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German Pages 418 [677] Year 2023
Matthias Ruppert | Jochen Hinkelbein (Hrsg.)
Notfallmedizin extrem 2., aktualisierte und erweiterte Auflage mit Beiträgen von M. Bayeff-Filloff | T. Becker | R. Bender | Y. Beres | R. Blomeyer | T. van Boemmel |R. Bohnen | S. Braunecker | H. Brugger | M. Döhla | C. Fasel | J. Fibranz | M. Gäßler |H. Genzwürker | M. Helm | J. Hinkelbein | S. Hoppe | B. Hossfeld | J. Hühn | C. Jänig |F. Josse | A. Kircharzt | J. Kohfahl | T. Küpper | A. Lang | H. Lorenz | D. Luschkova | A. Melzer | V. Morhart-Bojko | A. Müller-Cyran | C. Neuhaus | T. Piepho | R. Prohaska | S. Rauch | K. Reindl | M. Reng | K. Rücker | S. Rudolph | M. Ruppert | M. Schiffarth | F. Schmid | W. Schmidbauer | J. Schwietring | M. Seemann | M. St. Pierre | M. Stuhr | W. Tichy | J. Tiedemann | C. Traidl-Hoffmann | W. Voelckel | B. Wallner | K. Waltner | S. Weber | N. Weinrich | M. Weinzierl | W. Welslau | A. Werner | D. Werner | M. Winter | B. Wolcke | G. Zeilinger
Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
Die Herausgeber Dr. med. Matthias Ruppert ADAC HEMS Academy GmbH Richthofenstraße 142 53757 Sankt Augustin und ADAC Luftrettung gGmbH Hansastraße 19 80686 München Univ.-Prof. Dr. med. Jochen Hinkelbein Johannes Wesling Klinikum Minden Universitätsklinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin und Notfallmedizin Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum Hans-Nolte-Straße 1 32429 Minden MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG Unterbaumstraße 4 10117 Berlin www.mwv-berlin.de ISBN 978-3-95466-836-6 (eBook: ePDF) ISBN 978-3-95466-837-3 (eBook: ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Berlin, 2023 Dieses Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. In vorliegendem Werk wird nur die männliche Form verwendet, gemeint sind immer beide Geschlechter, sofern nicht anders angegeben. Die Verfasser haben große Mühe darauf verwandt, die fachlichen Inhalte auf den Stand der Wissenschaft bei Drucklegung zu bringen. Dennoch sind Irrtümer oder Druckfehler nie auszuschließen. Der Verlag kann insbesondere bei medizinischen Beiträgen keine Gewähr übernehmen für Empfehlungen zum diagnostischen oder therapeutischen Vorgehen oder
für Dosierungsanweisungen, Applikationsformen oder ähnliches. Derartige Angaben müssen vom Leser im Einzelfall anhand der Produktinformation der jeweiligen Hersteller und anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Eventuelle Errata zum Download finden Sie jederzeit aktuell auf der Verlags-Website. Produkt-/Projektmanagement: Meike Daumen, Berlin Copy-Editing: Monika Laut-Zimmermann, Berlin Layout, Satz und Herstellung: zweiband.media, Agentur für Mediengestaltung und produktion GmbH, Berlin Coverbilder: © Martin Schiffarth, KFV GAP, Berufsfeuerwehr München, Henrik Morlock /morlock-fotografie, Sylvi Thierbach, Manuel Döhla, Deutsches Institut für Katastrophenmedizin und Aleksandr Lesik Sektionsaufmacher: I ADAC Luftrettung gGmbH, II Henrik Morlock/morlock-fotografie, III KFV GAP, IV Sylvi Thierbach, V Daniel Schröder, VI Matthias Ruppert E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt Zuschriften und Kritik an: MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Unterbaumstr. 4, 10117 Berlin, [email protected]
Vorwort zur 1. Auflage Die präklinische Notfallmedizin wird per se als risikobehaftetes Umfeld betrachtet; Versorgungssituationen werden jedoch ungleich komplexer, wenn die Patientin/der Patient sich nicht einfach in einem Gebäude oder auf der Straße befindet, sondern unter Umgebungsbedingungen, die eine gewohnte Notfallversorgung erschweren oder gar nicht zulassen. In diesem Buch werden daher Notfall- bzw. Versorgungssituationen als „Extremsituationen“ behandelt, in denen ganz unterschiedliche widrige Rahmenbedingungen auf die eigentliche Versorgung des Patienten Einfluss nehmen. Für solche Extremsituationen kann aufgrund ihrer geringen Inzidenz in aller Regel keine persönliche Expertise aufgebaut werden und oft versagen strukturierte Algorithmen. Zudem existieren nur wenig erkenntnisbasierte, wissenschaftliche Grundlagen für das Management seltener Notfallsituationen. Daher war es unser Ziel, ein Praxisbuch herauszugeben, das Erfahrungswissen ausgewählter Expertinnen und Experten für spezielle Bereiche zusammenführt und einen Überblick zu diesem facettenreichen Themenkomplex gibt. So unterschiedlich die hier aufgenommenen Extremsituationen sind, so unterschiedlich ist auch die Annäherung der Autorinnen und Autoren an die einzelnen Themen, was dem breiten Rahmen der behandelten Extremsituationen nur gerecht wird. Vor dem Hintergrund des Mangels an erkenntnisbasiertem Wissen zu diesem Themenkomplex haben wir bewusst auch gewisse Redundanzen oder sogar unterschiedliche Sichtweisen zu Einzelaspekten in den Kapiteln zugelassen. Wir wünschen Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, viel Vergnügen und vor allem einen Erkenntnisgewinn beim Lesen dieses Buches. Wir hoffen, dass Sie den einen oder anderen Aspekt erfolgreich und zielführend in Ihre eigene Praxis übernehmen können. Vorhandenes Wissen zu nutzen und vorbereitet zu sein, sind die grundlegenden Bausteine eines erfolgreichen Rettungseinsatzes.
Matthias Ruppert und Jochen Hinkelbein
München und Köln im März 2018
Vorwort zur 2. Auflage Seit der 1. Auflage dieses Buches hat das Thema „Notfallmedizin in Extremsituationen“ in fast erschreckender Weise an Aktualität und Alltagsbezug gewonnen. Der fortschreitende Klimawandel mit Naturereignissen wie der Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen 2021, AmokAnschläge wie in München 2016 und Trier 2020, Großunfälle wie das Zugunglück in der Nähe von Garmisch-Partenkirchen 2022 oder die zumindest latent wieder bestehende Gefahr kriegerischer Auseinandersetzungen auch in Mitteleuropa führen vor Augen, dass jeder in der Akut- und Notfallmedizin Tätige mit einer Versorgungssituation in einer wie auch immer gearteten Extremsituation konfrontiert werden kann. Um diesen Bezug herzustellen und ein „Lernen aus Ereignissen“ zu bestärken, haben wir uns bei der 2. Auflage des Praxisbuchs entschieden, einschlägige Fallberichte zu ergänzen. Ebenso haben wir spezifische Gefahren und Bedrohungslagen, wie beispielsweise einen radioaktiven Fallout, stärker in den Fokus genommen. Die aktuellen Erfahrungen zeigen erneut deutlich, dass etablierte Algorithmen und Versorgungsstrategien in Extremsituationen nicht 1:1 umgesetzt werden können und zum Teil einer erheblichen Adaptation an die Umgebungsbedingungen bzw. an die jeweilige Situation bedürfen. In jedem Fall stellt eine patientenorientierte und sichere Versorgung unter schwierigen Bedingungen eine extreme Herausforderung auch an notfallmedizinisch erfahrenes Personal, das möglicherweise unvermittelt damit konfrontiert wird, dar. Vor diesem Hintergrund hoffen wir mit dieser 2. Auflage einen weiteren Beitrag leisten zu können, um Sie – liebe Leserinnen und Leser – besser auf derartige Situationen vorzubereiten, mit denen Sie nicht nur als Teil eines Versorgungssystems, sondern auch zufällig – beispielsweise auf einer Reise – konfrontiert werden könnten.
Matthias Ruppert und Jochen Hinkelbein
München und Köln im Juli 2023
Inhalt I
Extremsituationen und extreme Gegebenheiten 1 Extremsituationen – Bedeutung für die Notfallmedizin
Matthias Ruppert und Jochen Hinkelbein 2 Human Factors und Patientenversorgung unter Extrembedingungen Michael St. Pierre 3 Leitsymptom Ressourcenmangel – Notfallbehandlung in abgelegenen Gegenden
Michael Reng 4 Atemwegsmanagement, Analgosedierung und Narkose unter schwierigen Bedingungen
Wolfgang Voelckel 5 Reanimation unter schwierigen Bedingungen
Benno Wolcke CASE REPORT: Penetrierendes Trauma mit Kreislaufstillstand und erfolgreicher Reanimation
Matthias Ruppert und Michael Bayeff-Filloff 6 Interaktion mit der Luftrettung
Michael Gäßler und Jens Schwietring 7 Psychosoziale Akuthilfe (PSAH) nach lebensbedrohlichen Einsatzlagen (LebEL)
Andreas Müller-Cyran, Sebastian Hoppe und Michael Weinzierl
II Besondere Einsatzindikationen in der Industrie 1 Notfälle in Industrieanlagen
Thorsten Becker
2 Chemie-Unfall
Ralf Blomeyer 3 Einsätze im Tagebau Jörg Fibranz 4 Einsätze in Bergwerken
Arndt Melzer 5 Notfälle in Überdruckbaustellen
Wilhelm Welslau und Roswitha Prohaska 6 Einsätze in Windenergieanlagen
Markus Stuhr und Nils Weinrich
III Besondere Einsätze im Zusammenhang mit Verkehrsmitteln 1 Notfälle im Bahnbetrieb
Michael Reng CASE REPORT: Das Zugunglück vom 03.06.2022 bei Burgrain, Garmisch-Partenkirchen
Klemens Reindl 2 Notfälle in Verkehrsflugzeugen
Christopher Neuhaus 3 Der eingeklemmte Patient
Willi Schmidbauer und Christoph Jänig
IV Rettungssituationen unter besonderen geografischen und topografischen Gegebenheiten 1 Rettung aus Höhen und Tiefen
Björn Hossfeld, Johannes Hühn und Raphael Bender 2 Einsätze im schwierigen und unzugänglichen Gelände – Optionen der Windenrettung mit Hubschraubern
Daniel Werner und Thomas van Boemmel
Maritimes Umfeld
3 Markus Stuhr und Jens Kohfahl 4 Einsätze bei Tauchunfällen
Stefan Braunecker und Katja Rücker 5 Notfallmedizin extrem – Erfahrungen aus Tropenexpeditionen
Thomas Küpper 6 Medizinische Herausforderungen des alpinen Umfelds
Simon Rauch, Bernd Wallner und Hermann Brugger 7 Erfahrungen aus Polarregionen
Andreas Werner, Karlheinz Waltner und Josefine Tiedemann
V Besondere Situationen und Spezialfragen 1 Einsätze unter besonderer öffentlicher Wahrnehmung
Veronika Morhart-Bojko und Falko Schmid 2 Einsätze bei Sport- und Massenveranstaltungen
Harald Genzwürker 3 Rettungsdienstliche Einsätze in „bedrohlichen Lagen“
Björn Hossfeld, Matthias Helm und Florent Josse CASE REPORT: Die Amokfahrt in Trier 2020
Tim Piepho, Wolfgang Tichy und Andreas Kirchartz 4 Versorgung von Personen des öffentlichen Lebens
Falko Schmid und Veronika Morhart-Bojko 5 Notfälle innerhalb der BOS-Organisationen
Veronika Morhart-Bojko und Falko Schmid 6 Einsätze mit Spezialkräften der Polizei
Renate Bohnen CASE REPORT: Der Anschlag von München 2016
Stephan Rudolph
7 Medien und Öffentlichkeit – Der Umgang in besonderen Einsätzen
Christoph Fasel
VI Notfall- und katastrophenmedizinische Herausforderungen bei Naturkatastrophen, extremen Klimaereignissen und Kriegshandlungen 1 Notfälle und Einsätze in extremer Hitze und in extremen Hitzeperioden
Anna Lang, Daria Luschkova, Monika Seemann und Claudia Traidl-Hoffmann 2 Notfälle und Einsätze nach Einsatz von CBRN-Waffen
Ralf Blomeyer 3 Radioaktiver Fallout im Verteidigungsfall – Strahlenschutz für die Helfer
Manuel Döhla 4 Notfallmedizin in militärischen Konflikten
Yannick Beres, Sebastian Weber und Florent Josse 5 Von der Naturgefahr zur Naturkatastrophe
Martin Schiffarth und Gerold Zeilinger 6 Katastrophenmedizinische Versorgung bei zerstörter Infrastruktur nach Katastrophen
Hanjo Lorenz CASE REPORT: Die Ahrtal-Katastrophe am 14. Juli 2021
Martin Schiffarth 7 Herausforderungen bei der akut-medizinischen Erstversorgung im Erdbebengebiet
Michael Winter Die Herausgeber Die Autorinnen und Autoren
Sachwortverzeichnis
I Extremsituationen und extreme Gegebenheiten
1
Extremsituationen – Bedeutung für die Notfallmedizin
Matthias Ruppert und Jochen Hinkelbein
1.1
Einflussfaktoren in Extremsituationen
Während der notfallmedizinischen Versorgung von Patienten treten häufig unterschiedliche Situationen und Rahmenbedingungen auf, die nicht immer zu einem optimalen medizinischen oder organisatorischen Versorgungsablauf beitragen. Solche Rahmenbedingungen können beispielsweise durch räumliche Enge oder exponierte Einsatzorte, durch klimatische Verhältnisse, Gefahrenbereiche oder eine hohe öffentliche Wahrnehmung – schlicht durch jede ungewohnte und damit potenziell bedrohlich wirkende Umgebung – generiert werden. Solche Extremsituationen führen dann regelhaft zu einer erheblichen Steigerung des Workloads für das Rettungsteam und können ein erhöhtes Risiko für Helfer und Patienten darstellen. Gewohnte Versorgungsstrategien müssen an die jeweilige Situation häufig in dynamischer Form angepasst werden. Etablierte Konzepte der Notfallmedizin für die Versorgung kritisch Kranker oder Verletzter verlieren dabei natürlich nicht ihre Gültigkeit – sie müssen aber situationsgerecht adaptiert werden. Dies erfordert beim Rettungsteam eine hohe Kompetenz und Flexibilität im Bereich der Situationsbewertung und in der Gestaltung konsekutiver Entscheidungsprozesse – weshalb diesen nicht-technischen Fertigkeiten in diesem Buch ein breiter Rahmen gewidmet ist. Die Adaptierungen der Versorgungsstrategien betreffen sowohl das diagnostische Vorgehen und die Patientenüberwachung/das Monitoring als auch die therapeutischen Ansätze. Insbesondere ist dabei die Indikationsstellung zu invasiven Maßnahmen, wie beispielsweise zur Narkoseeinleitung und Intubation, zu nennen. Die Notwendigkeit einer Adaptierung hat einen besonderen Stellenwert, wenn der unmittelbare Zugang zum Patienten eingeschränkt ist.
Notfallmedizin unter Extrembedingungen findet außerdem regelhaft in einer uns ungewohnten Geschwindigkeit statt: von „ganz schnell und ggf. chaotisch“ z.B. bei Terror- oder anderen Gefahrenlagen bis hin zu „ganz langsam“ z.B. im Rahmen protrahierter technischer Rettungen. Je länger ein Einsatzverlauf ist, umso mehr kann oder muss eine Patientenversorgung auch sequenziell stattfinden, was in der üblichen präklinischen Notfallmedizin selten zum Tragen kommt. Auch ein möglicher Ressourcenmangel in Bezug auf Personal und/oder Material, der entweder initial besteht oder aufgrund der Einsatzdauer im Verlauf auftreten kann, muss im Rahmen der Abwägung möglicher medizinischer Versorgungsstrategien sorgfältig berücksichtigt werden. Die Einschätzung und Bewertung der jeweiligen Extremsituation gehört dabei in aller Regel nicht zu den Kernkompetenzen des jeweiligen Rettungsteams, woraus sich eine intensive Interaktion in z.T. auch größeren, multidisziplinären Teams ergeben muss – und das nicht nur mit Einsatzkräften der Feuerwehren, sondern beispielsweise auch mit betrieblichen Strukturen, politischen Verantwortungsträgern oder anderen Organen der Gefahrenabwehr – möglicherweise auch mit Spezialeinsatzkräften der Polizei. Auch hierbei spielen nicht-technische Fertigkeiten – allen voran eine gute Kommunikation und das richtige Führungsverhalten – eine herausragende Rolle (s. Abb. 1).
Abb. 1
Einflussfaktoren auf die Notfallversorgung in Extremsituationen
Eine Notfallversorgung unter Extrembedingungen ist häufig körperlich anstrengend. Erforderliche Eigenschutz- oder Sicherungsmaßnahmen, eine zu tragende erweiterte persönliche Schutzausrüstung (PSA) und eine vielleicht tolerierbare, aber dennoch immanente eigene Gefährdung können zu einer physischen und psychischen Erschöpfung der Helfer führen, was wiederum die operationelle Sicherheit des ganzen Einsatzes gefährden kann. Die Notfallversorgung kritisch Kranker oder Verletzter in Extremsituationen ist daher in vielerlei Hinsicht und in unterschiedlicher Ausprägung eine komplexe und für den einzelnen sehr seltene Anforderung, weshalb in diesem Buch auch ein Blick über den Tellerrand geworfen wird. Die Expertise aus Extrembedingungen in anderen geografischen Breiten – hier beispielsweise in den Tropen und Polarregionen – lassen vielleicht in einigen Aspekten einen Transfer zu, der uns hierzulande hilfreich sein kann auch ohne selbst in einer solchen Region jemals in eine Notfallversorgung involviert zu sein.
1.2
Grundlegende Prinzipien für die Notfallversorgung in Extremsituationen
1.2.1 Risikomanagement Nicht jede „Extremsituation“ ist als solche in ihrer Bedeutung von vorneherein offensichtlich erkenn- und einschätzbar. Als eine zunächst kaum erkennbare Extremsituation wäre beispielsweise die Gefahr durch eine Einwirkung nicht wahrnehmbarer Noxen zu nennen. Aber auch bei offensichtlich komplexen Konstellationen oder Situationen ist es entscheidend, diese zunächst bewusst zu erkennen und im Team zu benennen („Team Alert“). Erst dadurch wird eine gemeinsame Risikoeinschätzung und -bewertung ermöglicht. Je komplexer die Situation und je mehr unterschiedliche Einsatzkräfte sich vor Ort befinden, umso wichtiger ist es, die einzelnen Teammitglieder bzw. Organisationen und Fachdienste mit ihren individuellen Kompetenzen/Möglichkeiten aber auch jeweiligen Limitationen zu identifizieren. In kleineren Gruppen kann sich diese Bewertung auf jedes Individuum des Rettungsteams beziehen, bei größeren Gruppen bzw. bei größeren Einsätzen wird sich dies auf die einzelnen Institutionen als Ganzes und im Dialog auf deren jeweilige Führungskräfte reduzieren. Größere Schadenslagen zeigen zudem immer wieder – wie auch in den Fallberichten dieses Buches beschrieben – dass die sinnvolle Einbeziehung zufällig vor Ort befindlichen medizinischen Fachpersonals eine hilfreiche Strategie zur Überbrückung eines kritischen Personalmangels darstellen kann – dies aber auch eine weitere Herausforderung in der Führung darstellt. Schließlich ist es in einer frühen Phase des jeweiligen Einsatzes von größter Bedeutung, den eigenen Handlungskorridor zu definieren, was auch in einigen Kapiteln dieses Buches thematisiert wird. Für die jeweilige Extremsituation muss sich jeder Beteiligte persönlich im Klaren sein, was er sich selbst zutrauen kann. Ein Notarzt mit Höhenangst ist bei der Rettung von einem Baukran beispielsweise genauso wenig hilfreich wie ein Notfallsanitäter mit Platzangst unter Tage. Im Gegenteil bedingt der Ausfall eines Helfers in einer exponierten Situation in aller Regel eine zusätzliche Problemstellung und ggf. sogar Gefährdung für alle anderen Helfer und den Patienten.
Das Thema „Eigenschutz“ bzw. „Eigengefährdung“ darf aber andererseits keinesfalls schwarz/weiß betrachtet werden. Jeder (rettungsdienstliche) Einsatz zur Versorgung eines Notfallpatienten geht mit einer gewissen Gefahr für das Helferteam einher. Die Frage, welches Maß an Gefährdung in Extremsituationen akzeptabel und für den Einzelnen tolerabel ist, hängt von einer Reihe von Faktoren ab und muss auch individuell beantwortet werden. Dabei spielen häufig Faktoren wie körperliche Konstitution und Fitness sowie andere gesundheitliche Aspekte, persönliche Erfahrungen im Umgang mit Stress- oder Belastungssituationen im Allgemeinen und (zufällig) vorhandene Spezialkenntnisse eine Rolle. So wird ein zufällig selbst tauchender Notarzt einen Dekompressionsunfall wahrscheinlich souveräner abwickeln können, als ein Kollege, der keinerlei Berührungspunkte zu diesem Sport hat. So wie jeder Beteiligte das tolerierbare Maß einer Exposition/Gefährdung für sich selbst gewissenhaft bewerten muss, so ist während des Einsatzes bzw. während der Patientenversorgung von Bedeutung, gegenseitig auf die Belastungssituation des einzelnen Teammitgliedes zu achten. Gerade Blockaden (im Sinne des sprichwörtlichen „Kaninchen vor der Schlange“) sind ein häufiges Symptom für human performance limitations (HPL) bzw. das Zeichen einer nicht mehr kompensierten Belastungssituation oder einer Angstreaktion des Einzelnen. Zusammengefasst spielen Maßnahmen eines guten und zeitgemäßen Risikomanagements für notfallmedizinische Einsätze in Extremsituationen eine wesentliche Rolle.
