlichen Lebensbereich der Patient*innen in Berührung. Dazu gehören insb. Informationen über den Gesundheitszustand sowie über die Wohnung als höchstpersönlichen Bereich des Lebens. Der höchstpersönliche Lebensbereich wird durch das Grundgesetz geschützt (› Kap. 2.2.2). Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung sichert das Recht, selbstbestimmt über die persönlichen Informationen aus dem eigenen Leben bestimmen zu können. Das Briefgeheimnis sichert das Recht an der Vertraulichkeit der Kommunikation und das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung sichert das Recht auf einen privaten Rückzugsort. Der Rettungsdienst kommt im Rahmen seiner Tätigkeit mit all diesen Grundrechten in Berührung, deren Schutz durch Gesetze konkretisiert wird. Briefgeheimnis In Bezug auf die Arbeit im Rettungsdienst wird das Briefgeheimnis dann relevant, wenn mit persönlichen Unterlagen der Patient*innen umgegangen wird. Strafrechtlich abgesichert wird das Briefgeheimnis durch § 202 StGB. § 202 StGB Verletzung des Briefgeheimnisses (1) Wer unbefugt 1. einen verschlossenen Brief oder ein anderes verschlossenes Schriftstück, die nicht zu seiner Kenntnis bestimmt sind, öffnet oder 2. sich vom Inhalt eines solchen Schriftstücks ohne Öffnung des Verschlusses unter Anwendung technischer

Mittel Kenntnis verschafft,

wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in § 206 mit Strafe bedroht ist. (2) Ebenso wird bestraft, wer sich unbefugt vom Inhalt eines Schriftstücks, das nicht zu seiner Kenntnis bestimmt und durch ein verschlossenes Behältnis gegen Kenntnisnahme besonders gesichert ist, Kenntnis verschafft, nachdem er dazu das Behältnis geöffnet hat. § 202 Abs. 1 Nr. 1 StGB schützt verschlossene Briefe oder andere verschlossene Schriftstücke. Die Tathandlung ist das unbefugte Öffnen. Hier kommen Unterlagen der Patient*innen in Betracht, die dem Rettungsdienst mitgegeben werden, insb. verschlossene Arztbriefe. Arztbriefe sollen weiterbehandelnden Ärzt*innen Informationen darüber vermitteln, welche Diagnosen oder Therapien durchgeführt worden sind und ggf. Vorschläge für die weitere Behandlung machen. Absender dieser Briefe sind demnach Ärzt*innen, Adressaten sind wiederum Ärzt*innen. Vor diesem Hintergrund ist der Rettungsdienst nicht befugt, sich vom Inhalt eines verschlossenen Arztbriefes Kenntnis zu verschaffen. Ausnahmen davon bestehen in den Fällen, in denen dafür eine wirksame Einwilligung der Patient*in vorliegt. Ist die Patient*in nicht einwilligungsfähig und keine andere zur Einwilligung befugte Person verfügbar, darf sich der Rettungsdienst dann Kenntnis vom Inhalt verschaffen, wenn dies durch die mutmaßliche Einwilligung (› Kap. 6.3.3) gedeckt ist. Eine solche mutmaßliche Einwilligung kommt jedoch nur dann in Betracht, wenn Eile geboten ist und daher nicht abgewartet werden kann, bis eine wirksame

Einwilligung eingeholt werden kann. Dies ist in allen medizinischen Notfallsituationen anzunehmen. R e ch t in e c ht Arztbrief im Notfalleinsatz – einwilligungsunfähig (Fall 7.35) Notfallsanitäterin Marie und die Rettungssanitäterin Ida sind mit dem RTW zu einer bewusstlosen Person alarmiert worden. Die Patientin lebt allein und wurde von einer Nachbarin aufgefunden, welche die Person jedoch auch kaum kennt. In der Wohnung der Patientin liegt ein verschlossener Arztbrief auf dem Wohnzimmertisch. Grundsätzlich unterliegt der verschlossene Arztbrief dem Schutz des § 202 StGB und darf von unbefugten Personen nicht geöffnet werden. Eine Bewusstlosigkeit stellt jedoch eine lebensbedrohliche Situation dar. Marie und Ida kennen die Person nicht und wissen nichts zu etwaigen Vorerkrankungen etc. Aufgrund der Lebensgefahr kann nicht abgewartet werden, bis die Patientin wieder zu Bewusstsein kommt. Vor diesem Hintergrund ist es in der konkreten Situation zulässig, den verschlossenen Arztbrief zu öffnen. Es kann mangels anderer Anhaltspunkte vom mutmaßlichen Willen der Patientin ausgegangen werden, dass vom Inhalt des verschlossenen Arztbriefes Kenntnis genommen wird, um mit diesen Informationen eine bestmögliche medizinische Versorgung durchzuführen. Arztbrief im Notfalleinsatz – einwilligungsfähig (Fall 7.36) Bei dem Notfalleinsatz handelt es sich nicht um eine bewusstlose Patientin, sondern um eine wache und orientierte Person mit Verdacht auf ACS. In diesem Fall kann die Patientin

nach ihrer Einwilligung dazu gefragt werden, den Inhalt des auf dem Wohnzimmertisch liegenden verschlossenen Arztbriefes zur Kenntnis zu nehmen. Arztbrief im Krankentransport – mit Übergabe (Fall 7.37) Die Rettungssanitäterin Ida und der Rettungssanitäter Till führen mit dem KTW einen Krankentransport durch. Es handelt sich um eine Verlegung aus einem Akutkrankenhaus in eine Reha-Klinik. Ida und Till werden diverse Unterlagen des an Demenz erkrankten, kreislaufstabilen und wachen Patienten mitgegeben, darunter ein verschlossener Arztbrief. Auf der Station erfolgt eine detaillierte Übergabe. In diesem Fall ist es Ida und Till nicht gestattet, sich vom Inhalt des verschlossenen Arztbriefes Kenntnis zu verschaffen. Arztbrief im Krankentransport – keine Übergabe (Fall 7.38) Im zuvor genannten Fall (Fall 7.37) erfolgt keine ordnungsgemäße Übergabe. Auch dies berechtigt Ida und Till nicht ohne Weiteres, sich vom Inhalt des Arztbriefes Kenntnis zu verschaffen. Beide haben vielmehr das Recht und auch die Pflicht, eine ordnungsgemäße Übergabe des Patienten einzufordern. Eine nicht erfolgte Übergabe rechtfertigt somit nicht ohne Weiteres, sich vom Inhalt eines verschlossenen Arztbriefes Kenntnis zu verschaffen. Arztbrief im Krankentransport – eintretender Notfall (Fall 7.39) In Abwandlung zum Ausgangsfall (Fall 7.37) verschlechtert sich der Zustand des Patienten während des Transportes plötzlich und erheblich. Der Patient wird somnolent und kann keine Einwilligung erteilen. In diesem Fall der

plötzlichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes und der Situation, dass keine Einwilligung erteilt werden kann, kann wieder von der mutmaßlichen Einwilligung ausgegangen werden, den Inhalt des verschlossenen Arztbriefes zur Kenntnis zu nehmen, um eine optimale medizinische Versorgung durchzuführen. § 202 Abs. 1 Nr. 2 StGB schützt eine Umgehung des Tatbestandsmerkmals „öffnen“, indem auch bestraft wird, wer sich vom Inhalt, ohne den Verschluss zu öffnen, unter Anwendung technischer Mittel anderweitig Kenntnis verschafft. Abs. 2 schützt davor, dass Schriftstücke aus verschlossenen Behältnissen unbefugt entnommen werden, um sich davon Kenntnis zu verschaffen. Me r k e Mit persönlichen Daten der Patient*innen muss immer sensibel umgegangen werden. Grundsätzlich kann eine Kenntnisnahme von verschlossenen Schriftstücken mit Einwilligung der Patient*in erfolgen. Liegt in der konkreten Situation keine Einwilligungsfähigkeit vor und befindet sich die Patient*in in einem kritischen Zustand, kann die Kenntnisnahme i. d. R. vor dem Hintergrund der mutmaßlichen Einwilligung erfolgen. Recht am eigenen Bild Das Recht am eigenen Bild wird durch § 201a StGB geschützt. Erfasst wird hiervon insb. das Erstellen von Bildern in bestimmten Situationen. Ergänzt wird der Schutz am eigenen Bild noch durch die §§ 22, 23 Kunst- und Urhebergesetz (KUG), diese schützen insb. vor

unberechtigter Verbreitung und Veröffentlichung von erstellten Bildern. Danach ist es verboten, Bilder von Personen überhaupt zu erstellen, die sich in einer Wohnung oder einem besonders geschützten Raum befinden. Bei dem Raum kann es sich um jeden abgegrenzten Bereich handeln, in den nicht jeder einsehen kann, z. B. auch der Garten, der von einer Hecke gegen Blicke abgeschirmt wird. Ein solcher geschützter Raum kann daher auch der Innenraum eines Rettungsmittels sein. Hierzu können verschiedene Einsatzszenarien des Rettungsdienstes in Betracht kommen, z. B. Wohnungen, Gärten, Innenraum von Rettungsmitteln etc. In diesen geschützten Bereichen ist das Erstellen von Bildern ohne Einwilligung nicht zulässig. Des Weiteren sind Bilder von Personen verboten, auf denen deren Hilflosigkeit zur Schau gestellt wird. Damit sollen insb. Kranke und Verletzte erfasst werden. Hilflosigkeit kann auch schon bei stark alkoholisierten Personen vorliegen. Hiervon wird fast jeder Einsatz erfasst, in denen es der Rettungsdienst mit erkrankten, verletzten oder sonst hilflosen Personen zu tun hat. Verboten ist zudem Bildaufnahmen von Verstorbenen zu erstellen, mit welchen diese in grob anstößiger Weise zur Schau gestellt werden. Das Persönlichkeitsrecht eines Menschen endet grds. nicht mit dem Tod, daher werden Verstorbene in diesem Zusammenhang auch noch geschützt. Me r k e Bei Einsätzen, in denen es der Rettungsdienst mit Verstorbenen zu tun hat, ist deren Persönlichkeitsrecht auch über den Tod hinaus zu achten.

Es ist unerheblich, ob die abgebildete Person erkennbar ist. Der Tatbestand kann bereits dann verwirklicht werden, wenn die Person identifizierbar ist, z. B. aufgrund der auf dem Bild auch erkennbaren Umgebung. Unzulässig ist nicht nur das Erstellen der Bilder, sondern auch das Gebrauchen (Abspeichern, Kopieren, Bearbeiten etc.) sowie das Zugänglichmachen für andere, indem z. B. Bilder Kolleg*innen oder anderen Personen gezeigt werden. Auch hier gilt wieder, dass eine wirksame Einwilligung als Rechtfertigungsgrund in Betracht kommen kann. In der jeweiligen Einsatzsituation muss jedoch genau geprüft werden, ob hier wirklich Einwilligungsfähigkeit vorliegt. Dies kann bei Patient*innen mit Bewusstseinsstörungen, mit starken Schmerzen oder unter dem Einfluss von Drogen bzw. Medikamenten zweifelhaft sein. In vielen Fällen wird es daher wahrscheinlich schwierig, eine wirksame Einwilligung zu bekommen. Eine mutmaßliche Einwilligung kommt nur dann in Betracht, wenn die Bilder zur weiteren medizinischen Versorgung der Patient*innen erforderlich sind. Dies können z. B. Bilder von Verletzungsmustern vor Ort sein. Wird ein rechtmäßig hergestelltes Bild (Einwilligung, mutmaßliche Einwilligung) für Zwecke verwendet, die nicht von der Einwilligung oder dem Sinn der mutmaßlichen Einwilligung gedeckt sind, liegt auch darin ein strafbares Verhalten vor. Dies kann bereits dann der Fall sein, wenn ein solches rechtmäßig erstelltes Bild einer anderen Person zugänglich gemacht wird. Me r k e In Zeiten ständiger Verfügbarkeit von Kameras (u. a. in Mobiltelefonen) kann die Verlockung groß sein, schnell mal ein Bild von vermeintlich kuriosen oder lustigen Situationen zu

machen. Werden solche Bilder ohne Einwilligung erstellt oder verbreitet, ist dies rechtlich kritisch und kann zu einer Strafbarkeit führen. Bilder von Patient*innen dürfen nur dann erstellt werden, wenn dies für die konkrete medizinische Versorgung erforderlich ist. Ist ein Tablet für die Einsatzdokumentation vorhanden, ist dieses oder alternativ ein Diensttelefon zu verwenden. Das private Mobiltelefon kann nur dann verwendet werden, wenn dienstliche Geräte nicht zur Verfügung stehen. Die Verbreitung von im Dienst erstellten Bildern und Videos auf Social-Media Plattformen etc. muss auf jeden Fall unterbleiben. Dies stellt eine Straftat nach §§ 22, 23 KUG dar. Neben einer strafrechtlichen Ahndung drohen in solchen Fällen auch regelmäßig arbeitsrechtliche Konsequenzen. Ebenso dürfen keine Meldertexte oder Einsatzdepeschen abfotografiert und publiziert werden. Dabei können unzulässigerweise personenbezogene Daten verbreitet werden (› Kap. 14.2). Manche Einsatzsituationen und Verletzungen können geeignet sein, in Schulungen besprochen zu werden. Für diese Besprechungen sind Bilder oftmals hilfreich. In rechtlicher Hinsicht gibt es jedoch kein Privileg für Bilder zu Schulungszwecken. Im Einzelfall kann erwogen werden, Bilder für Schulungszwecke zu fertigen. Dabei ist Folgendes zu beachten: • Für die Erstellung der Bilder dienstliche Endgeräte verwenden und die Bilder nach Weiterbearbeitung dann wieder sofort dort löschen.

• Die Bilder so erstellen, dass personenbezogene Daten darauf von vornherein nicht erkennbar sind (keine Fotos von Fahrzeugkennzeichen, Personen, die erkennbar sind, Straßennamen und Hausnummern etc.) • Lässt sich die Aufnahme einer personenbezogenen Information nicht vermeiden, muss diese im Anschluss unbedingt unkenntlich gemacht werden. Dies bedeutet auch, dass Hinweise entfernt werden müssen, die Rückschlüsse auf die Person zulassen. • Die Bilder nur für Schulungszwecke verwenden, insb. keine Online-Verbreitung, kein Teilen in Chatgruppen etc. Verletzung der „Schweigepflicht“/Verletzung von Privatgeheimnissen André Höhle Die Arbeit im Rettungsdienst bringt es regelmäßig mit sich, im höchstpersönlichen Lebensbereich der Patient*innen zu arbeiten sowie mit höchstpersönlichen Informationen der Patient*innen in Berührung zu kommen. Der Umgang mit diesen höchstpersönlichen Informationen bedingt ein hohes Maß an Sensibilität. Das Vertrauen der Patient*innen in die Verschwiegenheit des Rettungsdienstpersonals ist wichtig, damit diese während der Versorgung durch den Rettungsdienst alle Informationen offenbaren, die für die Beurteilung des Gesundheitszustandes und die zu treffenden Maßnahmen erforderlich sind. Mangelndes Vertrauen kann u. U. dazu führen, dass wichtige Informationen nicht mitgeteilt werden und sich dies schlimmstenfalls negativ auf den Gesundheitszustand der Patient*in

auswirkt. Um dieses Vertrauensverhältnis zu schützen, gibt es verschiedene rechtliche Regelungen, die sicherstellen sollen, dass höchstpersönliche Informationen nur in dem Umfang weitergegeben werden, der für die Versorgung der Patient*in erforderlich ist. Gesetzliche Grundlage für die Verpflichtung zur Verschwiegenheit (Schweigepflicht) findet sich in § 203 Abs. 1 und Abs. 4 StGB. Eine Strafbarkeit kommt dann in Betracht, wenn eine verpflichtete Person ein fremdes Geheimnis offenbart. Verpflichtete Nach § 203 Abs. 1 StGB sind neben anderen Berufsgruppen im medizinischen Bereich insb. folgende Personen zur Verschwiegenheit verpflichtet: • Ärzt*innen, Zahnärzt*innen, Apotheker*innen sowie • Angehörige eines Heilberufs, der für die Berufsausübung oder die Führung der Berufsbezeichnung eine staatlich geregelte Ausbildung erfordert. Davon werden im Zusammenhang mit dem Rettungsdienst Notärzt*innen und Notfallsanitäter*innen umfasst. Rettungssanitäter*innen fallen nicht unter § 203 Abs. 1 StGB, ebenfalls nicht Auszubildende und Praktikant*innen. Diese werden von § 203 Abs. 4 Satz 1 StGB erfasst. Dort ist geregelt, dass „mitwirkende Personen“ auch bestraft werden können, wenn diese unbefugt fremde Geheimnisse offenbaren. Fremde Geheimnisse

Geschützt werden fremde Geheimnisse; diese Formulierung wird näher konkretisiert als ein zum persönlichen Lebensbereich gehörendes Geheimnis oder ein Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis. Ein Geheimnis ist eine Information, die nur einem begrenzten Personenkreis bekannt ist. Weitere Voraussetzung dafür, dass es sich um ein Geheimnis im strafrechtlichen Sinne handelt, ist, dass die Inhaber*in des Geheimnisses ein schutzwürdiges Interesse an der Geheimhaltung hat. Im Rahmen der rettungsdienstlichen Tätigkeit kommen die Mitarbeitenden mit den persönlichsten Informationen in Berührung, die man über einen Menschen haben kann –Informationen zum individuellen Gesundheitszustand. Darüber hinaus ist der Rettungsdienst in vielen Einsatzsituationen auch im höchstpersönlichen Lebensbereich eines Menschen tätig, z. B. in der Wohnung. In die Wohnung lässt man zwar grds. noch andere Personen herein, der Rettungsdienst ist oftmals jedoch nicht nur in der Wohnung an sich, sondern ggf. auch im Schlafzimmer tätig, einem Raum, in dem sich auch Besucher*innen i. d. R. nicht regelmäßig aufhalten. Hinzu kommt, dass der Rettungsdienst die Wohnung regelmäßig nicht nach vorheriger Ankündigung betritt, so wie es bei Besucher*innen der Fall ist. Der Rettungsdienst begegnet den Patient*innen „mitten im Leben“ und erhält dadurch Einblicke, die ansonsten kaum jemand anderes erhalten würde. A c ht u ng Das Betreten des höchstpersönlichen Lebensbereichs erfordert ein hohes Maß an Sensibilität und Einfühlungsvermögen, die Privatsphäre auf der einen Seite zu respektieren, auf der anderen

Seite diese auch nur soweit es unbedingt erforderlich ist zu beeinträchtigen. Ein Geheimnis im Sinne des Strafrechts liegt nur dann vor, wenn die betroffene Person an der Geheimhaltung ein schützenswertes Interesse hat. Somit unterliegt nicht alles, was dem Anblick der Öffentlichkeit entzogen ist, dem Geheimnisschutz, sondern nur solche Umstände, bei denen man ein derartiges schützenswertes Interesse annehmen kann. Bei den fremden Geheimnissen muss es sich um solche Informationen handeln, die einem als im Rettungsdienst tätige Person anvertraut worden oder sonst bekannt geworden sind. Im Rahmen eines Einsatzes kommt der Rettungsdienst mit vielen Informationen über die Patient*in in Berührung. Dies sind zunächst einmal eine Vielzahl von Informationen über den Gesundheitszustand, also die aktuelle Notfallsituation, mögliche Ursachen dafür, Vorerkrankungen etc. Dies alles sind Informationen, die zum höchstpersönlichen Lebensbereich gehören und die dem Rettungsdienst anvertraut werden. Geschützt sind jedoch nicht nur Informationen, die dem Rettungsdienst anvertraut werden, sondern auch solche Umstände, die auf sonstige Weise im Rahmen eines Einsatzes bekannt werden. Dies umfasst z. B. alle Eindrücke zur persönlichen Lebenssituation, der Zustand der Wohnung, der Umgang mit Angehörigen, möglicherweise Hinweise auf problematischen Konsum von Alkohol etc. Hierbei muss es sich nicht nur um Eindrücke aus einer Wohnung handeln, sondern auch andere

Umstände, die sich aus der Einsatzsituation ergeben können (z. B. der Umstand, dass ein Einsatz in einem Swinger-Club stattfindet). Me r k e Nicht nur solche Informationen, die dem Rettungsdienst anvertraut werden, sind von der Geheimhaltungspflicht umfasst, sondern auch alle anderen Informationen aus dem persönlichen Lebensumfeld der Patient*innen, die während eines Einsatzes wahrgenommen werden und an denen diese ein schützenswertes Interesse haben. Offenbaren von Geheimnissen Tathandlung i. S. d. § 203 StGB ist das Offenbaren der fremden Geheimnisse, die dem Rettungsdienst anvertraut worden oder sonst bekannt geworden sind. Der Begriff „Offenbaren“ ist sehr weit gefasst und beinhaltet jegliche Weitergabe der fremden Geheimnisse. Wichtig ist, dass ein Offenbaren jedoch nur dann vorliegt, wenn die dahinterstehende Person bekannt gemacht wird oder aufgrund der Schilderung der Umstände erkennbar ist. Wird ohne die Nennung personenbezogener Daten (Name) über einen Einsatz berichtet, und ist auch sonst aus den Umständen nicht erkennbar, um welche Person es sich handelt, liegt kein Offenbaren vor. In § 203 Abs. 3 StGB finden sich Ausnahmen dafür, wann kein Offenbaren vorliegt. Dies ist insb. dann der Fall, wenn die Weitergabe von Informationen an solche Personen erfolgt, die im Rahmen der beruflichen oder dienstlichen Tätigkeit mitwirken. In diesem Rahmen dürfen Informationen weitergegeben werden. Zu

beachten ist dabei jedoch, dass die Weitergabe nur im Rahmen des Erforderlichen zulässig ist. Bei dem oben angesprochenen Einsatz im Swinger-Club gilt: Wird eine Patient*in in einer solchen Lokalität behandelt, die auf einer Treppe ausgerutscht und gestürzt ist, dann ist die Information darüber, in was für einer Lokalität dieser Sturz stattgefunden hat, für die Weiterbehandlung unerheblich und darf deshalb nicht offenbart werden (ausgenommen ist möglicherweise der Fall, wo es sich um einen Berufsunfall handelt). Me r k e Eine Offenbarung von geheimhaltungsbedürftigen Informationen ist innerhalb der Versorgungskette zulässig. Der Umfang muss sich jedoch streng am Erforderlichen orientieren. A c ht u ng Wichtig für den Rettungsdienst ist der Umstand, dass die Schweigepflicht über den Tod der Patient*in hinaus besteht (§ 203 Abs. 5 StGB). Wichtige Fallgruppen für den Rettungsdienst Eine Weitergabe ist in folgenden Fällen erlaubt: • Innerhalb der Fahrzeugbesatzung • An nachgeforderte/mitalarmierte andere Fahrzeugbesatzungen • Übergabe in der Klinik

Die Weitergabe von Informationen innerhalb der Fahrzeugbesatzung, die am Einsatz beteiligt ist, ist ohne Weiteres möglich. Bei einer Übergabe an nachgeforderte Fahrzeugbesatzung erfolgt die Weitergabe an sonstige mitwirkende Personen. Wichtig ist, dass die Weitergabe von Informationen nur im Rahmen der Erforderlichkeit zulässig ist. Dies bezieht sich in jedem Fall auf alle Informationen, die für die sachgerechte Weiterbehandlung erforderlich sind. Auch bei der Übergabe in einer Klinik (oder sonstiger weiterbehandelnder Einrichtung) erfolgt die Weitergabe von Informationen an sonstige mitwirkende Personen. Der Umfang der Weitergabe von Informationen orientiert sich wieder an der Erforderlichkeit. Bei allem ist darauf zu achten, dass die Weitergabe an Personen erfolgt, die an der weiteren Versorgung der Patient*in beteiligt sind, dies umfasst sowohl ärztliches als auch nichtärztliches Personal. Es gilt, die Weitergabe der vertraulichen Informationen idealerweise auch nicht auf dem Flur der Einrichtung durchzuführen, sondern im zugewiesenen Behandlungs-/Patientenzimmer, damit ein Mindestmaß an Diskretion gewahrt werden kann. Ist eine Übergabe in einem solch abgeschlossenen Bereich nicht möglich, muss darauf geachtet werden, dass die Übergabe nicht in einer Lautstärke erfolgt, dass das gesamte Umfeld Kenntnis der übergebenen Informationen erlangt. Eine Weitergabe ist grds. nicht erlaubt an: • Kolleg*innen, die nicht am Einsatz beteiligt waren • Nachbarn

An Kolleg*innen, die nicht am Einsatz beteiligt waren, dürfen nur dann Informationen weitergegeben werden, wenn dies anonymisiert erfolgt. Eine solche Anonymisierung liegt insb. dann nicht vor, wenn die Kolleg*innen die Patient*in gesehen haben, z. B. beim Ausladen aus dem RTW oder bei der Aufnahme in der Klinik. Hier zählt auch nicht das vermeintliche Argument, dass die Kolleg*innen als im Rettungsdienst Beschäftigte grds. auch der Verschwiegenheit unterliegen. Wie zuvor beschrieben, kommt es darauf nicht an. Es soll sichergestellt werden, dass entsprechende Informationen nur innerhalb der am Einsatz Beteiligten und im Rahmen der Weitergabe an Weiterbehandelnde übermittelt werden. Die Weitergabe von Informationen an Nachbarn darf grds. nur nach vorheriger Einwilligung der Patient*in erfolgen. Nachbarn haben kein schützenswertes Interesse daran, Informationen zum Gesundheitszustand der Patient*in und zu deren Verbleib zu erhalten. Im Ausnahmefall kann jedoch die Weitergabe von Informationen im Interesse der Patient*in sein. Dabei gilt: Wenn die Patient*in wach und einwilligungsfähig ist, kann diese einfach gefragt werden, ob und welche Informationen an die Nachbarn herausgegeben werden dürfen (› Kap. 6.3.3). Ist die Patient*in nicht wach und/oder einwilligungsfähig, kann eine Weitergabe von Informationen ggf. entsprechend der mutmaßlichen Einwilligung erfolgen. Dies ist z. B. der Fall, wenn der Patient*in wichtige Sachen in die Klinik gebracht werden müssen, die Nachbarn Kontakt zu nahen Angehörigen haben und diese benachrichtigen können etc. Es muss auf jeden Fall ein Grund sein, der für die Patient*in eine besondere Bedeutung hat, sodass die Weitergabe der entsprechenden Information in ihrem Interesse liegt.

Spezielle Konstellationen sind: • Eltern/Angehörige: Bei vorhandener Einsichtsfähigkeit darf eine Weitergabe von Informationen an die Eltern nur bei vorliegender Einwilligung erfolgen. Bei vorliegender Einsichtsfähigkeit sind auch Minderjährige in der Lage, medizinisches Personal von der Schweigepflicht zu entbinden. Liegt keine Einsichtsfähigkeit vor, liegt die Entscheidungskompetenz bei den Eltern. Die Eltern bzw. die Personensorgeberechtigten sind in diesem Fall also entsprechend zu informieren. • Betreuer*innen: Ist für die Patient*in eine Betreuung bestellt und umfasst diese Betreuung den Bereich Gesundheitsangelegenheiten (vgl. › Kap. 6.2.1), dürfen Informationen zum Gesundheitszustand der Patient*in an die Betreuungsperson weitergegeben werden. • Polizei: Die Weitergabe von Informationen an die Polizei darf nur in wenigen Ausnahmefällen erfolgen. Wird im Rahmen der rettungsdienstlichen Tätigkeit Kenntnis von bereits begangenen Straftaten erlangt, dürfen solche Informationen nicht an die Polizei weitergegeben werden (z. B. Drogenkonsum, Fahren unter Alkoholeinfluss etc.). Bei schweren, bevorstehenden Straftaten muss hingegen eine Weitergabe der Informationen an die Polizei erfolgen (§ 138 StGB). Es handelt sich dabei u. a. um Straftaten

gegen das Leben (Mord, Totschlag), Straftaten gegen die Freiheit (z. B. Menschenhandel), Raub oder schwere räuberische Erpressung oder gemeingefährliche Straftaten (z. B. Brandstiftung). Die Arbeit der Polizei darf durch den Rettungsdienst nicht behindert werden. Wird eine Patient*in z. B. nach einem Verkehrsunfall versorgt, die berichtet, dass sie Alkohol getrunken habe, und ist sie rettungsdienstlich versorgt und stabil, hat die Polizei das Recht, die Personalien der Patient*in zu erheben und diese zum Unfallhergang zu befragen. Dies gilt auch, wenn die Patient*in im RTW ist. Der Rettungsdienst hat nicht das Recht, die Arbeit der Polizei in diesem Zusammenhang zu behindern oder zu erschweren. Eine Ausnahme besteht in dem Fall, wo der Gesundheitszustand kritisch ist und durch polizeiliche Maßnahmen die notwendige Behandlung der Patient*in verzögert würde. Hier kann auf die Dringlichkeit einer Behandlung bzw. eines Transports verwiesen werden. Weitere Fälle, in denen die Pflicht zur Verschwiegenheit verletzt werden kann In besonderen Fallkonstellationen kann die Pflicht zur Verschwiegenheit verletzt werden. Hierzu zählen z. B.: • Fälle im Zusammenhang mit dem Infektionsschutzgesetz • Fälle im Zusammenhang mit der Leichenschau • Zeugenaussagen, wenn kein Zeugnisverweigerungsrecht besteht • Fälle, in denen der rechtfertigende Notstand (§ 34 StGB) greift • Eigene Inanspruchnahme

Infektionsschutzgesetz Das Infektionsschutzgesetz regelt eine Vielzahl von Meldepflichten, die entsprechend auch unter Verstoß gegen eine Verpflichtung zur Verschwiegenheit erfüllt werden müssen. Meldepflichten nach dem Infektionsschutzgesetz betreffen den Rettungsdienst jedoch i. d. R. nicht (§ 8 Abs. 2). Leichenschau Im Rahmen einer durch eine Ärzt*in durchzuführenden Leichenschau (› Kap. 15) entstehen u. a. dann Informationspflichten, wenn es Anhaltspunkte für einen nichtnatürlichen Tod gibt oder die Identität eines Toten nicht festgestellt werden kann (z. B. § 9 Bestattungsgesetz NRW). Zeugenaussage, wenn kein Zeugnisverweigerungsrecht besteht Wird Rettungsdienstpersonal in Bezug auf einen Einsatz als Zeuge vernommen und besteht kein Zeugnisverweigerungsrecht, ist man entsprechend zur Aussage verpflichtet. Rechtfertigender Notstand Wie bei jeder Prüfung einer Strafbarkeit ist man nur dann strafbar, wenn der Tatbestand erfüllt ist, man rechtswidrig gehandelt hat und keine Entschuldigungsgründe einschlägig sind (› Kap. 7.1.4). So ist es auch bei der Verletzung der Schweigepflicht möglich, dass diese entsprechend § 34 StGB gerechtfertigt ist. Eine Fallgruppe, die im Rahmen des rechtfertigenden Notstands relevant wird, sind die sog. Misshandlungsfälle. Erlangen Mitarbeitende des Rettungsdienstes während eines

Einsatzes Kenntnis von Misshandlungen von Kindern oder besteht ein Verdacht auf Kindesmisshandlung, kann die Weitergabe dieser Informationen an die weiterbehandelnden Ärzt*innen unter dem Gesichtspunkt des rechtfertigenden Notstands gerechtfertigt sein. Eindeutig ist die Situation, wenn die Misshandlung vor den Augen der Mitarbeitenden des Rettungsdienstes stattfindet, dies wird jedoch in den seltensten Situationen der Fall sein. Darüber hinaus können jedoch auch die Umstände des Einzelfalls auf eine Kindesmisshandlung hindeuten. Dies sind insb.: • Ungewöhnliche Verletzungen, die sich Kinder unter normalen Umständen nicht beim Spielen zuziehen. Typisch für Verletzungen im Kindesalter sind z. B. Verletzungen an Kopf (Stirn), Ellenbogen und Knien. Ungewöhnlich sind Verletzungen an anderen Körperstellen, wie z. B. Rücken, Oberarme, Hals. • Ebenfalls auf Misshandlungen hindeuten können Verletzungen, die nach den Erklärungen der Eltern so nicht zustande gekommen sein können. Also dann, wenn die Beschreibung des Verletzungsmechanismus nicht zu den Verletzungen passt. Liegen derartige Verdachtsmomente vor und kommen dazu noch ggf. Auffälligkeiten im Verhalten von Eltern oder betroffenem Kind, kann ein solcher Verdacht gerechtfertigt sein und im Rahmen der Übergabe in der Klinik mit geäußert werden. Zwar ist für die Annahme eines rechtfertigenden Notstands eine gegenwärtige Gefahr erforderlich (› Kap. 7.3.3), jedoch wird in

solchen Fällen Wiederholungsgefahr angenommen. Diese ist auch als Gefahr im Rahmen des rechtfertigenden Notstands bei solchen Personen anerkannt, die sich nicht selbst aus der Abhängigkeitssituation befreien können (Kinder bei Eltern, Menschen mit geistigen Behinderungen in Pflegeeinrichtungen etc.). Pr axis tip p In solchen Fällen darf auf keinen Fall an der Einsatzstelle eine Konfrontation der Eltern mit dem Verdacht erfolgen. Auch das Kind sollte vor den Eltern nicht explizit befragt werden, wer denn eine bestimmte Verletzung verursacht habe. Vielmehr ist auf einen Transport in eine Klinik hinzuwirken. Dort ist das Kind erst einmal in einem relativ sicheren Umfeld und es können weitere Untersuchungen und Maßnahmen in die Wege geleitet werden. Bei der Übergabe sowie in der Einsatzdokumentation ist sorgsam auf die Formulierungen zu achten. Hier ist insb. zu vermeiden, die Eltern oder ein Elternteil der Kindesmisshandlung zu bezichtigen. Vielmehr gilt es, den Sachverhalt neutral und objektiv zu beschreiben. Liegen Verletzungen vor, die nicht zu den Erklärungen der Ursache der Verletzungen passen, ist dies im Protokoll, ggf. unter genauer Schilderung der Örtlichkeiten, zu beschreiben. Auf keinen Fall dürfen dabei Beschuldigungen und Wertungen einfließen, schon gar nicht irgendwelche Beleidigungen, da das Protokoll im Ernstfall als Beweismittel von allen Verfahrensbeteiligten eingesehen werden kann. Pr axis tip p

Die Dokumentation solcher Verdachtsmomente muss möglichst neutral und objektiv erfolgen. Keinesfalls dürfen pauschale Behauptungen aufgestellt werden. Die Verletzungen, die Situation an der Einsatzstelle, der beschriebene Verletzungsmechanismus, das Verhalten des Kindes und alle weiteren Befunde etc. sind objektiv zu dokumentieren und zu beschreiben. In Einsatzsituationen, in denen ein Transport des Kindes in die Klinik abgelehnt wird und aus Sicht des Rettungsdienstpersonals ein kritischer Gesundheitszustand vorliegt oder Lebensgefahr besteht, kann nach sorgfältiger Abwägung unter Inanspruchnahme des rechtfertigenden Notstands die Polizei hinzugezogen werden. Möglich ist, dass ein Transport des Kindes abgelehnt wird, kein kritischer Gesundheitszustand vorliegt oder der Anlass für den Einsatz ggf. gar nicht ein Kind, sondern ein Elternteil ist, während dessen Behandlung in der Wohnung festgestellt wird, dass dort ein Kind lebt, welches Anzeichen für Misshandlungen oder Vernachlässigungen aufweist. In diesen Fällen kann das eingesetzte Rettungsdienstpersonal nach dem Einsatz eine Beratung durch das Jugendamt in Anspruch nehmen. Das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) ermöglicht es bestimmten Berufsgruppen, wozu auch Ärzt*innen und Notfallsanitäter*innen gehören, sich zur Beratung an das Jugendamt zu wenden. Dies ist immer dann möglich, wenn diesen Berufsgruppen in Ausübung ihrer Tätigkeit gewichtige Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Kindeswohls oder eines Jugendlichen bekannt werden. Für die Beratung werden die Daten des Einsatzes zunächst pseudonymisiert übermittelt. Sofern eine Gefährdung des Kindeswohls in Rede steht,

dürfen im Folgenden auch personenbezogene Daten an das Jugendamt weitergegeben werden. Besteht eine dringende Gefahr für die Gefährdung des Kindeswohls, sollen die genannten Berufsgruppen das Jugendamt informieren. Dieses Gesetz stellt eine gute Möglichkeit für Mitarbeitende im Rettungsdienst dar, sich bei unklaren Situationen oder konkreten Gefährdungen an das Jugendamt zu wenden. Eine einheitliche Hotline für solche Fälle gibt es nicht. Ggf. ist der Dienststelle eine Ansprechperson bekannt, ansonsten muss sich an die zentrale Rufnummer des örtlichen Jugendamtes gewendet werden. Pr axis tip p Bei unklaren Einsatzsituationen, in denen Misshandlungen oder Vernachlässigungen von Kindern im Raum stehen, jedoch keine akute Gefahr besteht, kann sich das Rettungsdienstpersonal durch das Jugendamt beraten lassen. Bei bestehender dringender Gefahr muss das Jugendamt informiert werden, ggf. ist bei einem kritischen Gesundheitszustand oder Lebensgefahr auch die Hinzuziehung der Polizei gerechtfertigt. In einem ähnlichen Abhängigkeitsverhältnis wie Kinder stehen auch Menschen mit Behinderungen in entsprechenden Einrichtungen oder Menschen mit neurodegenerativen Erkrankungen in Altenpflegeeinrichtungen. Auch diese können sich, wenn sie Misshandlungen ausgesetzt sind, oftmals nicht mehr selbstständig aus der Situation befreien oder entsprechende Hilfen in Anspruch nehmen. In diesen Fällen gelten die Ausführungen zu Kindern sinngemäß. Gibt es demnach in diesem Kontext

Verdachtsmomente für Misshandlungen und sind die Patient*innen aufgrund von geistigen Behinderungen oder neurodegenerativen Erkrankungen nicht mehr in der Lage, sich aus solchen Situationen zu befreien, kann dieser Verdacht ebenfalls im Rahmen der Übergabe der Patient*in vorgebracht und entsprechend dokumentiert werden. Me r k e Die zuvor beschriebenen Ausführungen zu Kindern gelten sinngemäß auch in Einsätzen bei Menschen, die in einer ähnlichen Abhängigkeitssituation sind und bei denen der Verdacht auf Misshandlungen besteht. Anders liegt der Fall beim geistig gesunden volljährigen Erwachsenen. Ohne dessen ausdrückliche Einwilligung dürfen derartige Verdachtsmomente weder im Rahmen der Übergabe noch sonst an Polizei etc. weitergegeben werden. Me r k e Bei volljährigen Erwachsenen, die geistig gesund sind, dürfen Informationen zu möglichen Misshandlungen nur mit deren ausdrücklicher Einwilligung weitergegeben werden. Unberührt davon bleibt das Recht und die Pflicht, die Untersuchungsbefunde der Patient*in und die Aussagen zu deren Ursachen fachgerecht zu dokumentieren und im Rahmen der Übergabe weiterzugeben. Eigene Inanspruchnahme

Ist Rettungsdienstpersonal selbst Beklagte in einem Zivilprozess oder einem Strafverfahren ausgesetzt, sind diese in Bezug auf den konkreten Einsatz nicht an die Verpflichtung zur Verschwiegenheit gebunden. Für die sachgerechte Verteidigung ist es möglich, über den Einsatz und die relevanten Umstände in diesem Zusammenhang zu berichten. Argument dafür, dass eine Offenbarung hier möglich ist, ist der Grundsatz der „Waffengleichheit“. Verletzung der Schweigepflicht durch Unterlassen Eine Strafbarkeit kommt nicht nur in solchen Fällen in Betracht, in denen aktiv gehandelt wird, sondern u. U. auch dann, wenn eine gebotene Handlung eines Garanten unterlassen wird (vgl. › Kap. 7.2.3). Mitarbeitende im Rettungsdienst haben eine Garantenstellung gegenüber den Patient*innen. Ein Unterlassen im Rahmen der Verpflichtung zur Verschwiegenheit kommt in Betracht, wenn die Einsichtnahme in Dokumente (Rettungsdienstprotokoll) oder Daten (Rettungsdienstdokumentation) durch unberechtigte Dritte nicht verhindert oder ermöglicht wird, z. B., indem diese offen abgelegt werden, sodass Dritte vom Inhalt Kenntnis nehmen können. Dies gilt auch, wenn ein Transportschein oder ein Rettungsdienstprotokoll offen hinter der Windschutzscheibe des Fahrzeugs oder sonst offen einsehbar im Fahrerraum abgelegt wird. Als Dritte gelten auch Kolleg*innen, die nicht am Einsatz beteiligt waren. Arbeitgeber*innen trifft in datenschutzrechtlicher Hinsicht die Verpflichtung, auf den Wachen technisch-organisatorische Maßnahmen einzurichten, die einen unbefugten Zugriff auf

Patientendaten verhindern. Dies können abschließbare Kästen für Transportscheine und Rettungsdienstprotokolle, unterschiedliche Berechtigungen in IT-Systemen in Bezug auf den Zugriff auf Daten von Einsätzen etc. sein. Werden solche technisch-organisatorischen Maßnahmen nicht eingerichtet, trifft die Mitarbeitenden i. d. R. kein Verschulden, wenn Patientendaten auf der Wache unbefugt von Dritten eingesehen werden.

7.5.6 Bestechungsdelikte David Winkenbach Bestechungsdelikte sanktionieren eine unzulässige Einflussnahme auf den öffentlichen Dienst sowie Entscheidungsträger*innen in Unternehmen. Damit soll v. a. das Vertrauen der Allgemeinheit in die Integrität und Unbestechlichkeit von Träger*innen staatlicher Funktionen geschützt sowie die Korruption bekämpft werden. Während es auch in privatrechtlichen Wirtschaftssektoren Strafvorschriften zur Bestechung gibt, sind v. a. jedoch die Regelungen zur Bestechung von Amtsträger*innen für den Rettungsdienst von Bedeutung. Amtsträger*in ist nach dem StGB (§ 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB) u. a., wer Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt und von wem damit in besonderem Maße sachliches Handeln erwartet werden muss (sog. hoheitliche Aufgaben). Der Rettungsdienst ist eine solche staatlich organisierte, öffentliche Aufgabe und die Mitarbeitenden im Rettungsdienst sind damit Amtsträger*innen im Sinne des StGB. Dies gilt auch dann, wenn sie formell keinen Beamtenstatus haben. Mitarbeitende im öffentlichen Rettungsdienst unterfallen auch dann den Delikten der „Straftaten im Amt“ (§§ 331 ff. StGB), wenn diese

nicht bei einer staatlichen Institution, sondern z. B. bei einer Hilfsorganisation angestellt sind, diese aber in den öffentlichen Rettungsdienst eingebunden ist. A c ht u ng Mitarbeiter*innen im öffentlichen Rettungsdienst übernehmen bei ihrer Tätigkeit die Durchführung staatlicher Aufgaben und werden daher als „Amtsträger*innen“ im Sinne des StGB verstanden. Dadurch können sie i. d. R. auch wegen Straftaten im Amt bestraft werden. Bei den in Betracht kommenden Straftatbeständen wird danach unterschieden, ob eine Gegenleistung für eine rechtmäßige oder eine rechtswidrige Diensthandlung im Raum steht. Handelt es sich um eine rechtswidrige Diensthandlung, ist die Strafandrohung höher. Eine Amtsträger*in, die für die Dienstausübung einen Vorteil annimmt, fordert oder sich versprechen lässt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft (sinngemäß § 331 Abs. 1 StGB). Eine Amtsträger*in, die einen Vorteil annimmt, fordert oder sich versprechen lässt und dafür als Gegenleistung eine ihrer Dienstpflichten verletzt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft (sinngemäß § 332 Abs. 1 StGB). Amtsträger*innen dürfen also für ihre pflichtgemäße Dienstausübung keine Vorteile annehmen, fordern oder sich versprechen lassen. Dies gilt auch dann, wenn der Vorteil Dritten, etwa nahen Angehörigen, zukommt. Geschieht dies doch, handelt es sich um eine nach § 331 StGB strafbare Vorteilsannahme. Als Vorteil wird dabei jede Zuwendung materieller oder immaterieller

Art verstanden, welche die Amtsträger*in oder Dritte wirtschaftlich, rechtlich oder persönlich besserstellt und auf die sie sonst keinen Anspruch hätte. Dies können z. B. ein monetäres Trinkgeld, materielle Geschenke oder auch andere Leistungen und Zusicherungen sein. Allerdings ist nicht jede kleine Aufmerksamkeit von z. B. Patient*innen oder Angehörigen sofort eine rechtswidrige Vorteilsannahme. In einem gewissen, jedoch eng gefassten Rahmen dürfen kleinere Vorteile angenommen werden (sog. Sozialadäquanz). Sozialadäquanz ist gegeben, wenn eine Zuwendung oder Aufmerksamkeit relativ geringwertig ist und nach der Verkehrssitte den Regeln der Höflichkeit gewährt sowie allgemein gebilligt wird. Da diese Definition sehr abstrakt ist, gilt es für das Rettungsdienstpersonal, grds. vorsichtig bei der Annahme von Zuwendungen, Gefälligkeiten oder Aufmerksamkeiten zu sein. Eine eindeutige Wertgrenze gibt es nicht. Teilweise werden derartige Wertgrenzen von Arbeitgeber*innen festgelegt, diese sind auf jeden Fall zu beachten. Das Bundesministerium für Inneres hat dazu z. B. hinsichtlich der Beschäftigten der Bundesverwaltung eine Wertgrenze von 25 Euro bestimmt. Dabei sind jedoch auch diese Vorteile beim jeweiligen Dienstherrn anzuzeigen. Daneben können Vorteilsannahmen im Sinne des § 331 StGB auch straffrei bleiben, wenn die zuständige Behörde diese zuvor oder nachträglich genehmigt. Eine solche Ausnahme ist allerdings nur dann möglich, wenn die jeweilige Amtsträger*in den Vorteil nicht selbst gefordert hat. Im Gegensatz zur Vorteilsannahme kann noch schärfer bestraft werden, wenn eine Diensthandlung vorgenommen wird, die gegen

die Dienstpflichten verstößt. Geschieht dies doch, handelt es sich um eine nach § 332 StGB strafbare Bestechlichkeit. Eine Bestechlichkeit kommt bereits dann in Betracht, wenn eine Amtsträger*in sich aufgrund der angenommenen, geforderten oder versprochenen Vorteile zu der Dienstpflichtverletzung zukünftig bereit erklärt; die eigentliche Handlung muss also gar nicht stattgefunden haben. Me r k e Der Unterschied von Vorteilsannahme (§ 331 StGB) und Bestechlichkeit (§ 332 StGB) im Amt liegt in der Pflichtwidrigkeit/Rechtswidrigkeit der dienstlichen Handlung. Vorteilsannahme = pflichtgemäße Diensthandlung Bestechung = pflichtwidrige Diensthandlung Neben der Vorteilsannahme und Bestechlichkeit der Amtsträger*innen ist im Übrigen auch der Gegenpart zu diesen Straftaten strafbar. So kann auch sanktioniert werden, wer Amtsträger*innen einen Vorteil gewährt (§ 333 StGB) oder sie besticht (§ 334 StGB). R e ch t in e c ht (Fall 7.40) Notfallsanitäter Fabian versorgt einen schwerreichen Patienten. Bei der Übergabe im Krankenhaus will der Patient ihm 50 Euro als „Dankeschön“ zustecken. Eine solche monetäre Zuwendung wird als Vorteil im Sinne des § 331 StGB verstanden, welchen Fabian als funktioneller Amtsträger nicht annehmen kann, ohne den Tatbestand der Vorteilsannahme zu verwirklichen. 50 Euro gehen dabei wohl über die Grenze der Sozialadäquanz

hinaus. Da Fabian Kenntnis darüber besitzt, lehnt er die Geste des Patienten dankend ab. Der Patient besteht jedoch darauf, seinen Dank zum Ausdruck zu bringen und gibt Fabian stattdessen einen Kaffee bei der naheliegenden Krankenhauskantine aus. Da dies wohl im Rahmen der Sozialadäquanz liegt, kann Fabian diesen annehmen. (Fall 7.41) Pflegefachfrau Merle ist auf einer internistischen Station eines öffentlichen Krankenhauses eingesetzt, auf welcher u. a. qualifizierte Alkoholentzüge durchgeführt werden. Einer der dort geführten Patienten kann seinem Verlangen nach Alkohol jedoch trotz der medikamentösen Unterstützung nicht widerstehen. Er bietet Merle daher 200 Euro an, wenn sie ihm als Gegenleistung eine Flasche Doppelkorn ins Zimmer schmuggelt. Würde Merle auf diesen Deal eingehen, würde das eine pflichtwidrige Diensthandlung darstellen und somit den Tatbestand der Bestechung (§ 332) verwirklichen. Hierfür würde es im Übrigen bereits ausreichen, wenn Merle das Geld annehmen und die spätere Schmuggelaktion zusagen würde. Die tatsächliche Handlung wäre nicht notwendig. A c ht u ng Zur Annahme von Vorteilen im Zusammenhang mit der dienstlichen Tätigkeit müssen Arbeits- und/oder Dienstanweisungen von Arbeitgeber*innen unbedingt beachtet werden.

7.5.7 Diebstahl Die Strafvorschrift des Diebstahls, § 242 StGB, ist ein sog. Eigentumsdelikt. Eigentumsdelikte umfassen Straftaten gegen das Eigentum des Einzelnen und sollen dies schützen. § 242 StGB Diebstahl (1) Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, die Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Der Tatbestand dieser Rechtsvorschrift setzt also in objektiver Hinsicht die Wegnahme einer fremden (beweglichen) Sache voraus, also einer Sache, die nicht im Eigentum des Wegnehmenden steht. Weiterhin handelt es sich auf subjektiver Ebene um ein Vorsatzdelikt. Die handelnde Person muss hinsichtlich der Wegnahme mit Wissen und Wollen agieren und zudem die Absicht haben, sich die fremde Sache selbst anzueignen, während die ursprüngliche Eigentümer*in enteignet wird. Diebstahl ist ein sog. Antragsdelikt (§ 248a StGB), bei welchem grds. nur dann ermittelt wird und folglich auch nur dann eine Strafbarkeit in Betracht kommt, wenn eine Strafanzeige gestellt wird. R e ch t in e c ht (Fall 7.42) Notfallsanitäter Fabian befindet sich im Dienst auf der Rettungswache. Da er bei sich zu Hause gerade Malerarbeiten verrichten muss, benötigt er für seinen privaten Gebrauch

Einmalhandschuhe. Im Lager der Rettungswache befinden sich kistenweise solche Einmalhandschuhe, sodass Fabian in einem unbeobachteten Moment zwei Pakete wegnimmt und in seinem Rucksack verstaut. Nach seiner Schicht nimmt er sie mit nach Hause. Die Handschuhe im Lager der Rettungswache befanden sich im Eigentum der Hilfsorganisation (juristische Person), bei der Fabian angestellt ist. Das wusste Fabian auch, wollte die Handschuhe aber für sich und hatte auch die Absicht, sie der Hilfsorganisation wegzunehmen, um sie sich selbst anzueignen. Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe sind nicht ersichtlich. Für Fabian kommt daher eine Strafbarkeit wegen Diebstahls gem. § 242 StGB in Betracht, wenn die Hilfsorganisation dahingehend einen Strafantrag stellt. A c ht u ng Beim Diebstahl von Sachen der Arbeitgeber*in droht neben einer Strafanzeige auch eine fristlose Kündigung. Eine solche fristlose Kündigung kann auch dann wirksam sein, wenn sich der Diebstahl lediglich auf Sachen von geringem Wert bezieht.

7.5.8 Sachbeschädigung Auch bei der Sachbeschädigung, § 303 StGB, handelt es sich um ein Eigentumsdelikt. Hier wird nicht die Wegnahme, sondern die Schädigung oder die Veränderung des Erscheinungsbildes einer fremden Sache unter Strafe gestellt. § 303 StGB Sachbeschädigung

(1) Wer rechtswidrig eine fremde Sache beschädigt oder zerstört, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer unbefugt das Erscheinungsbild einer fremden Sache nicht nur unerheblich und nicht nur vorübergehend verändert. Bei der Sachbeschädigung handelt es sich um ein Vorsatzdelikt, sodass Wissen und Wollen hinsichtlich der Beschädigung Voraussetzung für eine etwaige Strafbarkeit nach § 303 StGB ist; eine fahrlässige Sachbeschädigung ist nicht strafbar. Weiterhin ist wie bei einem Diebstahl ein Strafantrag für die Verfolgung dieser Straftat notwendig (§ 303c StGB). R e ch t in e c ht (Fall 7.43) Notfallsanitäterin Marie befindet sich im Einsatz in einer großen Villa. Der Patient, den Marie versorgen soll, möchte auf keinen Fall ins Krankenhaus, sondern eigentlich nur, dass Marie ihm starke Schmerzmittel in Tablettenform dalässt. Als Marie ihm eröffnet, dass dies nicht möglich ist, wird der Patient wütend, beschimpft Marie als „armseliges Opfer der Arbeiterklasse“ und verweist sie ohne weitere Würdigung in Richtung Tür. Das will Marie dem unfreundlichen Patienten heimzahlen und zerkratzt im Vorbeigehen mit ihrem Schlüssel unbefugterweise den auf dem Hof stehenden Porsche 911 GT3 RS. Marie hinterlässt dabei bewusst und beabsichtigt einen ca. einen Meter langen, tief in den Lack reichenden Kratzer, der gut erkennbar ist. Das Auto kann nun zwar weiterhin benutzt werden und ist in seiner Brauchbarkeit grds. nicht eingeschränkt,

allerdings ist dadurch das Erscheinungsbild des Porsches nicht nur unerheblich und nicht nur vorübergehend verändert worden. Damit ist der Straftatbestand des § 303 Abs. 2 StGB verwirklicht. Die Tatsache, dass der Patient unfreundlich war oder sie sogar beleidigt hat, stellt keinen Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund dar. Für Marie kommt folglich eine Strafbarkeit wegen Sachbeschädigung gem. § 303 StGB in Betracht, wenn der Patient dahingehend einen Strafantrag stellt. Me r k e : Eine fahrlässige Sachbeschädigung ist nicht strafbar. Werden im Einsatz versehentlich Sachen beschädigt, droht hier keine Strafbarkeit wegen Sachbeschädigung (z. B. beim Tragen einer Patient*in durch ein enges Treppenhaus, wenn aus Unachtsamkeit ein Bild gestreift wird, zu Boden fällt und zerbricht).

7.5.9 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung Die sexuelle Selbstbestimmung ist ein Rechtsgut, das jedem Menschen zusteht. Sie leitet sich aus der Menschenwürde (Art. 1 GG) und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 GG) ab und ist somit sogar grundrechtlich geschützt. Dies schlägt sich in einigen Strafvorschriften nieder, die eine Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung unter Strafe stellen. Dabei wird zwischen den verletzenden Handlungen, aber auch zwischen dem Verhältnis der beteiligten Personen differenziert. Sexuelle Selbstbestimmung bedeutet, dass jeder Mensch für sich selbst entscheiden darf, bei welchen sexuellen Handlungen er

mitmachen möchte und bei welchen nicht. Als sexuelle Handlungen werden neben dem Geschlechtsakt selbst auch z. B. Zungenküsse oder das Streicheln zwischen den Beinen verstanden. Geschehen solche Handlungen ohne, dass alle beteiligten Personen damit einverstanden sind, kommt eine strafrechtliche Ahndung in Betracht. Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung kommen in allen gesellschaftlichen Schichten und auch in vielen Berufsfeldern vor. Derartige Straftaten sind folglich auch für den Rettungsdienst relevant, zumal das Verhältnis zwischen Rettungsdienstmitarbeitenden und den Patient*innen eine spezielle Strafbarkeit begründen kann. Wichtige Strafvorschriften, welche die sexuelle Selbstbestimmung betreffen sind: • Sexueller Missbrauch, §§ 174–176b StGB • Sexueller Übergriff, sexuelle Nötigung und Vergewaltigung, §§ 177, 178 StGB • Verbreitung sexueller Schriften, Bild- und Tonträger etc., §§ 184–184d StGB • Sexuelle Belästigung, § 184i StGB Missbrauch, Übergriffe, Nötigung, Vergewaltigung Sowohl sexueller Missbrauch als auch sexuelle Übergriffe, sexuelle Nötigung und Vergewaltigung beschreiben die Vornahme sexueller Handlungen entweder gegen den Willen einer Person oder unter Ausnutzung dessen psychischer oder körperlicher Unterlegenheit. Es handelt sich bei all diesen Delikten um Vorsatzdelikte (› Kap. 7.1.4). Für den Rettungsdienst lässt sich hervorheben, dass § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB explizit eine Situation beschreibt, in welcher eine

Person aufgrund ihres körperlichen oder psychischen Zustands erheblich in der eigenen Willensbildung eingeschränkt ist und dies ausgenutzt wird, um sexuelle Handlungen vorzunehmen. Einige Patient*innen in Rettungsdiensteinsätzen befinden sich in einem solchen Zustand, sei es durch Erkrankungen oder den Einfluss von Alkohol oder Drogen. Zudem sind auch in § 174c StGB sexuelle Handlungen unter Strafe gestellt, die gegen den Willen einer Person vorgenommen werden, welche sich gegenüber der vornehmenden Person in einem Behandlungs- oder Betreuungsverhältnis befinden. R e ch t in e c ht (Fall 7.44) Notfallsanitäter Fabian hat Nachtschicht. Er ist sexuell frustriert, weil er aktuell „Ärger mit seiner Freundin“ hat. Spät in der Nacht bekommt Fabian einen Rettungseinsatz und findet als Patientin eine sehr junge Frau vor, die stark alkoholisiert ist. Auf dem Weg ins ca. 20 km entfernte Krankenhaus wittert Fabian die Chance, sich sexuell zu befriedigen. Mit den Gurten der Trage befestigt Fabian die ohnehin schon eingetrübte Patientin, sodass sie ihre Arme nicht mehr richtig bewegen kann. Anschließend nimmt Fabian sexuelle Handlungen an der Patientin vor und hofft, dass sie sich am nächsten Tag sowieso nicht mehr daran erinnern wird. Die Patientin bekommt all das mit, kann sich jedoch aufgrund ihrer Alkoholintoxikation und der Gurte nicht richtig wehren. Später geht sie rechtlich gegen Fabian vor. Für Fabian kommt eine Strafbarkeit nach mehreren Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung in Betracht. Sexuelle Belästigung

Eine sexuelle Belästigung beschreibt im Sinne des § 184i StGB körperliche Berührungen in sexuell bestimmter Weise, welche als belästigend wahrgenommen werden. Darunter fallen v. a. solche Handlungen, die umgangssprachlich als „Grapschen“ bezeichnet werden. Hierzu könnten aufgedrängte Umarmungen oder Küsse, Berührungen von primären oder sekundären Geschlechtsmerkmalen sowie ein Klaps auf den Hintern einer Person zählen. Die Berührungen müssen auf der einen Seite aus einer vorsätzlichen sexuellen Motivation heraus geschehen und auf der anderen Seite von der betroffenen Person auch als belästigend empfunden werden. Etwaige Abgrenzungen sind hierbei oft schwierig, da § 184i StGB das Vorhandensein stark subjektiver Kriterien voraussetzt. Im Rettungsdienst sind körperliche Berührungen bei den Patient*innen an der Tagesordnung. Sie gehören zu den notwendigen Untersuchungsmaßnahmen und werden grds. nicht in einer sexuell motivierten Absicht vorgenommen. Solche körperlichen Berührungen fallen folglich nicht unter den Tatbestand der sexuellen Belästigung, wenn sie für die in der Notfallsituation angebrachte Untersuchung des Rettungsdienstes nötig sind. Dies gilt auch dann, wenn sie an Körperstellen vorgenommen werden, die in anderen Situationen für die sexuelle Belästigung nach § 184i StGB prädestiniert wären und die für betroffene Patient*innen mitunter als unangenehm empfunden werden. Allerdings gilt unabhängig von dem Straftatbestand des § 184i StGB, dass Patient*innen in alle körperlichen Untersuchungen und Berührungen einwilligen müssen und diese damit auch ablehnen können. Dies ist Teil des (sexuellen)

Selbstbestimmungsrechts und muss vom Rettungsdienst akzeptiert werden (vgl. › Kap. 2.2.2). Weiterhin lässt sich sagen, dass gerade in beruflichen Bereichen, in denen körperliche Berührungen die Regel sind, die Gefahr besteht, dass die gängige Praxis für tatsächlich sexuell motivierte Berührungen ausgenutzt wird. Ein Beispiel dafür sind medizinisch nicht indizierte Untersuchungen in sensiblen Körperregionen. § 184i StGB ist ein sog. Antragsdelikt, das nur auf Strafantrag verfolgt wird (§ 184i Abs. 3 StGB). R e ch t in e c ht (Fall 7.45) Notfallsanitäter Fabian wird zu einem häuslichen Notfall gerufen. Eine junge attraktive Frau öffnet an der Einsatzstelle die Tür und erzählt, sie habe sich in den Finger geschnitten und nun Angst, an einer „Blutvergiftung“ zu erkranken. Fabian erkennt schnell, dass es sich nicht um einen ernsten medizinischen Notfall handelt; objektiv sind keine weiteren Untersuchungen mehr indiziert. Da Fabian die Patientin jedoch sehr attraktiv findet und ihr gern körperlich näherkommen würde, veranlasst er, ein 12-Kanal-EKG bei der Patientin zu kleben. Auf die Frage der Patientin, ob das denn nötig sei, erwidert er barsch, das müsse bei jedem Einsatz gemacht werden. Anschließend entkleidet Fabian den Oberkörper der jungen Frau gänzlich und klebt unter vielen, dafür nicht notwendigen Berührungen an deren Brust, die Elektroden. Die Patientin fühlt sich dadurch belästigt, traut sich aber nichts weiter zu sagen. Später geht sie rechtlich gegen Fabian vor. Für Fabian kommt aufgrund der sexuell motivierten körperlichen

Berührungen und dem Empfinden der Patientin, belästigt zu werden, eine Strafbarkeit nach § 184i StGB in Betracht. Verbale Belästigungen mit sexuellem Inhalt sind von dieser Strafnorm nicht erfasst. Dennoch können Äußerungen, die als sexuell belästigend wahrgenommen werden, strafrechtlich relevant sein, wenn sie als Beleidigung gem. § 184 StGB einzuordnen sind. Hierzu zählen herabwürdigende Bemerkungen wie z. B. „Flittchen“, „Schlampe“ oder sonstige obszöne Ausdrücke. Sexuelle Belästigung an der Rettungswache Leider fallen auch an Feuer- und Rettungswachen immer wieder einzelne Personen durch rassistisches oder sexistisches Verhalten auf. Dabei kann gerade sexistisches Handeln auch oft gegen die eigenen Kolleg*innen gerichtet sein und somit Vorfälle innerhalb einer Wache auslösen. Auch hier kann der Tatbestand von sexueller Belästigung (§ 184i StGB) durch körperliche Berührungen mit belästigendem Charakter erfüllt sein. Allerdings werden verbale Äußerungen nicht von dieser Strafnorm erfasst (s. o.). Am Arbeitsplatz, also auch an einer Feuer- oder Rettungswache, werden sexuell belästigende Äußerungen jedoch gesondert bewertet. Außerhalb des Strafrechts gibt es hierbei Vorschriften, die für derartige Bemerkungen Konsequenzen vorsehen. Im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) gilt sexuelle Belästigung als unzulässige Benachteiligung einer Person. Dabei kommt es nicht darauf an, ob eine körperliche Berührung stattgefunden hat; vielmehr sind auch Äußerungen von einer sexuellen Belästigung im Sinne des AGG erfasst. Hierzu können z. B. sexuelle Anzüglichkeiten, sexuell beeinflusste Angebote oder auch zweideutige Witze zählen.

Werden solche Äußerungen getätigt, kann die betroffene Mitarbeiter*in den Arbeitgeber bzw. Vorgesetzten benachrichtigen (Beschwerderecht, § 13 AGG), sodass dieser dagegen vorgehen muss. § 3 AGG Begriffsbestimmungen (4) Eine sexuelle Belästigung ist eine Benachteiligung, […] wenn ein unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten, wozu auch unerwünschte sexuelle Handlungen und Aufforderungen zu diesen, sexuell bestimmte körperliche Berührungen, Bemerkungen sexuellen Inhalts sowie unerwünschtes Zeigen und sichtbares Anbringen von pornographischen Darstellungen gehören, bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird, insbesondere wenn ein von Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen gekennzeichnetes Umfeld geschaffen wird. Der Arbeitgeber ist dazu verpflichtet, alle Beschäftigten vor Diskriminierung zu schützen. Die Pflicht dazu reicht von der Prävention bis hin zu Sofortmaßnahmen. Um der Benachteiligung einer sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz entgegenzuwirken, sind Arbeitgeber bei einer eingehenden Beschwerde dazu verpflichtet, dieser nachzugehen und die betroffene Person über Ergebnisse zu informieren. Der Fall muss demnach geprüft werden und es müssen Maßnahmen ergriffen werden, die geeignet sind, ähnliches Verhalten zu verhindern. Wenn solche Maßnahmen nicht erfolgreich sind, sodass weiter eine unzumutbare Benachteiligung der betroffenen Person besteht, kommt sogar eine fristlose Kündigung der belästigenden Person in Betracht. Handelt ein Arbeitgeber aufgrund

einer eingegangenen Beschwerde nicht, kann rechtlich gegen ihn vorgegangen werden. A c ht u ng Das Thema sexuelle Belästigungen wird im Rettungsdienst/der Feuerwehr häufig unterschätzt, belächelt oder nicht richtig ernst genommen. Gleichzeitig zeigen Umfragen und Studien verheerende Zustände, gerade im Hinblick auf die Häufigkeit solcher Vorfälle. Sexuelle Belästigung kann verbal, nonverbal und physisch stattfinden. Grenzen sind insb. dann überschritten, wenn Handlungen unerwünscht, einseitig, erniedrigend oder abwertend sind oder durch sie ein gewisser (beruflicher) Druck ausgeübt wird. Äußerungen über Geschlechtsmerkmale können unerwünscht sein, auch wenn betroffene Personen dies nicht sofort anmerken, weil sie z. B. unter dem Druck stehen, sich nicht unbeliebt machen zu wollen. Körperliche Berührungen wie z. B. eine Rückenmassage können unerwünscht sein, auch wenn sie nett gemeint sind. Offensichtlich sexuelle Handlungen oder Aufforderungen gehören nicht an den Arbeitsplatz und dürfen nur im eindeutigen Einvernehmen stattfinden. Pr axis tip p Wenn Mitarbeitende im Rettungsdienst sexuelle Belästigung oder gar tiefgreifende Eingriffe in die sexuelle Selbstbestimmung feststellen, darf nicht weggeschaut werden. Schaffen es die betroffenen Personen nicht, sich selbst zu wehren, gilt es, sie dabei zu unterstützen. Betroffene sollten sich stets Hilfe bei der

zuständigen Stelle suchen. Ist eine solche nicht ersichtlich oder nicht hilfreich, können sie sich auch an die Antidiskriminierungsstelle des Bundes wenden (Hilfe- und Beratungstelefon: (030) 18 55 5–18 65; Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“: 116 016).

7.6 Verbleib von Patient*innen vor Ort André Höhle Ein wichtiges Thema für die Arbeit im Rettungsdienst ist der Verbleib der Patient*innen vor Ort. Hierbei handelt es sich um Einsätze, bei denen ein Patientenkontakt stattfindet, ohne dass ein Transport in eine Klinik erfolgt. Dabei können aus rechtlicher Sicht folgende Situationen im Einsatz relevant sein (› Abb. 7.5): A) Eine Patient*in wird untersucht und versorgt, möchte aber nicht mit in die Klinik; aus medizinischer Sicht des Rettungsdienstes ist ein Transport in eine Klinik auch nicht erforderlich (› Kap. 7.6.2). B) Eine Patient*in wird untersucht, versorgt und möchte in die Klinik transportiert werden; aus medizinischer Sicht des Rettungsdienstes ist ein Transport in eine Klinik jedoch nicht erforderlich (› Kap. 7.6.3). C) Eine Patient*in wird untersucht und versorgt, möchte aber nicht mit in die Klinik; aus medizinischer Sicht des Rettungsdienstes ist ein Transport in eine Klinik jedoch erforderlich (› Kap. 7.6.4 und › Kap. 7.6.5).

ABB. 7.5 Rechtlich relevante Situationen zum Verbleib vor Ort [L157] Für den Umgang mit solchen Situationen an der Einsatzstelle spielt das Wissen zur Garantenstellung und zur Einwilligung eine wesentliche Rolle. Die Garantenstellung beschreibt die besondere Schutzfunktion der Rettungsdienstmitarbeiter*innen gegenüber den Patient*innen (› Kap. 7.2.3). Die Einwilligung ist die Zustimmung zu dem Tun oder Unterlassen einer (medizinischen) Maßnahme unter bestimmten Voraussetzungen (› Kap. 6.3.3).

7.6.1 Rechtliche Einordnung Mit Eintreffen an der Einsatzstelle und Übernahme der tatsächlichen Versorgung der Patient*in entsteht für das Rettungsdienstpersonal eine Garantenstellung (› Kap. 7.2.3). Werden notwendige und zumutbare Maßnahmen bei der Versorgung der Patient*in unterlassen und entsteht dadurch ein Schaden, kann dies in strafrechtlicher Hinsicht zu einer Strafbarkeit durch Unterlassen führen. Infrage kommt in diesen Fällen bei

vorsätzlichem Handeln eine Strafbarkeit wegen Körperverletzung durch Unterlassen, Tötung durch Unterlassen oder Aussetzung. Bei einer lediglich fahrlässigen Handlung stehen fahrlässige Körperverletzung oder fahrlässige Tötung im Raum. Die Garantenstellung ist in dieser Situation die gesetzliche Folge der Schutzpflicht des Staates für Leben und körperliche Unversehrtheit (› Kap. 2.3.1). Demgegenüber steht das durch die Grundrechte geschützte Selbstbestimmungsrecht (› Kap. 2.2.2). Trifft die Patient*in eine Entscheidung, ist diese auch dann zu respektieren, wenn sie aus Sicht des Rettungsdienstpersonals unvernünftig erscheint. Wichtig ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass die Schutzpflicht des Staates und damit des Garanten auch bei solchen selbstbestimmten Entscheidungen bedeutsam werden kann. Dies ist immer dann der Fall, wenn Patient*innen Entscheidungen treffen, deren Folgen sie in der konkreten Situation nicht vollumfänglich überblicken können. Dabei sind die Grundsätze zur Einwilligungsfähigkeit von großer Bedeutung (› Kap. 6.3.3). Me r k e Alle Menschen haben ein Recht auf Selbstbestimmung in Bezug auf die eigene Gesundheit (Art. 2 Abs. 1 GG). Dieses beinhaltet auch das Recht dazu, unvernünftige Entscheidungen zu treffen. Im Rahmen von Rettungsdiensteinsätzen müssen vom Personal auch solche Entscheidungen respektiert werden. Besonderheiten ergeben sich jedoch, wenn Patient*innen die Folgen einer Entscheidung nicht vollumfänglich überblicken können. Hier kann auf die

Grundsätze der Einwilligungsfähigkeit zurückgegriffen werden.

7.6.2 Ambulante Versorgung (Fall A) Im rettungsdienstlichen Alltag kommt es vor, dass sich nach der Untersuchung von Patient*innen die Situation ergibt, dass ein Transport in die Klinik aus medizinischer Sicht nicht erforderlich ist und Patient*innen dies genauso sehen. R e ch t in e c ht (Fall 7.46) Notfallsanitäterin Marie und Rettungssanitäter Till werden zu einer gestürzten Person auf der Rolltreppe in einem Modegeschäft alarmiert. Nach Eintreffen und einer Untersuchung der 40-jährigen voll orientierten Patientin stellt sich heraus, dass diese gestolpert ist und Schürfwunden an Knie und Ellenbogen hat. Beides kann die Patient*in jedoch ohne Probleme, unter leichten Schmerzen, bewegen. Marie und Till sehen keine medizinische Indikation für einen Transport in eine Klinik. Die Patientin möchte auch nicht in ein Krankenhaus und will notfalls ihren Hausarzt aufsuchen. Dieser auf den ersten Blick unkritische Fall beinhaltet einige rechtliche Fallstricke. Sollte die Patientin im geschilderten Fall im Nachhinein doch anhaltende Beschwerden haben und sich bei einer ärztlichen Untersuchung herausstellen, dass ggf. doch eine schwerwiegendere Verletzung vorliegt, könnte die Patientin auf den Gedanken kommen, rechtliche Schritte gegen den Rettungsdienst einzuleiten.