1.2.2 Adaptierte Versorgungsstrategien Extremsituationen bedingen – wie bereits dargestellt – häufig veränderte Zeitverläufe im präklinischen Versorgungsintervall. Durch zeitaufwendige Rettungs- oder Evakuierungsmaßnahmen ergibt sich zwangsweise die Notwendigkeit – oder aber die erleichternde Option – einer sequenziellen Versorgung. Damit ist gemeint, dass sich die notfallmedizinische Versorgung am ursprünglichen Auffindeort des Patienten zunächst auf absolut lebensrettende Interventionen beschränken muss (oder kann) und eine weitergehende Diagnostik/Therapie erst nach Optimierung der
Zugänglichkeit des Patienten oder nach seiner Verbringung an einen besser geeigneten Ort sinnvoll erfolgen kann (oder muss). Hierbei sind natürlich auch mehr als zwei sich abwechselnde Phasen von Rettung und notfallmedizinscher Versorgung denkbar. Diese Strategien bedürfen immer einer gemeinsamen Planung aller Beteiligten, wobei insbesondere die Dringlichkeit der therapeutischen Maßnahmen einerseits und der Zeitbedarf für eine Optimierung der Versorgungsbedingungen andererseits gegeneinander abgewogen werden müssen. Grundsätzlich ist es wahrscheinlich richtig zu postulieren, dass die Indikationsstellung zu invasiven, potenziell zeitkonsumierenden und komplikationsbehafteten Maßnahmen umso strenger zu stellen ist, je widriger die jeweilige Extremsituation ist bzw. die Umgebungsbedingungen sich darstellen. Umgekehrt aber erfordern vital indizierte therapeutische Interventionen möglichst unabhängig von Einflussfaktoren eine konsequente Umsetzung. Eine der kritischsten Entscheidungsfindungen ist unter solchen Umständen die Indikationsstellung zur Narkoseeinleitung und Intubation bei einer respiratorischen Insuffizienz oder Bewusstseinsstörung. Allgemeingültige Aussagen zu dieser Indikationsstellung sind bei der Vielzahl von Einflussfaktoren in der jeweiligen individuellen Situation natürlich nicht möglich. Neben der mitunter schon komplexen rein medizinischen Bewertung der Situation müssen die Zugänglichkeit zum Patienten, die Personalkonstellation, die Materialverfügbarkeit (z.B. auch in Bezug auf alternative Atemwegssicherungsmethoden) und die Nachteile durch die Narkose per se (aufgehobene Interaktionsmöglichkeit mit dem Patienten, Verlust von Muskeltonus, Vasodilatation etc.) dabei betrachtet werden. Potenziell hilfreich für eine Entscheidungsfindung ist das häufig verlängerte Zugangsintervall zum Patienten in einer Extremsituation. Im normalen Rettungsdiensteinsatz werden Patienten in aller Regel in den ersten 20 Minuten nach Unfall bzw. Beginn der akuten Vitalbedrohung gesehen – eine Abschätzung der Dynamik einer Organfunktionsstörung ist durch das erste kurze Zeitintervall nur sehr eingeschränkt möglich. Der Patient in einer Extremsituation wird unter Umständen erst nach deutlich längerer Latenz vom Rettungsteam angetroffen – eine Einschätzung der Dynamik
z.B. einer respiratorischen Insuffizienz oder Bewusstseinsstörung fällt dadurch möglicherweise leichter und kann Hilfestellung geben bei der Frage, ob ein Patient unmittelbar „vor Ort“ intubiert werden muss oder nicht.
1.2.3 Maßnahmen zur Optimierung der Versorgungssicherheit Unter dem Begriff „Versorgungssicherheit“ kann man die Sicherheit des eingesetzten Personals sowie die notfallmedizinische Versorgungsqualität und die sich daraus ableitende Patientensicherheit subsumieren. Viele Maßnahmen zur Optimierung dieser Versorgungssicherheit zielen auf eine Reduzierung des Workloads jedes einzelnen Beteiligten ab, was zu einer besseren Situationswahrnehmung und -bewertung führt und erforderliche Entscheidungsprozesse erleichtert. Dazu erscheint es sinnvoll, jeden Einsatz unter „Extrembedingungen“ bewusst und sinnvoll in Phasen zu unterteilen – beispielsweise in Zeitabschnitte der medizinischen Versorgung und der technischen Rettung. Weiterhin sollten in regelmäßigen Abständen definierte Unterbrechungen der – häufig parallel und unter Zeitdruck – ablaufenden Arbeiten stattfinden, in denen das gesamte Rettungsteam die Situation gemeinsam reevaluiert und die nächsten Schritte festlegt. Einige Erfahrungen aus der Praxis können helfen, um die Arbeitsbelastung der Beteiligten weiter zu reduzieren. Dabei kommt dem „Management“ der Notfallausrüstung unter schwierigen Umgebungsbedingungen ein hoher Stellenwert zu, um nicht durch Verlust oder Funktionseinschränkungen des Materials einen vermeidbaren Ressourcenmangel zu erzeugen. Die Exposition des Materials gegenüber Wind, Regen, extremen Temperaturen etc. kann zu ungewohnten Problemstellungen führen – beispielhaft sei der Elastizitätsverlust vieler Kunststoffprodukte bei extremer Kälte genannt, weshalb z.B. Endotrachealtuben in solchen Situationen „am Mann“ getragen werden sollten. Die konsequente Sicherung aller Ausrüstungsgegenstände an exponierten Einsatzstellen und ein Aufrechterhalten der Ordnung in der Ausrüstung sind
wesentliche Voraussetzungen für die Bewerkstelligung schwieriger und/oder langdauernder Versorgungssituationen (s. Abb. 2).
Abb. 2
Mangelnde Sicherung der Notfallausrüstung gegen Davonwehen; Patientensimulationstraining in einem Offshore-Windpark (Foto: Matthias Ruppert)
In gleicher Weise bedürfen alle Installationen am Patienten einer besonders sorgfältigen Fixierung, insbesondere wenn weitere Strecken mit dem Patienten zurückgelegt werden müssen oder sich Situationen sehr unübersichtlich darstellen. In solchen Fällen hat sich beispielsweise auch die großzügige Anwendung von sog. Defipads (statt einfacher EKGElektroden) nicht nur wegen der therapeutischen Optionen, sondern in erster Linie wegen ihrer guten Klebeeigenschaften bewährt. Wenn ohne Zeitverlust möglich, sollte bei Einsätzen an exponierten Einsatzstellen versucht werden, im Vorfeld (z.B. während des Anfluges) ein Spritzenset mit den wichtigsten Notfallmedikamenten (z.B. Analgetika, Sedativa, Narkotika, Katecholamine) aufzuziehen und zu etikettieren, um diese zeitkonsumierende Tätigkeit – insbesondere wenn die personellen Ressourcen vor Ort limitiert sind – nicht unter schwierigen Umgebungsbedingungen vornehmen zu müssen. Die vielfältigen Anforderungen, Aufgabenstellungen und Eindrücke, denen der Einzelne bei einer Notfallversorgung unter Extrembedingungen ausgesetzt ist, führen häufig zu gefährlichen Lücken in der Patientenüberwachung (s. Abb. 3). Dieses Problembewusstsein bedingt,
Maßnahmen zur Sicherstellung eines kontinuierlichen Monitorings umzusetzen. Sofern entsprechende apparative Möglichkeiten zur Verfügung stehen, empfiehlt es sich zum einen, in solchen Situationen konsequent den Pulston des Monitors laut zu stellen, und zum anderen großzügig – gerade beim analgosedierten Patienten – ein exspiratorisches CO2-Monitoring gerade auch unter Spontanatmung durchzuführen, um eine kontinuierliche und unmittelbare Überwachung der respiratorischen Funktion sicherzustellen.
Abb. 3
Parallele Anforderungen an das Rettungsteam – schwieriges Gelände und aufwendige technische Rettung, Überwachung eines analgosedierten Patienten (Mountainbike-Unfall) (mit freundlicher Genehmigung der ADAC Luftrettung gGmbH)
Zusammengefasst ist ein aufeinander aufbauendes Bündel von Maßnahmen erforderlich, um in Extremsituationen sinnvoll und sicher eine notfallmedizinische Versorgung und ggf. Rettung vornehmen zu können (s. Abb. 4).
Abb. 4
Grundlegende Prinzipien für die Notfallversorgung in Extremsituationen
Der Stellenwert der einzelnen dargestellten Prinzipien hängt erheblich vom Charakter der jeweiligen Situation ab. Die hier dargestellten Grundlagen sollen der Einführung in diesen facettenreichen Themenkomplex dienen und werden in den einzelnen Kapiteln situationsbezogen weiter betrachtet.
2
Human Factors und Patientenversorgung unter Extrembedingungen
Michael St. Pierre
2.1
Was sind Human Factors?
Im Alltag stellt die präklinische Patientenversorgung für das behandelnde Team gelegentlich eine Herausforderung dar. Unter klimatischen, situativen und psychischen Extrembedingungen hingegen ist sie das immer. Entscheidend für die Bewältigung dieser Herausforderung sind die Menschen, die an der Patientenversorgung beteiligt sind: Rettungsdienstmitarbeiter, Notärzte und alle anderen beteiligten Berufsgruppen. Vom Verhalten dieser Menschen hängt die Sicherheit der akutmedizinischen Versorgung ab: sowohl die Sicherheit des behandelnden Teams als auch die des zu versorgenden Patienten. Diese Sicherheit muss bei jedem Einsatz neu errungen werden. Extrembedingungen erschweren dieses Vorhaben. Die Erkenntnis, dass menschliches Verhalten einen maßgeblichen Einfluss auf das Risiko in Systemen hat, in denen Mensch und Technik miteinander interagieren, gilt zu Beginn des 21. Jahrhunderts unabhängig von der betrachteten Arbeitswelt als gesichert. Auch die präklinische Notfallmedizin ist ein solches System, weil in ihr Mensch und Technik interagieren, um Verletzten und Kranken zu helfen. Daher finden sich auch in der Diskussion um Patientensicherheit und optimale Patientenversorgung in der präklinischen Notfallmedizin zunehmend Begriffe wie „Faktor Mensch“, „Humanfaktor“ oder „Human Factors“. Für kaum einen Leser dürfte dieser Aspekt der Patientensicherheit völlig neu sein. Nimmt man als Notfallmediziner darüber hinaus an Simulationstrainings teil, die als einen Schwerpunkt die Vermittlung von „non-technical skills“ haben, so wird man regelmäßig mit diesen Begriffen konfrontiert, da der Schwerpunkt
dieser Trainingsformate in der Regel in der Vermittlung von und Auseinandersetzung mit humanfaktoriellen Einflussfaktoren liegt. Trotz der wachsenden Verbreitung von und zunehmenden Vertrautheit mit diesen Begriffen fällt bei genauerem Hinsehen auf, dass der Begriff „Human Factors“ in der Medizin häufig in einer anderen Bedeutung verwendet wird als dies andere Wissenschaftsdisziplinen tun. Während in der Medizin eine Sichtweise weit verbreitet ist, welche „Human Factors“ sowohl mit Verhaltenssicherheit (engl.: „behavioral safety“) als auch mit „Störfaktor Mensch“ gleichsetzt, wird der Begriff in der übrigen Wissenschaftswelt weiter gefasst. Der Begriff der Human Factors beschreibt zum einen eine anwendungsorientierte Wissenschaftsdisziplin, die das Verhältnis zwischen Menschen und ihren Aktivitäten zu optimieren sucht. Im weitesten Sinne geht es hierbei um die Interaktion Mensch-Maschine/Umwelt (z.B. Arbeitsplatzgestaltung, Gerätedesign) und Mensch-Mensch (z.B. Teamarbeit, Kommunikation). Zielrichtung von Human Factors ist dabei immer das Wohlergehen und die Gesundheit der darin tätigen Menschen sowie die Effizienz und die Sicherheit von Arbeitsmitteln und Arbeitssystemen. Verhältnisprävention hat dabei immer Vorrang vor der Verhaltensprävention: „Fitting the job to the worker“ und „Make it easy to do the right thing!“ wäre zwei prägnante englische Zusammenfassungen dieser grundlegenden Intention. Die dafür verantwortlichen Forschungsdisziplinen kommen aus den Ingenieurwissenschaften, der Arbeitswissenschaft und aus der Psychologie. Als Synonym für Human Factors werden die Begriffe Ergonomie und Human Factors Engineering verwendet. Aus humanwissenschaftlicher Sicht sind Human Factors alle physischen, psychischen, kognitiven und sozialen Eigenschaften von Menschen, welche die Interaktion mit der Umgebung und mit sozialen bzw. technischen Systemen beeinflussen oder von diesen beeinflusst werden. Dabei geht es um Individuen, Gruppen und Organisationen (Badke-Schaub et al. 2012). Umgangssprachlich werden Humanfaktoren häufig von technischen Faktoren abgegrenzt. Diese Sichtweise trifft jedoch nicht den Kern des Problems, da für die Betrachtung der Human Factors gerade die Tatsache relevant ist, wie Mensch und Technik im Alltag wechselwirken und ob die Arbeit der Menschen unterstützt und erleichtert, oder aber erschwert und behindert wird.
In diesem weiter gefassten Verständnis sind Human Factors alle Eigenschaften, mit denen wir Menschen in Kontakt mit der Umwelt treten können. Manche dieser Eigenschaften sind neurobiologisch „fest verdrahtet“ und somit nicht veränderbar. Andere Human Factors hingegen (z.B. Kommunikationsmuster, Führungsverhalten) sind durch Lernprozesse veränderbar und können damit Gegenstand von Lehrinterventionen und Trainings sein (s. Tab. 1). Die dabei erlernten Fertigkeiten werden in der Literatur auch als „non-technical skills“, „para-technical skills“ oder als „soft-skills“ bezeichnet, um sie von manuellen Fertigkeiten und fachlicher Sachkompetenz abzugrenzen. Tab. 1
Unveränderbare und veränderbare Human Factors
Unveränderbare Human Factors menschliche Grundmotive (physiologisch, sozial, informativ) Reflexe Psychophysiologie (z.B. Stressreaktion) Vorhandensein von Emotionen basale Funktionsweisen der Wahrnehmung Prinzipien der Informationsverarbeitung Funktionsweisen des Gedächtnisses Aufmerksamkeitsspanne Müdigkeit und Schlafbedürfnis Temperaturregulation
Veränderbare Human Factors Wissen (deklarativ, prozedural) Reaktionen auf Situationshinweise Kommunikationsmuster Interaktionsmuster Einstellungen und Werte Strategien des Denkens
Für die sachgerechte Diskussion von Human Factors ist somit der Hinweis angebracht, dass es sich bei Human Factors um menschliche Eigenschaften und nicht um Fertigkeiten handelt. Human Factors kann man weder anwenden noch trainieren. Trainier- und anwendbar hingegen sind die genannten „non-technical skills“. Dieses gemeinsame Verständnis ist für alle Berufsgruppen in gleichem Maße von Bedeutung, die unter extremen Bedingungen zusammenarbeiten müssen oder für solche Aufgaben qualifiziert werden sollen.
2.2
Human Factors – Wertvolles Kapital für eine sichere Patientenversorgung
In den Analysen zur Entstehung von Zwischenfällen und Unfällen taucht der Begriff der Human Factors regelmäßig auf. Häufig kommen die Untersuchungen zu dem Schluss, dass menschliche Faktoren – und nicht etwa ein Versagen der Technik – in 75–90% an der Entstehung der Unfälle beteiligt gewesen sein sollen. In der Regel werden die Human Factors dann pathologisiert und als „Human Error“ , als „Menschliches Versagen“ bezeichnet, und der Mensch als Risikofaktor porträtiert. Trotz der Ubiquität und Popularität dieser Annahme in der Medizin ist die zugrundeliegende Sichtweise problematisch und wird von vielen Sicherheitsforschern schon seit Jahrzehnten nicht mehr geteilt: Menschliches Denken und Handeln kann nicht in Analogie zu technischem Gerät verstanden werden, welches binär entweder in einem funktionsfähigen oder aber in einem defekten Zustand vorliegt. Was wir in der Kenntnis um den Ausgang einer Situation als „Fehler“ bezeichnen stellt eine normale Arbeitsweise des Gehirns dar und ist untrennbar mit den Stärken menschlicher Intelligenz verbunden: das Verhalten variabel gestalten und sich an ständig wechselnde Umgebungsbedingungen anpassen zu können. In diesem Verständnis tun Menschen in einer Situation immer das, was aus ihrer augenblicklichen Perspektive, unter Berücksichtigung des aktuellen Kenntnisstandes, der vorherrschenden Motive, der zur Verfügung stehenden Ressourcen und grundlegenden Konflikte (z.B. ökonomische Aspekte vs. Aspekte der Patientensicherheit) sinnvoll und stimmig ist. Menschen handeln immer „lokal rational“ (Woods et al. 2010). Macht man sich nach einem Zwischenfall oder Unfall die Mühe, von den wesentlichen Akteuren herauszufinden welche Denkprozesse, Emotionen und Motive zum Zeitpunkt einer Entscheidung aktiv waren, wird deren Entscheidung in der Regel nachvollziehbar; unter diesen Bedingungen hätten wir vermutlich genauso gehandelt. Stellt sich im Nachhinein heraus, dass einer Entscheidung oder Handlung eine Fehleinschätzung zugrunde lag, macht dies den Denkprozess nicht fehlerhaft oder pathologisch. Es zeigt lediglich, dass wir Menschen unter Kenntnis des Ausgangs eine Situation anders bewerten als wenn wir uns in der Situation selbst befinden (Rückschaufehler; engl.: hindsight bias) und dass bestimmte Informationen
wesentlich für eine Entscheidung gewesen wären, diese aber nicht zur Verfügung standen. Für die Patientenversorgung unter Extrembedingungen ist diese Erkenntnis relevant: Ohne Human Factors, ohne die menschliche Stärke der Verhaltensvariabilität und Adaptierung an rasch wechselnde, unübersichtliche und teilweise physisch belastende Umgebungsbedingungen, wäre keine Patientenversorgung möglich. Notfälle halten sich nicht an Spielregeln und nur Human Factors ermöglichen es uns, sich auf wechselnde und extreme Bedingungen einzustellen. Da sich Denken und Handeln noch während einer Patientenversorgung als fehlerhaft herausstellen können ermöglichen es Human Factors zudem, diese frühzeitig zu entdecken und unser Handeln so rasch auf die veränderten Bedingungen einzustellen, dass wir kreative Lösungen entwickeln und am Ende kein Schaden entsteht. Human Factors sind somit kostbares Gut, kein Risikokapital. Human Factors stellen zu allererst sicher, dass menschliches Verhalten zum Ziel kommt. Ohne Human Factors wäre keine Patientenversorgung unter Extrembedingungen möglich. Human Factors sind kostbares Gut, kein Risikokapital.
Obwohl diese differenzierte Sichtweise von Human Factors-Experten schon lange geteilt wird, beginnt sie sich nur zögerlich im Gesundheitswesen durchzusetzen.