Vor diesem Hintergrund ist es in solchen Situationen zwingend erforderlich, die Patient*innen entsprechend dem fachlichen Standard und der jeweiligen Situation vollständig zu untersuchen. Dies bedeutet, dass bei jedem Einsatz mindestens Atmung (Atemfrequenz und Sauerstoffsättigung), Kreislauf (Puls und Blutdruck) und Bewusstsein (Ist Patient*in wach und orientiert?) untersucht werden. Dies kann z. B. anhand des allgemein anerkannten ABCDE-Schemas erfolgen. Darüber hinaus sind einsatzspezifisch weitere Untersuchungen vorzunehmen, bei einem Sturz durch Stolpern z. B. ein Bodycheck sowie eine Untersuchung der entkleideten Stellen, auf welche der Sturz erfolgt ist und wo Schmerzen geschildert werden. Eine derart gründliche Untersuchung gehört zu den Sorgfaltspflichten, die vom Rettungsdienstpersonal unbedingt beachtet werden müssen (vgl. › Kap. 4.6). Werden die Sorgfaltspflichten beachtet, reduziert sich dadurch deutlich das Risiko, wegen einer fahrlässigen Straftat strafbar zu sein. Diese Untersuchung ist im Rettungsdienstprotokoll zu dokumentieren. Pr axis tip p Jeder Rettungsdiensteinsatz muss sorgfältig dokumentiert werden. Größte Sorgfalt bei der Dokumentation ist insb. bei den Einsätzen erforderlich, bei denen Patient*innen nicht transportiert werden. Aus der Dokumentation muss hervorgehen, dass die Patient*innen entsprechend der jeweiligen Situation sorgfältig untersucht worden sind. Eine solche Untersuchung muss immer situationsspezifisch erfolgen, mindestens gehört dazu jedoch die Erhebung der Vitalparameter und eine ausführliche

Anamnese zum Notfallgeschehen sowie etwaigen Vorerkrankungen. Darüber hinaus ist zu dokumentieren, dass Rettungsdienst und Patient*in übereinstimmend keine Notwendigkeit für einen Transport in eine Klinik sehen sowie ggf. weitere Absprachen, z. B., dass die Patient*in ihren Hausarzt aufsuchen möchte. Die Patient*in muss zudem ein Exemplar des Protokolls ausgehändigt bekommen.

7.6.3 Keine medizinische Indikation für Transport in die Klinik (Fall B) Besteht aus Sicht des Rettungsdienstes keine medizinische Indikation für einen Transport in eine Klinik, kann dies dann zu einer Konfliktsituation führen, wenn die Patient*in auf einen solchen Transport besteht. Nach Möglichkeit wird in solchen Situationen eine gemeinsame Lösung mit der Patient*in angestrebt und diese über alternative Möglichkeiten der ambulanten medizinischen Versorgung beraten (z. B. Besuch des Hausarztes, Aufsuchen des ärztlichen Bereitschaftsdienstes etc.). Kommen die alternativen Möglichkeiten für die Patient*in nicht in Betracht und wird weiterhin ein Transport mit dem Rettungsdienst in die Klinik gefordert, gilt in rechtlicher Hinsicht Folgendes: Anspruch auf Beförderung von Notfallpatient*innen Notfallpatient*innen haben einen gesetzlichen Anspruch auf Beförderung in eine Klinik. Dieser Anspruch ist in den Rettungsdienstgesetzen der Bundesländer verankert. In NRW ergibt sich dieser Anspruch z. B. aus § 2 Abs. 2 RettG NRW:

Die Notfallrettung hat die Aufgabe, bei Notfallpatientinnen und Notfallpatienten lebensrettende Maßnahmen am Notfallort durchzuführen, deren Transportfähigkeit herzustellen und sie unter Aufrechterhaltung der Transportfähigkeit und Vermeidung weiterer Schäden mit Notarzt- oder Rettungswagen oder Luftfahrzeugen in ein für die weitere Versorgung geeignetes Krankenhaus zu befördern. […] Aus dem vorstehenden Gesetzesauszug wird deutlich, dass Notfallpatient*innen nicht nur einen Anspruch auf lebensrettende Maßnahmen und Herstellung der Transportfähigkeit haben, sondern auch einen Anspruch auf Beförderung in ein geeignetes Krankenhaus. Anknüpfungspunkt bzw. Voraussetzung dafür ist die Stellung als Notfallpatient*in. Dazu sagt z. B. § 2 Abs. 2 RettG NRW weiter: […] Notfallpatientinnen und Notfallpatienten sind Personen, die sich infolge Verletzung, Krankheit oder sonstiger Umstände entweder in Lebensgefahr befinden oder bei denen schwere gesundheitliche Schäden zu befürchten sind, wenn sie nicht unverzüglich medizinische Hilfe erhalten. Hier wird deutlich, dass es sich bei Notfallpatient*innen um Personen handeln muss, bei denen entweder Lebensgefahr besteht oder schwere gesundheitliche Schäden zu erwarten sind. Patient*innen, bei denen definitiv keine medizinische Indikation für den Transport in die Klinik besteht, fallen danach nicht unter die Kategorie „Notfallpatient*in“. Für diese besteht folglich auch kein Anspruch auf Beförderung in eine Klinik nach den Regelungen für Notfallpatient*innen.

Anspruch auf Beförderung Kranker und Verletzter, die keine Notfallpatient*innen sind Patient*innen, die keine Notfallpatient*innen sind, haben unter Umständen dennoch einen Anspruch auf einen Transport in eine Klinik. § 2 Abs. 3 RettG NRW regelt dazu z. B. Folgendes: Der Krankentransport hat die Aufgabe, Kranken oder Verletzten oder sonstigen hilfsbedürftigen Personen, die nicht unter Absatz 2 fallen (= keine Notfallpatient*innen), fachgerechte Hilfe zu leisten und sie unter Betreuung durch qualifiziertes Personal mit Krankenkraftwagen oder mit Luftfahrzeugen zu befördern. Bei den von dieser Vorschrift betroffenen Patient*innen und sonstigen hilfsbedürftigen Personen handelt es sich um solche, die während des Transports einer fachgerechten Hilfe und qualifizierten Betreuung bedürfen. Welche Hilfe dies sein könnte, ergibt sich aus der geforderten Ausstattung eines KTW und der Qualifikation des Personals. Kommt aufgrund der Verletzung oder Erkrankung keine fachgerechte Hilfe oder qualifizierte Betreuung in Betracht, besteht auch kein Anspruch auf die Inanspruchnahme eines qualifizierten Krankentransports. Da ein RTW in Bezug auf die Ausstattung und das qualifizierte Personal ein „Mehr“ zur Ausstattung und Qualifikation des KTW ist, kann eine solche Patient*in auch von einem RTW transportiert werden. In Situationen, in denen die Besatzung eines RTW feststellt, dass es sich nicht um einen Notfallpatienten handelt, aber um eine sonstige erkrankte oder hilfsbedürftige Person, kann diese Person, entsprechend den örtlichen Vorgaben, auch von einem RTW transportiert werden. Ob in derartigen Fällen ein KTW nachgefordert werden kann, muss entsprechend der im

Einsatzgebiet üblichen Vorgehensweise mit der Leitstelle abgestimmt werden. R e ch t in e c ht (Fall 7.47) Der Rettungsdienst wird zu einem 50-jährigen Patienten alarmiert. Der Patient ist voll orientiert und hat keine Vorerkrankungen; alle Vitalwerte sind unauffällig. Der Patient gibt an, seit drei Tagen Husten und Schnupfen zu haben. Insbesondere nachts würde er dadurch kaum schlafen können. Durch den mangelnden Schlaf und den anstrengenden Husten fühle er sich kraftlos und möchte gerne mit dem Rettungsdienst in eine Klinik gebracht werden. Hier handelt es sich um einen Patienten, der weder Notfallpatient noch sonst derart erkrankt oder hilfsbedürftig ist, um der Ausstattung eines KTW oder dessen qualifizierten Personals zu bedürfen. Daher besteht hier grds. kein Anspruch auf einen Transport mit einem Rettungsmittel nach RettG. Rechtliche Risiken aus Garantenstellung und zivilrechtliche Haftung Bis hierhin kann festgehalten werden, dass Patient*innen im Rahmen von umgangssprachlich genannten „Bagatelleinsätzen“ i. d. R. keinen Anspruch auf Beförderung durch die Notfallrettung und den qualifizierten Krankentransport haben. Dennoch verbleiben für das Rettungsdienstpersonal rechtliche Risiken, wenn Patient*innen nicht befördert werden, obwohl sie dies ausdrücklich wünschen. Hintergrund ist die für die Patient*innen bestehende Garantenstellung (› Kap. 7.2.3).

Rechtliche Risiken werden immer dann relevant, wenn es nach dem Rettungsdiensteinsatz zu einer Verschlechterung des Zustands der Patient*in kommt und dadurch gesundheitliche Schäden entstehen oder die Patient*in gar verstirbt. In solchen Fällen kann die Frage aufkommen, ob der Tod oder die Verschlechterung des Gesundheitszustands hätten verhindert werden können, wenn die Patient*in transportiert worden wäre. Um einem solchen Vorwurf wirksam entgegentreten zu können, ist es sehr wichtig, dass Patient*innen auch bei vermeintlichen Bagatelleinsätzen fachgerecht untersucht werden und alles genau dokumentiert wird. Nur wenn beides vorliegt, kann es gelingen, sich wirksam gegen einen solchen Vorwurf zu wehren. Pr axis tip p Von entscheidender Bedeutung bei jedem Einsatz ist, dass Patient*innen, trotz vermeintlich fehlender Indikation für einen Transport in eine Klinik, immer fachgerecht untersucht werden und eine ausführliche Anamnese gemacht wird. Das Ergebnis von beidem muss umfassend dokumentiert werden und die Patient*in ein Exemplar des Protokolls ausgehändigt bekommen. R e ch t in e c ht (Fall 7.48) Notfallsanitäterin Marie und Rettungssanitäterin Ida werden mit dem RTW zu einem Einsatz in einem Einfamilienhaus alarmiert. Es ist Samstagabend 21 Uhr. Vor Ort werden beide von einem besorgten Ehemann empfangen. Dieser schildert, seine Frau, die sonst immer gesund gewesen sei, habe seit vier Stunden Durchfall, zudem habe sie sich auch einmal übergeben müssen.

Die voll orientierte Patientin wird von Marie und Ida untersucht; sie ist kreislaufstabil, es gibt keine Anzeichen für einen kritischen Gesundheitszustand. Für Marie und Ida besteht aus medizinischer Sicht keine Indikation für eine Vorstellung der Patientin in einer Klinik. Die Patientin und ihr Ehemann geben an, dass sie bereits überlegt hatten, den ärztlichen Notdienst aufzusuchen, der in ca. fünf Kilometer Entfernung eine Praxis hat. Jedoch habe man gerade ein neues Auto, sollte sich darin jemand übergeben, würde man das nie wieder sauber bekommen. Daher habe man den Rettungsdienst gerufen, dieser sei ja schließlich dafür da, kranke Menschen zu transportieren. Zudem komme man dann ja auch viel schneller dran, als sich in ein volles Wartezimmer zu setzen, äußert der Ehemann. Beide bestehen auf einen Transport mit dem Rettungswagen in eine Klinik. Dieses Beispiel zeigt auf, wie ein Konflikt über die Notwendigkeit eines Transports mit dem Rettungsdienst entstehen kann. Gelingt es trotz Beratung durch den Rettungsdienst hier nicht, Einsicht im Hinblick auf die fehlende medizinische Notwendigkeit eines Transports in die Klinik hervorzurufen, erfolgt die Ablehnung eines Transports durch den Rettungsdienst auf Risiko des Rettungsdienstpersonals. Vor diesem Hintergrund muss immer ernsthaft überlegt werden, ob lieber ein Transport durchgeführt wird, der vermeintlich unnötig ist, als dass ein Transport unterlassen wird und sich später herausstellt, dass dem Begehren der Patient*in doch ein ernsthaftes medizinisches Problem zugrunde lag.

Die Arbeit des Rettungsdienstes erfolgt mit Bezug zu den höchsten Rechtsgütern eines Menschen – dessen Leben und Gesundheit. Dieses Umstands müssen sich alle Mitarbeitenden des Rettungsdienstes bewusst sein. Kommt es nach einem Rettungsdiensteinsatz, bei welchem die Patient*in entgegen deren Willen nicht transportiert wurde, zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes oder zum Tod, steht das eingesetzte Rettungsdienstpersonal zunächst einmal unter Rechtfertigungsdruck. Ein Haftungsrisiko in zivil- und strafrechtlicher Hinsicht kann hier nie gänzlich ausgeschlossen werden. Sofern in einer solchen Situation die Entscheidung getroffen wird, die Patient*in entgegen deren ausdrücklichen Wunsch nicht zu befördern, ist wieder eine ausführliche Dokumentation erforderlich. A c ht u ng Bei der Arbeit des Rettungsdienstes geht es um Leben und Gesundheit der Patient*innen. Kleine Fehler oder Nachlässigkeiten können zu schwerwiegenden Folgen führen. Daher ist ein fachgerechtes und gewissenhaftes Arbeiten bei jedem Einsatz von größter Bedeutung. Pr axis tip p Bei der aktuellen Rechtslage lautet die Devise im Rettungsdienst in Bezug auf rechtssicheres Handeln „lieber einmal zu viel transportieren als einmal zu wenig“. Problematisch ist dabei, dass dadurch das Gesundheitssystem und v. a. das Rettungswesen oft unnötig belastet wird. Lösungen

hierzu, die das Rettungswesen entlasten und mehr Rechtssicherheit für das Rettungsdienstpersonal schaffen, gibt es noch nicht – auch wenn sie wünschenswert wären. Für die Mitarbeitenden im Rettungsdienst bedeutet dies, dass oft nur ein Transport „sicherheitshalber“ übrigbleibt, um absolut rechtssicher zu handeln.

7.6.4 Transportverweigerung (Fall C) – Patient*in ist orientiert R e ch t in e c ht (Fall 7.49) Notfallsanitäter Fabian und Notfallsanitäterin Marie werden mit dem RTW zu einer gestürzten Person auf der Rolltreppe in einem Kaufhaus alarmiert. Beim Eintreffen wird Fabian und Marie durch das Kaufhauspersonal mitgeteilt, man habe beobachtet, dass die Patientin auf der Rolltreppe auf einmal getaumelt habe, dann zusammengesackt und ca. 30 Sekunden bewusstlos gewesen sei. Nach der Untersuchung der 40-jährigen voll orientierten Patientin können eine Schürfwunde am Knie sowie eine am Ellenbogen festgestellt werden. Beides kann die Patientin jedoch ohne Probleme, unter leichten Schmerzen, bewegen. Die Patientin ist voll orientiert und möchte auf keinen Fall in die Klinik transportiert werden, da sie sich wieder einigermaßen gut fühle. Fabian und Marie empfehlen der Patientin dringend, sich in eine Klinik zur weiteren Untersuchung und Abklärung der kurzzeitigen Bewusstlosigkeit transportieren zu lassen. Eine plötzlich eintretende Bewusstlosigkeit sollte dringend klinisch abgeklärt werden.

Auch hier muss die Patientin wieder entsprechend dem fachlichen Standard und der jeweiligen Situation vollständig untersucht werden. Dies bedeutet bei einer geschilderten unklaren Bewusstlosigkeit, dass noch zusätzlich zu den im ersten Fall (Fall 7.46) durchgeführten Untersuchungen z. B. ein 12-Kanal-EKG, eine neurologische Untersuchung und eine Kontrolle des Blutzuckers notwendig sind. Voll orientierte und einwilligungsfähige Patient*innen werden im Falle der Ablehnung eines Transports, trotz medizinischer Notwendigkeit, über alle möglichen Folgen einer Transportverweigerung informiert. Dies umfasst auch die Darstellung möglicher drastischer Folgen, wie das Risiko des Todes im Falle einer erneuten Bewusstlosigkeit. Wird ein Transport nach dieser Darstellung noch immer abgelehnt, ist das Selbstbestimmungsrecht (› Kap. 2.2.2) zu respektieren. Dies alles wird wieder entsprechend sorgfältig dokumentiert und der Patient*in ein Auszug des Protokolls überlassen. Insbesondere ist in diesem Zusammenhang auch zu dokumentieren, dass die Patient*in zum Zeitpunkt der Entscheidung voll einwilligungsfähig gewesen ist und welche Kriterien dafür gesprochen haben (orientiert in Bezug auf Person, Ort, Zeit, Situation) (› Kap. 6.3.3).

7.6.5 Transportverweigerung (Fall C) – Patient*in ist nicht orientiert Liegt die medizinische Indikation für einen Transport in eine Klinik vor und wird der Transport durch die Patient*in verweigert, wird

geprüft, ob die Patient*in einwilligungsfähig bzw. orientiert ist (› Kap. 6.3.3). Eine wirksame Einwilligung oder Verweigerung kann nur in den Fällen erteilt werden, in denen die Einwilligungsfähigkeit vorliegt. R e ch t in e c ht (Fall 7.50) Notfallsanitäter Fabian und Notfallsanitäterin Marie werden mit dem RTW zu einer gestürzten Person auf der Rolltreppe in einem Supermarkt alarmiert. Beim Eintreffen wird Fabian und Marie durch das Supermarktpersonal mitgeteilt, man habe beobachtet, dass die Patientin auf der Rolltreppe auf einmal getaumelt habe, dann zusammengesackt und ca. 30 Sekunden bewusstlos gewesen sei. Nach der Untersuchung der 40-jährigen Patientin können eine Schürfwunde am Knie und eine am Ellenbogen festgestellt werden. Beides kann die Patientin jedoch ohne Probleme, unter leichten Schmerzen, bewegen. Die Patientin möchte auf keinen Fall in die Klinik transportiert werden, da sie sich wieder einigermaßen gut fühle. Fabian und Marie fällt auf, dass die Patientin stark alkoholisiert ist. Sie kann sich kaum auf den Beinen halten, ist örtlich und in Bezug auf die Situation nicht orientiert. Fabian und Marie empfehlen der Patientin dringend, sich von den beiden in eine Klinik zur weiteren Untersuchung bringen zu lassen. Eine plötzlich eintretende Bewusstlosigkeit sollte dringend abgeklärt werden. Hier liegt eine medizinische Notwendigkeit für einen Transport in eine Klinik vor. Die Patientin verweigert den Transport, ist jedoch nicht einwilligungsfähig. Kann die Patientin hier trotz der Schilderung von ggf. drastischen Folgen einer

Transportverweigerung nicht davon überzeugt werden, mit in die Klinik zu fahren, muss in einem nächsten Schritt die Nachforderung einer Notärzt*in erwogen werden. Diese kann die medizinischen Hintergründe und möglichen Folgen, wenn nötig, noch einmal mit erweiterter fachlicher Expertise erläutern und ggf. damit eine Mitfahrt der Patientin bewirken. Führt auch die ärztliche Aufklärung nicht zum Erfolg, muss bei Lebensgefahr oder möglichen schweren gesundheitlichen Schäden zum Schutz der Patientin ggf. eine zwangsweise Verbringung in die Klinik erfolgen. Da der Rettungsdienst keinen unmittelbaren Zwang ausüben darf, ist hierfür die Polizei hinzuzuziehen (› Kap. 5.3.4). Me r k e Bei Patient*innen mit behandlungsbedürftigen Verletzungen/Erkrankungen muss immer umfassend über die konkrete medizinische Einschätzung aufgeklärt und in diesem Zusammenhang auf einen Transport hingewirkt werden. Dies gilt auch dann, wenn die Patient*innen nicht orientiert sind. Kann die Patient*in nicht überzeugt werden, kann anhand der Situation erwogen werden, eine Notärzt*in hinzuzuziehen, die ggf. noch einmal differenzierter untersuchen und aufklären kann. Je größer der potenzielle gesundheitliche Schaden ist, desto eher kann eine solche Aufklärung auch in ein „Überreden“ übergehen.

7.6.6 Dokumentation nicht durchgeführter Transporte

Im Zusammenhang mit den bisherigen Ausführungen zu nicht durchgeführten Transporten wurde wiederholt auf das Erfordernis einer gründlichen Dokumentation hingewiesen. Diese Dokumentation fällt je nach dargestellter Fallgruppe unterschiedlich aus. Gleich ist bei allen Fallgruppen, dass die Dokumentation der medizinischen Aspekte genauso detailliert und gewissenhaft wie in dem Fall erfolgen muss, in welchem ein Transport durchgeführt wird. Dies umfasst alle erhobenen Befunde, die Anamnese sowie ggf. durchgeführte Maßnahmen, ebenso wie den Verlauf während der Zeit des Patientenkontakts (z. B. Entwicklung der Blutdruckwerte, Sauerstoffsättigung etc.). Für die Dokumentation der Aufklärung der Patient*innen reichen die oft verwendeten Vordrucke, die in einem kurzen Absatz nur allgemein umschreiben, dass die Patient*in einen Transport ablehnt und auf eigenes Risiko zu Hause bleibt und im Zweifel sterben kann, nicht aus. Die Aufklärung muss im Hinblick auf den konkreten Einsatz und die konkreten Risiken erfolgen. Allgemeine Formulierungen sind dafür im Zweifel nicht ausreichend (sog. Transportverweigerungsprotokoll, auch Transportverweigerung). Können die spezifischen Risiken durch das nichtärztliche Rettungsdienstpersonal nicht eingeschätzt oder überblickt werden, muss die Aufklärung durch eine Notärzt*in erfolgen. Von entscheidender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch die Dokumentation der Einwilligungsfähigkeit. Aus den Aufzeichnungen muss sich klar ergeben, dass die einen Transport ablehnende Patient*in einwilligungsfähig war, wenn aus Sicht des Rettungsdienstes eine medizinische Indikation für einen Transport bestand.

A c ht u ng Das Unterschreiben-Lassen einer allgemein formulierten „Transportverweigerung“ ist zur Dokumentation im Sinne einer rechtlichen Absicherung nicht ausreichend. Patient*innen, die gegen den Rat des Rettungsdienstes nicht in ein Krankenhaus transportiert werden möchten, müssen über die konkreten Risiken ihrer Entscheidung explizit aufgeklärt werden. Es ist also notwendig, ein umfangreiches Protokoll anzufertigen, das sich auf den konkreten Einsatz bezieht und das über das standardisierte Transportverweigerungsprotokoll hinaus geht. Wesentliche Bedeutung hat dabei auch die Dokumentation der Einwilligungsfähigkeit. Patient*innen sind dabei nicht dazu verpflichtet, eine Transportverweigerung zu unterschreiben. Sie können folglich auch nicht dazu gezwungen werden. Wird die Leistung einer Unterschrift verweigert, ist dieser Umstand entsprechend mitzudokumentieren . Diese Dokumentation bietet ebenfalls ein hohes Maß an rechtlicher Sicherheit. Me r k e Auch wenn eine Patient*in nicht transportiert werden möchte und keine „Transportverweigerung“ unterschreibt, besteht ein hohes Maß an Rechtssicherheit für das Rettungsdienstpersonal, soweit eine detaillierte Dokumentation im Einsatzprotokoll erfolgt. Dass Patient*innen eine solche „Transportverweigerung“ unterschreiben, ist demnach zwar wünschenswert, aber nicht zwingend notwendig.

Eine Unterschrift durch weitere Zeug*innen kann hilfreich sein. Wichtig ist, dass in diesem Fall auch die Daten (Name, Anschrift) der Zeug*innen aufgenommen werden, sonst ist im Streitfall eine Erreichbarkeit kaum sichergestellt. Im Hinblick auf die Pflicht zur Verschwiegenheit muss hier jedoch sehr umsichtig vorgegangen werden. Handelt es sich um eine Einsatzsituation in einer Wohnung, bei welcher Angehörige oder Nachbarn etc. der Patient*in vor Ort sind und bekommen diese durch ihre Anwesenheit ohnehin alles mit, ist die Einbeziehung als Zeug*in grds. unproblematisch. Ähnlich ist es, bei Einsatzsituationen an öffentlichen Orten, an dem sich während des Patientenkontakts ohnehin Leute aufhalten, welche dadurch die Situation mitbekommen. Problematisch wäre es jedenfalls, wenn fremde Unbeteiligte zu einer Einsatzstelle dazu geholt werden, diese dann vom Rettungsdienst über den Gesundheitszustand der Patient*in aufgeklärt werden, um eine entsprechende Zeug*in für die Transportverweigerung zu bekommen. Dieses Vorgehen würde, wenn nicht die ausdrückliche Einwilligung der Patient*in dafür vorliegt, gegen die Verpflichtung zur Verschwiegenheit verstoßen.

7.6.7 Transportanordnung durch den Träger – absolute Transportpflicht Teilweise geben Träger des Rettungsdienstes die Vorgabe heraus, dass jede Patient*in transportiert werden muss, und in den Fällen, in denen es nicht zu einem Transport kommt, immer eine Transportverweigerung von Patient*innen ausgefüllt werden muss (absolute Transportpflicht).

In Bezug auf die Anordnung, jede Patient*in zu transportieren, ist schon fraglich, ob eine solche Anordnung wirksam sein kann. Für Notfallpatient*innen sowie sonstige Erkrankte und Hilfsbedürftige, die der besonderen Einrichtungen eines KTW bedürfen, lässt sich die Rechtmäßigkeit einer solchen Anordnung aus dem RettG (z. B. RettG NRW) ableiten. Sofern die Anordnung jedoch auch sonstige Menschen erfasst, die aufgrund einer geringfügigen Erkrankung oder Verletzung weder Notfallpatient*innen noch sonstige Erkrankte und Hilfsbedürftige sind, wäre eine solche Anordnung nicht vom Gesetz gedeckt. Werden solche Menschen transportiert, handelt es sich um Einsätze, die nicht über die GKV abgerechnet werden können, da es hier wahrscheinlich an den von § 60 Abs. 1 SGB V zwingenden medizinischen Gründen fehlt. Möglicherweise kann eine solche Anordnung vom Weisungsrecht des Trägers im Hinblick auf die Organisation des Rettungsdienstes im Versorgungsgebiet gerechtfertigt sein. Es würde sich dann um eine Arbeitsanweisung handeln, deren Verletzung arbeitsrechtliche Konsequenzen haben würde. Die Anordnung verlangt streng betrachtet vom Rettungsdienstpersonal, dass auch in Fällen, in denen Patient*in und Rettungsdienst einhellig der Auffassung sind, dass ein Transport in eine Klinik aufgrund einer geringfügigen Verletzung oder Erkrankung nicht notwendig ist, eine Transportverweigerung unterschrieben werden muss. Hierbei wird von der Patient*in gefordert, eine Erklärung abzugeben, dass entgegen des ausdrücklichen Rates des Rettungsdienstpersonals ein Transport abgelehnt wird, auch wenn die Patient*in tatsächlich einsieht, dass ein Transport nicht notwendig ist und damit eigentlich nicht von einer „Verweigerung“ gesprochen werden kann.

Denklogisch wird in Rettungsdienstbereichen, in welchen der Träger eine „absolute Transportpflicht“ anstrebt, verkannt, dass die Möglichkeit besteht, dass Rettungsdienstpersonal und Patient*in einvernehmlich einen Transport nicht für nötig halten.

7.6.8 Arbeitsunfälle Bei Arbeitsunfällen kommt es oftmals zu einer Alarmierung des Rettungsdienstes. Gelegentlich stellt sich die Situation für den Rettungsdienst als „Bagatelleinsatz“ dar und es kommt die Frage auf, ob bei Arbeitsunfällen eine Verpflichtung zum Transport mit dem Rettungsdienst in eine Klinik oder zu einem Durchgangsarzt besteht. Eine gesetzliche Verpflichtung, dass Patient*innen nach einem Arbeitsunfall mit dem Rettungsdienst transportiert werden müssen, besteht nicht. § 10 des ArbSchG (Arbeitsschutzgesetz) regelt zur Ersten Hilfe und zu Notfällen im Betrieb lediglich, dass Arbeitgeber*innen verpflichtet sind, Maßnahmen zur Ersten Hilfe etc. zu treffen. Darüber hinaus wird bestimmt, dass im Notfall Verbindungen zu außerbetrieblichen Stellen in den Bereichen Erste Hilfe, medizinische Notversorgung etc. eingerichtet werden müssen. Die gesetzliche Unfallversicherung konkretisiert die Pflichten zum Arbeitsschutz im Rahmen ihrer Regelungsbefugnisse. Dazu stellt die gesetzliche Unfallversicherung Regelwerke auf, die für deren Mitglieder verbindlich sind. In der DGUV-Vorschrift 1 „Grundsätze der Prävention“ finden sich in § 24 allgemeine Pflichten der Unternehmer zur Ersten Hilfe. Dort ist in Abs. 2 geregelt: Der Unternehmer hat dafür zu sorgen, dass nach einem Unfall unverzüglich Erste Hilfe geleistet und eine erforderliche ärztliche

Versorgung veranlasst wird. Zum Transport regelt Abs. 3: Der Unternehmer hat dafür zu sorgen, dass Verletzte sachkundig transportiert werden. Ergänzend zu den DGUV-Vorschriften gibt es DGUV-Regeln, die auf die Vorschriften Bezug nehmen und diese näher erläutern. Zum Transport nach einem Arbeitsunfall regelt DGUV-Regel 100-001 Punkt 4.6.3 Folgendes: Die Entscheidung über die Art des Transportes ist insbesondere abhängig von Art, Umfang und Schwere der Verletzung, der dem Verletzten möglichen Gehfähigkeit sowie der Länge der Beförderungsstrecke. Bestehen Zweifel bei der Auswahl des geeigneten Transportmittels, ist eine sachkundige Entscheidung möglichst durch einen Arzt herbeizuführen. Bei geringfügig erscheinenden Verletzungen kann es ausreichen, den Transport im PKW oder Taxi durchzuführen. Ob der Verletzte neben dem Fahrzeugführer durch eine weitere Person begleitet werden muss, ist von der Art der Verletzung bzw. der gesundheitlichen Beeinträchtigung abhängig. Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die Art des Transports nicht zwingend vorgegeben ist. Insbesondere besteht keine Verpflichtung dazu, zu jedem Unfall bei der Arbeit den Rettungsdienst hinzuzuziehen, dies gilt insb. bei geringfügig erscheinenden Verletzungen. Wird vor Ort deutlich, dass keine Indikation für einen Transport mit einem Rettungswagen besteht, und wurde der Rettungsdienst auch nur deshalb gerufen, weil die Annahme bestand, dass dies aus rechtlicher Sicht erforderlich sei, kann das Rettungsdienstpersonal

darüber aufklären, dass es eine derartige rechtliche Verpflichtung nicht gibt. In Absprache mit den Beteiligten vor Ort kann in solchen Fällen auch eine Abstimmung dahingehend erfolgen, dass sich die Patient*in selbstständig oder auf anderem Wege in eine weitere ärztliche Behandlung begibt. Me r k e Oft wird irrtümlich angenommen, dass bei allen Arbeitsunfällen zwangsläufig ein RTW für einen Transport zu einer weitergehenden ärztlichen Untersuchung/Behandlung hinzugezogen werden muss. Eine derartige rechtliche Verpflichtung besteht jedoch nicht. In Abstimmung mit den Beteiligten vor Ort kann entschieden werden, dass sich die Patient*in auf anderem Wege in eine weitere ärztliche Untersuchung/Behandlung begibt.

Quellen und Anmerkungen: [1] BVerfG 123, 267, 408 [2] LG Berlin, Urt. v. 26.03.2018 – Az. 532 Ks 9/18 [3] BGH, Urt. v. 25.04.2001–1 StR 130/01 [4] Nach der wohl herrschenden Meinung. Eine andere Auffassung, nach welcher bereits die Übernahme des Einsatzes eine Garantenstellung begründet, ist u. U. durchaus vertretbar. [5] LG Trier, Urt. v. 25.11.2020–4 KLs 8044 Js 209/13

Gerichtsurteile und Beschlüsse:

BVerfG, Urt. v. 26.03.1997–6 C 3.96 LG Berlin, Urt. v. 26.03.2018 – Az. 532 Ks 9/18 OLG Karlsruhe, Beschl. v. 16.03.2022–1 Ws 47/22 VGH München, Beschl. v. 21.04.2021–12 CS 21.702 Weitere Literatur und Internetquellen: Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Leitfaden für Beschäftigte, Arbeitgeber*innen und Betriebsräte. 9. Aufl 2023. Beckscher Online Kommentar StGB, Stand 07/2023 Bundesministerium des Inneren, Initiativkreis Korruptionsprävention Wirtschaft/Bundesverwaltung – Fragen-/Antwortenkatalog zum Thema Annahme von Belohnungen, Geschenken und sonstigen Vorteilen (Zuwendungen) abrufbar: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloa ds/DE/publikationen/themen/moderneverwaltung/korruptionspraevention/faqskorruptionspraevention.pdf? __blob=publicationFile&v=3 (letzter Zugriff: 15. November 2023) Deutscher Bundestag, Sexuelle Selbst-Bestimmung – leicht erklärt, Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“ 18–19/2016 Erb/Schäfer. Münchner Kommentar StGB. 4. Aufl 2021. Fischer. Strafgesetzbuch Kommentar. 70. Aufl 2023. Kühl Strafrecht Allgemeiner Teil. 8. Aufl 2017.

Pauge/Offenloch/Gödicke. Arzthaftungsrecht. 15. Aufl 2023. Rengier. Strafrecht Allgemeiner Teil: Strafrecht AT. 14. Aufl 2022. Rengier Strafrecht Besonderer Teil I: Strafrecht BT I. 25. Aufl 2023. Rengier Strafrecht Besonderer Teil II: Strafrecht BT II. 24. Aufl 2023. Roxin/Greco. Strafrecht Allgemeiner Teil Bd. 1: Grundlagen – Der Aufbau der Verbrechenslehre. 5. Aufl 2020. Roxin. Strafrecht Allgemeiner Teil Bd. 2: Besondere Erscheinungsformen der Straftat. 1. Aufl 2003. Salomon. Praxisbuch Ethik in der Notfallmedizin. 1. Aufl 2015. Wessels/Beulke/Satzger. Strafrecht Allgemeiner Teil. 52. Aufl 2022. https://www.bpb.de (letzter Zugriff: 15. November 2023)

Kapitel 8 Medizinprodukterecht André Höhle

Im Rettungsdienst werden eine Vielzahl von Medizinprodukten unterschiedlicher Ausprägung verwendet. Die Bandbreite an Produkten, die als Medizinprodukte gelten, ist riesig, angefangen vom Wundschnellverband über sterile Kompressen bis hin zu komplexen Geräten mit unterschiedlichen Funktionen wie dem Beatmungsgerät. Das Medizinprodukterecht ist stark europarechtlich geprägt, grundlegende Norm ist die Medizinprodukte-Verordnung (Medical Device Regulation – MDR). Die gesetzlichen Rahmenbedingungen zum Medizinprodukterecht wurden in den letzten Jahren immer mehr verschärft. Dies ist u. a. auf diverse Skandale zurückzuführen, z. B. den „Brustimplantate-Skandal“. Dabei hat ein Unternehmen in Brustimplantaten anstatt Silikon, das medizinischen Standards entspricht, solches Silikon verwendet, das normalerweise in der Industrie genutzt wird. Dieser Skandal hat eine Vielzahl gerichtlicher Verfahren nach sich gezogen und auf politischer Ebene dazu geführt, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen des Medizinprodukterechts weiter verschärft wurden. Für den Rettungsdienst ist es wichtig, Medizinprodukte sicher anzuwenden. Dies beginnt bei der Überprüfung der Verwendbarkeit bei sterilen Produkten und geht bis zur Überprüfung der Funktionsfähigkeit nach Herstellervorgaben von Beatmungsgerät, Multiparameter-Monitor, Absauggerät etc. sowie deren fachgerechte Anwendung bei Patient*innen. D ie s e s K ap it e l s o ll F o lge nd e s ve r mit te l n: • Gesetzliche Rahmenbedingungen des Medizinprodukterechts • Grundlagen der Zulassung von Medizinprodukten • Die Bedeutung von Anwender- und Betreiberpflichten • Vorgehen bei Vorkommnissen mit Medizinprodukten • Umgang mit defekten Medizinprodukten und defekter Ausrüstung • Umgang mit Medizinprodukten von Patient*innen

W ich tige R e ch t s q u e ll e n fü r d ie s e s K ap it e l : • Europäische Medizinprodukte-Verordnung (Medical Device Regulation – MDR)

https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/? uri=CELEX%3A32017R0745 • Medizinprodukte-Durchführungsgesetz (MPDG)

https://www.gesetze-im-internet.de/mpdg/ • Medizinprodukte-Betreiberverordnung (MPBetreibV)

https://www.gesetze-im-internet.de/mpbetreibv/ • Medizinprodukte-Anwendermelde- und Informationsverordnung (MPAMIV)

https://www.gesetze-im-internet.de/mpamiv/

8.1 Europarechtliche Grundlagen Derzeit gilt die MDR (EU-Medizinprodukte-Verordnung), welche die vorher geltenden europäischen Richtlinien zu Medizinprodukten abgelöst hat. Die MDR gilt unmittelbar in allen Mitgliedstaaten der EU (› Kap. 2.8). Sie wird ergänzt durch weitere Gesetze und Rechtsverordnungen auf nationaler Ebene. Ziel der MDR ist es, einen soliden, transparenten, berechenbaren und nachhaltigen Rechtsrahmen für Medizinprodukte in allen EU-Mitgliedstaaten zu schaffen, der ein hohes Niveau an Sicherheit und Gesundheitsschutz gewährleistet. Die europäischen Vorgaben werden in Deutschland entsprechend nachstehender Abbildung durch nationale Vorschriften ergänzt (› Abb. 8.1).

ABB. 8.1 Gesetzliche Grundlagen Medizinprodukte [L157]

8.1.1 Definition Medizinprodukte Die Definition dafür, welche Produkte als Medizinprodukte gelten, ergibt sich unmittelbar aus der MDR. Dort ist geregelt, dass Medizinprodukte solche Instrumente, Apparate, Geräte, Software, Implantate, Reagenzen, Materialien oder andere Gegenstände sind, die der Hersteller*in zufolge für Menschen bestimmt sind und allein oder in Kombination einen oder mehrere der folgenden spezifischen medizinischen Zwecke erfüllen sollen: • Diagnose, Verhütung, Überwachung, Vorhersage, Prognose, Behandlung oder Linderung von Krankheiten • Diagnose, Überwachung, Behandlung, Linderung oder Kompensierung von Verletzungen und Behinderungen • Untersuchung, Ersatz oder Veränderung der Anatomie oder eines physiologischen oder pathologischen Vorgangs oder Zustands • Gewinnung von Informationen durch die In-vitro-Untersuchung von aus dem menschlichen Körper – auch aus Organ-, Blut- und Gewebespenden – stammenden

Proben (z. B. Blutzuckermessgeräte und Teststreifen) Dabei wird die bestimmungsgemäße Hauptwirkung der Medizinprodukte im oder am menschlichen Körper nicht durch pharmakologische oder immunologische Mittel und auch nicht metabolisch erreicht, sondern hauptsächlich durch das Produkt selbst. Die Wirkungsweise kann aber durch die genannten Mittel unterstützt werden. Folgende Produkte gelten ebenfalls als Medizinprodukte: • Produkte zur Empfängnisverhütung oder -förderung • Produkte, die speziell für die Reinigung, Desinfektion oder Sterilisation etc. bestimmt sind Aus der vorstehenden Definition wird deutlich, dass die Bandbreite an Produkten, die als Medizinprodukte gelten, sehr groß ist. Angefangen bei sterilen Tupfern, die nur oberflächlich angewendet werden und nur kurzzeitig mit den Patient*innen in Kontakt kommen, bis hin zu Implantaten, die in den Körper implantiert werden und darin ggf. ein Leben lang verbleiben. Vom einfachen Absaugkatheter bis zum Beatmungsgerät gibt es eine Vielzahl unterschiedlichster Medizinprodukte. Bereits im Rettungsdienst wird diese große Bandbreite mehr als deutlich. R e ch t in e ch t (Fall 8.1) Auf der Rettungswache ist eine Schulklasse zu Besuch, der die Wache und die Rettungswagen gezeigt werden sollen. Bereits beim Einsteigen in den Patientenraum kann eine Vielzahl von Medizinprodukten entdeckt werden, z. B. ein Multiparameter-Monitor, ein Beatmungsgerät und ein Absauggerät, die alle an Wandhalterungen hängen. Wirft man einen genaueren Blick auf das Zubehör dieser Medizinprodukte, finden sich weitere Medizinprodukte, z. B. EKGElektroden, Defi-Patches, Absaugkatheter, Beatmungsmasken, Sauerstoffbrillen. In den Schränken im Patientenraum können zudem Medizinprodukte zur Wundversorgung entdeckt werden, z. B. sterile Tupfer, sterile Kompressen, Wundschnellverbände, Verbandtücher. Auch im Medikamentenschrank sind Medizinprodukte zu finden, z. B. PVK, Spritzen, Dreiwegehähne, Staubänder, Schlauchsysteme für Infusionen. Im Schrank für die Beatmung finden sich z. B. Endotrachealtuben, Laryngoskop und Mundspatel, Guedeltuben, Magill-Zangen. Nicht zu vergessen: Auch In-vitro-Medizinprodukte werden im Rettungsdienst verwendet, dazu gehören Blutzuckermessgeräte und Teststreifen. Noch in vielen weiteren Fächern des RTW finden sich Medizinprodukte, die alle einen guten Eindruck darüber vermitteln, wie groß die Bandbreite ist.

8.1.2 Identifikation und Rückverfolgbarkeit Im Zusammenhang mit der neuen MDR wurde auch eine neue Kennzeichnungspflicht für Medizinprodukte eingeführt. Diese Unique Device Identification (UDI) ist ein weltweites System, das die Identifikation und Rückverfolgbarkeit von Medizinprodukten erleichtern soll. Die UDI beinhaltet eine Produkt- und eine Herstellerkennung, welche auf dem Produkt selbst oder auf der Verpackung angebracht werden müssen. Zudem wird eine elektronische Datenbank für Medizinprodukte (EUDAMED) geschaffen, in der die UDI-Kennzeichnungen hinterlegt werden müssen. Die UDI gewinnt u. a. im Rahmen von Meldungen von Vorkommnissen mit Medizinprodukten eine besondere Bedeutung, da diese dann eine schnelle Identifikation der Hersteller*in und der betroffenen Produkte ermöglicht. Damit können Hinweise und Warnungen für Betreiber*innen, Anwender*innen und Patient*innen schnell umgesetzt sowie evtl. notwendige Produktrückrufe schnell in die Wege geleitet werden. R e ch t in e ch t (Fall 8.2) Rettungssanitäterin Ida ist Beauftragte für Medizinprodukte auf einer Rettungswache. Sie bekommt vom Hersteller der Defi-Patches die Mitteilung, dass die an die Wache gelieferten Defi-Patches einen Produktfehler haben könnten. Der Fehler ist durch die Mitteilung eines Anwenders aufgefallen. Dieser hatte den Hersteller informiert, der dann im Rahmen der Rückverfolgung durch die UDI feststellen konnte, dass ggf. noch weitere Produkte einer bestimmten Charge von dem Fehler betroffen sein könnten. Daraufhin hat der Hersteller anhand der UDI alle Abnehmer*innen der entsprechenden Produkte schnell identifiziert und eine Mitteilung an diese gesendet. Ida kann jetzt dafür sorgen, dass alle entsprechenden Produkte von den Rettungsmitteln und aus dem Lager genommen werden und diese ggf. an den Hersteller zurücksenden.

8.1.3 Konformitätsbewertungsverfahren Im Gegensatz zum Arzneimittelrecht (› Kap. 9.1) gibt es bei Medizinprodukten kein Zulassungsverfahren durch eine Behörde. Die MDR und ergänzende Vorschriften stellen konkrete Anforderungen auf, die Medizinprodukte und Medizinproduktehersteller*innen erfüllen müssen, damit diese ein verkehrsfähiges Medizinprodukt auf den Markt bringen können. Sofern all diese Anforderungen erfüllt werden, kann das Produkt mit einem CE-Kennzeichen versehen werden (› Abb. 8.2). Durch dieses CE-Kennzeichen wird bestätigt, dass ein Produkt die für dieses geltenden grundlegenden Anforderungen erfüllt. Dieses CE-Kennzeichen muss entsprechend auf allen Medizinprodukten zu finden sein.

ABB. 8.2 CE-Zeichen [X333] Vom Ablauf her stellt es sich so dar, dass Hersteller*innen grds. selbst bestätigen können, dass diese ein Produkt entsprechend den grundlegenden Anforderungen hergestellt haben. Die Hersteller*in gibt dann eine entsprechende Konformitätserklärung ab und kann ein Medizinprodukt mit einem CE-Kennzeichen versehen. Dies gilt jedoch nicht für alle Arten von Medizinprodukten. Um der zuvor beschriebenen großen Bandbreite an Produkten und in diesem Zusammenhang den damit verbundenen unterschiedlichen Risiken Rechnung zu tragen, werden Medizinprodukte in verschiedene Klassen und jeweils Unterklassen kategorisiert. Die Klassifizierung ergibt sich aus der Zweckbestimmung der Hersteller*in. Die entsprechenden Kriterien zur Klassifizierung sind in Anhang VIII der MDR geregelt. Das System besteht aus einzelnen Grundsätzen und Ausnahmen bzw. Rückausnahmen. Vereinfacht ist das System der Klassifizierung in › Tab. 8.1 dargestellt.

Tab. 8.1 Risikoklassen bei Medizinprodukten (vereinfachte Darstellung) Klasse I

Klasse IIa

Klasse IIb

Klasse III

Geringes Risiko

Mittleres Risiko

Erhöhtes Risiko

Hohes Risiko

Nichtinvasiv

Invasiv oder nichtinvasiv

Implantierbar und/oder invasiv

Implantierbar und/oder hochinvasiv

Kurzzeitige Anwendung

Langzeitige Anwendung

Langzeitige Anwendung

Beispiele:

Beispiele:

Beispiele:

Beispiele:

• Verbandsmitt el • EKGElektroden (äußerliche Anwendung)

• Einmalspritzen • Ultraschallgerät e • Trachealtuben

• Beatmungsgerät e • Defibrillatoren • Perfusoren

• Stents • Herzkathete r • Künstliche Gelenke

Die Klassifizierung erfolgt allgemein anhand der Kriterien Art und Dauer der Anwendung. Je länger bzw. je invasiver die Anwendung am oder im menschlichen Körper erfolgt, desto höher ist die Risikoklasse. Die dargestellte Klassifizierung (› Tab. 8.1) hat eine große Bedeutung für das von Hersteller*innen vorzunehmende Konformitätsbewertungsverfahren. Wo die Hersteller*innen bei Medizinprodukten der Klasse I die Konformitätsbewertung noch vollkommen alleine durchführen dürfen, steigen mit jeder Risikoklasse die Anforderungen an die Durchführung des Konformitätsbewertungsverfahrens. Ab der Klasse IIa muss im Rahmen dieses Verfahrens eine sog. Benannte Stelle involviert werden. Gleiches gilt für bestimmte Unterklassen der Klasse I (1 s, 1r, 1 m). Benannte Stellen sind von Hersteller*innen unabhängige Stellen, die die Hersteller*innen im Rahmen des Konformitätsbewertungsverfahrens überwachen und letztendlich mit diesen zusammen die Konformitätserklärung ausstellen. Eine einmal erfolgte Zertifizierung ist nicht unbegrenzt gültig. In regelmäßigen Abständen müssen entsprechende Rezertifizierungen vorgenommen werden. Dies ist auch ein bedeutender Unterschied in Abgrenzung zum behördlichen Zulassungsverfahren bei

Arzneimitteln. Eine einmal erteilte Zulassung bei Arzneimitteln muss nicht regelmäßig erneuert werden. Benannte Stellen Die Anforderungen, die ein Unternehmen erfüllen muss, um als Benannte Stelle benannt zu werden, sind in der MDR geregelt. In Deutschland werden Benannte Stellen von der Zentralstelle der Länder für Gesundheitsschutz bei Arzneimitteln und Medizinprodukten (ZLG) benannt und überwacht. Seit Inkrafttreten der MDR sind auch die Anforderungen an und die Haftungsrisiken für Benannte Stellen erheblich gestiegen. Dies hat zur Folge, dass die Zahl der Benannten Stellen stark zurückgegangen ist. Einige Benannte Stellen, die sich bis zum Inkrafttreten der MDR mit der Zertifizierung von Medizinprodukten beschäftigt haben, haben bewusst entschieden, für Medizinprodukte keine neue Benennung anzustreben, da sie die neuen Anforderungen nicht erfüllen können oder aus unterschiedlichen Gründen nicht erfüllen wollen. Dies führt aktuell zu einem erheblichen Mangel an Benannten Stellen, mit der Folge, dass die Zertifizierung und damit auch die Markteinführung neuer Medizinprodukte verzögert wird. Noch gravierender ist die Situation bei Bestandsprodukten, dort ist je nach Risikoklasse in regelmäßigen Abständen eine Rezertifizierung erforderlich. Zwar laufen hier Übergangsfristen, jedoch ist derzeit bereits absehbar, dass zum Ablauf der Übergangsfristen nicht genügend Benannte Stellen bzw. Kapazitäten bei bereits Benannten Stellen verfügbar sein werden, um die große Anzahl der Medizinprodukte, die rezertifiziert werden müssen, zu bewältigen. Im schlimmsten Fall sind dann nach Ablauf der Übergangsfrist betroffene Produkte mit abgelaufenen Zertifikaten nicht mehr verkehrsfähig und dürfen nicht mehr auf den Markt gebracht werden, mit der Folge entsprechender Versorgungsprobleme. Derzeit werden auf politischer Ebene verschiedene Möglichkeiten diskutiert, wie diese absehbare Problematik bewältigt werden kann. Die Zulassung von Medizinprodukten ist schematisch in › Abb. 8.3 dargestellt.

ABB. 8.3 Übersicht Zulassung Medizinprodukte [L157]

8.1.4 Marktbeobachtung und Vorkommnisse Wie erwähnt haben einmal erteilte Zertifikate lediglich eine begrenzte Laufzeit. Dies bedeutet, dass in regelmäßigen Abständen erneut Konformitätsbewertungsverfahren mit entsprechenden Zertifizierungen durchgeführt werden müssen. Darüber hinaus obliegt den Hersteller*innen eine Marktbeobachtungspflicht und die Verpflichtung, bei Vorkommnissen erforderliche Korrekturmaßnahmen durchzuführen (› Abb. 8.4).

ABB. 8.4 Marktbeobachtung [L157] Im Rahmen der Marktbeobachtung für Medizinprodukte werden neben den Hersteller*innen auch alle anderen Beteiligten im Verkehr mit Medizinprodukten in die Verantwortung genommen. Das sind u. a. Händler*innen, Betreiber*innen von Gesundheitseinrichtungen und Anwender*innen, also auch Mitarbeitende im Rettungsdienst. Kommt es zu einem Vorkommnis mit einem Medizinprodukt, sind definierte Melde- und Informationspflichten zu erfüllen. Als Vorkommnis wird definiert eine „Fehlfunktion oder Verschlechterung der Eigenschaften oder Leistung […] einschließlich Anwendungsfehlern aufgrund ergonomischer Merkmale, sowie eine Unzulänglichkeit der vom Hersteller bereitgestellten Informationen oder eine unerwünschte Nebenwirkung“. Führt ein Vorkommnis zum Tod von Patient*innen, Anwender*innen oder Dritten oder zu einer schwerwiegenden Verschlechterung des Gesundheitszustands, handelt es sich um ein schwerwiegendes Vorkommnis.

Ergänzend zu den Vorgaben der MDR regelt die Verordnung über die Meldung von mutmaßlichen schwerwiegenden Vorkommnissen bei Medizinprodukten sowie zum Informationsaustausch der zuständigen Behörden, wann Betreiber*innen und Anwender*innen verpflichtet sind, Vorkommnisse zu melden. Diese Pflicht zur Meldung besteht auch bei mutmaßlichen schwerwiegenden Vorkommnissen. Ein solches liegt vor, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass es aufgrund einer unerwünschten Nebenwirkung eines Produkts, einer Fehlfunktion, einer Verschlechterung der Eigenschaften oder der Leistung eines Produkts, einschließlich Anwendungsfehlern aufgrund ergonomischer Merkmale oder einer Unzulänglichkeit der von der Hersteller*in bereitgestellten Informationen, zu den zuvor beschriebenen Folgen führt oder führen könnte. In › Abb. 8.5 findet sich eine Übersicht über die verschiedenen Vorkommnisse mit Medizinprodukten. Die Meldung muss unverzüglich an die zuständige Bundesoberbehörde erfolgen. Auch Patient*innen haben die Möglichkeit, entsprechende Meldungen abzugeben, diese sind jedoch nicht dazu verpflichtet. Das BfArM stellt auf seiner Website Informationen und Formulare für entsprechende Meldungen bereit.

ABB. 8.5 Vorkommnisse mit Medizinprodukten [L157]

Me rke Auch Betreiber*innen und Anwender*innen haben im Zusammenhang mit schwerwiegenden und mutmaßlich schwerwiegenden Vorkommnissen mit Medizinprodukten Meldepflichten, die unverzüglich erfolgen müssen. Praxis tip p

Betreiber*innen von Medizinprodukten müssen intern Strukturen schaffen, die eine unverzügliche Meldung von Vorkommnissen sicherstellen. Dies kann durch konkrete Ablaufpläne, interne Meldewege sowie Arbeitsanweisungen umgesetzt werden. Anwender*innen müssen insb. wissen, • was sie mit defekten Medizinprodukten machen müssen (z. B. Ablage in Sperrlager), • wen sie im Falle eines Vorkommnisses kontaktieren können (z. B. Beauftragten für Medizinprodukte), • wie sie die zuständige Person im Falle eines Vorkommnisses kontaktieren können (z. B. Telefonnummer), • auf welchem Wege Ersatz für ein defektes Medizinprodukt erlangt werden kann. Klare und transparente Vorgaben helfen Anwender*innen, sich bei Vorkommnissen mit Medizinprodukten rechtskonform zu verhalten. Dazu sollte klar geregelt werden, wer ein Vorkommnis an das BfArM meldet. Sofern diese Pflicht von den Anwender*innen übernommen werden soll, ist es ratsam, ihnen einen konkreten Handlungsleitfaden zur Verfügung zu stellen. R e ch t in e ch t Differenzierende Beispiele dazu, wann ein Vorkommnis vorliegt: Beispiel Multiparameter-Monitor mit Defibrillator Nach einer Reanimation verstirbt die Patient*in. Meldepflichtiges Vorkommnis: Der Defibrillator hat wegen eines technischen Defekts keinen Schock abgegeben. Kein meldepflichtiges Vorkommnis: Der Multiparameter-Monitor mit Defibrillator funktionierte einwandfrei, die Patient*in ist alleine aufgrund des Notfallereignisses verstorben. Beispiel Perfusor Eine Patient*in bekommt im Rahmen eines Einsatzes Katecholamine über einen Perfusor appliziert. Aufgrund einer zu hohen Durchlaufgeschwindigkeit verstirbt die Patient*in. Meldepflichtiges Vorkommnis: Die Durchlaufgeschwindigkeit war aufgrund eines technischen Defekts zu hoch. Kein meldepflichtiges Vorkommnis: Die Durchlaufgeschwindigkeit wurde von der Anwender*in versehentlich zu hoch eingestellt und nicht bemerkt. Beispiel Blutzuckermessgerät Bei einer Kontrolle des Blutzuckers im Einsatz zeigt das Gerät im Display „E9“ an. Die Anwender*in kann diese Information nicht interpretieren.

Meldepflichtiges Vorkommnis: Der Code „E9“ wurde aufgrund eines Gerätefehlers angezeigt. Kein meldepflichtiges Vorkommnis: Entsprechend den Angaben in der Gebrauchsanweisung bedeutet der Code „E9“, dass der gemessene Blutzuckerwert über 600 mg/dl liegt. Beispiel Beatmungsgerät Im Rahmen des täglichen Checks zeigt das Beatmungsgerät nach durchgeführtem Routinetest an „Gerät nicht einsatzbereit“. Das Beatmungsgerät darf nicht mehr an der Patient*in angewendet werden, jedoch handelt es sich nicht um ein meldepflichtiges Vorkommnis. Ein solches liegt nur dann vor, wenn ein Fehler bei der Anwendung an Patient*innen auftritt. Nach dem Eingang einer Meldung wird diese vom BfArM geprüft, die meldende Person bekommt eine Bestätigung über den Eingang der Meldung. Das BfArM leitet die Meldung dann an die Hersteller*in des Medizinprodukts weiter, diese ist nun verpflichtet, innerhalb einer kurzen Frist eine Stellungnahme dazu abzugeben. Besteht unmittelbarer Handlungsbedarf zur Gefahrenabwehr, kann das BfArM auch sofort Maßnahmen ergreifen. Die Hersteller*innen selbst sind nach Kenntnis von schwerwiegenden Vorkommnissen und mutmaßlichen schwerwiegenden Vorkommnissen verpflichtet, diese intern zu untersuchen und entsprechende Maßnahmen einzuleiten. Sie müssen eine Risikobewertung vornehmen und Maßnahmen ergreifen. Hersteller*innen sind verpflichtet die Anwender*innen über ergriffene Maßnahmen zu informieren. Hier können u. U. auch die zuständigen Behörden aktiv werden. Dies ist insb. dann der Fall, wenn das schwerwiegende Vorkommnis mehrere Produkte betrifft oder die von der Hersteller*in vorgeschlagenen Maßnahmen aus Sicht der Behörde nicht ausreichend sind.

8.2 Grundlagen und Aufbau des MPDG Das MPDG dient der Durchführung der MDR. Da alle wesentlichen Regelungen bereits in der Medizinprodukte-Verordnung selbst enthalten sind, trifft das MPDG nur noch ergänzende und verfahrensrechtliche Regelungen für die Durchführung der MDR auf nationaler Ebene. In diesem Zusammenhang ist die Bedeutung dieses Gesetzes für die rettungsdienstliche Arbeit gering.

8.2.1 Anwendung von Medizinprodukten Wichtig für den Rettungsdienst ist zunächst § 11 MPDG. Darin ist geregelt, dass Medizinprodukte nicht betrieben oder angewendet werden dürfen, wenn diese Mängel aufweisen, durch welche Patient*innen, Anwender*innen oder Dritte gefährdet werden können. Diese Regelung richtet sich unmittelbar auch an Anwender*innen von

Medizinprodukten, also grds. an jede Rettungsdienstmitarbeiter*in. Darüber hinaus wird angeordnet, dass sich die konkrete Art der Verwendung von Medizinprodukten nach der MPBetreibV richtet. Ein Verstoß gegen dieses Anwendungsverbot stellt eine Straftat dar (§ 92 Abs. 1 Nr. 1 MPDG), die mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe geahndet werden kann. Kommt es durch die Anwendung dazu, dass eine Patient*in in die Gefahr des Todes gebracht wird oder eine schwere Schädigung von Körper oder Gesundheit erleidet, kann mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft werden (§ 92 Abs. 7 Nr. 1 MPDG). R e ch t in e ch t (Fall 8.3) Beim morgendlichen Check des RTW und der medizinischen Geräte stellt Rettungssanitäter Till fest, dass das Beatmungsgerät nach dem durchgeführten Test die Meldung „Gerät nicht einsatzbereit“ anzeigt. Till überprüft hiernach noch einmal alle Steckverbindungen, die Sauerstoffflasche etc., jedoch erscheint auch nach dem erneuten Check die Meldung „Gerät nicht einsatzbereit“. Dieses Beatmungsgerät darf nicht mehr an Patient*innen angewendet werden. Me rke Mangelhafte oder fehlerhafte Medizinprodukte dürfen nicht an Patient*innen angewendet werden. Ein Verstoß gegen dieses Anwendungsverbot stellt eine Straftat dar. Ergänzt werden die Vorgaben durch ein weiteres Anwendungsverbot, welches in § 12 MPDG geregelt ist. Beim begründeten Verdacht, dass ein Medizinprodukt selbst bei sachgemäßer Anwendung Patient*innen, Anwender*innen oder Dritte unmittelbar gefährden könnte, darf dieses nicht mehr angewendet werden. Dies gilt zumindest in dem Rahmen, wie eine Anwendung nach wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht mehr vertretbar ist. Diese Regelung trifft eine Abwägung zwischen Risiken und Nutzen. Dabei wird unterstellt, dass ein Medizinprodukt u. U. gefährlich sein kann, soweit jedoch der Nutzen für die Gesundheit überwiegt, kann es vertretbar sein, dieses trotzdem anzuwenden. Ebenfalls sind u. a. der Betrieb und die Anwendung dann verboten, wenn das Datum abgelaufen ist, bis zu dem das Produkt sicher verwendet werden kann. Me rke Ist das Datum abgelaufen, bis zu dem ein Medizinprodukt sicher verwendet werden kann, darf dieses nicht mehr angewendet werden.

8.2.2 Medizinprodukteberater und Marktüberwachung Bei der Einführung neuer Medizinprodukte kommen Mitarbeitende des Rettungsdienstes gelegentlich mit Medizinprodukteberater*innen in Kontakt.

Medizinproduktberater*innen erfüllen viele wichtige Funktionen im Rahmen der Sicherheit von Medizinprodukten. Sie sind dafür verantwortlich, Anwender*innen in neue Medizinprodukte einzuweisen. Damit dies fachgerecht erfolgen kann, regelt § 83 MPDG, dass Medizinprodukteberater*innen bzgl. der jeweiligen Medizinprodukte über die erforderliche Sachkenntnis und Erfahrung verfügen müssen. § 83 MPDG stellt dafür weitere Anforderungen an die Qualifikation von Medizinprodukteberater*innen auf. Auch im Zusammenhang mit der Marktüberwachung von Medizinprodukten obliegen den Medizinprodukteberater*innen wichtige Aufgaben. Da diese in direktem Kontakt mit den Anwender*innen stehen, bekommen sie meist frühzeitig mit, wenn es mit Produkten Probleme gibt. Werden solche Informationen an Medizinprodukteberater*innen herangetragen, sind diese verpflichtet, diese Informationen unverzüglich an die Hersteller*innen zu übermitteln und dies entsprechend zu dokumentieren. Das BfArM hat eine Vielzahl von Aufgaben im Zusammenhang mit der Überwachung von Medizinprodukten, diese Aufgaben sind im MPDG geregelt. Um die Überwachung und den Austausch von Informationen zu verbessern, gibt es das Deutsche MedizinprodukteInformations- und Datenbanksystem.

8.3 Medizinprodukte-Betreiberverordnung Die Medizinprodukte-Betreiberverordnung (MPBetreibV) beinhaltet alle wesentlichen Regelungen, die für Betreiber*innen und Anwender*innen von Medizinprodukten relevant sind. Aus dieser Rechtsverordnung lassen sich konkrete Handlungspflichten für den Umgang mit Medizinprodukten auf der Rettungswache und im täglichen Einsatz ableiten. Vor diesem Hintergrund muss auch jeder Mitarbeitende im Rettungsdienst Kenntnisse zu den Inhalten der MPBetreibV haben. Die MPBetreibV gilt nicht für solche Medizinprodukte, die ausschließlich für persönliche Zwecke angeschafft und angewendet werden, z. B. für einfache Blutdruckmessgeräte, die frei verkäuflich erworben und im privaten Bereich zur Kontrolle des Blutdrucks verwendet werden können. Bei der MPBetreibV handelt es sich um eine Rechtsverordnung (› Kap. 2.4.2), die vom Bundesministerium für Gesundheit (› Kap. 3.9.1) erlassen wurde und deren Ermächtigungsgrundlage u. a. im MPDG zu finden ist.

8.3.1 Grundbegriffe In der MPBetreibV gibt es einige Schlüsselbegriffe, deren Bedeutung besonders wichtig für den Rettungsdienst ist: • Betreiber*innen • Anwender*innen • Zweckbestimmung eines Medizinproduktes

Betreiber*innen Betreiber*innen sind die für den Betrieb einer Gesundheitseinrichtung verantwortlichen Personen, in der das Medizinprodukt betrieben oder angewendet wird. Es kann sich hierbei um natürliche oder juristische Personen handeln (› Kap. 2.1.1). Betreiber*innen können jedoch auch Angehörige von Heilberufen sein, die eigene Medizinprodukte zur Verwendung während der beruflichen Tätigkeit mitnehmen. Im Rettungsdienst betrifft dies z. B. privat angeschaffte und im Rahmen der dienstlichen Tätigkeit verwendete Stethoskope. Ansonsten sind Betreiber*innen im Kontext der rettungsdienstlichen Tätigkeit entweder die Träger des Rettungsdienstes oder die im Auftrag der Träger den Rettungsdienst durchführenden Organisationen oder auch Kliniken, insb. dann, wenn aus Kliniken Medizinprodukte bei Verlegungsfahrten mitgenommen werden. Wenn von Betreiber*innen gesprochen wird, ist damit i. d. R. die Leitung der jeweiligen Einrichtung/Institution gemeint. Im Wege ökonomischer Aufgabenverteilung werden dafür in den Einrichtungen/Institutionen regelmäßig Beauftragte für Medizinprodukte bestellt. Diese Beauftragten für Medizinprodukte übernehmen dann innerhalb der Einrichtung/Institution die konkreten Aufgaben der Betreiber*in. Für die Funktion Beauftragte für Medizinprodukte werden von vielen Anbieter*innen spezielle Schulungen angeboten. Diese umfassen die gesetzlichen Grundlagen des Medizinprodukterechts sowie Hinweise zur praktischen Ausführung der von Betreiber*innen zu erfüllenden Aufgaben. Die so bestellten Beauftragten übernehmen dann auch die haftungsrechtliche Verantwortung für diesen Bereich. Bei den Leitungen der Einrichtungen/Institutionen verbleibt jedoch die Verantwortung für die Auswahl (persönliche und fachliche Eignung) sowie die Überwachung der beauftragten Personen. Die Leitungen sind insb. verpflichtet, den Beauftragten alle notwendigen finanziellen und zeitlichen Ressourcen zur Verfügung zu stellen, um die Tätigkeiten entsprechend den gesetzlichen Anforderungen durchführen zu können. Eine gesetzliche Vorgabe, ob und welche Qualifikation erreicht sein muss, um Beauftragte für Medizinprodukte zu sein, gibt es nicht. Anwender*innen Anwender*innen sind die Personen, die Medizinprodukte an Patient*innen eigenverantwortlich anwenden. Dies können alle im Rahmen eines Rettungsdiensteinsatzes Beteiligten sein, z. B. Notfallsanitäter*innen, Rettungssanitäter*innen, Rettungshelfer*innen, Auszubildende, Notärzt*innen. Me rke Mitarbeitende im Rettungsdienst sind Anwender*innen von Medizinprodukten. Anwender*innen haben besondere Pflichten entsprechend den Vorgaben der MPBetreibV.

Keine Anwender*in ist, wer ein Medizinprodukt unter Anleitung und Aufsicht einer anderen Person anwendet. So sind z. B. Schülerpraktikant*innen, die ein Schnupperpraktikum auf der Rettungswache machen, keine Anwender*innen, wenn diese unter Anleitung und Aufsicht des Rettungsfachpersonals ein Pulsoxymeter anschließen oder eine Blutdruckmanschette anlegen und die Blutdruckmessung starten. Zweckbestimmung eines Medizinprodukts Die Zweckbestimmung eines Medizinprodukts wird von Hersteller*innen festgelegt. Sie ergibt sich aus der Gebrauchsanweisung, aus der Werbung oder sonstigen öffentlichen Ankündigungen der Hersteller*in. Medizinprodukte dürfen nur entsprechend ihrer Zweckbestimmung verwendet werden. Bei einer Benutzung von Medizinprodukten außerhalb der Zweckbestimmung erlischt i. d. R. jegliche Haftung der Hersteller*in. Die komplette Haftung für eine Anwendung außerhalb der Zweckbestimmung trifft dann die jeweilige Anwender*in. Diese Vorgabe dient insb. dem Schutz der Patient*innen und der Anwender*innen. Medizinprodukte wurden nur entsprechend der vorgegebenen Zweckbestimmung getestet und freigegeben.

8.3.2 Pflichten der Betreiber*innen Betreiber*innen haben in Bezug auf den Einsatz von Medizinprodukten in ihrem Verantwortungsbereich verschiedene Pflichten. Sie tragen die Verantwortung für die sichere und ordnungsgemäße Anwendung der Medizinprodukte in ihrem Zuständigkeitsbereich. Die Betreiber*innen sind insb. dafür verantwortlich, die organisatorischen Rahmenbedingungen für eine sichere und ordnungsgemäße Anwendung zu schaffen. Dies umfasst auch, dafür Sorge zu tragen, dass die allgemeinen Anforderungen an Medizinprodukte eingehalten werden. Medizinprodukte dürfen nur • ihrer Zweckbestimmung entsprechend verwendet werden, • von solchen Personen betrieben und angewendet, die die dafür erforderliche Ausbildung oder Kenntnis und Erfahrung besitzen, • nach einer Einweisung in die ordnungsgemäße Handhabung verwendet werden. Betreiber*innen müssen zudem sicherstellen, dass Anwender*innen die vorgeschriebenen Kontrollen vor der Anwendung an Patient*innen tatsächlich durchführen. Dies kann u. a. durch Dienstanweisungen erfolgen. Ratsam sind zudem Stichprobenkontrollen sowie ggf. Abmahnungen bei Pflichtverletzungen. Darüber hinaus sind Betreiber*innen dafür verantwortlich, dass Fristen für sicherheitstechnische Kontrollen überwacht und die Kontrollen entsprechend

veranlasst werden. Es ist zu empfehlen, Fristen, die von Hersteller*innen als unverbindlich vorgegeben werden, dennoch zu beachten. Die Kontrollen müssen dokumentiert werden. Betreiber*innen sind verpflichtet, ein Bestandsverzeichnis über aktive Medizinprodukte zu führen. In Gesundheitseinrichtungen mit regelmäßig mehr als 20 Beschäftigten, muss eine beauftragte Person für Medizinproduktesicherheit bestellt werden (§ 6 MPBetreibV). Diese Person muss sachkundig und zuverlässig sein, sie nimmt für Betreiber*innen die Aufgabe als Kontaktperson für Behörden etc. wahr, koordiniert interne Prozesse in der Gesundheitseinrichtung und koordiniert etwaige Korrekturmaßnahmen.

8.3.3 Ausbildung, Kenntnisse und Erfahrungen Anwender*innen müssen für die Anwendung eines Medizinprodukts die notwendige Ausbildung, die notwendigen Kenntnisse und Erfahrungen haben. Dies umfasst: • Theoretische Grundlagen der Anwendung (Indikationen und Kontraindikationen) • Bedienelemente und Funktionen • Funktionsprüfung • Anwendungsregeln sowie patientengerechte Einstellungen • Verhalten bei Fehlermeldungen

8.3.4 Einweisung Bei allen Medizinprodukten ist grds. eine Einweisung in die ordnungsgemäße Handhabung erforderlich. Verantwortlich dafür sind sowohl die Betreiber*innen als auch die Anwender*innen selbst. Ausnahmen bestehen für solche Medizinprodukte, die selbsterklärend sind oder bei denen eine Einweisung in ein baugleiches Medizinprodukt erfolgt ist. R e ch t in e ch t Selbsterklärend ist z. B. ein normales Stethoskop. Handelt es sich bei dem Medizinprodukt um ein aktives nicht-implantierbares Medizinprodukt, ist die Einweisung zu dokumentieren. Ist eine Herstellereinweisung vorgeschrieben, darf die Einweisung nur durch eine von der Hersteller*in beauftragten Person erfolgen. Diese führt im Rahmen der Herstellereinweisung vor Ort in den Dienststellen weitere Personen in die Handhabung und in die Einweisung in die entsprechenden Medizinprodukte ein. Nur die Personen, die unmittelbar eine solche Herstellereinweisung bekommen haben, dürfen im Folgenden

weitere Personen einweisen. Darüber hinaus ist eine Einweisung nach dem „SchneeballPrinzip“ bei Medizinprodukten unzulässig. Vom Ablauf her darf sich eine Einweisung nicht lediglich auf die Erläuterung der Gebrauchsanweisung und Erklärung des Medizinprodukts beschränken. Vielmehr ist auch erforderlich zu überprüfen, ob die eingewiesenen Personen die vermittelten Informationen intellektuell aufgenommen haben. Eine Übersicht zur Einweisung in Medizinprodukte ist in › Abb. 8.6 dargestellt.

ABB. 8.6 Einweisung in Medizinprodukte [L157]

A ch tu ng Dafür, dass eine Einweisung erfolgt, sind sowohl die Betreiber*innen (Organisationspflicht) als auch die Anwender*innen (Holpflicht) verantwortlich.

8.3.5 Anwendung und Kontrolle Die Anwendung von Medizinprodukten darf nur anhand der vorgegebenen Zweckbestimmung erfolgen. Zudem müssen Medizinprodukte streng nach Herstellervorgaben überprüft werden. Vor jeder Anwendung müssen sich die Anwender*innen vom ordnungsgemäßen Zustand und der Funktionsfähigkeit des Medizinprodukts überzeugen. Me rke Die Kontrolle vor der Anwendung umfasst den ordnungsgemäßen Zustand und die Funktionsfähigkeit.

Bei verpackten Medizinprodukten, z. B. sterilen Kompressen, bedeutet dies, dass die Unversehrtheit der Verpackung (Sterilbarrieresystem) überprüft werden muss. Bei aktiven Medizinprodukten muss eine Funktionskontrolle nach Gebrauchsanweisung durchgeführt werden. Diese umfasst den Auf- und Zusammenbau, die Sauberkeit und Sichtung auf Beschädigungen, die hygienische Unbedenklichkeit, die Vollständigkeit des Zubehörs, Funktionskontrolle messtechnische Kontrollplaketten und ggf. Ablaufdatum. C h e c klis t e Überprüfung von aktiven Medizinprodukten • Auf- und Zusammenbau • Sauberkeit und äußere Schäden • Hygienische Unbedenklichkeit • Vollständigkeit des Zubehörs • Funktionskontrolle nach Gebrauchsanweisung • Messtechnische Kontrollplakette und Verfallsdatum

Wird im Rahmen der Kontrolle beim Selbsttest ein Fehler angezeigt, darf das Medizinprodukt nicht mehr an Patient*innen angewendet werden. Das Gerät muss aus dem Dienst genommen und in einem Sperrlager gelagert werden, um zu verhindern, dass es von Kolleg*innen weiterverwendet wird. Dies liegt ganz klar in der Verantwortung der Anwender*innen und betrifft auch die Fälle, in denen es zu einem Vorkommnis an Patient*innen gekommen ist. Zudem ist die im Betrieb verantwortliche Person zu informieren, um Weiteres zu veranlassen.