2.3
Notfallsituationen erfordern Adaptivität und Variabilität des Handelns
Handeln lässt sich für Routinesituationen weitestgehend standardisieren. Notfälle hingegen halten sich nicht an Spielregeln, sodass eine der Kernanforderungen an die notfallmedizinische Patientenversorgung darin besteht, dass sich die behandelnden Menschen beständig an eine sich verändernde Situation anpassen müssen. Diese Notwendigkeit ergibt sich insbesondere aus der Tatsache, dass sich Notfallsituationen in einer Reihe an Merkmalen von Alltagssituationen unterscheiden. Manche dieser
Merkmale, die in der Literatur auch unter dem Begriff der „Komplexität einer Situation“ zusammengefasst werden, sind unter Extrembedingungen besonders stark ausgeprägt. In einer Notfallsituation … kann man mit einer Fülle an Informationen konfrontiert werden (sodass man leicht den Überblick verliert). … sind viele der Variablen miteinander vernetzt und gekoppelt (sodass das analytische Denken kaum mehr Schritt halten kann). … ist das Geschehen vieldeutig und undurchsichtig (sodass man oft nicht weiß, woher das Problem des Patienten kommt). … entwickeln die Ereignisse eine Eigendynamik (sodass sich das Problem verändern kann, während man noch über Lösungen nachdenkt). … bestehen Zeitdruck und die Möglichkeit der Irreversibilität (sodass es ein „zu spät“ für manche Handlungen geben kann). Im Alltag ist die Komplexität einer Situation in aller Regel gering. Insbesondere besteht selten die Notwendigkeit, unter Zeitdruck mit nur begrenzten Informationen entscheiden und handeln zu müssen. Zeitdruck wiederum ist der Hauptfeind des guten Denkens. Ob der Zeitdruck durch eine ausgeprägte Eigendynamik der Notfallsituation oder aber durch eine falsche Einschätzung der Situation „hausgemacht“ ist, spielt dabei keine Rolle. Die Zeit, die subjektiv für eine Entscheidungsfindung zur Verfügung steht, begrenzt alle weiteren Möglichkeiten. Sieht man sich an, mit welchen Eigenschaften einer Notfallsituation die behandelnden Personen konfrontiert werden, so erhält man eine Vorstellung davon, welche Anforderungen Notfallsituationen an die kognitive Leistungsfähigkeit der behandelnden Personen stellen. Wesentlich ist, dass es sich hierbei, vergleichbar zum erlebten Zeitdruck, um keine statischen, für alle Beteiligten gleich erscheinenden Anforderungen, sondern um wahrgenommene Eigenschaften einer Situation handelt. Diese Wahrnehmung verändert sich mit zunehmender Erfahrung der Personen. Eine Situation die den Berufsanfänger völlig überfordert kann von einem erfahrenen Notfallmediziner intuitiv erfasst und mit Leichtigkeit bewältigt werden. Diese Entwicklung von Expertise wird maßgeblich davon
bestimmt, wie häufig jemand eine bestimme Situation erleben und somit Erfahrungen damit sammeln konnte (Ericsson et al. 2006). Für die Patientenversorgung unter Extrembedingungen kann jedoch im Alltag wenig Expertise entwickelt werden. Diese Erfahrungslücke kann teilweise durch simulationsbasierte Ausbildung geschlossen werden. Das Handeln in Notfallsituationen ist jedoch nicht durch die Anwendung starrer Regeln geprägt. Vielmehr müssen sich Menschen durch variierendes Verhalten an eine sich dynamisch entwickelnde Situation anpassen. Konkret bedarf es folgender Dinge: Intransparenz und Unsicherheit bedingen, dass wichtige Elemente einer Situation undurchschaubar und entscheidende Informationen unzugänglich sind. Flexibilität: Auch bei vertrauter klinischer Diagnose gilt: Jeder Notfall ist ein Unikat auf das man flexibel reagieren muss. Informationsmanagement: Wichtige Informationen können fehlen, irrelevante Daten können sich dem Behandler aufdrängen. Durch gezielte Auswahl und Integration von Daten muss entschieden werden, wann man handeln kann. Über allem muss der Argwohn erhalten bleiben: „Kann es nicht auch etwas ganz anderes sein?“ Prioritätensetzung und Zielbildung: Die Formulierung eines angemessenen Ziels gehört zu den zentralen kognitiven Aufgaben einer Notfallsituation. Nur wenn klar ist, wohin man will, können sich konkrete Schritte ergeben. Will man der Gesamtsituation gerecht werden, kann man nie „nur eines“ wollen. Vielmehr müssen verschieden Ziele im Sinne einer Kompromissbildung aufeinander abgestimmt werden. Entscheiden unter Zeitdruck: Zeitdruck ist der Feind guten Denkens. Zeitdruck begrenzt die Möglichkeiten der Informationssammlung, Analyse, des Planens und der Zielformulierung. Je stärker der Zeitdruck, desto eher werden Informationslücken durch Erwartungen und Vorwissen gefüllt und Entscheidungen anhand von Daumenregeln (Heurismen) oder anhand von emotionaler Stimmigkeit getroffen (Affektheuristik). Problemerkennung:
In der Akutmedizin ist die Frage nicht, ob man ein Risiko eingehen möchte, sondern unter welchen Umständen man es tut und ob der resultierende Nutzen für den Patienten dieses Risiko aufwiegt. Führung und Teamarbeit: Kein Notfall wird nur von einer Person abgearbeitet; Teamarbeit ist ein integraler Bestandteil notfallmedizinischer Patientenversorgung. Da unterschiedliche Berufsgruppen abweichende Herangehensweisen und Prioritäten haben, sind eine klare Führungsstruktur und eine präzise Kommunikation unabdingbar (s. Abb. 1). Entscheiden unter Risiko:
Abb. 1
Komplexe Einsatzsituation – Patientenversorgung durch bodengebundenen Rettungsdienst, Bergwacht, Feuerwehr und Luftrettung (Foto: Matthias Ruppert)
2.4
Human Factors und Extrembedingungen
Fragt man danach, welchen Einfluss Extrembedingungen auf Human Factors haben, so ergeben sich aus den beiden eingangs genannten Definitionen zwei Perspektiven.
2.4.1 Verhältnisprävention – Human Factors Engineering Bei der ersten Perspektive einer anwendungsorientierten Wissenschaftsdisziplin stehen das Wohlergehen und die Gesundheit der
arbeitenden Menschen sowie die Effizienz und die Sicherheit von Arbeitsmitteln und Arbeitssystemen im Mittelpunkt. Sicherheit soll dadurch hergestellt werden, dass man Einfluss auf die Verhältnisse nimmt (Verhältnisprävention). Die bevorzugte Vorgehensweise des Human Factors Engineering (HFE) besteht darin, dass die Umgebungsbedingungen an die Mitarbeiter angepasst werden. Dies ist beispielsweise dadurch möglich, dass die Kabine eines RTH nach Human Factor-Kriterien entwickelt wird. Da im Gegensatz zu den Einsatzmitteln die Verhältnisse an der Einsatzstelle vorab nicht beeinflussbar sind, sind auch Gefahren einsatzbedingt gegeben und können nicht verhindert werden. Da sich folglich die klassischen HFEFragestellungen nur sehr eingeschränkt auf die präklinische Notfallmedizin übertragen lassen, spielt die Verhältnisprävention eine untergeordnete Rolle im Notfall (s. Tab. 2). Tab. 2
Klassische Human Factors-Fragestellungen (Ergonomie), die im Kontext der notfallmedizinischen Arbeitswelt bereits unter Standardbedingungen wenig sinnvoll erscheinen (nach Salvendy 2012)
Klassische Human Factors-Fragestellungen Stehen und Sitzen Kann die Arbeitshöhe der Aufgabe angepasst werden? Heben und Tragen Sind die zu hebenden Lasten entsprechend internationaler Empfehlungen begrenzt bzw. müssen Lasten schwerer als 23 kg bewegt werden? Lärm und Vibration Liegt der Geräuschpegel unter 80 dBA?
Sind Arbeiter und Geräuschquelle räumlich ausreichend getrennt?
Werden technische Maßnahmen zur Schalldämpfung eingesetzt? Beleuchtung Ist das Arbeitsfeld ausreichend hell (200–800 Lux)?
Sind ausreichend Kontrastunterschiede vorhanden?
Sind wichtige Informationen ausreichend lesbar? Klima Entspricht die Umgebungstemperatur den physischen Anforderungen der Aufgabe?
Entspricht die Luftfeuchtigkeit den physischen Anforderungen der Aufgabe?
Ist die Aufenthaltsdauer in zu kalter/zu heißer Umgebung begrenzt?
Physische Extrembedingungen (s. Tab. 3) verschärfen das Gefahrenpotenzial an der Einsatzstelle und erschweren eine adäquate Situationseinschätzung durch das Einsatzteam. Neben der notfallmedizinischen Kompetenz sind daher weitere kognitive Fertigkeiten sowie skills erforderlich. Diese können im Rahmen von simulierten Einsatzsituationen trainiert werden (z.B. Windenrettung, Zusammenarbeit mit Einsatzkräften der Polizei etc.). Um sowohl in trainierten Einsatzsituationen als auch völlig neuartigen Einsatzlagen die konkrete Gefährdung so gering wie irgendwie möglich zu halten, steht der Eigenschutz an oberster Stelle: Somit wird im Vergleich zu anderen Arbeitsfeldern die grundlegende Herangehensweise von Human Factors auf den Kopf gestellt: „Verhaltenssicherheit vor Verhältnissicherheit“. Tab. 3
Übersicht über notfallmedizinisch relevante physische und psychische Extrembedingungen
Physische und psychische Extrembedingungen Physische Extrembedingungen klimatische Extreme: Beeinträchtigung psychomotorischer und kognitiver Fähigkeiten durch Hitze bzw. Kälte geografische Extreme: Höhlenrettung, alpine Rettung, Windkraftanlagen, Überdruckbaustellen Psychische Extrembedingungen emotionale Belastung: Massenanfall an Verletzten, Kollegen/Bekannte/Verwandte unter den Opfern Überraschungseffekt: unerwartete und neuartige Situation, die nicht durch Prozeduren, Training oder persönliche Erfahrungen abgedeckt ist Gefährdungspotenzial: potenziell negative Auswirkungen auf eigene Gesundheit inklusive Gefährdung des eigenen Lebens (Amok- bzw. Terrorlagen) Ausmaß der Schädigung: Zerstörung größerer Teile der Infrastruktur, potenziell langwirkende Konsequenzen (Naturkatastrophen)
2.4.2 Grenzen der Verhaltenssicherheit – Die Stressreaktion Die Sicherheit, die sich durch Verhalten erreichen lässt, ist jedoch wesentlich durch die individuelle Leistungskurve der einzelnen Personen begrenzt. Neben der Schwierigkeit der Aufgabe spielt hierbei vor allem das Stresserleben der handelnden Person eine maßgebliche Rolle. Individuelles Stresserleben kann in der Patientenversorgung unter Extrembedingungen zum limitierenden Faktor und zur Gefährdungsquelle werden.
Wesentlich für das Entstehen von Stress in einer Notfallsituation ist die Tatsache, dass die behandelnden Personen schlagartig oder allenfalls mit nur kurzer Vorlaufzeit mit einer für sie unbekannten Situation konfrontiert werden. Die Wahrnehmung dieser neuen Situation erfolgt innerhalb der ersten Augenblicke schnell, unbewusst und ganzheitlich und zielt auf die Bewertung von zwei situativen Aspekten. Der erste Aspekt dieser Bewertung lautet: „Ist diese Situation für meine Ziele bedrohlich, neutral oder günstig?“ Wesentlich ist, dass die subjektive Wahrnehmung der Situation (die sich je nach Können, Wissen, Erfahrung unterscheiden kann) von Bedeutung ist und nicht bestimmte Eigenschaften der realen Situation. Dieser ersten Bewertung folgt eine zweite (ebenso ganzheitliche und unbewusste), die sich auf die Art und den Umfang eigener Ressourcen bezieht: „Werde ich mit der Situation zurechtkommen?“ Die rasche und unbewusste Beantwortung dieser beiden Fragen entscheidet darüber, ob und in welcher Intensität bei der betreffenden Person Stress entsteht. Das Resultat dieser Bewertung wird als Gefühl wahrgenommen. In jeder neuen Situation läuft unbewusst eine doppelte Bewertung ab: „Ist diese Situation für meine Ziele bedrohlich, neutral oder günstig?“ und: „Werde ich mit der Situation zurechtkommen?“ Die Beantwortung dieser Fragen bestimmt, ob und in welcher Intensität Stress entsteht.
Stress ist ganz allgemein gesprochen ein Anspannungszustand, der als physische und psychische Reaktion auf eine Beanspruchung hin eintritt. Unter Beanspruchung ist dabei ein Ereignis gemeint, das von Menschen eine sofortige Veränderung oder Anpassung ihres Handelns verlangt. Dieser Anspannungszustand bereitet den Organismus auf eine schnelle und zielgerichtete Handlung vor. Obwohl der Begriff „Stress“ im ursprünglichen Sinn keine negative Bedeutung hatte, erleben Menschen Stress jedoch häufig in Verbindung mit einem unangenehmen Gefühl. Dies ist immer dann der Fall, wenn Ereignisse nicht nur eine Veränderung des Handelns verlangen, sondern darüber hinaus auch als Bedrohung empfunden werden. Eine Notfallsituation wird als bedrohlich empfunden, wenn ein Ungleichgewicht zwischen den Anforderungen und den zur Verfügung stehenden Ressourcen besteht.
Eine als bedrohlich empfundene Situation kann für Menschen jedoch nicht so bleiben: Entweder die Situation muss verändert werden oder aber die handelnde Person selbst muss sich ändern. Um sich dieser Bedrohung stellen zu können, erhöht der Organismus in jedem Fall mit einer stereotypen Reaktion seine physische und psychische Leistungsbereitschaft. Die daran anschließende Auseinandersetzung mit der Bedrohung erfolgt entweder: durch Kampf
(wenn die bestehende Gefahr als schwächer bewertet
wird), durch Weglaufen
bzw. Flucht (wenn ein Angriff aussichtslos
erscheint) oder bis hin zur völligen Erstarrung (wenn keine Entscheidung weder für den Kampf noch für die Flucht möglich ist). durch Nichtstun
Da im Kontext der Notfallmedizin jedoch Patienten versorgt werden, stellt keine der drei Alternativen dieser „fight, flight, or freeze-response“ (engl.: Kampf, Flucht oder Einfrieren) eine angemessene Reaktion dar. Die körperliche Aktivierung durch die Stressreaktion geht somit nicht nur ins Leere, sondern kann darüber hinaus durch eine Beeinträchtigung der
Feinmotorik die Patientenversorgung teilweise erheblich behindern (z.B. durch Tremor). Neben der körperlichen Aktivierung bewirkt Stress auch charakteristische Veränderungen des Denkens, Fühlens und Verhaltens. Hierbei werden vor allem die Aufmerksamkeit auf das aktuelle Problem fokussiert und der Bereich der Wahrnehmung auf diejenigen Bereiche eingeengt, die eine Person für die wichtigsten hält, der Zugriff auf das Gedächtnis limitiert und der Auflösungsgrad der Informationsverarbeitung verringert. Als Folge der genannten Anpassungen vermindert sich unsere Fähigkeit, Erinnerungen aus dem Langzeitgedächtnis abzurufen, Informationen aus der weiteren Umgebung wahrzunehmen („Tunnelblick“), Informationen im Arbeitsgedächtnis zu verarbeiten, das Bild von der Situation („Situationsbewusstsein“) aufzufrischen, Schlussfolgerungen zu ziehen und Entscheidungen zu treffen. Weitere kognitive Merkmale der Stressreaktion sind, dass Handlungen stärker durch Gefühle und weniger durch bewusstes Nachdenken geleitet werden (Affektheuristik), eine tiefergehende Situationsanalyse entfällt und Entscheidungen werden unüberlegter getroffen und dass Planungs- und Entscheidungsvorgänge vereinfacht werden, indem auf Automatismen und „Daumenregeln“ (Heurismen) zurückgegriffen wird, die sich in ähnlichen Situationen bewährt haben. Ungeachtet der Andersartigkeit einer Notfallsituation tut man unter Stress das, was man am besten kann oder schon immer getan hat. Möglicherweise resultieren daraus jedoch nicht die Maßnahmen, die dem Patienten am meisten geholfen hätten.
2.4.3 Extremer Stress – Kontrollverlust und kognitive Notfallreaktion Kontrollverlust und Kompetenzschutz Weil Patientenversorgung unter Extrembedingungen die behandelnden Personen leichter an ihre Leistungsgrenzen bringen und ihre Kompetenzen überfordern kann, haben diese Notfallsituationen ein hohes Potenzial für psychologischen Kontrollverlust. „Kontrolle“ bedeutet in der Psychologie, die Umwelt so beeinflussen zu können, dass man mit Erfolg handlungsfähig ist. Das Gefühl, etwas bewirken zu können („Kompetenzgefühl“), ist daher Voraussetzung, um überhaupt zu handeln. Das Gefühl machtlos zu sein hingegen, lähmt Menschen. Aus diesem Grund haben Menschen ein starkes, unbewusstes Motiv, ihr Gefühl von Kompetenz und von Kontrolle über eine Situation zu schützen. Solange dies der subjektiv der Fall ist, fühlen sie sich fähig, zu handeln. Je bedrohlicher eine Situation erlebt wird, desto mehr kann jedoch der Schutz des Kompetenzgefühls zum dominierenden Handlungsmotiv werden, sodass sich die innere Logik des Handelns von „Sachrationalität“ zu „Kompetenz-Rationalität“ hin verändert.
Für den Betreffenden unbemerkt tritt die angemessene Behandlung des medizinischen Problems hinter die Kontrolle der eigenen Gefühle zurück. Wichtiger als die Lösung eines noch so vitalen Problems wird dann die Aufrechterhaltung des Gefühls, eine Situation im Griff zu haben oder wenigstens etwas in der Umwelt bewirken zu können (s. Abb. 2). Diese psychologische „heimliche Agenda“ trägt zu Entscheidungsfehlern bei.
Abb. 2
Notfallsituationen können das Kompetenzgefühl der behandelnden Personen bedrohen (Foto: Michael St. Pierre)
Die kognitive Notfallreaktion Um das Kompetenzgefühl aufrecht zu erhalten und vor störenden Außeneinflüssen zu schützen kommt es zu charakteristischen Veränderungen der Informationsaufnahme, Informationsverarbeitung und der resultierenden Handlungen. Diese Veränderungen können unterschiedlich stark ausgeprägt sein und dienen vornehmlich dazu, das eigene mentale Modell der Situation gegen Zweifel abzuschirmen und durch Handeln das Gefühl von Kontrolle zu behalten. Dominiert die Kompetenzrationalität das Denken und Handeln, so spricht man von einer kognitiven Notfallreaktion.
Bei drohendem Kontrollverlust kommt es zu folgenden charakteristischen Veränderungen (Dörner 2003, St. Pierre u. Hofinger 2020): Externalisierung des Handelns Der Schwerpunkt liegt auf dem Handeln (ad-hoc-istisches Handeln) und weniger auf internen Prozessen (Denken, Planen). Dass man etwas tut (und zwar sofort) ist wichtiger als das, was man tut. Handeln wird durch Außenreize und weniger durch Ziele gesteuert. Daraus resultiert ein sprunghaftes Vorgehen (Reparaturdienstbetrieb).
Auswirkungen von Handlungen werden nicht überprüft: Man „feuert“ Maßnahmen wie Kanonenkugeln ab, ohne den weiteren Verlauf der Ereignisse zu kontrollieren (ballistisches Verhalten). schnelle Lösungen Obwohl gerade die Neuheit und Einzigartigkeit der Situation zur Überforderung führt, wird zur Problemlösung auf bekannte Denk- und Handlungsschemata zurückgegriffen (Methodismus). Es werden schnelle und einfache Lösungen bevorzugt. Mögliche Entwicklungen und Langzeitauswirkungen von Handlungen werden nicht beachtet: man löst das Problem, das man hat, und befasst sich nicht mit denen, die man noch nicht hat – aber vielleicht genau deshalb bekommen wird (Überwertigkeit aktueller Probleme). Reduktion der Informationsaufnahme Um effizient handeln zu können, benötigen Menschen ein stabiles mentales Modell. Um diese Stabilität zu gewährleisten, wird an einer einmal gefundenen Ordnung möglichst lange festgehalten. Informationen die darauf hindeuten, dass Annahmen nicht zutreffen, werden ausgeblendet. Man schützt das eigene Denkmodell vor der Realität (Fixierung). Werden Menschen von einer Situation überwältigt, so wird die Informationsaufnahme auf ein Minimum reduziert. Im Extremfall reagieren die Betroffenen dann kaum mehr auf Außenreize. unangemessene Komplexitätsreduktion Es werden einfache und reduktionistische Denkmodelle gebildet. Je klarer und einfacher Modelle sind, desto mehr Sicherheit verleihen sie und desto mehr vermitteln sie Menschen das Gefühl, sich auszukennen und Herr(in) der Lage zu sein. Das eigene (reduzierte) Modell der Situation wird gegenüber anderen Sichtweisen geschützt; es resultieren Rechthaben wollen, Abwehr von Kritik und Zweifeln sowie die Vermeidung des Wörtchens „aber …“ (Dogmatismus). Alternativ zu schnellen Lösungen und Komplexitätsreduktion wird versucht, das Kompetenzgefühl mittels intensiver Analyse der Situation zurückzugewinnen. Man ist bestrebt, vollständiges Wissen
zu erlangen und alle Risiken abzuwägen. Dadurch wird eine Entscheidung hinausgezögert oder gänzlich vermieden (Paralyse durch Analyse). Zur Emotionsregulation wird die Verantwortung für Probleme schnell bei anderen Personen gesucht, anstatt der Komplexität des Realitätsbereichs zugeschrieben (Attributionsfehler, Personalisierung). Wichtig für das Verständnis der aufgeführten kognitiven Veränderungen erscheint der Hinweis, dass es sich hierbei nicht um irrationale oder pathologische Verhaltensweisen handelt. Vielmehr sind alle Verhaltensweisen insofern zielführend, da sie ja nicht den Sachanforderungen der Notfallsituation, sondern der Stressregulation der Handelnden gerecht werden wollen: Das Gefühl, die Situation nicht kontrollieren zu können, muss verschwinden. Für den Betroffenen in der Situation läuft die kognitive Notfallreaktion in aller Regel unbewusst ab. Bewusst fühlt man sich dem Problem in Einschränkungen (und in Verbindung mit unangenehm negativen Emotionen) durchaus gewachsen, da das Kompetenzgefühl erfolgreich gegen alle Anfeindungen verteidigt wurde.