8.3.6 Fehlende und defekte Arbeitsmittel Fehlende oder defekte Ausrüstung können zu einer Gefährdung von Patient*innen und Rettungsdienstpersonal führen. Zudem kann es zu Konflikten mit Vorgesetzten oder der Leitstelle kommen. Fahrzeug Hat das Fahrzeug einen Defekt, der den sicheren Betrieb beeinträchtigt, kann die Besatzung u. U. berechtigt sein, die Arbeitsleistung mit dem Fahrzeug zu verweigern. Dabei ist zu unterscheiden zwischen einem einfachen Defekt, der nicht sicherheitsrelevant ist, und einem solchen, der sicherheitsrelevant ist.

Handelt es sich um einen nicht-sicherheitsrelevanten Defekt, z. B. eine ausgefallene Leuchte im Heck oder eine Beule ohne Sicherheitsrelevanz, besteht grds. kein Recht darauf, die Arbeitsleistung zu verweigern. In diesen Fällen kann bei vorhandenem Ersatzmaterial versucht werden, den Defekt selbst zu beheben, z. B. Auswechseln der defekten Leuchte. Interne organisatorische Vorgaben und Abläufe für diese Fälle müssen eingehalten werden, z. B. die für das Fahrzeug verantwortliche Person in der Dienststelle informieren. Bei einem nicht-sicherheitsrelevanten Defekt kann u. U. auch erwogen werden, das Fahrzeug zunächst weiter zu nutzen. Ist ein Reservefahrzeug verfügbar, kann, nach entsprechender Absprache, dieses in Dienst genommen werden. Handelt es sich um einen sicherheitsrelevanten Defekt, ist wieder entsprechend den internen organisatorischen Abläufen für diese Fälle zu verfahren, z. B. das Fahrzeug umgehend außer Dienst nehmen. Dies können schon defekte Sicherheitsgurte im Fahrerraum oder aber defekte Sicherheitseinrichtungen wie Bremsen etc. sein. Sofern ein Reservefahrzeug vor Ort ist oder beschafft werden kann, kann auf dieses ausgewichen werden. Sollten Vorgesetzte auf die weitere Nutzung des defekten Fahrzeugs bestehen, können die Mitarbeitenden dies bei sicherheitsrelevanten Defekten verweigern. Zwar kann die Weisung, das Fahrzeug weiter zu nutzen, als eine Ausübung des Direktionsrechts (› Kap. 13.2.5) angesehen werden, das Direktionsrecht kann jedoch nicht unbeschränkt ausgeübt werden, es „wird begrenzt durch das Arbeitsschutzrecht, Tarifverträge, Betriebsvereinbarungen und den Arbeitsvertrag“ [1]. A ch tu ng Eine Arbeitsverweigerung geht nach aktueller Rechtsprechung für die die Arbeitsleistung verweigernde Person immer mit einem Risiko einher. Dazu führt das Bundesarbeitsgericht (BAG) aus: „Verweigert der Arbeitnehmer die Arbeitsleistung in der Annahme, er handele rechtmäßig, hat grundsätzlich er selbst das Risiko zu tragen, dass sich seine Rechtsauffassung als unzutreffend erweist.“ [2] Medizinprodukte und sonstige Ausstattung Das Vorgehen bei defekten Medizinprodukten wurde bereits beschrieben. Diese dürfen nicht mehr an Patient*innen angewendet und müssen außer Dienst genommen werden. Zu den Organisationspflichten einer Betreiber*in einer Rettungswache gehört es, dass für Ausfälle Ersatzgeräte und Ersatzmaterialien vorgehalten werden. Trotz entsprechender Vorhaltung kann es jedoch zu Situationen kommen, in denen keine Ersatzgeräte verfügbar sind. Handelt es sich dabei um den Ausfall von wichtigen Medizinprodukten (Multiparameter-Monitor, Beatmungsgerät, Absaugung) oder sonstiger wichtiger Ausrüstung, stellt sich die Frage, ob ein Rettungsmittel trotz des Ausfalls noch einsatzbereit

ist und im Rahmen der vorgesehenen Funktion, z. B. Notfallrettung, regulär eingesetzt werden kann. Die Rettungsdienstgesetze der Bundesländer definieren zwar, welche Arten von Rettungsmitteln es gibt, machen jedoch keine konkreten Vorgaben zur Ausstattung. In Bezug auf die Ausstattung erfolgt in den Gesetzen i. d. R. ein allgemeiner Verweis auf den aktuellen Stand der Technik und/oder den Stand der medizinischen Wissenschaft. Teilweise wird auch auf allgemein anerkannte Regeln von Hygiene Bezug genommen. Die entsprechenden technischen Details finden sich u. a. in DINNormen. Diese sind zwar an sich keine gesetzlichen Regelungen, wenn jedoch in Gesetzen darauf Bezug genommen wird, erhalten diese eine entsprechende gesetzliche Verbindlichkeit (› Kap. 2.5.5). Diese Regelungstechnik, im Gesetz nur allgemein auf eine entsprechende Ausstattung und den aktuellen Stand der Technik zu verweisen, ist sehr sinnvoll. Stellt man sich vor, alle Details aus DIN-Normen würden ins Gesetz aufgenommen, würde dieses sehr schnell sehr unübersichtlich werden. Zudem sind auf diese Weise schneller Anpassungen der Ausstattung an den aktuellen Stand der Technik möglich, da es schneller geht, eine DINNorm zu ändern als den Inhalt eines Gesetzes im dafür erforderlichen förmlichen Gesetzgebungsverfahren. Somit ist im Ergebnis davon auszugehen, dass DIN-Normen zur Ausstattung von Rettungsmitteln verbindlich sind, soweit in den Rettungsdienstgesetzen der Bundesländer ausdrücklich auf den aktuellen Stand der Technik Bezug genommen wird. In jedem Fall ist in einer solchen Situation zuerst die für den Betrieb der Rettungswache verantwortliche Person zu informieren, um ggf. eine Lösung herbeizuführen, z. B. durch Ausleihen von anderen Wachen etc. Ist auch nach entsprechender Absprache keine Lösung ersichtlich und z. B. kein Beatmungsgerät auf dem RTW, ist in Absprache mit der Vorgesetzten die Leitstelle darüber zu informieren und ggf. eine gemeinsame Lösung zu suchen. Kommt es letztendlich dazu, dass der RTW ohne wichtige Medizinprodukte bzw. Ausstattung weiter im Dienst bleiben soll, stellt dies für die Besatzung i. d. R. keinen Grund dar, die Arbeitsleistung zu verweigern. In diesen Fällen sind jedoch enge Absprachen zwischen Besatzung, Vorgesetzten und Leitstelle erforderlich. Es muss sichergestellt sein, dass die Leitstelle über die fehlende Ausstattung informiert ist. Diese kann Einsätze dann entsprechend anders disponieren, z. B., indem der betreffende RTW zur Einhaltung der Hilfsfrist als „First Responder“ zur Einsatzstelle fährt, gleichzeitig jedoch noch ein weiterer RTW mitalarmiert wird. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sowohl fehlende als auch defekte Ausstattung, die nicht zeitnah ersetzt werden kann, ein Organisationsverschulden der Betreiber*in der Rettungswache begründen kann. Dies umfasst auch fehlende Maßnahmen zum Arbeitsschutz. In welchem Umfang Material und Ausrüstung als Ersatz vorgehalten werden müssen, hängt von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab, insb. auch von der Anzahl und Art der Rettungsmittel auf einer Rettungswache. Wird eine Fahrzeugbesatzung

nach dem zuvor angesprochenen Vorgehen für Einsätze eingesetzt und können Patient*innen dadurch im Einzelfall erst durch ein später eintreffendes, gleichzeitig alarmiertes Rettungsmittel angemessen untersucht und versorgt werden, trifft die ersteintreffende Besatzung insoweit keine Haftung, als diese mit den ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten alles unternimmt, um die Patient*innen fachgerecht zu versorgen. Eigenständige Reparatur defekter Ausrüstung Die eigenständige Reparatur defekter Ausrüstung durch eine Fahrzeugbesatzung ist grds. möglich. Soweit dafür vorhandene Ersatzteile fachgerecht eingesetzt werden, z. B. Austauschen von Leuchtmitteln, ist dies in rechtlicher Hinsicht weitestgehend unproblematisch. Problematisch wird es dann, wenn Reparaturen mit nicht-vorgesehenen Mitteln nicht fachgerecht durchgeführt werden. Damit ist insb. die Reparatur von allen möglichen Ausrüstungsgegenständen mit Klebestreifen (Rollenpflaster) gemeint. Teilweise sieht man derartige Klebestreifen an allen möglichen Ausrüstungsgegenständen des Rettungsdienstes, z. B. Spiegeln, Griffen, Halterungen, Medizinprodukten etc. Auch wenn Eigeninitiative und selbstständiges Lösen von Problemen durchaus begrüßenswerte Eigenschaften sind, schafft die Reparatur von Ausrüstungsgegenständen mit Klebestreifen doch u. U. erhebliche Haftungsrisiken. Dies gilt insb. in den Fällen, in denen Medizinprodukte damit repariert werden. Wie bereits erläutert, dürfen defekte Medizinprodukte nicht mehr an Patient*innen eingesetzt werden. Wird entgegen dieser konkreten Vorgabe doch ein derartiges Medizinprodukt nicht außer Dienst genommen und kommt es durch den Defekt zu einem Patientenschaden, kann dies einen Behandlungsfehler begründen. Der Pflichtwidrigkeitsvorwurf bezieht sich in diesem Fall auf das „Bereithalten oder Verwenden eines fehlerhaften Gerätes“ [3]. R e ch t in e ch t (Fall 8.4) Notfallsanitäter Fabian und Notfallsanitäterin Marie bemerken morgens beim Check des RTW, dass ein Stecker des EKG-Kabels beschädigt ist. Durch den Defekt kann der Stecker nicht fest in die Steckdose gesteckt werden und rutscht bei jeder Bewegung des Gerätes heraus. Da beide keine Lust haben, sich um Ersatz zu kümmern, entschließen sie sich, den defekten Stecker mit Klebeband zu umwickeln, damit er nicht aus der Steckdose rutschen kann. Beim ersten Einsatz des Tages haben die beiden einen Notfalleinsatz bei einem Patienten mit unklaren Oberbauchschmerzen und Atembeschwerden. Bei einer solchen Symptomatik schreiben Marie und Fabian normalerweise ein EKG, was auch in diesem Fall durchgeführt werden soll. Nach dem Anbringen der Elektroden rutscht der Stecker jedoch aus der Steckdose und lässt sich fortan nicht mehr mit dem Gerät verbinden, sodass kein EKG geschrieben werden kann. Fabian und Marie verzichten infolgedessen darauf und bringen den Patienten mit Verdacht auf unklares Abdomen in

eine Klinik. Im Verlauf der dortigen Untersuchungen wird ein ACS bei eindeutigen EKGVeränderungen diagnostiziert. Durch die verzögerte Diagnostik und zielgerichtete Weiterbehandlung kommt es zu irreversiblen Schädigungen des Herzgewebes. Im Verlauf einer folgenden gerichtlichen Auseinandersetzung geht das Gericht von einem Behandlungsfehler durch das Vorhalten eines defekten Medizinprodukts aus. Bei einer Verurteilung kann dem Patienten Schadensersatz und Schmerzensgeld zugesprochen werden.

8.3.7 Medizinprodukte von Patient*innen Gelegentlich ist der Rettungsdienst mit Medizinprodukten konfrontiert, mit denen Patient*innen versorgt werden und die bei einem Transport mit in die Klinik genommen werden sollen. Die Bandbreite dieser Medizinprodukte kann auch hier sehr groß sein. So kann es sich um spezielle Wundpflaster, externe Fixateure, Urinbeutel und Schlauchsysteme handeln oder auch um aktive Medizinprodukte wie Beatmungsgeräte, Insulinpumpen etc. In rechtlicher Hinsicht müssen in diesem Zusammenhang einige Punkte berücksichtigt werden. Nur weil der Rettungsdienst eine Patient*in mit einem patienteneigenen Medizinprodukt befördert, wird der Rettungsdienst dadurch nicht zur Betreiber*in des Medizinprodukts. Entsprechende Betreiberpflichten werden in diesem Zusammenhang demnach nicht relevant. Unproblematisch ist dies für den Rettungsdienst insoweit, wie Patient*innen die Medizinprodukte selbst anwenden können. Ist der Rettungsdienst gezwungen, selbst Einstellungen oder andere Maßnahmen mit dem Medizinprodukt durchzuführen, wird das Rettungsfachpersonal zur Anwender*in, mit den beschriebenen rechtlichen Folgen. Hier ist die Anwendung insb. nur dann zulässig, wenn Ausbildung, Kenntnisse und Erfahrungen vorliegen und eine entsprechende Einweisung in das Medizinprodukt erfolgt ist. Eine Ausnahme bzgl. der Einweisung gilt hier auch wieder für die Fälle, in denen das Medizinprodukt selbsterklärend ist. Vor diesem Hintergrund sollte der Rettungsdienst patienteneigene Medizinprodukte nicht anwenden, sondern nach Möglichkeit die eigenen Medizinprodukte verwenden (z. B. eigenes Beatmungsgerät). Selbst in den Fällen, in denen ein patienteneigenes Medizinprodukt vermeintlich störungsfrei läuft und auf der Fahrt keine Einstellungen vorgenommen werden müssen, besteht ein rechtliches Risiko. Kommt es z. B. doch zu einer Fehlfunktion oder zeigt das Medizinprodukt plötzlich eine Fehlermeldung an, kann hier u. U. nicht sachgerecht gehandelt werden. Soweit die Umstände es hergeben, ist es möglich, den Transport durch Angehörige oder Pflegekräfte begleiten zu lassen, die eine Einweisung auf das entsprechende Gerät haben und damit, auch im Notfall, umgehen können. Im Hinblick auf die Ladungssicherung muss auf jeden Fall sichergestellt sein, dass patienteneigene Medizinprodukte sachgerecht gelagert werden. Dies bezieht sich

einerseits auf die Lagerung zur Gewährleistung einer sicheren Funktion des Medizinprodukts, andererseits auch auf die sichere Lagerung im Hinblick auf § 22 StVO. Hier muss auf jeden Fall sichergestellt werden, dass bei einer Vollbremsung oder plötzlicher Ausgleichsbewegung kein Herunterfallen, Umherfliegen etc. erfolgen kann. Für die Ladungssicherung ist die Fahrer*in verantwortlich. R e ch t in e ch t (Fall 8.5) Notfallsanitäterin Marie und Rettungssanitäter Till haben einen Notfalleinsatz bei einem heimbeatmeten Patienten, der in eine Klinik gebracht werden muss. Auf Drängen des Pflegepersonals vor Ort wird der Patient nicht an das Beatmungsgerät des RTW angeschlossen, sondern das Beatmungsgerät des Patienten mit in den RTW genommen. Für das Beatmungsgerät des Patienten ist keine Halterung vorhanden. Da das Gerät auf einem Ständer mit Rollen angebracht ist, kann es im RTW nicht vernünftig gesichert werden. Zudem haben weder Marie noch Till eine Einweisung für das Beatmungsgerät des Patienten. Nach der Abfahrt rollt der Ständer mit dem Beatmungsgerät in einer Kurve gegen die hintere Tür des RTW. Dabei löst sich unbemerkt der Beatmungsschlauch. Da die Alarme des Geräts stummgeschaltet sind, fällt nicht auf, dass der Patient nicht mehr mit Sauerstoff versorgt wird. Als dies nach kurzer Zeit bemerkt wird, gelingt es nicht, den Beatmungsschlauch wieder in den richtigen Anschluss zu stecken. Zum einen gibt es eine Vielzahl sehr ähnlicher Anschlüsse, zum anderen sind diese auch versteckt an der Rückseite des Gerätes angebracht. Der Patient ist längere Zeit ohne adäquate Sauerstoffversorgung. Dies kann zu Haftungsansprüchen des geschädigten Patienten führen. Me rke Patienteneigene Medizinprodukte sollten nach Möglichkeit nicht verwendet, sondern durch Medizinprodukte des Rettungsdienstes ersetzt werden. Sofern patienteneigene Medizinprodukte doch mitgenommen werden müssen, müssen diese während des Transportes vorschriftsmäßig gesichert werden.

Quellen: [1] LAG Rheinland-Pfalz, 10 Sa 33/04 (Beschränkung des Direktionsrechts) [2] BAG, Urt. v. 14.12.2017, 2 AZR 86/17 (Risiko bei Arbeitsverweigerung) [3] BGH, Urt. v. 24.07.2018, VI ZR 294/17 (Bereithalten und Verwenden fehlerhafter Geräte)

Weitere Literatur: Anhalt/Dieners. Medizinprodukterecht. 2. Aufl 2017 München.

Kapitel 9 Arzneimittel- und Betäubungsmittelrecht André Höhle David Winkenbach

Im Rettungsdienst werden Arzneimittel vorgehalten und angewendet. Grundkenntnisse des Arzneimittelrechts sind daher für alle Mitarbeitenden im Rettungsdienst wichtig. Gesetzliche Grundlage des Arzneimittelrechts ist das Arzneimittelgesetz (AMG). Eine besondere Kategorie von Arzneimitteln stellen Betäubungsmittel dar. Der Umgang mit Betäubungsmitteln wird in einem speziellen Gesetz geregelt, dem Betäubungsmittelgesetz (BtMG). Hieraus ergeben sich auch konkrete Handlungspflichten für den Rettungsdienst. D ie s e s K ap ite l s o l l F olge nde s ve rm itte ln: • Gesetzliche Grundlagen und Hintergründe zum Arzneimittelrecht • Regelungen zum Umgang mit Arzneimitteln • Hintergründe und Bedeutung des „Off-Lable-Use“ • Gesetzliche Grundlagen zum Umgang mit Betäubungsmitteln • Umgang mit Betäubungsmitteln im Rettungsdienst

• Voraussetzungen für die Betäubungsmittelgabe durch Notfallsanitäter*innen

W ic h tige R e c ht s qu e l le n fü r d ie s e s K ap ite l: • Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln (Arzneimittelgesetz/AMG)

https://www.gesetze-im-internet.de/amg_1976/ • Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (Betäubungsmittelgesetz/BtMG)

https://www.gesetze-im-internet.de/btmg_1981/ • Verordnung über das Verschreiben, die Abgabe und den Nachweis des Verbleibs von Betäubungsmitteln (Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung/BtMVV)

https://www.gesetze-iminternet.de/btmvv_1998/BJNR008000998.html

9.1 Grundlagen Arzneimittelrecht Ziel des Arzneimittelrechts ist es, die Bevölkerung mit sicheren und wirksamen Arzneimitteln zu versorgen. Arzneimittel stellen einen wichtigen Bestandteil der medizinischen Versorgung dar. Im Rettungsdienst werden viele Arzneimittel vorgehalten. Arzneimittel ist der rechtliche Begriff, im medizinischen Sprachgebrauch wird dafür üblicherweise der Begriff Medikamente verwendet. Dabei kommt es nicht darauf an, um welche Darreichungsform es sich handelt. Die Verabreichung der Arzneimittel war in der

Vergangenheit Notärzt*innen vorbehalten. Seit der Einführung des Berufsbilds Notfallsanitäter*in, dürfen viele Arzneimittel inzwischen auch von Notfallsanitäter*innen verabreicht werden (› Kap. 4.2.4). Unabhängig davon, ob dies im Rahmen der Delegation oder eigenverantwortlich erfolgt, sind Grundkenntnisse dieses Rechtsgebiets wichtig für die Arbeit im Rettungsdienst.

9.1.1 Entwicklung des Arzneimittelrechts Das Arzneimittelgesetz (AMG) stammt aus dem Jahr 1961. Seither hat es eine Vielzahl von Änderungen der arzneimittelrechtlichen Vorschriften gegeben. Ein Großteil dieser Regelungen wurde auf EU-Ebene getroffen (› Kap. 2.8.1). Daneben trägt ein rasant fortschreitender medizinischer und technischer Fortschritt dazu bei, dass bestehende Regelungen fortwährend überarbeitet und angepasst werden müssen. Das Hauptziel aller dieser Regelungen ist die Versorgung der Bevölkerung mit sicheren und wirksamen Arzneimitteln.

9.1.2 Definition Arzneimittel Zentraler Begriff des Arzneimittelrechts ist die Definition der Arzneimittel. Diese sind in § 2 AMG wie folgt definiert: (1) Arzneimittel im Sinne dieses Gesetzes sind Arzneimittel, die zur Anwendung bei Menschen bestimmt sind. Dies sind Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen, 1. die zur Anwendung im oder am menschlichen Körper bestimmt sind und als Mittel mit Eigenschaften zur Heilung oder Linderung oder zur Verhütung

menschlicher Krankheiten oder krankhafter Beschwerden bestimmt sind oder 2. die im oder am menschlichen Körper angewendet oder einem Menschen verabreicht werden können, um entweder a) die physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen oder b) eine medizinische Diagnose zu erstellen.

9.1.3 Abgrenzung Arzneimittel – Medizinprodukte Wichtig ist die Abgrenzung von Arzneimitteln und Medizinprodukten. Der Hauptunterschied zwischen Arzneimitteln und Medizinprodukten liegt in der Wirkweise. Medizinprodukte erreichen ihren Zweck auf physikalischem Weg, bei Arzneimitteln erfolgt die Zweckerreichung auf pharmakologischem, immunologischem oder metabolischem Weg. Da sowohl Arzneimittel als auch Medizinprodukte zu medizinischen Zwecken verwendet werden, gibt es zwischen beiden Produktgruppen viele Gemeinsamkeiten und im Detail auch einige Abgrenzungsschwierigkeiten. Gerade bei den sog. stofflichen Medizinprodukten kann der Übergang fließend sein. Zu stofflichen Medizinprodukten gehören z. B. künstliche Tränenflüssigkeiten. Bedeutung bekommt die Unterscheidung zwischen Medizinprodukten und Arzneimitteln insb. in zulassungsrechtlicher Hinsicht. Bei Arzneimitteln gibt es ein komplexes und

aufwendiges behördliches Zulassungsverfahren. Bei Medizinprodukten gibt es ein Konformitätsbewertungsverfahren, welches von Hersteller*innen, ggf. in Zusammenarbeit mit einer Benannten Stelle, selbst durchgeführt werden kann und daher weniger aufwendig und kostenintensiv ist (› Kap. 8.1.3). Im Ergebnis muss es immer eine klare Abgrenzung geben. Es ist ausgeschlossen, dass ein Produkt gleichzeitig Arzneimittel und Medizinprodukt ist. Bei der Abgrenzung wird dort, wo es Schnittmengen gibt, auf die bestimmungsgemäße Hauptwirkung abgestellt, diese ergibt sich aus der Zweckbestimmung eines Produkts. Die Zweckbestimmung wird durch die Hersteller*in festgelegt. Me r k e Die Abgrenzung zwischen Arzneimitteln und Medizinprodukten erfolgt anhand der Wirkungsweise. Medizinprodukte wirken auf physikalischem Weg, Arzneimittel wirken pharmakologisch, immunologisch oder metabolisch. Bei Arzneimitteln gibt es ein behördliches Zulassungsverfahren. Medizinprodukte werden in einem Konformitätsbewertungsverfahren durch die Hersteller*innen selbst, ggf. unter Beteiligung einer Benannten Stelle, zugelassen.

9.1.4 Arten von Arzneimitteln Es gibt unterschiedliche Arten von Arzneimitteln, z. B. Fertigarzneimittel, Rezepturarzneimittel und Defekturarzneimittel. Fertigarzneimittel sind solche Arzneimittel, die im Voraus

industriell hergestellt werden. Rezepturarzneimittel sind hingegen Arzneimittel, die in einer Apotheke nach einer Einzelrezeptur hergestellt werden. Rezepturarzneimittel unterliegen nicht einer behördlichen Zulassung. Eine weitere Kategorie bilden sog. Defekturarzneimittel. Dabei handelt es sich um Arzneimittel, die in einer Apotheke hergestellt werden, da diese von Ärzt*innen und Zahnärzt*innen oft nachgefragt werden. Diese Arzneimittel dürfen in Apotheken in größeren Mengen hergestellt werden, jedoch begrenzt auf 100 abgabefertige Packungen am Tag.

9.1.5 Arzneimittelwirksamkeit und -sicherheit In Bezug auf die generellen Anforderungen, die an Arzneimittel gestellt werden, regelt das AMG, dass es verboten ist bedenkliche Arzneimittel in den Verkehr zu bringen. Bedenkliche Arzneimittel sind dabei solche, bei denen aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse der Verdacht besteht, dass diese schädliche Wirkungen haben könnten, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgehen. Ein begründeter Verdacht ist in diesem Zusammenhang ausreichend. Konkret bedeutet dies, dass Arzneimittel immer auch unerwünschte Wirkungen haben können, diese jedoch teilweise akzeptiert werden, da der Nutzen der positiven Wirkungen höher bewertet wird. Erst dann, wenn sich dieses Verhältnis dahin entwickelt, dass die unerwünschten Wirkungen die positiven überwiegen, wird von bedenklichen Arzneimitteln gesprochen. Sichergestellt wird diese Vorgabe einerseits dadurch, dass die Unbedenklichkeit im Rahmen der Zulassung von Arzneimitteln überprüft wird, andererseits dadurch, dass die

Hersteller*innen, Großhändler*innen, Apotheker*innen und Ärzt*innen ebenfalls verpflichtet sind, keine bedenklichen Arzneimittel in den Verkehr zu bringen. Ein wesentliches Element des arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahrens ist der Wirksamkeitsnachweis, dieser wird i. d. R. durch das Ergebnis von klinischen Prüfungen erbracht. Bei der Wirksamkeitskontrolle handelt es sich um ein wissenschaftliches Verfahren, bei dem die klinischen Prüfungen in vorgegebenen Phasen erfolgen. Am Ende des Verfahrens muss ein statistisch signifikantes Ergebnis vorgelegt werden, das den Nachweis der Wirksamkeit belegt. R e ch t in e c ht Phasen der klinischen Prüfung für die Zulassung von Arzneimitteln (vereinfachte Darstellung): Phase 0: Geringste Mengen unterhalb der Schwelle für pharmakologische Effekte werden an gesunden Menschen getestet. Ziel dieser Phase ist es, Erkenntnisse zur Wirkstoffverteilung, zum Wirkstoffabbau und zu Abbauprodukten zu erhalten. Phase 1: Anwendung des Mittels an gesunden Menschen. Ziel dieser Phase ist es, Informationen über Sicherheit, Verträglichkeit, Pharmakokinetik und Pharmakodynamik zu erhalten. Phase 2: Anwendung an Patient*innen auf freiwilliger Basis, um therapeutische Wirksamkeit zu testen. Die Anwendung erfolgt unter strenger Überwachung der Patient*innen. Ziel dieser Phase

ist es, Informationen über die geeignete Therapiedosis zu gewinnen. Phase 3: In dieser Phase geht es um den Nachweis von Sicherheit und Wirksamkeit. Dies erfolgt i. d. R. mit randomisierten Doppelblindstudien. Anschließend erfolgt die Erstellung des Zulassungsdossiers. Phase 4: In Phase 4 gibt es weitere Studien nach dem Markteintritt, in denen weitere Daten zur Sicherheit und Wirksamkeit gesammelt und ausgewertet werden.

9.1.6 Europäische Arzneimittel-Agentur Auf europäischer Ebene ist die Europäische ArzneimittelAgentur (EMA, European Medicines Agency) eine Stelle zur wissenschaftlichen Beurteilung von Arzneimitteln. Dort werden wissenschaftliche Informationen zu Arzneimitteln in Bezug auf Sicherheit, Qualität und Wirksamkeit abgeglichen und zugänglich gemacht. Die EMA hatte ihren Sitz ursprünglich in London. Nach dem Brexit musste der Sitz in ein EU-Land verlegt werden, daher ist der aktuelle Sitz der EMA in Amsterdam. Die endgültige Entscheidung über die Zulassung eines Arzneimittels auf europäischer Ebene obliegt der EU-Kommission. Diese endgültige Zulassungsentscheidung erfolgt auf Grundlage der von der EMA getroffenen Vorbereitungen und Beratungen.

9.1.7 Besondere Arten von Arzneimitteln

Das AMG sieht sich dem Therapiepluralismus verpflichtet. Daher werden in diesem nicht nur Regelungen zu klassischen Arzneimitteln aus dem Bereich der Schulmedizin, sondern auch Regelungen zu homöopathischen, anthroposophischen und Naturarzneimitteln getroffen. Homöopathische Arzneimittel werden im AMG ebenfalls gesetzlich geregelt. Für diese Arzneimittel ist kein behördliches Zulassungsverfahren erforderlich, sondern es besteht lediglich eine Registrierungspflicht. Aus dieser unterschiedlichen Behandlung im Vergleich mit herkömmlichen Arzneimitteln ergibt sich, dass bei homöopathischen Arzneimitteln kein Wirksamkeitsbeleg erforderlich ist. Das Europäische Arzneibuch dient dem Zweck, die Gesundheit der Bevölkerung mithilfe anerkannter, gemeinsamer Standards für die Qualität von Arzneimitteln und ihren Bestandteilen zu fördern. Da diese Regeln gewährleisten, dass die auf dem Markt verfügbaren Arzneimittel für die Patient*innen unbedenklich sind, müssen sie angemessen sein. Außerdem erleichtern sie den freien Austausch von Arzneimitteln innerhalb und außerhalb Europas.

9.1.8 Institutionen auf nationaler Ebene Auf Bundesebene ist das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) für die Zulassung von Arzneimitteln zuständig. Das BfArM ist eine Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesgesundheitsministeriums. Der Sitz des BfArM ist in Bonn. Aufgaben des BfArM sind Zulassung von Arzneimitteln, Risikoüberwachung von Medizinprodukten und

die Überwachung des Betäubungsmittel- und Grundstoffverkehrs. Daneben besteht das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) mit der speziellen Zuständigkeit für Sera, Impfstoffe, Blut-, Knochenmarkund Gewebezubereitungen, Gewebe, Allergene, Arzneimittel für neuartige Therapien, xenogene Arzneimittel und genetisch hergestellte Blutbestandteile (› Kap. 3.9.4). Auf Länderebene haben die Länder zur Koordinierung ihrer Aufgaben im Bereich Gesundheit die Zentralstelle für Gesundheitsschutz bei Arzneimitteln und Medizinprodukten (ZLG) geschaffen.

9.1.9 Zulassungen Für die Zulassung von Arzneimitteln gilt ein präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt. Dies bedeutet, dass Arzneimittel nur auf den Markt gebracht werden dürfen, wenn eine entsprechende Erlaubnis erteilt wurde. Liegen keine Versagungsgründe vor, besteht ein Anspruch auf Zulassung. Alle Fertigarzneimittel müssen grds. zugelassen werden. In diesem Bereich besteht u. a. eine Ausnahme im Rahmen sog. Standardzulassungen. Diese kommen dann in Betracht, wenn sie in einer Rechtsverordnung für Standardzulassungen aufgeführt sind. Voraussetzung für die Aufnahme in diese Rechtsverordnung ist, dass die Anforderungen an die erforderliche Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit erwiesen sind und daher keine Gefahren im Hinblick auf die Arzneimittelsicherheit bestehen. Kann sich eine Hersteller*in vor diesem Hintergrund auf eine Standardzulassung berufen, wandelt sich die Zulassungspflicht in eine Anzeigepflicht.

Es gibt ein nationales Zulassungsverfahren, welches entweder durch das BfArM oder das PEI durchgeführt wird und zum Ziel allein eine nationale Zulassung hat. Darüber hinaus gibt es ein europäisches Zulassungsverfahren, bei welchem die EMA die wissenschaftliche Bewertung vornimmt, die Entscheidung über eine Zulassung jedoch von der EU-Kommission getroffen wird. Das europäische Zulassungsverfahren hat als Ziel eine Zulassung für die gesamte EU.

9.1.10 Kennzeichnung von Arzneimitteln Zugelassene und in Verkehr gebrachte Arzneimittel müssen eine genau vorgegebene Kennzeichnung haben. Die Kennzeichnung muss u. a. enthalten: Bezeichnung, Stärke, Darreichungsform, Charge, Art der Anwendung, Wirkstoff (Art und Menge), Verfallsdatum, Verschreibungspflicht/Apothekenpflicht, Lagerhinweise und den Hinweis: „Für Kinder unzugänglich aufbewahren“. Zudem muss Arzneimitteln eine Packungsbeilage beigefügt werden, die eine festgelegte Struktur haben muss. A c ht u ng Im Rettungsdienst werden Arzneimittel einerseits im Lager der Rettungswache und andererseits in den Rettungsmitteln gelagert. Für die Art der Lagerung müssen die Vorgaben auf der Packung und in der Packungsbeilage beachtet werden. Bestimmte Arzneimittel müssen unter besonderen Umgebungsbedingungen gelagert werden, z. B. gekühlt.

Wurden die Lagerungsbedingungen nicht eingehalten, dürfen die Arzneimittel nicht mehr verwendet werden. Manche Arzneimittel dürfen unter abweichenden Bedingungen gelagert werden, jedoch kann sich dabei das Ablaufdatum ändern, z. B. Infusionen, die im Wärmefach gelagert werden. Diese Arzneimittel müssen entsprechend gekennzeichnet werden und es muss sichergestellt werden, dass diese nach diesem geänderten Ablaufdatum nicht mehr verwendet werden. R e ch t in e c ht Das ausgefallene Kühlfach (Fall 9.1) Notfallsanitäter Fabian bemerkt morgens bei Check des RTW, dass das Kühlfach für die kühlpflichtigen Medikamente ausgefallen ist. Es ist nicht klar, wie lange das Kühlfach nicht funktioniert hat. Jedenfalls ist es innen überhaupt nicht mehr kühl. Fabian weiß, dass die darin enthaltenen Medikamente speziell gekühlt gelagert werden müssen, so steht es auch auf der Verpackung. Da diese Kühlung durch den Ausfall des Kühlfachs für unbestimmte Zeit nicht gewährleistet war, können die Medikamente nicht mehr verwendet werden. Fabian ist dies bewusst, er nimmt die Medikamente vom Fahrzeug, verwirft sie ordnungsgemäß und füllt neue gekühlte Medikamente auf, nachdem das Kühlfach repariert wurde. Das nicht-umdatierte Medikament (Fall 9.2) Notfallsanitäterin Marie stellt beim Check des Notfallrucksacks fest, dass dort eine kühlpflichtige Ampulle Suprarenin gelagert wird. Dieses Medikament muss eigentlich gekühlt gelagert werden. Wird dies nicht gemacht, gilt nicht mehr

das auf der Ampulle abgedruckte Ablaufdatum. Die Hersteller*in schreibt in der Packungsbeilage vor, dass das Ablaufdatum auf der Ampulle umdatiert werden muss. Folge der Umdatierung ist, dass das Arzneimittel nur noch eine begrenzte Zeit verwendet werden darf. Diese Umdatierung fehlt jedoch auf der Ampulle im Notfallrucksack. Da sich nicht mehr sicher feststellen lässt, wann die Ampulle aus der Kühlung entnommen wurde, wird diese von Marie fachgerecht entsorgt und eine neue Ampulle in den Notfallrucksack gepackt, die von ihr entsprechend den Herstellervorgaben umdatiert wird. Das nicht mehr erkennbare Ablaufdatum (Fall 9.3) Rettungssanitäterin Ida kontrolliert den Medikamentenschrank. Dabei fällt ihr eine Ampulle auf, bei der das Ablaufdatum nicht mehr lesbar ist. Es handelt sich um ein Medikament, das nur selten verwendet wird. Beim Check wird es regelmäßig in die Hand genommen, wodurch das aufgedruckte Datum mit der Zeit immer weniger erkennbar wurde, bis es jetzt gar nicht mehr lesbar ist. Da unklar ist, wann das Medikament abläuft und bis wann es dementsprechend noch verwendet werden kann, nimmt Ida dieses vom Fahrzeug, entsorgt es fachgerecht und ersetzt es durch eine Ampulle mit lesbarem Ablaufdatum.

9.1.11 Überwachung von Arzneimitteln Die Überwachung von Arzneimitteln erfolgt ähnlich wie bei Medizinprodukten durch ein Zusammenspiel zwischen Marktüberwachungspflichten von Hersteller*innen und Behörden. Hersteller*innen müssen den Markt systematisch überwachen und bei Vorfällen mit Arzneimitteln reagieren.

Die mit der Marktüberwachung von Arzneimitteln beauftragten Behörden müssen bei Vorfällen die notwendigen Maßnahmen ergreifen. Diese erfolgen i. d. R. zunächst direkt gegenüber den Hersteller*innen. In besonderen Situationen können Behörden jedoch auch selbst unmittelbar am Markt tätig werden. Ein Mittel der Marktüberwachung können z. B. Warnungen sein. So können Warnhinweise gegeben werden, dass ein Arzneimittel für bestimmte Patientengruppen nicht mehr verwendet werden darf oder auch, dass in Bezug auf die Dosierung bestimmte abweichende Regeln beachtet werden müssen. In Einzelfällen kann es auch zu Produktrückrufen kommen. A c ht u ng Erfolgt ein Produktrückruf, müssen die Verantwortlichen der Rettungswachen sicherstellen, dass die zurückgerufenen Produkte unverzüglich von den Rettungsmitteln genommen, gesammelt und keinesfalls mehr bei Patient*innen angewendet werden. Erfolgen Warnhinweise bzgl. einer Einschränkung der Verwendbarkeit, einer abweichenden Dosierung etc., muss auf den Rettungswachen sichergestellt werden, dass alle Anwender*innen darüber informiert werden. Dies kann z. B. über Dienst- bzw. Arbeitsanweisungen erfolgen.

9.1.12 Off-Lable-Use von Arzneimitteln Zum Thema Off-Lable-Use gibt es unterschiedliche Begrifflichkeiten.

• Off-Lable-Use: Ein Arzneimittel wird außerhalb der bestehenden Zulassung verwendet. • Unlicensed Use: Ein Arzneimittel wird ohne Zulassung verwendet. • Compassionate Use: Ein noch nicht zugelassenes Arzneimittel wird zur Behandlung schwerer oder lebensbedrohlicher Erkrankungen kostenlos zur Verfügung gestellt. Im Rettungsdienst kommt i. d. R. nur der Off-Lable-Use in Betracht. Die Verwendung von Arzneimitteln außerhalb der bestehenden Zulassung ist dabei nicht per se unzulässig, sondern kann von der ärztlichen Therapiefreiheit abgedeckt sein. Die Therapiefreiheit umfasst die freie Wahl der konkret anzuwendenden Methode. Um ein Arzneimittel entsprechend einsetzen zu können, muss eine sorgfältige Abwägung der Vor- und Nachteile des Arzneimittels für den beabsichtigten Gebrauch erfolgen. Dies ist u. a. deshalb geboten, da für die Off-Lable-Verwendung i. d. R. kaum Studien zur Sicherheit und Wirksamkeit vorliegen. Sofern der Einsatz des Arzneimittels in der konkreten Situation vertretbar und medizinisch-sachlich begründet ist, kann ein Off-LableUse zulässig sein (› Abb. 9.1).

ABB. 9.1 Off-Lable-Use von Arzneimitteln im Rettungsdienst [L157] In einigen Fällen kann ein Off-Lable-Use sogar geboten sein, wenn dieser bereits in Publikationen, Leitlinien etc. Einzug gefunden hat, die den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft abbilden. Um dazu immer auf dem aktuellen Stand zu sein, empfiehlt sich für Ärzt*innen die Teilnahme an speziellen Fortbildungen und die regelmäßige Nutzung von Fachliteratur. Es wird empfohlen, Patient*innen vor einem Off-Lable-Use umfassend aufzuklären, insb. auch zu den Hintergründen des Off-Lable-Use und eine entsprechende Einwilligung für diese Art der Anwendung einzuholen (› Kap. 6.3.3). Zu dieser Aufklärung und Einwilligung ist eine entsprechende ausführliche Dokumentation zu erstellen.

Die vorstehenden Ausführungen beziehen sich auf den Off-LableUse durch Ärzt*innen. Erfolgt der Off-Lable-Use durch Notfallsanitäter*innen im Rahmen der Delegation durch eine Notärzt*in an der Einsatzstelle oder im Zuge der Vorabdelegation, liegt die haftungsrechtliche Verantwortung bei der delegierenden Ärzt*in und stellt eine Ausübung der zuvor genannten Therapiefreiheit dar (› Kap. 4.2.4). Im Falle der eigenverantwortlichen Ausübung der Heilkunde (› Kap. 4.2.4) ist entscheidend, ob die Maßnahme erlernt wurde und beherrscht wird. Dies muss dann in Bezug auf den Off-Lable-Use eines Arzneimittels belegt werden können. Me r k e Ein Off-Lable-Use von Arzneimitteln ist im Rettungsdienst keine Seltenheit. Grundsätzlich sollte in dieser Hinsicht zurückhaltend agiert werden. Ein Off-Lable-Use von Arzneimitteln im Rahmen der Delegation sowie der eigenverantwortlichen Ausübung der Heilkunde ist umso eher unproblematisch, je mehr sich diese Art der Anwendung bereits im medizinischen Bereich etabliert hat.

9.2 Grundlagen Betäubungsmittelrecht Im Betäubungsmittelrecht erfahren einzelne Arzneimittel noch einmal besondere Regelungen. Die Vorschriften dazu sind im Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (BtMG) zusammengefasst. Hintergrund dafür ist, dass die als Betäubungsmittel klassifizierten Stoffe ein hohes Potenzial dafür haben, Abhängigkeiten zu erzeugen. Abhängigkeitserkrankungen

können zu schweren persönlichen und gesellschaftlichen Schäden führen. Für die Betroffenen selbst kann eine körperliche oder psychische Abhängigkeit zu gesundheitlichen und sozialen Problemen führen. Gesellschaftlich bedeuten Abhängigkeitserkrankungen hohe Kosten für das Gesundheitssystem, zudem kommt es zu einem Anstieg der Kriminalität. Dabei spielt nicht nur die Beschaffungskriminalität der Betroffenen eine Rolle, sondern auch die Kriminalität der Banden, die Betäubungsmittel in großen Mengen einführen und weiter verteilen. Vor diesem Hintergrund wird versucht, dass Substanzen und Mittel mit hohem Suchtpotenzial gar nicht erst in Umlauf gelangen. Das Betäubungsmittelrecht trägt diesem Umstand Rechnung. Das hat auch Auswirkungen auf die rettungsdienstliche Tätigkeit, soweit in diesem Bereich Arzneimittel vorgehalten werden, die unter das Betäubungsmittelrecht fallen. Neben den Beschränkungen hat das BtMG auch zum Ziel, die medizinische Versorgung der Bevölkerung mit Betäubungsmitteln sicherzustellen. Me r k e Ziel des Betäubungsmittelrechts ist es einerseits, die schädlichen Auswirkungen zu verhindern, die ein unregulierter Konsum von Betäubungsmitteln haben kann, andererseits soll jedoch auch die medizinische Versorgung der Bevölkerung mit Betäubungsmitteln sichergestellt werden. Die Maßgaben, die das BtMG für die betroffenen Arzneimittel vorschreibt, sind in erster Linie auf deren hohes Suchtpotenzial zurückzuführen, nicht auf deren besondere medizinische Gefährlichkeit, z. B. bei der notfallmedizinischen Anwendung.

Betäubungsmittel (BtM) sind rechtlich wie folgt definiert: „Betäubungsmittel sind Stoffe, die nach wissenschaftlicher Erkenntnis wegen ihrer Wirkungsweise eine Abhängigkeit hervorrufen können, deren betäubende Wirkungen wegen des Ausmaßes einer missbräuchlichen Verwendung unmittelbar oder mittelbar Gefahren für die Gesundheit begründen oder die der Herstellung solcher Betäubungsmittel dienen“.[1] Der Anwendungsbereich des BtMG wird durch eine sog. Positivliste bestimmt, in welcher Stoffe aufgeführt sind, auf die das Gesetz anwendbar ist. Entscheidendes Kriterium für die Aufnahme in die Positivliste ist der Aspekt der Abhängigkeit. Abhängigkeit wird als ein psychischer und bisweilen auch physischer Zustand verstanden, der sich aus der Wechselwirkung zwischen einem lebenden Organismus und einer Droge ergibt. Eine Abhängigkeit äußert sich im Verhalten und an anderen Reaktionen und schließt stets den Zwang ein, die Droge dauernd oder in Abständen zu nehmen, um deren psychische Wirkungen zu erleben oder das Unbehagen zu vermeiden, dass beim Fehlen der Droge mitunter auftritt. Eine Toleranz kann, muss aber nicht vorliegen. Das BtMG hat mehrere Anlagen, in denen bestimmte Stoffe sowie Regelungen zu ihrer Verwendung aufgeführt werden. Die in Anlage I aufgeführten Substanzen haben ein großes Missbrauchspotenzial, sie sind nicht verkehrsfähig, z. B. Diamorphin (Heroin) und LSD. Die in Anlage II aufgeführten Substanzen sind verkehrsfähig, jedoch nicht verschreibungsfähig. Es handelt sich dabei um Rohund Ausgangsstoffe für die Pharmaindustrie.

Die in Anlage III genannten Substanzen sind verkehrs- und verschreibungsfähig, wie z. B. Morphin, Fentanyl oder Midazolam (für Midazolam gilt dabei jedoch, dass Zubereitungen bis max. 15 mg pro abgeteilte Einheit nicht unter die Regelungen des BtMG fallen). Die Sucht- und die damit einhergehende Missbrauchsgefahr lässt sich nicht für bestimmte Substanzgruppen allgemein feststellen, sondern wird für jede Substanz einzeln bewertet. So fallen bestimmte Opioide, die kein ausgeprägtes Suchtpotenzial haben (z. B. Nalbuphin), nicht unter das BtMG. Nicht zu den Betäubungsmitteln gehören Alltags- und Genussdrogen wie Alkohol, Koffein und Nikotin.

9.2.1 Erlaubnispflicht Grundlage des BtMG ist, dass für den Verkehr mit BtM eine Erlaubnis des BfArM (› Kap. 9.1.8) benötigt wird. Eine Ausnahme gibt es für den medizinischen Bereich, in dem unter bestimmten Umständen von einer solchen Erlaubnis abgesehen werden kann. Die Erlaubnis wird erteilt, wenn u. a. folgende Voraussetzungen vorliegen: • Es muss eine Person geben, die für die Einhaltung der betäubungsmittelrechtlichen Vorschriften verantwortlich ist. • Diese Person muss dementsprechend über die erforderliche Sachkenntnis verfügen. • Liegen Tatsachen vor, aus denen sich Anhaltspunkte für die Unzuverlässigkeit der verantwortlichen Person ergeben, kann die Erteilung der Erlaubnis versagt werden. • Es müssen geeignete Räume, Einrichtungen und Sicherungen für die Teilnahme am

Betäubungsmittelverkehr vorhanden sein. • Es muss die Sicherheit oder Kontrolle des Betäubungsmittelverkehrs gewährleistet sein. Für Apotheken besteht eine Ausnahmeregelung in Bezug auf die Abgabe von BtM. Eine solche Ausnahme besteht für Ärzt*innen nicht. Wenn diese BtM an Dritte abgeben wollen, bedürfen Sie dafür einer Erlaubnis. Ärzt*innen dürfen somit also nicht ohne Weiteres BtM abgeben; verschrieben werden dürfen diese jedoch. Sonstige Personen dürfen BtM erwerben, wenn dies aufgrund einer ärztlichen Verschreibung geschieht.

9.2.2 Vorhaltung von Betäubungsmitteln im Rettungsdienst Für die Nutzung von BtM im Rettungsdienst gibt es spezielle Regelungen in der BetäubungsmittelVerschreibungsverordnung (BtMVV). Dort ist geregelt, dass für Einrichtungen des Rettungsdienstes eine Ärzt*in beauftragt werden muss, die für die Verschreibung von BtM verantwortlich ist. Verbleib und Bestand von BtM sind durch die jeweils behandelnde Ärzt*in oder die verabreichende Notfallsanitäter*in zu führen. Es muss eine Vereinbarung mit einer Apotheke geschlossen werden, welche die Einrichtung des Rettungsdienstes mit BtM beliefert und halbjährlich eine Kontrolle der Betäubungsmittelvorräte durchführt. Bei dieser Kontrolle werden u. a. die einwandfreie Beschaffenheit sowie die ordnungsgemäße und sichere Aufbewahrung überprüft. Die Kontrollen sind durch eine Apotheker*in durchzuführen und zu protokollieren. Werden im

Rahmen der Kontrollen Mängel festgestellt, wird eine Frist zur Beseitigung der Mängel gesetzt. Erfolgt die Beseitigung der festgestellten Mängel nicht innerhalb der gesetzten Frist, muss die zuständige Landesbehörde darüber unterrichtet werden. Me r k e Die Vorgaben für die Vorhaltung von BtM im Rettungsdienst sind sehr streng. Die Einhaltung der Vorgaben wird regelmäßig durch Apotheker*innen kontrolliert. Mengen Eine Verschreibung für Einrichtungen des Rettungsdienstes ist möglich. Die Menge, die zur Vorhaltung für Notfälle verschrieben werden darf, soll eine Monatsmenge nicht überschreiten. Für einzelne Wirkstoffe gelten abweichende Beschränkungen. Darüber hinaus gibt es eine spezielle Regelung für einen Großschadensfall. In diesen Fällen sind die leitenden Notärzt*innen verpflichtet, die benötigten BtM zu verschreiben. Diese müssen im Anschluss den Verbrauch nachweisen und diesen Nachweis an die zuständige Landesbehörde weiterleiten. Verschreibung und Bestandsführung Um BtM für den Rettungsdienstbedarf zu verschreiben, muss vom Träger oder Leistungserbringer des Rettungsdienstes eine Ärzt*in beauftragt werden. Diese muss für die Verschreibung einen Betäubungsmittelanforderungsschein verwenden. Dieses Dokument besteht aus drei Teilen. Zwei Teile sind für die Apotheke bestimmt, einen Teil behält die verschreibende Ärzt*in. Dieser Teil ist von der verschreibenden Ärzt*in drei Jahre aufzubewahren.

An die Bestandsführung von BtM werden hohe Anforderungen gestellt. Im Rettungsdienst ist dafür grds. die dafür beauftragte Ärzt*in zuständig. Im Zusammenhang mit dem Verbrauch von BtM an Patient*innen ist für die Bestandsführung die jeweils behandelnde Ärzt*in oder die verabreichende Notfallsanitäter*in verantwortlich. Für die Nachweisführung müssen bestimmte Formblätter verwendet werden, zudem können Karteikarten oder Betäubungsmittebücher genutzt werden. Die Seiten in den Büchern müssen fortlaufend nummeriert sein. Es besteht auch die Möglichkeit, die Dokumentation elektronisch durchzuführen. Die Eintragungen sowie der Abgleich mit den Beständen haben monatlich, zum Ende eines Kalendermonats zu erfolgen. Verantwortlich dafür ist im Bereich des Rettungsdienstes die von der Träger*in oder Leistungserbringer*in beauftragte Ärzt*in. Bestandsänderungen müssen durch Namenszeichen und Prüfdatum bestätigt werden. Die beauftragte Ärzt*in muss die Prüfung nicht selbst durchführen, sondern kann diese an eine andere Person delegieren. Die beauftragte Ärzt*in muss darüber am Ende eines Monats unterrichtet werden. Die Aufbewahrungsdauer für die Dokumentation beträgt drei Jahre seit der letzten Eintragung. Die Aufbewahrung muss in der Einrichtung des Rettungsdienstes erfolgen. Auf Verlangen der zuständigen Aufsichtsbehörde sind dieser die Unterlagen zuzusenden oder Einsicht zu gewähren. Im Rahmen der Nachweisführung sind vom Rettungsdienst folgende Angaben zu machen: • Bezeichnung (Arzneimittelbezeichnung, ggf. zusätzliche Bezeichnung und Gewichtsmenge des enthaltenen BtM)

• Datum des Zugangs oder des Abgangs • Zugegangene und abgegangene Menge sowie die Folgen für den Bestand • Name und Anschrift der Lieferant*in • Name der verschreibenden Ärzt*in und Nummer des Betäubungsmittelscheins Weitere erforderliche Angaben können sich aus den zu verwendenden Formblättern ergeben. Verstöße gegen die Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung und das Betäubungsmittelgesetz können zu einer Strafbarkeit führen oder als Ordnungswidrigkeiten geahndet werden. Lagerung und Aufbewahrung Zur Aufbewahrung von BtM regelt das BtMG, dass BtM gesondert aufbewahrt und gegen unbefugte Entnahme gesichert werden müssen. Das BfArM hat für die Lagerung von Arzneimitteln in Arztpraxen, Kliniken etc. eine Richtlinie (4114-k) herausgegeben, in welcher auch die speziellen Anforderungen an die Sicherung von BtM aufgeführt sind. Diese Richtlinie gilt auch für Rettungswachen und stellt spezielle Anforderungen an die erforderlichen Wertschutzschränke sowie deren Einbau. Kleinmengen, die den durchschnittlichen Tagesbedarf nicht überschreiten und ständig griffbereit sein müssen, dürfen auch anders eingeschlossen werden, mindestens jedoch so, dass eine Entwendung wesentlich erschwert wird. Dies ist der Grund dafür, warum BtM in den Fahrzeugen i. d. R. nicht bei den sonstigen Medikamenten aufbewahrt werden, sondern in einer speziell gesicherten Box. Diese Box ist abschließbar und soll eine

unberechtigte Entnahme von BtM verhindern. Der Schlüssel zu der Box darf nur einem engen Kreis von Berechtigten ausgehändigt werden, dies muss dokumentiert werden. Der Schlüssel muss ständig mitgeführt werden. Er darf nicht an andere Nichtberechtigte ausgehändigt werden und nicht an einem allgemein verfügbaren Schlüsselbund hängen. Weit verbreitet sind inzwischen auch die sog. BtM-Taschen, die am Gürtel getragen werden. Hier sind die BtM in der Tasche unter ständiger Aufsicht der verantwortlichen Person. Berechtigte Personen müssen entsprechend im Vorfeld ausgewählt werden, die Tasche mit den BtM darf während des Dienstes nicht wahllos zwischen dem Personal getauscht werden. Damit der Zweck – die unberechtigte Entnahme von BtM zu verhindern – erfüllt wird, darf die Tasche bzw. der Gürtel mit der Tasche nicht einfach abgelegt und unbeaufsichtigt liegen gelassen werden. Kommt es durch solche Unachtsamkeiten zum Verlust von BtM, steht die Person, die mit der Verwahrung der Tasche betraut war, in der Verantwortung. Wird die Pflicht zum ordnungsgemäßen Umgang mit Schlüssel oder BtM-Tasche verletzt und kommen dadurch BtM in die Hände Unbefugter, kommt auch eine Strafbarkeit in Betracht (fahrlässiges Inverkehrbringen von BtM durch Unterlassen aufgrund unzureichender Sicherung, §§ 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG, 13 StGB). Vernichtung Auch die Vernichtung von BtM unterliegt strengen Anforderungen. Die Vernichtung hat dann zu erfolgen, wenn BtM nicht mehr verwendet werden dürfen, weil das Verwendungsdatum überschritten ist, Ampullen beschädigt oder

zerbrochen sind oder weil nach der Applikation Restmengen in geöffneten Behältnissen oder Spritzen nicht mehr verwendet werden können. Die Vernichtung muss dabei so erfolgen, dass eine Wiedergewinnung der BtM ausgeschlossen wird und zudem keine Beeinträchtigungen von Mensch und Umwelt entstehen. Die Vernichtung muss in Anwesenheit von zwei Zeugen erfolgen, sie muss dokumentiert werden, die Dokumentation muss drei Jahre aufbewahrt werden. Pr axis tip p Kommt es bei BtM zu Beschädigungen von Ampullen, dem Ablauf des Verwendungsdatums oder zu Restmengen im Rahmen eines Einsatzes, kann wie folgt vorgegangen werden: • Zwei Zeug*innen hinzuziehen (drei Personen müssen anwesend sein) • Vernichtung derart, dass eine, auch nur teilweise, Wiedergewinnung ausgeschlossen ist (empfohlen wird regelmäßig die Auflösung flüssiger BtM in Zellstoff und dann eine Entsorgung des Zellstoffs) • Durch Vernichtung müssen schädliche Einwirkungen auf Mensch und Umwelt ausgeschlossen sein • Dokumentation der Vernichtung (Datum, Name BtM, Rest(menge), Namen der anwesenden Personen und deren Unterschriften)

Überwachung des Verkehrs mit Betäubungsmitteln

Behörden, die für die Überwachung des Betäubungsmittelverkehrs zuständig sind, haben weitreichende Befugnisse. Sie können z. B. Grundstücke und Gebäude betreten, in denen BtM-Verkehr stattfindet. Auch können sie die Vorlage von und Einsicht in Unterlagen fordern. Personen, die am Betäubungsmittelverkehr teilnehmen, haben insofern umfangreiche Duldungs- und Mitwirkungspflichten.

9.2.3 Verabreichung von Betäubungsmitteln durch Notfallsanitäter*innen Rechtsgrundlage für die Verabreichung von in Anlage III bezeichneten BtM ist § 13 BtMG. Dieser regelt neben der Verabreichung auch die Verschreibung und Überlassung von BtM. Die Einhaltung der Vorgaben von § 13 BtMG wird durch eine Strafvorschrift abgesichert (§ 29 Abs. 1 BtMG); bei Verstößen droht eine Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe. Entscheidend für das Verabreichen ist, dass die Anwendung am menschlichen Körper begründet ist, nur dann ist u. a. eine Verabreichung von BtM zulässig. An der Begründetheit fehlt es insb. dann, wenn der beabsichtigte Zweck auf andere Weise erreicht werden kann. Nach § 13 Abs. 1 BtMG obliegt die Entscheidung über die Begründetheit Ärzt*innen. Eine solche Entscheidung darf demnach grds. nur nach vorausgegangener Untersuchung getroffen werden. Me r k e Für die Verabreichung von BtM müssen nach § 13 Abs. 1 BtMG grds. folgende Voraussetzungen vorliegen:

• Anwendung am menschlichen Körper muss begründet sein • Es darf keine andere Möglichkeit geben, den Zweck zu erreichen • Vorhergehende ärztliche Untersuchung • Ärztliche Entscheidung im jeweiligen Einzelfall

Nach einer Änderung des BtMG im Jahr 2023 sind auch Notfallsanitäter*innen berechtigt, BtM an Patient*innen zu verabreichen. Dafür wurde u. a. ein neuer § 13 Abs. 1b BtMG ins Gesetz eingefügt. Vor der Gesetzesänderung war es rechtlich umstritten, ob und unter welchen Voraussetzungen Notfallsanitäter*innen BtM verabreichen dürfen. § 13 Abs. 1b BtMG legitimiert nun ausdrücklich die Gabe von BtM durch Notfallsanitäter*innen „ohne vorherige ärztliche Anordnung im Rahmen einer heilkundlichen Maßnahme“. Allerdings werden für die Applikation hohe Voraussetzungen aufgestellt. Für Notfallsanitäter*innen kommen im Hinblick auf eine BtMGabe folgende Konstellationen in Betracht, von denen einige zulässig und andere rechtlich problematisch sind: A) Verabreichung nach Delegation im Einzelfall B) Verabreichung nach § 13 Abs. 1b BtMG C) Verabreichung nach Einwilligung der Patient*in D) Verabreichung nach rechtfertigendem Notstand E) Verabreichung nach § 2a NotSanG Verabreichung nach Delegation im Einzelfall (Fall A)

Beim gemeinsamen Einsatz mit Notärzt*in darf nichtärztliches Rettungsdienstpersonal Patient*innen im Rahmen einer direkten ärztlichen Delegation BtM verabreichen. In diesem Fall ist sichergestellt, dass die vor Ort tätige Notärzt*in die Patient*in untersucht und eine entsprechende Entscheidung über die Verabreichung eines BtM getroffen hat. Die eigentliche Verabreichung darf dann nach genauer Delegation durch nichtärztliches Rettungsdienstpersonal erfolgen. Dies betrifft auch Fälle von Transporten, die nicht ärztlich begleitet werden und bei denen dem Rettungsdienstpersonal die BtM zusammen mit der Patient*in übergeben und genaue Vorgaben dazu gemacht werden, ob, wie und inwieweit die BtM zu verabreichen sind. In diesen Fällen haben eine ärztliche Untersuchung und Entscheidung, wie vom Gesetz grds. gefordert, stattgefunden. Ob und inwieweit eine telenotärztliche Konsultation hier zu einem begründeten Einsatz von BtM führen kann, ist derzeit noch unklar. Zumindest stehen den Telenotärzt*innen in diesen Fällen neben den Auskünften des Rettungsdienstpersonals auch alle Vitalwerte in Echtzeit sowie ein Live-Bild der Patient*innen zur Verfügung. Sofern dies als adäquate Untersuchung angesehen werden kann, ist eine Verabreichung von BtM in solchen Fällen, nach ärztlicher Anordnung, durch Notfallsanitäter*innen möglich. Verabreichung nach § 13 Abs. 1b BtMG (Fall B) Damit Notfallsanitäter*innen ohne ärztliche Anordnung BtM im Rahmen einer heilkundlichen Maßnahme verabreichen dürfen, müssen gem. § 13 Abs. 1b BtMG strenge Voraussetzungen erfüllt sein:

1. Die Verabreichung ist nur auf Basis standardisierter ärztlicher Vorgaben möglich (z. B. SOP). Diese Vorgaben müssen – den Notfallsanitäter*innen in Textform vorliegen, – Regelungen zur Art und Weise der Verabreichung enthalten und – Festlegungen darüber treffen, in welchen Fällen das Eintreffen der Ärzt*in nicht abgewartet werden kann. 2. Das Eintreffen einer Ärzt*in kann (gemäß der standardisierten ärztlichen Vorgabe) nicht abgewartet werden. 3. Die Applikation dient zur Abwendung von Gefahren für die Gesundheit oder zur Beseitigung oder Linderung erheblicher Beschwerden. 4. Die Applikation ist erforderlich, d. h., sie ist geeignet und stellt unter den zur Verfügung stehenden Mitteln das relativ mildeste Mittel dar, um die Gefahr abzuwenden. Kernelement sind standardisierte Vorgaben der zuständigen ärztlichen Person; dies sind i. d. R. die Ärztlichen Leiter*innen Rettungsdienst (ÄLRD) für ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereich. Die ÄLRD haben damit die Ermächtigung, derartige Vorgaben zu erlassen, sind jedoch rechtlich nicht dazu verpflichtet. Teilweise wird vertreten, dass nicht nur die ÄLRD, sondern auch irgendeine Ärzt*in entsprechende Vorgaben machen könne. Argumentiert wird hier mit dem Wortlaut des § 13 Abs. 1b BtMG, der nicht explizit auf ÄLRD verweist, sondern allgemein auf standardisierte ärztliche Vorgaben abstellt. Dies führt mitunter zu

Unsicherheiten und Spekulationen. In den Gesetzgebungsmaterialien lassen sich keine Hinweise dazu finden, warum diese allgemeine Formulierung gewählt wurde. Systematisch betrachtet regelt das BtMG mit den ergänzenden Verordnungen u. a. verschiedene Aufgaben im Zusammenhang mit dem Verkehr mit BtM. Ärztlicherseits erwähnt werden für das Verschreiben, die Abgabe und den Nachweis des Verbleibs von BtM für Einrichtungen des Rettungsdienstes in der BtMVV ausschließlich • beauftrage Ärzt*innen (§ 6 Abs. 2 BtMVV), • behandelnde Ärzt*innen (§ 6 Abs. 2 BtMVV) und • Leitende Notärzt*innen (§ 6 Abs. 4 BtMVV). Als beauftragte Ärzt*innen werden für gewöhnlich ÄLRD eingesetzt. Behandelnde Ärzt*innen sind i. d. R. die vor Ort tätigen Notärzt*innen und die zuständigen Leitenden Notärzt*innen sind die vor Ort in dieser Funktion tätigen Ärzt*innen. Damit liegt bei allen Konstellationen sowohl ein Rettungsdienstbezug als auch ein lokaler Bezug vor. Vor diesem Hintergrund der Systematik der betäubungsmittelrechtlichen Vorschriften erschließt sich nicht, warum die Vorgaben aus § 13 Abs. 1b BtMG ausnahmsweise irgendeine Ärzt*in tätigen sollte. Der Systematik zufolge können hier auch nur Ärzt*innen in Betracht kommen, die sowohl einen rettungsdienstlichen als auch einen lokalen Bezug haben – und dies wären dann die ÄLRD im jeweiligen Rettungsdienstbereich. Auch eine Auslegung nach Sinn und Zweck der Vorschrift führt zu keinem anderen Ergebnis. Die ÄLRD entscheiden über die medizinische Bestückung der Rettungsmittel im

Verantwortungsbereich und damit auch über die Bestückung sowie die genaue Auswahl der BtM. In diesem Zusammenhang ergibt es auch nur Sinn, wenn die Vorgaben zur Verabreichung der BtM auch von den zuständigen ÄLRD gemacht werden. Schließlich bedarf es neben einer standardisierten Vorgabe auch einer entsprechenden Organisation vor Ort, was die Vorhaltung, das Auffüllen und Austragen der BtM angeht. Die ÄLRD kennen zudem die geografischen und demografischen Gegebenheiten sowie die Vorhaltung und Auslastung der Rettungsmittel des Einsatzgebiets, sodass sie qualifizierte Festlegungen dazu treffen können, wann das Eintreffen einer Ärzt*in nicht abgewartet werden kann. Vor diesem Hintergrund sprechen gewichtige Gründe dafür, dass die in § 13 Abs. 1b BtMG erwähnten standardisierten ärztlichen Vorgaben von den zuständigen ÄLRD gemacht werden sollen. Diese entscheiden über die Bestückung der Rettungsmittel, kennen die lokalen Strukturen und geben auch sonst standardisierte SOP vor, in die sich etwaige SOP zur BtM-Gabe einfügen lassen könnten. Die Vorgaben müssen den Notfallsanitäter*innen in Textform vorliegen. Dies bedeutet nicht, dass die Vorgaben zwingend als „Text auf Papier“ vorliegen müssen. Es wäre in diesem Zusammenhang auch ausreichend, wenn die Vorgaben digital, z. B. auf einem Tablet, verfügbar sind und im Einsatz auf sie zurückgegriffen werden kann. In den Vorgaben müssen die Art und Weise der Verabreichung konkret geregelt sein. Dies umfasst insb. die Indikationsstellung (z. B. anhand der NRS), Verdünnung, Dosierung und Maximaldosis sowie allgemeine Bestimmungen zur Handhabung des BtM.

Zudem müssen Festlegungen darüber getroffen werden, in welchen Fällen das Eintreffen einer Ärzt*in nicht abgewartet werden kann. Eine konkrete Minuten-Angabe dürfte hierbei nicht zwingend erforderlich sein. Es erscheint möglicherweise sinnvoll, die Maßgabe des „Nicht-abwarten-Könnens“ auf den Einzelfall zu beziehen oder an gewisse Notfallbilder anzuknüpfen. Dabei ist allerdings zu beachten, dass das BtMG gegenüber dem NotSanG spezieller ist und die Maßgaben in § 13 Abs. 1b BtMG damit über etwaigen Regelungen und Kompetenzen des NotSanG stehen. Insoweit reicht es nicht aus, ausschließliche auf die im NotSanG abgebildete Einschätzungskompetenz hinsichtlich der generellen Notwendigkeit der Nachforderung einer Notärzt*in abzustellen (insb. § 4 Abs. 2 Nr. 1b NotSanG). Es bedarf vielmehr einer separaten Festlegung, welche jedoch auf die Einschätzung der Notfallsanitäter*in vor Ort Bezug nehmen kann. Eine Rücksprache mit der (nach)alarmierten Notärzt*in im Einzelfall (z. B. „Call-BackSystem“) soll diesbezüglich nicht erforderlich sein. Regelungen zur Art und Weise der Verabreichung sowie deren Vorliegen in Textform werden aktuell bereits durch eine Vielzahl der von den ÄLRD erlassenen SOP o. Ä. erfüllt (vgl. z. B. die DBRDAlgorithmen). Neu in diesem Zusammenhang ist die Anforderung, Fälle zu definieren, in denen ein Eintreffen der Ärzt*in nicht abgewartet werden kann. Klare und eindeutige Regelungen erhöhen hierbei die Rechtssicherheit für den Einsatz von BtM durch Notfallsanitäter*innen. Die Maßgabe der standardisierten ärztlichen Vorgaben fügt die Applikation von BtM durch Notfallsanitäter*innen in die sog. „2cMaßnahmen“ ein (Maßnahmen nach § 4 Abs. 2 Nr. 2c NotSanG).

Die BtM-Verabreichung kann demnach zwar eigenständig, aber nicht eigenverantwortlich durchgeführt werden. Die Verantwortung für die Entscheidung über die Gabe von BtM bleibt ärztlich verantwortet. Eine eigenverantwortliche Applikation von BtM nach den Vorgaben von §§ 4 Abs. 2 Nr. 1c, 2a NotSanG („1cMaßnahme“/„2a-Maßnahme“) ist aktuell nicht gestattet (vgl. dazu die Ausführungen zu E) sowie › Kap. 4.2.4, insb. Fall 4.7). Ist z. B. keine standardisierte ärztliche Vorgabe für eine Analgesie mit BtM für Notfallsanitäter*innen vorhanden, müsste für eine eigenverantwortliche Analgesie (1c-Maßnahme) auf andere Präparate zurückgegriffen werden, die nicht unter Anlage III des BtMG fallen (z. B. Nalbuphin, Ketamin i. V. m. Midazolam). Alternativ kann auch auf eine eigenständige Analgesie anhand passender anderer standardisierter Vorgaben (2cMaßnahmen) ausgewichen werden. Näheres zu eigenständigem und eigenverantwortlichem Handeln findet sich in › Kap.4.2.4. A c ht u ng Die Applikation von BtM durch Notfallsanitäter*innen kommt nur dann in Betracht, wenn standardisierte ärztliche Vorgaben dazu vorliegen, die alle gesetzlich geforderten Voraussetzungen erfüllen. Me r k e Aufgrund der standardisierten ärztlichen Vorgaben bleibt die Verantwortung für die Entscheidung über die BtMApplikation ärztlich verantwortet. Notfallsanitäter*innen erhalten allerdings den notwendigen Handlungsspielraum, um in

Notfallsituationen ohne Zeitverzögerung eine optimale und fachgerechte medikamentöse Versorgung der Patient*innen sicherzustellen. Neben den standardisierten ärztlichen Vorgaben müssen für die Verabreichung von BtM noch weitere Anforderungen erfüllt sein. Die Verabreichung ist nur zur • Abwendung von Gefahren für die Gesundheit, • Beseitigung erheblicher Beschwerden oder • Linderung erheblicher Beschwerden zulässig. Diese drei Kategorien stehen dabei in einem Alternativverhältnis. An anderer Stelle werden sie – ebenso wie die standardisierten ärztlichen Vorgaben – derzeit weder im BtMG noch im NotSanG verwendet, sodass abzuwarten bleibt, wie die unterschiedlichen Begriffe von der Rechtsprechung ausgelegt werden. Von der Formulierung ist die Kategorie „Abwendung von Gefahren für die Gesundheit“ zunächst einmal weniger strenger als andere Formulierungen zum Gesundheitszustand der Patient*innen, z. B. im NotSanG. In § 2a NotSanG wird für den eigenverantwortlichen Einsatz heilkundlicher Maßnahmen Lebensgefahr oder wesentliche Folgeschäden gefordert. Auch § 4 Abs. 2 Nr. 1c NotSanG nutzt die Begriffe Lebensgefahr und wesentliche Folgeschäden. Verglichen damit erscheint die Formulierung „Abwendung von Gefahren für die Gesundheit“ sehr viel allgemeiner gefasst und definiert somit auch eine erheblich geringere Eingriffsschwelle als die beiden in den §§ 2a und 4 Abs. 2 Nr. 1c NotSanG genannten Kategorien.

Die Alternative „Beseitigung oder Linderung erheblicher Beschwerden“ ist dagegen sehr viel enger formuliert. Gefordert wird das Vorliegen nicht nur einfacher, sondern erheblicher Beschwerden. Der Einsatz von BtM muss zur Beseitigung oder Linderung dieser erheblichen Beschwerden auch erforderlich sein. Im juristischen Kontext meint die Erforderlichkeit einer Maßnahme, dass diese funktionell geeignet ist und unter den zur Verfügung stehenden Mitteln das relativ mildeste Mittel darstellt, um die Gefahr abzuwenden. BtM können hierbei jedoch schon dann als das relativ mildeste Mittel verstanden werden, wenn kein anderes gleich wirksames Medikament zur Verfügung steht. Da die Wirkung von BtM sehr einzigartig ist, ist dieses Kriterium also in vielen Einsatzsituationen leicht zu erfüllen. Gerade bei der Indikation des ACS gibt es z. B. neben dem Opiat Morphin kaum ein Mittel mit vergleichbarer Wirkung. Im Rahmen einer Analgesie gilt dies jedoch abzuwägen. Auch dürfte der Voraussetzung der Erforderlichkeit neben den anderen strengen Voraussetzungen des § 13 Abs. 1b BtMG keine allzu große Rolle spielen. Im Zusammenhang mit dem Einsatz von Nicht-BtM im Rahmen der Schmerztherapie fordern SOP regelmäßig eine Schmerzstärke von NRS größer/gleich sechs. Verglichen damit müsste die Indikation von BtM im Rahmen der Schmerztherapie unter der Kategorie „Beseitigung oder Linderung erheblicher Beschwerden“ eigentlich eine höhere Schwelle festlegen, die den Einsatz von BtM als erforderlich erscheinen lässt. Die Kategorie „Abwendung von Gefahren für die Gesundheit“ ist daneben weit weniger konkret gefasst. Es bleibt abzuwarten, wie

Rechtsprechung und Literatur sie im Einzelnen ausfüllen werden. Erfasst werden könnten z. B. Fälle, in denen auch die sedierende, Dyspnoe reduzierende oder „vorlastsenkende“ Wirkung von einigen Opiaten (z. B. Morphin) angestrebt wird. Me r k e Der Einsatz von BtM durch Notfallsanitäter*innen ist nach § 13 Abs. 1b BtMG unter folgenden Voraussetzungen zulässig: • Die Applikation dient zur Abwendung von Gefahren für die Gesundheit oder zur Beseitigung oder Linderung erheblicher Beschwerden. • Das Eintreffen einer Ärzt*in kann nicht abgewartet werden. • Standardisierte ärztliche Vorgaben, die die Regelungen zur Art und Weise der Verabreichung enthalten sowie Festlegungen dazu, wann ein Eintreffen der Ärzt*in nicht abgewartet werden kann, liegen in Textform vor.