2.5
Human Factors und Extrembedingungen – Konsequenzen
Eine Verhältnisänderung ist aus den dargelegten Gründen nicht möglich. In eingeschränktem Maße kann durch adäquate Auswahl von Schutzkleidung und Ausrüstung der Einfluss physischer Extrembedingungen (s. Tab. 3) gemildert werden. Limitierend für sicheres Verhalten auch unter Extrembedingungen ist die Entstehung von Stress bzw. die Ermöglichung von Stressresistenz. Hierbei sind mehrere Ansatzpunkte gegeben: In anderen Hochrisikotechnologien (z.B. zivile und militärische Luftfahrt), bei Spezialeinsatzkräften der Polizei und des Militärs, und teilweise auch bei der Auswahl von Mitarbeitern in der Luftrettung erfolgt eine systematische und rigorose Personalauswahl:
Personalauswahl. Die Kriterien des Assessments führen zu einer Selektion von Persönlichkeitseigenschaften, welche die betreffenden Personen geeigneter erscheinen lassen, um stressvolle Situationen sicher zu bewältigen. Erfahrungen sammeln: Stress entsteht aufgrund eines wahrgenommenen Ungleichgewichts zwischen eigenen Ressourcen und den Anforderungen der Notfallsituation. Da die stressauslösende Bewertung eine subjektive und erfahrungsabhängige Einschätzung darstellt, reduziert zunehmende Erfahrung das Stressniveau. Für wahrscheinlich die meisten komplexen Notfallsituationen bzw. Extremsituationen ist es kaum möglich, einen individuellen Erfahrungsaufbau sicherzustellen, da entsprechenden Ereignisse schlicht zu selten sind. Simulationen sind das geeignete pädagogische Lehrmittel, um Situationen zu schaffen, welche den Anforderungen realer Einsatzbedingungen nahekommen. Denkstrategien trainieren: Extrembedingungen überraschen die behandelnden Personen mit Ereignissen und Situationsmerkmalen, für die sie in der Regel keine Erfahrungen und keine erlernten Strategien haben. Somit können die Situationseinschätzung und Problemlösung nicht über die Anwendung erlernter Regeln erfolgen, sondern müssen über bewusstes, sequenzielles Denken erfolgen. Die dafür notwendigen Denkstrategien (z.B. FOR-DEC, DECIDE) können trainiert werden. Teamarbeit und Führung schulen: Teammitglieder können eine wesentliche Ressource darstellen, um den Stress einer Extremsituation abzufangen. Entscheidend dafür sind ein geteiltes Situationsbewusstsein, klare Kommunikationsmuster und eine geteilte, den Belastungsgrenzen der Teammitglieder angepasste Arbeitsbelastung.
Literatur Badke-Schaub P, Hofinger G, Lauche K (2012) Human Factors. Psychologie sicheren Handelns in Risikobranchen. Heidelberg, Springer Dörner D (2003) Logik des Misslingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Berlin
Ericsson KA, Charness N, Feltovich PJ, Hoffman RR (2006) The Cambridge handbook of expertise and expert performance. Cambridge: Cambridge University Press Salvendy G (2012) Handbook of Human Factors and Ergonomics. 4. Auflage. Wiley & Sons, Hoboken, NJ St. Pierre M, Hofinger G (2020) Human Factors und Patientensicherheit in der Akutmedizin. 4. Auflage. Springer, Heidelberg Woods DD, Dekker S, Cook R, Johannesen L, Sarter N (2010) Behind human error, 2nd edn. Ashgate Publishing Ltd., Farnham
3
Leitsymptom Ressourcenmangel – Notfallbehandlung in abgelegenen Gegenden
Michael Reng
In unserer hochzivilisierten Welt scheint ein echter Ressourcenmangel am Notfallort auf den ersten Blick kaum denkbar. Wir können über die allgegenwärtigen Mobiltelefone und Smartphones mit ihren ausfallssicher redundant ausgelegten Netzen jederzeit Material und Mannschaften aus den schier unbeschränkten Vorhaltungen nachfordern. Das ist leider nicht immer so. Vom vieldiskutierten und strategisch-taktisch berücksichtigten Ressourcenmangel beim Massenanfall von Verletzten, wie auch von der in der zugehörigen Leitlinie ausführlich beschriebenen Erstversorgungssituation bei Reanimation, soll hier nicht die Rede sein. Aber auch abseits solcher Desaster zeigt sich unter bestimmten Umständen rasch, dass selbst bei der Versorgung „einfacher“ Notfälle mitten in Westeuropa jederzeit Situationen entstehen können, bei denen für längere Zeit auf sonst selbstverständliche Mittel zur adäquaten Versorgung akut erkrankter oder verletzter Menschen verzichtet werden muss. Hierbei müssen die zwei häufigsten, zugrundeliegenden Ursachen unterschieden werden, die einen solchen Ressourcenmangel verursachen: das Versagen der Alarmierungskette bzw. ein Notfall in schwer zugänglichem bzw. nur dünn besiedeltem Gelände.
3.1
Versagen der Alarmierungskette
Das sensibelste Glied der Rettungskette ist der Notruf. Kann kein Notruf abgesetzt werden, so können die Rettungskräfte die erforderlichen Ressourcen nicht zeitnah zum Einsatz zu bringen. Daher ist es wichtig, sich Gedanken zu machen, wie in jedem Fall ein Notruf abgesetzt werden kann und welche Umstände die Effizienz des jeweiligen Verfahren beeinträchtigen können.
3.1.1 Mobiltelefon
Es werden kaum mehr Notfallmeldungen über kabelgebundene Telefone oder fest installierte Alarmierungseinrichtungen (Notrufsäulen) abgegeben. Viel zu selbstverständlich ist die örtlich ungebundene telefonische Kontaktaufnahme über Mobiltelefone geworden. Die Alarmierung über Mobiltelefone bietet zudem viele Vorteile: So ist die stets vorwahlfreie Nummer 112 Systembestandteil der GSM-Spezifikation und nahezu weltweit von allen Mobiltelefonnetzen aus als Notrufnummer nutzbar. GSM ist das Global System for Mobile Communications, der weltweit am weitesten verbreitete und auch in Deutschland genutzte technische Standard für volldigitale Mobilfunknetze.
In Amerika und Kanada wird der Notruf 112 dieser Mobiltelefone, sofern sie in den dortigen Netzen einbuchen können, automatisch auf die Nummer 911 umgeleitet. Spezielle Notrufnummern im alpinen Gebiet erreichen die Bergrettung in Österreich und Schweiz direkt, können aber auch über die 112 weitervermittelt werden. Bei einem Notruf wird dem Leitstellendisponenten die Telefonnummer des Anrufers, in der Regel unabhängig von einer eingestellten Rufnummernunterdrückung angezeigt. Auch das Orten des Mobiltelefons ist zumindest über die genutzte Funkzelle (auch in Gebäuden) immer möglich. Bei eingeschalteter und verfügbarer (im Freien!) GPS-Funktion des Mobiltelefons ist die Ortung des Telefons in unbewohntem Gebiet via GPS jedoch deutlich präziser als die Ortung via Funkzelle. Die GPS-Funktion verbraucht allerdings viel Akku-Energie und sollte daher in Notfallsituationen nur passager eingeschaltet werden, um die Laufzeit des Mobiltelefons so lange wie möglich aufrecht zu erhalten. Ein EU-weiter Standard für die Standortübermittlung bei Notrufen ist in Arbeit. Jeder PIN-Schutz eines GSM-Telefons kann durch die Wahl der Notrufnummer 112 oder Drücken einer ggf. vorhandenen „Notfalltaste“ überwunden werden. Obligate Voraussetzungen zur Nutzung des Mobiltelefons zur Alarmierung sind: Eine eingelegte SIM-Karte (der Guthaben- oder Vertragsstatus ist dabei egal),
ausreichend Ladung im Telefon-Akku zum Aufbau des Telefonats und ein verfügbares Mobiltelefon-Netz. Eine eingelegte SIM-Karte ist verpflichtend, da deren Käufer identifiziert werden und so einem Missbrauch der Notrufeinrichtungen vorgebeugt werden kann. Sowieso wird niemand ein Mobiltelefon ganz ohne SIMKarte mit sich führen. Kritischer ist die Notwendigkeit, im Telefon einen geladenen Akku zu haben. Es empfiehlt sich daher bei Aktivitäten in wenig bevölkerten Gebieten einen – geladenen – externen Akku (sog. Powerbank) samt passendem Überleitungskabel mitzuführen. Soll dieser nur „im Notfall“ eingesetzt werden, kann eine kleine, handliche Bauform gewählt werden. Für Mobiltelefon- und Powerbank-Akku gilt: Bei Kälte sinkt die verfügbare Leistung, es empfiehlt sich daher, Akkus in Körpernähe zu tragen (20°C sind ideal). Das Ausschalten von WLAN, Bluetooth, Push-Meldungen und weiteren Diensten hilft Akku-Energie zu sparen. Für längere Touren kann ein Akku mit integrierten Solarzellen sinnvoll sein, dieser muss zum Laden allerdings „offen“ getragen werden. Der Stärke der Solarladung darf aber – unabhängig von der sowieso unzuverlässigen Sonneneinstrahlung – nicht überschätzt werden. Auch Akku-Bauformen mit integriertem HandDynamo können sinnvoll sein, um jederzeit Notrufe absetzen zu können. Ohne verfügbares Mobilfunk-Netz kann natürlich kein Notruf abgesetzt werden. Erhöhte Standpunkte sind für einen guten Empfang meist günstiger als Vertiefungen im Landschaftsprofil. Der Einsatz eines Headsets erlaubt es, die „Balkenanzeige“ der Empfangsstärke während des Gesprächs zu sehen und die Position des Mobiltelefons zu optimieren. Bezüglich der Netzabdeckung gibt es bei der Wahl der 112 im Vergleich zu Anrufen bei anderen Nummern einen wichtigen Vorteil: Hat das Mobiltelefon keinen Empfang im Netz der eingelegten SIM-Karte, so wird bei Wahl der 112 automatisch das beste verfügbare (ggf. auch konkurrierende) Netz genutzt. Damit reduzieren sich die nicht abgedeckten Gebiete in Westeuropa drastisch. Ist die 112 wegen eines regionalen technischen Defekts nicht erreichbar kann in Deutschland die offizielle Notruf-App der Bundesländer
(nora-notruf.de) hilfreich sein, die die integrierten Leitstellen per Internet erreicht. Für Smartphones gibt es zahllose Notruf-Apps, die den Notruf in bestimmten Gebieten optimieren und die ggf. erforderliche Ortung vereinfachen (z.B. die SOS EU ALP der Bergrettung Tirol, iRega App für die Bergrettung in der Schweiz etc.). Hilfreich ist die für Android- und Apple-Geräte kostenlos verfügbare „Open Signal App“ die wie mit einem Kompass anzeigt, aus welcher Richtung das aktuell stärkste MobilfunkSignal kommt. Ist das Signal schwach, zeigt die App, in welche Richtung man laufen muss, um ein stärkeres Signal zu erhalten.
Wenn keine Sprechverbindung und keine APP-Verbindung möglich ist, kann dennoch – nicht selten unbemerkt vom Benutzer – eine SMSVerbindung zustande kommen und die Notfallmeldung übertragen. Gelingt es nicht, einen Notruf abzusetzen, so ist es sinnvoll, einen Notruf via SMS zu formulieren. Klug ist es dabei im SMS-Text neben den typischen Notruf-Inhalten die eigene Position und eine Bestätigung des Notrufs anzufordern. Die gängigen SMS-Programme zeigen den erfolgten Versand (kann mehrere Minuten dauern) an. Für die Orientierung kann es sinnvoll sein, die Karte des Gebiets, in dem man sich aufzuhalten plant, vor Reisebeginn auf das Smartphone zu laden. Die Orientierung mittels einer lokal auf dem Mobiltelefon verfügbaren Karte und dessen GPS-Empfänger benötigt keine Netzverbindung. Falls ein längerer Aufenthalt weit abseits der Zivilisation geplant wird, kann auch die Investition in Satellitentelefonie sinnvoll sein, die – je nach Netz – im Freien (Höhlenforscher profitieren nicht) von nahezu überall weltweite Kommunikation erlaubt. Relativ preisgünstig sind hier sog. SAT-Tracker, die weltweit eine textbasierte SOS-Meldung absetzen können.
3.1.2 Notruf „von Hand“ Wenn die Technik versagt oder nicht verfügbar ist, gibt es natürlich auch die Option, Notrufsignale ohne technische Unterstützung abzusetzen.
Das alpine Notsignal sollte jedem Bergwanderer und Tourengeher bekannt sein: Hör- oder sichtbares Zeichen sechs Mal innerhalb einer Minute. Beispiel: lautes Geräusch, Rufen, Winken, mit Kleidungsstück Wedeln etc. Achtung: tiefe Töne sind weiter hörbar Das Signal soll dann jeweils nach einer Minute Pause wiederholt werden. Als Antwortzeichen erfolgt ein Zeichen drei Mal pro Minute. Es macht daher Sinn, auch in unwegsamem Gelände eine Uhr mitzuführen. Dass ein Zeiger-Zifferblatt ggf. auch für Kompass-Funktionen genutzt werden kann, ist ein nützlicher Nebeneffekt. Beim Wassersport und in der Schifffahrt sind andere Notrufzeichen üblich: das langsame und wiederholte Heben und Senken der Arme insbesondere für Bootsfahrer, Surfer und Kiter wichtig ein wiederholtes, jeweils länger als fünf Sekunden anhaltendes Tonsignal roter Rauch bzw. rote Signalraketen Das Morsesignal 3 x kurz, 3 x lang, 3 x kurz (SOS) kann auch ohne Funk und abseits der Seenotrettung in geeigneten Situationen (Verschüttung, Höhlen- oder Schachtunfall etc.) herangezogen werden.
3.1.3 Stille Post, mangelnde Rückmeldung Die Rettungskette versagt auch, wenn Informationen falsch oder unvollständig weitergegeben werden. Heute ist es – wie auch in den aktuellen Reanimationsleitlinien dargestellt – nicht selten sinnvoll, den Notruf via Mobiltelefon unter Nutzung der Freisprecheinrichtung abzusetzen, was den Vorteil bergen kann, dass alle Umstehenden (potenziellen Helfer) automatisch über den Gesprächsinhalt informiert sind. Zudem hat der Melder so während des Telefonats seine Hände frei um sich damit bereits zu diesem Zeitpunkt aktiv am Management des Notfallgeschehens beteiligen zu können (z.B. HDM).
Gelegentlich muss ein „Melder“ ausgesandt werden, um die Alarmierung des Rettungsdienstes durchzuführen, weil im Bereich des Notfallgeschehens keine geeigneten Kommunikationsmöglichkeiten bestehen (z.B. beim Wanderunfall Laufen zum nächsten Punkt mit Mobilfunknetz, in den Bergen Laufen zur nächsten Hütte etc.): Dabei ist es wichtig, den Melder darauf hinzuweisen, dass nach erfolgter Alarmierung nach Möglichkeit eine Rückmeldung erfolgen sollte, damit die verbliebenen Helfer vor Ort bzw. der ggf. allein gelassene Verunglückte so bald als möglich wissen, dass die benötigte Hilfe unterwegs ist.
3.2
Notfall im „Abseits“
Natürlich können in schwer zugänglichem oder dünn besiedeltem Gelände alle Unfälle und akuten Erkrankungen auftreten, die auch in leichter zugänglichen oder dichter besiedeltem Regionen behandelt werden müssen. Oft bleibt dem (zufälligen) „Helfer vor Ort“ dabei nur, sich mit den gegebenen Ressourcen bis zum Eintreffen von Rettungsdienst und/oder geeignetem Material zu behelfen. Es gibt allerdings einige Notfälle, von denen im Folgenden die Rede sein soll, die typischerweise in der „Wildnis“ auftreten und besondere Handlungsweisen erfordern. Vor Beginn jeder der im Folgenden dargestellten BasisRettungsmaßnahmen muss immer versucht werden, einen Notruf abzusetzen, um erweiterte Hilfe nachzufordern, da nur so bei ernsthaften Problemen eine Perspektive für den Langzeiterfolg jeglicher Rettungsmaßnahme besteht.
3.2.1 Häufige Notfälle Akzidentelle Hypothermie Unter Hypothermie versteht man den unbeabsichtigten Abfall der Körperkerntemperatur (KKT) unter 35°C. Hauptursache hierfür ist das oft unfreiwillige längere Verweilen in einer kalten und/oder nassen Umgebung. Unterkühlungen treten z.B. nach Bagatellverletzung beim Wandern, die ein Weiterlaufen verhindern und zum Biwakieren im Freien zwingt, oder beim
Wassersport auf, wenn das Verlassen des Wassers aus welchem Grund auch immer längere Zeit nicht möglich ist. Auch viele „Auffindungssituationen“ gehen mit Unterkühlung einher. Das gesunde Individuum reagiert auf die beginnende Hypothermie mit Schüttelfrost. Bei einer KKT unter 32°C nimmt das Frösteln mehr und mehr ab und ist bei 30°C in der Regel nicht mehr nachweisbar. Unter 34°C KKT nehmen die Hirnaktivitäten des Patienten ab, er wird zunächst leicht erregbar, dann verwirrt, apathisch und wird schließlich ab etwa 28°C KKT komatös. Unterhalb von 30°C KKT sinkt auch das Herzzeitvolumen drastisch, wobei das Gehirn durch den in der Kälte reduzierten Sauerstoffbedarf glücklicherweise langsamer Schäden als bei Normothermie nimmt. Eine KKT unter 24°C kann in seltenen Fällen überlebt werden, eine Hypothermie unter 9°C KKT gilt als mit dem Leben nicht vereinbar. Die Behandlung bei limitierten Ressourcen wird sich immer am klinischen Bild orientieren. Vorrangig ist es, den Patienten in eine warme oder wärmende Umgebung zu verbringen bzw. eine solche zu schaffen. Ein Patient mit Schüttelfrost ist durch seine per Definition geringe Hypothermie nur wenig gefährdet und bedarf nach Verbringen in wärmende Umgebung keiner besonderen Behandlung. Ein hypothermer und in der Vigilanz alterierter Patient ist dagegen vital bedroht. Er sollte – insbesondere bei der Rettung aus Wasser oder Eis – stets horizontal gelagert werden, um den Kreislauf zu unterstützen und um den „afterdrop“ der KKT durch schubweise Mobilisation des kalten Blutes aus den peripheren Gefäßen zu vermeiden. Aus diesem Grund sollten auch Fremd- und Eigenbewegungen soweit wie möglich unterbunden werden (Ausnahme: CPR und Defibrillation bei Kammerflimmern sind trotz der resultierenden Bewegungen bei gegebener Indikation unerlässlich). Nasse Kleidungsstücke sollten bei solchen Patienten zum Entkleiden immer zerschnitten werden, sobald eine warme Umgebung, z.B. durch Decken, geschaffen werden konnte, um die Bewegungen beim „konventionellen“ Entkleiden zu vermeiden. Idealerweise soll der Patient dann so gelagert werden, dass er nicht nur geschützt liegt, sondern auch eine konduktive Wärmeableitung durch die Liegefläche vermieden wird (Unterlage). Auch ein provisorischer Windschutz kann sehr hilfreich sein. Eine milde externe Wärmezufuhr sollte auf den Torso, nicht auf die Extremitäten einwirken.
Weder unmittelbare Hitze (> 37°C) noch Druck soll lokal appliziert werden um topische Schäden zu vermeiden. Größere Volumengaben sind bei hypothermen Patienten initial meist nicht erforderlich (erst im Rahmen der Weiterversorgung wegen der Gefahr des Ausbildens einer Crush-Niere), gewärmte Infusionen sind vorteilhaft. Eine empirische, intravenöse Glukosegabe beim hypothermen Patienten wird in den amerikanischen Leitlinien empfohlen. Akzidentelle Hyperthermie Hitzevermittelte Erkrankungen vom Sonnenbrand zum Hitzschlag können je nach Dauer und Grad der Hitzeexposition von Bagatellbefunden bis hin zu lebensbedrohlichen Zuständen variieren. Leider treten sie nicht selten im Rahmen übertriebener Freizeitaktivitäten abseits regulärer Versorgungswege auf. Das klinische Erscheinungsbild reicht dabei von Mattigkeit über Muskelkrämpfe, Hitzekollaps, Hirnödem mit Bewusstseinsstörungen und von Krampfanfällen bis zum Tod. Natürlich liegt im Vermeiden der Hitzeexposition bei gleichzeitiger körperlicher Schonung der Schlüssel zur Prävention hitzevermittelter Schäden. Sind aber bereits Symptome vorhanden, so sollten bis zum Eintreffen professioneller Hilfe neben dem Entfernen des Patienten aus dem überhitzten Bereich die Behandlungsstrategien aus Tabelle 1 zur Anwendung kommen. Tab. 1
Behandlungsstrategien je nach Schweregrad der Hyperthermie
Schweregrad der Hyperthermie mild
moderat
Klinik
Behandlung
Hitzekrämpfe
orale Flüssigkeitszufuhr
Hitzeödem
Hochlagerung der geschwollenen Extremität(en)
Hitzekollaps
passive Kühlung oraler isotonischer oder hypertoner Flüssigkeitsersatz
Hitzeerschöpfung
aktive Kühlung (Haut anfeuchten, KühlPacks etc.)
orale oder intravenöse Zufuhr isotonischer Flüssigkeiten schwer
Hitzschlag
wie bei Hitzeerschöpfung + (partielles) Eintauchen in kaltes Wasser intravenöse Rehydratation (gut: gekühlte Infusionen) je nach Vigilanz: Atemwege sichern, beatmen
Eine antipyretische Medikation ist bei der Hyperthermie nutzlos.