Eine Verabreichung von BtM, ohne dass die gesetzlichen Vorgaben vorliegen, stellt nach § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6b BtMG eine Straftat dar. Diese Straftat kann auch fahrlässig begangen werden (§ 29 Abs. 4 BtMG). Pr axis tip p Auch wenn die BtM-Gabe für Notfallsanitäter*innen mittlerweile rechtlich möglich ist, darf die Bedeutung der besonderen Stellung der BtM nicht gänzlich außer Acht gelassen werden. Auch wenn gute Argumente dafür sprechen, Notfallsanitäter*innen BtM-

Freigaben zu erteilen, sind einige Vorbehalte nicht ganz unbegründet. Notfallsanitäter*innen sind zwar dazu zu ermutigen, ihre Kompetenzen auszuschöpfen, dabei müssen sie allerdings die Besonderheiten der jeweiligen Maßnahmen im Blick behalten und die Voraussetzungen sorgfältig prüfen. R e ch t in e c ht (Fall 9.4) Notfallsanitäterin Marie behandelt einen Patienten mit einem ACS. Ein NEF ist nicht vor Ort, wurde allerdings nachalarmiert und ist in ca. 15 Minuten da. Der Patient ist bei Bewusstsein (GCS 15) stellt sich aber kritisch dar und klagt über massive Brustschmerzen (NRS 9). Er ist zunehmend panisch und bittet darum, ihn „doch endlich von diesen Schmerzen zu erlösen“. Kontraindikationen für Morphin bestehen nicht. Im Rettungsdienstbereich, in dem Marie tätig ist, gibt es SOP, die die Morphingabe bei ACS vorgeben. Darin sind die genaue Dosierung, Applikationshinweise sowie Angaben zur Repetition beschrieben. Auch ist darin bestimmt, dass bei dringender Indikation sowie Anfahrtszeiten des NEF von über fünf Minuten ein Eintreffen einer Ärzt*in nicht abzuwarten ist. Mit einer Morphingabe könnte Marie die Schmerzen des Patienten reduzieren, positiv auf dessen Panik einwirken und ggf. in förderlicher Weise Einfluss auf die Vorlast des Herzens nehmen. Dies kann als Beseitigung oder Linderung erheblicher Beschwerden verstanden werden, dient aber jedenfalls der Abwendung von Gefahren für die Gesundheit. Damit sind die Voraussetzungen des § 13 Abs. 1b BtMG erfüllt und Marie darf dem Patienten Morphin applizieren.

Verabreichung nach Einwilligung der Patient*in (Fall C) Liegen die zuvor beschriebenen Voraussetzungen nicht vor und möchten Notfallsanitäter*innen dennoch BtM verabreichen, würde zur Legitimation in rechtlicher Hinsicht auch eine Einwilligung (› Kap. 6.3.3) der Patient*in nicht ausreichen. Eine Einwilligung in rechtsverletzendes Verhalten kann nur dann in Betracht kommen, wenn es sich um ein disponibles Rechtsgut der Rechtsgutinhaber*in handelt. Zwar handelt es sich hier, wie bei vielen anderen Maßnahmen im Rettungsdienst, um das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit, jedoch kommt bei § 13 BtMG noch ein weiteres geschütztes Rechtsgut hinzu, nämlich der Schutz der Bevölkerung vor den schädlichen Folgen des Missbrauchs von BtM. In die Verletzung dieses Rechtsguts kann eine einzelne Patient*in nicht wirksam einwilligen, wenn die rechtlichen Voraussetzungen für die Gabe von BtM durch Notfallsanitäter*innen nicht vorliegen. Daher bliebe es hier bei einem Strafbarkeitsrisiko, trotz erklärter Einwilligung der Patient*in. Verabreichung nach rechtfertigendem Notstand (Fall D) Eine Rechtfertigung nach dem rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB, › Kap. 7.3.3) ist keine „Allzweckwaffe“, die jedes rechtlich nicht erlaubte Verhalten legitimieren kann. Das BtMG definiert sehr konkrete und enge Vorgaben für die Verabreichung von BtM. Können diese nicht eingehalten werden, kommt keine Legitimation durch die Hintertür über den rechtfertigenden Notstand in Betracht. Verabreichung nach § 2a NotSanG (Fall E)

André Höhle, David Winkenbach Eine Gabe von BtM außerhalb der Regelungen des § 13 Abs. 1b BtMG ist nicht möglich [2]. Der § 13 Abs. 1b BtMG ist als Spezialregelung aufzufassen, welche sowohl eine Umgehung im Rahmen des rechtfertigen Notstands als auch unter der Anwendung des § 2a NotSanG ausschließt. Der Gesetzgeber wollte die Verabreichung von BtM bewusst restriktiver als andere Medikamentengaben regeln und hat dafür detaillierte Vorgaben im BtMG gemacht. Für eine Verabreichung von BtM außerhalb des BtMG verbleibt daher kein Spielraum. Daran ändert auch nichts, dass gleichzeitig zur Änderung des BtMG auch die §§ 2a und 4 Abs. 2 Nr. 1c NotSanG abgeändert wurden, wonach deren Wortlaut um invasive Maßnahmen medikamentöser Art erweitert wurde. Die neu eingefügten Formulierungen stellen eine (begrüßenswerte) klarstellende Weiterentwicklung zu den bisherigen Regelungen dar, implizieren jedoch nicht, dass BtM ohne Rücksicht auf die Vorgaben des BtMG eigenverantwortlich im Rahmen von den §§ 2a, 4 Abs. 2 Nr. 1c NotSanG appliziert werden dürfen. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu zunächst hinsichtlich der Lerninhalte: „Sowohl in diesem Rahmen (gemeint sind die §§ 2a, 4 Abs. 2 Nr. 1c NotSanG) als auch im Rahmen der Mitwirkung (gemeint ist § 4 Abs. 2 Nr. 2 NotSanG) ist grundsätzlich auch die Gabe von Medikamenten, insbesondere auch von Betäubungsmitteln, erfasst.“ [3] Es wird also klargestellt, dass es in den Notfallsituationen, welche die §§ 2a, 4 Abs. 2 NotSanG erfassen sollen, durchaus indiziert sein kann, „auch Schmerzund Betäubungsmittel“ [3] zu verabreichen und dass es deshalb notwendig ist, die Kompetenzen dafür in der Ausbildung zu

erlernen. Für die tatsächliche Applikation von BtM in der Praxis wird jedoch auf das Betäubungsmittelrecht und die Vorgaben aus § 13 Abs. 1b BtMG verwiesen. Dazu heißt es in der Begründung: „Für die Gabe von Betäubungsmitteln muss allerdings aufgrund von Vorgaben des Betäubungsmittelrechts über [die] Vermittlung entsprechender Lehrinhalte im Rahmen der Ausbildung hinaus in der Praxis eine standardisierte ärztliche Vorgabe vorhanden sein, nach der die Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter in die Lage versetzt werden, Betäubungsmittel eigenständig anzuwenden.“ [3] Erst die standardisierten ärztlichen Vorgaben versetzen die Notfallsanitäter*innen also in die Lage, BtM eigenständig – nicht eigenverantwortlich – anzuwenden. Zudem wird in der Gesetzesbegründung hinsichtlich der BtM-Gabe stets beschrieben, dass diese „vor allem im Rahmen der Mitwirkung (§ 4 Absatz 2 Nummer 2) – insbesondere auch im Rahmen von standardmäßig vorgegebenen notfallmedizinischen Zustandsbildern und situationen“ [3] geschehen soll. Gemeint ist also, dass es zur regelhaften Kompetenz von Notfallsanitäter*innen und damit zum notwendigen Lernziel deren Ausbildung gehört, die Gabe von BtM zu erlernen und zu beherrschen, dass allerdings die tatsächliche Applikation in der Praxis den Maßgaben des Betäubungsmittelrechts unterliegen – das NotSanG ist schließlich ein Ausbildungsgesetz. A c ht u ng BtM, die in Anlage III des BtMG bezeichnet werden, können nicht ohne Weiteres im Rahmen von § 2a NotSanG appliziert werden; eine solche BtM-Gabe kann demnach keine sog. „2a-“ bzw. „1c-Maßnahme“ sein. Sie unterliegen den Maßgaben des § 13

Abs. 1b BtMG, wonach standardisierte ärztliche Vorgaben vorausgesetzt werden. Die BtM-Gabe ist daher grds. nur als sog. „2c-Maßnahme“ denkbar (vgl. › Kap. 4.2.4). Me r k e Die BtM-Gabe ist allerdings ein notwendiger Bestandteil der Ausbildung zur Notfallsanitäter*in nach dem NotSanG. Insoweit sind BtM auch von den in §§ 2a und 4 Abs. 2 Nr. 1c NotSanG bezeichneten invasiven Maßnahmen medikamentöser Art als Lernziel erfasst. Angehende Notfallsanitäter*innen müssen den Umgang mit diesen erlernen und am Ende ihrer Ausbildung beherrschen. Das NotSanG regelt die in der Ausbildung zu vermittelnden Inhalte und nicht die Durchführung des Rettungsdienstes in der Praxis.

9.2.4 Konsequenzen bei Verstößen Die Ausführungen zeigen, dass sich aus dem Betäubungsmittelrecht eine Vielzahl von Anforderungen zum Umgang und zur Anwendung von BtM ergeben. Diese Anforderungen gehen mit einer Vielzahl von Dokumentationspflichten einher. Verstöße gegen betäubungsmittelrechtliche Vorschriften können auch strafbar sein. Hierzu gibt es im BtMG eine eigene Strafvorschrift. Strafbar dabei ist insb. die vorsätzliche oder fahrlässige Verabreichung von BtM außerhalb der Vorgaben des § 13 Abs. 1 b BtMG (§§ 29 Abs. 1 Nr. 6b, 13 Abs. 1b BtMG). Die Vorhaltung von BtM geht mit einer hohen Verantwortung des Personals einher. In medizinischen Einrichtungen kommt es immer

wieder mal vor, dass BtM unbefugt entwendet werden, um diese selbst zu konsumieren oder sie weiterzugeben. Davor muss eindringlich gewarnt werden. Solche Handlungen sind strafbar, § 29 BtMG enthält dazu einen umfangreichen Katalog an Straftatbeständen, von denen einige auch öffentlich-rechtlich als Straftaten von erheblicher Bedeutung eingestuft werden (vgl. etwa § 8 Abs. 3 Nr. 3 PolG NRW). Kommt es in diesem sensiblen Bereich zu Pflichtverletzungen und Straftaten, drohen nicht nur strafrechtliche, sondern auch arbeits- und berufsrechtliche Konsequenzen.

Quellen und Anmerkungen: [1] BVerfG NJW 1998, 669 (Betäubungsmittel) [2] Jedenfalls nach rechtlicher Einschätzung der Verfasser; Minderheitsmeinungen werden u. U. vertreten. [3] BT-Drucksache 20/7397, zu Artikel 7c

Weitere Literatur und Internetquellen: BT-Drucksache 20/6871 BT-Drucksache 20/7397 BT Ausschuss für Gesundheit, Ausschussdrucksache 20(14), 117.1 neu Fuhrmann/Klein/Fleischfresser, Arzneimittelrecht. 3. Aufl., Baden-Baden 2020 Patzak/Volkmer/Fabricius, Betäubungsmittelgesetz: BtMG, 10. Aufl., München 2022

Räpple Das Verbot. bedenklicher Arzneimittel. Monografie. 2011. Weber/Kornprobst/Maier, Betäubungsmittelgesetz: BtMG, 6. Aufl., München 2021 https://www.bfarm.de/DE/Arzneimittel/Zulassun g/ZulassungsrelevanteThemen/Arzneibuch/_node.html (letzter Zugriff: 18. November 2023)

Kapitel 10 Unterbringung von Menschen mit psychischen Erkrankungen André Höhle

Psychische Erkrankungen nehmen seit Jahren zu. Auch der Rettungsdienst ist vermehrt mit Einsatzsituationen konfrontiert, in denen Patient*innen an psychischen Erkrankungen leiden oder sich in psychischen Ausnahmesituationen befinden. In einigen Fällen ist in diesen Einsatzsituationen eine Unterbringung der Patient*innen in einer psychiatrischen Einrichtung erforderlich. Die Unterbringung soll die Patient*innen einer fachgerechten Behandlung zuführen, insb. auch in den Situationen, in denen diese die Notwendigkeit einer solchen Behandlung nicht erkennen können oder erkennen wollen. Da diese Konstellation dazu führen kann, dass in die Freiheit der Patient*innen eingegriffen werden muss, sind die rechtlichen Anforderungen sehr hoch. Einerseits definieren die gesetzlichen Grundlagen bereits strenge Anforderungen, die an einen rechtmäßigen Eingriff in die Freiheit gestellt werden, andererseits ist für die zwangsweise Unterbringung auch immer eine richterliche

Entscheidung erforderlich. Derartige Einsätze stellen den Rettungsdienst regelmäßig vor große Herausforderungen. Dies beginnt schon bei der Anamnese. Patient*innen in psychischen Ausnahmesituationen können oder wollen oftmals nicht mit dem Rettungsdienst kooperieren, hier sind die Rettungskräfte dann oft auf Informationen Dritter angewiesen (Fremdanamnese). Da es in vielen Fällen an einer Krankheitseinsicht fehlt, gestaltet sich auch die weitere körperliche Untersuchung schwierig. Steht dann fest, dass es zu einer Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung kommen muss, müssen weitere Institutionen wie Notärzt*innen, Ordnungsbehörde und ggf. die Polizei in den Einsatz involviert werden. Dies führt dazu, dass derartige Einsätze oftmals sehr lange dauern. Während der gesamten Zeit müssen die Patient*innen vom Rettungsdienst betreut und ggf. versorgt werden, was diesen vor große Herausforderungen stellen kann. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass diese Situationen auch für die Patient*innen sehr belastend sind. Diese leiden an einer Krankheit oder Behinderung, die zu der Situation geführt hat. Dazu kommt dann auch noch eine Vielzahl von unbekannten Menschen wie Rettungsdienst, ggf. Polizei etc., die alle etwas von der Patient*in wollen und möglicherweise auf diese einreden. Dies kann zusätzlichen Stress verursachen und Konflikte hervorrufen. D ie s e s K ap ite l s o l l F olge nde s ve rm itte ln: • Regelungen des Grundgesetzes, die im Rahmen einer Unterbringung relevant sind • Institutionen, die an einer Unterbringung regelmäßig beteiligt sind

• Voraussetzungen für eine öffentlich-rechtliche Unterbringung • Voraussetzungen für eine sofortige Unterbringung • Rolle des Rettungsdienstes bei der Unterbringung • Grundsätze zur betreuungsrechtlichen Unterbringung

W ic h tige R e c ht s qu e l le n fü r d ie s e s K ap ite l: • Betreuungsrechtliche Unterbringung: Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)

https://www.gesetze-im-internet.de/bgb/ • Öffentlich-rechtliche Unterbringung: Unterbringungsgesetze der Bundesländer (PsychKG) – hier am Beispiel NRW

https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_text_anzeigen? v_id=10000000000000000086 • Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG)

https://www.gesetze-im-internet.de/famfg/

10.1 Grundrecht „Freiheit der Person“ Die Unterbringung eines Menschen in einer psychiatrischen Einrichtung gegen oder ohne dessen Willen ist ein erheblicher Eingriff in die grundgesetzlich geschützte Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, › Kap. 2.2.2). Ein Eingriff in dieses Grundrecht ist nur unter besonderen Voraussetzungen zulässig. Diese Voraussetzungen konkretisiert Art. 104 GG. Die Freiheit der Person kann hierbei beschränkt oder gänzlich entzogen werden. Der

Unterschied zwischen einer Freiheitsbeschränkung und einer Freiheitsentziehung liegt in der Intensität der Beeinträchtigung. Die Freiheitsbeschränkung hindert eine Person nur kurzzeitig daran, einen anderen Ort aufzusuchen, z. B. bei einer Führerscheinkontrolle durch die Polizei. Bei der Freiheitsentziehung wird eine Person dagegen länger an einem eng umgrenzten Ort festgehalten, z. B. in Gewahrsam (Zelle) der Polizei. • Die Freiheitsbeschränkung einer Person ist grds. möglich, sie ist jedoch nur aufgrund eines Gesetzes zulässig. • An eine Freiheitsentziehung, um welche es sich bei einer Unterbringung handelt, werden nach Art. 104 GG sogar noch weitere Anforderungen gestellt. Hierbei ist eine richterliche Entscheidung erforderlich. Das Erfordernis einer richterlichen Entscheidung garantiert eine unabhängige Prüfung, ob ein derartig schwerwiegender Eingriff zulässig ist. Zwar haben die Bundesländer die Gesetzgebungskompetenz für die Thematik der Unterbringung von Menschen mit psychischen Erkrankungen, jedoch können sie nicht vollkommen frei darüber entscheiden, was die inhaltlichen Voraussetzungen betrifft. Das Bundesverfassungsgericht hat Anforderungen aufgestellt, die von den Landesgesetzgebern eingehalten werden müssen: • Eingriffe in die Freiheit der Person sind nur aus besonders gewichtigen Gründen zulässig. • Es muss eine erhebliche Gefahr für den Betroffenen selbst oder Dritte bestehen. [1]

Diese bedeutenden Voraussetzungen müssen im Rahmen der Gestaltung der gesetzlichen Grundlagen für die Unterbringung berücksichtigt werden. Die Systematik der zugrundeliegenden Gesetzgebung findet sich in › Abb. 10.1 wieder.

ABB. 10.1 Gesetzessystematik Unterbringung [L157]

10.2 Öffentlich-rechtliche Unterbringung Für die Unterbringung von Menschen gegen oder ohne ihren Willen können mehrere Unterbringungsarten in Betracht kommen.

• Die Möglichkeiten einer Unterbringung Minderjähriger und die Voraussetzungen der betreuungsrechtlichen Unterbringung sind u. a. im BGB geregelt. Eine Unterbringung Volljähriger nach den betreuungsrechtlichen Vorschriften ist nur zu dessen Wohle zulässig. • Die öffentlich-rechtliche Unterbringung dient hingegen der Gefahrenabwehr. Daher ist diese nicht nur in den Fällen möglich, in denen die betroffene Person sich selbst gefährdet, sondern insb. auch dann, wenn eine Gefährdung anderer Rechtsgüter droht. Verfahrensrechtlich von Bedeutung für die Unterbringung nach Betreuungsrecht und PsychKG sind die §§ 312 ff. des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG). Weitere freiheitsentziehende Unterbringungen sind aufgrund des Strafgesetzbuchs (z. B. Maßregelvollzug), der Polizeigesetze (Gewahrsam) oder des Infektionsschutzgesetzes (Absonderung) zulässig. Die öffentlich-rechtliche Unterbringung gehört zum Regelungsbereich der Gefahrenabwehr. Sie richtet sich nach den PsychKG der Bundesländer, diese ähneln sich in weiten Teilen. Exemplarisch wird in diesem Kapitel auf das Unterbringungsgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen Bezug genommen, dies hat als offiziellen Titel „Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten“ (PsychKG). Der Titel des niedersächsischen Gesetzes lautet „Niedersächsisches Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke“, in Bayern ist der Name des Gesetzes: „Bayerisches Psychisch-Kranken-HilfeGesetz“.

Wie aus den Titeln der Gesetze bereits erkennbar ist, regeln diese nicht allein die Thematik der Unterbringung. Insgesamt nimmt die Unterbringung in diesen Gesetzen nur einen kleinen Teil ein. Ziel dieser Gesetze ist es, den Betroffenen Hilfen anzubieten, die bereits im Vorfeld einer etwaig erforderlichen Unterbringung greifen. Dabei geht es u. a. auch um medizinische und psychosoziale Vorsorge- und Nachsorgemaßnahmen. Beim Vorliegen eines entsprechenden Antrags haben Betroffene einen Anspruch auf Hilfe. Liegen den zuständigen Behörden Hinweise darauf vor, dass Betroffene, die an einer psychischen Krankheit leiden, sich selbst erheblichen Schaden zufügen oder bedeutende Rechtsgüter anderer zu gefährden drohen, können bereits im Vorfeld Maßnahmen ergriffen werden, z. B. können Betroffene aufgefordert werden, sich untersuchen zu lassen. Wird einer solchen Aufforderung nicht nachgekommen, können die Personen zu Hause aufgesucht werden und ggf. weitere Maßnahmen ergriffen werden.

10.2.1 Unterbringung nach PsychKG (NRW) Einsätze, in denen es zu einer Unterbringung kommt, treten im Alltag des Rettungsdienstes regelmäßig auf. Daher werden nachfolgend die wichtigsten rechtlichen Grundlagen zur Unterbringung dargestellt. Vorliegen einer Unterbringung Wie die meisten anderen Landesgesetze definiert das PsychKG NRW hinsichtlich der Unterbringung zunächst, in welchen Fällen überhaupt eine Unterbringung vorliegt. Es handelt sich um eine Unterbringung nach PsychKG, wenn eine Person gegen ihren Willen,

• im Zustand der Willenlosigkeit oder • gegen den Willen der Person, die das Aufenthaltsbestimmungsrecht innehat, in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen werden und dort verbleiben soll. Bei der Beurteilung des Willens der Person ist ihr natürlicher Wille maßgebend. Es reicht also aus, dass die betroffene Person schlichtweg erkennt, welchen Wert ihre Freiheit hat, dass etwas vor sich geht, was ihre Freiheit betrifft, und welche Konsequenzen es haben kann, wenn sie in die Unterbringung einwilligt. Für den natürlichen Willen ist es unerheblich, ob die Person einwilligungsoder geschäftsfähig ist (vgl. › Kap. 6.1.3). Willenlosigkeit liegt immer dann vor, wenn der Wille nicht frei gebildet werden kann. Hier ist entscheidend, ob die Person als einwilligungsfähig angesehen werden kann. Um dies zu beurteilen, können die Kriterien der Einwilligungsfähigkeit geprüft werden (› Kap. 6.3.3). Willenlosigkeit liegt insb. bei bewusstlosen Patient*innen oder solchen Patient*innen vor, die aufgrund einer geistigen Behinderung, Intoxikation o. Ä. überhaupt nicht verstehen, was vor sich geht. Liegt eine Einwilligung in eine Unterbringung vor, muss diese Einwilligungserklärung tragfähig, ernsthaft und verlässlich sein. Sie darf insb. nicht durch Zwang oder Drohung zustande gekommen sein. R e ch t in e c ht (Fall 10.1) Notfallsanitäter Fabian und Rettungssanitäterin Ida sind im Einsatz bei einem Patienten mit einer psychischen

Grunderkrankung und aktuell bestehenden Wahnvorstellungen. Fabian hat keine Lust, lange an der Einsatzstelle „herumzudiskutieren“. Er weiß, dass Einsätze, die eine Unterbringung als Ziel haben, immer sehr lange dauern. Daher sagt er dem Patienten: „Pass auf, entweder du kommst jetzt freiwillig mit uns mit oder wir fahren hier das ganz große Besteck auf. Dann kommen Notarzt, Ordnungsamt, Richter, Polizei, und die ganze Nachbarschaft bekommt dadurch mit, was hier los ist. Dann wirst du notfalls in Handschellen schreiend durch das Haus getragen und jeder weiß, was los ist. Dann kannst du dich hier auch kaum mehr blicken lassen. Also, kommst du nicht doch lieber freiwillig mit?“ Diese Aussage von Fabian enthält Drohungen, die den Patienten einschüchtern sollen. Selbst dann, wenn der Patient nun zustimmen sollte, mitzukommen, kann nicht von einer freiwilligen Einwilligung gesprochen werden. Es handelt sich um eine durch Drohungen erzwungene Zustimmung; daher kann in diesem Fall nicht davon gesprochen werden, dass der Patient freiwillig in die Unterbringung eingewilligt hat. Me r k e Eine durch Zwang oder Drohung erwirkte Einwilligung ist rechtlich unwirksam. In den Gesetzen der Bundesländer zur öffentlich-rechtlichen Unterbringung wird die Unterbringung abschließend geregelt. Für die Durchführung der Unterbringung werden strenge Verfahrensvorgaben gemacht. Ziel dieser strengen Vorgaben ist es,

dem Grundrecht der Freiheit der Person in ausreichendem und angemessenem Maße Rechnung zu tragen. Vor diesem Hintergrund ist es im Rahmen einer Unterbringung nach PsychKG nicht möglich, für die Unterbringung selbst auf eine mutmaßliche Einwilligung oder den rechtfertigenden Notstand zurückzugreifen (› Kap. 7.3.3). Das gesetzlich vorgegebene Verfahren kann dadurch nicht umgangen werden. Manchmal regeln Patientenverfügungen, dass eine Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung abgelehnt wird. Patientenverfügungen sind vorweggenommene Einwilligungen (› Kap. 6.4.3). Eine solche Einwilligung ist immer nur dann rechtlich möglich, wenn es sich um Rechtsgüter handelt, die der alleinigen Verfügungsbefugnis der betreffenden Person unterstehen. Bei der Unterbringung nach PsychKG geht es jedoch nicht nur um Rechtsgüter der betreffenden Person, sondern auch um Rechtsgüter der Allgemeinheit. Dies gilt insb. bei Fremdgefährdungen. Regelungen in Patientenverfügungen, die eine Unterbringung nach PsychKG in Fällen verbieten, in denen eine solche Fremdgefährdung vorliegt, brauchen daher nicht beachtet zu werden. Voraussetzungen für eine Unterbringung Die Voraussetzungen für eine Unterbringung werden, entsprechend der Schwere des Eingriffs in die persönliche Freiheit, streng geregelt. Die Voraussetzungen sind: • Krankheitsbedingtes Verhalten

• Gegenwärtige und erhebliche Eigen- oder Fremdgefährdung • Ursächlichkeit des Verhaltens in einer psychischen Krankheit • Verhältnismäßigkeit Des Weiteren müssen formelle Voraussetzungen erfüllt werden, um eine Unterbringung rechtmäßig durchzuführen. Eine Übersicht der Voraussetzungen für die Unterbringung und das Vorgehen des Rettungsdienstes sind in › Abb. 10.2 und › Abb. 10.3 dargestellt.

ABB. 10.2 Voraussetzungen einer Unterbringung [L157]

ABB. 10.3 Vorgehen des Rettungsdienstes [L157]

Krankheitsbedingtes Verhalten Eine Unterbringung nach PsychKG kommt nur dann in Betracht, wenn ein krankheitsbedingtes Verhalten vorliegt. Dies bedeutet, dass eine psychische Erkrankung vorliegen muss. Ob diese Erkrankung organisch oder nicht organisch bedingt ist, ist dabei unerheblich. Auch Abhängigkeitserkrankungen vergleichbarer Schwere können Grundlage für eine Unterbringung nach PsychKG sein. Bei alledem muss jedoch berücksichtigt werden, dass es auch ein grundgesetzlich geschütztes Recht auf Krankheit und Verweigerung einer Behandlung gibt (› Kap. 2.2.2). Daher ist nicht jede Art psychischer Erkrankung eine taugliche Grundlage für eine Unterbringung nach PsychKG. Notwendigerweise behandlungsbedürftig ist eine Erkrankung nur dann, wenn diese ohne Behandlung erheblich schlimmer oder zumindest die krankheitsbedingte Gefährdung durch den Betroffenen nicht geringer würde. Dies lässt sich jedoch präklinisch nur schwer

beurteilen. Daher wird angenommen, dass aus einer erheblichen krankheitsbedingten Gefährdung auch auf eine Behandlungsbedürftigkeit geschlossen werden kann. Bei Abhängigkeitserkrankungen vergleichbarer Schwere (z. B. Alkoholabhängigkeit) liegt eine Behandlungsbedürftigkeit nur unter besonderen Umständen vor. Allein der Umstand der Abhängigkeit und eine etwaige Rückfallgefahr sind nicht ausreichend. Auch Menschen mit Abhängigkeitserkrankung haben das Recht, über sich selbst zu bestimmen. Erst dann, wenn die Abhängigkeitserkrankung eine gewisse Schwere erreicht hat, kann eine Unterbringung bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen gerechtfertigt sein. Derartige Umstände können z. B. bei Alkoholmissbrauch im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen, geistigen Gebrechen oder dann vorliegen, wenn aufgrund des Alkoholmissbrauchs ein Zustand eingetreten ist, der das Ausmaß eines geistigen Gebrechens erreicht hat. Teilweise ist der Rettungsdienst mit Patient*innen konfrontiert, die an einer psychischen Erkrankung (z. B. Depression) oder Abhängigkeitserkrankung (z. B. Alkoholabhängigkeit) leiden und selbst den Rettungsdienst verständigen, weil sie (sofort) zu einer Therapie in eine Klinik gebracht werden möchten. In derart beschriebenen Fällen entscheiden sich die Patient*innen freiwillig für eine Behandlung, zudem erfolgt diese in solchen Fällen auch nicht unter Anwendung freiheitsentziehender Maßnahmen. Aufgrund der Freiwilligkeit liegt hier keine Unterbringung nach PsychKG vor. Die Patient*innen haben in solchen Fällen i. d. R. vorher nicht abgeklärt, ob eine Aufnahme in der Klinik zu dem Zeitpunkt möglich ist. Hier ist es Aufgabe des Rettungsdienstes, die

Patient*innen dabei zu unterstützen. Oftmals sind die betroffenen Personen bereits in Kliniken bekannt, welche dann kontaktiert werden können. Erklärt sich die Klinik bei Schilderung der Situation dann zur Aufnahme bereit, kann die Patient*in dorthin transportiert werden. Aufgrund der Freiwilligkeit liegt hier keine Unterbringung nach PsychKG vor. Problematisch kann die Situation werden, wenn Kliniken die Aufnahme ablehnen, z. B., weil die Patient*innen nicht akut behandlungsbedürftig zu sein scheinen oder kein Behandlungsplatz frei ist. Solche Situationen veranlassen manche Patient*innen dazu, damit zu drohen, sich selbst etwas anzutun. Derartige Drohungen müssen ernst genommen werden. Haben Patient*innen eine Betreuer*in, ist diese in der Verantwortung, die Situation einzuschätzen und weitere Schritte in die Wege zu leiten. In anderen Fällen kann die Patient*in zur konkreten Abklärung einer Behandlungsbedürftigkeit als Notfall in der zuständigen psychiatrischen Fachklinik oder Ambulanz vorgestellt werden. Kliniken mit einem entsprechenden Versorgungsauftrag können die Notfallbehandlung nicht ablehnen. Ob im Anschluss eine Aufnahme in der Klinik erfolgt, obliegt der alleinigen Entscheidung der Klinik, davon ist der Rettungsdienst i. d. R. auch nicht mehr betroffen. Beispiele für psychische Erkrankungen: • Schizophrenie (z. B. formale Denk- und Sprachstörung und Störung im Bereich der Affektivität, zwanghafte Gereiztheit, depressive Verstimmung, Angst, Ambivalenz, inadäquate Affekte, oft fehlende Krankheitseinsicht und Behandlungsbereitschaft; bei Schizophrenie besteht i. d. R.

eine erhöhte Suizidgefahr, sodass eine Eigengefährdung in Betracht kommt) • Depression (z. B. gedrückte Stimmung, Verminderung von Antrieb und Aktivität, Müdigkeit, Schlafstörung, geringes Selbstwertgefühl, Gedanken von Wertlosigkeit; Depression gehört zu den affektiven Störungen; hohes Suizidrisiko) • Manie (z. B. gesteigerter Antrieb, Gereiztheit, Ideenflüchtigkeit, Selbstüberschätzung, Größenwahn; Fremd- und Eigengefährdung sind denkbar) • Neurotische Störungen (z. B. Angsterkrankungen, Zwangsstörungen, Störung der Erlebnis- und Konfliktverarbeitung, kann zu plötzlichen Panikattacken führen, Kontrollverlust mit Eigen- und Fremdgefährdung) • Persönlichkeitsstörungen (können sich z. B. auf Affektivität, Impulskontrolle, Wahrnehmung, Denken und zwischenmenschliche Beziehungen auswirken; Impulsivität mit Kontrollverlust; Borderline, dissoziale Persönlichkeitsstörung) • Demenz (z. B. Gedächtnisstörungen und Verlust der Alltagskompetenz) Das Vorliegen einer psychischen Erkrankung bzw. eines krankheitsbedingten Verhaltens muss ärztlich festgestellt werden. Liegen im Einsatz entsprechende Anhaltspunkte vor, kann durch eine RTW-Besatzung eine Notärzt*in nachgefordert werden. Sofern die Patient*in bereits in Behandlung ist, kann auch versucht werden, die behandelnde Ärzt*in zu erreichen. Me r k e

Eine Unterbringung nach PsychKG kommt nur beim Vorliegen psychischer Erkrankungen oder psychischer Störungen in Betracht. Das Ziel der Unterbringung nach PsychKG ist es, den Betroffenen psychiatrische Hilfe zukommen zu lassen. Gegenwärtige erhebliche Selbstgefährdung Eine entscheidende Voraussetzung für eine Unterbringung nach PsychKG ist, dass eine gegenwärtige erhebliche Gefahr für die betroffene Person selbst oder eine erhebliche Gefährdung bedeutender Rechtsgüter anderer besteht. Eine gegenwärtige erhebliche Gefahr liegt immer dann vor, wenn ein schadenstiftendes Ereignis unmittelbar bevorsteht oder sein Eintritt zwar unvorhersehbar, wegen besonderer Umstände jedoch jederzeit zu erwarten ist. Anhand dieser Formulierungen wird deutlich, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür vorliegen muss, dass einer der genannten Schäden eintritt. Einfacher ist dies dann zu beurteilen, wenn ein Schaden bereits eingetreten ist, z. B., wenn die betroffene Person bei einem versuchten Suizid bereits Medikamente genommen oder sich Selbstverletzungen zugefügt hat. R e ch t in e c ht (Fall 10.2) Notfallsanitäterin Marie und Rettungssanitäterin Ida befinden sich mit dem RTW in einem Einsatz, bei dem ein Patient versucht hat, sich selbst umzubringen. Er hat sich in eine Badewanne gesetzt, einen Fön eingeschaltet und diesen ins Wasser geworfen. Dann hat es kurz gekribbelt und die Sicherung ist herausgeflogen. Der Patient hat dann verzweifelt den Notruf gewählt.

Hier hat es bereits einen Suizidversuch gegeben. Es steht zwar kein weiterer unmittelbar bevor, jedoch ist aufgrund der Umstände zu erwarten, dass ein solcher wieder unternommen wird, wenn der Patient jetzt alleine zu Hause gelassen wird. Damit kann von Marie und Ida eine akute Selbstgefährdung angenommen werden. Ist ein Schaden noch nicht eingetreten, ist eine Unterbringung nach PsychKG nur dann gerechtfertigt, wenn die angenommene Gefahr mit ausreichenden tatsächlichen Feststellungen belegt werden kann. Wurde von einem Patienten ein Suizid angedroht, liegt z. B. immer eine Situation der Unvorhersehbarkeit des weiteren Fortgangs des Geschehens vor. R e ch t in e c ht (Fall 10.3) Notfallsanitäterin Marie und Rettungssanitäter Till sind bei einer Patientin mittleren Alters. Ihr langjähriger Lebensgefährte ist vor kurzer Zeit verstorben. Seither ist die Patientin sehr verzweifelt. Sie hat gegenüber Freunden und Nachbarn bereits mehrfach geäußert, nicht mehr leben zu wollen. Am Tag des Einsatzes hat sie eine Freundin angerufen und dieser gesagt, dass sie jetzt alle Tabletten im Haus nehmen würde, um endlich friedlich einzuschlafen. Die Freundin hat dann den Notruf gewählt. Hier hat es zwar noch keinen Suizidversuch gegeben, jedoch ist in Anbetracht der Umstände jederzeit zu erwarten, dass die ausgesprochene Ankündigung in die Tat umgesetzt wird. Auch hier können Marie und Till von einer akuten Selbstgefährdung ausgehen.

Es muss sich jedoch nicht immer um einen Suizidversuch handeln. Auch das planlose Umherirren in nicht witterungsangepasster Kleidung oder im Straßenverkehr kann dazu führen, eine gegenwärtige erhebliche Selbstgefährdung anzunehmen. R e ch t in e c ht (Fall 10.4) Notfallsanitäterin Marie und Rettungssanitäter Till werden zu einem Einsatz im Stadtpark alarmiert. Es ist der 10. November, 23 Uhr, es regnet leicht und die Temperatur liegt bei 2 Grad Celsius. Im Park läuft eine Frau mittleren Alters herum, die lediglich mit kurzer Hose und T-Shirt bekleidet ist. Die Frau macht bei Ansprache einen verwirrten Eindruck und möchte keine Hilfe. Sie weiß nicht, wo sie sich gerade befindet, und hat keinen Plan, wo sie hingehen möchte. In diesem Fall ist aufgrund der witterungsunangepassten Kleidung und der Verwirrtheit von einer gegenwärtigen erheblichen Selbstgefährdung auszugehen. Bei 2 Grad Celsius und der leichten Bekleidung besteht die große Gefahr einer Unterkühlung und ggf. des Todes, wenn die Patientin nicht weiter versorgt und sich selbst überlassen wird. Ein weiteres Beispiel für eine gegenwärtige erhebliche Gefahr ist die Weigerung, lebenswichtige Medikamente einzunehmen. Auch andere Fälle können problematisch sein. Beispielsweise ist der Rettungsdienst gelegentlich mit Patient*innen konfrontiert, die in vermüllten Wohnungen leben und dazu einen verwahrlosten Eindruck machen. Solche Situationen begründen, ohne das Hinzutreten weiterer Umstände, zunächst keine gegenwärtige

erhebliche Gefahr. Eine solche kann jedoch dann angenommen werden, wenn von einer bestehenden „Vermüllung“ Gesundheitsgefahren ausgehen. Eine gegenwärtige erhebliche Gefahr kann auch dann vorliegen, wenn die Patient*in zwar bereits seit längerer Zeit an einer psychischen Grunderkrankung leidet, hier jedoch eine unmittelbare Verschlimmerung eintritt. Vor Ort im Einsatz stellt sich die nicht einfache Aufgabe, in diesen Fällen eine Prognoseentscheidung zum weiteren Fortgang des Geschehens und damit der bestehenden Gefährdung treffen zu müssen. Dabei ist eine 100-prozentige Sicherheit nicht erforderlich. Wichtig ist jedoch, dass die Entscheidung auf Grundlage von konkret feststellbaren Tatsachen getroffen wird. Dabei sind die gefahrbegründenden Tatsachen an sich, der Grad der Gefahr und der zeitliche Zusammenhang mitzuberücksichtigen. All diese Umstände sind im Anschluss auch entsprechend zu dokumentieren. Beispiele für Indizien, die eine Gegenwärtigkeit begründen können, sind konkrete Vorbereitungshandlungen, früheres Verhalten oder eine steigende Intensität bei Verletzungen. A c ht u ng Eine erhebliche Selbstgefährdung liegt immer dann vor, wenn die Gefahr besteht, dass sich die betroffene Person selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt. Gegenwärtige erhebliche Fremdgefährdung Anstatt einer gegenwärtigen erheblichen Selbstgefährdung, kann auch eine gegenwärtige erhebliche Fremdgefährdung eine

Unterbringung nach PsychKG rechtfertigen. Wichtig ist, dass eine solche Fremdgefährdung ihre Ursache in einer psychischen Erkrankung haben muss. Von der Rechtsprechung bejaht wurde dies u. a. bei Brandlegungen, gefährlichen Körperverletzungen, sexuellem Missbrauch und Todesdrohungen. Verneint wurde dies in Fällen von Telefonterror, Drohbriefen, lautem Schreien, Stöhnen, Anpöbeln, leichten Körperverletzungen und Entblößen. Die Grenzen sind hier oftmals fließend. Kausalität (Ursächlichkeit) Das Unterbringungsrecht dient nicht allgemein dazu, vor gefährlichen Situationen oder Personen zu schützen. Besonders wichtig ist, dass die Gefahr daraus resultieren muss, dass die psychische Krankheit die Einsichts-, Steuerungs- und Urteilsfähigkeit derart erheblich einschränkt, dass die Betroffene nicht mehr frei über ihr Verhalten bestimmen kann, also eine Beeinträchtigung der freien Willensbildung vorliegt. Die Ursache für die Einsatzsituation muss also eine psychische Erkrankung sein (Kausalität). Auch bei einer Fremdgefährdung muss deren Ursache in einer psychischen Erkrankung liegen. Der „prügelnde Prolet“, der bisher keine psychischen Erkrankungen hat und deshalb prügelt, weil er zu viel getrunken hat, ist zunächst einmal kein Fall für eine Unterbringung nach PsychKG. Verhältnismäßigkeit Als letzte Voraussetzung für eine Unterbringung verlangt das Gesetz noch, dass diese in Bezug auf die Situation verhältnismäßig ist. In diesem Zusammenhang muss immer geprüft werden, ob es in der

konkreten Situation mildere Mittel gibt, die ebenso wirksam sind, um die Gefahr abzuwenden. Diese Voraussetzung hat jedoch für die Entscheidung im Einsatz kaum eine eigenständige Bedeutung, da die sonstigen Voraussetzungen des Tatbestands bereits dazu führen, dass dieser sehr eng gefasst ist. Mildere Maßnahmen können z. B. Beseitigung von Gefahrenquellen, ambulante psychiatrische Behandlung, vorsorgende, begleitende oder nachsorgende Hilfen, Beaufsichtigung durch Familienangehörige, Bestellung einer Betreuer*in oder eine freiwillige Aufnahme ins Krankenhaus sein. Wird eine andere Möglichkeit gefunden, müssen die gesamte Situation und die getroffenen Absprachen gut dokumentiert werden. Dabei muss insb. dokumentiert werden, dass durch die mildere Maßnahme das Risiko einer erheblichen Eigen- oder Fremdgefährdung reduziert werden konnte. Transportziel einer Unterbringung Da es bei der Unterbringung um die psychiatrische/psychologische Versorgung der Patient*in geht, ist Voraussetzung, dass das Ziel des Transportes eine psychiatrische Fachklinik oder eine psychiatrische Fachabteilung ist. Formelle Voraussetzungen Bei den formellen Voraussetzungen der Unterbringung gibt es in den unterschiedlichen Gesetzen der Bundesländer leicht abweichende Regelungen. In NRW ist für die Durchführung der Unterbringung ein Antrag der zuständigen Ordnungsbehörde beim zuständigen Amtsgericht erforderlich, welches die Unterbringung dann anordnen kann.

Für die Stellung des Antrags ist in allen Bundesländern die Beifügung eines ärztlichen Zeugnisses erforderlich. Das ärztliche Zeugnis soll von einer Fachärzt*in für Psychiatrie angefertigt worden sein, wenn eine solche nicht verfügbar ist, von einer Ärzt*in mit Erfahrung auf dem Gebiet der Psychiatrie. Es müssen hier also auf jeden Fall eine ärztliche Untersuchung und ein entsprechendes ärztliches Zeugnis vorliegen. Ob Notärzt*innen die genannten Voraussetzungen erfüllen, wird von einzelnen Gerichten unterschiedlich gesehen. Das Landgericht Meiningen (Thüringen) hat sich in einem Beschluss detaillierter mit dieser Frage auseinandergesetzt. Es kommt zu dem Ergebnis, dass Notärzt*innen i. d. R. nicht die Voraussetzungen erfüllen, Fachärzt*in für Psychiatrie zu sein oder Erfahrung auf dem Gebiet der Psychiatrie zu haben. Dies gilt auch dann, wenn Notärzt*innen seit langem im Rettungsdienst tätig sind. Das Landgericht leitet dies insb. aus den Aufgaben von Notärzt*innen, der Qualifizierung sowie dem laut Gericht geringen Anteil psychiatrischer Notfälle im Rettungsdienst ab. Des Weiteren führt das Landgericht in Anlehnung an eine Studie aus, dass bei Notärzt*innen nach eigenen Angaben eine große Unsicherheit in der rechtlichen Beurteilung von Patient*innen bestünde, wenn Maßnahmen gegen deren Willen im Raum stehen. Auch die Landesärztekammer und die Kassenärztliche Vereinigung Thüringen würden darauf hinweisen, dass Notärzt*innen keine auf dem Gebiet erfahrenen Ärzt*innen seien. [2] Me r k e Es ist Aufgabe der örtlichen Ordnungsbehörde, eine Unterbringung zu initiieren und einen Antrag an das zuständige

Gericht zu stellen. Die örtliche Ordnungsbehörde ist auch dafür verantwortlich, dass die dafür erforderlichen Unterlagen, z. B. das ärztliche Zeugnis in der vorgeschriebenen Form, vorliegen. Im Ergebnis hängt es damit bei der Unterbringung im konkreten Einsatz davon ab, ob das zuständige Gericht bei der Entscheidung über eine Unterbringung ein notärztliches Protokoll akzeptiert oder nicht. Dies ist für den Rettungsdienst sehr unbefriedigend, da es die Frage aufwirft, was denn dann mit der Patient*in passiert, bei der man jetzt gerade vor Ort ist. Das LG Meinigen ist der Auffassung, dass die Ordnungsbehörde in dem Fall, dass ein Gericht den Antrag auf Unterbringung aus diesem Grund zurückweist, aus formalen Gründen eine vorläufige Unterbringung selbst anordnen kann, um in diesem Rahmen ein entsprechendes Zeugnis der Fachärzt*in des Klinikums einzuholen. In Teilen der Literatur wird dazu jedoch vertreten, dass die aufnehmenden Ärzt*innen, die für die Aufnahmeuntersuchung der Patient*innen zuständig seien, nicht auch gleichzeitig das ärztliche Zeugnis für die Unterbringung ausstellen könnten. Einige Bundesländer, z. B. NRW, regeln durch ergänzende Vorschriften, dass in Notfällen, in denen auf Ärzt*innen mit der gesetzlich geforderten Qualifikation nicht zurückgegriffen werden könne, alle Ärzt*innen ein entsprechendes ärztliches Zeugnis ausstellen können. Sofern vorhanden soll auch der sozialpsychiatrische Dienst miteinbezogen werden. Der sozialpsychiatrische Dienst kann bei den kommunalen Gesundheitsämtern als eigener Fachbereich für die Aufgaben der Gesundheitsämter nach dem PsychKG eingerichtet

werden. Besetzt werden die sozialpsychiatrischen Dienste i. d. R. mit unterschiedlichen beruflichen Fachkräften, z. B. Fachärzt*innen für Psychiatrie und Psychotherapie, Psycholog*innen, Sozialarbeiter*innen. Die letztendliche Entscheidung über die Unterbringung erfolgt jedoch durch das Gericht. Neben der Prüfung der durch die Ordnungsbehörde eingereichten Unterlagen gehört es auch zu den Aufgaben des Gerichts, die betroffene Person vor dem Erlass einer Entscheidung persönlich anzuhören (Recht auf rechtliches Gehör) sowie sich einen persönlichen Eindruck von ihr zu verschaffen (§ 319 FamFG). Diese Pflicht besteht auch in den Fällen, in denen die Person nicht äußerungsfähig ist (z. B. im Delir). In diesen Fällen gewinnt das Merkmal „persönlichen Eindruck verschaffen“ besondere Bedeutung. Dabei geht es darum, sich ein eigenes Bild vom Zustand der betroffenen Person zu machen. Eine Entscheidung des Gerichts ergeht dann durch einen Beschluss (› Kap. 2.6.2). Dies ist im Falle der Entscheidung für eine Unterbringung der sog. Unterbringungsbeschluss. Dieser muss im Falle einer Genehmigung oder Anordnung einer Unterbringungsmaßnahme enthalten, um was für eine Unterbringung es sich handelt, und den Zeitpunkt benennen, zu dem die Unterbringungsmaßnahme endet (§ 323 FamFG). Für den Einsatz bedeutet dies: In den Fällen, in denen aus Sicht des Rettungsdienstpersonals eine Unterbringung der Patient*in in Betracht kommt, sind idealerweise frühestmöglich eine Ärzt*in und die örtliche Ordnungsbehörde mit hinzuzuziehen. Dies kann über die Leitstelle erfolgen. Der Ablauf der Unterbringung ist in › Abb. 10.4 dargestellt.

ABB. 10.4 Ablauf einer Unterbringung [L157]

Sofortige Unterbringung Gerade im Zusammenhang mit Einsätzen des Rettungsdienstes ist es möglich, dass eine richterliche Entscheidung nicht rechtzeitig erlangt werden kann, z. B. bei Einsätzen in der Nacht oder an Wochenenden. Zwar haben inzwischen viele Gerichte einen Bereitschaftsdienst für die Nacht und Feiertage, ist dieser jedoch nicht erreichbar, kommt eine sofortige Unterbringung in Betracht. Auch hier können die Voraussetzungen in den einzelnen Bundesländern leicht voneinander abweichen. In NRW ist für die Durchführung einer sofortigen Unterbringung Gefahr in Verzug erforderlich. Gefahr in Verzug bedeutet, dass ein Abwarten einer gerichtlichen Entscheidung zu schwerwiegenden Schäden für Patient*innen oder Dritte führen würde. In Fällen, in denen Gefahr in Verzug festgestellt wird, geht die Entscheidungskompetenz über die Unterbringung der Patient*in auf die Ordnungsbehörde über. Diese muss sich jedoch zuvor ernsthaft bemühen, eine gerichtliche Entscheidung herbeizuführen und in der Zwischenzeit alternative Maßnahmen organisieren, wie

Betreuung und Überwachung der Patient*in durch Angehörige oder den sozialpsychiatrischen Dienst etc. Damit die Ordnungsbehörde eine Unterbringung initiieren kann, müssen die zuvor beschriebenen Voraussetzungen der Unterbringung vorliegen. Zudem muss ein ärztliches Zeugnis vorliegen, welches nicht älter sein darf als vom Vortag. Ärzt*innen, die ein solches ärztliches Zeugnis ausstellen können, sollen grds. eine Weiterbildung oder Erfahrungen auf dem Gebiet der Psychiatrie haben. Die Ärzt*in, die ein entsprechendes Zeugnis ausstellt, muss die Patient*in persönlich untersucht haben und die Notwendigkeit der sofortigen Unterbringung schriftlich oder elektronisch begründen. Ob eine Notärzt*in auf dem NEF ein solches Zeugnis ausstellen kann, wird von einigen Gerichten kritisch gesehen. Wird von der Ordnungsbehörde daraufhin eine sofortige Unterbringung vorgenommen, muss diese unverzüglich einen entsprechenden Antrag beim zuständigen Amtsgericht stellen. Liegt bis zum Ablauf des Tages, der auf den Beginn der Unterbringung folgt, keine gerichtliche Anordnung vor, ist die Patient*in zu entlassen. Der Ablauf einer sofortigen Unterbringung ist in › Abb. 10.5 dargestellt.

ABB. 10.5 Ablauf einer sofortigen Unterbringung [L157]

R e ch t in e c ht (Fall 10.5) Notfallsanitäter Fabian und Rettungssanitäter Till sind mit dem RTW zu einer Patientin alarmiert worden, die sich in einem psychischen Ausnahmezustand befinden soll. Es ist Sonntagabend 23 Uhr. Bei Eintreffen vor der Wohnung der 22 Jahre alten Patientin wird den beiden von Angehörigen berichtet, dass die Patientin an einer bipolaren Störung leide und sich aktuell wieder in einer kritischen Phase befinde. Bereits in der Vergangenheit habe sie sich und andere in solchen Phasen durch riskante Situationen in Lebensgefahr gebracht. Grund für den Notruf war nun, dass sich die Patientin mitten auf eine viel befahrene Hauptstraße direkt vor der Wohnung gesetzt habe und die Angehörigen sie nur mit Mühe dort wegholen konnten. Autofahrer*innen mussten scharf bremsen und riskante Ausweichmanöver durchführen. Aktuell sei die Patientin mit einem anderen Angehörigen in der Wohnung, jedoch wolle sie dort nicht bleiben. Fabian und Till suchen selbst das Gespräch mit der Patientin, in dem sich der Eindruck bestätigt, dass eine gegenwärtige erhebliche Selbst- und Fremdgefährdung vorliegt. Die Patientin möchte sich nicht behandeln lassen. Aufgrund der

gesamten Umstände, in Verbindung mit der psychischen Vorerkrankung, fordern Fabian und Till über die Leitstelle ein NEF und das Ordnungsamt an. Sowohl das Ordnungsamt als auch die Notärztin teilen die Auffassung, dass aufgrund einer gegenwärtigen erheblichen Selbst- und Fremdgefährdung eine Unterbringung erforderlich ist. Das Ordnungsamt versucht mehrfach, eine Richter*in zu erreichen, was jedoch an diesem späten Sonntagabend nicht gelingt. Daraufhin ordnet das Ordnungsamt selbst die Unterbringung wegen Gefahr in Verzug an und stellt alle dafür erforderlichen Unterlagen zusammen. Da die Patientin nicht freiwillig mitkommen möchte und der Rettungsdienst keinen unmittelbaren Zwang anwenden darf, wird die Polizei zur Vollzugshilfe nachgefordert. Die Patientin wird dann durch den RTW, unter Begleitung durch die Polizei, in eine psychiatrische Fachklinik verbracht. Rechte der Patient*innen in der Klinik Unverzüglich nach der Aufnahme in der Klinik müssen die Patient*innen von dieser über ihre Rechte und Pflichten unterrichtet werden. Dies muss mündlich und schriftlich erfolgen. Zudem muss die Patient*in nach der Aufnahme sofort ärztlich untersucht werden. Sobald ein richterlicher Beschluss über die Unterbringung vorliegt, muss die Patient*in auch darüber unterrichtet werden. Darüber hinaus ist die Klinik verpflichtet, Verfahrensbevollmächtigte, rechtliche Vertretung und eine Person des Vertrauens der Patient*in zu benachrichtigen. Im Folgenden muss die Erforderlichkeit der weiteren Unterbringung täglich ärztlich überprüft, begründet und dokumentiert werden.

10.2.2 Ausgewählte Fragestellungen für den Rettungsdienst Neben den in diesem Kapitel beschriebenen Bezügen zum Rettungsdienst tauchen regelmäßig noch folgende Fragen auf: A) Muss die Ordnungsbehörde überhaupt vor Ort sein oder kann sie die Anordnungen auch telefonisch vornehmen? B) Wer darf in welchem Rahmen unmittelbaren Zwang ausüben? C) Welche Rolle kommt der Polizei im Rahmen der Unterbringung zu? D) Welche Aufgaben hat der Rettungsdienst im Zusammenhang mit der Unterbringung? E) Was gibt es für Möglichkeiten, wenn keine Unterbringung/kein Transport erfolgt? Anwesenheit der Ordnungsbehörde vor Ort (Frage A) Entscheidet sich die Ordnungsbehörde, nicht zur Einsatzstelle zu kommen, kann diese vom Rettungsdienst nicht dazu gezwungen werden. Der Entscheidung der Ordnungsbehörde ist in diesem Fall trotzdem zu folgen. Das Risiko einer möglichen Pflichtverletzung trägt die Ordnungsbehörde selbst und nicht der Rettungsdienst, der sich auf die fachliche Einschätzung der Ordnungsbehörde im Hinblick auf die Art und Weise der Durchführung der in ihrem Zuständigkeitsbereich liegenden Maßnahmen verlassen kann. Unmittelbarer Zwang (Frage B) Wurde die Entscheidung zur Unterbringung durch das Gericht oder die Ordnungsbehörde getroffen, ist die Patient*in im Zweifel noch

nicht im RTW oder KTW bzw. schon gar nicht bereit, freiwillig transportiert zu werden. Der Rettungsdienst ist i. d. R. nicht dazu berechtigt, unmittelbaren Zwang anzuwenden. Die Anwendung unmittelbaren Zwangs stellt einen erheblichen Grundrechtseingriff dar und bedarf entsprechend einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage. Eine solche fehlt für den Rettungsdienst. In diesen Fällen muss dann auf die Unterstützung anderer Institutionen zurückgegriffen werden, die berechtigt sind, unmittelbaren Zwang auszuüben. Dies ist die Polizei, die dann im Wege der Vollzugshilfe hinzugezogen werden und unterstützen kann (› Kap. 5.3.5). Aufgrund der Unberechenbarkeit von Patient*innen in psychischen Ausnahmesituationen muss auch darauf hingewirkt werden, dass die Polizei den Transport begleitet und mindestens eine der Beamt*innen auch im Patientenraum mitfährt. Polizeibeamt*innen sind für den Einsatz von Zwangsmaßnahmen geschult und können schnell und sachgerecht reagieren. Me r k e Der Rettungsdienst ist i. d. R. nicht dazu berechtigt, unmittelbaren Zwang auszuüben. Sollte dieser im Rahmen einer Unterbringung im Einsatz erforderlich werden, ist die Polizei zur Vollzugshilfe hinzuzuziehen. In Situationen, in denen sich abzeichnet, dass unmittelbarer Zwang erforderlich sein könnte, ist die Polizei frühzeitig nachzufordern. In einigen Bundesländern (z. B. NRW) wird der Rettungsdienst auch durch die Feuerwehr durchgeführt. Beamt*innen der Feuerwehr werden dabei regelmäßig zu Vollzugsdienstkräften

bestellt, was ihnen die rechtliche Befugnis zur Ausübung unmittelbaren Zwangs gewährt. Liegen die rechtlichen Voraussetzungen dafür vor, werden bei den Feuerwehren auch angestellte Mitarbeitende des Rettungsdienstes zu Vollzugsdienstkräften bestellt. Darüber hinaus werden in manchen Bundesländern bzw. Rettungsdienstbereichen (z. B. Niedersachsen) Mitarbeitende des Rettungsdienstes zu Vollzugsdienstkräften bestellt. In den geschilderten Fällen sind die Mitarbeitenden rechtlich befugt, unmittelbaren Zwang auszuüben. Problematisch ist, dass es im Zusammenhang mit der Bestellung zu Vollzugsdienstkräften i. d. R. keine Unterrichtung und praktisches Training für Eingriffstechniken gibt, geschweige denn, dass dieses regelmäßig geübt wird. Dies stellt ein erhebliches Risiko für Patient*innen und auch die Mitarbeitenden dar, die sich durch die formelle Bestellung ggf. in Situationen bringen können, die sie nicht beherrschen. Vor diesem Hintergrund wird auch teilweise ausdrücklich betont, dass die Bestellung nicht zu dem Zweck erfolgt, eigenständig unmittelbaren Zwang auszuüben. Es geht vielmehr darum, den Mitarbeitenden für die Situationen Rechtssicherheit zu vermitteln, in denen bei der Ausübung unmittelbaren Zwangs durch die Polizei mitgewirkt wird, also wenn z. B. Patient*innen mit festgehalten werden müssen etc. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Bestellung durchaus gerechtfertigt, da für das Handeln in diesen Situationen ansonsten nur auf den rechtfertigenden Notstand als Rechtfertigungsgrund zurückgegriffen werden könnte (› Kap. 7.3.3). A c ht u ng

Die Anwendung unmittelbaren Zwangs kann mit erheblichen rechtlichen und tatsächlichen Risiken verbunden sein, wenn man entsprechende Eingriffstechniken nicht erlernt hat und beherrscht. Vor diesem Hintergrund sollte der unmittelbare Zwang i. d. R. nicht eigenverantwortlich ausgeübt werden, sondern immer nur im Rahmen der Unterstützung der Polizei. Unberührt davon bleibt die Möglichkeit, dass man, unter Berücksichtigung des Eigenschutzes, Patient*innen in Akutsituationen daran hindert, sich selbst erhebliche gesundheitliche Schäden zuzufügen oder sich das Leben zu nehmen, z. B. durch Festhalten einer Patient*in, die von einem Dach springen oder orientierungslos über eine viel befahrene Straße laufen will. Rechtfertigungsgrund für dieses Festhalten ist dann regelmäßig die mutmaßliche Einwilligung (› Kap. 7.3.4). Unberührt davon bleibt zudem die Möglichkeit, sich bei Angriffen von Menschen in psychischen Ausnahmesituationen im Rahmen der Notwehr zu verteidigen (› Kap. 7.3.1). Aufgaben der Polizei im Rahmen der Unterbringung (Frage C) Im Rahmen einer Unterbringung nach PsychKG hat die Polizei i. d. R. keine eigenständigen Kompetenzen. Zum Einsatz kommt die Polizei in derartigen Einsätzen regelmäßig im Zusammenhang mit der Ausübung unmittelbaren Zwangs und damit im Rahmen der Vollzugshilfe. Die Polizei hat in diesen Fällen lediglich die Durchführungsverantwortung für ihre Maßnahmen (› Kap. 5.3.3). Eine Anordnungsbefugnis für eine Unterbringung nach PsychKG

steht der Polizei hier i. d. R. nicht zu. Liegt keine angeordnete Unterbringung vor, kann die Polizei in eigener Kompetenz eine Person in Gewahrsam nehmen, wenn dies zum Schutz der Person bei Gefahr für Leib oder Leben erforderlich ist (› Kap. 5.3.5). Rolle des Rettungsdienstes im Zusammenhang mit Unterbringungen (Frage D) Wie aus den vorstehenden Ausführungen deutlich geworden ist, hat der Rettungsdienst entsprechend den Regelungen des PsychKG keine eigenständige Aufgabe und Verantwortung im Zusammenhang mit Unterbringungen. Die Anordnung einer Unterbringung und damit auch die Entscheidung über deren Rechtmäßigkeit obliegt dem Gericht oder in Ausnahmefällen der örtlichen Ordnungsbehörde. Die medizinische Untersuchung und Entscheidung über das Vorliegen einer psychischen Erkrankung obliegt Ärzt*innen. Ordnungsbehörde und Ärzt*innen müssen in diesem Zusammenhang auch entscheiden, ob eine gegenwärtige erhebliche Gefahr vorliegt und ob ggf. mildere Maßnahmen als die freiheitsentziehende Unterbringung in Betracht kommen. Die Hauptaufgabe des Rettungsdienstes ist bei alledem eigentlich nur der Transport der Patient*in. Auch wenn sich aus dem PsychKG keine Aufgaben und Verantwortlichkeiten des Rettungsdienstes ergeben, ist dieser jedoch regelmäßig die gesamte Zeit, während die anderen Maßnahmen durchgeführt werden, mit vor Ort. In vielen Fällen ist der Rettungsdienst sogar zuerst bei den Patient*innen und hat dann die Aufgabe, bei unklarer Ausgangslage die Situation einzuschätzen und dann die entsprechenden weiteren Maßnahmen in die Wege zu leiten, wenn sich aus der Situation

ergibt, dass eine Unterbringung in Betracht kommt. Für den Rettungsdienst ist es daher wichtig, die Möglichkeiten und Voraussetzungen des PsychKG des jeweiligen Bundeslandes zu kennen. Auch wenn der Rettungsdienst im Hinblick auf die zu treffenden Entscheidungen durch Ärzt*innen und die Ordnungsbehörde keine Mitspracherechte hat, ist es ratsam, in Bezug auf die beabsichtigten Maßnahmen doch immer kritisch mitzudenken und ggf. Anregungen in Bezug auf die zu treffenden Entscheidungen einzubringen. Die freiheitsentziehende Unterbringung stellt einen erheblichen Grundrechtseingriff dar. Dieser Eingriff wird zu Recht an hohe rechtliche Voraussetzungen geknüpft. Teilweise sind sich die zur Entscheidung berufenen Personen darüber jedoch gar nicht im Klaren. Dies führt dazu, dass Entscheidungen getroffen werden, die nicht vom ehrlichen Interesse geleitet sind, den Patient*innen bestmöglich zu helfen, sondern vom Interesse, den Einsatz möglichst schnell über die Bühne zu bringen. Der schnellste Weg ist dann häufig die zwangsweise Unterbringung, bei der die Patient*innen unter Mithilfe der Polizei möglichst schnell in den RTW und dann in die Klinik verbracht werden. Dabei werden die strengen Voraussetzungen des PsychKG, insb. das Erfordernis einer gegenwärtigen erheblichen Gefahr, oftmals sehr ungenau geprüft. Me r k e Dem Rettungsdienst fällt die wichtige Aufgabe zu, die Verantwortlichen bei der Prüfung der Voraussetzungen einer Unterbringung zu unterstützen und ggf. auf die hohen Anforderungen an eine Unterbringung hinzuweisen. Gerade in Fällen, in denen es offensichtlich ist, dass die Verantwortlichen

nur ein Interesse daran haben, den Einsatz schnellstmöglich abzuwickeln und dem Grundrecht der Freiheit der Person nicht ausreichend Rechnung tragen, ist es Aufgabe der Rettungsdienstmitarbeitenden vor Ort, solche Defizite zu korrigieren. Für Menschen, die einmal in das System Psychiatrie gelangt sind, ist es oftmals nicht einfach, dort wieder herauszukommen. Die Psychiatrie ist ein geschlossenes System, was die Möglichkeiten zur Unterstützung und Begleitung der Betroffenen erheblich einschränkt. Sie befinden sich in einer Situation sehr hoher Abhängigkeit. Sofern es außerhalb dieses Systems Möglichkeiten zur Hilfe für die Betroffenen gibt, sollten diese zuerst in Erwägung gezogen werden. Ganz konkret vor Ort, beim Einsatz des Rettungsdienstes, können die Weichen entscheidend dahingehend gestellt werden, in welche Richtung es nun geht. Der Rettungsdienst hat die Möglichkeit, bei dieser Entscheidung mitzuwirken. Patient*in wird nicht transportiert (Frage E) Aus unterschiedlichen Gründen kann es dazu kommen, dass Patient*innen nicht zwangsweise untergebracht und nicht transportiert werden. Unterstellt, dass dies rechtmäßig ist, stellt sich jedoch die Frage, was der Rettungsdienst für die Patient*in tun kann, wenn diese unter psychischen Problemen leidet und deshalb grds. der Hilfe bedarf. In vielen Einsatzsituationen wird der Rettungsdienst im Zusammenhang mit einer im Raum stehenden Unterbringung auf Patient*innen treffen, die eine bereits bekannte psychische Erkrankung haben und wegen dieser in Behandlung sind.

In anderen Fällen kann es erforderlich sein, die Patient*innen bzgl. lokaler Hilfemöglichkeiten zu informieren und zu deren Inanspruchnahme zu motivieren. § 4 Abs. 1 NotSanG regelt dazu, dass Notfallsanitäter*innen die jeweilige Lebenssituation und Lebensphase der Erkrankten sowie deren Selbstständigkeit und Selbstbestimmung in ihr Handeln einbeziehen sollen. Zudem regelt § 4 Abs. 2 Nr. 1d NotSanG, dass Notfallsanitäter*innen angemessen mit Menschen in Notfall- und Krisensituationen umgehen können sollen. Dies umfasst die Fähigkeit, mit Menschen, die unter psychischen Problemen leiden, angemessen zu kommunizieren und sie in diesem Rahmen über Hilfemöglichkeiten vor Ort zu informieren. Dies setzt voraus, dass sich das Rettungsdienstpersonal über derartige Hilfsangebote in ihrem Einsatzbereich informiert und darüber auf dem Laufenden hält. Idealerweise stellt die Dienstgeber*in dem Personal dafür angemessene Hilfsmittel zur Verfügung, z. B. Telefonlisten, Flyer, sonstige Kontaktdaten etc. Auf diese Weise ist das Rettungsdienstpersonal in der Lage, Menschen mit psychischen Problemen angemessene Informationen zur Selbsthilfe zur Verfügung zu stellen und diese zur Inanspruchnahme dieser Angebote zu informieren. Pr axis tip p Es ist empfehlenswert, sich für den konkreten Einsatzbereich mit lokalen Hilfsangeboten für Menschen mit psychischen Erkrankungen vertraut zu machen, um Patient*innen, die nicht transportiert werden, darüber zu informieren und diese zur Inanspruchnahme solcher Hilfen zu motivieren. Dienstgeber*innen können dafür Informationsmaterial auf den Rettungsmitteln bereitstellen und die Mitarbeitenden darin

einweisen.

10.3 Betreuungsrechtliche Unterbringung Die betreuungsrechtliche Unterbringung stellt neben der öffentlich-rechtlichen Unterbringung eine weitere Form der Unterbringung dar. Sie erfolgt auf Grundlage des im BGB geregelten Betreuungsrechts. Das Recht der betreuungsrechtlichen Unterbringung ist demnach bundesweit einheitlich gesetzlich geregelt. Wo bei der öffentlich-rechtlichen Unterbringung die örtliche Ordnungsbehörde federführend ist, ist es bei der betreuungsrechtlichen Unterbringung die Betreuer*in.

10.3.1 Grundlagen Betreuung Bei Einsätzen, in denen eine Betreuungssituation vorliegt, können unterschiedliche Personengruppen mit unterschiedlichen Interessen aufeinandertreffen. Im Regelfall gibt es bei einem Rettungsdiensteinsatz eine „Zweierkonstellation“: auf der einen Seite das Rettungsteam, auf der anderen Seite die Patient*in. In manchen Einsatzszenarien sind an der Einsatzstelle noch Angehörige, Freunde oder Dritte anzutreffen, die jedoch in vielen Fällen mit der eigentlichen Versorgung der Patient*in nichts zu tun haben. Anders ist dies in den Fällen, in denen das Rettungsteam mit einer Betreuungsperson konfrontiert ist. Diese Person darf, wenn die entsprechenden Voraussetzungen vorliegen, Erklärungen für die Patient*in abgeben und so z. B. Einwilligungen erteilen und Aufklärungen entgegennehmen (vgl. › Kap. 6.2). Daher ist es für den Rettungsdienst wichtig zu wissen, was in derartigen Situationen aus rechtlicher Sicht beachtet werden muss.

Das Betreuungsrecht im BGB wurde mit Wirkung zum 1. Januar 2023 reformiert. Ziel dieser Reform war eine grundlegende Modernisierung des Betreuungsrechts, welches in Teilen noch aus dem Jahr 1896 stammte. Hauptziele der Reform waren u. a. Vorrang sozialrechtlicher Hilfen vor rechtlicher Betreuung, Stärkung des Selbstbestimmungsrechts der Betroffenen, eine bessere Finanzierung von Betreuungsvereinen und eine Verbesserung der Qualität der Betreuung. Verbunden mit der Reform war eine neue Strukturierung der gesetzlichen Vorschriften, somit haben sich auch viele Paragrafen-Nummern geändert. Voraussetzungen für die Einrichtung einer Betreuung Eine Betreuung kann für volljährige Personen eingerichtet werden, die ihre Angelegenheiten aufgrund einer Krankheit oder Behinderung ganz oder teilweise rechtlich nicht selbst besorgen können (§ 1814 Abs. 1 BGB). Dabei ist die Einrichtung einer Betreuung subsidiär. Dies bedeutet, dass diese nur dann eingerichtet werden soll, wenn nicht vorrangig andere Hilfen in Betracht kommen oder eine bevollmächtigte Person existiert, die die Angelegenheiten gleichermaßen besorgen kann (§ 1814 Abs. 3 BGB). Entgegen dem freien Willen einer Person, darf eine Betreuung nicht eingerichtet werden (§ 1814 Abs. 2 BGB). Eine Betreuung wird in wenigen Fällen als umfassende Betreuung eingerichtet. Die Einrichtung einer Betreuung erfolgt i. d. R. nur für bestimmte Aufgabenkreise, bei denen die betroffene Person einen besonderen Unterstützungsbedarf hat. Dabei wird jeder Aufgabenkreis einzeln geprüft und es wird bewertet, ob und

inwieweit dort Bedarf für Unterstützung besteht. Als Aufgabenkreise kommen z. B. in Betracht: • Vermögensangelegenheiten • Gesundheitsangelegenheiten • Aufenthaltsbestimmung Die Einrichtung einer Betreuung kann durch einen eigenen Antrag der zu betreuenden Person oder von Amtswegen eingeleitet werden. Sie erfolgt durch gerichtliche Bestellung einer Betreuungsperson. Zuständig ist das Betreuungsgericht, dieses entscheidet durch Beschluss (› Kap. 2.6.2). In diesem Beschluss wird genau aufgeführt, für wen eine Betreuung eingerichtet wird, wer als Betreuungsperson bestellt wird und für welche genauen Aufgabenkreise die Einrichtung der Betreuung erfolgt. Me r k e Inhalte eines gerichtlichen Betreuungsbeschlusses: • Person, die betreut wird • Betreuer*in • Aufgabenkreise

Nach spätestens sieben Jahren muss das Gericht über die Verlängerung der Maßnahme entscheiden (§ 295 FamFG). Sofern die Betreuung gegen den Willen der betreuten Person angeordnet wurde, muss über die erstmalige Verlängerung nach spätestens zwei Jahren entschieden werden.

Auswahl der Betreuer*in Als Betreuer*in kann nur eine geeignete Person bestellt werden. Bei der Auswahl sind die Wünsche der Betroffenen zu berücksichtigen, ebenso muss berücksichtigt werden, wenn Betroffene eine bestimmte Person ablehnen. Die Person muss intellektuell dazu in der Lage sein, den Betroffenen in den in Rede stehenden Aufgabenkreisen zu unterstützen. Zudem muss sie geografisch in der Lage sein, persönlichen Kontakt zur betroffenen Person zu halten. Bei der Auswahl können auch die familiären Beziehungen berücksichtigt werden; dabei wird auch die Gefahr von möglichen Interessenkonflikten beurteilt. Es besteht grds. eine Verpflichtung zur Übernahme einer Betreuung. Nur in den Fällen, in denen dies der ausgewählten Person aus familiären, beruflichen oder sonstigen Gründen nicht zugemutet werden kann, kann die Übernahme abgelehnt werden. Finden sich keine Personen, von denen sich die betroffene Person eine Übernahme der Betreuung wünscht, und sind auch keine anderen Personen aus dem Umfeld der Betroffenen ersichtlich, kann die Betreuung durch einen Betreuungsverein bzw. eine Berufsbetreuer*in übernommen werden. Folgen der Einrichtung einer Betreuung Durch die Einrichtung einer Betreuung wird die betroffene Person nicht „entrechtet“. Sie bleibt weiterhin rechtsfähig und kann ihren eigenen Willen und ihre eigenen Wünsche äußern, welche von der Betreuer*in berücksichtigt werden müssen. In den meisten Fällen bleibt die betreute Person auch geschäftsfähig.

Ausgenommen ist die Situation, in der ein Einwilligungsvorbehalt gerichtlich angeordnet wird (vgl. › Kap. 6.1.3). Die bestellte Betreuer*in darf nur im bestimmten Aufgabenkreis tätig werden, die Vertretung erfolgt gerichtlich und außergerichtlich. Im Bestellungsbeschluss müssen die Aufgabenkreise so genau wie möglich bezeichnet werden. In jeder Phase müssen die Vorstellungen der betreuten Person ernst genommen werden. Es darf ihnen nichts aufgezwungen und es muss ihnen ermöglicht werden, im Rahmen des objektiv Möglichen, nach ihren Wünschen und Vorstellungen leben zu können. Nahestehende Angehörige können Auskunft über den Zustand der betreuten Person verlangen, solange und soweit dies dem Wunsch oder mutmaßlichen Willen der betreuten Person entspricht, und es ihr zuzumuten ist. Besonderheiten bei medizinischer Behandlung Eine Betreuung kann auch für gesundheitliche Angelegenheiten eingerichtet werden. Handelt es sich um eine Einwilligung in medizinische Maßnahmen, bei denen die Gefahr besteht, dass die betreute Person stirbt oder einen schweren und länger dauernden gesundheitlichen Schaden erleidet, bedarf es einer Genehmigung durch das Betreuungsgericht. Wenn mit dem Aufschub der Maßnahmen, bedingt durch das Erfordernis der Einholung der Genehmigung durch das Betreuungsgericht, Gefahr verbunden ist, dürfen die Maßnahmen auch ohne Genehmigung durchgeführt werden.

Bei einer Nichteinwilligung in eine medizinisch angezeigte Maßnahme durch die Betreuer*in, bei der die Gefahr besteht, dass aufgrund des Unterbleibens oder des Abbruchs der Maßnahme ein schwerer und länger andauernder Schaden oder die Gefahr des Versterbens besteht, ist auch eine Genehmigung des Betreuungsgerichts erforderlich. In den Fällen, in denen zwischen Betreuer*in und Ärzt*in Einvernehmen darüber besteht, dass die Erteilung, die Nichterteilung oder der Widerruf einer Einwilligung dem mutmaßlichen Willen der Betreuten entspricht, braucht keine Genehmigung des Betreuungsgerichts eingeholt werden. Die Regelungen gelten auch für Personen, die aufgrund einer Vorsorgevollmacht für die Patient*in handeln (› Kap. 6.2.3). A c ht u ng Auch betreute Personen können wirksame Einwilligungen erteilen bzw. Maßnahmen verweigern, wenn sie Art, Bedeutung und Tragweite der in Rede stehenden Maßnahmen erfassen und ihren Willen danach bilden können. In diesen Fällen ist die Einwilligung der Betreuten entscheidend und nicht die der Betreuer*in. Me r k e Im Zusammenhang mit einer medizinischen Behandlung und einem etwaigen Transport in die Klinik kann festgehalten werden, dass der Wille der betreuten Person umso mehr zu berücksichtigen ist, desto weniger eine (dringende) medizinische Behandlungsbedürftigkeit besteht. Je größer die medizinische Behandlungsbedürftigkeit, desto genauer muss

geprüft werden, ob die betreute Person wirklich in der Lage ist, die Folgen ihrer Entscheidung zu überblicken. R e ch t in e c ht (Fall 10.6) Notfallsanitäter Fabian und Rettungssanitäterin Ida sind zu einer gestürzten Person in ein Pflegeheim für geistig behinderte Menschen alarmiert worden. Dort ist eine 73-jährige Patientin beim Aufstehen aus dem Rollstuhl abgerutscht und mit dem Knie gegen den Rollstuhl geschlagen. Ansonsten hat die Patientin keine Verletzungen. Das Bein kann bewegt werden, am Knie ist eine kleine Abschürfung zu erkennen. Die Patientin möchte nicht mit dem Rettungsdienst in die Klinik transportiert werden. Sie sagt, dass sie nächste Woche ohnehin einen Termin beim Hausarzt habe und dieser das dann gleich mit ansehen könne, wenn es schlimmer werden sollte. Die anwesende Betreuerin besteht auf einen Transport in die Klinik, um abklären zu lassen, ob etwas gebrochen ist. In diesem Fall handelt es sich aus Sicht des Rettungsdienstes nicht um eine dringend behandlungsbedürftige Verletzung. Die Patientin möchte nicht transportiert werden. Gegen den Willen wäre dies auf Anordnung der Betreuerin nur bei Lebensgefahr oder absehbaren schweren gesundheitlichen Folgeschäden möglich. Diese liegen in diesem Fall nicht vor. Will die Betreuerin in dieser Situation eine zwangsweise ärztliche Untersuchung erreichen, muss sie sich ans Betreuungsgericht wenden. Im Zusammenhang mit der Reform des Betreuungsrechts hat der Gesetzgeber in § 1358 BGB ein Notvertretungsrecht für

Ehepartner*innen im Falle medizinischer Notfälle geregelt. Sofern eine Ehegatt*in aufgrund von Bewusstlosigkeit oder Krankheit ihre Angelegenheiten der Gesundheitssorge rechtlich plötzlich nicht mehr besorgen kann, ist die andere Ehegatt*in unter bestimmten Voraussetzungen zur Vertretung berechtigt. Ziel dabei ist, dass eine Ehegatt*in auch in Notfällen kurzfristig (bevor z. B. eine Betreuung eingerichtete wird) im Sinne ihrer Partner*in rechtlich sicher handeln kann. Gemeint sind dabei insb. Entscheidungen, die im Anschluss an die Akutversorgung getroffen werden müssen. Ein förmliches Dokument ist hierfür zunächst nicht erforderlich. In Ausnahmesituationen kann dieses Notvertretungsrecht auch für den Rettungsdienst relevant werden. Die erstmalige Feststellung des Notvertretungsrechts ist dabei allerdings (not)ärztliche Aufgabe und fällt, wie die Diagnosestellung, in den nichtdelegierbaren ärztlichen Tätigkeitsbereich. Im zeitlichen Verlauf, wenn eine förmliche Bestätigung des Vertretungsrechts als Dokument vorhanden ist, hat die Notvertretung u. U. auch für nichtärztliches Rettungsdienstpersonal Relevanz. Das Notvertretungsrecht für Ehepartner*innen ist für bis zu sechs Monate möglich.

10.3.2 Voraussetzungen betreuungsrechtlicher Unterbringung Die freiheitsentziehende Unterbringung betreuter Personen ist in § 1831 BGB geregelt. Initiiert wird die Unterbringung durch die Betreuer*in. Eine betreuungsrechtliche Unterbringung ist nur dann möglich, wenn sich die Person selbst gefährdet. Dies bedeutet, wenn die Gefahr besteht, dass sie sich selbst tötet oder

erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt. Die Ursache dafür muss in einer psychischen Krankheit oder einer geistigen oder seelischen Behinderung liegen. Im Gegensatz zur Unterbringung nach PsychKG (› Kap. 10.2.1) sind die Anforderungen an den Grad der Gefahr bei einer Unterbringung nach Betreuungsrecht bedeutend geringer. Bei einer Unterbringung nach PsychKG wird eine erhebliche gegenwärtige Gefahr gefordert, bei einer Unterbringung nach Betreuungsrecht wird lediglich eine „einfache“ Gefahr verlangt. Höhere Anforderungen an die Gefahr werden im Betreuungsrecht nur in den Situationen gestellt, in denen es um eine Unterbringung zum Zwecke der Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder einen ärztlichen Eingriff geht. Erfolgt die Unterbringung zu einem dieser Zwecke, ist dies nur zur Abwendung eines drohenden erheblichen gesundheitlichen Schadens möglich. Zudem ist eine derartige Unterbringung auch nur dann zulässig, wenn die in Rede stehende Maßnahme ohne eine Unterbringung nicht durchgeführt werden kann und die betreute Person die Notwendigkeit der Maßnahme nicht erkennen bzw. nicht nach dieser Einsicht handeln kann. Für eine Unterbringung nach Betreuungsrecht ist auch regelmäßig eine Genehmigung des Betreuungsgerichts erforderlich. Auf diese Genehmigung kann nur dann verzichtet werden, wenn mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist. Eine zusammenfassende Gegenüberstellung von der Unterbringung nach BGB in Abgrenzung zur Unterbringung nach PsychKG findet sich in › Abb. 10.6.

ABB. 10.6 Gegenüberstellung Unterbringung nach BGB und PsychKG (vereinfachte Darstellung) [L157]

Quellen: [1] BVerfGE 22, 180 ; 29, 312 ; 35, 185 ; 45, 187 (Einschränkung Freiheit der Person nur aus besonders wichtigen Gründen) [2] LG Meiningen, 19.05.2021, Az. (13) 4 T 85/21 (zu Erfahrung Notärzte Psychiatrie)

Weitere Literatur und Internetquellen: Baur, BVerfG zur Fixierung in der Psychiatrie: Freiheit bleibt auch in der Unfreiheit geschützt. In: Legal Tribune Online, 24.07.2018, https://lto.de/persistent/a_id/29937/ (letzter Zugriff: 18. November 2023)

BT Drucksache 19/24445 (zum neuen Betreuungsrecht) Dodegge/Zimmermann NRW, PsychKG. Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten. 2. Aufl. Stuttgart; 2003. Lamberz. Die Unterbringung psychisch Kranker. Stuttgart; 2014. Prütting, Maßregelvollzugsgesetz und PsychKG NRW. Stuttgart. 2004. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/254 192/umfrage/entwicklung-der-au-tageaufgrund-psychischer-erkrankungen-nachgeschlecht/ (letzter Zugriff: 18. November 2023)

Kapitel 11 Straßenverkehrsrecht David Winkenbach

Das Straßenverkehrsrecht hat für Rettungsdienst und Notfallmedizin eine besondere Relevanz. Bekanntermaßen gelangen Einsatzkräfte der BOS mit Blaulicht und Einsatzhorn zum Einsatzort, um im Notfall keine Zeit zu verlieren. BOS sind Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben, zu welchen sich neben Polizei, Zoll und THW u. a. auch der Rettungsdienst und die Feuerwehr zählen lassen. Fahrzeuge der BOS dürfen bei Einsatzfahrten die geltenden Verkehrsregeln missachten, während andere Verkehrsteilnehmer*innen den Einsatzkräften Platz schaffen müssen. Hierzu gibt es allerdings rechtliche Rahmenbedingungen, deren Kenntnis und Einhaltung für das Rettungspersonal sehr wichtig sind. D ie s e s K ap it e l s ol l F olge nde s v e rmit te ln: • Grundlegende Kenntnisse zu den gesetzlichen Grundlagen des StVG und der StVO • Die Verantwortung der Fahrzeugführer*innen • Sonder- und Wegerechte sowie deren Bedeutung für den Rettungsdienst • Rechtliche Sicherheit im Umgang mit Sonder- und Wegerechten • Das richtige Verhalten bei Verkehrsunfällen unter der Nutzung von Sonderund/oder Wegerechten

W ichtige R e c h ts qu e lle n fü r die s e s K ap it e l: • Straßenverkehrsgesetz (StVG) https://www.gesetze-im-internet.de/stvg/

• Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) https://www.gesetze-im-internet.de/stvo_2013/ • Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung (StVZO) https://www.gesetze-im-internet.de/stvzo_2012/ • Strafgesetzbuch (StGB) https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/

11.1 StVG und StVO Die bekanntesten und relevantesten Rechtsnormen für das Verkehrsrecht sind das Straßenverkehrsgesetz (StVG) und die Straßenverkehrs-Ordnung (StVO). Dabei stellt das StVG die gesetzliche Grundlage des Straßenverkehrsrechts dar. Es handelt sich um ein Bundesgesetz, das die wichtigsten Vorschriften zu u. a. Verkehrsvorschriften, Haftpflichten, Straf- und Bußgeldern, Fahrzeug-, Fahrzeugeignungs- und Fahrerlaubnisregister sowie Datenverarbeitung im Straßenverkehr enthält. Das StVG ermächtigt das Bundesministerium für Verkehr (v. a. durch § 6 StVG) dazu, konkretisierende Vorschriften in Form von Rechtsverordnungen zu schaffen (› Kap. 2.4.2). Insoweit regeln die Straßenverkehrs-Ordnung (StVO), die Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV), die Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung (StVZO) und die FahrzeugZulassungsverordnung (FZV) gemeinsam mit dem StVG das deutsche Straßenverkehrsrecht. Die StVO gibt dabei den Straßenverkehrsteilnehmer*innen vor, wie sie sich auf öffentlichen Straßen, Wegen und Plätzen zu verhalten haben. Hierzu zählen z. B. konkrete Regelungen zum Überholen, Abstandhalten oder zur Vorfahrt. Die StVO normiert dabei auch die Vorschriften zu Sonder- und Wegerechten, welche dem Rettungsdienst unter bestimmten Voraussetzungen ermöglichen, die Regelungen der StVO zu verletzen und von dem übrigen Verkehr „freie Bahn“ fordern zu dürfen. Direkt zu Beginn der StVO sind wesentliche Grundregeln normiert, die eine besondere Bedeutung insb. auch für Situationen besitzen, in denen nichts Spezielles geregelt ist.

§ 1 StVO Grundregeln (1) Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht. (2) Wer am Straßenverkehr teilnimmt hat sich so zu verhalten, dass kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird. Diese Regelungen haben grds. eine Allgemeingültigkeit. Sie fordern im Straßenverkehr von allen Beteiligten gegenseitige Rücksichtnahme, hohe Aufmerksamkeit und Sorgfalt, v. a. um Sicherheit zu gewährleisten. Wenngleich sich Einsatzfahrzeuge nicht immer an alle Verkehrsregeln halten müssen, ist das Verständnis der Grundregeln und deren Philosophie auch während der Einsatzfahrten hilfreich und notwendig.

11.2 Verantwortung der Fahrzeugführer*in Aus den Vorschriften der StVO ergibt sich, dass stets die Fahrer*in eines Fahrzeugs für die allgemeine Einhaltung der Verkehrsregeln verantwortlich ist. So werden die Normen zu den Verkehrsvorschriften häufig mit „Wer ein Fahrzeug führt“ eingeleitet. Zudem ergeben sich aus § 23 der StVO besondere Pflichten, wonach die Fahrzeugführer*in auch die Verantwortung u. a. dafür trägt, dass • die Verkehrssicherheit des Fahrzeugs gewährleistet ist, • die Ladung des Fahrzeugs gesichert ist und • Sicht und Gehör nicht beeinträchtigt sind. Zudem muss die fahrende Person • dafür Sorge tragen, dass ihr Gesicht erkennbar ist und • die Regelungen zu elektronischen Kommunikations- und Unterhaltungsgeräten einhalten. Für Mitarbeitende und v. a. Fahrzeugführende im Rettungsdienst ergeben sich hierdurch einige Besonderheiten. So ist es grds. Aufgabe der Fahrzeugführer*in, den Zustand des Fahrzeugs hinsichtlich der Verkehrssicherheit zu kontrollieren und in Einsätzen die Ladungssicherung im Rettungswagen zu gewährleisten. Zudem hat die Fahrzeugführer*in darauf zu achten, dass für alle Mitfahrenden

ausreichend sichere Sitzplätze mit Anschnallgurten verfügbar sind. Gibt es also nur drei sichere Patientenbegleitplätze, darf die Fahrer*in auch nur drei Personen im Patientenraum mitfahren lassen. Die fahrzeugführende Person ist dagegen nicht dafür verantwortlich, dass die Besatzung des Fahrzeugs angeschnallt ist, sofern es sich nicht um Kinder handelt. Vielmehr muss jede volljährige Person sich selbst darum kümmern, adäquat angeschnallt zu sein. Dabei besteht auch für Rettungskräfte grds. eine Anschnallpflicht im Rettungswagen. Lediglich wenn die konkrete Behandlung dies erforderlich macht, darf von der Anschnallpflicht abgewichen werden (Regeln und Ausnahmen in § 21a StVO), und dies auch nur für die Zeit der konkreten Durchführung von Maßnahmen. Anders steht es allerdings bei Patient*innen auf der Trage. Da es sich bei der Trage oder Tragestühlen um Medizinprodukte handelt, greifen in erster Linie die Regelungen für Medizinprodukte (› Kap. 8.3). Die Verantwortung trifft folglich diejenige Person, die das Medizinprodukt bedient, hier also das Anschnallen, z. B. auf der Trage, durchführt. Hinsichtlich der zivilrechtlichen Haftung gilt dabei zu bedenken, dass wenn von den Herstellerangaben zur Sicherung der Patient*in auf Trage oder Tragestuhl abgewichen wird, dies als grob fahrlässig gewertet werden kann und demnach im Rahmen der Amtshaftung ein Rückgriff infrage kommt (› Kap. 6.5.2). Von dem Verbot zur Nutzung elektronischer Kommunikations- und Unterhaltungsgeräte während der Fahrt (§ 23 Abs. 1a StVO) sind Fahrzeugführer*innen im Rettungsdienst unter bestimmten Voraussetzungen befreit. Nach § 35 Abs. 9 StVO darf die Fahrzeugführer*in während der Fahrt und bei laufendem Motor ein Funkgerät benutzen, wenn • sie zur Nutzung von BOS-Funk berechtigt ist und • es keine (qualifizierte) Beifahrer*in gibt. Maßgeblich ist hierbei v. a., dass die Fahrzeugführer*in allein im Führerhaus sein muss, damit das Funken legitim ist. Als allein gilt man im Führerhaus auch, wenn die beifahrende Person keine entsprechende Qualifikation besitzt oder nicht Teil des Teams ist. So kann die Fahrer*in eines Rettungswagens auch dann erlaubterweise funken, wenn z. B. Angehörige oder (unqualifizierte) Praktikant*innen im Führerhaus sitzen. Dabei gilt diese Befreiung ausschließlich für die Nutzung von Funkgeräten, nicht von Mobiltelefonen. Telefonieren während der Fahrt bleibt demnach verboten,

selbst wenn es sich um das Diensthandy handelt und wichtige einsatzbezogene Telefonate geführt werden. Es ist nicht notwendig, dass die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Sonder- und Wegerechten gegeben sind. Die oben genannte Erlaubnis zum Funken gilt auch bei „normaler“ Fahrt. A chtu ng Das Funken während der Fahrt in Rettungsdienstfahrzeugen (BOSFahrzeugen) ist nur dann erlaubt, wenn die Fahrer*in allein im Führerhaus sitzt. Befindet sich neben der Fahrzeugführer*in auch die Transportführer*in im Führerhaus, muss diese das Funken übernehmen. Die Verwendung von Mobiltelefonen oder anderen Kommunikations- und Unterhaltungsgeräten bleibt untersagt.

11.3 Sonder- und Wegerechte Die Rechte, welche es den Einsatzfahrzeugen ermöglichen, in privilegierter Weise zum Einsatzort zu gelangen, heißen Sonder- und Wegerechte. Sie sind in der StVO in den §§ 35 und 38 geregelt. • § 35 StVO, Sonderrechte • § 38 StVO, Blaues Blinklicht und gelbes Blinklicht (Wegerechte) Die §§ 35 und 38 StVO sprechen Fahrer*innen im Rettungsdienst zwar u. U. besondere Rechte zu und entbinden sie von normalerweise bestehenden Pflichten, sie befreien jedoch nicht von strafrechtlichen Vorschriften. Trotz der Inanspruchnahme von Sonder- und Wegerechten ist (grob) fahrlässiges Verhalten möglich, das strafrechtlich geahndet werden kann. Auch sind Sonder- und Wegerechte nicht als „Freifahrtschein“ für den Straßenverkehr zu verstehen. Die Anwendung setzt die strenge Beachtung einiger Regeln und Grenzen voraus, die v. a. die Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer*innen, aber auch die der Besatzung und der Patient*innen gewährleisten soll. Um (rechts)sicher Sonder- und Wegerechte einsetzen zu können, ist es notwendig, dass das Rettungsdienstpersonal deren Bedeutung und rechtlichen Kontext versteht. Aus diverser Rechtsprechung lässt sich ableiten, dass sich auch die Fahrer*innen von Rettungsfahrzeugen nicht immer richtig verhalten und bei Unfällen oft eine Teilschuld zugesprochen bekommen. Die Relevanz der §§ 35 und 38 StVO für den

Rettungsdienst wird auch dadurch deutlich, dass einige Bundesländer Regelungen eingeführt haben, nach welchen Rettungsdienstpersonal regelmäßig zu diesen Themen aufgeklärt werden muss. So bestimmt ein Erlass in NRW, dass Kraftfahrzeugführer*innen von Rettungsfahrzeugen mindestens einmal jährlich über das Verhalten bei notfallmäßigen Einsatzfahrten und die Bedeutung der §§ 35 und 38 StVO belehrt werden müssen. Dies muss sogar mit Unterschrift von der belehrten Person bestätigt werden.

11.3.1 Sonderrechte Die Sonderrechte sind in § 35 StVO geregelt. Sonderrechte in diesem Sinne bedeutet, dass gesondert berechtigte Fahrzeugführer*innen von den Verpflichtungen befreit werden, die normalerweise von StVO vorgeschrieben sind. Da in der StVO u. a. die Verhaltensregeln für den Straßenverkehr normiert sind, müssen diese im Moment der berechtigten Inanspruchnahme von Sonderrechten grds. nicht mehr beachtet werden. Das bedeutet z. B., dass Personen/Fahrzeuge mit Sonderrechten sich nicht an die geltenden Geschwindigkeitsbegrenzungen halten müssen, im Halteverbot parken, über rote Ampeln fahren und rechts überholen dürfen. Sinn dahinter ist es, dass die Einsatzfahrzeuge sich dabei schneller durch den Verkehr bewegen können und nicht von den geltenden Regelungen aufgehalten werden. Die Verwendung von Sonderrechten ist jedoch an bestimmte Bedingungen geknüpft und darf nur in einem angemessenen Rahmen stattfinden. Demnach befreien Sonderrechte nicht generell von allen Verkehrsvorschriften. Etwaige Verstöße müssen immer erforderlich sein, um bestimmte Ziele zu erreichen. § 35 StVO Sonderrechte (1) Von den Vorschriften dieser Verordnung sind die Bundeswehr, die Bundespolizei, die Feuerwehr, der Katastrophenschutz, die Polizei und der Zolldienst befreit, soweit das zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben dringend geboten ist. (5a) Fahrzeuge des Rettungsdienstes sind von den Vorschriften dieser Verordnung befreit, wenn höchste Eile geboten ist, um Menschenleben zu retten oder schwere gesundheitliche Schäden abzuwenden. (8) Die Sonderrechte dürfen nur unter gebührender Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgeübt werden.

M e r ke Stehen Angehörigen einer Institution nach § 35 Abs. 1 StVO oder Fahrzeugen des Rettungsdienstes nach § 35 Abs. 5a StVO Sonderrechte zu, so werden diese von den Vorschriften der StVO befreit. Dies gilt allerdings nur unter der Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowie dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit (§ 35 Abs. 8 StVO). Berechtigte § 35 StVO gibt an mehreren Stellen vor, wer wann dazu berechtigt ist, die Sonderrechte in Anspruch zu nehmen. § 35 Abs. 1 StVO benennt neben anderen BOS die „Feuerwehr“. Hierbei ist die Feuerwehr als gesamte Institution gemeint. Das bedeutet, dass eine Person im Straßenverkehr die Möglichkeit zur Sonderrechtsnutzung hat, wenn sie der Institution Feuerwehr angehört. Dabei kommt es maßgeblich auf die Person selbst und nicht auf das Fahrzeug an, in dem sie sich befindet. Folglich könnten Angehörige der (freiwilligen) Feuerwehr auch in ihrem Privat-PKW Sonderrechte beanspruchen, wenn die übrigen Voraussetzungen dafür vorliegen. Auch wenn dies rechtsdogmatisch grds. zulässig ist, wird jedoch gemeinhin davon abgeraten, Sonderrechte in privaten Fahrzeugen in Anspruch zu nehmen. Wenn überhaupt sollten dabei nur moderate Geschwindigkeitsüberschreitungen stattfinden. Die Gefahren, die dadurch entstehen können, sind schlichtweg unverhältnismäßig. § 35 Abs. 5a StVO benennt „Fahrzeuge des Rettungsdienstes“. Im Gegensatz zu § 35 Abs. 1 StVO kommt es hier maßgeblich auf das Fahrzeug an. Es sind demnach nur die Fahrzeuge des Rettungsdienstes, nicht aber der Rettungsdienst als Institution dazu berechtigt, Sonderrechte in Anspruch zu nehmen. Allerdings wird die Formulierung in der Rechtsprechung recht weit verstanden, sodass neben den Fahrzeugen des öffentlich-rechtlichen Rettungsdienstes, wie z. B. KTW, RTW, NEF, auch Fahrzeugen die Inanspruchnahme von Sonderrechten gewährt wird, welche der Lebensrettung dienen, einer Rettungsorganisation zugeordnet werden können und in ihrer Nutzung durch Rettungseinsätze geprägt sind. Hierzu zählen z. B. Fahrzeuge des ärztlichen Notdienstes, Fahrzeuge der Wasserrettung und Fahrzeuge für Blutoder Organtransporte. Im Gegensatz zur Feuerwehr ist für Angehörige und Mitarbeitende des Rettungsdienstes die Möglichkeit, Sonderrechte im Privat-PKW in Anspruch zu nehmen, von vornherein ausgeschlossen.

Für Rettungsdienst und Notfallmedizin ist demnach v. a. § 35 Abs. 5a StVO einschlägig. Hierbei fällt auf, dass der Rettungsdienst grds. nicht mit der Feuerwehr und anderen BOS gleichgesetzt wird. Dies ist den unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen der anderen BOS und des Rettungsdienstes geschuldet. § 35 Abs. 5a StVO ist extra für den Tätigkeitsbereich des Rettungsdienstes konzipiert. Soweit die Notfallrettung zu den hoheitlichen Aufgaben der Feuerwehr gehört, genießen Rettungsdienstfahrzeuge der Feuerwehr jedoch hinsichtlich der Nutzung von Sonderrechten die Befugnisse aus § 35 Abs. 1 StVO; hier kommt es nicht auf die besonderen Maßgaben des § 35 Abs. 5a StVO an. Beschränkung und Grenze der Sonderrechte § 35 Abs. 8 StVO schafft einen Rahmen, in dem von den Vorschriften der StVO aufgrund der Sonderrechte abgewichen werden kann. Die Beschränkung schreibt vor, dass von der Fahrzeugführer*in während der gesamten Sonderrechtsfahrt sowie beim Abstellen des Einsatzfahrzeugs am Einsatzort die öffentliche Sicherheit und Ordnung gebührend berücksichtigt werden muss. Diese abstrakte Norm beschreibt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Danach muss jeder Verstoß gegen eine Vorschrift der StVO verhältnismäßig sein. Um dies zu bestimmen, bedarf es einer Interessenabwägung. Die gegenüberstehenden Interessen sind dabei auf der einen Seite, dass durch Sonderrechte Notfallpatient*innen schneller erreicht werden können. Auf der anderen Seite werden die Rechte und die Sicherheit der übrigen Verkehrsteilnehmer*innen beeinträchtigt. Das Ziel, welches durch die Inanspruchnahme der Sonderrechte erreicht werden soll, muss dabei in einem angemessenen Verhältnis zu der Beeinträchtigung anderer Verkehrsteilnehmer*innen stehen (sog. Übermaßverbot). Diese Verhältnismäßigkeit muss bei jeder Einsatzfahrt und jeder einzelnen Verkehrssituation individuell abgewogen werden. M e r ke Die Inanspruchnahme der Sonderrechte unterliegt dem Verhältnismäßigkeitsgebot und der damit verbundenen Interessenabwägung. Dabei steht das schnelle Eintreffen am Einsatzort der Beeinträchtigung der Rechte anderer Personen im Straßenverkehr gegenüber. Es gilt, dies in jedem Einzelfall individuell abzuwägen.

A chtu ng Unter der Inanspruchnahme von Sonderrechten muss jeder einzelne Verstoß gegen die StVO-Vorschriften verhältnismäßig sein. § 35 Abs. 8 StVO verlangt eine erhöhte Sorgfaltspflicht für die Fahrer*innen von Einsatzfahrzeugen bei der Inanspruchnahme von Sonderrechten. Dabei steigert sich die Sorgfaltsanforderung exponentiell mit der Intensität der Abweichung von den Vorschriften der StVO. Je intensiver der Verstoß gegen die StVO-Vorschriften ist, desto höher ist auch die Sorgfaltsanforderung. Sonderrechte dürfen demnach auch nach angemessener Interessenabwägung nur unter größtmöglicher Sorgfalt in Anspruch genommen werden. Dabei muss stets auf andere Verkehrsteilnehmer*innen geachtet und damit gerechnet werden, dass diese Fehler machen können. Auch wenn die Vorschrift aus § 1 StVO formal durch die Inanspruchnahme von Sonderrechten nicht beachtet werden muss, muss auch bei Sonderrechtsfahrten ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht gewahrt werden. Gefährdungen und Schädigungen anderer Verkehrsteilnehmer*innen müssen vermieden und die Behinderung oder Belästigung des übrigen Verkehrs in einem verhältnismäßigen Rahmen gehalten werden. Das ergibt sich aus der Beschränkung in § 35 Abs. 8 StVO sowie dem allgemeinen Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Die Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ist in › Abb. 11.1 dargestellt.

ABB. 11.1 Beschränkung der Sonderrechtsfahrt durch § 35 Abs. 8 StVO [L157]

Kennzeichnung Einer besonderen Kennzeichnung bei der Inanspruchnahme von Sonderrechten bedarf es nicht. Fahrzeuge des Rettungsdienstes und die Feuerwehr können die Privilegien nach § 35 StVO beanspruchen, ohne dies gegenüber anderen

Verkehrsteilnehmer*innen anzuzeigen. Allerdings kann es gerade während der Einsatzfahrten sinnvoll sein, anderen Personen im Straßenverkehr deutlich zu machen, wenn ein Fahrzeug unterwegs ist, ohne die Vorgaben der StVO einzuhalten. Hierzu können das Blaulicht und/oder das Einsatzhorn dienen. Für behördliche Fahrzeuge und somit auch für die Feuerwehr ist dies sogar in einer verwaltungsinternen Vorschrift festgelegt. Danach „sollte, wenn möglich und zulässig, die Inanspruchnahme von Sonderrechten durch blaues Blinklicht zusammen mit dem Einsatzhorn angezeigt werden“ (VwV-StVO zu § 35 Abs. 1). Für den Rettungsdienst gilt diese Regelung zwar nicht, sie kann jedoch dennoch als allgemeine Handlungsempfehlung herangezogen werden. M e r ke Für die Inanspruchnahme von Sonderrechten ist keine besondere Kennzeichnung erforderlich. Im Interesse der Verkehrssicherheit empfiehlt es sich jedoch, dies durch Blaulicht und/oder Einsatzhorn gegenüber den anderen Verkehrsteilnehmer*innen anzuzeigen. Voraussetzungen Damit berechtigte Fahrzeuge oder Institutionen die Sonderrechte auch tatsächlich in Anspruch nehmen dürfen, müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Hier muss wieder zwischen BOS wie Polizei und Feuerwehr (§ 35 Abs. 1 StVO) und Fahrzeugen des Rettungsdienstes (§ 35 Abs. 5a StVO) unterschieden werden. Die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Sonderrechten sind: • Für die Feuerwehr:

Die Erfüllung hoheitlicher Aufgaben ist dringend geboten. • Für Fahrzeuge des Rettungsdienstes:

Es ist höchste Eile geboten, um Menschenleben zu retten oder schwere gesundheitliche Schäden abzuwenden. Hoheitliche Aufgaben der Feuerwehr sind solche Aufgaben, die sich aus der Staatsgewalt ableiten lassen und staatlichen Zwecken dienen. Für die Feuerwehr als Institution mit öffentlichen Aufgaben – Hilfeleistung und Schutz Einzelner und des Gemeinwesens bei Bränden und öffentlichen Notständen – kann dies bejaht werden (› Kap. 5.2.1). Die Inanspruchnahme der Sonderrechte ist dann dringlich

geboten, wenn die Aufgabenerfüllung sonst gar nicht, nicht ordnungsgemäß oder nicht ausreichend schnell möglich wäre. Die Voraussetzung dafür, dass der Rettungsdienst Sonderrechte in Anspruch nehmen darf, ist, dass Menschenleben in Gefahr oder schwere gesundheitliche Schäden abzuwenden sind, z. B. Herzinfarkt, Atemnot, starke Blutungen, starke Schmerzen. Hierfür reicht es, dass nach einer Vorabbeurteilung bzw. einem Meldungsbild die Lebensgefahr oder die gesundheitlichen Folgen nicht auszuschließen sind. Die Einschätzung hierzu erfolgt zunächst durch die Leitstellendisponent*innen und später, wenn eine konkrete Patient*in behandelt wird, durch die behandelnde Rettungsdienstbesatzung. Es ist dabei nicht erforderlich, dass die vitale Bedrohung oder Gesundheitsgefahr auch tatsächlich besteht, maßgebend ist die vorangegangene hypothetische Einschätzung. Ob dann auch höchste Eile geboten ist, bestimmt sich daran, ob sich im konkreten Fall ohne die Inanspruchnahme von Sonderrechten gerade diese Gefahren (Lebensgefährdung und schwere Gesundheitsschädigung) verwirklichen könnten. Anknüpfungspunkte sind demnach konkrete Patient*innen oder konkrete Schadenslagen. Notwendig ist also eine konkrete Gefahr. Abstrakte Gefahren können nicht zur Begründung einer Sonderrechtsfahrt herangezogen werden. Dies bedeutet, dass die Voraussetzungen für eine Inanspruchnahme von Sonderrechten gerade nicht gegeben sind, wenn Rettungsmittel vom Krankenhaus zur eigenen Wache fahren, um rasch aufzufüllen oder zu desinfizieren, damit sie schnell wieder einsatzbereit sind. Ebenfalls ist eine konkrete Gefahr nicht gegeben, wenn Rettungsmittel zu einer anderen Wache geschickt werden, um dort die Gebietsabdeckung sicherzustellen. Das Konkretisierungserfordernis wäre sogar auch dann nicht erfüllt, wenn es sich um das einzig verfügbare Rettungsmittel in einem Bereich handelt und dadurch ein Folgeeinsatz wahrscheinlich ist. Derartige Fahrten dürfen nur dann unter Inanspruchnahme der Sonderrechte ausgeführt werden, wenn tatsächlich ein (konkreter) Folgeeinsatz vorliegt. In Fällen von (Groß-)Schadenslagen, in denen Rettungsmittel zur Bereitstellung alarmiert werden und noch gar nicht wissen, ob sie überhaupt zum Einsatz kommen, liegt nichtsdestotrotz bereits eine konkrete (Groß-)Schadenslage vor, welche die Inanspruchnahme von Sonderrechten legitimiert. M e r ke

Die Voraussetzungen für eine rechtmäßige Inanspruchnahme von Sonderrechten sind für den Rettungsdienst gegeben, wenn nach der Einschätzung der Leitstellendisponent*in oder der Transportführer*in eines Rettungsmittels • Menschenleben in Gefahr oder schwere gesundheitliche Folgen abzuwenden sind • und sich diese Risiken im konkreten Fall ohne die Inanspruchnahme von Sonderrechten verwirklichen könnten (höchste Eile geboten).

Die Voraussetzungen an Fahrzeuge des Rettungsdienstes für die rechtmäßige Inanspruchnahme von Sonderrechten werden in der StVO etwas konkreter dargestellt und die Schwelle für die Inanspruchnahme ist im Vergleich zu anderen BOS höher. Für die Rettungsdienstfahrzeuge der Feuerwehr gilt stets die Maßgabe des § 35 Abs. 1 StVO, da sie der Institution Feuerwehr auch dann angehören, wenn sie die Durchführung des Rettungsdienstes wahrnehmen. M e r ke Die Voraussetzungen für eine rechtmäßige Inanspruchnahme von Sonderrechten sind für Rettungsdienstfahrzeuge der Feuerwehr gegeben, wenn nach der Einschätzung der Leitstellendisponent*in oder der Transportführer*in eines Rettungsmittels • hoheitliche Aufgaben erfüllt werden müssen (dies Umfasst jedenfalls auch Situationen, in denen Menschenleben in Gefahr oder schwere gesundheitliche Folgen abzuwenden sind) • und diese Aufgabenerfüllung dringend geboten ist (dies Umfasst jedenfalls auch Situationen, in denen höchste Eile geboten ist, s. o.).

R e cht in e c h t (Fall 11.1) Leitstellendisponentin Dora nimmt einen Notruf entgegen. Dem aufgeregten Anrufer geht es offensichtlich sehr schlecht und er beschreibt Symptome, die zu einem Herzinfarkt passen könnten. Dora kann nicht ausschließen, dass Lebensgefahr besteht oder schwere gesundheitliche Folgen abgewendet werden müssen. Folglich besteht ein konkreter Notfall, bei dem

sich ohne die Inanspruchnahme von Sonderrechten diese Gefahren verwirklichen könnten – es ist höchste Eile geboten. Die Voraussetzungen aus § 35 Abs. 5a StVO sind erfüllt und das Rettungsdienstfahrzeug, das Dora zu dem Patienten schickt, darf rechtmäßig Sonderrechte in Anspruch nehmen. Wird ein Rettungswagen der Feuerwehr zu dem Patienten geschickt, sind die ohnehin etwas weiteren Voraussetzungen nach § 35 Abs. 1 StVO ebenfalls erfüllt. Entscheidung Die Fahrzeugführer*in ist für die Einhaltung der Verkehrsregeln verantwortlich. Entsprechend liegt auch die Entscheidung zur Inanspruchnahme von Sonderrechten und der damit verbundenen Missachtung der Verkehrsregeln in der Hand der Fahrzeugführer*in. Hierbei entscheidet die Fahrer*in einerseits darüber, ob überhaupt Sonderrechte in Anspruch genommen werden, und auch darüber, wie diese im Einzelnen während der Fahrt umgesetzt werden. Die Entscheidung des „Ob“ stützt sich i. d. R. auf eine Vorabeinschätzung einer Leitstellendisponent*in anhand der telefonisch erlangten Informationen oder eine medizinische Dringlichkeitsbewertung im Einsatz selbst. Daraus ergibt sich, dass die Fahrzeugführer*in vor einer Einsatzfahrt zu einer Patient*in auf die Angaben der Leitstellendisponent*in vertrauen und sich bei einer Einsatzfahrt mit Patient*in auf die medizinische Einschätzung der höchstqualifizierten Person (Notfallsanitäter*in/Notärzt*in) verlassen darf, wenn diese nicht offensichtlich falsch ist. Insgesamt kommt es darauf an, ob die Fahrzeugführer*in die Voraussetzungen nachvollziehbar annehmen kann. Offensichtlich rechtswidrigen Vorgaben muss und darf dagegen nicht Folge geleistet werden. Die Einschätzung dazu obliegt der Fahrzeugführer*in, was wiederum die Kenntnisse zu den Rechtsgrundlagen bei Sonderrechtsfahrten voraussetzt. Praxis tip p Ergibt sich aus einer Einsatzmeldung der Leitstelle, dass Sonder- und Wegerechte genutzt werden sollen, bedeutet dies, dass nach Auffassung der zuständigen Disponent*in „höchste Eile geboten“ ist. Hierauf darf die Fahrzeugführer*in grds. vertrauen. Die Frage nach der konkreten Umsetzung, also dem „Wie“, liegt nahezu allein in der Hand der Fahrer*in selbst. Hier muss die Fahrzeugführer*in bei jedem einzelnen

Verstoß gegen die StVO sowie hinsichtlich dem Maß der Abweichung eigenständig entscheiden und abwägen. Dies erfolgt in jeder konkreten Verkehrssituation erneut und erfordert ein hohes Maß an Konzentration und Sorgfalt. M e r ke Über die tatsächliche Inanspruchnahme von Sonderrechten sowie jeden einzelnen Verstoß gegen die StVO entscheidet die Fahrzeugführer*in eigenständig. Werden Sonderrechte in Anspruch genommen, ohne dass die Voraussetzungen dafür vorliegen, handelt es sich um eine Ordnungswidrigkeit (§ 49 Abs. 4 Nr. 2 StVO). Alle bei einer unrechtmäßigen Sonderrechtsfahrt begangenen Verstöße gegen die StVO sind nicht durch § 35 StVO gerechtfertigt. Die Verkehrsregeln nach der StVO sind also faktisch nie außer Kraft gesetzt worden, sodass jede bei der Fahrt missachtete Vorschrift geahndet werden könnte. Nimmt eine Fahrzeugführer*in Sonderrechte nicht in Anspruch, obwohl dies erforderlich wäre, so kommt eine Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung (§ 323c StBG) in Betracht (› Kap. 7.2.2). Sonderrechte im Rettungseinsatz Im konkreten Rettungseinsatz gibt es bei der Inanspruchnahme von Sonderrechten einiges zu beachten. Zunächst gilt, wie bereits angesprochen, das Verhältnismäßigkeitsgebot, das bei jedem Einsatz individuell zu bewerten ist, sowie die erhöhte Sorgfaltspflicht, die mit Sonderrechtsfahrten einhergeht. Im Rettungseinsatz muss also bei jeder einzelnen Abweichung von den StVOVorschriften überlegt werden, ob diese auch tatsächlich erforderlich und angemessen ist. Auch wenn Fahrzeuge des Rettungsdienstes durch § 35 StVO von der Beachtung der StVO-Pflichten befreit werden können, gelten die Rechte der anderen Verkehrsteilnehmer*innen zunächst weiter. Und auch die Verkehrsregeln und gebote werden nicht geändert, sondern wirken fort. Da Sonderrechte allein die Rechte Dritter zunächst nicht einschränken, kommt es darauf an, ob diese den Einsatzfahrzeugen die bestimmten Rechte gewähren. Die Rechte anderer Personen im Straßenverkehr können lediglich zugunsten der Sonderrechte eingeschränkt werden, wenn dies aus einem Zugeständnis dieser anderen Personen resultiert. Hier gilt insb. bei einem fremden Vorfahrtsrecht,

dass Einsatzfahrzeuge sich nur dann darüber hinwegsetzen dürfen, wenn die vorfahrtsberechtigten Personen dem Sonderrechtsfahrzeug die Vorfahrt gewähren. Davon müssen sich die Fahrzeugführer*innen auch immer überzeugen. Sie dürfen nicht einfach darauf vertrauen, dass sie gesehen werden. Um dem übrigen Verkehr die Inanspruchnahme der Sonderrechte anzuzeigen, kann dabei das blaue Blinklicht oder auch Einsatzhorn verwendet werden. Zwar ist das Beanspruchen der Sonderrechte nicht an deren Benutzung gebunden, durch die Kenntlichmachung wird anderen Verkehrsteilnehmer*innen aber signalisiert, dass gerade Sonderrechte in Anspruch genommen werden. Schließlich ist ohne Kenntlichmachung objektiv kaum zu erkennen, ob sich ein Fahrzeug auf einer notfallmäßigen Einsatzfahrt befindet oder nicht. Hierbei sind u. U. die Regeln des Wegerechts zu beachten (› Kap. 11.3.2). Praxis tip p Bei einer Sonderrechtsfahrt muss das Vorfahrtsrecht anderer Verkehrsteilnehmer*innen weiterhin im Blick behalten werden. Steht in einer Verkehrssituation anderen die Vorfahrt zu, so ist es notwendig, dass das Rettungsmittel angemessen langsam an die Situation heranfährt und überprüft, ob ihm das Vorfahrtsrecht tatsächlich gewährt wird, z. B. an einer roten Ampel oder bei der Ausfahrt aus einer nicht vorfahrtsberechtigten Straße. Dabei können beide Teammitglieder im Fahrerhaus mitwirken. Keinesfalls darf in eine unübersichtliche Verkehrslage hineingefahren werden, ohne rechtzeitig anhalten zu können. Hierbei ist es ratsam, sich der Situation mit Schrittgeschwindigkeit zu nähern, sodass jederzeit die Möglichkeit zum vollständigen Anhalten besteht. In Bezug auf Geschwindigkeitsüberschreitungen gilt zudem, dass nie schneller gefahren werden darf, als es die jeweiligen Straßen-, Verkehrs- und Witterungsverhältnisse zulassen. Verbindliche Regelungen, wie „immer 20 km/h mehr als erlaubt“ gibt es nicht. Es muss stets eine sichere Fahrweise gewährleistet sowie die Eigen- und Fremdgefährdung im Straßenverkehr ausgeschlossen werden. Wird ein Rettungsfahrzeug an der Einsatzstelle abgestellt, gelten die Sonderrechte zunächst weiter. Das bedeutet, dass auch beim Parken die sonst geltenden Vorgaben unbeachtet gelassen werden dürfen. Allerdings gilt auch hier

wieder, den Vorteil der Parkposition gegenüber der Gefährdung und Behinderung der anderen Verkehrsteilnehmer*innen abzuwägen. Je mehr die höchste Eile geboten ist, umso eher kann der übrige Verkehr eingeschränkt und können Behinderungen hingenommen werden. Für ersteintreffende Rettungsmittel scheint es somit u. U. legitim, direkt vor dem Haus auf der Straße oder im absoluten Halteverbot zu parken. Treffen weitere Fahrzeuge des Rettungsdienstes ein, kann es sein, dass es nun eher geboten erscheint, eine geeignete Stelle zum Parken in unmittelbarer Nähe anzusteuern, wenn dies das Eintreffen der weiteren Besatzung nicht erheblich verzögert.

11.3.2 Wegerechte Die Wegerechte sind in § 38 StVO geregelt. Wenngleich die Bezeichnung „Wegerechte“ im Gesetzestext nicht vorkommt, ist sie jedoch im professionellen Kontext geläufig und wird auch von der Rechtsprechung verwendet. Wegerechte in diesem Sinne bedeuten, dass gesondert berechtigte Fahrzeuge das Recht haben, sich im öffentlichen Verkehrsraum freie Fahrt einzufordern. Das bedeutet im Umkehrschluss eine Pflicht der übrigen Verkehrsteilnehmer*innen, den Fahrzeugen mit Wegerechten freie Fahrt zu gewähren. Nähert sich also ein Rettungsfahrzeug mit Blaulicht und Einsatzhorn, so müssen alle Teilnehmenden im Straßenverkehr, auch Fußgänger*innen, dem Rettungsfahrzeug so gut es geht die Durchfahrt ermöglichen bzw. aktiv Platz schaffen. Blaulicht und Einsatzhorn werden auch als Sondersignale bezeichnet; bei diesem Begriff muss darauf geachtet werden, dass er nicht fälschlicherweise mit den Sonderrechten in Verbindung gebracht wird. § 38 StVO Blaues Blinklicht und gelbes Blinklicht (1) Blaues Blinklicht zusammen mit dem Einsatzhorn darf nur verwendet werden, wenn höchste Eile geboten ist, um Menschenleben zu retten oder schwere gesundheitliche Schäden abzuwenden, eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwenden, flüchtige Personen zu verfolgen oder bedeutende Sachwerte zu erhalten.

Es ordnet an: „Alle übrigen Verkehrsteilnehmer haben sofort freie Bahn zu schaffen“. (2) Blaues Blinklicht allein darf nur von den damit ausgerüsteten Fahrzeugen und nur zur Warnung an Unfall- oder sonstigen Einsatzstellen, bei

Einsatzfahrten oder bei der Begleitung von Fahrzeugen oder von geschlossenen Verbänden verwendet werden. Wegerechte nach § 38 StVO führen dabei jedoch nicht zu einer schlichten Umkehrung des Vorfahrtsrechts. Fahrzeuge mit Wegerechten haben kein automatisches Vorfahrtsrecht. Vielmehr sind andere Personen im Straßenverkehr gegenüber dem Fahrzeug mit Wegerechten verpflichtet, auf ihr Vorfahrtsrecht zu verzichten und die Vorfahrt zu gewähren. Erst wenn von den anderen Verkehrsteilnehmer*innen freie Bahn geschaffen wurde, darf das Fahrzeug mit Wegerechten die gewährte Vorfahrt in Anspruch nehmen. Wird von einer Person keine Vorfahrt gewährt, ist das zwar pflichtwidrig, bedeutet aber nicht, dass das Fahrzeug mit Wegerechten ein Vorfahrtsrecht erzwingen darf. Die Fahrzeugführer*in hat die Pflicht, sich zu vergewissern, ob die anderen Verkehrsteilnehmer*innen die Wegerechtssignale auch tatsächlich wahrgenommen haben und durch ihr Verhalten einen Verzicht auf ihr Recht zugunsten des Einsatzfahrzeugs erkennen lassen (Vergewisserungspflicht). Hieraus resultiert zwangsläufig, dass Einsatzfahrzeuge trotz der Inanspruchnahme von Sonder- und Wegerechten langsam genug an Verkehrssituationen heranfahren müssen, um das Verhalten des übrigen Verkehrs einschätzen und im Notfall noch rechtzeitig reagieren zu können. Gerade für unübersichtliche Gegebenheiten, z. B. größere Kreuzungen, kann dafür Schrittgeschwindigkeit oder kurzes Anhalten erforderlich sein. Vermutungen oder das blinde Vertrauen darauf, gesehen zu werden, sind nicht ausreichend. Erst wenn eine Fahrer*in eine berechtigte und begründete Erwartung haben kann, dass „freie Bahn“ geschaffen wird, ist das Vertrauen darauf durch § 38 StVO geschützt. A chtu ng Fahrer*innen von Einsatzfahrzeugen haben bei der Inanspruchnahme von Wegerechten eine sog. Vergewisserungspflicht. Hierbei muss verifiziert werden, ob der übrige Verkehr die Sondersignale des Einsatzfahrzeugs wahrnimmt und darauf reagiert. Wegerechte dürfen nur zusätzlich zu einer rechtmäßigen Inanspruchnahme von Sonderrechten verwendet werden. Während Sonderrechte auch allein verwendet werden können, ist die Nutzung von Wegerechten folglich nur in Kombination mit Sonderrechten möglich. Dabei dürfen die berechtigten Rettungsfahrzeuge

zum einen Verkehrsregeln missachten (Sonderrechte) und zum anderen müssen die übrigen Verkehrsteilnehmer*innen Platz machen (Wegerechte). M e r ke Wegerechte nach § 38 StVO geben das Recht dazu, im öffentlichen Verkehrsraum freie Fahrt fordern zu können. Teilnehmende am Straßenverkehr müssen Fahrzeugen mit gekennzeichneten Wegerechten freie Bahn schaffen. Ein allgemeines Vorfahrtsrecht haben allerdings auch Fahrzeuge mit Wegerechten nicht. Sie dürfen sich nur über ein fremdes Vorfahrtsrecht hinwegsetzen, wenn der übrige Verkehr erkennbar auf seine eigene Vorfahrt verzichtet. Berechtigte Für die Inanspruchnahme von Wegerechten ist eine besondere Kennzeichnung notwendig. Daher bemisst sich die Berechtigung, Wegerechte in Anspruch zu nehmen, daran, ob die Erlaubnis besteht, mit den erforderlichen Kennzeichnungsvorrichtungen ausgerüstet zu sein. Für das „blaue Blinklicht“ (Blaulicht) ist dies in § 52 Abs. 3 der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung (StVZO) geregelt. Hier berechtigt die Nr. 4 dieses Absatzes ausdrücklich, Fahrzeuge des Rettungsdienstes, die für Krankentransport oder Notfallrettung eingesetzt sind, mit den entsprechenden Vorrichtungen auszustatten. Gleiches gilt für Fahrzeuge und Anhänger der Feuerwehr (Nr. 2 in § 52 Abs. 3 StVZO). Für das Einsatzhorn findet sich eine solche Regelung in § 55 Abs. 3 StVZO, diese bezieht sich jedoch auf die Vorschrift für das Blaulicht. Folglich sind Rettungsdienstfahrzeuge berechtigt, Vorrichtungen für Blaulicht und Einsatzhorn zu besitzen, und damit die Wegerechte zu begründen. Kennzeichnung Im Gegensatz zu Sonderrechten ist es nach § 38 StVO notwendig, dass die Inanspruchnahme von Wegerechten durch Blaulicht und Einsatzhorn gekennzeichnet ist. Nur mit entsprechender Kennzeichnung haben die übrigen Verkehrsteilnehmer*innen dem Einsatzfahrzeug Vorfahrt zu gewähren und „sofort freie Bahn zu schaffen“. Die Wegerechte gelten dabei nur, wenn Blaulicht und Einsatzhorn zusammen verwendet werden. Es reicht nicht aus, wenn nur eines der beiden Elemente eingeschaltet ist, z. B. nur das Blaulicht.

M e r ke Nur Blaulicht zusammen mit dem Einsatzhorn gewährt die Wegerechte. Das Blaulicht kann nach § 38 Abs. 2 StVO allein verwendet werden, wenn es zur Warnung an Unfall- oder Einsatzstellen oder auch bei Einsatzfahrten genutzt wird. Es ist also durchaus möglich, auch während einer Einsatzfahrt nur das Blaulicht einzuschalten, um andere Verkehrsteilnehmer*innen darauf hinzuweisen, dass sich das Fahrzeug auf einer Einsatzfahrt befindet und z. B. Sonderrechte nutzt. Blaulicht allein begründet gegenüber anderen Personen im Straßenverkehr aber noch keine Wegerechte, wonach dem Fahrzeug freie Bahn zu schaffen ist. Andere Verkehrsteilnehmer*innen müssen demnach auch nicht damit rechnen, dass Einsatzfahrzeuge, die nur Blaulicht eingeschaltet haben, einen Vorrang anstreben, z. B. an einer roten Ampel. M e r ke Blaulicht allein gewährt keine Wegerechte. Im Interesse der Verkehrssicherheit kann es jedoch während der Fahrt als Warnzeichen eingesetzt werden und mahnt die übrigen Verkehrsteilnehmer*innen zur Vorsicht. Gelbes Blinklicht warnt vor Gefahren. Die Verwendung ist nur zulässig, um vor Arbeits- oder Unfallstellen, vor ungewöhnlich langsam fahrenden Fahrzeugen oder vor Fahrzeugen mit ungewöhnlicher Breite oder Länge oder mit ungewöhnlich breiter oder langer Ladung zu warnen. Dies betrifft vornehmlich Fahrzeuge, die nicht dem Rettungswesen angehören. Voraussetzungen und Entscheidung Die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Wegerechten ähneln denen der Sonderrechte. Nach § 38 Abs. 1 StVO muss für eine rechtmäßige Inanspruchnahme von Wegerechten höchste Eile geboten sein, um • Menschenleben zu retten, • schwere gesundheitliche Schäden abzuwenden, • eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung abzuwenden, • flüchtige Personen zu verfolgen oder • bedeutende Sachwerte zu erhalten.

Aus dem Aufgabenbereich des Rettungsdienstes kommen als Voraussetzungen ausschließlich das zu rettende Menschenleben und das Abwenden schwerer Gesundheitsschäden in Betracht. Der Aufgabenkreis der Feuerwehr erfasst darüber hinaus die Abwendung von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung sowie die Erhaltung bedeutender Sachwerte. Die Entscheidung zur Nutzung von Wegerechten liegt wie bei den Sonderrechten grds. bei der Fahrzeugführer*in. Es gilt aber auch hier, dass sich diese auf die Vorabbewertungen und medizinischen Einschätzungen anderer Personen (z. B. Leitstellendisponent*in oder Transportführer*in) verlassen darf. Werden die Wegerechte unrechtmäßig, also ohne das Bestehen der erforderlichen Voraussetzungen, genutzt, handelt es sich dabei um eine Ordnungswidrigkeit (§ 49 Abs. 4 Nr. 3 Var. 1 StVO). Wegerechte im Rettungseinsatz Da Wegerechte nur in Kombination mit Sonderrechten verwendet werden dürfen, gelten insoweit auch die Besonderheiten für deren Inanspruchnahme im Rettungseinsatz. Während einer Einsatzfahrt muss die Fahrzeugführer*in situativ entscheiden, wann Wegerechte zu den ohnehin genutzten Sonderrechten „dazugeschaltet“ werden. Hierbei ist es zunächst üblich, dass jedenfalls das Blaulicht während der gesamten Einsatzfahrt eingeschaltet ist. Allerdings gewährt Blaulicht allein kein Wegerecht. Vielmehr dient das Blaulicht als Warnsignal, um die Sonderrechte kenntlich zu machen. Erst wenn zusätzlich das Einsatzhorn eingeschaltet wird, ist die Privilegierung durch Sonder- und Wegerechte vollständig. Um Wegerechte in Anspruch zu nehmen und gegenüber dem übrigen Verkehr ausreichend kenntlich zu machen, ist es nötig, dies früh genug anzuzeigen. Eine klare zeitliche Vorgabe hierzu gibt es nicht. Es muss sichergestellt werden, dass die übrigen Verkehrsteilnehmer*innen die Möglichkeit haben, auf die Signale zu reagieren und ihren Fahrstil entsprechend anzupassen. Dabei spielen die Umstände und die Verkehrssituation eine wesentliche Rolle, z. B. wie übersichtlich die Verkehrsverhältnisse sind oder mit welcher Geschwindigkeit der Verkehr fließt. In einigen Gerichtsentscheidungen [1] wurde das Einschalten des Einsatzhorns acht bis zehn Sekunden vor Einfahrt in eine übersichtliche Kreuzung als rechtzeitig beurteilt (dies entspricht ca. drei Tonfolgen eines Einsatzhorns). Dabei handelt es sich allerdings um Einzelfallentscheidungen, die allenfalls als exemplarische Beispiele, nicht jedoch als Richtwert verstanden werden dürfen. Die Überquerung einer

Kreuzung darf auf keinen Fall zu einer Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer*innen führen. Auch muss jederzeit damit gerechnet werden, dass Blaulicht und Einsatzhorn nicht wahrgenommen werden. M e r ke Wegerechte müssen rechtzeitig vor der eigentlichen Inanspruchnahme kenntlich gemacht werden. Hierbei kommt es immer auf die jeweilige Verkehrssituation an. Die Vorgaben zum Wegerecht gelten bei Tag und bei Nacht. Es ist also auch nachts erforderlich, das Einsatzhorn einzuschalten, um Wegerechte zu beanspruchen. Dass dies möglicherweise von Dritten als störend empfunden wird, spielt dabei keine Rolle. Wird das Wegerecht nicht ausreichend gekennzeichnet, z. B. wenn nur das Blaulicht, nicht aber das Einsatzhorn eingeschaltet ist, sind Personen im Straßenverkehr nicht grds. verpflichtet, dem Einsatzfahrzeug Vorrang zu gewähren. Kommt es nun zu einem Unfall mit einer vorfahrtsberechtigten Verkehrsteilnehmer*in, hat das Einsatzfahrzeug trotz Sonderrechten die Vorfahrtsregelung nicht ausreichend beachtet. Dies führt zu einer starken Verschiebung der Schuld und letztlich auch der Haftung in Richtung Fahrer*in des Einsatzfahrzeugs. Praxis tip p Am sichersten ist es, während der gesamten Fahrt Blaulicht und Einsatzhorn eingeschaltet zu lassen. Möchte man den Einsatz des Horns reduzieren und es nur nach Bedarf einschalten, muss dies bereits ausreichend lang vor Inanspruchnahme des eigentlichen Wegerechts erfolgen. Innerorts, bei unübersichtlichen Verkehrsverhältnissen und bei vergleichsweise hohen Geschwindigkeiten ist es ratsam, Blaulicht und Einsatzhorn eingeschaltet zu lassen. A chtu ng Es muss immer mit ungewöhnlichen Reaktionen anderer Verkehrsteilnehmer*innen gerechnet werden.

11.3.3 Gegenüberstellung Sonder- und Wegerechte

Der Unterschied zwischen Sonder- und Wegerechten ergibt sich aus den unterschiedlichen Rechtsfolgen für die Fahrer*innen der Einsatzfahrzeuge und den übrigen Verkehrsteilnehmer*innen. § 35 und § 38 StVO greifen dabei in zwei gänzlich verschiedene Rechtsbeziehungen ein. Die Sonderrechte befreien die Fahrzeugführer*in eines Einsatzfahrzeugs von durch den Staat aufgestellten Verkehrsregeln. Dabei verzichtet der Staat auf einen etwaigen Sanktionierungsanspruch wegen der nicht beachteten Vorschriften. Die Regelungen zu Sonderrechten greifen folglich in die Rechtsbeziehung zwischen Fahrzeugführer*in und Staat ein. Die Wegerechte hingegen privilegieren die Fahrzeugführer*in eines Einsatzfahrzeugs gegenüber den übrigen Verkehrsteilnehmer*innen. Diese müssen „freie Bahn schaffen“. Die Regelungen zu Wegerechten greifen also in die Rechtsbeziehung zwischen Fahrzeugführer*in und Verkehrsteilnehmer*innen ein. Dies ist schematisch in › Abb. 11.2 dargestellt.

ABB. 11.2 Darstellung Sonder- und Wegerechte [L157] Diese Unterscheidung ist notwendig, da nur so auf die verschiedenen rechtlichen Besonderheiten eingegangen und den vielfältigen Einsatzsituationen der Rettungskräfte Rechnung getragen werden kann. Eine Gegenüberstellung von Sonder- und Wegerechten ist in › Tab. 11.1 dargestellt.

Tab. 11.1 Gegenüberstellung von Sonder- und Wegerechten von Feuerwehr und Rettungsdienst Sonderrechte (§ 35 StVO) Berechtigung für die Inanspruchnahme

Gem. § 35 Abs. 1

Wegerechte (§ 38 StVO) Fahrzeugführer*innen eines

StVO:

Fahrzeugs, das nach § 52

Personen, die den Institutionen

Abs. 3 StVZO mit Blaulicht und nach § 55 Abs. 3

Feuerwehr,

StVZO mit einem

Katastrophenschutz, Bundespolizei,

Einsatzhorn ausgerüstet ist

Bundeswehr oder Zolldienst angehören

Gem. § 35 Abs. 5a StVO:

Fahrzeuge des Rettungsdienstes

Voraussetzungen

Sonderrechte (§ 35 StVO)

Wegerechte (§ 38 StVO)

Für die Feuerwehr:

Für die Feuerwehr:

Für die Inanspruchnahme

Für die Inanspruchnahme muss höchste Eile geboten

muss die Erfüllung

sein, um eine Gefahr für

hoheitlicher Aufgaben dringend

die öffentliche Sicherheit oder Ordnung

geboten sein

Für den

abzuwenden oder bedeutende Sachwerte zu

Rettungsdienst:

erhalten.

Für die

Für den

Inanspruchnahme

Rettungsdienst:

muss höchste Eile

Für die Inanspruchnahme

geboten sein, um

muss höchste Eile geboten

Menschenleben zu retten oder schwere

sein, um Menschenleben zu retten oder schwere

gesundheitliche

gesundheitliche Schäden

Schäden

abzuwenden.

abzuwenden Notwendige

Keine

Kennzeichnung Rechtsfolge

Blaulicht und Einsatzhorn (zusammen!)

Bei Inanspruchnahme

Bei Inanspruchnahme kann

müssen die

freie Bahn gefordert

Vorschriften der

werden; andere

StVO nicht mehr

Verkehrsteilnehmer*innen

beachtet werden;

müssen sofort freie Bahn

dies allerdings im Rahmen des § 35

schaffen und auf etwaige Vorfahrtsrechte verzichten

Abs. 8 StVO (Verhältnismäßigkeit und besondere Sorgfalt)

Wichtige Besonderheiten

Sonderrechte (§ 35 StVO)

Wegerechte (§ 38 StVO)

Sonderrechte dürfen

Ein Wegerecht besteht nur bei

nur unter der

kumulativem Einsatz von

Beachtung

Blaulicht und Einsatzhorn;

größtmöglicher

ein Wegerecht begründet

Sorgfalt in Anspruch genommen werden;

dabei kein allgemeines Vorrangrecht; es muss

jeder Verstoß muss

stets geprüft werden, ob

individuell

der übrige Verkehr

abgewogen werden

tatsächlich auf den

und im Sinne des §

Vorrang verzichtet

38 Abs. 8 StVO verhältnismäßig sein

11.4 Unfälle mit Sonder- und Wegerechten Bei eiligen Fahrten zur Einsatzstelle besteht ein erhöhtes Unfallrisiko. Kommt es zu einem Unfall, stehen v. a. die Fragen im Raum, ob die Anfahrt abgebrochen oder fortgeführt werden muss und wer Schuld hat bzw. wer für Schäden haften muss.

11.4.1 Unfallstelle Kreuzung Die Ursachen für Verkehrsunfälle auf Einsatzfahrten sind unterschiedlich. Allerdings kann festgehalten werden, dass ca. 60 % der Unfälle auf Fehler der Fahrzeugführer*innen von Einsatzfahrzeugen zurückzuführen sind. Die mit Abstand häufigste Unfallstelle dabei sind Kreuzungen, konkreter: Kreuzungen innerhalb geschlossener Ortschaften (innerorts). Das Überqueren von Kreuzungen während der Einsatzfahrten ist ein Risikoschwerpunkt. Kreuzungen sind oft unübersichtlich, häufig mit unterschiedlichen Vorfahrtsregelungen versehen (Ampel, Stoppschild, Vorfahrtsschilder) und gerade bei notfallmäßigen Einsatzfahrten prädestiniert für Missverständnisse. Für die Fahrer*innen von Einsatzfahrzeugen bedeutet dies, dass sie gerade hier besonders achtsam und nur mit größtmöglicher Sorgfalt fahren müssen. Leider kommt es trotz Sorgfaltsgebot immer wieder zu Verkehrsunfällen mit Einsatzfahrzeugen, und immer wieder landen solche Fälle vor Gericht. Aus der

Rechtsprechung zu diesen Fällen lassen sich einige wichtige Punkte ableiten, die beim Einfahren in eine Kreuzung mit Sonder- und Wegerechten berücksichtigt werden müssen: • Die rechtmäßige Inanspruchnahme von Sonder- und Wegerechten entbindet nicht vom allgemeinen Gebot der Rücksichtnahme auf die öffentliche Sicherheit und Ordnung; die Sorgfaltspflicht ist dadurch nur größer. Das gilt insb. beim Überfahren von roten Ampeln. • Blaulicht ohne Einsatzhorn begründet auch bei Kreuzungen kein automatisches Recht auf Vorrang. • Die Sondersignale müssen rechtzeitig vor Einfahren in den Kreuzungsbereich eingeschaltet werden, dies gilt insb. für das Einsatzhorn. • Auch Sonder- und Wegerechte begründen kein absolutes Vorfahrtsrecht. Vielmehr muss beim Einfahren in eine Kreuzung geprüft werden, ob der übrige Verkehr die Sondersignale wahrnimmt und die Vorfahrt gewährt. • Beim Einfahren in eine Kreuzung unter Inanspruchnahme von Sonder- und Wegerechten sind Fahrer*innen von Einsatzfahrzeugen dazu verpflichtet, sich langsam in die Kreuzung hineinzutasten und sorgfältig zu beobachten, ob alle anderen Verkehrsteilnehmer*innen die Signale beachten. Hierbei gilt es, alle Fahrspuren zu berücksichtigen. • Es darf nie blind darauf vertraut werden, dass der übrige Verkehr die Sondersignale wahrnimmt. Vielmehr muss sich darüber stets vergewissert werden (Vergewisserungspflicht). Das gilt insb. beim Überfahren von roten Ampeln. • Die Fahrer*innen von Einsatzfahrzeugen können gerade im Bereich von Kreuzungen nicht erwarten und sich darauf verlassen, dass die Verkehrsteilnehmer*innen sich beim Erkennen der Sondersignale sofort richtig verhalten. • Bei unübersichtlichen Kreuzungen ist beim Herantasten Schrittgeschwindigkeit angebracht. Daraus ergibt sich, dass beim Überqueren von Kreuzungen eine ganze Menge beachtet werden muss. Viele dieser Punkte lassen sich auch auf andere Verkehrssituationen übertragen. Die vielen Besonderheiten, die für Einsatzfahrten und v. a. an Kreuzungen gelten, verlangen von den Fahrzeugführer*innen ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit und Konzentration. Auch vermeintlich

überschaubare Verkehrssituationen dürfen daher nie unterschätzt werden. Am zweithäufigsten passieren Unfälle bei Einsatzfahrten auf gerader Strecke. Etwa ein Drittel der Verkehrsunfälle findet zudem nachts statt. Folglich muss gerade bei Schlafmangel oder anderen Konzentrationsdefiziten den Risiken auf Einsatzfahrten besondere Beachtung geschenkt werden. Praxis tip p • Rechtzeitig vor Einfahrt in die Kreuzung Blaulicht und Einsatzhorn einschalten! • Angemessen langsam an die Kreuzung heranfahren! • Unter größtmöglicher Sorgfalt und mit angepasstem Tempo in die Kreuzung hineinfahren, ggf. nur mit Schrittgeschwindigkeit! • Den übrigen Verkehr beobachten und vergewissern, dass alle die Sondersignale wahrnehmen und dem Einsatzfahrzeug Vorrang gewähren! • Erst nach der Vergewisserung die Kreuzung überqueren!

11.4.2 Verhalten bei Unfällen auf Einsatzfahrten In Rettungsdienst und Notfallmedizin ergibt sich bei Verkehrsunfällen die Besonderheit, dass bei einigen Fahrten nicht einfach angehalten werden kann. Dies betrifft Alarmfahrten zu einer Einsatzstelle sowie eilige Patiententransporte. Es entstehen v. a. dann Unsicherheiten, wenn Unfälle unter der Inanspruchnahme von Sonder- und Wegerechten passieren, da hier schon aus den Voraussetzungen der Inanspruchnahme hervorgeht, dass höchste Eile geboten ist, ans Ziel zu gelangen. Grundsätzlich gibt die StVO (§ 34) vor, dass Unfallbeteiligte u. a. unverzüglich anhalten und Personalien austauschen müssen. Wenn jedoch rechtmäßig Sonderrechte in Anspruch genommen werden, sind diese Fahrzeuge von den Vorschriften der StVO und damit auch von den Vorgaben aus § 34 StVO befreit. Insoweit besteht keine Pflicht zum Anhalten. Allerdings befreit das Sonderrecht nicht von strafrechtlichen Vorschriften. Nach § 142 StGB wird strafrechtlich sanktioniert, wenn sich jemand unerlaubt vom Unfallort entfernt. Diese Vorschrift hat auch bei Unfällen auf Einsatzfahrten mit Sonder- und Wegerechten weiterhin Gültigkeit. Nach den allgemeinen Regeln des Strafrechts besteht jedoch die Möglichkeit, dass jemand, der einen Straftatbestand verwirklicht,

am Ende trotzdem nicht strafbar ist (› Kap. 7.3). Bei Unfällen auf einer Einsatzfahrt kommt der rechtfertigende Notstand gem. § 34 StGB in Betracht (› Kap. 7.3.3). Dieser greift z. B. bei einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben. Bei Fahrten zur Einsatzstelle mit Sonderrechten sowie Patiententransporten mit Sonderrechten kann von einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben ausgegangen werden. Nun kommt es auf die Abwägung der Interessen an. Sofern es nicht zu einem Personenschaden gekommen ist, steht dabei auf der einen Seite das Interesse der unfallbeteiligten Person an der Aufnahme der Unfalldaten zur etwaigen Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche (z. B. Schadensersatz). Auf der anderen Seite steht die Gesundheits- oder gar Lebensgefährdung einer Patient*in, die überhaupt erst die Sonder- und Wegerechtsfahrt legitimiert. Hier wiegen das Leben und die Gesundheit schwerer als das Feststellungsinteresse. Demnach wäre es i. d. R. gerechtfertigt, wenn sich ein Einsatzfahrzeug auf einer „Alarmfahrt“ von einem Unfallort entfernt. Allerdings muss vorab die Lage am Unfallort geprüft werden; hierzu ist es notwendig, zumindest einmal kurz anzuhalten und die Situation zu erfassen. Zudem ist eine Abstimmung mit der Rettungsleitstelle erforderlich. Eine sofortige Weiterfahrt kann nur dann erwogen werden, wenn eine akut lebensbedrohliche Situation für die Patient*in vorliegt (z. B. eine laufende Reanimation). Wird nun entschieden, die Fahrt fortzusetzen, muss trotzdem unverzüglich die Polizei über den Unfall informiert werden. Zudem muss die Besatzung, insb. die Fahrzeugführer*in, unmittelbar nach Einsatzende zur zuständigen Polizeidienststelle fahren und dort die notwendigen Angaben machen. Praxis tip p Auch wenn es im Einzelfall gerechtfertigt sein sollte, sich auf einer Einsatzfahrt bei einem Unfall ohne Personenschaden vom Einsatzort zu entfernen, ist es zwingend notwendig, dass die Polizei informiert wird. Hierzu empfiehlt es sich, schon unmittelbar nach dem Unfall per Funk die Rettungsleitstelle zu informieren und darum zu bitten, die zuständige Polizeileitstelle in Kenntnis zu setzen. Nachdem der Einsatz abgeschlossen ist, ist es ratsam, sich direkt zum Unfallort bzw. zur Polizei zu begeben. Kommt es durch einen Unfall auf einer Einsatzfahrt zu einem Personenschaden, kann sich die Lage jedoch ändern. Je nach Schwere der Verletzungen, die die unfallbeteiligten Personen erlitten haben, kann es hier

erforderlich sein, die Einsatzfahrt abzubrechen. Zum einen verändern sich dabei die gegenüberstehenden Interessen dahingehend, dass nun auch vor Ort Leib und Leben in Gefahr sind und das Rettungsfahrzeug nun unmittelbar helfen kann, während die Patient*in im Patientenraum auch Hilfe durch ein anderes Rettungsmittel erhalten kann. Zum anderen besteht u. U. für die Fahrzeugführer*in eine besondere Pflicht zu helfen (Garantenpflicht aus gefährlichem Vorverhalten/Ingerenz). Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn die Fahrzeugführer*in (mit)schuldig an dem Unfallgeschehen ist. Dies ist im Rahmen von rasanten Einsatzfahrten selten ganz auszuschließen. Bei Unfällen mit Personenschaden steht also neben einer Strafbarkeit wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort (§ 142 StGB) auch eine Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung (§ 323c StGB) oder gar Tun durch Unterlassen (§ 13 StGB) im Raum (› Kap. 7.2.3). Eine differenzierte Empfehlung zum Verhalten am Unfallort findet sich in› Abb. 11.3.