Blitzschlag Blitzschläge treffen Menschen naturgemäß vor allem im Freien. Auch hier ist die Prävention anzustreben, um die schweren Folgen eines Blitzschlages zu vermeiden. Hört man den ersten Donner, ist zu diesem Zeitpunkt das Risiko eines Blitzschlages bereits hoch. Der effektivste Schutz ist dann, sich unmittelbar in einen geschlossenen Raum zu begeben, Automobile mit Blechdach schützen ebenso, nicht aber solche mit Gewebe- oder Kunststoffdach (Cabriolet, Convertible). Ist ein solcher Schutz nicht verfügbar, sollten zumindest die Hauptgefährdungsbereiche verlassen werden. Blitze schlagen besonders häufig ein in: Berggipfel und Berggrate hohe Objekte (Ski-Lift, Antennentürme etc.) freistehende Bäume Wasserflächen Wer keinen Schutz finden kann sollte alles Metall ablegen und sich möglichst auf einem isolierenden Material in Hockstellung auf den Boden kauern. Ziel ist es, eine möglichst kleine Bodenkontaktfläche zu bieten, um die sog. „Schrittspannung“ niedrig zu halten. Handelt es sich um mehrere potenziell blitzexponierte Personen, so sollten diese über fünf Meter Abstand voneinander halten, um nicht gemeinsam vom Blitz erschlagen zu werden.
Nach dem Blitzschlag können Kammerflimmern, Asystolie oder auch ein weitgehend normaler Herzrhythmus bestehen. Wichtig ist aber, dass das medulläre Atemzentrum in der Regel länger paralysiert bleibt, als das Herz. Daher ist es besonders wichtig, bei bestehender Herzaktion auf eine ausreichende Atmung des Patienten zu achten. Nach einem Blitzschlag sollten die Patienten ohne erkennbare Atemexkursionen vorrangig behandelt werden. Blitzschlagopfer speichern keine Blitzenergie, deren Reanimation ist daher – abgesehen davon, dass der Blitz erneut einschlagen könnte – für die Helfer ungefährlich. Nicht selten kommt es in unmittelbarer Folge eines Blitzschlages zu einer Lähmung der unteren Extremitäten (Keraunoparalyse). Diese Blitzfolgeerscheinung kann klinisch nicht von einer traumabedingten spinalen Verletzung unterschieden werden. Eine protektive spinale Immobilisation des Patienten ist daher in derartigen Fällen erforderlich. Beinahe-Ertrinken 1. Vom Beinahe-Ertrinken spricht man, wenn ein Patient eine Beeinträchtigung seiner Atmung erleidet, weil er in eine Flüssigkeit eingetaucht ist. Erstes Ziel der Rettung ist es, den vom Ertrinken bedrohten Patienten aus der Flüssigkeit zu ziehen. 2. Besonders wichtig ist hier der initiale Blick auf die Uhr. Da die Dauer des Untertauchens für den weiteren Verlauf relevant ist, sollte diese Angabe so objektiv wie möglich erfolgen. Geschätzte Zeiten bei Notfällen sind nur selten verlässlich. 3. Die Rettung von Ertrinkenden, besonders in strömendem Wasser, ist keineswegs ungefährlich und sollte nur von trainierten Schwimmern versucht werden. Dem bedrohten Patienten schwimmfähiges Material zuzuwerfen oder ihm mit einem Boot zur Hilfe zu kommen ist vertretbar, der Untrainierte sollte dabei aber nie selbst ins Wasser gehen, da er sonst nicht selten durch den in Panik befindlichen Patienten selbst in Lebensgefahr gebracht wird. Bei einem aus dem Wasser geretteten Patienten ist das probatorische Absaugen von Flüssigkeit und Fremdkörpern aus dem Atemweg sinnvoll. Heimlich-Manöver und andere mechanische Maßnahmen sind dagegen
entbehrlich. Da es nicht selten zum Beinahe-Ertrinken infolge eines (Kopf-)Sprungs ins Wasser kommt, sollte in solchen Fällen stets eine HWSImmobilisation herbeigeführt werden. Eine Reanimation ist nur sehr selten erfolgreich bei Patienten, die länger als 30 Minuten in Wasser mit einer Temperatur von über 6°C untergetaucht waren. die länger als 90 Minuten in Wasser mit einer Temperatur von unter 6°C untergetaucht waren. die nach Beinahe-Ertrinken über 25 Minuten erfolglos reanimiert wurden. In allen anderen Fällen von Beinahe-Ertrinken sollte eine Reanimation erwogen werden. Eine besondere Situation stellt die Reanimation von Jugendlichen und Kindern dar, die längerfristig untergetaucht waren. Hier gilt es in Abhängigkeit von der regionalen Situation immer auch zu berücksichtigen, dass primär gesunde Menschen nach Ertrinkungsunfällen nicht selten als Organspender fungieren können und gerade junge Organe eine erstaunliche Hypoxietoleranz aufweisen. Auch wenn dieser Umstand sicher niemals vor Ort diskutiert werden kann und soll, hat vermutlich kein Elternteil eines sehnsüchtig auf ein Organ wartenden Kindes Verständnis, wenn Reanimationen bei potenziellen Spendern abgebrochen oder nicht unternommen werden. Der sicherste Zeitpunkt, ein ins Wasser gefallenes Fahrzeug zu verlassen, ist so schnell wie möglich nach dem ersten Eintauchen. Bei sofort tief untergetauchten Fahrzeugen kann es erforderlich sein, die Fahrgastzelle aktiv über die Seitenfenster oder eine eingetretene Frontscheibe zu fluten, um die Türen zum Ausstieg öffnen zu können.
3.2.2 Spezielle Probleme Schmerztherapie ohne Analgetika Nicht selten kommt es bei Freizeitbeschäftigungen zu schmerzhaften Verletzungen, die initial mangels verfügbarem Arztkoffer nicht
medikamentös behandelt werden können. In einem solchen Fall sollte bedacht werden, dass eine Schmerzlinderung auch ohne Medikation erreicht werden kann. Die im Folgenden aufgelisteten Vorgehensweisen (SAFE) können dabei oft hilfreich sein: vor weiterer Verletzung und Infektion z.B. durch Verbinden, Schienen, Tapen. Anheben des verletzten Bereiches über Herzhöhe, um Schwellungen zu minimieren und den Abtransport von zerstörten Gewebebestandteilen zu forcieren. Fixieren und Komprimieren idealerweise mit einer elastischen Binde um neue Schmerzen durch Schwellung zu vermeiden (Cave: Perfusion darf nicht beeinträchtigt werden, daher durch wiederholte Lockerung überprüfen). Eis oder kaltes Wasser zur Kühlung um die Nervenleitung zu beeinflussen (ab 15°C findet keine sensorische Nervenleitung mehr statt). Beachte: bei längerem Einwirken sehr kühler Gegenstände kann es zu unerwünschten, topischen Verletzungen kommen. Schutz
Sind Analgetika verfügbar, so gilt es abseits der regulären Versorgungssituation stets zu berücksichtigen, dass mit den jeweils verfügbaren Materialien nicht nur der Schmerz, sondern auch die Komplikationen der gewählten Medikation (Atemdepression, allergische Reaktion etc.) beherrscht werden müssen. Die Methoden des SAFEKonzepts sind additiv immer zu erwägen. Bei der Dosierung der Analgetika sollte auch darauf geachtet werden, dass der frühe Verbrauch einer limitierten Ressource von Schmerzmitteln vermieden werden sollte. Im Gegensatz zu medizinischen Standards kann also erträglicher Schmerz statt Schmerzfreiheit Ziel der Behandlung sein. Auf dem Weg zum Einsatz in abgelegener Gegend Um bei Einsätzen in abgelegenen Gegenden nicht selbst zum Notfall zu werden, ist es unabdingbar, dass mit möglichst umfangreichem technischen und personellem Aufwand ausgerückt wird. In entlegenen Gebieten sind relevante Strukturen – wenn irgend möglich – redundant
vorzuhalten, damit ein einfacher Ausfall eines Teilbereiches nicht die gesamte Rettungsaktion gefährdet. Wer zu einem Einsatz gerufen wird, bei dem es klar ist, dass die Patienten schon seit längerem allein waren bzw. auf Hilfe warten mussten, sollten neben den im Rettungsdienst üblichen Hilfsmitteln spezielle Hilfsgüter mitführen: Wärmedecken, Tragetücher, Getränke und Energieriegel. Die Annäherung an längerfristig allein in einer Notsituation verbliebene Menschen muss stets sehr behutsam erfolgen. Die Reizüberflutung durch eine „technische Rettung“ steht in krassem Gegensatz zu dem im Dauerstress entstandenen und bei der Rettung immer dringender werdenden Bedürfnis der Patienten nach Sicherheit, Geborgenheit und Entspannung.
Quellen zur Vertiefung Wilderness Medical Society (o.J.) Salt Lake City, Utah, USA. URL: www.wms.org (abgerufen am 21.02.2023)
4
Atemwegsmanagement, Analgosedierung und Narkose unter schwierigen Bedingungen
Wolfgang Voelckel
„Wer Entscheidungen nicht plant, sondern sich erst dann darum kümmert, wenn die Entscheidung fallen muss, der handelt zu spät.“ (Konfuzius)
4.1
Herausforderung Atemweg – Inzidenz, Indikation und typische Risiken
Atemwegsmanagement, auch in Extremsituationen, gehört zu den zentralen Herausforderungen im Notarzt- und Rettungsdienst. Das Erkennen und Einschätzen der Schwere einer Atemstörung, die Entscheidungsfindung und Indikationsstellung zur Atemwegssicherung sowie deren Durchführung erfordert Erfahrung und klinische Expertise. Diese kann im Rettungsdienst allein nicht erworben bzw. aufrechterhalten werden. Auch wenn das Einsatzspektrum der einzelnen Rettungsmittel ggf. stark unterschiedlich ist, wird nur in einem geringen Anteil (ca. 3–10%) aller Einsätze eine Atemwegssicherung bzw. eine endotracheale Intubation erforderlich. Davon entfallen ca. 60% auf Patienten mit Herz-Kreislaufstillstand, und somit eine Standardsituation. Für den Notarzt bedeutet dies, dass je nach Dienstfrequenz, mit z.T. weniger als 10 Intubationen pro Jahr im Rettungsdienst nur eine begrenzte Routine für das Atemwegsmanagement unter den erschwerten prä-klinischen Bedingungen aufrechterhalten werden kann. Zusätzlich kann die Entscheidungsfindung bzw. Indikationsstellung zur Atemwegssicherung bzw. Narkoseeinleitung nur bedingt durch die klinische Untersuchung sowie Messwerte wie die Atemfrequenz und die arterielle Sauerstoffsättigung abgesichert werden. Folgerichtig wird die Entscheidung für eine Intubation durch das klinische Bild im
Behandlungsverlauf, die Umstände der Rettungsaktion und im entscheidenden Ausmaß durch die persönliche Expertise bestimmt werden. Letzter Punkt ist von besonderer Relevanz für das Patienten Outcome. Die Effektivität der Intubation und prä-klinischen Beatmung wird durch die Kompetenz des Behandlers maßgeblich bestimmt (Lecky et al. 1996). Im traumatologischen Setting sind das verminderte Bewusstsein, Unruhezustände mit Agitation sowie der Atem- bzw. Herzkreislaufstillstand die häufigste Indikation; Atemwegsobstruktion, drohende oder manifeste Hypoxämie sind erheblich seltener (Lockey et al. 2015). Unstrittig, auch unter schwierigen Einsatzbedingungen, ist die Indikationsstellung zur Atemwegssicherung im Rahmen einer Wiederbelebung bzw. beim bewusstlosen Patienten ohne Schutzreflexe und sistierter Spontanatmung. Ein weiteres Entscheidungskriterium ist die Frage, ob ein Transport ohne Atemwegssicherung überhaupt überlebt werden kann bzw. wie lange die Situation eines ungeschützten Atemwegs tolerabel ist wie z.B. im Sinne einer „Crash Bergung“ oder einer Windenbergung im Rahmen eines Hubschraubereinsatzes. Im kritischen Einsatzumfeld muss ferner bei anderen Verletzungsmustern oder Krankheitsbildern trotz typischerweise gegebener Indikation bei erhaltener Spontanatmung die Indikationsstellung differenzierter betrachtet werden. Eine Atemwegssicherung kann in diesen Fällen bei deutlich erschwerten Einsatzumständen verzögert oder sogar erst nach Klinikaufnahme erfolgen (s. Tab. 1). Tab. 1
Indikationsstellung zur endotrachealen Intubation
Vitale Indikation für ITN
Transport wird ohne ITN nicht überlebt
Relative Indikation
Apnoe Hypoxie – Hyperkapnie Atemweg verlegt mangelhafte Schutzreflexe gestörte Atemmechanik Atemarbeit inadäquat – Erschöpfung Agitation – Selbstgefährdung schwere Verletzungen Schädel-Hirn-Trauma mit ungestörter Spontanatmung Schmerz – Distress
Erfahrungswerte aus der Luftrettung unterstreichen das Risikoprofil der endotrachealen Intubation. Die direkte Laryngoskopie wird insbesondere durch Blut, Erbrochenes oder Speichel im Oropharynx behindert. Relevante anatomische Probleme, vorbestehend oder traumatisch bedingt, werden zumindest in 15% der Fälle auch von erfahrenen Anästhesisten berichtet. Die Umgebungssituation einschließlich der Lichtverhältnisse, die Lagerung des Patienten und technische Probleme erschweren in ca. 20% die Intubation (Helm et al. 2006). Grundsätzlich ist auch für Anästhesisten die Wahrscheinlichkeit im Rettungsdienst einen schwierigen Atemweg vorzufinden um den Faktor 2–5 höher als im Operationssaal, wo optimale Bedingungen gegeben sind. Aus den erschwerten Intubationsbedingungen resultieren zwangsläufig Risiken wie eine Tubusfehllage, Verletzungen von Zähnen oder Weichteilen, Aspiration und Cardio-Vaskuläre Probleme (Lockey et al. 2015). Das Risiko eine Situation vorzufinden, die in einer „cannot ventilate – cannot intubate“ Situation mündet, steigt mit der Zahl der erfolglosen Intubationsversuche signifikant an. Konsequenterweise muss das Team des Rettungsmittels mit alternativen Atemwegshilfsmitteln bzw. -techniken vertraut und ein Algorithmus für das Management des schwierigen Atemwegs definiert sein (s. Abb. 1). Dieser ist auf die individuellen Erfahrungen mit den jeweiligen Alternativen (z.B. Larynxmaske vs. Larynxtubus) abzustimmen. Essenziell ist in jedem Algorithmus die zeitliche Beschränkung der Intubationsversuche unter strikter Vermeidung von Abfällen der arteriellen Sauerstoffsättigung unter 90%. In letzter Konsequenz ist auch der chirurgische Luftweg mittels Koniotomie zu diskutieren, wobei definierte Sets durch eine Koniotomie mit offenem Einführen eines Tubus mittels eines semi-rigiden Katheters (z.B. Frowa Katheter®, Gum elastic bougie) zunehmend abgelöst werden (Frerk et al. 2015).
Abb. 1
Algorithmus für den schwierigen Atemweg (präklinisch) (mit freundlicher Genehmigung von Dr. H. Trimmel, Abteilung für Anästhesiologie, Landesklinikum Wiener Neustadt)
4.2
Analgosedierung: Analgesie und Sedation – Zwei unterschiedliche Entitäten
Während Atemwegssicherung und kontrollierte Beatmung das Ziel verfolgt die Sauerstoffsättigung des Hämoglobins und somit den arteriellen Sauerstoffkontent zu erhöhen bzw. zu normalisieren, senken eine adäquate Analgesie und Sedation den Sauerstoffverbrauch. Die Reduktion oder Ausschaltung von Schmerz und Stress ist somit nicht nur eine ethische Verpflichtung, sondern auch eine wesentliche Maßnahme zur Optimierung des Verhältnisses von Sauerstoffangebot und -verbrauch. Dabei müssen die beiden Entitäten Analgesie und Sedation differenziert betrachtet und nicht
zwangsläufig kombiniert werden. Durch eine am Schmerzniveau orientierte Verabreichung von Opioiden kann häufig auf eine zusätzliche Sedation verzichtet werden. Das bedeutet, dass die Dosismenge dem Schmerzniveau und nicht an vermeintliche Höchstgrenzen angepasst werden muss. Die Angst vor einer Atemdepression ist dabei meist unbegründet und muss auch davon unabhängig im Anlassfall beherrscht werden können. Im Notarztdienst geeignet sind Morphium oder synthetische Opioide wie Fentanyl. Ein weiterer Vorteil einer suffizienten Analgesie ohne Sedation ist der kooperative und kommunikationsfähige Patient. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wird im Rettungsdienst noch immer eine Oligoanalgesie beobachtet. Entsprechend des Verletzungsmusters oder der Erkrankung kann alternativ oder ergänzend eine Sedation erforderlich sein. Beispielhaft sind dabei für den Patienten extrem belastende Situationen wie eine technische Rettung, Verbrennungen, verstümmelnde Verletzungen, Repositionsmaßnahmen oder eine akute Erstickungsangst zu nennen. Insbesondere in letzterem Fall kann eine Sedation oder verzögerte Narkoseeinleitung (Delayed Sequence Induction) zur Re-Oxygenation vor Narkoseeinleitung zwingend notwendig sein, um eine entsprechende Toleranz des Patienten zu erzielen. Eine geeignete Substanzklasse sind in diesem Zusammenhang die Benzodiazepine. Ketamin als dissoziatives Anästhetikum mit einer großen therapeutischen Breite kann in niedriger Dosierung von 0,5 mg/kg Körpergewicht als Analgetikum, in höherer Dosierung bis max. 2 mg/kg i.v. als Hypnotikum eingesetzt werden. Das psychomimetische Nebenwirkungsprofil erfordert eine begleitende Sedation. Ketamin ist für kurze schmerzhafte Interventionen oder zur Überbrückung der Phase bis zur Narkoseeinleitung bei erschwerten technischen Rettungsaktionen von großem Vorteil. Ein großzügiger Einsatz als Basisanalgetikum hat jedoch immer den Nachteil, dass Patienten nur mehr eingeschränkt neurologisch beurteilbar sind und fallweise über unangenehme Halluzinationen berichten. Zusammengefasst sollten die beiden Komponenten Analgesie und Sedation differenziert betrachtet und patientenadaptiert titriert werden. Auch wenn Standardkonzepte vereinfachen und Ketamin scheinbar die größten Vorteile im notfallmedizinischen Setting bietet, benötigt jeder Patient eine angepasste Therapie. Unter erschwerten Einsatzbedingungen
gilt dies umso mehr. Wenn eine erhaltene Kontaktfähigkeit unter bestimmten Umständen, wie z.B. einer längeren Rettung aus unwegsamem Gelände, das einzige und aussagekräftigste Monitoring ist, wird eine differenzierte Medikation zwingend.
4.3
Prä-oxygenation, apnoeische Oxygenation und Reoxygenation – Immer unverzichtbar
Der Stellenwert von Narkoseeinleitung und endotrachealer Intubation am Notfallort ist nicht unumstritten. Gesichert ist hingegen, dass ein Abfall der Sauerstoffsättigung bzw. eine temporäre Hypoxämie ebenso wie eine Hypooder Hyperventilation mit einer höheren Mortalität vergesellschaftet sind. Folglich müssen alle Anstrengungen unternommen werden, um vor Narkoseeinleitung zumindest eine erhöhte alveoläre Sauerstoffkonzentration zu erzielen und die Sauerstoffsättigung sowie den arteriellen Sauerstoffpartialdruck zu optimieren. Dies wird mit der Präoxygenation erreicht, bei der sinnvollerweise zwei Entitäten unterschieden werden. Erstens, durch eine Erhöhung des Sauerstoffangebotes soll die Sauerstoffsättigung möglichst an 100% angenähert werden. Zweitens soll zur Erhöhung der alveolären Sauerstoffkonzentration eine möglichst vollständige De-Nitrogenisierung bzw. ein Auswaschen des Stickstoffes aus der Lunge erreicht werden. Letzteres ist von herausragender Bedeutung, da die funktionelle Residualkapazität der Lunge (FRC) der entscheidenden Sauerstoffspeicher unseres Organismus ist. Somit stehen unter der Annahme einer normalen FRC des Erwachsenen bei Raumluft 21% von 2.500 ml, also 525 ml zur Verfügung. Bei einem Sauerstoffverbrauch von ca. 250 ml/min bedeutet dies, dass die Sauerreserve in maximal 2 Minuten vollständig aufgebraucht ist. Eine entsprechende Anhebung der Sauerstoffkonzentration in der FRC verlängert die Zeit bis zur Entsättigung signifikant, beim Lungengesunden unter Idealbedingungen bis auf maximal 10 Minuten. Eine vollständige De-Nitrogensierung erfordert jedoch ausreichend Zeit (mindestens 3 Minuten) und ein inspiratorisches Sauerstoffangebot von 100% mittels einer dicht sitzenden Beatmungsmaske. Beides ist unter den Erfordernissen einer Notfallnarkose nur schwer realisierbar bzw. aufgrund des Verletzungsmusters oder der
Erkankungsschwere unmöglich. Dennoch sollten beim kooperativen Patienten zumindest 8 tiefe Atemzüge innerhalb 60 sec erfolgen. Bei unkooperativen, agitierten Patienten ist eine sequenzielle Narkoseeinleitung anzustreben und zunächst Toleranz für die Präoxgenation herzustellen. In diesem Kontext ist Ketamin eine geeignete Option, da die Spontanatmung erhalten bleibt. Nach Narkoseeinleitung und Muskelrelaxation ist bis zum Eintritt optimaler Intubationsbedingungen ein Atemstillstand zu erwarten. In diesem Zeitfenster von 30–60 Sekunden ist durch eine apnoeische Oxygenation einem Sättigungsabfall entgegenzuwirken. Dies kann mit einer dichtsitzenden Beatmungsmaske und einem Beatmungsbeutel mit Sauerstoffreservoir erfolgen. Zusätzlich effektiv ist ein positiver endexspiratorischer Druck (PEEP) um kollabierte alveolärer Bezirke zu eröffnen. In der Phase der Laryngoskopie und Intubation kann zusätzlich eine Sauerstoffnasensonde zur Anwendung kommen. Die Etablierung und das strikte Einhalten eines Prä-oxygenationsalgorithmus verbessern den Intubationserfolg und reduziert das Risiko einer Hypoxämie signifikant (s. Abb. 2) (Weingart et al. 2015). Die Phase nach erfolgreicher Atemwegssicherung gilt der Re-oxygenation sofern es zu einem Abfall der Sauerstoffsättigung gekommen ist. Hier muss die Beatmungsstrategie der zugrundeliegenden Pathologie angepasst werden. Bei stabilem Kreislauf kann ein alveoläres Recruimentmaneuver (erhöhte Inspirationsdrücke bei langsamem Druckaufbau und verlängerter inspiratorischer Plateauphase) ebenso wie eine entsprechende Anpassung des PEEP eine geeignete Maßnahme sein.