ABB. 11.3 Verhalten am Unfallort [L157]

Praxis tip p Bei jedem Verkehrsunfall ist zunächst anzuhalten und zu prüfen, ob Personen geschädigt sind. Zum weiteren Vorgehen ist die Leitstelle zu kontaktieren und eine gemeinsame Abstimmung zum weiteren Vorgehen erforderlich. Kommt es auf einer Einsatzfahrt mit Sonder- und Wegerechten zu einem Unfall, bei dem Personen zu Schaden gekommen sind, ist die Einsatzfahrt i. d. R. abzubrechen.

Bei Unfällen ohne Personenschaden kann erwogen werden, die Einsatzfahrt fortzusetzen.

11.4.3 Haftung bei Unfällen Die Haftung in Bezug auf Unfälle im Straßenverkehr ist im StVG geregelt. Dabei trifft das StVG eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen Halterhaftung und Fahrerhaftung. Die Halterhaftung (§ 7 StVG) ist verschuldensunabhängig und lässt die Halter*in eines Fahrzeugs stets für die durch das Fahrzeug verursachten Schäden haften. Damit wird der durch ein Fahrzeug allgemein bestehenden Gefahr (Betriebsgefahr) Rechnung getragen. Die Halterhaftung ist nur dann ausgeschlossen, wenn der Schaden durch höhere Gewalt oder durch ein unabwendbares Ereignis entstanden ist. An die Unabwendbarkeit eines Ereignisses werden dabei sehr hohe Anforderungen gestellt. So ist bei einem Unfall mit mindestens zwei Beteiligten das Ereignis aus Sicht der Halter*in nur dann unabwendbar, wenn sowohl die Halter*in als auch die Fahrer*in des Fahrzeugs jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beachtet haben. Dies ist erfahrungsgemäß sehr selten der Fall; selbst dann, wenn die Fahrer*in eines Fahrzeugs glaubt, sorgfältig gehandelt zu haben. Die Fahrerhaftung (§ 18 StVG) ist die verschuldensabhängige Haftung der Fahrzeugführer*in. Hierbei wird das Verhalten der Fahrer*in des Fahrzeugs betrachtet und etwaigen Sorgfaltspflichtverletzungen im Straßenverkehr Rechnung getragen. Hat sich die Fahrzeugführer*in sorgfaltswidrig verhalten, greift hier die Fahrerhaftung. Diese trifft die jeweilige Fahrer*in persönlich. Sind Halter*in und Fahrer*in zwei unterschiedliche Personen, so wie es im Rettungsdienst üblich ist, haften beide zusammen als sog. Gesamtschuldner. Als Gesamtschuldner können alle Schuldner, hier Fahrer*in und Halter*in, herangezogen werden und müssen etwaigen Forderungen (z. B. Schadensersatz) nachkommen. Kommt es zu einem Unfall zwischen Einsatzfahrzeug und einer anderen Verkehrsteilnehmer*in, stellt sich die Frage, wer für etwaig auftretende Schäden haften muss. Der jeweilige Umfang der Haftung hängt dabei grds. davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von der einen oder der anderen unfallbeteiligten Person verursacht wurde (§ 17 StVG). Es kommt darauf an, welchen Beitrag die jeweilige Fahrer*in zu dem Verkehrsunfall geleistet hat. Diese Verursachungsbeiträge sind zu ermitteln und gegeneinander abzuwägen. Bei der Bewertung des Verursachungsbeitrags (Haftungsabwägung) sind die

• Sorgfaltspflichtverletzung • und die Betriebsgefahr von entscheidender Bedeutung. Die Betriebsgefahr meint dabei, die Summe aller Gefahren, die in einer konkreten Unfallsituation von dem jeweiligen Fahrzeug ausgehen und sich auf den Unfall ausgewirkt haben. Eine solche Betriebsgefahr geht allgemein von allen Fahrzeugen im Straßenverkehr aus (allgemeine Betriebsgefahr). Sie bestimmt sich v. a. durch Schäden, die Dritten durch das Fahrzeug drohen. Dabei kann die Betriebsgefahr eines Fahrzeugs durch bestimmte Situationen oder besondere Umstände erhöht werden. So steigert sich die Betriebsgefahr z. B. durch gefahrträchtige Fahrmanöver, Regelverstöße oder sonst fehlerhaftes Verhalten. Zudem wird sie für bestimmte Fahrzeugtypen prinzipiell höher bewertet. So geht z. B. von besonders großen Fahrzeugen wie LKW eine erhöhte Betriebsgefahr aus. Für Einsatzfahrten lässt sich festhalten, dass durch die Inanspruchnahme von Sonderrechten und die damit einhergehenden Verstöße gegen die StVO die Unfallgefahr und damit auch die Betriebsgefahr grds. erhöht wird. Diese gesteigerte Betriebsgefahr kann im Rahmen einer Haftungsabwägung aufgrund der Legitimation durch § 35 Abs. 1 oder 5a StVO grds. wieder an Bedeutung verlieren. Dies ist allerdings nur so weit der Fall, wie die Maßgabe des § 35 Abs. 8 StVO berücksichtigt wurde, wenn also das konkrete Fahrmanöver dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entspricht und mit angemessener Sorgfalt durchgeführt wurde. Eine erhöhte Betriebsgefahr entsteht bei notfallmäßigen Einsatzfahrten z. B. durch das Befahren einer falschen Fahrspur, das Überfahren einer roten Ampel oder das Fahren mit überhöhter Geschwindigkeit. Passiert in solchen Situationen ein Unfall, kommt es im Rahmen einer Haftungsabwägung für die Gewichtung dieser gesteigerten Betriebsgefahr maßgeblich darauf an, ob der konkrete Regelverstoß verhältnismäßig war und dabei die notwendige Sorgfalt eingehalten worden ist (§ 35 Abs. 8 StVO). Daneben ist für eine Abwägung in solchen Fällen insb. auch relevant, wie sich die anderen am Unfall beteiligten Personen verhalten haben. So fällt z. B. eine Missachtung des § 38 Abs. 1 StVO (Pflicht, freie Bahn zu schaffen) besonders ins Gewicht und überwiegt womöglich gegenüber der gesteigerten Betriebsgefahr des Einsatzfahrzeugs.

Insgesamt bedeutet eine erhöhte Betriebsgefahr auch immer ein größeres Risiko für andere Verkehrsteilnehmer*innen. Daraus ergibt sich, dass während einer „Alarmfahrt“ auch stets eine höhere Sorgfaltspflicht erwartet wird. Letztlich ist maßgeblich, wer die Gefahr, die sich im Unfall verwirklicht hat, zu welchen Teilen zu verantworten hat. Bei gleichem Verschulden hängt die Haftung u. U. von der Betriebsgefahr der jeweiligen Fahrzeuge ab. M e r ke Beim Fahren mit Sonder- und Wegerechten erhöht sich regelmäßig die Betriebsgefahr des Einsatzfahrzeugs. Verwirklicht sich diese Gefahr in einem Unfall, kommt es für eine etwaige Haftung des Rettungsdienstes maßgeblich darauf an, ob das Fahrmanöver verhältnismäßig war und ob die notwendige Sorgfalt eingehalten wurde (= Maßgabe des § 35 Abs. 8 StVO). Sind diese Voraussetzungen jedoch erfüllt, verliert die durch die Inanspruchnahme der Sonderrechte erhöhte Betriebsgefahr bei der Haftungsfrage massiv an Gewicht (dann Legitimation durch § 35 Abs. 1 oder 5a StVO). A chtu ng Bei Unfällen kann sich die erhöhte Betriebsgefahr von Einsatzfahrzeugen negativ auf die Haftungsverteilung auswirken, wenn sie nicht vollständig nach § 35 StVO legitimiert ist. Bei der Bewertung einer Haftungsverteilung werden regelmäßig sog. Haftungsquoten festgelegt, wonach die Haftung prozentual auf die Beteiligten aufgeteilt wird. Die Aufteilung ist abhängig von der Schuld bzw. Mitschuld, die eine beteiligte Person am Unfall hatte. R e cht in e c h t (Fall 11.2) Notfallsanitäter Fabian befindet sich auf einer notfallmäßigen Einsatzfahrt mit dem RTW. Das Blaulicht hat er bereits angestellt und als er auf eine Kreuzung zufährt, schaltet er ca. 500 Meter (ca. 18 Sekunden) vor Einfahrt in die Kreuzung das Einsatzhorn an. Fabian befindet sich dabei auf einer nicht vorfahrtsberechtigten Straße und muss grds. die Vorfahrt der querenden Straße beachten. Dessen ist sich Fabian auch bewusst; er verringert seine Geschwindigkeit und verschafft sich einen Überblick über die Kreuzung. Da Fabian links abbiegen möchte, setzt er zudem frühzeitig den Blinker nach links. Allerdings

ist die vorgesehene Linksabbiegerspur voll mit Autos, sodass Fabian mit eingeschalteten Sondersignalen auf der Geradeausspur zum Linksabbiegen ansetzt. Von rechts kommt nun Rentner Jürgen mit seinem privaten PKW angefahren. Er befindet sich auf der grds. vorfahrtsberechtigten Straße und möchte die Kreuzung nach geradeaus überqueren. Er hört und sieht das von der linken Seite herannahende Einsatzfahrzeug und verringert seine Geschwindigkeit. Als er an der Schwelle zur Kreuzung ist, verkennt er jedoch, dass das Einsatzfahrzeug nach links blinkt und zum Linksabbiegen ansetzt. Jürgen schaut lediglich nach rechts und geradeaus, ob er freie Bahn hat, und beschleunigt dann wieder, um die Kreuzung zu überqueren, obwohl alle übrigen Fahrzeuge stehengeblieben sind. Zu diesem Zeitpunkt ist auch Fabian bereits in die Kreuzung eingefahren und sieht nun, dass Jürgens PKW wider Erwarten die Kreuzung überqueren will. Fabian hat seine Geschwindigkeit dabei so weit reduziert, dass er sofort reagieren kann und das Einsatzfahrzeug mit einer Vollbremsung zum Stehen bringt. Dennoch fährt Jürgen, der das Einsatzfahrzeug weiterhin leichtfertig nicht beachtet hat, in den Rettungswagen hinein. Hier trifft Jürgen volles Verschulden und die Haftungsquote wird bei 100 % zu seinen Lasten festgelegt. Er ist seiner Pflicht, freie Bahn zu schaffen, nicht nachgekommen, obwohl Fabian schon weit vor der Kreuzung auf sein Wegerecht aufmerksam gemacht hat. Auch hat Jürgen das Einsatzfahrzeug wahrgenommen und sogar schon reagiert, ist jedoch leichtfertig weitergefahren. Die Möglichkeit vorherzusehen, dass das Einsatzfahrzeug bei gesetztem Blinker abbiegen wird, hat Jürgen völlig ignoriert. Auf der Seite von Fabian muss festgehalten werden, dass durch die Benutzung der falschen Spur beim Abbiegen eine erhöhte Betriebsgefahr vom RTW ausging. Durch die Beachtung der notwendigen Sorgfalt und die Möglichkeit des Stehenbleibens im Rahmen der Vollbremsung wurde diese jedoch wieder reduziert. Des Weiteren tritt die übrige Betriebsgefahr hinter dem Verschulden von Jürgen zurück. [2] (Fall 11.3) Notfallsanitäterin Marie befindet sich auf einer Einsatzfahrt. Sie fährt mit eingeschaltetem Blaulicht und Einsatzhorn auf eine Kreuzung zu, an der sich eine Ampel befindet; für Marie zeigt die Ampel rot. Da es sich um einen dringenden Einsatz handelt, beabsichtigt Marie, über die rote Ampel zu fahren und vertraut darauf, dass ihr freie Bahn geschaffen wird. Um keine Zeit zu verlieren, hält sie es allerdings nicht für nötig, die Geschwindigkeit zu reduzieren und fährt

mit ca. 65 km/h in die Kreuzung ein. Es kommt zu einem Zusammenstoß mit einem vorfahrtsberechtigten PKW des Querverkehrs. Hier hat Marie ihre Sorgfaltspflicht grob vernachlässigt und die öffentliche Sicherheit und Ordnung nicht berücksichtigt. Das Überfahren einer roten Ampel mit derart überhöhter Geschwindigkeit ist in hohem Maße unverhältnismäßig. Marie trifft hier die volle Schuld, und die Haftungsquote wird bei 100 % zu ihren Lasten festgelegt. [3] (Fall 11.4) Rettungssanitäter Till fährt auf einer Einsatzfahrt mit eingeschaltetem Blaulicht und Einsatzhorn auf eine unübersichtliche Kreuzung zu. An der Kreuzung befindet sich eine Ampel, die für Till rot anzeigt. Vor der Einfahrt in die Kreuzung bremst Till ab, allerdings reduziert er seine Geschwindigkeit nicht so weit, dass er sofort anhalten könnte. Er vertraut darauf, dass der übrige Verkehr ihn schon höre. Pflegefachfrau Merle ist auf dem Weg zur Arbeit und steht an der Ampel, die jedoch gerade grün wird. Merle ist etwas unaufmerksam und ein großer Bus versperrt ihr die Sicht auf den Querverkehr. Sie vertraut darauf, dass sie ihre Vorfahrt wahrnehmen kann und fährt los. Erst jetzt hört sie das Einsatzhorn, doch noch bevor sie reagieren kann, kommt es zu einem Zusammenstoß zwischen Merles PKW und dem Einsatzfahrzeug von Till. Till konnte aufgrund seiner Geschwindigkeit nicht mehr rechtzeitig bremsen. Hier trifft beide ein Verschulden. Till ist trotz Sonder- und Wegerechte zu schnell in die Kreuzung eingefahren, um auf den etwaigen Querverkehr zu reagieren. Merle hätte aufmerksamer sein müssen, sodass sie das Einsatzfahrzeug früher hätte hören können. Vorliegend wird eine Haftungsquote von 60 % zulasten von Till und 40 % zulasten von Merle festgelegt. [4] A chtu ng Bei der Durchsicht von Gerichtsurteilen zu Unfällen auf notfallmäßigen Einsatzfahrten fällt auf, dass nur in seltenen Fällen die Fahrer*innen der Einsatzfahrzeuge gänzlich „unschuldig“ sind. Regelmäßig wird ihnen wenigstens eine Mitschuld am Unfall zugesprochen, weil sie nicht ausreichend sorgfältig gefahren sind und/oder unverhältnismäßige Verstöße begangen haben.

11.5 NEF-Begleitung bei Einsatzfahrten Das Notarzteinsatzfahrzeug (NEF) ist dafür da, eine Notärzt*in und ggf. erweitertes Material zum Einsatzort zu bringen. Bleibt die Ärzt*in bei einer

Patient*in, ist ein gemeinsamer Transport nur im Patientenraum des Rettungswagens möglich. Das NEF fährt dann i. d. R. dem RTW hinterher und nimmt die Notärzt*in am Zielort wieder auf. Beansprucht nun der RTW auf der Fahrt ins Krankenhaus Sonder- und Wegerechte, stellt sich die Frage, ob gleichermaßen auch das begleitende NEF zu dieser Inanspruchnahme berechtigt ist. Einsatztaktisch lässt sich sicherlich argumentieren, dass es ein Vorteil wäre, wenn das NEF sich nahe dem RTW bewegt und am Krankenhaus früh wieder einsatzbereit ist. Allerdings ist für die Beantwortung dieser Frage einzig die gesetzliche Vorgabe nach §§ 35 und 38 StVO maßgebend. Nach dem Wortlaut der StVO kommt die Inanspruchnahme von Sonder- und Wegerechten nur dann infrage, wenn höchste Eile geboten ist, um Menschenleben zu retten oder schwere gesundheitliche Schäden abzuwenden. Dies ist bei der Begleitfahrt eines NEF zum Krankenhaus i. d. R. nicht der Fall. Für die Versorgung der Patient*in ist es schließlich unerheblich, wo sich das NEF aufhält und wann es am Krankenhaus eintrifft. Originäre Funktion des NEF ist das Zubringen der Notärzt*in für die Versorgung von Patient*innen an der Einsatzstelle und im RTW (Rendezvous-System); hierfür kommt die Inanspruchnahme von Sonder- und Wegerechten in Betracht. Diese Aufgabe ist erfüllt, sobald die Notärzt*in bei der Patient*in ist. Auffassungen, die vertreten, dass RTW und NEF grundsätzlich eine taktisch-funktionale Einheit seien, lassen sich anhand der StVO nicht ausreichend begründen. Die einzigen konkreten rechtlichen Vorgaben für die Inanspruchnahme von Sonder- und Wegerechten finden sich in §§ 35 und 38 StVO. Eine taktischfunktionelle Verbindung kann in besonderen Einsatzkonstellationen nur angenommen werden, wenn sich die Anwesenheit des NEF während der Fahrt als unverzichtbar darstellt. Dies kann aber nicht regelhaft angenommen werden. Eine solche besondere Einsatzkonstellation ergibt sich, wenn auf dem NEF Materialien oder Medikamente verladen sind, die möglicherweise für den aktuellen Notfall im RTW benötigt werden, aber nicht ohne Weiteres umgeräumt werden können. Hierbei gilt abzuwägen, ob das Verladen von Ausrüstung hinsichtlich des Umfangs sinnvoll und eine ausreichende Ladungssicherung möglich ist. Weiter darf ein Umladen nicht zu einer wesentlichen Verzögerung des Transports führen. In besonders kritischen Notfallsituationen kann zudem eine Begleitung des NEF auch mit Sonder- und Wegerechten rechtmäßig sein, wenn die Patientensituation derart bedrohlich und ungewiss ist, dass perspektivisch eine realistische Notwendigkeit besteht, dass der RTW spontan auf Ressourcen des NEF zurückgreifen muss. In

einem solchen Fall wurde sogar von einem Amtsgericht in einer (rechtlich durchaus fraglichen) Entscheidung die Rechtmäßigkeit einer NEF-Begleitfahrt mit Sonderund Wegerechten angenommen. Allerdings wurde auch hier betont, dass keine generelle Zulässigkeit von Begleitfahrten des NEF mit Sonder- und Wegerechten besteht. In solchen besonderen Fallkonstellationen kommt es folglich auf die Abwägung im Einzelfall an. Dabei ist insb. zu berücksichtigen, dass eine Begleitfahrt mit Sonderrechten ein hohes Unfallrisiko birgt. Zudem muss berücksichtigt werden, dass die Rechtslage zu dieser Frage aktuell noch nicht höchstrichterlich geklärt ist und es dazu unterschiedliche Auffassungen gibt. Aus Sicht der Verfasser ist ein restriktiver Umgang mit Sonder- und Wegerechten bei Begleitfahrten des NEF angebracht. Kommt es unvorhergesehen zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustands der Patient*in, welche die Inanspruchnahme von Ressourcen aus dem NEF erforderlich macht, kann das NEF Sonder- und Wegerechte in Anspruch nehmen, um den RTW einzuholen, wenn die Kriterien der §§ 35 und 38 StVO in der konkreten Situation vorliegen (höchste Eile ist geboten, um Menschenleben zu retten oder schwere gesundheitliche Schäden abzuwenden). Im Landesrettungsdienstgesetz NRW werden RTW und NEF an einer Stelle als „organisatorische Einheit“ beschrieben (§ 3 Abs. 2 Satz 3 RettG NRW). Hieraus lässt sich allerdings nicht ableiten, dass es NEF grds. gestattet ist, RTW mit Sonder- und Wegerechten zu begleiten. Vielmehr ergibt sich aus der Gesetzesbegründung zu diesem Passus, dass mit der Regelung des Rendezvous-Systems zwischen RTW und NEF, welches vor der Regelung schon lange praktiziert wurde, gesetzlich verankert werden sollte. Ein Bezug zum Verkehrsrecht, insb. zur Inanspruchnahme von Sonder- und Wegerechten, lässt sich aus dieser Begründung nicht entnehmen. Zudem wäre es höchst fraglich, inwieweit ein Landesgesetz eine Bundesverordnung außer Kraft setzen könnte. In den Rettungsdienstgesetzen der übrigen Länder gibt es eine solche Formulierung nicht. Möchte die Notärzt*in die Fahrer*in des NEF aus medizinischen oder persönlichen Gründen „in der Nähe“ haben, begründet dies auch kein Recht für die Begleitung mit Sonder- und Wegerechten. Vielmehr müsste im Zweifel das Personal innerhalb der Rettungsmittel derart wechseln, dass jemand anderes das NEF zum Krankenhaus fährt. M e r ke

Die Fahrer*in eines NEF darf grds. keine Sonder- und Wegerechte in Anspruch nehmen, wenn der RTW lediglich begleitet wird. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn das NEF vorausfährt, um die Straße zu „räumen“ oder Kreuzungen zu „sperren“. Das Vorausfahren und Räumen durch das NEF ist weder von § 35 noch von § 38 StVO erfasst und birgt in seiner Gesamtheit sogar mehr Risiken als einsatztaktischen Nutzen. Auch das Sperren von Straßenabschnitten oder Kreuzungen ist nicht zulässig. Neben der fraglichen „höchsten Eile“ und den erheblichen Verkehrsrisiken, die entstehen, ermächtigen §§ 35 und 38 StVO ausdrücklich nicht zum Durchführen verkehrsregelnder Maßnahmen. Folglich berechtigen auch derartige einsatztaktische Mitwirkungen eines NEF dieses nicht zur Inanspruchnahme von Sonder- und Wegerechten. Ebenfalls ist es bei einer Begleitfahrt zunächst unerheblich, wenn das NEF die Notärzt*in bei der Leitstelle als „abkömmlich“ gemeldet hat. Die Voraussetzungen der Sonderrechte erfordern die Gebotenheit höchster Eile in Bezug auf einen konkreten Notfall. Selbst wenn ein NEF hypothetisch einen anderen Einsatz übernehmen könnte, gibt es noch keinen konkreten Notfall, der die Inanspruchnahme begründen würde. Erst wenn es explizit zu einer Alarmierung kommt, kann die Verwendung der Sonder- und Wegerechte begründet werden. Praxis tip p Den Anweisungen einer Notärzt*in, das NEF solle auf jeden Fall mit Sonder- und Wegerechten begleiten, müssen und dürfen die Mitarbeitenden des Rettungsdienstes nicht nachkommen, wenn offensichtlich ist, dass die Voraussetzungen der §§ 35 und 38 StVO nicht vorliegen. Das Weisungsrecht einer Notärzt*in gegenüber dem rettungsdienstlichen Fachpersonal erstreckt sich lediglich auf medizinische Aspekte im Einsatz (› Kap. 4.2.7). Verkehrstechnisch trifft die Fahrzeugführer*in des NEF eigene Entscheidungen. Würde der Anweisung Folge geleistet, könnte sich die jeweilige NEF-Fahrer*in nicht auf die in diesem Fall rechtswidrige Anweisung der Notärzt*in berufen. A chtu ng Nimmt die Fahrer*in eines NEF bei einer Begleitfahrt unrechtmäßig Sonderund Wegerechte in Anspruch, sind alle Verstöße im Straßenverkehr nicht von § 35 StVO legitimiert. Zudem handelt es sich dabei um grob fahrlässiges und

ordnungswidriges Verhalten, sodass eine persönliche Haftung sowie ggf. eine Strafbarkeit in Betracht kommt. Dies gilt auch, wenn die Fahrer*in fälschlicherweise der Auffassung ist, eine Inanspruchnahme von Sonder- und Wegerechten sei erlaubt (Verbotsirrtum) und sogar auch dann, wenn die Notärzt*in für Begleitfahrt die Nutzung von Blaulicht und Einsatzhorn angeordnet hat.

Quellen: [1] z. B. LG Dortmund, Urt. v. 07.07.2020–21 O 143/19; KG Berlin, Urt. v. 31.05.2007–12 U 129/06 [2] Fall 11.2 (1. Haftungsquote) nach OLG Frankfurt, Urt. v. 27.11.2012–24 U 45/12 [3] Fall 11.3 (2. Haftungsquote) nach OLG Hamm, Urt. v. 06.11.1995–13 U 94/95 [4] Fall 11.4 (3. Haftungsquote) nach Schleswig-Holst. OLG, Urt. v. 08.03.1995–9 U 94/94

Gerichtsurteile und Beschlüsse: AG Gotha, Urt. v. 08.05.2019–2 C 229/18 AG Helmstedt, Urt. v. 21.06.2018–15 OWi 903 Js 26543/18 BGH, Urt. v. 01.12.2009 – VI ZR 221/08 BGH. Urt. v. 11.01.2005 – VI ZR 352/03 BGH, Urt. v. 09.07.1962 – III ZR 85/61 KG Berlin, Urt. v. 25.04.2005–12 U 123/04 LG Nürnberg-Fürth, Urt. v. 08.04.2021–2 O 6051/20 LG Detmold, Urt. v. 27.01.2020–2 O 142/ LG Hamburg, Urt. v. 07.06.2019–331 O 131/18 LG Mönchen-Gladbach, Urt. v. 19.07.2017–6 O 176/16 LG Halle, Urt. v. 28.12.2011–6 O 1917/10 LG Saarbrücken, Beschl. v. 01.07.2011–13 S 61/11 LG Hannover, Urt. v. 16.11.2010–9 O 78/10 OLG Hamm, Urt. v. 04.05.2018, I –7 U 37/17 OLG Düsseldorf, Urt. v. 06.02.2018 I – 1 U 112/17

OLG München, Urt. v. 12.01.2018–10 U 2135/17 OLG Frankfurt, Urt. v. 27.11.2012–24 U 45/12 OLG Celle, Urt. v. 28.12.2011 – U 107/11 OLG Naumburg, Urt. v. 26.02.2009–1 U 76/08 OLG Stuttgart, Beschl. v. 26.04.2002–4 Ss 71/02 OLG Düsseldorf, Urt. v. 02.02.1978–12 U 149/77 VG Potsdam, Urt. v. 24.02.2011–2 K 832/07

Weitere Literatur: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, Kommentar, 27. Aufl. 2022 Müller. Einsatzfahren Checklisten zu Rechtmäßigkeit und Rechtsfolgen, 6. Aufl; 2022. Nadler. Straßenverkehrsrecht für Rettungsdienst und Katastrophenschutz, 1. Aufl; 2016. Wasielewski. Sonderrechte im Einsatz, 2. Aufl.. 2005.

Kapitel 12 Infektionsschutzgesetz André Höhle

Spätestens seit der pandemischen Ausbreitung der Infektionskrankheit SARS-CoV-2 („Corona-Pandemie“) auf der ganzen Welt, ist gemeinhin bekannt, dass es in Deutschland ein Infektionsschutzgesetz (IfSG) gibt. Viele Maßnahmen zur Bekämpfung dieser Infektionskrankheit, die teilweise auch mit erheblichen Einschränkungen von Grundrechten einhergingen, wurden auf das IfSG und Rechtsverordnungen gestützt, die ihre Grundlage im IfSG hatten. Dies hat deutlich gezeigt, dass durch das IfSG einschneidende Maßnahmen möglich sind, um Infektionskrankheiten zu bekämpfen. D ie s e s K ap ite l s o l l F olge nde s ve rm itte ln: • Gesetzliche Grundlagen und den verfassungsrechtlichen Hintergrund für den Infektionsschutz • Behörden und Institutionen, die mit dem Infektionsschutz befasst sind (insb. das Robert Koch-Institut)

• Wesentliche Regelungen des IfSG zu Prävention, Meldepflichten und Schutzmaßnahmen • Gesetzliche Vorgaben zu Impfungen • Regelungen des IfSG zur Verhinderung nosokomialer Infektionen

W ic h tige R e c ht s qu e l le n fü r d ie s e s K ap ite l Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (IfSG) https://www.gesetze-im-internet.de/ifsg/

12.1 Grundlagen Infektionsschutzgesetz Das IfSG ist gesetzliche Folge der Schutzpflicht des Staates für Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, › Kap. 2.2.2). Infektionskrankheiten können zu schweren gesundheitlichen Schäden oder zum Tod führen. Zudem können sie sich schnell und unkontrolliert verbreiten. Aus diesem Grund gibt es das IfSG. Dieses enthält Regelungen • zur Prävention von Infektionskrankheiten und deren Verbreitung, • zu Informationen beim Auftreten von Infektionskrankheiten oder einem entsprechenden Verdacht sowie • zu Schutzmaßnahmen, die zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten ergriffen werden können.

Eine Darstellung der wesentlichen Inhalte des IfSG findet sich in › Abb. 12.1.

ABB. 12.1 Übersicht Infektionsschutzgesetz [L157]

12.1.1 Beteiligte Behörden und Institutionen Im Rahmen des Infektionsschutzes sind verschiedene Behörden und Institutionen mit unterschiedlichen Aufgaben involviert, um den Grundsätzen der Prävention, Information und Schutzmaßnahmen Rechnung zu tragen. Eine der wichtigsten Institutionen ist das Robert Koch-Institut (RKI) (› Kap. 3.9.5). Zu seinen Aufgaben gehören die Forschung,

Sammlung und Zurverfügungstellung von Informationen sowie die Entwicklung von Vorgaben zur Hygiene und zum Infektionsschutz. Darüber hinaus ist es Aufgabe des RKI, bioterroristische Gefahren zu erkennen und Maßnahmen für deren Abwehr zu entwickeln. R e ch t in e c ht Aufgrund der Forschung des RKI werden konkrete Richtlinien, Empfehlungen und Informationsmaterialien entwickelt, die auch auf Rettungswachen zu finden sind. Dazu gehören: • RKI-Richtlinie für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention (in dieser Richtlinie gibt es einen eigenen Abschnitt zu Anforderungen der Hygiene an den Krankentransport, einschließl. Rettungstransport) • Handhygiene in Einrichtungen des Gesundheitswesens • Anforderungen an die Hygiene bei der Reinigung und Desinfektion von Flächen • Anforderungen an die Hygiene bei der Aufbereitung von Medizinprodukten • Informationen zu einzelnen Erregern, inkl. Übertragungswege und Schutzmaßnahmen • Empfehlungen der Ständigen Impfkommission zu Schutzimpfungen • Anforderungen an die Hygiene bei Punktionen und Injektionen

Die Ständige Impfkommission (STIKO) ist eine Einrichtung des RKI. Dabei handelt es sich um ein unabhängiges

Expertengremium. Aufgabe ist es u. a., Empfehlungen zur Durchführung von Schutzimpfungen abzugeben. Vor Ort werden die Aufgaben des Infektionsschutzes von den kommunalen Gesundheitsämtern (› Kap. 3.9.10) übernommen. Diese Behörden nehmen Meldungen zum Verdacht oder zum Auftreten von Infektionskrankheiten entgegen, sammeln diese Informationen und leiten sie an das RKI weiter. Sie ergreifen Maßnahmen zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten, führen berufsbezogene Gesundheitsuntersuchungen durch und stellen Beratungsangebote bereit.

12.1.2 Prävention Prävention ist eine öffentliche Aufgabe. Sie wird umgesetzt durch Information und Aufklärung der Allgemeinheit über Gefahren übertragbarer Krankheiten und zu Möglichkeiten, wie diese verhütet werden können. Dem Grundsatz der Prävention wird u. a. durch die Forschungen des RKI sowie deren Regelungen zur Hygiene Rechnung getragen. Die Forschungsergebnisse dienen dazu, konkrete Maßnahmen im Hinblick auf die Prävention von Infektionskrankheiten abzuleiten. Vor Ort übernehmen die kommunalen Gesundheitsämter eine wichtige Funktion im Hinblick auf die Prävention, indem sie Beratungen zu Infektionskrankheiten anbieten und weitere Informationsangebote bereitstellen. Ein weiteres wichtiges Mittel, um dem Auftreten und der Verbreitung von Infektionskrankheiten vorzubeugen, sind Schutzimpfungen. Von der STIKO werden Empfehlungen zu Schutzimpfungen ausgesprochen. Da Impfungen immer auch mit

gewissen gesundheitlichen Risiken einhergehen können, erfolgen die Empfehlungen nach genauer Abwägung des Nutzens und der Risiken. Diese Empfehlungen beziehen sich einerseits auf die Infektionskrankheiten, für die Impfempfehlungen ausgesprochen werden, andererseits auf den Personenkreis, für den entsprechende Schutzimpfungen empfohlen werden. So ist es z. B. möglich, dass einige Impfempfehlungen nur bestimmte Altersgruppen betreffen. Prävention hat auch im Rettungsdienst eine große Bedeutung. Dabei geht es sowohl um den Schutz von Patient*innen als auch um den Schutz des Personals. Der Schutz beginnt bei der Gestaltung der Rettungsmittel mit leicht zu reinigenden Flächen, geht über die Ausstattung der Rettungsmittel mit entsprechenden Desinfektionsmitteln und Schutzausrüstung bis hin zu organisatorischen Maßnahmen mit Verfahrensbeschreibungen zu Infektionstransporten, Informationen zur Handhygiene etc.

12.1.3 Information Ein detailliert geregeltes Meldewesen mit konkreten Pflichten zu Meldungen ist wesentliches Element bei der Überwachung von Infektionskrankheiten. Das IfSG regelt genau, • was (§§ 6, 7 IfSG), • von wem (§ 8 IfSG) und • wie (§§ 9, 10 IfSG) gemeldet werden muss. In › Abb. 12.2 ist eine Übersicht zum Meldewesen bei Infektionskrankheiten dargestellt.

ABB. 12.2 Meldung von Infektionskrankheiten [L157] Bei den in § 6 IfSG aufgeführten Erkrankungen muss bereits der Verdacht einer solchen Erkrankung gemeldet werden. Eine Meldung nach § 7 IfSG muss nur beim direkten oder indirekten Nachweis des entsprechenden Erregers erfolgen. Zu den Verpflichteten trifft § 8 IfSG detaillierte Regelungen. Für die konkrete Durchführung der Meldungen müssen vorgegebene Formblätter verwendet werden. Bei den Meldungen wird zwischen namentlichen und nicht namentlichen Meldungen unterschieden. Die Meldung muss an das zuständige Gesundheitsamt erfolgen. Die Gesundheitsämter sind nach Eingang der Meldungen verpflichtet, die Daten zu bewerten und weiterzuverarbeiten sowie ggf. mit anderen Meldungen zusammenzuführen. Die

Daten müssen dann innerhalb festgelegter kurzer Fristen an die zuständigen Landesbehörden sowie das RKI weitergeleitet werden.

12.1.4 Maßnahmen bei Infektionskrankheiten Das IfSG eröffnet eine Vielzahl von Maßnahmen für Fälle, bei denen ein Verdacht besteht, dass eine Infektionskrankheit vorliegt, sowie für das Vorliegen einer nachgewiesenen Infektionskrankheit. Abhängig davon, ob ein Verdacht besteht oder bereits ein Nachweis erbracht ist, können verschiedene Maßnahmen ergriffen werden. Federführend sind in diesen Fällen die Gesundheitsämter vor Ort, welche bei Verdachtsfällen umfassende Ermittlungsbefugnisse haben. Es können Untersuchungen angeordnet, Auskünfte von behandelnden Ärzt*innen eingeholt, Wohnungen betreten, Quarantänemaßnahmen angeordnet werden etc. Diese Maßnahmen können sowohl gegenüber den unmittelbar Erkrankten oder Krankheitsverdächtigen ergriffen werden als auch gegenüber Dritten. So können z. B. auch Veranstaltungen untersagt, Gemeinschaftseinrichtungen geschlossen sowie weitere Maßnahmen ergriffen werden. In Bezug auf SARS-CoV-2 gibt es in einem neu geschaffenen § 28a IfSG umfassende Möglichkeiten, die zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 ergriffen werden können. Diese Schutzmaßnahmen sind teilweise mit erheblichen Eingriffen in die Grundrechte verbunden.

12.2 Wichtiges für den Rettungsdienst Das IfSG hat auch für die Arbeit des Rettungsdienstes Bedeutung. Wichtige Themen für den Rettungsdienst sind

• Impfpflicht, • Informationspflichten und • nosokomiale Infektionen.

12.2.1 Impfpflicht Ein wesentliches Element der Prävention von Infektionskrankheiten sind Schutzimpfungen. Für Beschäftigte in bestimmten Berufsfeldern bestehen Verpflichtungen, sich impfen zu lassen. Wird die Verpflichtung nicht erfüllt, können Tätigkeitsverbote und Betretungsverbote ausgesprochen werden. Für Mitarbeitende im Rettungsdienst ist aktuell der Nachweis erforderlich, dass ein ausreichender Impfschutz gegen Masern besteht, sofern keine Ausnahmeregelung greift. Eine Ausnahme gilt für Personen, die bis zum 31. Dezember 1970 geboren wurden. Wird der Nachweis nicht erbracht, sind die Leiter*innen der Gesundheitseinrichtung verpflichtet, das zuständige Gesundheitsamt zu informieren und dazu die Kontaktdaten der Betroffenen weiterzugeben. Das Gesundheitsamt kann dann weitere Maßnahmen veranlassen. Dies kann so weit gehen, dass ein Tätigkeitsverbot ausgesprochen wird. R e ch t in e c ht Bei der Schutzimpfung gegen Masern besteht die Besonderheit, dass es in Deutschland keinen Monoimpfstoff gegen Masern gibt. Es gibt Kombinationsimpfstoffe gegen Masern, Mumps und Röteln bzw. gegen Masern, Mumps, Röteln und Windpocken. Vor diesem Hintergrund ist die berechtigte Frage aufgekommen, ob eine Schutzimpfung gegen Masern verlangt werden kann, wenn es keinen isolierten Impfstoff gibt und man demzufolge auch immer

gegen die anderen genannten Infektionskrankheiten geimpft wird. Zuletzt hat sich das Bundesverfassungsgericht im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde mit dieser Frage beschäftigt und dazu entschieden, dass die Regelungen zur Impfung gegen Masern verfassungsgemäß sind. „Die anderen in den Kombinationsimpfstoffen enthaltenen Wirkstoffe betreffen ebenfalls von der Ständigen Impfkommission empfohlene Schutzimpfungen, zudem sei das Nebenwirkungsprofil nicht wesentlich anders als das bei Monoimpfstoffen. In der Gesamtabwägung sei es vertretbar, dass der Gesetzgeber den Schutz vulnerabler Personen gegen Masern so hoch gewertet hat, dass dadurch auch Grundrechtsbeeinträchtigungen durch den Einsatz aktuell verfügbarer Kombinationsimpfstoffe hinzunehmen seien.“ [1] Ähnlich war es bei SARS-CoV-2: Hier mussten Beschäftigte in festgelegten Gesundheitseinrichtungen nachweisen, dass sie gegen SARS-CoV-2 geimpft oder von der Erkrankung genesen sind. Ausnahmen gab es für Personen, die aufgrund einer medizinischen Kontraindikation nicht geimpft werden konnten. Wurde der Nachweis nicht erbracht oder bestanden Zweifel an dessen Echtheit, war auch hier das zuständige Gesundheitsamt zu informieren, welches dann die zuvor beschriebenen Maßnahmen ergreifen konnte. Die gesetzliche Regelung erfasste auch die Fälle, in denen eine Impfung mit einem Zeitablauf versehen war. In diesen Fällen musste eine Auffrischungsimpfung nachgewiesen werden.

12.2.2 Informationen bei Verdacht

Ein wesentliches Element des Infektionsschutzes sind Meldepflichten. Dafür definiert das IfSG einen Katalog mit meldepflichtigen Krankheiten. In erster Linie obliegt die Meldepflicht einer Ärzt*in, die die Krankheit feststellt oder den Verdacht hat, dass eine Infektionskrankheit vorliegt. Auch Laboratorien und Untersuchungseinrichtungen sind zur Meldung verpflichtet, wenn entsprechende Erreger im Rahmen von Untersuchungen festgestellt werden. Ausdrücklich nicht verpflichtet sind Rettungsdienste sowie Notärzt*innen. Dies gilt jedoch nur unter der Voraussetzung, dass die Patient*in unverzüglich in eine ärztlich geleitete Einrichtung gebracht wird. In Betracht kommen Meldepflichten in den Fällen, in denen Patient*innen vor Ort bleiben und nicht transportiert werden. In diesen Fällen besteht eine Meldepflicht nur dann nicht, wenn es einen Nachweis darüber gibt, dass die Meldung bereits erfolgt bzw. der Verdacht bereits gemeldet worden ist. In den Fällen, in denen eine Meldung erforderlich ist, hat diese an das Gesundheitsamt unter Verwendung vorgegebener Formulare zu erfolgen. Besteht eine Meldepflicht, muss diese erfüllt werden. In diesem Zusammenhang besteht kein Strafbarkeitsrisiko wegen der Verletzung von Privatgeheimnissen (§ 203 StGB, › Kap. 7.5.5). Der Gesetzgeber hat mit der Meldepflicht die eindeutige Wertung getroffen, dass die Gefährdung der Allgemeinheit durch die geregelten Infektionskrankheiten schwerer wiegt als ein Geheimhaltungsinteresse der Patient*in. Me r k e

Für den Rettungsdienst und Notärzt*innen bestehen nur im Ausnahmefall Meldepflichten nach dem IfSG. Sofern eine Meldung erfolgen muss, droht keine Strafbarkeit aus § 203 StGB (Verletzung von Privatgeheimnissen).

12.2.3 Nosokomiale Infektionen Nosokomiale Infektionen sind solche Infektionen, die im Zusammenhang mit einer medizinischen Maßnahme erworben werden, z. B. in Kliniken oder Arztpraxen. Diese Art von Infektionen sowie Resistenzen erlangen eine zunehmende Bedeutung für die rettungsdienstliche Arbeit. Einsätze, bei denen Patient*innen mit multiresistenten Keimen versorgt und transportiert werden, nehmen kontinuierlich zu. Diese Einsätze bedingen oftmals besondere Hygienemaßnahmen durch den Rettungsdienst. Auf der anderen Seite sollen nosokomiale Infektionen von Patient*innen während der Versorgung durch den Rettungsdienst vermieden werden. Mit § 23 IfSG gibt es eine sehr umfassende gesetzliche Regelung zum Themenbereich nosokomiale Infektionen und Resistenzen. Eine zentrale Rolle nimmt dabei das Robert Koch-Institut ein, bei dem eine Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention (KRINKO) eingerichtet ist. Diese Kommission gibt Empfehlungen zur Prävention nosokomialer Infektionen. Auf Grundlage dieser Empfehlungen hat das RKI die Richtlinie für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention erlassen, welche auch einen eigenen Abschnitt zum Rettungsdienst enthält. Eine Übersicht hierzu ist in › Abb. 12.3 dargestellt.

ABB. 12.3 Richtlinie zur Krankenhaushygiene und Infektionsprävention; Anforderungen an den Rettungsdienst [L157] § 23 Abs. 3 IfSG verpflichtet Leiter*innen bestimmter Einrichtungen dazu, nach dem medizinischen Stand erforderliche Maßnahmen zu treffen, um nosokomiale Infektionen zu verhüten und die Weiterverbreitung von Krankheitserregern, insb. von solchen mit Resistenzen, zu vermeiden. Zu diesen Einrichtungen zählen auch Krankenhäuser und Rettungsdienste. Die verpflichtenden Maßnahmen nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft ergeben sich aus Empfehlungen der KRINKO. Dies bedeutet, dass sich entsprechende Leiter*innen (z. B. von Rettungswachen) in diesem Bereich kontinuierlich auf dem aktuellen Stand halten müssen, damit sie neue medizinische Erkenntnisse in die Maßnahmen vor Ort einfließen lassen können. Die Umsetzung dieser Maßnahmen vor Ort, z. B. auf den Rettungswachen, erfolgt durch Hygienepläne und Verfahrens-/Arbeitsanweisungen.

Me r k e Zur Verhinderung der Entstehung und Verbreitung nosokomialer Infektionen kann und muss auch der Rettungsdienst beitragen. Verantwortliche von Rettungswachen sind verpflichtet, entsprechende Hygienepläne sowie Verfahrens- und Arbeitsanweisungen zu implementieren. Beschäftigte sind verpflichtet, diese Vorgaben einzuhalten. A c ht u ng Die Nichteinhaltung von Hygienevorschriften kann zu arbeitsrechtlichen Konsequenzen, z. B. einer Abmahnung (› Kap. 13.2.6), führen.

12.2.4 Epidemische Lage nationaler Tragweite Im Zuge der Einführung von Regelungen zur epidemischen Lage nationaler Tragweite wurde eine Regelung ins IfSG aufgenommen, die es bestimmten Berufsgruppen erlaubt, heilkundliche Tätigkeiten durchzuführen (› Kap. 4.2.4). Zu diesen Berufsgruppen gehören auch Notfallsanitäter*innen. Eine Voraussetzung für die Ausübung heilkundlicher Tätigkeiten ist, dass die ausübende Person auf Grundlage der in ihrer Ausbildung erworbenen Kompetenzen handelt und aufgrund ihrer persönlichen Fähigkeiten in der Lage ist, die jeweilige Maßnahme eigenverantwortlich durchzuführen. Zudem muss es aufgrund des Gesundheitszustands der Patient*in nicht zwingend erforderlich sein, dass diese ärztlich behandelt wird, auch wenn die durchzuführende Maßnahme üblicherweise eine ärztliche Beteiligung voraussetzen würde. Dies ist z. B. bei der Durchführung

einer Schutzimpfung der Fall. Hierbei erfolgt ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit und eine Injektion des Impfstoffes, was eigentlich eine heilkundliche Maßnahme darstellt. Wurde unter diesen Voraussetzungen eine Maßnahme durchgeführt, muss dies angemessen dokumentiert werden. Darüber hinaus hat eine Mitteilung an die verantwortliche oder die behandelnde Ärzt*in zu erfolgen. Me r k e Voraussetzungen für die Ausübung heilkundlicher Tätigkeiten in einer epidemischen Lage nationaler Tragweite für den Rettungsdienst: • Feststellung einer epidemischen Lage nationaler Tragweite • Ausübung der Maßnahme durch Notfallsanitäter*innen • Indikation zur Durchführung einer heilkundlichen Maßnahme, jedoch keine zwingende Erforderlichkeit einer unmittelbaren Behandlung durch eine Ärzt*in. • Durchführende Person muss heilkundliche Maßnahme im Rahmen ihrer Ausbildung erlernt haben • Durchführende Person muss die Maßnahme aufgrund ihrer persönlichen Fähigkeiten durchführen können • Dokumentation • Mitteilung; im Rettungsdienst an die Ärztliche Leiter*in

Quellen:

[1] BVerfG, Beschluss des ersten Senats vom 21. Juli 2022 – Az. 1 BvR 469/20, 1 BvR 472/20, 1 BvR 471/20, 1 BvR 470/20

Weitere Literatur und Internetquellen: Gerhardt, Infektionsschutzgesetz. 6. Aufl., München 2022 https://www.hygienewissen.de/schulungsmodule/ hygiene-im-rettungsdienst/gesetzeverordnungen-empfehlungen/ (letzter Zugriff: 18. November 2023) www.rki.de (letzter Zugriff: 18. November 2023)

Kapitel 13 Arbeitsrecht André Höhle

Die Tätigkeit im Rettungsdienst bietet eine Vielzahl von Herausforderungen, die auch mit Gefährdungen des Einsatzpersonals verbunden sind. Der Arbeitsschutz soll solche Gefährdungen am Arbeitsplatz minimieren. Daher ist es für Mitarbeitende im Rettungsdienst wichtig, die Grundlagen des Arbeitsschutzes insgesamt sowie die arbeitsschutzrechtlich relevanten Regelungen für Rettungsdienst und Notfallmedizin zu kennen. Dieses Kapitel gibt einen Überblick über den wichtigen Bereich des Arbeitsschutzes sowie über das Arbeitsverhältnis von der Entstehung bis zur Beendigung. Dabei wird an einzelnen Stellen auf rechtliche Aspekte eingegangen, die für Rettungsdienst und Notfallmedizin eine besondere Bedeutung haben. D ie s e s K ap ite l s o l l F olge nde s ve rm itte ln: • Wichtige Regelungen des Arbeitsschutzes • Grundlagen zur gesetzlichen Unfallversicherung • Wissen, wie Arbeitsverhältnisse zustande kommen

• Rechtliche Aspekte bestehender Arbeitsverhältnisse, insb. Grundzüge des Direktionsrechts • Wissen, wie Arbeitsverhältnisse beendet werden • Grundzüge des kollektiven Arbeitsrechts

W ic h tige R e c ht s qu e l le n fü r d ie s e s K ap ite l: • Gesetz über die Durchführung von Maßnahmen des Arbeitsschutzes zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Beschäftigten bei der Arbeit (Arbeitsschutzgesetz/ArbSchG)

https://www.gesetze-im-internet.de/arbschg/ • Gesetz über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit (Arbeitssicherheitsgesetz/ASiG)

https://www.gesetze-im-internet.de/asig/ • Arbeitszeitgesetz (ArbZG)

https://www.gesetze-iminternet.de/arbzg/BJNR117100994.html • Mindesturlaubsgesetz für Arbeitnehmer (Bundesurlaubsgesetz, BUrlG)

https://www.gesetze-im-internet.de/burlg/ • Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)

https://www.gesetze-im-internet.de/bgb/ • Grundgesetz (GG)

https://www.gesetze-im-internet.de/gg/

• Sozialgesetzbuch VII (SGB VII)

https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_7/

13.1 Arbeitsschutz Der Arbeitsschutz ist eine wesentliche Errungenschaft des deutschen Sozialstaats. Er geht zurück auf die Bismarck’schen Sozialgesetze und wurde über die Jahre hinweg immer differenzierter ausgestaltet. Arbeitsschutz bedeutet Schutz der Mitarbeitenden vor Gefahren, die mit der Arbeit verbunden sind. Arbeitsschutz besteht aus zwei großen Bereichen, • der gesetzlichen Unfallversicherung und • dem arbeitsrechtlichen Arbeitsschutz.

13.1.1 Gesetzliche Unfallversicherung Die deutsche gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) ist ein bedeutender Zweig der sozialen Sicherung (› Kap. 3.1.3). Würde es keine gesetzliche Unfallversicherung geben, würde die Zusammenarbeit am Arbeitsplatz stark belastet werden. Ist eine Kolleg*in z. B. für einen Arbeitsunfall verantwortlich, müsste diese persönlich in Anspruch genommen werden, was das kollegiale Verhältnis am Arbeitsplatz stark belasten könnte. Gleiches wäre der Fall, wenn man seine Arbeitgeber*in in Anspruch nehmen müsste. Auch dies würde das Arbeitsverhältnis stark belasten. Zum Beweis des Anspruchs müssten z. B. Zeug*innen gefunden werden, was möglicherweise auch mit Schwierigkeiten verbunden wäre, weil diese ggf. nicht gegen Kolleg*innen oder Arbeitgeber*in aussagen würden.

Müsste ein gerichtliches Verfahren zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen in die Wege geleitet werden, müssten entsprechende Kostenvorschüsse auf Gerichtskosten geleistet und i. d. R. anwaltliche Beratung in Anspruch genommen werden. Das könnte zu erheblichen finanziellen Belastungen führen und nicht von jedem bewältigt werden können. Ein weiteres Risiko wäre der Umstand, ob die Anspruchsgegner*in überhaupt über ausreichend Geld verfügt, um die entstandenen Schäden finanziell zu kompensieren. Ein Urteil nützt einem zunächst einmal nichts, wenn die andere Partei finanziell nicht in der Lage ist, die ausgeurteilten Schadensersatzbeträge zu begleichen. Ein Großteil dieser Risiken wird durch das Vorhandensein der gesetzlichen Unfallversicherung in der Praxis nicht relevant. Liegen die Eintrittsvoraussetzungen für die gesetzliche Unfallversicherung vor, können über diese Versicherung etwaig eingetretene Schäden beglichen werden. Eine der Hauptaufgaben der gesetzlichen Unfallversicherung ist jedoch die Prävention. Dies bedeutet, dass Arbeitsunfälle, Berufskrankheiten und arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren verhütet werden sollen. Wenn es zu einem Arbeitsunfall oder einer Berufskrankheit gekommen ist, ist Aufgabe der gesetzlichen Unfallversicherung, die Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Betroffenen wiederherzustellen. Me r k e Die gesetzliche Unfallversicherung leistet u. a.: • Prävention • Kosten für Heilbehandlung

• Maßnahmen zur Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit (entweder für den ursprünglichen Beruf/Arbeitsplatz oder Qualifikation für einen neuen Beruf) • Leistungen an Hinterbliebene

Fakten zur gesetzlichen Unfallversicherung Die Beitragszahlungen zur gesetzlichen Unfallversicherung übernimmt allein die Arbeitgeber*in. Träger der gesetzlichen Unfallversicherung sind Berufsgenossenschaften (BG) und die öffentlich-rechtlichen Unfallkassen. Berufsgenossenschaften sind branchenspezifisch gegliedert. So gibt es z. B. die BG Holz und Metall, die BG Nahrungsmittel und Gastgewerbe, die BG Handel und Warenlogistik u. v. m. Beschäftigte im kommunalen Rettungsdienst sowie Rettungsdienstmitarbeitende als Angestellte bei Feuerwehren sind über die Unfallkassen der Bundesländer gesetzlich unfallversichert. Mitarbeitende in Hilfsorganisationen und bei privaten Rettungsdienstleistern sind i. d. R. über die für diese Hilfsorganisation bzw. den Dienstleister zuständige BG gesetzlich unfallversichert. Darüber hinaus sind noch verschiedene andere Personengruppen in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert, z. B. Schüler*innen während des Schulbesuchs, Studierende an der Hochschule, Blutspender*innen, Schöffen, Unglückshelfer*innen u. v. m. Prävention Um eine ihrer Hauptaufgaben – die Prävention von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten – erfüllen zu können,

werden verschiedene Maßnahmen ergriffen. Zu diesen Maßnahmen zählen vielfältige Informationsangebote. Für den Rettungsdienst gibt es eine eigene Website unter: www.sicherer-rettungsdienst.de. Auf dieser Website werden viele Informationen zum Arbeits- und Gesundheitsschutz im Rettungsdienst bereitgestellt. Darüber hinaus werden von den Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung Unfallverhütungsvorschriften erlassen (§ 15 SGB VII). Diese sind autonomes Satzungsrecht und damit für die Arbeitgeber*innen verbindlich. Alle Beschäftigten müssen über die einschlägigen Unfallverhütungsvorschriften unterrichtet werden. Die Unfallverhütungsvorschriften binden sowohl die Arbeitgeber*innen, für die Einhaltung der Vorschriften Sorge zu tragen, als auch die Beschäftigten. Me r k e Adressaten von Unfallverhütungsvorschriften sind sowohl Arbeitgeber*innen als auch die Beschäftigten. Arbeitgeber*innen müssen die Beschäftigten in Bezug auf die einschlägigen Unfallverhütungsvorschriften unterweisen. Die Beschäftigten sind verpflichtet, sich an die Unfallverhütungsvorschriften zu halten. Neben den Unfallverhütungsvorschriften können die Unfallversicherungsträger noch weitere Regelwerke erlassen. Dies sind die • DGUV-Regeln, • DGUV-Informationen und

• DGUV-Grundsätze. Ergänzt werden diese durch technische Regelwerke, die Rechtsverordnungen in technischer Hinsicht konkretisieren. Für den Rettungsdienst relevant ist in diesem Zusammenhang die Biostoffverordnung (BioStoffV), welche durch die Technischen Regeln für Biologische Arbeitsstoffe (TRBA 250) konkretisiert wird. Regelungsbereich der BioStoffV ist der Schutz von Beschäftigten vor Gefährdungen im Umgang mit biologischen Arbeitsstoffen. Biologische Arbeitsstoffe sind u. a. solche Mikroorganismen (Bakterien, Viren, Protozoen), Pilze etc., die Menschen durch infektionsbedingte akute oder chronische Krankheiten gefährden können (› Abb. 13.1). Biostoffe werden in verschiedene Risikogruppen eingeteilt. Je nach Risikogruppe sind von Arbeitgeber*innen Maßnahmen zu ergreifen, um den Schutz der Beschäftigten sicherzustellen. Diese Maßnahmen beinhalten eine Gefährdungsbeurteilung im Hinblick auf die sich am konkreten Arbeitsplatz ergebenden Gefahren. Im Anschluss an die Gefährdungsbeurteilung müssen Maßnahmen ergriffen werden, die den festgestellten Risiken Rechnung tragen. Dies betrifft Maßnahmen der Arbeitsorganisation, der Arbeitsverfahren, des Arbeitsplatzes sowie Maßnahmen bzgl. der Arbeitsmittel. Beschäftigte in diesen Bereichen müssen im Hinblick auf die Arbeit mit Biostoffen sensibilisiert werden.

ABB. 13.1 Zeichen Biogefährdung [X333] Als allgemeine Schutzmaßnahmen im Umgang mit Biostoffen gelten: • Arbeitsplätze und Arbeitsmittel müssen in einem sauberen Zustand gehalten und regelmäßig gereinigt werden. • Fußböden und Oberflächen von Arbeitsplätzen und Arbeitsmitteln müssen leicht zu reinigen sein. • Es müssen Waschgelegenheiten zur Verfügung stehen. • Es muss vom Arbeitsplatz getrennte Umkleidemöglichkeiten geben, sofern Arbeitsbekleidung erforderlich ist. • Arbeitsbekleidung muss regelmäßig gewechselt werden und leicht zu reinigen sein.

Weitere allgemeine Schutzmaßnahmen im Kontext des Rettungsdienstes können sein: • Arbeitsverfahren und Arbeitsmittel müssen so gestaltet sein, dass die Gefahr von Stich- und Schnittverletzungen verhindert oder minimiert wird. Wenn möglich gilt es, derartige Instrumente durch solche Alternativen zu ersetzen, bei denen keine oder geringere Gefahren von Stich- und Schnittverletzungen bestehen. • Für spitze und scharfe medizinische Instrumente muss eine Möglichkeit geschaffen werden, diese sicher zu entsorgen. Dafür müssen Abfallbehältnisse bereitgestellt werden, die stich- und bruchfest sind und den Abfall sicher umschließen. Diese Abfallbehältnisse müssen darüber hinaus durch Farbe, Form und Beschriftung eindeutig als Abfallbehältnisse erkennbar sein. • Es sind erforderliche Maßnahmen zur Desinfektion zu ergreifen. • Zur Verfügung gestellte persönliche Schutzausrüstung muss gereinigt, gewartet, instand gehalten und sachgerecht entsorgt werden. • Die Verwendung der bereitgestellten persönlichen Schutzausrüstung ist eine wichtige Pflicht für Beschäftigte. • Eine sichere Ablagemöglichkeit für persönliche Schutzausrüstung, getrennt von anderen Kleidungsstücken, muss vorhanden sein. • Es muss sichergestellt sein, dass in Arbeitsbereichen, in denen mit Biostoffen gearbeitet wird, keine Nahrungsund Genussmittel konsumiert werden.

• Arbeitsanweisungen zu persönlicher Schutzausrüstung und Arbeitskleidung müssen vorliegen, ebenso wie zur Hygiene und Desinfektion. • Bei einer Verletzung durch spitze oder scharfe medizinische Instrumente, der eine organisatorische oder technische Ursache zugrunde liegt, muss die Arbeitgeber*in die Beschäftigten darüber zeitnah unterrichten. Über die aufgeführten Maßnahmen hinaus bestehen für Arbeitgeber*innen noch diverse Dokumentations- und Informationspflichten. Verstöße gegen die Vorschriften der BioStoffV können als Ordnungswidrigkeiten geahndet und es können Bußgelder festgesetzt werden. Arbeitgeber*innen sind verpflichtet, Maßnahmen festzulegen, die nach Nadelstichverletzungen zu ergreifen sind. Dies umfasst die Festlegung von Sofortmaßnahmen nach dem Ereignis, medizinische Untersuchung des Betroffenen etc. Beschäftigte sind in den festgelegten Maßnahmen zu unterweisen. Berufskrankheiten und Arbeitsunfälle Arbeitsunfälle sind solche Unfälle, die in einem Zusammenhang mit der geschuldeten Tätigkeit stehen. Zu Arbeitsunfällen können auch die sog. Wegeunfälle zählen, wenn die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt sind. Ein Wegeunfall wird grds. nur dann als Versicherungsfall der gesetzlichen Unfallversicherung anerkannt, wenn sich dieser Unfall auf dem unmittelbaren Weg zwischen Wohnung und Arbeitsstätte ereignet hat. Eine Ausnahme gilt u. a. für Fahrgemeinschaften. Bei diesen sind die jeweils direkten Wege zwischen den einzelnen Halten sowie dann vom letzten Halt

der direkte Weg zur Arbeit als Wegeunfall im Rahmen der gesetzlichen Unfallversicherung anerkannt. Zudem gibt es Ausnahmen, wenn Kinder, die während der Arbeitszeit betreut werden, auf einem Weg weggebracht oder abgeholt werden. Sowohl zu Arbeitsunfällen als auch zu Wegeunfällen gibt es eine Vielzahl gerichtlicher Entscheidungen. Unfälle oder Erkrankungen, die sich zufällig während der Arbeitszeit ereignen, aber in keinem Zusammenhang mit der Arbeitstätigkeit stehen, gelten nicht als Arbeitsunfälle. Ein Schlaganfall am Schreibtisch beim Dokumentieren von Einsätzen oder ein Herzinfarkt während der Einsatzfahrt gelten somit nicht als Arbeitsunfälle. Me r k e Ein Arbeitsunfall liegt dann vor, wenn ein Unfall im Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit steht. Zu Arbeitsunfällen zählen auch Wegeunfälle. R e ch t in e c ht Im Zusammenhang mit der rettungsdienstlichen Tätigkeit hat das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz entschieden, dass es sich nicht um einen Arbeitsunfall handelt, wenn ein Mitarbeitender vor dem Dienstbeginn auf der Rettungswache duscht und sich dabei verletzt. Dies soll auch dann gelten, wenn der Mitarbeitende mit dem Fahrrad zum Dienst gefahren ist. Die tägliche Hygiene gehört nach Auffassung des Gerichts zum persönlichen Lebensbereich und ist nicht Gegenstand der arbeitsvertraglich geschuldeten Tätigkeit. [1]

Berufskrankheiten sind sog. Listen-Krankheiten. Die Liste anerkannter Berufskrankheiten wird durch eine Rechtsverordnung, der Berufskrankheiten-Verordnung, festgelegt. Diese Liste wird auf wissenschaftlicher Grundlage erstellt und enthält solche Krankheiten, die durch besondere arbeitsbedingte Einwirkungen verursacht werden und denen die Beschäftigten in ihrem jeweiligen Arbeitsumfeld in erheblich höherem Maße ausgesetzt sind als andere Menschen. Auch wenn eine Erkrankung nicht in der Liste enthalten ist, besteht die Möglichkeit, eine Anerkennung als „WieBerufskrankheit“ zu erhalten. In diesen Fällen ist jedoch die betroffene Person verpflichtet, wissenschaftliche Nachweise zu erbringen, dass eine Anerkennung als Berufskrankheit aufgrund medizinisch-wissenschaftlicher Kenntnisse gerechtfertigt ist. Nicht ausreichend ist ein einfacher Zusammenhang zwischen Erkrankung und beruflicher Tätigkeit. Im Rettungsdienst relevante Berufskrankheiten können Erkrankungen der Lendenwirbelsäule sein, da die rettungsdienstliche Tätigkeit in vielen Fällen mit schwerem Heben verbunden ist. Darüber hinaus können Haut- und Infektionskrankheiten relevante Erkrankungen sein, die für Beschäftigte im Rettungsdienst eine Anerkennung als Berufskrankheit rechtfertigen. Eine Posttraumatische Belastungsstörung kann für Beschäftigte im Rettungsdienst als „Wie-Berufskrankheit“ anerkannt werden. Dies hat das Bundessozialgericht (BSG) im Falle eines klagenden Rettungssanitäters am 22. Juni 2023 entschieden. Dazu führt das BSG aus, dass Rettungssanitäter*innen bei der Arbeit einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind, mit traumatisierenden

Ereignissen in Berührung zu kommen. Dies könne nach dem Stand der Wissenschaft Ursache einer Posttraumatischen Belastungsstörung sein. [2] Sowohl bei Arbeitsunfällen als auch bei Berufskrankheiten ist es wichtig, dass die Betroffenen den Unfall bzw. die Erkrankung an den Unfallversicherungsträger melden. Diese Meldung sollte auch eine detaillierte Dokumentation umfassen, aus welcher sich ein eindeutiger Bezug zur Arbeitstätigkeit ergibt. Verpflichtet zur Meldung ist die Arbeitgeber*in. Dies bedeutet, dass die Betroffenen ihre Arbeitgeber*in entsprechend zeitnah und detailliert informieren. Die Dokumentationspflicht beginnt bereits mit der Eintragung vermeintlich kleinerer Verletzungen ins Verbandbuch. Me r k e Jede Verletzung im Zusammenhang mit der dienstlichen Tätigkeit muss ins Verbandbuch eingetragen werden. Leistungen im Schadensfall Im Schadensfall übernimmt die gesetzliche Unfallversicherung zunächst die Kosten der Heilbehandlung und Pflege. Um die betroffene Person wieder ins Arbeitsleben zu integrieren, werden darüber hinaus eine Vielzahl von weiteren Leistungen übernommen. Diese umfassen die Rehabilitation, die sowohl stationär als auch ambulant erfolgen kann. Um eine Rückkehr an den ursprünglichen Arbeitsplatz zu ermöglichen, können zudem Trainingsmaßnahmen, Mobilitätshilfen oder eine Umgestaltung des Arbeitsplatzes zu den Leistungen gehören. Kann die betroffene

Person auch danach nicht weiter in ihrem ursprünglichen Beruf arbeiten, werden Umschulungs- und Qualifikationsmaßnahmen für andere Tätigkeiten angeboten. Darüber hinaus kann es ergänzende Leistungen geben, diese werden z. B. für Kinderbetreuung, Haushaltshilfen etc. gewährt. Die Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung umfassen zudem Lohnersatzleistungen und Rentenzahlungen. Ist die betroffene Person verstorben, werden Leistungen an die Hinterbliebenen gewährt.