Abb. 2
Delayed sequence induction algorithm (modifiziert nach Weingart et al. 2015)
4.4
Narkoseeinleitung – Einfache, aber individualisierte Konzepte
Jede Narkoseeinleitung ist unter Notfallbedingungen von erheblichen Risiken begleitet. Ein problematisches Umfeld potenziert das Risiko eines erschwerten Atemwegsmanagements und des Erkennens sowie Behandelns von Kreislaufnebenwirkungen. Neben der Problematik des Zugangs zum Patienten, einer ggf. suboptimalen Kopfpositionierung mit dem Risiko einer erschwerten Maskenbeatmung und Laryngoskopie, den limitierten Möglichkeiten der klinischen Untersuchung und der beschränkten Informationen durch das Notfallmonitoring, müssen die Cardio-vaskulären Effekte der Narkoseeinleitung berücksichtigt werden. Als Konsequenz einer oberflächlichen Anästhesie bzw. einer Unterdosierung der Medikamente kann es zu erheblichen Blutdruckanstiegen kommen. Im Umkehrschluss muss insbesondere bei hypovolämen Patienten mit kritischen Blutdruckabfällen gerechnet werden, die das Outcome signifikant verschlechtern können. Ein mögliches, gewichts- und kreislaufadaptiertes Protokoll mit einer guten hämodynamischen Stabilität haben zuletzt Lyon und Coautoren publiziert (Lyon et al. 2015). Hier wird ein 3–2–1 Dosisschema (3 mcg/kg Fentanyl, 2 mg/kg Ketamin und 1 mg/kg Rocuronium) beim normotonen und somit vermutlich normovolämen Patienten und ein 1–1–1 Dosisschema (1 mcg/kg Fentanyl, 1 mg/kg Ketamin und 1 mg/kg Rocuronium) beim schockierten Patienten vorgeschlagen. Davon unberührt ist klinische Routine und Erfahrung im Umgang mit Hypnotika, Analgetika und Relaxantien zwingend erforderlich, um eine Narkose sicher einleiten zu können. Bei entsprechender Kenntnis und Erfahrung können auch andere Substanzen sinnvoll eingesetzt werden.
4.5
Atemwegsmanagement in extremis – Tactical Combat Care Guidelines
Kriegsmedizin ist Notfallmedizin unter Extremsituationen. In den letzten Jahren ist es zu einem intensiven Austausch an Erfahrungen und Therapieansätzen zwischen der zivilen und militärischen Notfallmedizin gekommen. Das steigende Risiko von Terroranschlägen legt eine Auseinandersetzung mit den Überlegungen und Vorgehensweisen der Militärmediziner nahe. Im Kontext der Versorgung von Soldaten im Kampfeinsatz werden drei verschiede Einteilungen getroffen.
Erstmaßnahmen während einer Kampfhandlung (Care Under Fire), die Behandlungslogistik im erweiterten Kampfgebiet ohne direkte Verwicklung in den Kampfeinsatz (Tactical Field Care), und die medizinische Versorgung auf dem Transport in das nachgeordnete Behandlungszentrum (Tactical Evacuation Care). Im Kontext des Atemwegsmanagements wird die Vorgangsweise den jeweiligen Umständen angepasst. Während unmittelbarer Kampfhandlungen muss jede Form der Atemwegssicherung zurückgestellt werden. Eine erhaltene Spontanatmung ist folglich eine Grundvoraussetzung für das Überleben. Tactical Field Care fokussiert auf Lagerungsmanöver, manuelles Offenhalten der Atemwege und den Einsatz einfachster Hilfsmittel wie einen naso-pharyngealen Tubus. Führen diese Maßnahmen nicht zum Erfolg ist eine Konitomie zu erwägen. Für die Tactical Evacuation Care können dann ein supra-glottischer Atemweg sowie die endo-tracheale Intubation erwogen werden. Atemwegsprobleme bedingen ca. 12% der Todesfälle im Kampfeinsatz. Die Häufigkeit der Notfallkonitomie im militärischen Umfeld ist mit ca. 2% gering, davon sind 68–82% erfolgreich jedoch mit einer Mortalität von 66% vergesellschaftet. Wie können militärische Handlungsempfehlungen und Erfahrungswerte in die zivile Notfallmedizin übertragen werden? Zum Ersten werden spezielle Situationen wie ein Einklemmungstrauma mit einem primär nicht erreichbaren Patienten oder eine Crash-Bergung aus einer Gefahrensituation ebenfalls ein Atemwegsmanagement verunmöglichen. Zweitens, bis geeignete Bedingungen für eine erweiterte, standarisierte Atemwegsicherung geschaffen werden können, kann ein manuelles Offenhalten der Atemwege (Esmarch-Handgriff) mit unmittelbarer Atemkontrolle ausreichend sein. Zuletzt gilt sowohl im militärischen als auch im zivilen Rettungseinsatz der Grundsatz „treat first what kills first“. Quantitativ steht hier die Beherrschung einer Blutungssituation und die Entlastung eines Spannungspneumothorax im Vordergrund.
4.6
Atemwegsmanagement im alpinen Umfeld – Entscheidungsfindung in der Bergrettung
Der alpine Rettungseinsatz ist gekennzeichnet von drei typischen Problemstellungen. Erstens, die Beurteilung und Erstversorgung in
schwierigem Gelände mit zusätzlichen Risiken wie Absturz- oder Steinschlaggefahr, Kälteexposition und Zeitdruck. Zweitens, die Durchführung der unmittelbaren Rettung aus der Gefahrensituation bzw. dem ausgesetzten Gelände. Diese kann terrestrisch oder auch mittels einer Hubschrauberwindenbergung erfolgen. Hier kann eine unmittelbare Kontrolle des Atemwegs vorübergehend nicht möglich sein. Drittens, der Abtransport des Patienten. Ist eine Hubschrauberrettung nicht möglich müssen ggf. terrestrische Rettungszeiten auch über mehrere Stunden in Kauf genommen werden. Dies bedeutet, dass medizinische Ressourcen wie Medikamente und Sauerstoff limitiert sind und eine kontrollierte Beatmung nicht mit der erforderlichen Qualität sichergestellt werden kann. Somit gilt, dass die Indikation zur Notfallnarkose, Intubation und Beatmung unter Berücksichtigung von Ressourcen, Transportdauer und -risiken äußerst zurückhaltend gestellt werden muss. Die Überlegungen zur Indikationsstellung im alpinen Rettungseinsatz sind in Tabelle 1 zusammengefasst. Die Kälteexposition ist weitere Problematik, die nicht nur auf das alpine Umfeld beschränkt ist. Bei kritisch niedrigen Temperaturen ist die klinische Beurteilung und Untersuchung von Notfallpatienten erschwert oder sogar unmöglich. Die Anlage eines iv. Zugangs ist um ein Vielfaches schwieriger. Infusionslösungen und iv. Medikamente können häufig nicht verabreicht werden. Zusätzlich verändert sich das Materialverhalten von Kunststoffen und somit Atemwegshilfsmittel wie Endotrachealtuben, Larynxmasken oder -tuben. Unter Kälteexposition geht die Elastizität von Endotrachealtuben verloren, was die Intubation erschweren oder sogar verunmöglich kann. Die Steckverbindung zwischen Tubus und Beatmungsbeutel wird ebenfalls instabil und locker. Als Konsequenz muss somit entweder eine Rettung ohne Atemwegssicherung unter erhaltener Spontanatmung erfolgen, oder aber die Besonderheiten einer Intubation unter extremer Kälte berücksichtigt werden. Dabei gilt es Maßnahmen abzustimmen wie z.B. einen Einsatzrucksack nur kurzzeitig zu öffnen und einen vorbreiteten Tubus körpernahe warmzuhalten. Medikamente werden mit einem Flüssigkeitsbolus eingeschwemmt da eine konventionelle Infusion nicht praktikabel ist oder entsprechende Wärmegeräte benötigt werden. Zusammengefasst erfordert die alpine Notfallmedizin nicht nur Expertise,
sondern auch eine zusätzliche Ausbildung. Das Internationale Komitee für das Alpine Rettungswesen erarbeitet und publiziert in diesem Kontext Behandlungsleitpfade (IKAR)(Paal et al. 2016).
4.7
Der eingeklemmte Patient – Erfahrungswerte mit alternativen Atemwegen
Eine typische Extremsituation ist die medizinische Versorgung einer eingeklemmten Person während der technischen Rettungsphase aus einem Fahrzeug oder einer technischen Anlage (s. Abb. 3 u. 4). Die Erstversorgung wird durch die Erreichbarkeit bzw. den Möglichkeiten am und mit dem Patienten zu arbeiten bestimmt. Wenn immer möglich sollte Spontanatmung erhalten werden. Analgesie und Sedation sind entsprechend auf die erforderliche Rettungszeit abzustimmen. Ein Atemstillstand und eine kritische Hypoventilation erfordert ein manuelles Offenhalten der Atemwege oder die Durchführung eine Atemwegssicherung. Dabei ist offensichtlich, dass eine direkte Laryngoskopie bzw. endotracheale Intubation die vermeintlich schwierigste Option ist. Die Verwendung von Videolaryngoskopen kann die Intubation signifikant erleichtern.
Abb. 3
Maskenbeatmung eines eingeklemmten Patienten (mit freundlicher Genehmigung von Dr. H. Trimmel)
Abb. 4
Rapid Sequence Induction und endotracheale Intubation (mit freundlicher Genehmigung von Dr. H. Trimmel)
In Algorithmen zum erwarteten bzw. nicht erwarteten schwierigen Atemweg hat die Empfehlung zum frühzeitigen Einsatz von extraglottischen Atemwegen wie der Larynxmaske oder dem Larynxtubus eine besondere Rolle eine hohe Gewichtung. In Simulationen zeigt sich, dass die Anlage eines extraglottischen Atemwegs nicht nur sicherer, sondern auch schneller eine Re-oxygenation ermöglicht und der Intubation überlegen ist. Im Rahmen der kardiopulmonalen Reanimation hat der Einsatz von extraglottischen Atemwegen einen besonderen Stellenwert. Zum Ersten ist die Durchführung dieser Maßnahme durch nicht ärztliches Sanitätspersonal etabliert und anerkannt. Zum Zweiten kann durch eine unmittelbare Sicherung des Atemwegs das Risiko einer Aerosolkontamination signifikant reduziert werden. Vor dem Hintergrund der COVID-19Pandemie haben Rettungsdienste ihre Atemwegsmanagementstrategien entsprechend angepasst. An dieser Stelle muss nochmals betont werden, dass nach erfolgreicher Atemwegssicherung Normoventilation und Normoxygenation sichergestellt werden muss. Der Durchführung der Kapnographie ist zwingend, die Anpassung der insipratorischen Sauerstoffkonzentration ebenfalls. Eine Vielzahl von Untersuchungen belegen, dass die Mehrzahl der Patienten, insbesondere nach Schädel-Hirn-Trauma, nicht korrekt beatmet ist. Zuletzt bleibt bei dieser Patientengruppe in einer „cannot ventilate – cannot intubate“ Situation die Frage nach einem chirurgischen Luftweg. Neuere
Richtlinien favorisieren die offene Koniotomie mit nachfolgender Positionierung eines Tubus über einen Mandrin (Frerk et al. 2015). Unstrittig ist, dass die Durchführung einer Koniotomie auch unter idealen Bedingungen technisch anspruchsvoll ist. In einer Einklemmungssituation gilt dies umso mehr und erfordert Erfahrung sowie entsprechendes Training.
4.8
Videolaryngoskopie – trainingsintensiver Standard auch im Rettungsdienst
Eine Vielzahl von Studien demonstriert mittlerweile die Überlegenheit der Videolaryngoskopie hinsichtlich der Visualisierung der Glottis. Das Handling der Tubuspositionierung kann jedoch auch bei guter Darstellung der Stimmritze schwierig sein und erfordert prinzipiell den Einsatz eines Führungsstabes. In den Skandinavischen Empfehlungen zum Prähospitalen Airway Management soll die Videolaryngoskopie bei einem erwartet schwierigen Atemweg erwogen werden bzw. unmittelbar zum Einsatz kommen, wenn die direkte Laryngoskopie nicht möglich ist (Rehn et al. 2016). Im Umkehrschluss sollte beim Versagen der Videolaryngoskopie spätestens im 3. Versuch auf eine direkte Laryngoskopie gewechselt werden. Mit dieser Strategie konnten 99,7% aller Patienten im Rahmen einer randomisierten präklinischen Studie erfolgreich intubiert werden (Trimmel et al. 2016). Als logische Konsequenz sind Videolaryngoskope, die die Vorteile eines konventionellen McIntosh Spatel mit der Videooption vereinen für den besonderen Einsatz im Rettungsdienst geeignet. Mit einer wachsenden Anzahl an Publikationen wird deutlich, dass auch die Videolaryngoskopie eine schulungs- und trainingsintensive Maßnahme ist, die entsprechend klinische Routine erfordert. Ähnlich wie für die direkte Laryngoskopie und die extra-glottischen Atemwege wird eine Lernkurve für die Videolaryngoskopie formuliert. Zusätzlich bestehen Limitierungen wie technische Probleme, eine behinderte Sicht durch Blut, Sekret oder Erbrochenes oder ein grelles Umgebungslicht. Letzter Punkt gilt auch für die direkte Laryngoskopie, bei der zur Anpassung der Sichtbedingungen bereits vor und während der Intubation ggf. eine Decke über den Behandler
und Patienten ausgebreitet werden muss, um die Sonneneinstrahlung auszuschalten.
4.9
Der Chirurgische Luftweg – vereinfachte Strategie
Nicht zuletzt durch die Erfahrungen aus der Kriegsmedizin und dem besonderen Einsatzspektrum der Luftrettung in London angestoßen, wird die Durchführung invasiver, chirurgischer Maßnahmen im präklinischen Setting vermehrt diskutiert, ausgebildet und auch durchgeführt. Als Ultima Ratio Intervention ist der chirurgische Luftweg fester Bestandteil in jedem Atemwegsmanagement Algorithmus. Obschon an Simulationsmodellen in gewissem Umfang trainierbar, reiht sich die Coniotomie in das Spektrum der seltenen, nur bedingt beherrschten invasiven Maßnahmen ein. Die Vereinfachung der Handlungsempfehlung und Reduktion des erforderlichen Materials auf ein effizientes Minimum bestehend aus Skalpell, einem Bougie und einem Spiraltubus (6.0 mm) hat sich hier bewährt. Es ist unstrittig, dass die Coniotomie einen festen Stellenwert im Atemwegsmanagement hat und eine essenzielle Strategie für das Atemwegsmanagement unter Extremsituationen darstellt.
4.10 Fazit Die Notwendigkeit eines Atemwegsmanagements unter präklinischen Extremsituationen ist selten. Die erforderliche Kompetenz muss im klinischen Umfeld erworben und aufrechterhalten werden. Das gilt für manuelle Fertigkeiten ebenso wie für den Umgang mit Analgetika, Sedativa, Hypnotika und Relaxantien. Von zentraler Bedeutung ist die Indikationsstellung zur Atemwegssicherung unter der Berücksichtigung der persönlichen Kompetenz und der Umgebungssituation. In komplexen Situationen wie Einklemmungstraumen mit beschränktem Zugang zum Patienten, einer Selbstgefährdung im alpinen Umfeld, Kälteexposition oder auch grellem Umgebungslicht sollte solange wie möglich die Spontanatmung aufrechterhalten werden. Im Atemwegsmanagement sind die Maßnahmen der Präoxygenation, der apnoeischen Oxygenation und der Re-oxygenation von entscheidender Bedeutung und Bestandteil jeder
Atemwegssicherung. Ein Atemwegsalgorithmus sollte Auswahl und Abfolge alternativer Atemwegszugänge und Vorgehensweisen definieren. In letzter Konsequenz kann der chirurgische Luftweg trotz einer relevanten Komplikationsrate indiziert sein.
Literatur Frerk C, Mitchell VS, McNarry AF, Mendonca C, Bhagrath R, Patel A, et al. (2015) Difficult Airway Society 2015 guidelines for management of unanticipated difficult intubation in adults. British journal of anaesthesia 115(6), 827–848 Helm M, Hossfeld B, Schäfer S, Hoitz J, Lampl L (2006) Factors influencing emergency intubation in the pre-hospital setting – a multicentre study in the German Helicopter Emergency Medical Service. British journal of anaesthesia 96(1), 67–71 Lecky F, Bryden D, Little R, Tong N, Moulton C (1996) Emergency intubation for acutely ill and injured patients. Chichester, UK: John Wiley & Sons, Ltd Lockey DJ, Healey B, Crewdson K, Chalk G, Weaver AE, Davies GE (2015) Advanced airway management is necessary in prehospital trauma patients. British journal of anaesthesia 114(4), 657–662 Lyon RM, Perkins ZB, Chatterjee D, Lockey DJ, Russell MQ, Kent, Surrey & Sussex Air Ambulance Trust (2015) Significant modification of traditional rapid sequence induction improves safety and effectiveness of pre-hospital trauma anaesthesia. Critical care (London, England) 19(1), 134 Paal P, Gordon L, Strapazzon G, Brodmann Maeder M, Putzer G, Walpoth B, et al. (2016) Accidental hypothermia – an update: The content of this review is endorsed by the International Commission for Mountain Emergency Medicine (ICAR MEDCOM). Scandinavian Journal of Trauma, Resuscitation and Emergency Medicine 24(1), 111 Rehn M, Hyldmo PK, Magnusson V et al. (2016) Scandinavian SSAI clinical practice guideline on prehospital airway management. Acta Anaesthesiologica Scandinavica 60, 852–64 Trimmel H, Kreutziger J, Fitzka R et al. (2016) Use of the GlidescopeRanger Videolaryngoscope for emergency intubation in the prehospital setting: A randomized Control Trial. Critical Care Medicine Weingart SD, Trueger NS, Wong N, Scofi J, Singh N, Rudolph SS (2015) Delayed sequence intubation: a prospective observational study. Annals of emergency medicine 65(4), 349–355
5
Reanimation unter schwierigen Bedingungen
Benno Wolcke
5.1
Einsatzbedingungen und Risikobewertung
Die „Reanimation unter schwierigen Bedingungen“ ist eine besondere Herausforderung an das Rettungsteam. Dabei können unterschiedliche Faktoren die spezielle Situation ausmachen (s. Tab. 1). Tab. 1
Schwierige Bedingungen bei der Reanimation
Gefahren für Helfer!
Absturz-, Explosionsgefahr, Exposition Umweltfaktoren – giftige Stoffe, etc.
Umgebungsbedingungen
Licht – Dunkelheit, Hitze – Kälte, Wind, Extremwetter
Zugang zum Patienten
kein, erschwerter oder nur eingeschränkter Zugang zum Patienten
Anzahl am Patienten verfügbarer Helfer
Platz- oder zugangsbedingt (z.B. Schacht), können evtl. nur ein oder zwei Helfer am Patienten arbeiten
Patientenposition
Rückenlage, hängend im Gurt, sitzend eingeklemmt, etc.
besondere Ursachen HerzKreislaufstillstand
Trauma, Hypothermie, etc.
Dabei besteht nicht nur eine Verantwortung für den Patienten, sondern auch für die Sicherheit des Rettungsteams. Selbst in vielleicht dramatischen Situationen (lebloser Patient) sind eine adäquate Awareness für Gefahren und kompromissloser Eigenschutz essenziell. Dies kann auch bedeuten, ggf. auf Reanimationsmaßnahmen zu verzichten. Stets ist dabei auch die Option der schnellen Dislokation des Patienten aus dem Gefahrenbereich zu berücksichtigen.
Vor allem dem Notarzt kommt bei der Versorgung eines Patienten mit HerzKreislaufstillstand bei besonderen Einsatzindikationen eine spezielle Verantwortung zu. Ziel ist es nicht nur suffiziente Reanimationsmaßnahmen durchzuführen. Vielmehr obliegt es auch der ärztlichen Verantwortung aussichtslose Situationen zu erkennen und sinnlose Maßnahmen zu unterbinden/abzubrechen, um Helfer nicht unnötig zu gefährden. Entsprechende Informationen müssen umgehend kommuniziert werden (Einsatzleiter/Rettungsteam), um eine unnötige Gefährdung von Helfern bei Rettungsversuchen zu verhindern (s. Abb. 1)!