13.1.2 Arbeitsrechtlicher Arbeitsschutz Der arbeitsrechtliche Arbeitsschutz besteht aus öffentlichrechtlichen Verpflichtungen der Arbeitgeber*in und privatrechtlichen Pflichten gegenüber den Arbeitnehmer*innen. Öffentlich-rechtliche Pflichten finden sich u. a. im Arbeitsschutzgesetz und einer Vielzahl von Spezialgesetzen und Vorschriften. Die privatrechtlichen Pflichten von Arbeitgeber*innen gegenüber Arbeitnehmer*innen sind im Bürgerlichen Gesetzbuch geregelt. Dort findet sich im Gesetzestext jedoch nur eine recht allgemeine Formulierung zu den Pflichten der Arbeitgeber*in. Konkretisiert werden diese durch öffentlichrechtliche Vorschriften wie das Arbeitsschutzgesetz oder Regelungen der Berufsgenossenschaften, z. B. Unfallverhütungsvorschriften. Arbeitsschutzgesetz Das Arbeitsschutzgesetz hat den Zweck, die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Beschäftigten bei der Arbeit zu sichern und zu verbessern. Unfälle sollen verhütet und arbeitsbedingte

Gesundheitsgefahren reduziert werden. Dieses Ziel soll durch eine menschengerechte Gestaltung der Arbeit erreicht werden. Arbeitsschutz im Sinne des Arbeitsschutzgesetzes ist zunächst die Aufgabe der Arbeitgeber*in. Diese hat die Verpflichtung, Maßnahmen zu treffen, die dem Arbeitsschutz dienen. Welche Maßnahmen im Einzelnen erforderlich sind, ergibt sich aus den konkreten Arbeiten im jeweiligen Betrieb. Die einmalige Implementierung von Maßnahmen ist nicht ausreichend. Vielmehr sind diese regelmäßig auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen und dann anzupassen, wenn sich die Gegebenheiten ändern. Arbeitgeber*innen müssen den Arbeitsschutz im Unternehmen organisieren, was auch die Pflicht umfasst, die dafür erforderlichen Mittel bereitzustellen. Die Maßnahmen sind innerhalb der gesamten Organisation zu implementieren und zu integrieren. Dies umfasst die Führungsstrukturen in den jeweiligen Organisationen und auch die Einbeziehung der Mitarbeitenden. Die Kosten für den Arbeitsschutz hat die Arbeitgeber*in zu tragen, diese dürfen nicht den Beschäftigten auferlegt werden. Ein wesentliches Element des Arbeitsschutzes ist die Gefährdungsbeurteilung. Dafür müssen die unterschiedlichen in der Organisation bestehenden Arbeitsplätze und Arbeiten im Hinblick auf Unfall- und Gesundheitsgefahren untersucht werden. Die Ergebnisse einer solchen Gefährdungsbeurteilung müssen dokumentiert werden. Bei der Gefährdungsbeurteilung sind die Gestaltungen der Arbeitsplätze zu berücksichtigen, die Einwirkungen, denen die Beschäftigten ausgesetzt sind, die Arbeitsmittel, mit denen sie arbeiten, die Arbeitsabläufe und -

verfahren, die Arbeitszeit etc. Seit einigen Jahren muss in die Gefährdungsbeurteilung auch die psychische Belastung der Beschäftigten miteinbezogen werden. Bei besonderen Gefahren müssen besondere Maßnahmen ergriffen werden. Dazu gehört v. a. auch, dass die Beschäftigten über solche Gefahren und die getroffenen Schutzmaßnahmen unterrichtet werden. Ein Element des Arbeitsschutzes ist es, dass entsprechend der jeweiligen Arbeitsstätte Maßnahmen ergriffen werden, die zur Ersten Hilfe, zur Brandbekämpfung und zur Evakuierung der Beschäftigten erforderlich sind. Dafür sind je nach Größe des Betriebs bestimmte Ersthelfer*innen und Brandschutzhelfer*innen etc. zu benennen. Diese müssen entsprechend ihrer Aufgabe geschult worden sein und die für die Durchführung der Aufgaben erforderliche Ausrüstung bekommen. Zum Arbeitsschutz gehört auch die Durchführung arbeitsmedizinischer Untersuchungen, diese sind jedoch nicht in jedem Fall erforderlich. Für den Rettungsdienst ergibt sich eine solche Pflicht aus dem Anhang „Arbeitsmedizinische Pflicht und Angebotsvorsorge“ der Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge. Die Beschäftigten müssen über alle Gefahren in ihrem Arbeitsbereich informiert werden. Im Rahmen dieser Information müssen den Beschäftigten auch alle von der Arbeitgeber*in ergriffenen Maßnahmen über Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz mitgeteilt werden. Diese Information muss in Form einer förmlichen Unterweisung erfolgen. Diese Unterweisung hat bei der Einstellung zu erfolgen und muss dann erneut vorgenommen

werden, wenn sich der Aufgabenbereich verändert, neue Arbeitsmittel eingeführt werden oder neue Technologien zum Einsatz kommen. Arbeitgeber*innen können zuverlässige und fachkundige Personen schriftlich damit beauftragen, einzelne Aufgaben des Arbeitsschutzes in eigener Verantwortung wahrzunehmen. Dies sind dann z. B. Brandschutzbeauftragte oder Fachkräfte für Arbeitssicherheit. Nicht nur Arbeitgeber*innen sind nach dem Arbeitsschutzgesetz verpflichtet, auch die Beschäftigten selbst sind in der Pflicht, für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit Sorge zu tragen. Dies umfasst insb. auch, sich an die in den Unterweisungen mitgeteilten Vorgaben zu halten. Arbeitsmittel und Schutzausrüstungen müssen bestimmungsgemäß verwendet werden. Ergänzt wird diese Verpflichtung durch eine Meldepflicht. Von Beschäftigten festgestellte unmittelbare erhebliche Gefahren für die Sicherheit und Gesundheit sowie jeden an Schutzsystemen festgestellten Defekt müssen sie unverzüglich melden. Pr axis tip p Zur Schutzausrüstung gehört insb. die von der Arbeitgeber*in zur Verfügung gestellte Dienstkleidung. Dabei ist es Pflicht der Arbeitgeber*innen, entsprechende Dienstkleidung kostenlos zur Verfügung zu stellen. Dienstkleidung für den Rettungsdienst muss verschiedene Anforderungen erfüllen: Schuhe müssen z. B. Schutz gegen Umknicken und Wegrutschen bieten, Hose und Jacke müssen Sichtbarkeit und Schutz vor äußeren Einwirkungen (Flüssigkeiten etc.) gewährleisten. Die Schutzausrüstung muss stets an die

potenzielle Gefahrensituation angepasst und ggf. erweitert werden (z. B. durch Helm, Kittel usw.). Pflicht der Beschäftigten ist es, die Dienstkleidung zunächst einmal überhaupt und zudem vorschriftsmäßig zu tragen. Gleiches gilt für weitere Schutzausrüstung. Nur beim vorschriftsmäßigen Tragen können Kleidung und Ausrüstung ihre volle Schutzwirkung entfalten. Dies bedeutet z. B., dass Sicherheitsschuhe im Einsatz immer geschlossen getragen werden müssen oder die Jacke auch dann getragen werden muss, wenn sich aufgrund des Wetters kein Tragen einer Jacke anbietet. Alle Beschäftigten haben das Recht, Arbeitgeber*innen Vorschläge zu den Themen Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz zu machen. Gibt es konkrete Anhaltspunkte dafür, dass von Arbeitgeber*innen bereitgestellte Maßnahmen und Mittel nicht ausreichen, um die Sicherheit und den Gesundheitsschutz zu gewährleisten, dürfen sich Beschäftigte dann an die zuständigen Behörden wenden, wenn die Arbeitgeber*innen den darauf gerichteten Beschwerden nicht abhelfen. Dieses Recht besteht jedoch nur dann, wenn eine konkrete Gefahr besteht. Seit Mitte 2023 sind eine Vielzahl von Unternehmen und Organisationen verpflichtet, Meldekanäle einzurichten, über die Mitarbeitende Verstöße gegen rechtliche Vorschriften melden können (auch sog. Whistleblowing- oder Hinweisgeber-Systeme). Bei Nutzung dieser Meldekanäle ist den Meldenden Vertraulichkeit zu gewährleisten. Zudem dürfen den Beschäftigten durch eine solche Meldung keine (arbeitsrechtlichen) Nachteile entstehen. Eine

Ausnahme besteht für die Fälle, in denen vorsätzlich oder grob fahrlässig falsche Meldungen gemacht werden. In diesen Fällen entfällt die Verpflichtung zur Vertraulichkeit, zudem können falsche Meldungen zu rechtlichen Konsequenzen führen. Me r k e Verhalten bei Verstößen gegen Arbeitsschutzvorschriften • Arbeitgeber*innen können zur Beseitigung des Verstoßes aufgefordert werden • Ggf. Kontakt mit Arbeitsschutzbeauftragten oder der Arbeitnehmervertretung bei Arbeitgeber*in aufnehmen • Wenn keine Abhilfe geleistet wird, darf die zuständige Aufsichtsbehörde informiert werden • Ggf. Hinweis zu Verstößen über ein verfügbares Meldesystem

Arbeitssicherheitsgesetz Das Arbeitssicherheitsgesetz regelt die Pflichten von Arbeitgeber*innen zur Bestellung von Betriebsärzt*innen und Fachkräften für Arbeitssicherheit. Diese Pflicht besteht nur unter besonderen Voraussetzungen im Hinblick auf die konkreten Betriebsverhältnisse. Betriebsärzt*innen übernehmen im Falle einer Bestellung eine Vielzahl von Aufgaben wie Beratung, Untersuchung sowie Überwachung der Durchführung des Arbeitsschutzes. Auch Fachkräfte für Arbeitssicherheit haben die Aufgabe, die Arbeitgeber*innen zu beraten und die Durchführung des

Arbeitsschutzes zu überwachen. Betriebsärzt*innen und Fachkräfte für Arbeitssicherheit sind in ihrem Arbeitsbereich weisungsfrei. Es besteht ein Benachteiligungsverbot im Hinblick auf die von ihnen im Rahmen ihrer Tätigkeit gegebenen Hinweise und Anmerkungen. Gefahrstoffverordnung Die Gefahrstoffverordnung regelt Einteilung, Kennzeichnung und Umgang mit gefährlichen Stoffen. Gefahrstoffe werden je nach einschlägiger Gefahr in einzelne Gefahrstoffklassen eingeteilt. Gefahrstoffe müssen in der vorgeschriebenen Art gekennzeichnet werden, zudem müssen ihnen Sicherheitsdatenblätter beigefügt werden. Gefahrstoffe müssen von Arbeitgeber*innen in die Gefährdungsbeurteilung miteinbezogen werden. Im Anschluss an die Gefährdungsbeurteilung müssen erforderliche Schutzmaßnahmen umgesetzt werden. In erster Linie sind technische Maßnahmen zu ergreifen, um Gefährdungen für die Beschäftigten auszuschließen oder zu minimieren. Erst wenn dies nicht möglich ist, sind individuelle Schutzmaßnahmen zu ergreifen, z. B. persönliche Schutzausrüstung. Auch in Bezug auf die Lagerung müssen von Arbeitgeber*innen notwendige Vorkehrungen getroffen werden. Ebenso müssen wirksame Vorkehrungen getroffen werden, um Fehlgebrauch und Missbrauch zu verhindern. Werden brand- und explosionsgefährliche Stoffe vorgehalten, müssen u. a. zwischen einzelnen Arbeitsbereichen Brandschutzvorkehrungen getroffen werden, z. B. Einsatz von Brandschutztüren.

Für den Rettungsdienst ist es wichtig, die relevanten Kennzeichnungen von Gefahrstoffen zu kennen sowie den Umgang mit Sicherheitsdatenblättern. Ein wichtiges Element sind Unterrichtungen und Unterweisungen der Beschäftigten. Darüber hinaus sind Vorkehrungen für den Eintritt von Notfallsituationen zu treffen. Werden Biozidprodukte verwendet, z. B. Desinfektionsmittel, sind weitere Schutzmaßnahmen zu treffen. Diese Produkte müssen entsprechend den Gefahren gekennzeichnet und dürfen nur für die vorgesehenen Zwecke verwendet werden. R e ch t in e c ht Gefahrstoffe im Rettungsdienst Gefahrstoffe, mit denen der Rettungsdienst im Rahmen seiner Tätigkeit in Berührung kommt, sind z. B. • Reinigungsmittel • Desinfektionsmittel • Medizinischer Sauerstoff • Raum-Duft-Sprays

Arbeitsstättenverordnung Die Arbeitsstättenverordnung regelt die Gestaltung von Arbeitsstätten und Arbeitsplätzen. Für den Bau von Rettungswachen gibt es eine eigene DIN-Norm (DIN 13049) (vgl. › Kap. 2.5.5). Diese konkretisiert die baulichen Anforderungen an eine Rettungswache sowie für Standplätze einzelner Rettungsmittel.

Bürgerliches Gesetzbuch Auch im Bürgerlichen Gesetzbuch findet sich eine Vorschrift bzgl. des Arbeitsschutzes. Dies ist der § 618 BGB, welcher Ausprägung der allgemeinen Fürsorgepflicht der Arbeitgeber*in ist. Darin wird zunächst in allgemeiner Weise geregelt, dass die Arbeitgeber*in für den Arbeitsschutz verantwortlich ist. Diese allgemeine Formulierung wird durch die zuvor genannten öffentlich-rechtlichen Vorschriften konkretisiert. § 618 BGB gewährt Arbeitnehmer*innen einen Anspruch auf Erfüllung und Schadensersatz, wenn Arbeitgeber*innen ihren Arbeitsschutzverpflichtungen nicht nachkommen. Den Arbeitnehmer*innen steht ein einklagbarer Erfüllungsanspruch auf Schaffung arbeitsschutzkonformer Arbeitsbedingungen zu. Bei einer konkreten Gefahr für Leib und Leben sind Arbeitgeber*innen in jedem Fall verpflichtet, unverzüglich Arbeitsschutzmaßnahmen zu ergreifen. Gibt es bzgl. einzelner Arbeitsschutzvorschriften nur ein festgelegtes Schutzziel und keine Vorgabe konkreter Maßnahmen, können Arbeitgeber*innen grds. nach eigenem Ermessen entscheiden, auf welche Art und Weise sie dieses Ziel erreichen möchten. Erfüllt die Arbeitgeber*in die Arbeitsschutzpflichten nicht, steht Arbeitnehmer*innen ein Leistungsverweigerungsrecht zu. Im Falle einer berechtigten Leistungsverweigerung kann trotzdem die vertraglich vereinbarte Vergütung verlangt werden. Handelt es sich jedoch nur um geringfügige oder kurzfristige Verstöße der Arbeitgeber*in, die keinen nachhaltigen Schaden verursachen können, besteht kein Recht, die Arbeitsleistung zu verweigern.

R e ch t in e c ht (Fall 13.1) Notfallsanitäter Fabian und Notfallsanitäterin Marie sollen mit einem RTW fahren, bei dem der Sicherheitsgurt auf der Fahrerseite defekt ist und nicht verwendet werden kann. Dieses Problem kann kurzfristig nicht behoben werden und es steht kein Ersatzfahrzeug zur Verfügung. Aufgrund des hohen Unfallrisikos bei Alarmfahrten handelt es sich um einen erheblichen Defekt, der zur Leistungsverweigerung berechtigt. Sofern beispielsweise jedoch nur die Glühbirne eines Blinkers defekt ist, handelt es sich um einen Defekt, der eher geringfügig anzusehen ist, und der es nicht rechtfertigt, die Leistung zu verweigern. Werden durch einen Verstoß gegen die Arbeitsschutzpflichten die Arbeitnehmer*innen an Gesundheit oder Leben verletzt, können diese Schadensersatzansprüche gegen die Arbeitgeber*in geltend machen. In solchen Fällen wird i. d. R. jedoch der Unfallversicherungsträger den Schaden übernehmen. Ausgenommen davon sind insb. die Fälle, in denen die Arbeitgeber*in vorsätzlich gegen Arbeitsschutzpflichten verstoßen hat.

13.2 Das Arbeitsverhältnis Dieses Unterkapitel gewährt einen kurzen Einblick in die rechtlichen Grundlagen von Arbeitsverhältnissen. Dazu werden ausgewählte Themenbereiche vom Zustandekommen eines Arbeitsverhältnisses über rechtliche Aspekte während eines bestehenden Arbeitsverhältnisses bis zu dessen Beendigung beleuchtet.

13.2.1 Rechtsquellen von Arbeitsverhältnissen Die rechtlichen Rahmenbedingungen für Arbeitsverhältnisse sind europarechtlich geprägt. Viele gesetzliche Vorschriften sind das Ergebnis der Umsetzung von Richtlinien der EU (› Kap. 2.8.1). Rechtsquellen für Arbeitsverhältnisse finden sich im Grundgesetz, in Gesetzen, in Rechtsverordnungen, in Tarifverträgen, in Betriebsvereinbarungen sowie in Arbeitsverträgen. Gesetze, die sich auf Arbeitsverhältnisse beziehen, sind insb. das Bürgerliche Gesetzbuch, die Gewerbeordnung, das Handelsgesetzbuch, das Tarifvertragsgesetz, einzelne Sozialgesetzbücher, das Gesetz über Arbeitnehmererfindungen, das Arbeitsgerichtsgesetz sowie diverse Arbeitsschutzgesetze. Einige Besonderheiten finden sich bei Arbeitsverhältnissen im öffentlichen Dienst. Dort gibt es z. B. keine betriebliche Mitbestimmung nach dem Betriebsverfassungsgesetz, sondern es gilt das Personalvertretungsrecht. Zudem gewährleistet Art. 33 Abs. 2 GG den gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern. Diese Regelung hat insb. im Rahmen der Personalauswahl bei öffentlichen Arbeitgeber*innen Bedeutung. Für gerichtliche Entscheidungen im Zusammenhang mit Streitigkeiten zu Arbeitsverhältnissen gibt es eine eigene fachliche Gerichtsbarkeit (vgl. › Kap. 2.6.1) mit einer eigenen Verfahrensordnung für den Ablauf der Gerichtsverfahren. R e ch t in e c ht Konkrete rechtliche Regelungen zu Arbeitsverhältnissen im Rettungsdienst ergeben sich oftmals aus unterschiedlichen

Arbeits- und Tarifverträgen sowie Betriebsvereinbarungen. Eine rechtliche Beurteilung einzelner Probleme oder Sachverhalte muss immer individuell anhand der geltenden Bestimmungen getroffen werden. Aufgrund dessen ist es kaum möglich, hier konkrete rechtliche Hinweise zu einzelnen Fragestellungen in allgemeiner Form darzustellen. Die Ausführungen in diesem Abschnitt beziehen sich daher auf Grundsätze des Arbeitsrechts, mit einzelnen Bezügen zum Rettungsdienst.

13.2.2 Grundbegriffe des Arbeitsrechts Einer der wichtigsten Begriffe des Arbeitsrechts ist der der Arbeitnehmer*in, da die Arbeitnehmereigenschaft Voraussetzung für die Geltung arbeitsrechtlicher Gesetze mit den darin enthaltenen Rechten und Pflichten ist. Für die meisten Angestellten im Rettungsdienst birgt die Qualifikation als Arbeitnehmer*in keine Schwierigkeit, da sich diese ohnehin aus dem Arbeitsvertrag ergibt. Bedeutung gewinnt der Arbeitnehmer*innen-Begriff bei sog. Freelancer*innen. Diese können z. B. selbstständige (Not-)Ärzt*innen oder auch freie Dozent*innen im Rettungsdienst sein. Nach der Rechtsprechung liegt die Arbeitnehmereigenschaft dann vor, wenn • die Erbringung einer Arbeitsleistung (im Gegensatz zum Hobby) • aufgrund eines privatrechtlichen Vertrages (in Abgrenzung zum öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnis, z. B. bei Beamten)

• in persönlicher Abhängigkeit (dient zur Abgrenzung zum freien Dienstvertrag) erfolgt. Im Zusammenhang mit dem Rettungsdienst kann insb. der Punkt „persönliche Abhängigkeit“ entscheidend sein. Persönliche Abhängigkeit soll dann vorliegen, wenn die Arbeit nach Weisungen (zu Zeit, Dauer, Ort und Art der Arbeit) und durch eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers erfolgt. In Abgrenzung dazu soll eine selbstständige Tätigkeit dann vorliegen, wenn die Arbeitszeit frei gestaltet werden kann, eigenes Unternehmerrisiko getragen wird, eine eigene Betriebsstätte vorhanden ist und eigenständig über die eigene Arbeitskraft verfügt werden kann. Die Abgrenzung zwischen selbstständiger Tätigkeit und abhängiger Beschäftigung kann insb. im Sozialversicherungsrecht relevant werden. Das Bundessozialgericht hat in diesem Zusammenhang festgestellt, dass Notärzt*innen auch dann, wenn diese auf Honorarbasis im Rettungsdienst tätig sind, abhängig beschäftigt sind. Begründet wird dies damit, dass in diesen Fällen ein Weisungsrecht bestehe, zwar nicht in Bezug auf die konkrete Art der Behandlung von Patient*innen, jedoch durch die Möglichkeit der Zuweisung von Einsätzen durch die Rettungsleitstelle. Während der einsatzfreien Zeit könne sich die Notärzt*in auch nicht an jedem beliebigen Ort aufhalten, sondern müsse dies in unmittelbarer Nähe des Fahrzeugs tun, um bei einer Alarmierung schnellstmöglich zum Einsatzort gebracht zu werden. Darüber hinaus sei eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des

Rettungsdienstträgers darin zu sehen, dass die Zusammenarbeit mit dem Rettungsdienstpersonal als Teil der Rettungskette anzusehen sei. Dabei erfolge die Nutzung der Organisationsstrukturen, der Einrichtungen (Rettungswache) sowie der personellen (nichtärztliches Rettungsdienstpersonal) und sächlichen Betriebsmittel (medizinische Ausrüstung). In diesen Fällen bestehe auch kein nennenswertes eigenes Unternehmerrisiko, da ein festes Honorar für geleistete Einsatzstunden gezahlt würde. [3] Eine selbstständige Tätigkeit hat u. a. zur Folge, dass hier eine Verpflichtung besteht, Sozialversicherungsbeiträge zu zahlen. A c ht u ng In sozialversicherungsrechtlicher Hinsicht besteht hier das Risiko einer Scheinselbstständigkeit. Eine solche kann immer dann vorliegen, wenn Erwerbstätige wie Selbstständige behandelt werden, tatsächlich jedoch wie abhängig Beschäftigte arbeiten. Eine Scheinselbstständigkeit kann mit erheblichen Nachzahlungen verbunden sein, z. B. Nachzahlungen zur Sozialversicherung etc. Zudem können Auftraggeber*innen zu viel gezahltes Entgelt zurückfordern, denn Selbstständige verdienen oftmals deutlich mehr als Angestellte. Aus rechtlicher Sicht sollte eine Scheinselbstständigkeit daher unbedingt vermieden werden.

13.2.3 Anbahnung des Arbeitsverhältnisses Für Bewerber*innen beginnt die sog. Anbahnung eines Arbeitsverhältnisses mit der Bewerbung. Bei Arbeitgeber*innen sind jedoch bereits im Vorfeld einer Stellenausschreibung eine

Vielzahl von Regelungen zu beachten. Betriebe mit Mitbestimmung haben z. B. oftmals Regelungen dazu, dass Stellen zunächst einmal intern ausgeschrieben werden müssen, bevor es eine externe Stellenausschreibung gibt. Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) gilt für das gesamte Arbeitsverhältnis sowie dessen Anbahnung. Im Zusammenhang mit der Anbahnung regelt das AGG, dass Stellenausschreibungen ohne sachlichen Grund nicht benachteiligend sein dürfen. Fälle, in denen Benachteiligungen in Betracht kommen können, sind z. B. Beschränkungen hinsichtlich des Geschlechts oder des Alters bei einer Stellenausschreibung. Dabei sind Benachteiligungen nicht pauschal unzulässig, sondern immer nur dann, wenn es keinen sachlichen Grund für eine Benachteiligung gibt. Nicht nur solche Benachteiligungen sind unzulässig, bei denen sich diese unmittelbar aus dem Wortlaut ergibt, sondern auch solche, die mittelbar zu einer Benachteiligung führen. Dabei handelt es sich um scheinbar neutrale Regelungen, die jedoch nur bei bestimmten Personengruppen relevant sind. Rechtsfolge einer benachteiligenden Stellenausschreibung ist, dass bei einer Ablehnung der Bewerbung vermutet wird, dass diese Ablehnung aufgrund der Benachteiligung erfolgt ist. Erfüllt eine abgelehnte Bewerber*in das unzulässige Merkmal, stehen dieser Schadensersatzansprüche zu. Menschen mit Behinderungen

Ziel des Gesetzgebers ist es, Menschen mit Schwerbehinderungen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Unternehmen ab einer bestimmten Größe müssen eine bestimmte Anzahl von Arbeitsplätzen mit Menschen besetzen, die eine Schwerbehinderung (§ 2 SGB IX) haben. Fragerechte im Bewerbungsgespräch In einem Bewerbungsgespräch haben sowohl Arbeitgeber*innen als auch Bewerber*innen Rechte und Pflichten. Arbeitgeber*innen müssen Bewerber*innen über alle Umstände aufklären, die für einen Vertragsabschluss erkennbar von Bedeutung sind. So ist z. B. darüber aufzuklären, wenn sich ein Unternehmen in massiven Zahlungsschwierigkeiten befindet, wodurch die Zahlung der Gehälter in absehbarer Zeit gefährdet ist. Arbeitgeber*innen dürfen Bewerber*innen bei den Vertragsverhandlungen zudem nicht täuschen. Wenn dies doch erfolgt, kann dies zu Schadensersatzansprüchen der Bewerber*in führen. Bewerber*innen müssen Angaben in Bezug auf ihre Qualifikation und Eignung machen. Ohne Frage der Arbeitgeber*in muss jedoch nur auf solche Tatsachen hingewiesen werden, welche diese nach Treu und Glauben erwarten darf, dies sind u. a. Umstände, die für den Arbeitsplatz von ausschlaggebender Bedeutung sind. Die Fragerechte der Arbeitgeber*in können bei verschiedenen Themen eingeschränkt sein (› Tab. 13.1). Dies betrifft z. B. Fragen nach Erkrankungen und Behinderungen (ohne

Zusammenhang mit der Arbeit), ethnischer Herkunft, Vermögenssituation, sexueller Orientierung. Tab. 13.1 Beispiele für Fragen im Bewerbungsgespräch Zulässige Fragen

Unzulässige Fragen

Frage nach Qualifikation und

Frage nach Familienplanung

beruflichem Werdegang Frage nach Gesundheitszustand,

Frage nach Schwangerschaft

wenn ein Zusammenhang mit der auszuübenden Tätigkeit besteht Frage nach Arbeitserlaubnis

Frage nach Gewerkschaftszugehörigkeit

Frage nach Vorstrafen, wenn ein Bezug zur auszuübenden

Frage nach Zigaretten- oder Nikotinkonsum

Tätigkeit besteht; bei Bewerber*innen im öffentlichen Dienst darf auch nicht nach einschlägigen Vorstrafen gefragt werden Frage nach bestehendem Wettbewerbsverbot, wenn Bezug zur auszuübenden Tätigkeit

Frage nach gelegentlichem Alkoholkonsum

Ein Anspruch auf Vorlage eines Führungszeugnisses besteht nur dann, wenn dies gesetzlich vorgeschrieben ist. In Bezug auf Backgroundchecks durch Recherche zu den Bewerber*innen im Internet muss differenziert werden. Ergebnisse, die nach Eingabe der Daten in allgemein zugänglichen Suchmaschinen erhältlich sind, dürfen von Arbeitgeber*innen verarbeitet werden. Anders ist dies bei Daten aus Datenbanken, die erst nach vorheriger Anmeldung zugänglich sind, z. B. Facebook. Hier liegen Daten vor, die nicht ohne Weiteres allen zugänglich sind. Ärztliche Eingangsuntersuchungen sind dann zulässig, wenn sie für die angestrebte Tätigkeit erforderlich sind, die Arbeitgeber*in ein berechtigtes Interesse daran hat und die Bewerber*in eingewilligt hat. Entsprechende Untersuchungen werden i. d. R. von Betriebsärzt*innen durchgeführt. Löschung von Bewerbungsunterlagen und -daten Eingereichte Bewerbungsunterlagen können zurückverlangt werden. Kommt das Arbeitsverhältnis nicht zustande, kann verlangt werden, dass die von der Arbeitgeber*in im Rahmen des Bewerbungsverfahrens gespeicherten Daten gelöscht werden. Die Daten dürfen von Arbeitgeber*innen nach Abschluss des Bewerbungsverfahrens grds. nur noch für die Dauer von sechs Monaten gespeichert werden, um sich gegen etwaige Ansprüche abgelehnter Bewerber*innen verteidigen zu können.

13.2.4 Der Arbeitsvertrag Für das einzelne Arbeitsverhältnis bildet der Arbeitsvertrag das zentrale Regelungsinstrument. Kommt es zu irgendwelchen Problemen im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses, lohnt sich

zuallererst ein Blick in den Arbeitsvertrag. In › Kap. 6.1.2 wurde der Grundsatz der Vertragsfreiheit mit den Begriffen Abschlussfreiheit, Inhaltsfreiheit und Formfreiheit erklärt. Diese Vertragsfreiheit ist im Arbeitsverhältnis in vielerlei Hinsicht eingeschränkt. Einschränkungen gibt es, u. a. durch die Vorgaben des AGG, bereits bei der Auswahl der Vertragspartner*in. Zusätzlich zu den Beschränkungen der Abschlussfreiheit gibt es eine Vielzahl von Beschränkungen im Hinblick auf den Inhalt von Arbeitsverträgen. Die Grundlage dafür findet sich im Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 GG. Das Sozialstaatsprinzip gebietet es, dass existenzielle Lebensrisiken staatlich abgesichert und Schwächere geschützt werden (› Kap. 2.3.1). Im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses werden Arbeitnehmer*innen als schwächere Vertragspartner*innen angesehen, die besonders schutzbedürftig sind. Denn der Verlust des Arbeitsplatzes kann aufgrund des Wegfalls des damit verbundenen Einkommens schnell zu einer existenzbedrohlichen Situation führen. Die Beschränkungen der Inhaltsfreiheit beziehen sich dabei u. a. auf das Entgelt, welches durch das Mindestlohngesetz (Gewährleistung eines Mindestlohns) und das Entgeltfortzahlungsgesetz (Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall) abgesichert wird. Dem Gesundheitsschutz wird u. a. durch das Arbeitszeitgesetz (Begrenzung der Länge der Arbeitszeit und Ruhezeiten), das Bundesurlaubsgesetz (Gewährleistung von bezahltem Erholungsurlaub), das Mutterschutzgesetz (Schutz während der Schwangerschaft), das Arbeitsschutzgesetz (Sicherheit am Arbeitsplatz) sowie Unfallverhütungsvorschriften Rechnung getragen. Rechtliche Möglichkeiten zum Schutz vor einem Verlust

des Arbeitsplatzes gewährt u. a. das Kündigungsschutzgesetz, wobei sich Regelungen zum Kündigungsschutz auch in anderen Gesetzen finden. Weitere Einschränkungen von Arbeitgeber*innen können sich aus Tarifverträgen sowie aus dem Betriebsverfassungsgesetz ergeben, wenn es im jeweiligen Unternehmen betriebliche Mitbestimmung von Arbeitnehmer*innen gibt. Die betriebliche Mitbestimmung ist für solche Regelungen nicht zulässig, die bereits durch einen einschlägigen Tarifvertrag geregelt werden. Hier entfaltet das Tarifrecht eine Sperrwirkung für die betriebliche Mitbestimmung. A c ht u ng Von den zwingenden gesetzlichen Vorschriften kann durch Vertrag nicht abgewichen werden. Dies führt zu einer Abweichung vom Grundsatz der Vertragsfreiheit. Im öffentlichen Dienst können zudem Dienstvereinbarungen relevant werden. Für den Abschluss eines Arbeitsvertrages gilt grds. Formfreiheit. Das Nachweisgesetz regelt jedoch mit einem umfassenden Katalog, dass Arbeitgeber*innen die wesentlichen Vertragsbedingungen des Arbeitsverhältnisses innerhalb einer bestimmten Frist schriftlich niederlegen müssen. Diese Niederschrift muss unterzeichnet und den Arbeitnehmer*innen ausgehändigt werden. R e ch t in e c ht

Die vom Nachweisgesetz geforderten Informationen können auch im Arbeitsvertrag selbst schriftlich niedergelegt werden. Ein separates Dokument ist dafür nicht erforderlich. Wesentliche Vertragsbedingungen sind u. a. • Zeitpunkt Beginn des Arbeitsverhältnisses • Arbeitsort bzw. Hinweis darauf, dass eine Beschäftigung an verschiedenen Orten möglich ist • Charakterisierung oder Beschreibung der zu leistenden Tätigkeit • Zusammensetzung und Höhe des Arbeitsentgelts, einschl. Vergütungen von Überstunden, Zuschlägen, Zulagen etc. • Fälligkeit der Auszahlung des Arbeitsentgelts • Arbeitszeit, Ruhepausen, Ruhezeiten, Schichtsystem, Schichtrhythmus, Voraussetzungen für Schichtänderungen • Dauer des jährlichen Erholungsurlaubs

Damit wird sichergestellt, dass Arbeitnehmer*innen jederzeit einen Überblick über die vertraglichen Rahmenbedingungen des Arbeitsverhältnisses haben. Ändern sich im Laufe der Zeit wesentliche Vertragsbedingungen, müssen diese auch spätestens an dem Tag, an dem sie wirksam werden, schriftlich mitgeteilt werden. Ein Verstoß von Arbeitgeber*innen gegen die gesetzlichen Nachweispflichten kann mit einem Bußgeld geahndet werden. Zudem können Arbeitnehmer*innen Schadensersatzansprüche

geltend machen, wenn sie durch eine Verletzung der Nachweispflichten Schäden erleiden. In Arbeitsverträgen können von Arbeitgeber*innen verwendete Klauseln unwirksam sein. Ob eine Klausel unwirksam ist, muss jedoch immer im Einzelfall beurteilt werden. In vielen Fällen kommt es auf die Formulierung im Detail an. Allgemein gilt: Je allgemeiner und pauschaler eine Klausel formuliert ist und je weniger diese die Interessen der Arbeitnehmer*innen berücksichtigt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um eine Klausel handelt, die unwirksam ist.

13.2.5 Rechtliche Aspekte während eines Arbeitsverhältnisses Während eines Arbeitsverhältnisses können zahlreiche rechtliche Aspekte relevant werden. Im Hinblick auf den Arbeitsschutz gibt es eine Vielzahl von Rechten und Pflichten der Vertragsparteien (› Kap. 13.1.). Darüber hinaus kommt den folgenden Themen eine wichtige Bedeutung zu. Schutz vor Diskriminierungen Wie bereits erwähnt bietet das AGG einen umfassenden Schutz vor Benachteiligungen und Diskriminierungen im Zusammenhang mit Arbeitsverhältnissen. Die Diskriminierungsgründe sind im AGG festgelegt und betreffen die Rasse bzw. ethnische Herkunft, das Geschlecht, Religion und Weltanschauung, Behinderungen, Sexualität und Alter. Benachteiligungen in Bezug auf die Arbeitsbedingungen und das Entgelt sind unzulässig. Neben solchen unmittelbaren

Benachteiligungen sind auch verdeckte Benachteiligungen unzulässig. R e ch t in e c ht Laut AGG stellt eine Diskriminierung aufgrund des Alters eine direkte Diskriminierung dar, wenn eine Person aufgrund ihres Alters in einer vergleichbaren Situation schlechter behandelt wird als eine andere Person. Eine indirekte Diskriminierung liegt vor, wenn scheinbar neutrale Regelungen, Kriterien oder Verfahren dazu führen können, dass bestimmte Personen aufgrund ihres Alters benachteiligt werden. Das wäre z. B. der Fall, wenn für die Aufnahme der Ausbildung zur Notfallsanitäter*in das Vorlegen eines Führerscheins verlangt wird, obwohl dieser für die Tätigkeit nicht unbedingt erforderlich ist, da die Hauptaufgabe der Schüler*innen während der Ausbildung nicht darin bestehen soll, Rettungsmittel zu steuern. Verboten sind insb. auch Belästigungen. Belästigungen liegen dann vor, wenn unerwünschte Verhaltensweisen in Bezug auf einen der in § 1 AGG geschützten Gründe bezwecken oder bewirken, dass die Würde der Betroffenen verletzt wird. Belästigungen können durch Einschüchterung, Anfeindung, Erniedrigung, Entwürdigung oder Beleidigung verwirklicht werden. Dies kann entweder verbal oder nonverbal erfolgen, z. B. Beleidigungen, abwertende Äußerungen, Drohungen, Gesten, Blicke, körperliche Übergriffe etc. Eine besondere Form der Belästigung ist die sexuelle Belästigung. Diese setzt ein sexuell bestimmtes Verhalten voraus, z. B. unerwünschte Handlungen oder Aufforderungen zu diesen, bestimmte körperliche Berührungen, Bemerkungen sexuellen

Inhalts, unerwünschtes Zeigen und sichtbares Anbringen von pornografischen Darstellungen. Bereits einmalige Verhaltensweisen können den Tatbestand der sexuellen Belästigung erfüllen. Ob eine sexuelle Belästigung vorliegt, wird nach dem Eindruck eines objektiven Beobachters beurteilt. Eingriffe in die körperliche Intimsphäre können absichtliche Berührungen primärer oder sekundärer Geschlechtsmerkmale sein, unabhängig davon, ob die Körperteile bekleidet sind oder nicht. Dazu gehören zudem Küsse, Kneifen und Klapsen auf das Gesäß, aber auch Umarmungen und obszöne Äußerungen sowie anzügliche Bemerkungen über sexuelle Neigungen und Vorlieben etc. Sexuelle Belästigungen können auch strafrechtlich verfolgt und entsprechend strafrechtlich sanktioniert werden (vgl. › Kap. 7.5.9). Arbeitgeber*innen haben in Bezug auf Belästigungen und sexuelle Belästigungen eine Schutzpflicht gegenüber den Arbeitnehmer*innen. Sofern diese bei Kenntnis davon keine oder offensichtlich ungeeignete Maßnahmen ergreifen, steht betroffenen Arbeitnehmer*innen ein Leistungsverweigerungsrecht zu (§ 14 AGG). Dies bedeutet, dass in solchen Fällen die Arbeitsleistung verweigert werden darf, wenn der betroffenen Person angesichts der Art und Schwere der Verletzung kein anderes Mittel zur Verfügung steht. Bei einer berechtigten Leistungsverweigerung bleibt der Anspruch auf Vergütung bestehen. Das Risiko einer Fehleinschätzung trägt jedoch die Arbeitnehmer*in. Pr axis tip p In solchen Situationen kann es sinnvoll sein, sich arbeitsrechtlich beraten zu lassen, bevor Leistungsverweigerungsrechte ausgeübt werden. Arbeitsrechtliche

Beratung bieten z. B. Gewerkschaften für ihre Mitglieder oder Fachanwält*innen für Arbeitsrecht. Im Übrigen können Arbeitnehmer*innen bei Benachteiligungen Ansprüche auf Schadensersatz haben (§ 15 Abs. 1 AGG). Zudem kann unter bestimmten Voraussetzungen eine weitere Entschädigung verlangt werden (§ 15 Abs. 2 AGG). Das Benachteiligungsverbot richtet sich nicht nur an Arbeitgeber*innen, sondern auch an Arbeitskolleg*innen und Dritte. Eine Benachteiligung stellt eine Vertragsverletzung dar, die abgemahnt werden oder auch zu einer Kündigung führen kann. Arbeitnehmer*innen, die Rechte nach dem AGG in Anspruch nehmen und geltend machen, dürfen dafür nicht gemaßregelt werden (§ 16 AGG). Der Schutz vor Nachteilen bezieht sich auch auf solche Kolleg*innen, die die betroffene Person unterstützen. Um die Einhaltung des AGG sicherzustellen, treffen Arbeitgeber*innen Organisationspflichten (§ 12 AGG). Arbeitgeber*innen sind demnach verpflichtet vorbeugende Maßnahmen zu ergreifen, um Benachteiligungen in der Organisation zu verhindern. Dies umfasst die Verpflichtung, alle Beschäftigten in geeigneter Art und Weise darauf hinzuweisen, dass Benachteiligungen unzulässig sind und darauf hinzuwirken, dass solche unterbleiben. Dabei geht es darum, die Grundlagen des menschlichen Miteinanders klar zu kommunizieren und dabei deutlich zu machen, dass obszöne Äußerungen, das „Begrapschen“ und „Anmachen“ von Kolleg*innen sowie Beleidigungen und Bedrohungen nicht zulässig sind. Kommt es zu Benachteiligungen,

sind Arbeitgeber*innen verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen. Beschwerden muss in jedem Fall nachgegangen werden. A c ht u ng Die zuvor genannten Grundsätze gelten auch im öffentlichen Dienst. Belästigungen etc. können zu disziplinarrechtlichen Konsequenzen führen und letztendlich auch bedeuten, aus dem Beamtenverhältnis entlassen zu werden. Beim Mobbing handelt es sich um Verhaltensweisen, die es schon immer im Arbeitsleben gegeben hat. Darunter zu verstehen ist das systematische Anfeinden, Schikanieren und Diskriminieren von Arbeitnehmer*innen untereinander oder durch Vorgesetzte. Dies kann direkt am Arbeitsplatz oder indirekt über Kommunikationsmedien geschehen (Cybermobbing). Dabei ist zu beachten, dass nicht jede Auseinandersetzung Mobbing ist. Im Arbeitsalltag ist es nicht ungewöhnlich, dass es zu Reibungen und Konflikten kommt. Wann die Grenze zum systematischen Anfeinden und Schikanieren überschritten wird, ist dabei eine Frage des Einzelfalls. Betroffene von Mobbing können sowohl Ansprüche gegen Kolleg*innen als auch gegen Arbeitgeber*innen haben. Auch in Bezug auf Mobbing haben Arbeitgeber*innen eine Schutzpflicht. Diese umfasst, dass Beschwerden ernst genommen werden müssen und diesen nachgegangen werden muss. Bei berechtigten Beschwerden müssen notwendige organisatorische Maßnahmen getroffen werden, um die betroffenen Arbeitnehmer*innen zu schützen. Bei der Auswahl der Maßnahmen steht Arbeitgeber*innen Ermessen zu.

Pr axis tip p Sollte es zu (Cyber-)Mobbing am Arbeitsplatz kommen, können sich Betroffene zunächst an die jeweiligen Arbeitgeber*innen wenden. Ist dies nicht erfolgreich oder geht das Mobbing von der Arbeitgeber*in selbst aus, bietet es sich an, die Mitarbeitervertretung (z. B. den Betriebsrat) miteinzubeziehen. Ist es notwendig, eine externe Beratung in Anspruch zu nehmen, können Betroffene sich an die Antidiskriminierungsstelle des Bundes wenden. Die Kontaktaufnahme erfolgt über das Internet (https://www.antidiskriminierungsstelle.de/) oder telefonisch (0800 546 546 5). Sollte sich ein Rechtsstreit anbahnen, ist es sinnvoll, sich (arbeits-)rechtlich beraten zu lassen. Um hierbei später darzulegen, was passiert ist, kann es hilfreich sein, die Geschehnisse zu dokumentieren (z. B. Mobbingtagebuch). Direktionsrecht der Arbeitgeber*in Das arbeitsrechtliche Direktionsrecht ist in § 106 der Gewerbeordnung geregelt. Dieses Recht bietet Arbeitgeber*innen die Möglichkeit, in gewissen Grenzen einseitige Regelungen im Hinblick auf die Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses zu treffen. Es ist dazu da, die Arbeitspflichten inhaltlich, örtlich und zeitlich zu konkretisieren. Me r k e Das Direktionsrecht berechtigt die Arbeitgeber*in, die Arbeitspflichten der Arbeitnehmer*in zu konkretisieren. Eine Konkretisierung erfolgt bezüglich

• Inhalt, • Ort und • Zeit. Das heißt, die Arbeitgeber*in darf grds. die verpflichtenden Arbeitshandlungen der Arbeitnehmer*in inhaltlich, örtlich und zeitlich ausgestalten oder an die jeweiligen Umstände anpassen. Die Ausgestaltung darf bestimmte Grenzen jedoch nicht überschreiten. Die Grenze für dieses Direktionsrecht bilden insb. Betriebsvereinbarungen, Tarifverträge und gesetzliche Vorschriften. Durch das Direktionsrecht darf der Inhalt des Arbeitsvertrages nicht verändert werden. Je allgemeiner der Arbeitsvertrag die zu erbringenden Arbeitsleistungen umschreibt, desto weitgehender ist demnach auch das Direktionsrecht. Wurde von Arbeitgeber*innen längere Zeit kein Gebrauch vom Direktionsrecht gemacht, kann eine Arbeitnehmer*in nicht ohne Weiteres daraus den Schluss ziehen, dass dies auch zukünftig nicht erfolgen wird. Die Ausübung des Direktionsrechts muss nach sog. billigem Ermessen erfolgen. Dies bedeutet, dass die wechselseitigen, berechtigten Interessen der Vertragspartner*innen in die Entscheidung miteinbezogen werden müssen. Bei einer unbilligen Weisung kann Arbeitnehmer*innen ein Leistungsverweigerungsrecht zustehen. Jedoch besteht auch hier das Risiko, dass ein Gericht diese Auffassung nicht teilt. Dieses Risiko geht dann zulasten der Arbeitnehmer*in. Sofern das

Direktionsrecht billigem Ermessen entspricht, verliert die Arbeitnehmer*in den Anspruch auf Vergütung für die Zeit, in welcher die Leistung verweigert wurde. Zudem kann die Arbeitgeber*in die Leistungsverweigerung sanktionieren. Ist das Direktionsrecht jedoch unbillig ausgeübt worden, besteht ein Anspruch der Arbeitnehmer*in auf Beschäftigung zu den bisherigen Bedingungen. R e ch t in e c ht Die Ausübung des Direktionsrechts hat grds. während der Arbeitszeit zu erfolgen. Dies bedeutet, dass die entsprechenden Weisungen den Beschäftigten während der Arbeitszeit zugehen müssen. Beschäftigte sind nicht verpflichtet, in ihrer Freizeit dienstliche E-Mail-Accounts zu checken oder dienstliche SMS abzurufen bzw. zu lesen, es sei denn, diese Verpflichtung wurde wirksam vereinbart. Ansonsten steht Beschäftigten während ihrer Freizeit grds. das Recht auf Unerreichbarkeit zu. Es gehört zu den wesentlichen Persönlichkeitsrechten, dass ein Mensch selbst darüber entscheiden kann, für wen er/sie in der Zeit der Freizeit erreichbar sein will oder nicht. Das Recht darauf, nicht erreicht zu werden, dient dabei sowohl dem Persönlichkeitsrecht als auch der Gewährleistung des Gesundheitsschutzes und einer ausreichenden Ruhezeit. [4] R e ch t in e c ht Das Direktionsrecht umfasst auch die Möglichkeit, Weisungen zur Pflege von Material und Ausrüstung zu erteilen. Dies bedeutet, dass Weisungen, „die Halle zu fegen“ oder „das Fahrzeug zu

waschen“ grds. zulässig sind. Die Pflege von Ausrüstung und Material gehört zu den Nebenpflichten von Arbeitnehmer*innen. Dies gilt auch dann, wenn dies nicht explizit in Arbeitsverträgen geregelt ist. Die Grenze ist dort überschritten, wo derartige Weisungen vollkommen willkürlich erteilt werden und die Schwelle der Schikane überschreiten. Ort der Arbeitsleistung Der Ort der Arbeitsleistung richtet sich grds. nach dem Arbeitsvertrag. Ist dieser eindeutig bestimmt, kann das Direktionsrecht der Arbeitgeber*in bzgl. des Arbeitsorts ausgeschlossen sein. Oftmals wird der Arbeitsort jedoch mit Einschränkungen versehen, z. B., indem das Wort „derzeit“ verwendet wird. Dies eröffnet die Möglichkeit für die Ausübung des Direktionsrechts. Wird sogar nur ein Gebiet umschrieben, kann der Arbeitsort im Rahmen des Direktionsrechts innerhalb dieses Gebietes festgelegt werden. Besteht die Möglichkeit zur Ausübung dieses Direktionsrechts, muss dies wieder unter Berücksichtigung der wechselseitigen Interessen erfolgen. Im öffentlichen Dienst besteht die Möglichkeit, Arbeitnehmer*innen zu einem anderen Arbeitsort abzuordnen. Auch Teilabordnungen sind möglich. Eine unwirksame Versetzung führt zu einem Anspruch auf Beschäftigung am bisherigen Tätigkeitsort. Inhalt der Arbeitstätigkeit Der Inhalt der Arbeitstätigkeit ergibt sich oftmals aus dem Arbeitsvertrag. Ist dort eine bestimmte Tätigkeit vereinbart

worden, beschränkt sich das Weisungsrecht nur in einer Konkretisierung dieses Tätigkeitsbereichs. Es ist unzulässig, einer Arbeitnehmer*in einen geringwertigeren Tätigkeitsbereich zuzuweisen. Dies gilt auch in den Fällen, in denen die bisherige Vergütung weitergezahlt wird. Wird das Tragen einer bestimmten Kleidung vorgeschrieben, sind Umkleidezeiten und entsprechende innerbetriebliche Wegezeiten als Arbeitszeit anzusehen. R e ch t in e c ht Oftmals kommt die Frage auf, ob ein Einsatz übernommen werden muss, obwohl es kurz vor Feierabend ist und bei Alarmierung klar ist, dass dadurch Überstunden gemacht werden müssen. Mit dieser Frage hat sich das Landesarbeitsgericht BadenWürttemberg beschäftigt und dazu entschieden: Bei nicht überlappenden Dienstzeiten ist es laut dem LAG vorprogrammiert, dass Einsätze, die sich ja nicht an den Vorgaben des Dienstplanes orientieren würden, dazu führen können, dass die Dienstzeit überschritten wird. In diesen Fällen würden Arbeitgeber*innen in Kauf nehmen, dass arbeitszeitrechtliche Bestimmungen verletzt werden. Es gehöre zu den Organisationspflichten von Arbeitgeber*innen, nur solche Einsätze anzuordnen, die voraussichtlich innerhalb der Dienstzeit abgewickelt werden können. Dies sei organisatorisch z. B. durch überlappende Dienste oder versetzte Arbeitszeiten mehrerer Einsatzgruppen gestaltbar. [5] Die vorhergehende Entscheidung wird vom Sächsischen Landesarbeitsgericht aufgegriffen. Dieses führt aus, dass im Falle einer Alarmierung, die zu einer voraussichtlichen Überschreitung

der Arbeitszeit führen würde, zuvor eine Rücksprache mit der Leitstelle erforderlich sei. [6] Vor dem Hintergrund dieser Entscheidungen kann es durchaus möglich sein, dass Beschäftigte einen Einsatz ablehnen, wenn dies zu einer Überschreitung der Arbeitszeit führt. Hierzu sind jedoch die Rahmenbedingungen für das individuelle Arbeitsverhältnis zu berücksichtigen, v. a. Regelungen in Arbeitsverträgen, Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen. Kommt es in bestimmten Einsatzbereichen regelmäßig zu einer Überschreitung der Arbeitszeit durch Einsätze kurz vor Feierabend, sollten alle Beteiligten versuchen, derartige Fälle einvernehmlich für die Zukunft zu regeln. Weisungen, die das Tragen von Schmuck etc. verbieten, sind insb. dann wirksam, wenn dies aus Gründen des Arbeitsschutzes erfolgt. Nebenarbeiten sind dann zu verrichten, wenn deren Übernahme den Regelungen des Arbeitsvertrages entspricht und solche Aufgaben betrifft, die typischerweise in dem vereinbarten Tätigkeitsbereich anfallen oder zeitlich eine untergeordnete Bedeutung haben. Davon umfasst sind Tätigkeiten wie das Herbeischaffen von Material, Aufräumen und Reinigen des Arbeitsplatzes sowie Pflege der Ausstattung. Eine Weisung, die verrichteten Tätigkeiten zu dokumentieren, ist rechtmäßig. Das Weisungsrecht kann auch umfassen, an erforderlichen Schulungen teilzunehmen. R e ch t in e c ht

Die Weisung an einen Feuerwehrbeamten mit der Qualifikation Rettungsassistent, an einer fünfwöchigen Weiterqualifizierung zum Notfallsanitäter und an der entsprechenden Ergänzungsprüfung teilzunehmen, stellt eine rechtmäßige Ausübung des Direktionsrechts dar. Durch die Weisung wird die bestehende dienstliche Verpflichtung, an dienstlichen Fortbildungen teilzunehmen und sich selbst fortzubilden, konkretisiert. Rechtsgrundlage für das Weisungsrecht bei Beamt*innen ist Art. 33 Abs. 5 GG. Die Ausübung der entsprechenden Weisungsbefugnis steht im Ermessen des Dienstherrn, wobei die Belange der Betroffenen nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit berücksichtigt werden müssen. Dies wurde vom Hamburgischen Oberverwaltungsgericht so entschieden. [7] Eine gegenteilige Entscheidung wurde vom Sächsischen Oberverwaltungsgericht getroffen. Hier wurde entschieden, dass eine Qualifizierung zur Notfallsanitäter*in nicht mehr als Fortbildungsmaßnahme anzusehen sei. Es handele sich vielmehr um eine neue Berufsausbildung, die über das Weisungsrecht nicht angeordnet werden könne. [8] Arbeitnehmer*innen haben die vertragliche Nebenpflicht, Schaden von Arbeitgeber*innen abzuwenden. Daraus wird gefolgert, dass es in Notfällen zulässig ist, wenn Arbeitnehmer*innen vorübergehend solche Tätigkeiten übernehmen, die nicht in den vertraglich vereinbarten Tätigkeitsbereich fallen. An die Unvorhersehbarkeit werden jedoch hohe Anforderungen gestellt, sodass nicht jede Schwierigkeit als außergewöhnlicher Fall

angesehen werden kann. Außergewöhnlich sind vielmehr nur solche Fälle, die unvorhersehbar sind und denen durch rechtzeitige Personalplanung nicht begegnet werden kann. Auch in Notfällen besteht keine Verpflichtung zur Leistung unbezahlter Überstunden. Zeit der Arbeitsleistung Die Lage der Arbeitszeit kann dann im Wege des Weisungsrechts konkretisiert werden, wenn es keine Vereinbarungen oder kollektivrechtlichen Vorschriften zur Arbeitszeit gibt. Dabei müssen die zulässigen Höchstarbeitszeiten beachtet werden. Über die vertraglich vereinbarte regelmäßige Arbeitszeit hinaus muss nur dann gearbeitet werden, wenn es dafür eine Rechtsgrundlage gibt. Dies kann z. B. eine Regelung im Arbeitsvertrag sein, die die Möglichkeit, Überstunden zu leisten, eröffnet. Das Weisungsrecht erfolgt im Regelfall über die Dienstplangestaltung. Da es sich dabei um eine einseitige Maßnahme der Arbeitgeber*in handelt, ist der Grundsatz billigen Ermessens zu beachten. Dies bedeutet, dass bei der Gestaltung auch immer die Interessen der Arbeitnehmer*innen berücksichtigt werden müssen. Im Einzelfall kann es dabei zu schwierigen Fallgestaltungen und zu Problemen kommen. Pauschale Aussagen zur Dienstplanung können aufgrund der Vielzahl von Rechtsgrundlagen (unterschiedliche Tarifverträge, unterschiedliche Betriebsvereinbarungen etc.) jedoch kaum getroffen werden. Über den Weg der betrieblichen Mitbestimmung ist es Arbeitnehmer*innen insb. in diesem Bereich möglich, die Arbeitsbedingungen aktiv mitzugestalten und sich in die Gestaltung der Grundsätze der Dienstplanung mit einzubringen.

Sofern es arbeitsvertraglich oder tariflich zulässig ist, können Arbeitgeber*innen Arbeitsbereitschaft anordnen. Arbeitsbereitschaft ist die Zeit wacher Achtsamkeit im Zustand der Entspannung. Diese liegt vor, wenn Arbeitnehmer*innen sich am Arbeitsplatz aufhalten müssen und ständig bereit sein müssen, um im Bedarfsfall tätig werden zu können. Bei der rechtlichen Beurteilung der Arbeitsbereitschaft muss zwischen arbeitsschutzrechtlicher und vergütungsrechtlicher Seite unterschieden werden. Arbeitnehmer*innen müssen während der Arbeitsbereitschaft nicht ihre volle angespannte Tätigkeit entfalten. Die Vergütung der Arbeitsbereitschaft kann geringer sein als für Vollarbeit, auch eine Pauschalabgeltung ist zulässig, dabei darf jedoch der Mindestlohn nicht unterschritten werden. Außerdem muss die monatliche Gesamtvergütung durch die Zahl der in diesem Monat geleisteten Arbeitsstunden einschl. Arbeitsbereitschaft dividiert werden. Bereitschaftszeit liegt dann vor, wenn sich Arbeitnehmer*innen an einer von der Arbeitgeber*in bestimmten Stelle innerhalb oder außerhalb des Betriebs aufhalten müssen, um die Arbeit aufzunehmen, sobald dies notwendig ist. Die Unterscheidung zwischen Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftszeit erfolgt dahingehend, dass Arbeitnehmer*innen bei der Arbeitsbereitschaft die Arbeit von sich aus aufnehmen, während dies im Bereitschaftsdienst auf Aufforderung erfolgt. Während des Bereitschaftsdienstes dürfen Arbeitnehmer*innen ruhen oder sich anderweitig beschäftigen, solange die Leistungserbringung nicht erforderlich ist. Auch hier wird wieder zwischen arbeitszeitrechtlicher und Vergütungsseite getrennt. Die Vergütung

kann auch hier geringer sein, die Untergrenze bildet jedoch wieder der Mindestlohn. Teilweise sehen Tarifverträge bezahlten Freizeitausgleich vor. Im Rettungsdienst sind häufig Dienstgestaltungen anzutreffen, die eine Kombination aus Arbeitszeit und Bereitschaftszeit sind. Dies ist insb. bei langen Schichten der Fall, z. B. bei 12- oder 24-StundenSchichten. Bei diesen Modellen wird die Arbeitszeit voll, die Bereitschaftszeit anteilig vergütet. Betriebsrisiko Arbeitgeber*innen tragen grds. das Betriebsrisiko (§ 615 Satz 3 BGB). Zum Betriebsrisiko gehören die Fälle, in denen Arbeitnehmer*innen leistungsbereit sind und ihre Arbeitsleistung anbieten, Arbeitgeber*innen diese Arbeitsleistung auch annehmen wollen, dies aber nicht können, da dies z. B. technisch nicht möglich ist. Wenn Arbeitnehmer*innen in diesen Fällen dann tatsächlich keine Arbeitsleistung erbringen, haben sie i. d. R. trotzdem einen Anspruch auf Zahlung des vereinbarten Entgelts. R e ch t in e c ht (Fall 13.2) Notfallsanitäterin Marie erscheint morgens pünktlich zum RTW-Tagesdienst auf der Rettungswache. Ihr Kollege Till ist kurzfristig krankheitsbedingt ausgefallen, ein Ersatz konnte nicht gefunden werden. Der RTW kann daher nicht vorschriftsmäßig besetzt werden. Sofern Marie von der Arbeitgeber*in nach Hause geschickt wird, da das Fahrzeug nicht in Dienst gehen kann, kann sie trotzdem die Vergütung für den Tagesdienst verlangen, obwohl sie nicht

arbeiten braucht. Das Betriebsrisiko ist von der Arbeitgeber*in zu tragen. Haftung von Arbeitnehmer*innen Für die Haftung von Arbeitnehmer*innen müssen zunächst drei Formen der Fahrlässigkeit unterschieden werden: • Leichteste Fahrlässigkeit ist in Fällen des sich Vergreifens, sich Vertuns anzunehmen. Der Grad des Verschuldens liegt hier nahe am Versehen. • Mittlere Fahrlässigkeit liegt dann vor, wenn Arbeitnehmer*innen die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen haben. Der Erfolg muss bei entsprechender Anwendung der Sorgfalt vorhersehbar und vermeidbar gewesen sein. • Grobe Fahrlässigkeit liegt dann vor, wenn die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich hohem Maß verletzt und unbeachtet wurde, was im konkreten Fall jedem hätte einleuchten müssen. Beispiele hierfür sind Fahren unter Alkoholeinfluss, erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung. Arbeitgeber*innen tragen die Beweislast (vgl. › Kap. 6.3.6) für die Pflichtverletzung von Arbeitnehmer*innen sowie für das Verschulden. Dies bedeutet, dass sowohl die etwaige Pflichtverletzung als auch etwaiges Verschulden von der Arbeitgeber*in bewiesen werden muss. Gelingt dieser Beweis im gerichtlichen Verfahren nicht, können Arbeitgeber*innen den Prozess verlieren.

Bei einem bestehenden Arbeitsverhältnis und einer betrieblich veranlassten Tätigkeit ergeben sich abhängig vom Grad des Verschuldens folgende Beschränkungen der Haftung von Arbeitnehmer*innen: • Vorsatz: Hier müssen Arbeitnehmer*innen einen Schaden in vollem Umfang tragen. • Grobe Fahrlässigkeit: Auch hier haften Arbeitnehmer*innen i. d. R. voll. Ausnahmen können dann gegeben sein, wenn es ein großes Missverhältnis zwischen dem Verdienst und dem verwirklichten Schadensrisiko gibt. • Mittlere Fahrlässigkeit: Je nach dem Grad des Verschuldens erfolgt hier eine anteilige Pflicht zur Tragung des Schadens. Einen Teil tragen Arbeitnehmer*innen, den anderen Teil Arbeitgeber*innen. • Leichteste Fahrlässigkeit: Hier haften Arbeitnehmer*innen nicht. Die Arbeitnehmerhaftung muss von der Amtshaftung abgegrenzt werden. Die Amtshaftung schützt Amtsträger*innen vor einer direkten Inanspruchnahme durch Dritte; diese müssen sich für die Geltendmachung von Haftungsansprüchen an den Staat wenden (vgl. › Kap. 6.5.2). Die Arbeitnehmerhaftung regelt, unter welchen Umständen eine Arbeitnehmer*in ihrer Arbeitgeber*in einen Schaden zu ersetzen hat.

13.2.6 Beendigung des Arbeitsverhältnisses Arbeitsverhältnisse können durch Befristung und Zeitablauf, Aufhebungsvertrag, fristgerechte Kündigung und fristlose

Kündigung beendet werden. Aufhebungsverträge führen zu einer einvernehmlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Kündigungen beenden ein Arbeitsverhältnis durch eine einseitige Erklärung (Kündigungserklärung). Eine „normale“ Kündigung, also die Beendigung eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses innerhalb der gesetzlichen oder vertraglich vereinbarten Kündigungsfrist, wird auch ordentliche Kündigung genannt. Eine Kündigung geht oft mit Streitigkeiten einher. Arbeitgeber*innen können bei Kündigungen viele Fehler machen. Dies fängt bei der Anhörung des Betriebsrates an, geht über die Unterzeichnung der Kündigung und bis zur Frage, wann eine Kündigung der Arbeitnehmer*in tatsächlich wirksam zugegangen ist. In einer Kündigung müssen keine Kündigungsgründe angegeben werden. Fristen für die Kündigung sind in § 622 BGB aufgeführt. Eine Kündigung ist nur zum Monatsende möglich. Eine Abkürzung der Kündigungsfristen zum Nachteil der Arbeitnehmer*innen ist nicht möglich. Eine Regelung in Arbeitsverträgen, dass für kündigende Arbeitnehmer*innen längere Kündigungsfristen gelten wie für Arbeitgeber*innen, ist unwirksam. In Tarifverträgen können abweichende Kündigungsfristen vereinbart werden, auch kürzere. Kündigungsschutzgesetz Das Kündigungsschutzgesetz ist ein spezielles Schutzgesetz für die Kündigung von Arbeitnehmer*innen.

Für den Schutz des Kündigungsschutzgesetzes ist erforderlich, dass das Arbeitsverhältnis zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung länger als sechs Monate bestanden hat. Werden Auszubildende direkt nach der Ausbildung übernommen, haben diese ab dem ersten Tag den vollen Kündigungsschutz, da Ausbildungszeiten auf die sechsmonatige Frist angerechnet werden. Diese Regelungen können nicht zum Nachteil von Arbeitnehmer*innen geändert werden. Nach dem Kündigungsschutzgesetz ist eine Kündigung u. a. dann unwirksam, wenn sie nicht durch Gründe, die in der Person oder im Verhalten liegen, oder aus dringenden betrieblichen Gründen gerechtfertigt ist. Bei personen- und verhaltensbedingten Kündigungen muss eine umfassende Abwägung der wechselseitigen Interessen stattfinden. Arbeitgeber*innen sind verpflichtet, eine Kündigung durch andere geeignete Maßnahmen zu vermeiden, z. B. durch anderweitige Beschäftigungsmöglichkeiten. Arbeitgeber*innen sind darlegungsund beweispflichtig für das Fehlen anderweitiger Möglichkeiten. Aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit folgt das Erfordernis, dass vor Aussprache einer verhaltensbedingten Kündigung eine Abmahnung erfolgt. Im öffentlichen Dienst ist eine Möglichkeit zur Weiterbeschäftigung nur dann zu berücksichtigen, wenn diese entweder in derselben Dienststelle oder in einer anderen desselben Verwaltungszweigs besteht. Zusätzlich erforderlich ist eine negative Prognose dahingehend, dass wegen zu erwartender künftiger Beeinträchtigungen des Arbeitsverhältnisses der Arbeitgeber*in eine weitere Beschäftigung der Arbeitnehmer*in nicht zumutbar ist. Zweck der Kündigung

ist nicht die Sanktion einer begangenen Vertragsverletzung, sondern die Vermeidung des Risikos weiterer Pflichtverletzungen. Über die Regelungen im Kündigungsschutzgesetz hinaus gibt es für bestimmte Personengruppen Sonderkündigungsschutz, z. B. nach dem Mutterschutzgesetz. Außerordentliche Kündigung Außerordentliche Kündigungen sind dann berechtigt, wenn diese aus einem gesetzlich vorgesehenen Grund erfolgen. Rechtsfolge ist die fristlose Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Eine Erweiterung des Rechts zur außerordentlichen Kündigung für Arbeitgeber*innen ist unzulässig. Eine Mitteilung der Kündigungsgründe ist nicht Voraussetzung für die Wirksamkeit der Kündigung. Ausnahmen gelten im Zusammenhang mit der Berufsausbildung und nach dem Mutterschutzgesetz. Es besteht jedoch ein Anspruch darauf, dass die Kündigungsgründe unverzüglich schriftlich mitgeteilt werden. Eine außerordentliche Kündigung ist nur dann wirksam, wenn zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung ein wichtiger Grund dafür bestand. Nach diesem Zugang neu entstehende Gründe können grds. nur für eine weitere Kündigung herangezogen werden. Die Erklärung einer außerordentlichen Kündigung ist nur innerhalb einer Ausschlussfrist von zwei Wochen ab Kenntnis möglich. Innerhalb dieser Frist muss die Kündigung zugehen. Eine Verlängerung der Ausschlussfrist im Arbeitsvertrag ist nicht möglich. Durch die kurze Frist soll sichergestellt werden, dass schnell Klarheit darüber herrscht, ob ein Sachverhalt für eine außerordentliche Kündigung zum Anlass genommen werden kann. Die Frist beginnt

erst dann, wenn die zur Kündigung Berechtigte positive Kenntnis über die für die Kündigung entscheidenden Tatsachen hat. Die maßgebenden Tatsachen müssen derart bekannt sein, dass auf deren Grundlage eine fundierte Entscheidung möglich ist. Arbeitgeber*innen sind in Anbetracht dieser Frist nicht gezwungen, hektisch zu ermitteln, jedoch wird verlangt, dass die Aufklärung des Sachverhalts mit gebotener Eile durchgeführt wird. In diesem Zusammenhang ist es auch zulässig, dass Arbeitgeber*innen den Ausgang eines Strafverfahrens abwarten. Wird im Rahmen der Aufklärung des Sachverhalts der anderen Partei die Möglichkeit gegeben, sich zu dem Sachverhalt zu äußern, wird die Frist dadurch gehemmt. Grundsätzlich müssen Arbeitnehmer*innen nur im Fall einer Verdachtskündigung im Vorfeld angehört werden. Nach den Vorgaben des Bundesarbeitsgerichts erfolgt die Prüfung der Rechtmäßigkeit einer fristlosen Kündigung immer zweistufig. Zunächst müssen Tatsachen vorliegen, die an sich geeignet sind, einen wichtigen Grund für eine fristlose Kündigung zu bilden. In einem zweiten Schritt muss dann geprüft werden, ob unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls eine Weiterbeschäftigung bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist. Dabei kommt es auf die Sichtweise einer objektiven und verständigen Betrachter*in an. Ein wichtiger Grund kann nicht nur in einer Verletzung der vertraglichen Hauptleistungspflichten liegen. Auch die Verletzung vertraglicher Nebenpflichten kann eine fristlose Kündigung rechtfertigen. Die Höhe eines der Arbeitgeber*in etwaig entstandenen Schadens ist dabei nicht entscheidend, sondern der mit der Verletzung der Pflichten verbundene Vertrauensbruch. So

kann z. B. auch der Diebstahl von Gegenständen von geringem Wert eine fristlose Kündigung begründen. Im Rahmen einer zu treffenden Interessenabwägung muss der konkrete Einzelfall geprüft und beurteilt werden, ob der an sich geeignete Grund die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist erlaubt oder nicht. Dabei sind folgende Aspekte zu berücksichtigen: • Auswirkungen der Vertragsverletzung • Grad des Verschuldens • Mögliche Widerholungsgefahr • Möglicher Irrtum über das Bestehen der verletzten Pflicht • Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen • Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf Eine außerordentliche Kündigung soll immer nur die letzte Möglichkeit darstellen, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, weil alle milderen Mittel unzumutbar sind. Mildere Mittel können sein: • Abmahnung • Versetzung • Ordentliche Kündigung R e ch t in e c ht Gerichtliche Entscheidungen zu außerordentlichen Kündigungen durch Arbeitgeber*innen gibt es z. B. zu folgenden Fällen:

• Alkoholmissbrauch, unabhängig davon, ob die Arbeitnehmer*in alkoholisiert zur Arbeit kommt oder die Getränke während der Arbeit zu sich nimmt. Im Einzelfall kann es erforderlich sein, zunächst eine Abmahnung auszusprechen. • Wiederholte Verletzung von Arbeitsschutzbestimmungen, wobei nicht entscheidend ist, dass ein Schaden eingetreten ist. • Bei bescheinigter Arbeitsunfähigkeit gesundheitswidriges Verhalten, z. B. Arbeit bei einer anderen Arbeitgeber*in oder Freizeitaktivitäten, die mit der Arbeitsunfähigkeit nur schwer in Einklang zu bringen sind. • Beharrliche Arbeitsverweigerung; diese liegt dann vor, wenn die Arbeitsverweigerung bewusst und nachhaltig erfolgt und die Arbeitspflicht auch weiter nicht erbracht wird, obwohl eine Pflicht dazu besteht. • Außerdienstliches Verhalten kann eine fristlose Kündigung rechtfertigen, wenn das Verhalten negative Auswirkungen auf den Betrieb oder einen Bezug zum Arbeitsverhältnis hat. • Gleiches gilt für die Ankündigung von Arbeitsunfähigkeit, um einer Versetzung zu entgehen oder um die Gewährung von Urlaub zu erzwingen. • Die vorsätzliche und fortgesetzte Ausübung einer offensichtlich nicht genehmigungsfähigen Nebentätigkeit. • Arbeitszeitbetrug, ausländerfeindliche und rassistische Äußerungen, Diebstahl sowie Tätlichkeiten gegen Vorgesetzte oder Kolleg*innen waren weitere Gründe außerordentlicher Kündigungen.

Personenbedingte Kündigung Eine personenbedingte Kündigung ist aufgrund mangelnder Eignung oder dann möglich, wenn Arbeitnehmer*innen aufgrund ihrer persönlichen Fähigkeiten und Eigenschaften nicht mehr in der Lage sind, die arbeitsvertraglichen Pflichten zu erfüllen. Dies muss zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen oder wirtschaftlichen Interessen der Arbeitgeber*in führen. Zudem darf keine weitere Beschäftigungsmöglichkeit auf einem anderen Arbeitsplatz bestehen und die Interessenabwägung muss negativ zulasten der Arbeitnehmer*innen ausfallen. Einzelne Gründe können sein: • Verlust der Berufsausübungserlaubnis: Damit liegt eine erforderliche Voraussetzung für die Beschäftigung nicht mehr vor. • Fehlende fachliche Eignung: Sind die Mängel behebbar, muss die Arbeitnehmer*in zunächst aufgefordert werden, an Fortbildungsveranstaltungen teilzunehmen. • Krankheiten dann, wenn diese zu erheblichen betrieblichen oder wirtschaftlichen Beeinträchtigungen der Arbeitgeber*in führen. Krankheitsbedingte Kündigungen können wegen vieler Kurzerkrankungen, dauerhafter Krankheit (Arbeitsunfähigkeit), lang andauernder Erkrankung oder krankheitsbedingter Leistungsminderung zulässig sein. Zuvor muss jedoch immer geprüft werden, ob es anderweitige Beschäftigungsmöglichkeiten gibt. • Außerdienstliches Verhalten kann ausnahmsweise einen personenbedingten Kündigungsgrund rechtfertigen, wenn

sich daraus eine mangelnde persönliche Eignung ergibt. Verhaltensbedingte Kündigung Als Verhalten wird jedes Handeln angesehen, welches willentlich gesteuert wird. • Eine verhaltensbedingte Kündigung liegt vor, wenn eine Arbeitnehmer*in eine arbeitsvertragliche Pflicht „nicht erfüllen will“; • eine personenbedingte Kündigung, wenn die Arbeitnehmer*in die Pflichten aufgrund persönlicher Umstände „nicht erfüllen kann“. Voraussetzung ist die schuldhafte Verletzung vertraglicher Haupt- oder Nebenpflichten. Dabei muss geprüft werden, ob eine einschlägige Abmahnung erfolgt ist oder wegen der Schwere der Pflichtverletzung entbehrlich ist. Zuletzt ist auch hier eine umfassende Interessenabwägung vorzunehmen. Bei der verhaltensbedingten Kündigung ist ebenfalls eine Prognose vorzunehmen, da auch diese keinen Sanktionscharakter hat. Fällt diese negativ aus, kann eine verhaltensbedingte Kündigung gerechtfertigt sein. Infolge der Verletzung vertraglicher Pflichten muss es zudem zu betrieblichen Beeinträchtigungen gekommen sein. Einzelne verhaltensbedingte Kündigungsgründe können sein: • Arbeitsverweigerung • Beleidigungen

• Unbefugte private Internetnutzung • Nebentätigkeit • Dauernde Unpünktlichkeit Abmahnung Berechtig dazu, eine Abmahnung auszusprechen, sind alle Vorgesetzten, die entsprechend ihrer Aufgabenstellung befugt sind, Anweisungen bzgl. Ort, Zeit und Art der vertraglich geschuldeten Leistung zu erteilen, also alle Dienst- und Fachvorgesetzten. Abmahnungen können mündlich und schriftlich ergehen. Inhaltlich muss die Abmahnung der Arbeitnehmer*in deutlich vor Augen führen, dass ein bestimmtes Verhalten nicht mehr hingenommen wird. Die Abmahnung muss eindeutig und bestimmt formuliert sein (Warnfunktion). Zudem ist unbedingt der Hinweis erforderlich, dass im Wiederholungsfall der Bestand des Arbeitsverhältnisses gefährdet ist (Androhung einer Kündigung). Ist eine Arbeitnehmer*in nicht willens oder nicht in der Lage, sich vertragsgemäß zu verhalten, muss vor einer Kündigung keine Abmahnung ausgesprochen werden. Erfasst sind die Fälle, in denen eine Verhaltensänderung selbst bei einer Abmahnung nicht zu erwarten ist. Ebenso ist bei Pflichtverletzungen im Vertrauensbereich eine Abmahnung regelmäßig nicht erforderlich. Gerade bei solchen Verstößen ist es Arbeitgeber*innen regelmäßig nicht mehr zumutbar, weiter abzuwarten oder einen weiteren Wiederholungsfall hinzunehmen. R e ch t in e c ht In folgenden Fällen ist eine vorherige Abmahnung i. d. R. nicht erforderlich:

• Sexuelle Belästigungen • Diebstahl, Unterschlagung, Untreue • Grobe Beleidigungen von Vorgesetzten oder Kolleg*innen • Beharrliche Arbeitsverweigerungen • Selbstbeurlaubungen • Vortäuschen von Arbeitsunfähigkeit und Nebentätigkeiten während der Arbeitsunfähigkeit • Androhung von Arbeitsunfähigkeit

Arbeitnehmer*innen haben das Recht, das zu Unrecht erteilte Abmahnungen aus der Personalakte entfernt werden. Erfolgt dies nicht freiwillig, kann auf Entfernung der Abmahnung aus der Personalakte geklagt werden. Um nach vorangegangener Abmahnung eine außerordentliche Kündigung auszusprechen, bedarf es keiner konkreten Mindestzahl vorangegangener Abmahnungen. Es kommt dabei immer auf die Art und Schwere der Verstöße an. Handelt es sich bei den Pflichtverletzungen um Bagatellverstöße, sind mehrere Abmahnungen erforderlich. In anderen Fällen kann auch bereits beim ersten Wiederholungsfall eine außerordentliche Kündigung ausgesprochen werden. Es kommt hier immer auf die konkreten Umstände des Einzelfalls an. R e ch t in e c ht (Fall 13.3) Rettungssanitäterin Ida nutzt auf der Rettungswache den unbeschränkten Zugriff aufs Materiallager, um für sich diverse Medizinprodukte mit nach Hause zu nehmen, z. B. sterile

Kompressen, Verbände und Kühlpacks. Nachdem sie dabei auf frischer Tat erwischt wird, erhält sie von ihrer Arbeitgeber*in eine fristlose Kündigung. Zwar haben die entwendeten Medizinprodukte keinen sonderlich großen Wert, jedoch ist durch den Diebstahl das Vertrauensverhältnis in einem derartigen Maße geschädigt, dass eine fristlose Kündigung gerechtfertigt sein kann und auch vor Gericht mit einer hohen Wahrscheinlichkeit für rechtmäßig erachtet werden würde. Gerichtliches Vorgehen gegen eine Kündigung Vor dem Arbeitsgericht muss man sich nicht zwingend anwaltlich vertreten lassen. Erhält man eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses, empfiehlt es sich jedoch, eine Anwält*in zu konsultieren. Es gibt spezielle Fachanwält*innen für Arbeitsrecht, die in diesem Rechtsgebiet über vertiefte Kenntnisse und besondere Erfahrungen verfügen. Für die Erhebung einer sog. Kündigungsschutzklage gilt eine kurze Frist von drei Wochen, die ab dem Zugang der Kündigung zu laufen beginnt. Ziel einer Kündigungsschutzklage ist die Feststellung der Unwirksamkeit der Kündigung. A c ht u ng Die Erhebung der Kündigungsschutzklage ist nur innerhalb einer Frist von drei Wochen ab Zugang der Kündigung möglich. Bei arbeitsrechtlichen Streitigkeiten vor dem Arbeitsgericht tragen die Parteien ihre Kosten in der ersten Instanz selbst. Es gilt hier demnach nicht der im Zivilrecht ansonsten bestehende Grundsatz, dass die unterliegende Partei alles zahlt. Diese spezielle Regelung

dient dazu, die Arbeitnehmer*innen davor zu schützen, im Falle des Unterliegens auch alle Kosten der Arbeitgeber*in zu tragen. Dies könnte davor abschrecken, gerichtlich gegen die Arbeitgeber*in vorzugehen. Bestehen Bedenken hinsichtlich der Kosten, kann ein Antrag auf Prozesskostenhilfe gestellt werden.

13.3 Kollektives Arbeitsrecht Das Arbeitsrecht wird nicht nur durch einfache Gesetze und Rechtsverordnungen gestaltet, auch das Grundgesetz enthält wichtige Eckpfeiler für die Ausgestaltung des Arbeitsrechts. Die Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) ist ein bedeutendes Grundrecht im Zusammenhang mit Arbeitsverhältnissen. Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen wird darin das Recht garantiert, sich jeweils untereinander zusammenschließen zu können und ihre Interessen gemeinsam durch organisierte Zusammenschlüsse zu vertreten. Arbeitnehmer*innen schließen sich in Gewerkschaften zusammen, Arbeitgeber*innen in Arbeitgeberverbänden. Inhaltlich befassen sich Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände mit der Wahrung und Förderung der Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen. Die Koalitionsfreiheit umfasst auch das Recht des Einzelnen, eine solche Vereinigung zu gründen, sich ihr anzuschließen oder sie auch wieder zu verlassen. Das kollektive Arbeitsrecht knüpft an die Koalitionsfreiheit an und befasst sich mit deren Ausprägungen auf betrieblicher und betriebsübergreifender Ebene. Es regelt dabei u. a. das Recht der Tarifverträge, das Arbeitskampfrecht (z. B. Streiks) und das Recht der Mitbestimmung in Betrieben und Unternehmen.

Überbetrieblich wird das kollektive Arbeitsrecht durch Tarifverträge geprägt. Tarifverträge werden branchenspezifisch zwischen Vertreter*innen von Arbeitgeber*innen auf der einen Seite und Vertreter*innen von Arbeitnehmer*innen auf der anderen Seite ausgehandelt. Mit den Tarifverträgen sollen die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zwischen den Tarifparteien gestaltet werden. Tarifverträge können eine Vielzahl wichtiger Themen mit Bezug zu Arbeitsverhältnissen regeln. Dies umfasst u. a. Arbeitsschutz, Entgelt, berufliche Bildung und Fortbildung, Arbeitszeit, Rentenregelungen und Vermögensbildung. Das entscheidende Gesetz für die betriebliche Mitbestimmung ist das Betriebsverfassungsgesetz. Mit diesem Gesetz wird sichergestellt, dass Arbeitnehmer*innen auf betrieblicher Ebene bei der Gestaltung der Arbeitsbedingungen mitwirken können. Die Mitgestaltung bzw. Mitbestimmung konkretisiert sich insb. in Betriebsvereinbarungen. Diese Mitwirkung umfasst auch eine Vielzahl von Informationsrechten sowie die Beteiligung an konkreten Einzelmaßnahmen im Betrieb. Aktuell gibt es keinen flächendeckenden Tarifvertrag für den Rettungsdienst. Viele Arbeitgeber*innen orientieren sich am Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD). Die kirchlichen Hilfsorganisationen haben ein eigenes Tarifrecht (z. B. AVR), welches jedoch keine klassischen Tarifverträge darstellt. Damit nun tarifliche Regelungen zum Bestandteil des jeweiligen Arbeitsverhältnisses werden, ist es grds. erforderlich, dass sowohl Arbeitnehmer*in und Arbeitgeber*in der Tarifbindung unterliegen. Die Arbeitnehmer*in muss also Mitglied in einer Gewerkschaft sein, die Arbeitgeber*in Mitglied in einem entsprechenden

Arbeitgeberverband. Diese Konstellation liegt jedoch nur in seltenen Fällen vor. Häufig kommen tarifliche Regelungen dadurch in einem einzelnen Arbeitsverhältnis zum Tragen, indem diese von den Parteien zum Bestandteil des Arbeitsvertrages gemacht werden. Grund hierfür ist, dass dies zu einheitlichen Arbeitsbedingungen in der Organisation führt und damit Anreize für Mitarbeitende reduziert werden, einer Gewerkschaft beizutreten und sich dort zu engagieren. R e ch t in e c ht Gelten die Regelungen eines Tarifvertrages und weichen diese von den Regelungen im Arbeitsvertrag ab, gilt das Günstigkeitsprinzip. Dies bedeutet, dass geprüft wird, welche der voneinander abweichenden Regelungen günstiger für die Arbeitnehmer*in ist. Diese Regelung gilt dann. Als gleichberechtigte Partner stehen sich hier Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände gegenüber. Aufgabe der Koalitionen ist die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, insb. durch den Abschluss von Tarifverträgen. Um im Rahmen der Verhandlungen wirtschaftlichen Druck auszuüben, wird sich gelegentlich des Mittels des Arbeitskampfes bedient. Arbeitskampfmittel von Arbeitnehmer*innen ist der Streik, dieser stellt eine kollektive Einstellung der Arbeit dar. Jedoch sind auch andere Formen möglich, z. B. Bummelstreik oder Dienst nach Vorschrift, verabredete Krankmeldungen, Flash-Mob-Aktionen etc. Unterschieden werden kann zwischen Warnstreiks und Erzwingungsstreiks. Arbeitskampfmittel von Arbeitgeber*innen

sind Aussperrungen oder die Zahlung von Streikbruchprämien. Der Staat ist bei Arbeitskämpfen zur Neutralität verpflichtet, dies bedeutet, dass dieser nicht aktiv in Arbeitskämpfe eingreifen darf. Arbeitskämpfe sind rechtlich zulässig und durch das Grundgesetz abgesichert. Auch im Rettungsdienst Tätigen ist es möglich zu streiken. Jedoch ist durch eine Notdienstvereinbarung zu gewährleisten, dass bei Notfällen qualifizierte Hilfe geleistet wird. Die Notdienstvereinbarung wird zwischen Arbeitgeber*innen und Gewerkschaften abgeschlossen. Bei Krankentransporten ist eine solche Notdienstvereinbarung i. d. R. nicht erforderlich, da es sich hier um Einsätze handelt, die nicht zeitkritisch sind und die auch zu einem späteren Zeitpunkt durchgeführt werden können.

Quellen: [1] LSG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 11.11.2013, Az. L2 U 58/12 (Duschen auf der Rettungswache) [2] BSG, Urt. v. 22.06.2023, Az. B 2 U 11/20 R (Posttraumatische Belastungsstörung Rettungsdienst) [3] BSG, Urt. v. 19.10.2021, Az. B 12 R 10/20 R (Notärzte, abhängige Beschäftigung) [4] LAG Schleswig-Holstein, Urt. v. 27.09.2022, Az. 1 Sa 39 öD/22 (Erreichbarkeit in Freizeit) [5] LAG Baden-Württemberg, Urt. v. 23.11.2000, Az. 4 Sa 81/00 (Überstunden Einsatz) [6] LAG Sachsen, Urt. v. 23.01.2002, Az. 2 Sa 430/01 (Überstunden Einsatz)

[7] Hamburgisches OVG, Urt. v. 20.01.2022, Az. 5 Bf 152/20 (Weiterqualifizierung NotSan) [8] Sächsisches OVG, Urt. v. 30.01.2020, Az. 2 B 311/19 (Weiterqualifizierung NotSan)

Weitere Literatur: Schaub. Arbeitsrechts-Handbuch. 19. Aufl München; 2021. Wank. in Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht. 14. Aufl München: C. H. Beck; 2014.

Kapitel 14 Datenschutzrecht Frank Sarangi

Notfallsanitäter*innen erheben und verarbeiten in nahezu jeder Einsatzsituation personenbezogene Daten über den Gesundheitszustand der Patient*innen. All diese Vorgänge der Datenverarbeitung unterliegen, nicht nur wegen der besonderen Sensibilität dieser Daten, einem hohen gesetzlichen Schutz. Die Verarbeitung von bestimmten Daten, hier speziell eben der personenbezogenen Gesundheitsdaten, unterliegt seit dem Inkrafttreten der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) im Mai 2018 ganz speziellen Zulässigkeitsvoraussetzungen, ohne deren Beachtung die Datenverarbeitung unzulässig ist. Diese Regelungen und Voraussetzungen gilt es für das Einsatzgeschehen zu kennen. D ie s e s K ap ite l s o l l F olge nde s ve rm itte ln: • Gesetzliche Grundlagen zum Datenschutz • Grundbegriffe des Datenschutzrechts • Umgang mit personenbezogenen Daten im Rettungsdienst • Funktion von Datenschutzbeauftragten

W ic h tige R e c ht s qu e l le n fü r d ie s e s K ap ite l: • EU-Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO)

https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/? uri=celex%3A32016R0679 • Bundesdatenschutzgesetz (BDSG)

https://www.gesetze-im-internet.de/bdsg_2018/

14.1 Grundlagen DSGVO Die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) löste die über 20 Jahre alte Datenschutzrichtlinie ab. Mit der DSGVO sollte innerhalb der gesamten Europäischen Union eine Art Magna Charta für die Privatsphäre geschaffen werden (vgl. zur EU › Kap. 2.8). Historisch betrachtet ist die Idee des Datenschutzes nicht neu. Bereits 1995 ist die Datenschutzrichtlinie 95/46/EG zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr angenommen worden. 2012 schlug die EUKommission dann eine umfassende Reform der EUDatenschutzvorschriften von 1995 vor, um die Rechte des Einzelnen auf Wahrung der Privatsphäre im Internet zu stärken und die digitale Wirtschaft Europas anzukurbeln. Dabei wurden Gesichtspunkte wie „Rechenschaftspflicht“, „Einwilligung“ sowie „Meldung von Datenschutzverletzungen“ in die Zielsetzung aufgenommen. Am 12. März 2014 verabschiedete das Europäische Parlament die DSGVO. Nach weiteren Verhandlungen erfolgte 2015 eine Einigung zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat und der EU-Kommission über die DSGVO. Am 25. Mai 2018 entfaltete

die DSGVO ihre unmittelbare Rechtswirkung im Raum der Europäischen Union. Ziel der Beteiligten war es, den Datenschutz mit einem noch höheren Schutzniveau auszustatten und umfangreiche Verpflichtungen zum Schutz bei der Verarbeitung personenbezogener Daten zu etablieren. Erwägungsgrund 1 der DSGVO lautet: „Der Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten ist ein Grundrecht.“ Der Verordnungsgeber wollte mit dem Regelungswerk der DSGVO das Datenschutzrecht innerhalb der Europäischen Union vereinheitlichen sowie die Rechte derjenigen stärken, deren personenbezogene Daten verarbeitet werden. Er wollte aber zugleich auch den freien Warenverkehr stärken und den Austausch personenbezogener Daten vereinheitlichen. Die DSGVO ist daher bewusst als ein Regelwerk im Sinne eines Verbots mit Erlaubnisvorbehalt gestaltet worden. Sie bezweckt auf der Individualebene einen klassischen Grundrechtsschutz (Art. 1 Abs. 2 DSGVO). In Deutschland ergibt sich das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 1 i. V. m. Art. 2 GG (› Kap. 2.2.2). Die DSGVO hat den Rechtscharakter einer EU-Verordnung. Eine solche Verordnung bedarf keiner Umsetzung in den Mitgliedstaaten (› Kap. 2.8.1), sie entfaltet vielmehr unmittelbare Rechtswirkung. Die DSGVO beinhaltet sog. „Öffnungsklauseln“, also Regelungen, die den jeweiligen nationalen Gesetzgeber ermächtigen, die Regelungen der DSGVO zu konkretisieren bzw. zu ergänzen. Das Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) transformiert die Regelungen der DSGVO und geht teilweise darüber hinaus. DSGVO

und BDSG stehen nicht im Widerspruch, sondern setzen sich gegenseitig voraus und ergänzen sich. Es gibt also keinen Grundsatz, nach dem das BDSG oder die DSGVO immer vorgehen.

14.2 Personenbezogene Daten Der Begriff der „personenbezogenen Daten“ ist in der DSGVO selbst definiert. Art. 4 Nr. 1 DSGVO führt dazu aus: Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck „personenbezogene Daten“ alle Informationen, die sich auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person (im Folgenden „betroffene Person“) beziehen; als identifizierbar wird eine natürliche Person angesehen, die direkt oder indirekt, insbesondere mittels Zuordnung zu einer Kennung wie einem Namen, zu einer Kennnummer, zu Standortdaten, zu einer Online-Kennung oder zu einem oder mehreren besonderen Merkmalen, die Ausdruck der physischen, physiologischen, genetischen, psychischen, wirtschaftlichen, kulturellen oder sozialen Identität dieser natürlichen Person sind, identifiziert werden kann; […] Für den Rettungsdienst bedeute diese Einordnung, dass alle einsatzrelevanten Daten (Patientenname, Einsatzstichworte, Adresse, Anamnese, dokumentierte Befunde, Daten der Voranmeldung etc.) dem Anwendungsbereich der DSGVO und der Begrifflichkeit der personenbezogenen Daten unterfallen. R e ch t in e c ht Der Patientenname stellt eine Information dar, mit der eine natürliche Person, nämlich die Patient*in, identifiziert werden kann, ohne dass es weiterer Informationen bedarf – anders als

z. B. die bloße Mitgliedsnummer der Krankenversicherung. Mit der Krankenversichertennummer ist eine unmittelbare Identifizierung der Patient*in nicht möglich, sondern erst mit dem Hinzukommen weiterer Informationen. Somit handelt es sich hierbei um Daten, die eine Person erst identifizierbar machen. Neben dem Umstand, dass der Datenschutz bereits aus Gründen der Schweigepflicht höchste Relevanz besitzt (› Kap. 7.5.5), hat die DSGVO selbst ein dezidiertes Sanktionsregime. Art. 82 DSGVO statuiert eine Haftung und ein Recht auf Schadensersatz. Art. 84 DSGVO bestimmt, dass die Mitgliedstaaten darüber hinaus noch eigene Sanktionen festlegen müssen, was in Deutschland mit der Strafvorschrift § 42 des Bundesdatenschutzgesetzes geschehen ist.

14.3 Verarbeitung personenbezogener Daten Was als „Verarbeitung personenbezogener Daten“ zu verstehen ist, ist ebenfalls in der DSGVO geregelt. Art. 4 Nr. 2 DSGVO führt dazu aus: Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck „Verarbeitung“ jeden mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren ausgeführten Vorgang oder jede solche Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten wie das Erheben, das Erfassen, die Organisation, das Ordnen, die Speicherung, die Anpassung oder Veränderung, das Auslesen, das Abfragen, die Verwendung, die Offenlegung durch Übermittlung, Verbreitung oder eine andere Form der Bereitstellung, den Abgleich oder die

Verknüpfung, die Einschränkung, das Löschen oder die Vernichtung; […] Für den Rettungsdiensteinsatz bedeutet diese Definition, dass nahezu alle Tätigkeiten außerhalb der originären Behandlung den Gesichtspunkt der Datenverarbeitung erfüllen. Die Übertragung von Anamnese-Daten in das Protokoll, die Übergabe des Protokolls (papiergeführt oder elektronisch) an das Krankenhaus oder zum Zwecke der Archivierung auf der Rettungswache stellen allesamt Verarbeitungsvorgänge im Sinne der DSGVO dar. Auch die Übergabe in der Zielklinik sowie die Mitteilung von Daten im Rahmen der Voranmeldung über die Leitstelle unterfallen der Begrifflichkeit der Verarbeitung personenbezogener Daten. Me r k e Nahezu alle Tätigkeiten, die sich im Kontext mit dem Einsatz auf den Umgang mit Patientendaten beziehen (Sichtung der Depesche, Dokumentation, Rückmeldung, Nachforderung, Voranmeldung in der Klinik, Übergabe sowie Ablage des Protokolls auf der Wache oder Speicherung des elektronischen Protokolls), stellen eine Datenverarbeitung im datenschutzrechtlichen Sinne dar. In der DSGVO gilt der (zunächst widersprüchliche) Grundsatz, dass die Verarbeitung von personenbezogenen Daten grds. verboten ist. Eine Ausnahme gilt nur, soweit es eine Vorschrift gibt, die die Verarbeitung in diesem konkreten Fall zulässt (Verbot mit Erlaubnisvorbehalt). Dazu listet Art. 6 Abs. 1 DSGVO Beispiele auf, unter deren Voraussetzungen die Datenverarbeitung rechtmäßig und damit zulässig ist (sog. Erlaubnistatbestände).

A c ht u ng In der DSGVO gilt, dass eine Datenverarbeitung personenbezogener Daten grds. unzulässig ist. Sie wird nur zulässig, wenn ein gesetzlicher Erlaubnisfall innerhalb der DSGVO vorliegt. Art. 6 Abs. 1 DSGVO führt folgende Erlaubnistatbestände aus, die für den Rettungsdienst relevant sind: 1. Die betroffene Person hat in die Datenverarbeitung eingewilligt. 2. Die Verarbeitung ist zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung erforderlich, welcher der Verantwortliche (in diesem Fall der Rettungsdienst) unterliegt. 3. Die Verarbeitung ist erforderlich, um lebenswichtige Interessen der betroffenen Person oder einer anderen natürlichen Person zu schützen. Die vorbenannte Auflistung bietet nur einen kleinen Ausschnitt darüber, unter welchen Gesichtspunkten eine Datenverarbeitung zulässig ist. Als Grundsatz kann man sich – verkürzt und vereinfacht – merken, dass die Datenverarbeitung im Rettungsdiensteinsatz nach den einschlägigen Vorgaben der Rettungsdienstgesetze der Länder immer dann zulässig sein kann, wenn sie dort gesetzlich vorgesehen ist bzw. der Gefahrenabwehr und zur Erledigung des Einsatzgeschehens erforderlich ist. Me r k e

Die Verarbeitung personenbezogener Daten im Rettungsdiensteinsatz ist insb. dann zulässig, • wenn sie in den einschlägigen Rettungsdienstgesetzen der Länder vorgesehen ist. • wenn sie für die Gefahrenabwehr und zur Erledigung des Einsatzgeschehens erforderlich ist.

Eine weitere wichtige Einschränkung ergibt sich aus Art. 9 DSGVO. Da im Rettungsdienst nicht nur personenbezogene Daten verarbeitet werden, sondern darüber hinaus auch Gesundheitsdaten, sind die Anforderungen an die Zulässigkeit einer Datenverarbeitung noch einmal strenger. Art. 9 Abs. 1 DSGVO bestimmt, dass die Verarbeitung von personenbezogenen Gesundheitsdaten grds. untersagt ist. Dieses Ergebnis kann natürlich nicht abschließend sein, denn es hätte zur Konsequenz, dass die Durchführung des Rettungsdiensteinsatzes unmöglich werden würde. Art. 9 Abs. 2 DSGVO lässt daher die Verarbeitung von personenbezogenen Gesundheitsdaten zu: 1. Wenn die betroffene Person eingewilligt hat. 2. Wenn die Verarbeitung zum Schutz lebenswichtiger Interessen der betroffenen Person erforderlich ist. 3. Wenn die Verarbeitung für Zwecke der Gesundheitsvorsorge oder der Arbeitsmedizin, für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit des Beschäftigten, für die medizinische Diagnostik, die Versorgung oder Behandlung im Gesundheits- oder Sozialbereich oder für die

Verwaltung von Systemen und Diensten im Gesundheitsoder Sozialbereich […] erforderlich ist. Zwar enthält die Vorschrift noch weitere Ausnahmen, bei denen die Verarbeitung personenbezogener Gesundheitsdaten zulässig ist. Diese sind aber für das originäre Einsatzgeschehen nicht relevant. Die Verarbeitung von personenbezogenen Gesundheitsdaten wird im Rettungsdiensteinsatz immer schon deswegen zulässig sein, weil jede Notfallpatient*in ein Interesse daran hat, behandelt zu werden. Hierfür ist eine Datenverarbeitung zwingend notwendig. Insoweit liegt im Rettungsdienst immer ein zulässiger Ausnahmefall der Datenverarbeitung vor. Neben den vorbenannten Fällen der zulässigen Datenverarbeitung ist immer dann, wenn eine solche Datenverarbeitung stattfindet, Art. 9 Abs. 3 DSGVO zu beachten. Nach dieser Vorschrift dürfen die personenbezogenen Gesundheitsdaten nur zu den in Absatz 2 genannten Zwecken (s. o.) verarbeitet werden, wenn diese Daten von Fachpersonal oder unter dessen Verantwortung verarbeitet werden und dieses Fachpersonal nach dem Unionsrecht oder dem Recht eines Mitgliedstaats oder den Vorschriften nationaler zuständiger Stellen dem Berufsgeheimnis unterliegt, oder wenn die Verarbeitung durch eine andere Person erfolgt, die ebenfalls nach dem Unionsrecht oder dem Recht eines Mitgliedstaats oder den Vorschriften nationaler zuständiger Stellen einer Geheimhaltungspflicht unterliegt. Dies trifft sowohl für ärztliches als auch nichtärztliches Rettungsdienstpersonal zu. Eine Übersicht zur rechtmäßigen Verarbeitung von personenbezogenen Daten und Gesundheitsdaten findet sich in › Abb. 14.1.

ABB. 14.1 Übersicht Verarbeitung personenbezogener Daten/Gesundheitsdaten [L157]

14.4 Datenschutzbeauftragte Die DSGVO sieht in den Art. 37 ff. DSGVO vor, bei welcher Art von Datenverarbeitungsvorgängen in einem Betrieb bzw. Unternehmen eine Person als Datenschutzbeauftragte (DSB) erforderlich ist. So ist nach Art. 37 Abs. 1 DSGVO eine DSB immer vorzuhalten, wenn a) die Verarbeitung von einer Behörde oder öffentlichen Stelle durchgeführt wird, mit Ausnahme von Gerichten, soweit sie im Rahmen ihrer justiziellen Tätigkeit handeln, b) die Kerntätigkeit der verantwortlichen oder der auftragsverarbeitenden Person in der Durchführung von Verarbeitungsvorgängen besteht, welche aufgrund ihrer Art, ihres Umfangs und/oder ihrer Zwecke eine umfangreiche regelmäßige und systematische Überwachung von betroffenen Personen erforderlich machen, oder

c) die Kerntätigkeit der verantwortlichen oder der auftragsverarbeitenden Person in der umfangreichen Verarbeitung besonderer Kategorien von Daten gemäß Artikel 9 oder von personenbezogenen Daten über strafrechtliche Verurteilungen und Straftaten gemäß Artikel 10 besteht. Die typischen (nicht abschließenden) Aufgaben der DSB liegen darin, die Mitarbeiter*innen eines Betriebes bzw. Unternehmens in Datenschutzfragen zu schulen und als Ansprechpartner*in beratend zur Verfügung zu stehen. Daneben stellen DSB die Einhaltung der Datenschutzvorgaben in dem Betrieb bzw. Unternehmen sicher, verpflichten Mitarbeiter*innen zum konformen Umgang mit dem Datenschutz und stehen als Ansprechpartner*in für alle relevanten Datenschutzthemen zur Verfügung. Auch kooperieren DSB mit den zuständigen Behörden, nehmen in den gesetzlich vorgesehenen Fällen eine DatenschutzFolgenabwägung vor und stehen für alle relevanten Behörden als Ansprechpartner*in des Betriebes bzw. Unternehmens zur Verfügung. DSB genießen arbeitsrechtlich einen besonderen Kündigungsschutz. Me r k e Werden auf der Rettungswache oder im Rahmen von Einsätzen datenschutzrechtliche Probleme festgestellt, können sich Mitarbeitende an die zuständige DSB wenden, um eine Beseitigung der festgestellten Probleme zu initiieren oder sich bei Fragen und/oder Unklarheiten beraten zu lassen.

Pr axis tip p Kommt es zu einem Datenschutzvorfall, also einer Situation, in der personenbezogene Daten unberechtigten Dritten zur Kenntnis gelangen, muss die DSB unverzüglich informiert werden. Bei Datenschutzvorfällen gelten kurze Fristen für etwaige Meldungen etc. Datenschutzvorfälle lassen sich im Rettungsdienst u. a. durch folgende Maßnahmen vermeiden: • Keine Patientendaten (Transportscheine, Protokolle, eingeschaltetes Tablet) offen herumliegen lassen, insb. nicht im Fahrerraum (hinter der Windschutzscheibe) des Rettungsmittels. • Bei der Patientenübergabe versuchen, diese an einem Ort durchzuführen, wo unberechtigte Dritte nicht mithören können (z. B. geschlossener Raum). Lässt die Situation dies nicht zu, kann die Sprechlautstärke so angepasst werden, dass unberechtigte Dritte möglichst nicht mithören können. • Bei der Übergabe nur solche Informationen weitergeben, die für die weitere Versorgung der Patient*in erforderlich sind. Müssen Dokumente mit personenbezogenen Patientendaten entsorgt werden, muss dies datenschutzkonform erfolgen (Aktenschredder, Sicherheitsbehälter o. Ä.). Ein einfaches Zerreißen ist i. d. R. nicht ausreichend.

14.5 Sanktionen bei Verstößen

Verstöße gegen Vorgaben des Datenschutzes sind sanktionsbewährt und werden nach Art. 83 DSGVO mit hohen Geldbußen sanktioniert. Daneben sieht Art. 82 DSGVO einen individuellen Anspruch auf Schadensersatz vor. Dazu heißt es in Art. 82 Abs.1, Abs. 2 DSGVO: Jede Person, der wegen eines Verstoßes gegen diese Verordnung ein materieller oder immaterieller Schaden entstanden ist, hat Anspruch auf Schadensersatz gegen den Verantwortlichen oder gegen den Auftragsverarbeiter. Jeder an einer Verarbeitung beteiligte Verantwortliche haftet für den Schaden, der durch eine nicht dieser Verordnung entsprechende Verarbeitung verursacht wurde. Nach Art. 82 Abs. 3 DSGVO können sich verantwortliche oder auftragsverarbeitende Personen von der Haftung entziehen, wenn sie positiv nachweisen, dass sie für den Umstand, der den (Datenschutz-)Schaden verursacht hat, nicht verantwortlich sind. Art. 82 Abs. 3 DSGVO führt dazu aus: Der Verantwortliche oder der Auftragsverarbeiter wird von der Haftung gemäß Absatz 2 befreit, wenn er nachweist, dass er in keinerlei Hinsicht für den Umstand, durch den der Schaden eingetreten ist, verantwortlich ist. Neben dem Anspruch auf Schadensersatz können nach Art. 83 DSGVO weitere Sanktionen in Form von Geldbußen verhängt werden. Dazu heißt es in Art. 83 Abs. 1 DSGVO: Jede Aufsichtsbehörde stellt sicher, dass die Verhängung von Geldbußen gemäß diesem Artikel für Verstöße gegen diese Verordnung gemäß den Absätzen 4, 5 und 6 in jedem Einzelfall wirksam, verhältnismäßig und abschreckend ist.

Geldbußen können in einem Umfang von bis zu mehreren Millionen Euro verhängt werden. Wie hoch die Geldbuße ausfällt, ist schlussendlich eine Einzelfallfrage, die nach Art. 83 Abs. 2 DSGVO maßgeblich davon abhängt, welche Art des Verstoßes in welcher Dauer vorliegt, welche Datenschutzmaßnahmen im betroffenen Unternehmen bestehen und ob fahrlässiges oder vorsätzliches Handeln gegeben ist. Neben den vorstehenden Sanktionen der DSGVO sieht das BDSG weitere Sanktions- und sogar Strafmöglichkeiten vor. § 83 BDSG statuiert einen Schadensersatzanspruch des von dem Datenschutzverstoß Betroffenen, wohingegen § 84 i. V. m. § 42 BDSG sogar einen Straftatbestand mit einer zu erwartenden Strafe von bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe oder einer Geldstrafe für bestimmte dort benannte Datenschutzverstöße vorsehen.

Literatur: Kamp. Recht des Rettungsdienstes und des Feuerschutzes in Nordrhein-Westfalen, Loseblattsammlung Kommentar, 50 EL. 2023. Kühling/Buchner. DSGVO/BDSG – DatenschutzGrundverordnung, Bundesdatenschutzgesetz – Kommentar. 2. Aufl München: C. H. Beck Verlag; 2018.

Kapitel 15 Todesfeststellung und Leichenschau André Höhle

Die Begegnung mit dem Tod gehört für Beschäftigte in Rettungsdienst und Notfallmedizin mit zu ihrer Arbeit. In manchen Situationen trifft der Rettungsdienst auf bereits längere Zeit und/oder eindeutig verstorbene Menschen. In anderen Situationen kämpft er erfolglos um das Leben der Patient*innen, und deren Tod lässt sich trotz aller Maßnahmen nicht abwenden. Dabei steht das Rettungsdienstpersonal mitunter vor den Fragen, wie bzw. von wem der Tod festzustellen ist und wie in solchen Fällen mit den verstorbenen Patient*innen umzugehen ist. Für Verstorbene gelten besondere rechtliche Bestimmungen, die jedoch landesrechtlich geregelt und somit von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich sind. D ie s e s K ap ite l s o l l F olge nde s ve rm itte ln: • Grundlagen des Bestattungsrechts • Grundlagen zur Todesfeststellung

• Pflichten des Rettungsdienstes im Zusammenhang mit Verstorbenen • Handlungsmöglichkeiten beim Versterben während des Transports

W ic h tige R e c ht s qu e l le n fü r d ie s e s K ap ite l: • Bestattungsgesetze der Bundesländer (z. B. Bestattungsgesetz NRW) https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_text_anzeigen? v_id=5320141007092133713

15.1 Rechtliche Grundlagen Verstorbene Menschen erfahren rechtlichen Schutz und rechtliche Regelungen in unterschiedlichen Zusammenhängen. Rechtlicher Schutz wird durch das postmortale Persönlichkeitsrecht noch über den Tod hinaus gewährt. Dies umfasst insb. die Verpflichtung zur Verschwiegenheit, die in diesen Fällen weiterhin gilt. Auch dürfen verstorbene Menschen nicht in grob anstößiger Weise abgebildet (fotografiert) und entsprechende Bilder nicht ohne Weiteres geteilt werden (› Kap. 7.5.5). Weitere gesetzliche Regelungen erfahren Verstorbene durch die Bestattungsgesetze der Bundesländer. Diese beinhalten Regelungen zur Definition einer Leiche, zum Umgang mit Leichen, zu Fristen, zur Leichenschau und den entsprechenden Verantwortlichkeiten, zu Auskunftspflichten, zu

Todesbescheinigungen, zu Bestattungen und zum Friedhofswesen. Für die Arbeit des Rettungsdienstes sind nur die Regelungen zum Umgang mit Verstorbenen von Bedeutung.

15.2 Leichenschau Wird eine verstorbene Person gefunden, muss eine ärztliche Todesfeststellung erfolgen und eine Leichenschau durchgeführt werden. Veranlasst werden muss dies durch Angehörige, durch Wohnungsinhaber*innen, wenn die Person in einer Wohnung verstorben ist, oder auch durch Träger von Einrichtungen, wenn die Person in einer Einrichtung verstorben ist (z. B. Klinik oder Pflegeheim). Die Veranlassung muss unverzüglich erfolgen. Verpflichtet zur Todesfeststellung und Leichenschau ist jede Ärzt*in, z. B. jede niedergelassene Ärzt*in oder jede Ärzt*in in der entsprechenden Klinik. Sind Ärzt*innen Angehörige einer verstorbenen Person, sind sie hingegen nicht dazu berechtigt und verpflichtet. Die Leichenschau muss an der entkleideten Leiche durchgeführt werden. Sie beinhaltet: • Feststellung des Todes (dieser führt zur Beendigung des Lebensschutzes und muss registerrechtlich hinterlegt werden) • Feststellung der Todesursache • Feststellung der Todesart (Aufdecken von Tötungsdelikten, Klassifizierung für Versicherungen und sonstige statistische Zwecke)

• Feststellung der Todeszeit (wichtig für Personenstandsregister und das Erbrecht) • Prüfung, ob eine übertragbare Krankheit zum Tod geführt hat (wichtig für den Infektionsschutz) Sofern eine die Leichenschau durchführende Ärzt*in eine verstorbene Person nicht kennt, hat diese Auskunftsansprüche gegenüber Ärzt*innen, welche die Person vorher behandelt haben. Notärzt*innen sind i. d. R. nicht zur Leichenschau verpflichtet. Ihnen obliegt jedoch die Feststellung des Todes und dessen vorläufige Bescheinigung. Me r k e Notärzt*innen sind i. d. R. nicht zur Leichenschau, sondern nur zur Feststellung des Todes verpflichtet. Eine entscheidende Weichenstellung erfolgt im Hinblick auf die Einschätzung der Todesart. Handelt es sich um eine natürliche Todesart, kann der Rettungsdienst die Einsatzstelle nach der Todesfeststellung verlassen und den oben genannten Personen alles Weitere überlassen (Veranlassung Leichenschau, Auswahl Bestatter*in etc.). Eine natürliche Todesart kann immer dann angenommen werden, wenn der Ärzt*in bekannt ist, dass der Tod aus einer inneren natürlichen Ursache eingetreten ist. Eine natürliche Ursache kann eine lebensbedrohliche Erkrankung sein, die in direktem zeitlichen Zusammenhang mit dem Todeseintritt steht. Der Tod muss zu diesem Zeitpunkt aus dem Krankheitsverlauf zu erwarten gewesen sein. Wichtig ist, dass auch immer dann, wenn eine bekannte, möglicherweise zum Tod führende Vorerkrankung

bestanden hat, trotzdem geprüft wird, ob eine nicht natürliche Todesart in Betracht kommen könnte. Handelt es sich um eine nicht natürliche oder unklare Todesart, muss unverzüglich die Polizei hinzugezogen werden, die dann ein Todesermittlungsverfahren einleitet. Eine nicht natürliche Todesart kann immer dann angenommen werden, wenn es Hinweise darauf gibt, dass der Tod nicht auf natürliche Weise eingetreten ist, z. B. Tod durch äußere Fremdeinwirkungen, Selbsttötung, Unfälle bzw. Unglücksfälle. Die Hinweise müssen nicht direkt am Körper selbst zu finden sein. Möglich ist auch, dass die Umstände Anhaltpunkte darauf liefern, dass ein nicht natürlicher Tod vorliegt, z. B. Hinweise auf einen Einbruch, Kampfspuren, Abschiedsbrief, auffällige Verhaltensweise vor Ort angetroffener Personen. Anhaltspunkte sind hier ausreichend, es besteht keine Pflicht für die Ärzt*in, detailliert zu ermitteln. Bei einer unklaren Todesart steht nicht fest, ob die Todesart natürlich oder nicht natürlich ist. Dies bedeutet, für keine der beiden Kategorien liegen entsprechende Anhaltspunkte vor. Eine unklare Todesart kann oftmals dann angenommen werden, wenn der Tod plötzlich eingetreten ist. Todesfälle unter Injektionen, Infusionen oder Transfusionen sollen nach den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin als unklar klassifiziert werden. A c ht u ng Bei einer nicht natürlichen Todesart muss das Eintreffen der Polizei an der Einsatzstelle abgewartet werden. Gibt es Anhaltspunkte für einen nicht natürlichen Tod, ist zu empfehlen, dass insb. die zuerst am Einsatzort eingetroffene Besatzung bis zum Eintreffen der Polizei vor Ort bleibt, damit diese als

Zeug*innen für die vorgefundene Ausgangssituation zur Verfügung steht. Bei einer unklaren Todesart ist es in vielen Fällen ausreichend, wenn die Besatzung des NEF das Eintreffen der Polizei abwartet. Der RTW kann, auch wenn dieser ersteintreffend war, die Einsatzstelle i. d. R. wieder vor Eintreffen der Polizei verlassen. An der verstorbenen Person und am Umfeld dürfen keine Veränderungen mehr vorgenommen werden (› Kap. 5.3.6).

15.3 Meldepflichten Meldepflichten bestehen in folgenden Fällen: • Nicht natürliche Todesart → Verständigung der Polizei • Unklare Todesart → Verständigung der Polizei • Unbekannte Identität → Verständigung der Polizei • Vorliegen von Infektionskrankheiten → Meldung an das Gesundheitsamt • Bei einer festgestellten Berufskrankheit → Information an die BG oder Unfallkasse Es obliegt den Angehörigen, eine Bestatter*in auszuwählen und zu beauftragen. Dies ist nicht die Aufgabe des Rettungsdienstes. Sind die Angehörigen in einer solchen Situation überfordert, kann erwogen werden, eine Notfallseelsorger*in hinzuzuziehen, die Beistand leisten und hinsichtlich des weiteren Vorgehens zur Seite stehen und ggf. weitere Hilfe organisieren kann. Der Rettungsdienst

ist nicht verpflichtet, bis zum Eintreffen einer Bestatter*in vor Ort zu bleiben.

15.4 Fehler bei der Leichenschau Mögliche Fehler im Rahmen der Leichenschau können sein: • Feststellung des Todes einer noch lebenden Person • Übersehen der Todesursache bzw. Todesart • Falsche Qualifikation der Todesart • Falscher Todeszeitpunkt • Nicht dem ärztlichen Standard entsprechende Leichenschau Fehler bei der Leichenschau können zu einem Bußgeld oder sogar zu strafrechtlichen Ermittlungen führen. Strafrechtliche Ermittlungen kommen insb. dann in Betracht, wenn kein natürlicher Tod vorliegt, dieser jedoch bescheinigt wird, obwohl Hinweise auf einen nicht natürlichen Tod vorliegen, z. B. bei Behandlungsfehlern. Möglich ist in diesen Fällen ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen Strafvereitelung.

15.5 Erkennen des Todes durch Notfallsanitäter*innen In Rettungsdiensteinsätzen kann es vorkommen, dass zunächst ein nichtärztlich besetztes Rettungsmittel bei einer leblosen Person eintrifft. Insbesondere Notfallsanitäter*innen sind fachlich dazu in der Lage festzustellen, ob Lebenszeichen vorhanden sind bzw. ob eine Person verstorben ist. Die förmliche Todesfeststellung sowie die Leichenschau sind allerdings rein ärztliche Aufgaben, welche nicht

delegierbar sind (vgl. › Kap. 4.2.4). Solange der Tod nicht ärztlich festgestellt ist, besteht für das nichtärztliche Personal auch die Verpflichtung zur Hilfeleistung, sofern diese nicht ausdrücklich durch die Patient*in abgelehnt wurde (ausdrücklich oder durch Patientenverfügung), sichere Todeszeichen vorliegen oder die eigene Sicherheit des Helferteams nicht ausreichend gewährleistet wäre. Allgemein gilt für nichtärztliches Personal, dass, wenn Zweifel am Vorhandensein sicherer Todeszeichen bestehen, sicherheitshalber Maßnahmen zur Wiederbelebung eingeleitet werden müssen. Gleiches gilt für die Befolgung des Patientenwillens z. B. anhand einer Patientenverfügung: Wenn Zweifel daran bestehen, dass die betroffene Patient*in tatsächlich keine Maßnahmen wünscht, sind zunächst Maßnahmen zur Hilfeleistung einzuleiten. Bei zeitkritischen Notfällen gilt, dass die Patientenverfügung zumindest von der ersteintreffenden Besatzung nicht geprüft werden muss, sondern direkt lebensrettende Maßnahmen eingeleitet werden können (vgl.› Kap. 6.4.6). Me r k e Die formale Todesfeststellung und die Leichenschau können ausschließliche durch eine Ärzt*in durchgeführt und nicht an nichtärztliches Personal delegiert werden. Me r k e Nur wenn eindeutig und sofort feststeht, dass wegen sicherer Todeszeichen oder einem klar erkennbaren Patientenwillen keine Hilfeleistungsmaßnahmen (z. B. Reanimation) indiziert sind, müssen keine Maßnahmen eingeleitet werden.

Gleiches gilt, wenn die eigene Sicherheit des Helferteams nicht ausreichend gewährleistet wäre. In vielen Fällen kann der Tod eines Menschen eindeutig und auf den ersten Blick erkennbar sein. In einigen Situationen ist dies jedoch nicht so einfach, sodass stets genau geprüft werden muss, ob Lebenszeichen vorhanden sind. Immer wieder kommt es zu Fällen, in den der Tod einer Person zu Unrecht „festgestellt“ wurde. Bei einem Scheintod können die Lebenszeichen stark reduziert sein, sodass sie gerade nicht eindeutig und auf den ersten Blick erkennbar sind, sondern nur durch genaue Untersuchung und ggf. spezielle Untersuchungsmethoden festgestellt werden können. A c ht u ng Lebenszeichen müssen immer genau geprüft werden. Als sichere Todeszeichen gelten: • Totenflecken • Totenstarre • Fäulnis/Verwesung • Verletzungen (bzw. Zerstörungen), die mit dem Leben unvereinbar sind Ursachen für einen Scheintod können sein (AEIOUSchema): • Anämie (Blutarmut)/Anoxämie (Sauerstoffmangel im Blut)/Alkohol • Epilepsie/Elektrizität

• Verletzungen, wie SHT (Injury) • Opiate oder andere Betäubungsmittel • Unterkühlung, Urämie oder andere Stoffwechselentgleisungen

15.6 Tod während des Transports Ist der Tod bereits vor Beginn des Transports eingetreten, darf der Rettungsdienst i. d. R. nicht mehr mit dem Transport beginnen. Die verstorbene Person ist vom Rettungsdienst vor Ort zu belassen. Ausnahmen dazu gibt es in einzelnen Bundesländern für bestimmte Situationen. In Hessen ist es z. B. zulässig, im Freien aufgefundene Leichen oder Leichen von tödlich Verunglückten vom Unfallort mit einem Rettungsmittel mitzunehmen (§ 25 Friedhofsund Bestattungsgesetz Hessen – FBG). Wann der Transport als begonnen gilt, ist nicht eindeutig definiert. Als frühestmöglicher Zeitpunkt kommt die Lagerung auf der Trage in Betracht, als spätestmöglicher Zeitpunkt die Abfahrt mit der Patient*in von der Einsatzstelle. Zumindest dann, wenn eine Patient*in im Rettungsmittel ist, ist davon auszugehen, dass der Transport begonnen wurde und das Rettungsmittel beim Eintritt des Todes als Sterbeort anzusehen ist. Me r k e Tritt der Tod einer Patient*in im Rettungsmittel ein, dann ist der Sterbeort das Rettungsmittel und der konkrete Ort, an dem sich dieses zum Zeitpunkt der Feststellung des Todes befindet.

Verstirbt eine Patient*in im Rettungsmittel, löst dies verschiedene rechtliche Pflichten der Besatzung aus. Diese Pflichten umfassen die sofortige Veranlassung einer Todesfeststellung bzw. Leichenschau, Pflichten im Zusammenhang mit dem weiteren Verbleib der verstorbenen Person sowie die anschließende Reinigung des Rettungsmittels. Um sich diese Pflichten zu ersparen, wird häufig nach dem Grundsatz verfahren „niemand verstirbt im RTW“, sodass eine Reanimation begonnen und fortgeführt wird, bis die Zielklinik erreicht ist. Dieses Vorgehen ist aus rechtlicher Sicht kritisch zu bewerten. Eine Reanimation widerspricht ggf. einem geäußerten Willen in einer Patientenverfügung, zudem werden dadurch Todeszeitpunkt und Sterbeort künstlich verändert. Der Transport einer Patient*in in eine Klinik unter aussichtsloser oder abgelehnter Reanimation führt dazu, dass in der aufnehmenden Klinik wichtige Ressourcen gebunden werden, die für die Versorgung anderer Notfälle nicht mehr zur Verfügung stehen. A c ht u ng Bei der Entscheidung über den Beginn und die Beendigung von Maßnahmen sind der Patientenwille und die medizinische Indikation zu beachten. Erwägungen zur Vermeidung eigener unbequemer Umstände oder von „Papierkram“ dürfen nicht auf Kosten der Krankenhausressourcen in diese Entscheidung einfließen. Verstirbt nun eine Patient*in während des Transports und ist eine Reanimation nicht indiziert, ist die erste Pflicht, dass der Tod ärztlich festgestellt und eine entsprechende Bescheinigung

ausgefüllt wird. Wird der Transport ärztlich begleitet, kann eine Todesfeststellung i. d. R. durch die begleitende Ärzt*in vorgenommen werden. Wird der Transport nicht ärztlich begleitet, ist unverzüglich eine Ärzt*in zur Todesfeststellung anzufordern. Zur Todesfeststellung sind auch Notärzt*innen verpflichtet, zur Leichenschau jedoch in vielen Bundesländern nicht. Entsprechend des Ergebnisses der Todesfeststellung muss dann eine entsprechende Bescheinigung ausgefüllt werden. Die Leichenschau soll i. d. R. an dem Ort durchgeführt werden, an dem die verstorbene Person aufgefunden wurde. Dies bedeutet, dass Ort der Leichenschau in vielen Fällen der Patientenraum des Rettungsmittels ist. Der Transport von Verstorbenen ist in den meisten Bundesländern nur in speziellen Fahrzeugen oder Behältnissen zulässig, wozu Rettungsmittel i. d. R. nicht gehören. Eine Ausnahme dazu gibt es z. B. in Hessen (s. o.). Entsprechend der unterschiedlichen landesrechtlichen Regelungen ist es daher in manchen Bundesländern erforderlich, dass nachdem der Tod festgestellt wurde, angehalten wird und die verstorbene Person dann nur noch in einem Bestattungsfahrzeug weitertransportiert werden darf. Me r k e Der Transport von Verstorbenen in Rettungsmitteln ist in einzelnen Bundesländern unterschiedlich geregelt. Entsprechend des Ergebnisses der Todesfeststellung kommen zum weiteren Vorgehen zwei Alternativen in Betracht:

A) Es kann sich um einen natürlichen Tod oder B) um einen nicht natürlichen/ungeklärten Tod handeln. Natürlicher Tod (Fall A) Ist das Ergebnis der Todesfeststellung, dass es sich um einen natürlichen Tod handelt, ist entsprechend den lokalen Vorgaben zu verfahren. Eröffnen lokale Vorgaben die Möglichkeit, die verstorbene Person in eine Klinik zu bringen, damit dort die Leichenschau durchgeführt wird, kann entsprechend verfahren werden. Besteht die Möglichkeit zur Übergabe an eine Bestatter*in, muss geprüft werden, ob es erforderlich ist, dass vorher eine Leichenschau durchgeführt wird oder ob eine solche auch noch durch die Bestatter*in veranlasst werden kann. In jedem Fall ist für eine Übergabe an eine Bestatter*in eine Bescheinigung über den Tod erforderlich. Kann oder soll im Rettungsmittel keine Leichenschau durchgeführt werden, ist in Absprache mit der Klinik, in der die Patient*in aufgenommen werden sollte, ggf. ein Transport dorthin zu erfolgen. In diesem Fall kann eine Leichenschau in der Klinik durchgeführt werden, die dann auch alles Weitere veranlasst. Eine rechtliche Pflicht zur Aufnahme von Verstorbenen gibt es oftmals nicht. Daher ist es wichtig, dass hier auf lokaler Ebene entsprechende Absprachen getroffen und allen Beteiligten kommuniziert werden. Nicht natürlicher/unklarer Tod (Fall B) Eine nicht natürliche oder unklare Todesart macht das Rettungsmittel zunächst einmal zu einem Tatort. Dies bedeutet, dass die Polizei hinzugezogen werden muss, um ein entsprechendes

Todesermittlungsverfahren einleiten zu können. An und um die verstorbene Person herum dürfen ab dem Zeitpunkt eines nicht natürlichen oder unklaren Todes keine Veränderungen mehr vorgenommen werden. Das Rettungsmittel sollte auch am aktuellen Sterbeort verbleiben. Andere Absprachen mit der Polizei dazu sind möglich. Kam es nach einer notärztlichen Behandlung zum Versterben, ist die Leichenschau i. d. R. durch eine andere Ärzt*in vorzunehmen, damit Interessenkonflikte vermieden werden. Me r k e Bei einer nicht natürlichen oder unklaren Todesart dürfen an der verstorbenen Person keine Veränderungen vorgenommen werden (› Kap. 5.3.6). Aufgrund der in den einzelnen Bundesländern unterschiedlichen Rechtslagen ist es erforderlich, dass sich das Rettungsdienstpersonal über die Regelungen vor Ort informiert. Wenn es vor Ort keine Regelungen gibt, ist es Aufgabe der Träger des Rettungsdienstes bzw. der ÄLRD, vor Ort entsprechende Absprachen zwischen allen Beteiligten zu initiieren und auf rechtssichere Abläufe hinzuwirken. Dies betrifft insb. die Aufnahme Verstorbener in einer Klinik. Hier muss das Rettungsdienstpersonal genau wissen, wann und unter welchen Umständen dies möglich ist. Dies bedingt jedoch auch, dass in den Kliniken entsprechende Abläufe und Prozesse etabliert werden, die die Aufnahme Verstorbener ermöglichen. Das Vorgehen beim Versterben einer Patient*in während des Transports ist in › Abb. 15.1 dargestellt.

ABB. 15.1 Ablauf Versterben auf Transport [L157] Bei allen Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Umgang mit Verstorbenen muss deren Würde berücksichtigt werden. Intensivtransport Zu einer weiteren Problematik kann es bei Intensivtransporten kommen. Gerade bei längeren Transporten stellt sich die Frage, welche Klinik beim Versterben einer Patient*in angefahren werden soll bzw. kann. Dies kann die Zielklinik, die abgebende Klinik oder ggf. die nächstgelegene Klinik sein. Absprachen zwischen Rettungsdienst, abgebender Klinik und Zielklinik sind dazu jederzeit möglich. Problematisch werden kann es, wenn während des Transports die abgebende Klinik und die Zielklinik viele Kilometer vom Sterbeort entfernt liegen und die nächstgelegene Kliniken die Aufnahme verweigern. Führt der Intensivtransport dann auch noch durch mehrere Bundesländer, kommen zudem unterschiedliche

Bestattungsgesetze zum Tragen, mit jeweils unterschiedlichen Regelungen zum Umgang mit Verstorbenen. Im Zusammenhang mit der Vorbereitung eines Intensivtransports ist es daher wichtig, dass die Besatzung Kontaktmöglichkeiten zu allen Rettungsleitstellen auf dem Weg hat. Die lokalen Rettungsleitstellen können bei der weiter erforderlichen Koordination unterstützen. Denn es ist kaum möglich, dass Rettungsdienstbesatzungen die rechtlichen Anforderungen anderer Bundesländer sowie lokale Absprachen zu dieser Thematik kennen. Pr axis tip p Aufgrund der Vielzahl unterschiedlicher landesrechtlicher Regelungen und Vorgehensweisen im jeweiligen Einsatzgebiet empfiehlt es sich, sich zu dieser Thematik konkret über die Regelungen vor Ort, im Einsatzgebiet, zu informieren.

Literatur: Birkholz, Bigalke, Hollnberger. Umgang des Rettungsdienstes mit in der Präklinik verstorbenen Patienten. Notfall Rettungsmed. 2019. ;22:420–429. https://doi.org/10.1007/s10049-018-0527-3 (letzter Zugriff: 24. November 2023). Menzel, Hamacher. Bestattungsgesetz NordrheinWestfalen Kommentar. 2. Aufl 2009 Wiesbaden. Rothschild, Das Kreuz mit der Todesbescheinigung: Welche Todesart ist richtig? Bayrisches Ärzteblatt 11/2005

Deutsche Gesellschaft für Rechtsmedizin, Regeln zur Durchführung der ärztlichen Leichenschau, https://register.awmf.org/assets/guidelines/054 -002l_S1_Regeln-zur-Durchfuehrung-deraerztlichen-Leichenschau_2018-02_01.pdf (letzter Zugriff: 24. November 2023)

Register 0-9, and Symbols 1c-Maßnahmen 63 2a-Maßnahmen 68 2c-Maßnahmen 65 A Abmahnung 271 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz 263 Amtsgerichte 24 Amtshaftung 137 Rückgriffsrecht 139 Amtshilfe 100 Amtspflichtverletzung 139 Anstiftung 151 Arbeitnehmerhaftung 268 Arbeitsrecht 

Abmahnung 271 Arbeitsbereitschaft 268 Arbeitstätigkeit 267 Arbeitsvertrag 264 Arbeitszeit 268 Aufhebungsvertrag 269 Belästigungen 265 Bereitschaftszeit 268 Bewerbungsgespräch 263 Direktionsrecht 266 Diskriminierungen 265 Grundlagen 262 kollektives 272 Kündigung 269 Mobbing 266 Ort der Arbeitsleistung 267 Scheinselbstständigkeit 262 Schwerbehinderung 263 selbstständige Tätigkeit 262 Stellenausschreibungen 263 Arbeitsschutz 256

arbeitsmedizinische Untersuchungen 259 Aufgaben Arbeitgeber 259 Erste Hilfe 259 Gefährdungsbeurteilung 259 Gefahrstoffverordnung 260 Leistungsverweigerungsrecht 261 Unterweisung 259 Arbeitsschutzgesetz 259 Arbeitssicherheitsgesetz 260 Arbeitsstättenverordnung 261 Arbeitsunfälle  Meldung 258 Transport in Klinik 188 Wegeunfall 258 Arbeitsverhältnisse 261 Arbeitsvertrag 264 Arzneibuch, Europäisches 205 Arzneimittel  Abgrenzung Medizinprodukte 204 Arten 204 Definition 204

EMA 205 homöopathische 205 Kennzeichnung 206 Lagerung Rettungsdienst 206 Marktüberwachung 206 Off-Lable-Use 207 Produktrückruf 207 Sicherheit 204 Wirksamkeit 204 Arzneimittel-Agentur, Europäische 205 Arzneimittelgesetz 203 Arzneimittelrecht 203 Arzneimittelzulassung  BfArM 205 PEI 205 Prüfungsphasen 205 Assistenz 60 Aufklärung  Dokumentation 121 Eingriffs- und Risikoaufklärung 119 Sicherungsaufklärung 119

situationsangemessene 120 Ausbildungs- und Prüfungsverordnung 57 Ausbildungsvertrag, Notfallsanitäter 58 Aussetzung 160 B Beförderungsanspruch, Notfall 184 Befunderhebung, unterlassene 131 Behandlungsfehler 123 grober 131 Behandlungsvertrag 114 Pflichten Notarzt/Rettungsdienst 115 Pflichten Patient 116 Beihilfe zu Straftat 151 Beitragsbemessungsgrenze 31 Belästigung, sexuelle 181 Beleidigung 182 Bereitschaftszeit 268 Berufskammern 45 Berufskrankheiten 258 Berufsverbot 146

Berufung 22 Beschluss 24 Beschützergaranten 154 Bestattungsgesetze 281 Bestechlichkeit 179 Betäubungsmittel  Aufbewahrung 209 Definition 208 Erlaubnispflicht 208 Lagerung 209 Positivliste 208 Verabreichung durch NotSan 210 Vernichtung 210 Vorhaltung Rettungsdienst 209 Betäubungsmittelanforderungsschein 209 Betäubungsmittelgesetz 208 Betäubungsmittelrecht 208 Betreuung, gesetzliche 111 Auswahl Betreuer 228 Folgen für den Betreuten 228 Unterbringung 229

Voraussetzungen 228 Betreuungsverfügung 111 Betriebsrisiko 268 Betriebsverfassungsgesetz 272 Beweiserleichterung 130 Beweislast 130 Beweislastumkehr 130 Bewerbungsgespräch 263 BfArM 205 Bildaufnahmen 173 Schulungszwecke 174 Verbreitung 174 Biostoffe, Umgang mit 257 Biostoffverordnung 257 Blaulicht 237 Brandschutz  Bedarfspläne 97 vorbeugender 96 Brandschutzgesetze 97 Brandschutzhelfer 96 Brandsicherheitswache 97

Briefgeheimnis 8 Notfalleinsatz 172 Verletzung 172 Bundesdatenschutzgesetz 276 Bundesgerichte 23 Bundesgerichtshof 15 Bundesgesundheitsministerium 44 Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte 44 Bundeskanzler 15 Bundeskriminalamt 102 Bundesländer 25 Bundespräsident 14 Bundesrat 14 Bundesregierung 14 Bundesstaat 10 Bundesstaatsprinzip 10 Bundestag 13 Bundestagswahl 13 Bundesverfassungsgericht 14 Bürgerliches Gesetzbuch 109 Bürgerliches Recht 109

Bürgerrechte 9 D Daseinsvorsorge 26 Datenschutzbeauftragte 277 Datenschutz-Grundverordnung 275 Datenschutzverstoß 278 Datenschutzvorfall 278 Delegation 60 Fehler 127 Delegationshindernisse 65 Demokratie 10 Demokratieprinzip 11 Diagnosefehler 124 Diagnoseirrtum 124 Diebstahl 180 Direktionsrecht, Arbeitgeber 266 Dokumentation  Anforderungen 128 Aufklärung 121 Betäubungsmittel 209

BGB 127 Einwilligung 121 Einwilligungsfähigkeit 121 elektronisch 127 nicht durchgeführte Transporte 187 Papierform 127 Drei-Elemente-Lehre 9 DSGVO  Datenschutzbeauftragte 277 Datenschutzverstoß 278 Datenschutzvorfall 278 Datenverarbeitung 276 Gesundheitsdaten 277 Grundlagen 275 personenbezogene Daten 276 Sanktionen 278 Durchführungsverantwortung 61 E Eigenverantwortlichkeit 61 Eingriffs- und Risikoaufklärung 119

Einheitsstaat 10 Einsatzhorn 237 Einwilligung  Dokumentation 121 konkludente 123 mutmaßliche 122 rechtfertigende 165 Stufenmodell 116 Vetorecht 118 Einwilligungsfähigkeit  betreute Patienten 118 Dokumentation 121 Minderjährige 117 unter Alkohol und Rauschmittel 119 Einzelfallbetrachtung 25 Elternrecht 8 Empfehlungen 21 Entschuldigungsgründe 165 Erkrankungen, psychische 221 EU-Recht 27 Europäische Union 27

Exkulpationsbeweis 132 F Fahrlässigkeit 83 Fahrlässigkeit, bewusste 149 Fahrverbot 145 Fahrzeugdefekt 199 Feuerwehr  Arten 98 Aufgaben 95 Befugnisse 100 Brandschutz, vorbeugender 96 Brandschutzgesetze 97 Brandschutzhelfer 96 Brandsicherheitswache 97 Ehrenamt 97 Einsatzleitung 99 Hierarchien 98 Schnittstelle zum Rettungsdienst 96 Föderalismus 10 Freiheit der Person 7

Freiheitsberaubung 7 Freiheitsbeschränkung 218 Freiheitsentziehende Maßnahmen 114 Freiheitsentziehung  richterliche Entscheidung 218 Freiheitsstrafe 145 Fremdgefährdung 222 Funken während Einsatzfahrt 233 G Garantenstellung 153 Gedächtnisprotokoll, Rettungseinsatz 129 Gefährdungsbeurteilung 259 Gefahrenabwehr 93 Feuerwehr 95 Gesetzgebungskompetenzen 94 Polizei 102 Gefahrstoffverordnung 260 Geldrente 141 Gemeinde 26 Gemeindenotfallsanitäter 37

Gemeinsamer Bundesausschuss 44 Gerichte  Berufung 22 Beschlüsse 24 Instanzen 22 Urteile 24 Gerichtsbarkeit 22 Geschäftsfähigkeit 110 Gesetze 17 Gesetzgebung 15 Gesetzgebungskompetenzen 15 Gesetzgebungsverfahren 16 Gesundheitsfonds 32 Gesundheitshandwerke 51 Gesundheitsministerkonferenz 45 Gesundheitssorge 113 Gesundheitssystem  Entwicklung 30 weltweit 30 Gewaltenteilung 11 Gleichbehandlungsgesetz, Allgemeines 263

Großeinsatzlagen  Landeskonzepte 105 Grundgesetz 5 Grundpflege 41 Grundrechte 5 Eingriff 6 Freiheit der Person 218 Rettungsdienst 6 H Haftung, zivilrechtliche 136 Haftungsbeschränkungen 137 Handlung, unerlaubte 137 Handlungsfreiheit 7 Heilberufe 50 Heilkunde 55 Heimentgelte 42 Herrschaftsformen 10 Hilfeleistung, unterlassene 152 Höchstarbeitszeiten, zulässige 268 I

Impfkommission, Ständige 250 Impfpflicht  Corona 252 Masern 251 Infektionen, nosokomiale 252 Infektionsschutzgesetz  Behörden 249 epidemische Lage nationaler Tragweite 253 Impfpflicht 251 Informationen 250 Institutionen 249 Maßnahmen 251 meldepflichtige Krankheiten 252 nosokomiale Infektionen 252 Prävention 250 Verdachtsfälle 252 Intensivtransport, Todesfall 285 K Katalog invasiver Maßnahmen 74 Katastrophenschutz 

Institutionen 105 Landeskonzepte für Großeinsatzlagen 105 Kindesmisshandlung 177 Kompetenzstufen, Notfallsanitäter 73 Körperverletzung 166 bei Heilberufen 167 einfache 167 fahrlässige 169 gefährliche 168 mit Todesfolge 169 schwere 169 Körperverletzungsdelikte 166 Krankenhäuser  Finanzierung 39 Sicherstellungsauftrag 38 Krankenhauspläne 38 Krankenpflege, häusliche 41 Krankentransport-Richtlinie 44 Krankenversicherung, gesetzliche 31 Krankenversicherung, private 33 Kriminalstrafen 145

Kündigung 269 außerordentliche 270 gerichtliches Vorgehen 272 personenbedingte 271 verhaltensbedingte 271 Kündigungsschutzgesetz 269 L Landesgesetzgebung 2 Landesrettungsdienstgesetz 16 Landgerichte 24 Landkreis 26 Leichenschau  Fehler 282 Todesfeststellung 281 Leitlinien 19 Empfehlungsgrad 20 Evidenzebenen 20 Klassifikation 20 Leitstelle 99 M

Maßnahmen, freiheitsentziehende 114 Medikamentenkatalog, Notfallsanitäter 74 Medizinisches Versorgungszentrum 36 Medizinprodukte 191 Anwendung 196 Bandbreite 192 CE-Kennzeichen 193 Definition 192 Einweisung 198 elektronische Datenbank, EUDAMED 192 Ersatzgeräte 200 Funktionskontrolle 199 Konformitätserklärung 193 Marktüberwachung 196 Meldepflichten bei Vorkommnissen 195 patienteneigene 201 Pflichten der Betreiber 198 Vorkommnisse 194 Zulassung 194 Zweckbestimmung 198 Medizinproduktebeauftragte 197

Medizinprodukteberater 196 Medizinprodukte-Betreiberverordnung 197 Medizinprodukte-Durchführungsgesetz 196 Medizinprodukterecht 191 Medizinprodukte-Verordnung  europäische 192 Unique Device Identification 192 Meinungsfreiheit 8 Meldepflicht  im Todesfall 282 Krankheiten 252 Menschenwürde 6 Missbrauch, sexueller 181 Misshandlung von Schutzbefohlenen 171 Mittäterschaft 151 Mitverschulden 140 Mitwirkung 60 Mobbing 266 N Normen, technische 21

Notärzte 53 Pflichten 55 rechtliche Stellung 54 Weisungsbefugnis 76 Zusatzweiterbildung 54 Notarzteinsatz  Indikationskatalog 54 Notdienst, kassenärztlicher 35 Notfallmedizin  Handlungsformen 60 Zusatzweiterbildung 54 Notfallsanitäter  1c-Maßnahmen 63 2c-Maßnahmen 65 Ausbildung 57 Ausbildungs- und Prüfungsverordnung 57 Ausbildungseinsatz Krankenhaus 59 Ausbildungseinsatz Rettungswache 59 gesetzliche Grundlage 56 Katalog invasiver Maßnahmen 74 Kompetenzen 60

Kompetenzen i. R. d. Mitwirkung 64 Kompetenzstufen 73 Kompetenzziele 62 Medikamentenkatalog 74 Training 74 Weisungsbefugnis 76 Nothilfe 163 Nötigung, sexuelle 181 Notkompetenz 164 NotSanG 56 Beherrschen 72 Erlernt-haben 71 heilkundliche Maßnahmen 68 Kompetenzen 67 Pyramidenprozess 74 Rechtssicherheit 70 Notstand, rechtfertigender 163 Notstandshandlung 163 Notstandslage 163 Notvertretungsrecht, Ehepartner 112 Notwehr 161

Notwehrexzess 166 Notwehrhandlung 162 Notwehrlage 161 O Oberlandesgerichte 23 Öffentliches Recht 4 Off-Lable-Use 207 Ordnungsbehörden 102 Ordnungswidrigkeiten 145 Originalvollmacht 113 P Patientenverfügung 132 Personen  juristische 4 natürliche 4 Persönlichkeitsrecht, allgemeines 7 Pflege  ambulante 41 Finanzierung 42

Qualität 40 stationäre 39 teilstationäre 42 Pflegeausbildung, generalistische 40 Pflegebedürftigkeit  Begutachtungsinstrument 40 Pflegegrad 40 Pflegeversicherung, gesetzliche 33 Pflichtenkollision, rechtfertigende 165 Platzverweis 104 Polizei  Befugnisse 103 Bundespolizei 102 Einsatzleitung 102 Generalklausel 103 Organisation 102 Platzverweis 104 Rechtsgrundlagen 101 Vollzugshilfe 102 Zusammenarbeit mit Rettungsdienst 103 Praxisanleiter 77

Pressefreiheit 8 Privatgeheimnisse, Verletzung 174 Privatrecht 109 PsychKG 219 Fremdgefährdung 222 Selbstgefährdung 221 Pyramidenprozess 74 R Recht am eigenen Bild 173 Recht, öffentliches 4 Rechtfertigung 150 Rechtfertigungsgründe 137 Rechtsfähigkeit 110 Rechtsnorm 17 Rechtsprechung 22 Rechtsquellen 2 Rechtsschutz 11 Rechtssicherheit 11 Rechtsstaatsprinzip 11 Rechtsverordnungen 18

Regierungsbezirke 27 Rehabilitation  ambulante 36 medizinische 43 stationäre 39 Republik 10 Rettungsassistenten 81 Rettungsdienst  Aufgaben 46 Einsätze mit Strafverfolgung 104 Finanzierung 48 Handlungsempfehlungen 66 Organisation 47 Organisationsmodelle 49 Schnittstelle zur Feuerwehr 96 Schutzmaßnahmen 257 Struktur 47 Todesfall 281 Verwaltung 45 Wirtschaftlichkeit 48 Rettungsdienstgesetze 47

Rettungshelfer 79 Rettungskette 46 Rettungssanitäter 78 Rettungssanitäter Plus  Niedersachsen 80 Schleswig-Holstein 81 Rettungswache, Ausbildung 59 Revision 23 Richtlinien 19 Risiko, vollbeherrschbares 125 Risikostrukturausgleich 33 Robert Koch-Institut 44 Rückgriffsrecht 139 S Sachbeschädigung 180 Sachleistungsprinzip 32 Sachverständigengutachten 84 Sanktionen, strafrechtliche 145 Schadensersatz 140 Schadensrecht 137

Scheinselbstständigkeit 262 Schlägerei, Beteiligung 171 Schmerzensgeld  Ersatzpflicht 141 Höhe 140 Schutzimpfungen 251 Schweigepflicht 174 Betreuer 176 Eltern, Angehörige 176 Kollegen 176 Nachbarn 176 Polizei 176 rechtfertigender Notstand 177 Verletzung durch Unterlassen 178 Selbstbestimmung, informationelle 8 Selbstbestimmung, sexuelle 181 Selbstbestimmungsrecht 7 Selbstgefährdung 221 Selbstverwaltung, Kommune 26 Sicherstellungsauftrag 34 Sicherungsaufklärung 119

Dokumentation 125 fehlerhafte 125 Solidaritätsprinzip 31 Sonder- und Wegerechte 233 Sonderprivatrecht 109 Sonderrechte  begleitendes NEF 245 Berechtigte 233 Beschränkungen 234 Entscheidung Inanspruchnahme 236 im Rettungseinsatz 236 Kennzeichnung 234 Parken 237 Unterschied zu Wegerechten 240 Voraussetzungen 235 Sorge, elterliche 112 Sorgfaltsmaßstab 84 Mindestmaß 86 Strafrecht 87 Zivilrecht 87 Sorgfaltspflichten 81

Fallgruppen 82 Notfallsanitäter 86 Sachverständigengutachten 84 Sorgfaltsmaßstab 84 Sorgfaltspflichtverletzungen 83 Sorgfaltspflichtverstoß 55 Souveränität, staatliche 9 Sozialadäquanz 179 Sozialstaatsprinzip 12 Sozialversicherungssystems 12 Staatsformen 10 Staatsprinzipien 9 Städte 26 Stellenausschreibungen 263 Stellungnahmen 21 Stellvertretung  gesetzliche 111 vertragliche 112 Strafgesetzbuch 144 Strafrecht 143 Anstiftung 151

Aussetzung 160 Beihilfe 151 Fahrlässigkeit 147 Freiheitsstrafe 145 materielles 144 minder schwerer Fall 151 Mittäterschaft 151 prozessuales 144 Rechtfertigung 150 Rechtfertigungsgründe 161 Rechtsfolge 145 Rettungsdienst 144 Sanktionen 145 Täterschaft 151 unterlassene Hilfeleistung 152 Unterlassungsdelikt 152 Verbrechen 144 Vergehen 144 Vorsatz 147 Straftatbestand 146 Straftaten 144

Straßenverkehrsgesetz 231 Straßenverkehrs-Ordnung 231 Blinklicht, blaues 237 Einhaltung Verkehrsregeln 232 Fahrzeuge des Rettungsdienstes 234 Feuerwehr 233 Funkgeräte und Mobiltelefone 232 Sonderrechte 233 Sorgfaltspflicht 234 Verantwortung Fahrzeugführer 232 Wegerechte 237 Straßenverkehrsrecht 231 Subsidiaritätsprinzip 31 Substitution 61 Suizid, selbstbestimmter 171 T Tarifverträge 272 Täterschaft 151 Telenotärzte 66 Telenotfallmedizin 66

Therapiefreiheit 55 Tod  natürlicher 284 nicht natürlicher 284 Tod, Rettungsdienst  Intensivtransport 285 Leichenschau 281 Meldepflichten 282 rechtliche Grundlagen 281 vor Beginn Transport 283 Tod, während Transport 283 Todesart  natürliche 282 nicht natürliche 282 unklare 282 Todesfeststellung, ärztliche 281 Todeszeichen, sichere 283 Tötung, fahrlässige 170 Tötungsdelikte 170 Training, simulationsbasiertes 59 Transportpflicht, absolute 188

Transportverweigerung 186 U Übergriff, sexueller 181 Übernahmefahrlässigkeit 88 Übernahmeverschulden 89 Überwachungsgaranten 154 Unfälle, Haftung 243 Unfälle, im Rettungsdienst 240 an Kreuzungen 241 mit Personenschaden 242 Verhalten am Unfallort 242 Unfallversicherung, gesetzliche  Leistungen Schadensfall 259 Prävention 257 Unfallverhütungsvorschriften 257 Unterbringung 217 Ablauf 224 Antragstellung 223 Aufgaben der Polizei 226 betreuungsrechtliche 229

durch Zwang oder Drohung 219 Kausalität 222 krankheitsbedingtes Verhalten 220 nach PsychKG 219 öffentlich-rechtliche 218 Ordnungsbehörde vor Ort 225 Patientenrechte 225 Rolle des Rettungsdienstes 226 sofortige 224 unmittelbarer Zwang 225 Verhältnismäßigkeit 222 Unterlassen  fahrlässiges 157 vorsätzliches 157 Unterlassungsdelikt 152 Unverletzlichkeit, Wohnung 8 Unversehrtheit, körperliche 7 Urteil 24 V Verbandbuch 258

Verbleib Patienten vor Ort 183 Verbrechen 144 Vereinigung, kassenärztliche 34 Verfassung 5 Vergehen 144 Vergewaltigung 181 Verkehrsregeln 232 Versorgung, ambulante ärztliche 34 Finanzierung 36 Strukturen 36 Versorgung, stationäre 38 Versuchsstrafbarkeit 151 Verträge 110 Verwaltungsvorschriften 19 Vollmacht 112 Vollzugshilfe 102 Vorabdelegation 65 Vorsatz 147 Vorsatz, bedingter 149 Vorsorgevollmacht 112 Gesundheitssorge 113

Vorteilsannahme, strafbare 179 W Wegerechte  begleitendes NEF 245 Berechtigte 238 Blinklicht, blaues 237 Blinklicht, gelbes 239 Entscheidung 239 im Rettungseinsatz 239 Kennzeichnung 238 Unterschied zu Sonderrechten 240 Vergewisserungspflicht 238 Voraussetzungen 239 Wegeunfall 258 Weisungsbefugnis  kassenärztlicher Notdienst 35 Notärzte 76 Notfallsanitäter 76 Weiterbildungspflicht, ärztliche 89 Wohnformen, alternative 43

Z Zivilrecht 87, 109 Zivilschutz 106 Zusatzweiterbildung Notfallmedizin 54