Abb. 1
Allgemeines Vorgehen
Bezüglich der Kriterien für das Feststellen von „Aussichts- oder Sinnlosigkeit“ lassen sich zwei Gruppen unterscheiden. „Harte“ Kriterien, die allein für sich eindeutig und zweifelsfrei sind: sichere Todeszeichen,
Verletzungen, die nicht mit dem Leben vereinbar sind, 20 min Asystolie, trotz suffizienter CPR und ohne Vorliegen behandelbarer H’s (Hypoxie; Hypovolämie; Hypo-/Hyperkaliämie und metabolische Störungen; Hypothermie) und HITS (Herzbeuteltamponade; Intoxikation; Thromboembolie [koronar/pulmonal]; Spannungspneumothorax) oder gültige und auf die Situation anwendbare Patientenverfügung. Und solche Kriterien, die eine Betrachtung des Gesamtbildes erfordern, aus dem sich dann letztendlich die Aussichtslosigkeit der Situation ergibt. Dies erfordert in der Regel eine sorgfältige, verantwortungsvolle Betrachtung unter Einbeziehung aller Informationen – möglichst während der laufenden Reanimation. Im Zweifelsfall sind die Reanimationsmaßnahmen fortzusetzen: gesicherter Herz-Kreislaufstillstand und kein Zugang zum Patienten für Reanimationsmaßnahmen in adäquater Zeit möglich oder aussichtslose Prognose (Prognosefaktoren: Hypoxiezeit, Erkrankungen, Verletzungen, eingeschränkte Möglichkeit von Reanimationsmaßnahmen etc.; Cave: Sonderfall Hypothermie). Die Evaluation der Kriterien für das Feststellen von „Aussichts- oder Sinnlosigkeit“ darf keinesfalls zu Verzögerungen oder Reanimationspausen führen!
Die Faktoren, welche die „schwierigen Bedingungen“ ausmachen, können vielfältig und multipel sein. Die detaillierte Darstellung spezieller Situationen (Umgebungsbedingungen, Patientenzugang, Gefahren, Patientenposition, etc.) erfolgt in den jeweiligen Kapiteln. Im Folgenden wird auf die Wiederbelebung fokussiert: Zielsetzung (Was ist wirklich wichtig?), Lösungsansätze/Besonderheiten unter speziellen Bedingungen und besondere Ursachen für einen Herz-Kreislaufstillstand.
5.2
Reanimation allgemein – Was ist wirklich wichtig?
Die Eckpunkte der aktuellen Leitlinien zur Reanimation dürfen als bekannt vorausgesetzt werden. Die Abläufe und Empfehlungen, sowie die meisten Trainingsszenarios, fokussieren in der Regel auf den gut zugänglichen Patienten in Rückenlage und erlauben die Einbeziehung des kompletten Teams und des gesamten Portfolios möglicher Maßnahmen. Unter den beschriebenen „schwierigen Bedingungen“ sind die Möglichkeiten jedoch oft eingeschränkt und das Vorgehen nach „Standard“ greift evtl. nicht. Kompromisse und Improvisation können gefragt sein. Dazu ist es essenziell klare Prioritäten setzen zu können. Dies führt unweigerlich zu der Frage „Was ist wirklich wichtig?“ Also welche Maßnahmen haben bewiesenermaßen (Evidenz) einen positiven Einfluss auf das Outcome der Patienten, bzw. welche Maßnahmen sind essenziell dafür? Gemäß den 2021 publizierten Leitlinien haben ununterbrochene Thoraxkompressionen, die frühzeitige Defibrillation bei Kammerflimmern oder pulsloser ventrikulärer Tachykardie und die Behandlung vorliegender reversibler Ursachen (H‘s und HITS) Priorität. Gerade im Kontext „schwieriger Bedingungen“ kann Letzteren eine besondere Bedeutung zukommen (Hypothermie, Hypovolämie, Spannungspneumothorax, etc.). Dies wird unter anderem bei der Trauma-Reanimation berücksichtigt, wo deren Behandlung essenziell ist. Aber auch die Oxygenierung (Beatmung, Atemwegsmanagement) ist gerade bei prolongierten Reanimationsmaßnahmen wichtig und gehört ebenso wie die frühzeitige Adrenalingabe bei nicht schockbarem Rhythmus zu den ergänzenden Maßnahmen bei den fünf Kernaussagen. Reanimation unter „schwierigen Bedingungen“ – Was ist wirklich wichtig? Basismaßnahmen – insbesondere ununterbrochene, qualitativ hochwertige Thoraxkompressionen (aber auch adäquate Oxygenierung), frühzeitige/zeitgerechte Defibrillation bei defibrillationswürdigem Rhythmus und Behandlung reversibler Ursachen (H’s und HITS).
5.3
Reanimation unter schwierigen Bedingungen
Die Reanimation unter „schwierigen Bedingungen“ erfordert oftmals ein situationsadaptiertes Vorgehen bei dem die im Vorangehenden genannten Ziele im Fokus stehen. Die grundsätzliche Reanimationssequenz und die damit assoziierten Standardverfahren sollten dem Leser bekannt sein (die aktuellen Leitlinien sind unter www.grc-org.de verfügbar). Je nach Situation kann es erforderlich oder sinnvoll sein alternative Verfahren und Techniken einzusetzen. Die typischen Standardverfahren im Reanimationsablauf und die Alternativen mit ihren speziellen Vor- und Nachteilen werden in Tabelle 2 beschrieben. Neben diesen Verfahren/Techniken sei besonders im Kontext „schwieriger Bedingungen“ auf die nach Atemwegssicherung obligate Überwachung des endexpiratorischen CO2 mittels Kapnographie hingewiesen. Nicht nur zur Erfolgskontrolle der Atemwegssicherung, sondern auch zur fortlaufenden Kontrolle der korrekten Lage im Verlauf des Einsatzes, da von einer erhöhten Dislokationsgefahr auszugehen ist (ungewöhnliche Patientenposition, Transport, etc.). Auch die Effizienz der Reanimationsmaßnahmen kann so überwacht werden.
Tab. 2
Reanimation: Standardverfahren und Alternativen
++ Vorteile; –– Nachteile
5.4
Sonderfälle
Neben der klassischen Reanimationssituation mit der typischen Priorisierung von Maßnahmen finden sich auch Sonderfälle mit speziellen Ursachen oder Begleitumständen, die eine abweichende Priorisierung der Maßnahmen bedingen (zumindest zeitweise). Dies betrifft häufig die Notfallversorgung in Extremsituationen. Typische Beispiele sind das Trauma, Hypothermie und Lawinenverschüttungen. Im Folgenden werden die typischen Abweichungen und Besonderheiten stichwortartig zusammengefasst. Traumatisch bedingter Herz-Kreislaufstillstand Beim traumatischen Herz-Kreislaufstillstand kann es zu einer Verschiebung der Prioritäten kommen. Liegen trauma-assoziierte „reversible Ursachen“ vor (Hypovolämie, Hypoxie, Spannungspneumothorax, Perikardtamponade), so hat die unverzügliche Behandlung hohe Priorität (s. Abb. 2), da die parallel durchgeführten Thoraxkompressionen sonst wahrscheinlich unwirksam sind. Die reversiblen Ursachen sollen möglichst gleichzeitig behandelt werden: massive äußere Blutungen stillen, Atemwege sichern und Sauerstoffgabe, beidseitige Thoraxdekompression/Thorakostomie, ggf. Herzbeuteltamponade entlasten, ggf. proximaler Aortenverschluss (z.B. REBOA), Beckenschlinge und Flüssigkeitstherapie. Abhängig von Erfahrung, Expertise, Ausrüstung, Umgebung und Zeitfenster (nur < 15 min nach Herz-Kreislaufstillstand sinnvoll) kann bei penetrierenden Thoraxverletzungen eine Notfallthorakotomie indiziert sein. Wird mit suffizienter Behandlung der reversiblen Ursachen und fortlaufender Reanimation kein ROSC (Return of spontaneous circulation) erzielt, so ist zu überdenken inwieweit ein Fortführen der Maßnahmen sinnvoll ist (Abbruch CPR?).
Generell sollten präklinisch nur lebensrettende Maßnahmen durchgeführt werden und der Patient schnellstmöglich in eine geeignete Klinik transportiert werden.
Abb. 2
Reanimationssituation bei einem Verkehrsunfall (mit freundlicher Genehmigung der ADAC Luftrettung gGmbH)
Hypothermie Die Hypothermie führt zu einer Abnahme des Sauerstoffverbrauchs und somit zu einer erhöhten Toleranz gegenüber möglichen negativen Auswirkungen eines Herz-Kreislaufstillstands. So gibt es immer wieder spektakuläre Einzelfallberichte erfolgreicher Wiederbelebungen nach langen Phasen eines HerzKreislaufstillstands bei Hypothermie. Gleichzeitig ist aufgrund der stark minimierten Lebenszeichen eine Todesfeststellung meist unsicher. Im Zweifelsfall gilt: Niemand ist tot, so lang er nicht warm und tot ist. Es sei denn, es liegen ursächlich tödliche Verletzungen oder Erkrankungen vor oder die suffiziente Durchführung von Thoraxkompressionen ist nicht möglich. Das Atemwegsmanagement sollte nicht verzögert werden. Eine erhöhte Thorax-Rigidität kann die Thoraxkompressionen erschweren. Großzügige Indikationsstellung für mechanische Thoraxkompressionsgeräte. Bei einer Körperkerntemperatur < 30°C Medikamentengabe aufschieben und keine weiteren Defibrillationen, wenn drei Schocks
erfolglos waren: weitere Defibrillationen (sofern indiziert) erst, wenn eine Wiedererwärmung > 30°C erfolgt ist und Medikamentengabe ab 30°C mit doppeltem Dosierungsintervall und ab 35°C mit normalem Intervall. Können – z.B. im Rahmen der technischen Rettung – Thoraxkompressionen nicht kontinuierlich durchgeführt werden, so ist beim hypothermen Patienten mit Herz-Kreislaufstillstand das folgende Procedere zulässig: Körperkerntemperatur < 28°C (oder unbekannt): 5 min Reanimation im Wechsel mit ≤ 5 min Reanimations-Pause, Körperkerntemperatur < 20°C: 5 min Reanimation im Wechsel mit ≤ 10 min Reanimations-Pause und in gefährlicher Umgebung kann bei hypothermen HerzKreislaufstillstand ein verzögerter Reanimationsbeginn bis zur schnellen Rettung aus dem Gefahrenbereich erwogen werden. Der Patient sollte in ein ECLS-Zentrum („extracorporeal life support“) transportiert werden. Anmeldung! Ist ein Krankenhaus mit ECLS-Möglichkeit nicht innerhalb der nächsten Stunden zu erreichen, dann soll eine nicht-ECLSWiedererwärmung in einem peripheren Krankenhaus eingeleitet werden. Lawinenverschüttung Ergänzende Aspekte zur Hypothermie: Reanimationsmaßnahmen mit fünf Beatmungen beginnen. Das Beenden von Reanimationsmaßnahmen sollte erwogen werden, wenn tödliche Verletzungen vorliegen oder der Körper steif gefroren ist. Bei einer Verschüttungsdauer ≤ 60 min (oder einer Körpertemperatur ≥ 30°C) soll die Reanimation nach Leitlinien erfolgen. Bei einer Verschüttungsdauer > 60 min (oder einer Körpertemperatur < 30°C), einer Asystolie im EKG und einem
verlegten Atemweg (Schnee/Eis) ist ein Überleben unwahrscheinlich. Bei Lawinenverschüttung (s. Abb. 3) immer an Begleitverletzungen denken.
Abb. 3
Reanimation durch RTH-Notarzt und Skitourengeher bei Patientin nach kurzzeitiger Lawinenverschüttung (Foto: Matthias Ruppert)
Auf den Punkt gebracht Eigenschutz! Dem Notarzt obliegt nicht nur die medizinische Versorgung des Patienten, sondern auch die Verantwortung, aussichts- und sinnlose Maßnahmen abzubrechen, damit Helfer nicht unnötig gefährdet werden. Die Reanimation unter „schwierigen Bedingungen“ kann den Einsatz alternativer Techniken/Verfahren erfordern. Dabei ist auf die in den Leitlinien definierten Prioritäten zu fokussieren: Basismaßnahmen, insbesondere ununterbrochene, qualitativ hochwertige Thoraxkompressionen (und adäquate Oxygenierung), frühzeitige/zeitgerechte Defibrillation bei defibrillationswürdigem Rhythmus und Behandlung reversibler Ursachen (H’s und HITS). Bei speziellen Sonderfällen (Trauma, Hypothermie, Lawinenverschüttung) ergeben sich Abweichungen vom StandardProtokoll.
Literatur Böhmer R, Schneider T, Wolcke B (2020) Taschenatlas Rettungsdienst, 11. Auflage, Böhmer & Mundloch Verlag Lott C, Truhlář A, Alfonzo A, Barelli A, González-Salvado V, Hinkelbein J, Nolan J, Paal P, Perkins G, Thies K, Yeung J, Zideman D & Soar J (2021) Kreislaufstillstand unter besonderen Umständen (Leitlinien des European Resuscitation Council 2021). Notfall Rettungsmed 24: 447–53 Soar J, Böttiger B, Carli P, Couper K, Deakin C, Djärv T, Lott C, Olasveengen T, Paal P, Pellis T, Perkins G, Sandroni C & Nolan J (2021) Erweiterte lebensrettende Maßnahmen für Erwachsene (Leitlinien des European Resuscitation Council 2021). Notfall Rettungsmed 24: 406–446
CASE REPORT: Penetrierendes Trauma mit Kreislaufstillstand und erfolgreicher Reanimation
Matthias Ruppert und Michael Bayeff-Filloff
Einsatzbeschreibung Die Alarmierung des Rettungshubschraubers (RTH) erfolgte um 16:35 Uhr zu einem Einsatz, der bereits aufgrund der ungewöhnlichen Angaben im Freitext der Alarmierung auf eine dramatische Situation schließen ließ. In diesem hieß es, es sei „[…] alles voller Blut […]“ (s. Abb. 1).
Abb. 1
Einsatzmonitor der ADAC Luftrettung (mit freundlicher Genehmigung der ADAC Luftrettung gGmbH)
Während des etwa 12-minütigen Anfluges erfolgte bereits ein ausführliches Briefing im Hinblick auf Eigenschutz, infrage kommende Zielkliniken und eine mögliche Indikationsstellung zu einem forcierten Transport im Sinne eines scoop and run, da ein penetrierendes Trauma wahrscheinlich erschien.
Die Landung konnte in unmittelbarere Nähe zum Einsatzort, einem Einfamilienhaus, erfolgen. Bei Annäherung an die Einsatzstelle erkannte das RTH-Team eine größere Zahl vergleichsweise entspannt wirkender Polizisten (sodass offensichtlich nicht mehr von einer Gefahrensituation ausgegangen werden musste) und im Bereich der Einfahrt zum Grundstück die Teams von Notarzteinsatzfahrzeug (NEF) und Rettungswagen (RTW) um einen Patienten, der sich bereits auf der Trage befand. Aus der zielgerichtet knappen Übergabe ergab sich, dass der etwa 50jährige Patient sich in offensichtlich suizidaler Absicht mit einem Jagdmesser mindestens sechs Messerstiche im Bereich Thorax/Abdomen zugefügt hatte, ohne dass die Anzahl exakt eruiert werden konnte. Zudem hatte er sich wohl mit einer Gartenschere beide Ellenbeugen eröffnet. Die äußeren Blutungen an beiden oberen Extremitäten waren suffizient mit einem Tourniquet rechts und einem Verband links versorgt; ein sog. Thoraxverschlusspflaster war über einer Einstichstelle am linken Brustkorb platziert worden. Der Patient war bedingt kontaktfähig, aktuell unter Sauerstoffinhalation respiratorisch nicht gravierend kompromittiert und eine periphere Sauerstoff-Sättigung mit einem Wert um 94% konnte abgeleitet werden; einmalig war palpatorisch ein Blutdruck von etwa 70 mmHg systolisch messbar. Ein IV-Zugang war am linken Handrücken etabliert. Unter diesem Eindruck wurde die Entscheidung zum sofortigen Transport ohne weitere Intervention im Sinne eines scoop and run getroffen. Der Patient wurde schnellstmöglich umgelagert und an die Monitoring-Einheit des RTHs angeschlossen – inkl. endexspiratorischer Kohlendioxidmessung unter Spontanatmung. Eine der kritischen Situation entsprechende Anmeldung in der Zielklinik wurde initiiert. Die on-scene-time bis zum Start des RTH betrug acht Minuten, die folgende Transportzeit in die Schwerpunktklinik weitere neun Minuten. Sofort nach dem Start wurden die Medikamente Adrenalin, Ketamin und Succinylcholin sowie die Intubation vorbereitet, mit dem Ziel auf eine weitere Verschlechterung der Vitalfunktionen reagieren zu können. Tatsächlich kam es im Landeanflug zum Sistieren der Spontanatmung, dem
Verlust des peripheren Sättigungssignals und damit zu einer anzunehmenden pulslos-elektrischen Aktivität (PEA) bei erhaltenem Sinusrhythmus mit einer Frequenz um 140/min – ein zentraler Puls konnte nicht getastet werden. Es erfolgte die Verabreichung des Muskelrelaxans, der Beginn einer behelfsmäßigen Thoraxkompression und – nach erwartungsgemäß verlängerter Anschlagszeit des Relaxans – die problemlose endotracheale Intubation noch im Flug. Mit Ausladen des Patienten wurde ein Thoraxkompressionssystem installiert, Adrenalin verabreicht und der Patient so zügig wie möglich in den Schockraum der Klinik transferiert. Die stationäre Aufnahme dort ist um 17:19 Uhr dokumentiert (s. Abb. 2).
Abb. 2
Aufnahme des Patienten im Schockraum der Zentralen Notaufnahme (mit freundlicher Genehmigung der ADAC Luftrettung gGmbH)
Klinische Versorgung Im Zuge der Schockraumversorgung wurden zwei Stichwunden am ventralen, kaudalen Hemithorax links sowie zwei Stichwunden im linken Oberbauch, eine Stichwunde epigastrisch und eine Stichwunde im rechten Oberbauch identifiziert. Bei abgeschwächtem Atemgeräusch erfolgte die
notfallmäßige Entlastung des Thorax in Monaldi-Position beidseits sowie danach die Anlage einer Thoraxdrainage in Bülau-Position rechts und Monaldi-Position links. Simultan erfolgte die Anlage eines intraossären Zugangs an der linken Tibia, eines ZVK (V. subclavia rechts), die Transfusion von 6 EKs (0-negativ), 1 l kolloidaler Infusionslösungen, 1 g Tranexamsäure, 4 g Fibrinogen, 2.000 IE PPSB. Nach Abnahme des Tourniquets und des Druckverbandes erfolgte die Sichtung tiefer Schnittwunden kubital beidseits sowie Anlage neuer Druckverbände an den Ellenbeugen sowie eines Folienverbandes über den thorakalen und abdominalen Messerstichverletzungen. Alle Maßnahmen erfolgten unter kontinuierlicher Fortführung der Reanimation. Eine Indikation zur unmittelbaren Thorakotomie oder Laparotomie wurde nicht gestellt, insbesondere nachdem bei dem Patienten gegen 17:40 Uhr ein Spontankreislauf einsetzte und damit die Diagnostik im CT direkt neben dem Schockraum vor der weiteren Versorgung im OP angestrebt werden konnte. Im nativen Schädel-CT ergab sich ein unauffälliger Hirnparenchym-Befund ohne Hinweise auf Hypoxie-Folgen. Im CT des Abdomens konnten Parenchym-Verletzungen des linken Leberlappens mit einer aktiven Blutung sowie weitere aktive Blutungen ventral des Magens und subphrenisch bei insgesamt deutlich hämorrhagischem Aszites nachgewiesen werden; es ergaben sich keine zwingenden Hinweise auf eine Hohlorganperforation oder eine Zwerchfellverletzung. Im CT des Thorax zeigten sich bei einliegenden Thoraxdrainagen beidseits minimale RestPneumothoraces sowie ein unauffälliger Befund des Herzens und des Mediastinums. Intraoperativ wurden die sechs penetrierenden Messerstichverletzungen versorgt. Am linken Leberlappen zeigte sich eine etwa 3 cm lange Stichverletzung, die koaguliert werden konnte. Bei stärkeren, aktiven Blutungen aus dem durchstochenen Netz mussten hier Teile reseziert werden. Milz, Magen und Darm waren intakt. Bei Revision der tiefen Schnittwunden cubital zeigte sich jeweils eine Durchtrennung der V. basilica. Intraoperativ wurden u.a. noch 6 FFPs und ein weiteres EK transfundiert.
Postoperativ erfolgte die Übernahme auf die operative Intensivstation. Der Patient konnte am Folgetag extubiert werden, die Katecholamin-Therapie wurde bis zum vierten postoperativen Tag ausgeschlichen. Am fünften Tag nach dem Ereignis erfolgte die Verlegung in eine psychiatrische Klinik zur Weiterbehandlung.
Bewertung/Fazit Penetrierende Verletzungen durch Stich- oder Schussverletzungen mit einem kritischen hämorrhagischen Schock sind im mitteleuropäischen Rettungsdienst glücklicherweise (noch) eine Rarität – zumindest bezogen auf den einzelnen Mitarbeiter. Derartige Situationen sind aber wahrscheinlich das „Parade-Beispiel“, in denen die schnellstmögliche Kausaltherapie im Sinne der operativen oder interventionellen Blutstillung von höchster Priorität ist und damit ein „Umschalten“ von üblichen präklinischen Strategien erfordert. Die Teams von NEF und RTW folgten konsequent der Versorgungsstrategie gemäß „cABCDE“ – das heißt, dass dem üblicherweise ersten Schritt der Evaluation des Atemweges („A“) als erste Maßnahme die Stillung kritischer äußerer Blutungen vorangestellt wird („c“). Sofern nicht in Ausnahmefällen bereits präklinisch die Therapieoption einer Notfall-Thorakotomie besteht, bleibt die Kontrolle innerer Blutungen weitestgehend der innerklinischen Versorgung vorbehalten. In der Konsequenz muss in solchen kritischen Situationen der schnellstmögliche Transport im Sinne eines scoop and run angestrebt werden – unter Reduzierung präklinischer Maßnahmen auf das absolut notwendige Minimum und insbesondere unter Vermeidung der Vorstellung, eine Kreislaufstabilisierung erreichen zu wollen bzw. zu können. Man muss sich dabei bewusstmachen, dass eine Reihe von Studien existiert, die Überlebensraten nach penetrierendem Trauma nach dem Transportmodus „privater Transport“ vs. Zuweisung mit dem Rettungsdienst vergleichen – und regelmäßig einen Überlebensvorteil für
die Patienten nachweisen, die sehr schnell mit alternativen Transportmitteln unbehandelt der Notaufnahme zugewiesen werden (Wandling et al. 2018). Vor diesem Hintergrund sollte auch die Option berücksichtigt werden, weitere Maßnahmen möglichst auf die Transportphase zu verlagern – hierzu würde beispielsweise auch die Entlastung eines progredienten Spannungspneumothorax gehören, der eine typische Verletzungsfolge thorakaler Schuss-/Stichverletzungen darstellt. Als weitere präklinisch relevante Interventionen en route zur Vermeidung der sog. letalen Trias aus Hypothermie, Azidose und Koagulopathie seien hier noch der Versuch des Wärmeerhaltes sowie die Verabreichung von Tranexamsäure genannt. Die schnelle, zunächst prophylaktische Installation eines Thoraxkompressionssystems vor Transportbeginn wäre auch in dem beschriebenen Fall von Vorteil gewesen. Derartige Situationen mit einer sehr kurzfristigen Zuweisung stellen aber auch aufnehmende Kliniken vor eine große Herausforderung, da in aller Regel Klinikanmeldungen von schwerverletzten oder kritisch kranken Patienten mit deutlich mehr Vorlauf erfolgen. Insofern müssen gerade dann Informationsverluste oder insbesondere Verzögerungen bei der Anmeldung in der aufnehmenden Klinik vermieden werden, um dort alle erforderlichen personellen und materiellen Ressourcen rechtzeitig bereitstellen zu können und sich auf diese Ausnahmesituation einzustellen. In solchen Situationen erscheint das direkte Gespräch zwischen Notarzt und Arzt der Notaufnahme in etablierten Kanälen – immer ergänzend zur Anmeldung über die ILS – sehr hilfreich. Die Ergebnisse insbesondere aus jüngeren Studien zeigen, dass Reanimationssituationen nach Trauma mit einer realistischen Überlebenschance verbunden sein können, wobei ein prognostischer Vorteil nach penetrierenden gegenüber stumpfen Traumata nur zum Teil nachgewiesen werden kann (Vianen et al. 2022).
Literatur Wandling MW, Nathens AB, Shapiro MB, Haut ER (2018) Association of Prehospital Mode of Transport with Mortality in Penetrating Trauma: A Trauma System-Level Assessment
of Private Vehicle Transportation vs Ground Emergency Medical Services. JAMA Surg 153, 107–113 Vianen NJ, Van Lieshout EMM, Maissan IM, Bramer WM, Hartog DD, Verhofstad MHJ, van Vledder MG (2022) Prehospital traumatic cardiac arrest: a systematic review and metaanalysis. Eur J Trauma Emerg Surg 48, 3357–3372. URL: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/35333932/ (abgerufen am 22.02.2023)
6
Interaktion mit der Luftrettung Michael Gäßler und Jens Schwietring
6.1
Einleitung
Die Interaktion zwischen der Luftrettung und dem bodengebundenen Rettungsdienst ist in den meisten Regionen Deutschlands heutzutage Routine. Der Anteil an Luftrettungseinsätzen liegt durchschnittlich bei 3– 5% aller Notarzteinsätze (Jahresbericht SQR-BW 2021; Rettungsdienstbericht Bayern 2021). Er unterliegt gewissen regionalen Schwankungen, die im Wesentlichen durch die rettungsdienstliche Struktur, die geltenden Alarm – und Ausrückeordnungen und den vorhandenen Ressourcen an klinischen Einrichtungen, welche sich an der akutmedizinischen Versorgung beteiligen, bestimmt wird. Dabei ist häufig das Aufeinandertreffen unbekannter Teams der Boden- und Luftrettung prägend, die dann in sogenannten „ad-hoc Teams“ zusammenarbeiten müssen. Gerade in extremen Einsatzsituationen ist die Interaktion in – teils auch größeren – „ad-hoc Teams“ besonders herausfordernd, insbesondere bezüglich einer effizienten und sicheren Patientenversorgung. Lageabhängig ist der Aspekt der Personalsicherheit mal stärker, mal weniger stark im Focus. Die Häufigkeit der Einbindung der Luftrettung in Extremsituationen kann nur schwer quantifiziert werden. Nach der subjektiven Einschätzung des Autors werden Luftrettungsmittel jedoch in hohem Maße zu solchen Einsatzszenarien disponiert. Dies mag zum einen an einer „großzügigen“ Disposition von Rettungsmitteln bei einer untypischen und möglicherweise unklaren ersten Notfallmeldung liegen und kann zum anderen in einer von Beginn an eindeutigen, besonderen Einsatzlage mit dem Bedarf an Luftrettung begründet sein. Die Luftrettung bietet gerade bei unklaren Einsatzmeldungen oder nicht scharf abgrenzbaren Schadensdimensionen die Möglichkeit zur Aufklärung aus der „Vogelperspektive“ („Reconaissance“) (s. Abb. 1).
Abb. 1
Möglichkeit der Einschätzung einer Schadenslage aus dem RTH („Vogelperspektive“); Ahrtal 2021 (mit freundlicher Genehmigung der ADAC Luftrettung gGmbH)
In aller Regel ergeben sich für diese Einsätze individualmedizinische Versorgungsansätze und es gilt eine leitliniengerechte Behandlung und Versorgungsstrategie umzusetzen, welche in einigen Extremsituationen überhaupt erst durch den Einsatz der Luftrettung umgesetzt werden kann. Formal werden Rettungstransporthubschrauber (RTH) von Intensivtransporthubschraubern (ITH) unterschieden, wobei vereinzelt auch beide Segmente offiziell durch einen Hubschrauber bedient werden (sog. „DualUse“). In der gelebten Praxis ist die Trennung von RTH- und ITHSegment sehr inhomogen und wiederum regional sehr unterschiedlich. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf die Interaktion mit der Luftrettung in extremen Einsatzsituationen im Rahmen von Primäreinsätzen.
6.2
Einsatzgründe für die Luftrettung
Die klassischen Indikationen für den Einsatz eines RTH sind die schnelle Zuführung eines Notarztes sowie die Zuweisung von Patienten in
überregionale Kliniken. Als „schneller Notarztzubringer“ wird der RTH eingesetzt, wenn ein bodengebundener Notarzt den Patienten nicht in einem angemessenen Zeitintervall erreichen kann. In der Funktion als „Zentrumszuweiser“ wird der RTH gleichzeitig mit dem bodengebundenen Rettungsdienst disponiert oder durch diesen von der Einsatzstelle aus nachgefordert, um den Patienten zeitgerecht in eine für das jeweilige Erkrankungsbild oder Verletzungsmuster optimal geeignete Klinik zu transportieren. Zudem werden durch Luftrettungsmittel noch weitere spezielle Missionen bedient. Eine Aufstellung von Indikationen für den Einsatz eines RTH ist Tabelle 1 zu entnehmen. Tab. 1
Indikationen für den Einsatz eines Rettungshubschraubers (RTH)
Funktion
Indikationen
„schneller Notarztzubringer“
bodengebundener Notarzt in anderem Einsatz gebunden (sog. „Duplizitätsfall“) abgelegene/schwer zugängliche Einsatzstelle (bodengebunden nicht oder nur in einem unangemessenen Zeitintervall zu erreichen) Zuführung zusätzlicher notärztlicher Kompetenz (z.B. mehrere Patienten, komplexe Einsatzsituation, MANV)
„Zentrumszuweiser“
primäre Alarmierung durch Rettungsleitstelle bei entsprechender
Meldung (in Abhängigkeit von Eintreffzeit ggf. Parallelalarmierung des bodengebundenen Notarztes) Nachforderung durch bodengebundenen Rettungsdienst/Notarzt zeitkritisch Erkrankte/Verletzte in einer dafür nicht geeigneten klinischen Einrichtung („Primäreinsatz in einem Krankenhaus“, „Postprimär-Einsatz“)
Interhospitaltransport
i.d.R. durch ITH; RTH kann eingesetzt werden, wenn kein ITH im Zeitfenster der Verlegungsanforderung verfügbar ist
spezielle Missionen (Auswahl)
Winden- oder Fixtaurettung (nur an einzelnen Standorten verfügbar) Rettung aus unwegsamen/terrestrisch nicht zugänglichem Gelände (auch bei fehlender Notarztindikation) unklare Örtlichkeit der Einsatzstelle („Suchfunktion“) Teamtransport (z.B. ECMO-Team, Spezialkräfte)
Zuführung von Medizingeräten Organ- oder Medikamententransport spezifische Versorgungsexpertise (z.B. hochinvasive Maßnahmen, mitführen von Blutprodukten)
Der Einsatz der Luftrettung in Extremsituationen erfolgt grundsätzlich unter den gleichen Indikationen und Rahmenbedingungen wie im regulären Einsatzgeschehen. Die Vorteile der Hubschrauberrettung können jedoch in diesen Szenarien besonders zum Tragen kommen. Dazu gehören beispielsweise die Überwindung geografischer oder baulicher Hindernisse (auch im urbanen Umfeld), die notfallmedizinische Versorgung in Gebieten, welche auf dem Landweg nicht (mehr) erreichbar sind (s. Abb. 2), die Beteiligung an Großschadensereignissen, in welchen die regionalen rettungsdienstlichen und klinischen Ressourcen nicht ausreichend sind (s. Abb. 3) sowie die Patientenzuweisung in Kliniken im überregionalen Bereich. Die Disposition eines RTH mit der Möglichkeit der Winden- oder Fixtaurettung kann auch außerhalb des klassischen Einsatzradius der jeweiligen Luftrettungsstationen indiziert sein und einen Zeitvorteil generieren (Ruppert 2017). Einzelne konkrete Beispiele für den Einsatz der Luftrettung in Extremsituationen sind Tabelle 2 zu entnehmen.
Abb. 2
RTH-Einsatz mit Winde im bodengebunden nicht zu erreichenden Katastrophengebiet; Ahrtal 2021 (mit freundlicher Genehmigung der ADAC Luftrettung gGmbH)
Abb. 3
Extreme Einsatzsituationen: Zugunglück Bad Aibling am 09.02.2016. Schnelle und schonende Rettung von Schwerverletzten aus der schwer zugänglichen Einsatzstelle mit der Rettungswinde (Foto: Max Eichner)
Die Vorteile der Luftrettung können in extremen Einsatzsituationen einen noch größeren Stellenwert haben als im regulären Einsatzgeschehen. Tab. 2
Beispielhafte Szenarien für den Einsatz der Luftrettung in Extremsituationen
Beispiel für extreme Einsatzsituationen
Mögliche Einsatzindikationen für die Luftrettung
leblose Person in eiskaltem Gewässer (hypothermer Patient mit Herz-Kreislauf-Stillstand)
schnelle Zuführung notärztlicher Kompetenz Lufttransport unter Reanimation in ein Zentrum mit der Möglichkeit der extrakorporalen Erwärmung
schwerer Tauchunfall mit respiratorischer Insuffizienz
schnelle Zuführung notärztlicher Kompetenz Lufttransport in ein Druckkammerzentrum mit der Möglichkeit der Intensivbehandlung/Beatmung unter der hyperbaren Sauerstofftherapie; Flug in der niedrigsten vertretbaren Flughöhe
somnolenter, kreislaufinsuffizienter Patient am
schnelle Zuführung notärztlicher Kompetenz
Flughafen nach Rückkehr aus luftgebundene Zentrumszuweisung mit den Tropen (v.a. Malaria tropica) infektiologischer/tropenmedizinischer Expertise mehrere Personen von Lawine verschüttet
schnelle Zuführung notärztlicher Kompetenz im Gebirge Möglichkeit der Winden-/Fixtaurettung Teamtransport Bergwacht spezialisierte Zentrumszuweisung hypothermer Patienten
Myokardinfarkt im Maschinenraum einer Windkraftanlage in 70 m Höhe
schnelle Zuführung notärztlicher Kompetenz an schwer zugängliche Einsatzstelle Patientenrettung per Winde von der Windkraftanlage Zentrumszuweisung bei Tracerdiagnose Herzinfarkt
Amoklauf (z.B. München 22.07.2016)
schnelle Zuführung notärztlicher Kompetenz (14 RTH in Bereitstellung) Bereitstellung von Transportkapazitäten für überregionale Klinikzuweisungen
Zugunglück (z.B. Bad Aibling 09.02.2016)
schnelle Zuführung notärztlicher Kompetenz Sichtung der Einsatzstelle aus der Luft Bereitstellung von Transportkapazitäten für überregionale Klinikzuweisungen Rettung der Schwerverletzten per Winde aus dem schwer zugänglichem Gelände
Flutkatastrophe (Ahrtal Juli 2021)
schnelle Zuführung notärztlicher Kompetenz Sichtung der Einsatzstelle aus der Luft und am Boden („LNA-Funktion“) Menschenrettung von Hausdächern und Balkonen Versorgung und Rettung von Erkrankten/Verletzten per Winde aus dem nicht zugänglichem Gelände Haus- und fachärztliche Betreuung von Patienten, welche in den eingeschlossenen Gebieten verbliebenen sind und keinen Zugang zu medizinischer Infrastruktur hatten Sicherstellung der sanitätsdienstlichen Versorgung für eingesetzte Einsatzkräfte
6.3
Medizinische Rationale zum Einsatz der Luftrettung
Der Einsatz der Luftrettung im Rahmen des öffentlich-rechtlichen Rettungsdienstes erfolgt auf Basis der Rettungsdienstgesetze der Länder und ihrer korrespondierenden Durchführungsverordnungen, welche die gesetzliche Grundlage für eine flächendeckende und bedarfsgerechte Notfallversorgung der Bevölkerung darstellen. In der Funktion als „schneller Notarztzubringer“ wird die Luftrettung zur zeitgerechten Zuführung notärztlicher Kompetenz eingesetzt und kann so auch wesentlich zur Einhaltung der sog. Hilfsfrist beitragen, die primär eine rettungsdienstliche Planungsgröße darstellt. Die medizinische Rationale für eine zeitgerechte Zentrumsbehandlung von akutmedizinischen Diagnosen konnte für eine Vielzahl von Krankheitsbildern belegt werden. Es existieren hierzu entsprechende Empfehlungen der medizinischen Fachgesellschaften. Für die sechs sog. Tracerdiagnosen (schweres Schädel-Hirn-Trauma, Schlaganfall, Schwerverletzte/Polytrauma, ST-Hebungsinfarkt, plötzlicher Kreislaufstillstand und Sepsis) wurden im Eckpunktepapier 2016 zur notfallmedizinischen Versorgung der Bevölkerung in der Prähospitalphase und in der Klinik Empfehlungen zur notfallmedizinischen Strukturplanung und zum notfallmedizinischen Vorgehen gemäß den geltenden Leitlinien und Anforderungen an die geeigneten Zielkliniken veröffentlicht (Fischer et al. 2016). Diese haben natürlich auch in Extremsituationen Gültigkeit; der Einsatz der Luftrettung kann in vielen extremen Szenarien zu einer relevanten Verkürzung des Prähospitalintervalls beitragen. Die Bedeutung der Luftrettung für die Mortalität und Morbidität beim Schwerverletzen unterstreichen Untersuchungen aus dem deutschen Traumaregister (Andruszkow et al. 2013 und 2016; Schweigkofler et al. 2014). Nach einer Empfehlung der S3-Leitlinie Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung (Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie/Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie 2022) sollte die Luftrettung primär zur präklinischen Versorgung Schwerverletzter eingesetzt werden, da hieraus, insbesondere bei mittlerer bis hoher Verletzungsschwere, ein Überlebensvorteil resultiert. Unabhängig von den Empfehlungen im Eckpunktepapier 2016 und in der S3-Leitlinie Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung ist für eine Reihe weiterer Krankheitsbilder, die Behandlung in einem entsprechenden
Zentrum als outcome-relevant zu betrachten und damit schon primär – ggf. unter Einbindung der Luftrettung – zu favorisieren. Im Hinblick auf die in dem vorliegenden Buch betrachten Einsatzszenarien gilt dies – neben den Tracerdiagnosen – beispielsweise für Unfälle beim Tauchen und auf Überdruckbaustellen, bei ausgeprägter Hypothermie sowie bei ausgewählten infektiologischen und toxikologischen Diagnosen (z.B. Reiserückkehrer aus den Tropen; Unfälle mit Gifttieren, seltene Intoxikationen). Die Zentrumszuweisung ist potenziell auch für einzelne Krankheitsbilder jenseits der sog. Tracerdiagnosen von Outcome-Relevanz.
6.4
Bedeutung der Leitstelle für die Interaktion mit der Luftrettung
Die Rettungsleitstellen haben als disponierende Stelle für den zielgerichteten Einsatz der Luftrettung eine besondere Bedeutung. Die Verantwortung für die Sicherstellung einer zeitgerechten Versorgung und adäquaten Klinikzuweisung kritisch kranker Patienten liegt in besonderem Maße bei den Rettungsleitstellen. Dabei ist das Dispositionsverhalten zwischen einzelnen Leitstellen noch immer inhomogen. Ebenso sind die technischen Voraussetzungen unterschiedlich, nicht alle ILS nutzen gleichsinnig die Tracking Optionen verfügbarer überregionaler Rettungsmittel. Grundsätzlich gilt, dass die Nachforderung von Luftrettungsmitteln durch den bereits eingetroffenen Rettungsdienst bzw. Notarzt zu einer Verlängerung der Versorgungszeit und damit auch des Prähospitalintervalls führt (Gäßler et al. 2013; Gries et al. 2014). Durch die Möglichkeit der geo-referenzierten Alarmierung und durch die Umsetzung von Empfehlungen und Leitlinien der Fachgesellschaften in lokale/regionale Verfahrensanweisungen, unterstützt durch die Ärztlichen Leiter Rettungsdienst, sind in den letzten Jahren spürbare Verbesserungen in der Disposition von Luftrettungsmitteln eingetreten. Besonders hervorzuheben sind die vielfältigen Aktivitäten des Fachverbandes Leitstelle, welche unter anderem zur Erarbeitung einer Handlungsempfehlung zur Disposition von Luftrettungsmitteln führte. In
diesem Dokument werden auch Luftrettungseinsätze in speziellen Einsatzlagen thematisiert. Für den Einsatz der Luftrettung in extremen Einsatzsituationen stellt sich die Dispositionsentscheidung unter Umständen als schwierig dar, und es kann nicht immer auf definierte Alarmierungsalgorithmen zurückgegriffen werden. Extremsituationen sind selten und somit fehlt häufig eine ausreichende einsatztaktische und medizinisch-fachliche Expertise bei Rettungsdienstmitarbeitern, Notärzten, Leitstellendisponenten und anderen beteiligten Einsatzkräften. Dies hat zur Folge, dass sich die primäre Disposition – mehr als sonst – auf der subjektiven Lagebeurteilung des Leitstellendisponenten begründet und ggf. im weiteren Einsatzverlauf angepasst werden muss. Für Großschadenslagen o.ä. existieren in der Regel Alarmierungs- und Ausrückeordnungen. Die Erfahrungen aus der Vergangenheit haben jedoch gezeigt, dass sich die richtige Allokation von Luftrettungsmitteln auch in Großschadenslagen als schwierig erweist. Die primäre Dispositionsentscheidung der Leitstelle kann in Extremsituationen schwierig sein. Häufig fehlt bei diesen seltenen Szenarien eine ausreichende einsatztaktische und/oder medizinischfachliche Expertise bei Leitstellenmitarbeitern und Einsatzkräften.
6.5
Limitationen der Luftrettung
Die Luftrettung unterliegt einigen Einschränkungen und Besonderheiten, welche in der Zusammenarbeit zwischen den notfallmedizinischen Akteuren zu beachten sind. Die Flüge müssen in Übereinstimmung mit den Sichtflugregeln durchgeführt werden (VFR „visual flight rules“). Daher können Nebel, starker Regen und Schneefall die Einsatzbereitschaft der Hubschrauber einschränken. Für die Durchführung eines Fluges sind Wetterminima definiert; dazu gehören Sichtweite, Wolkenabstand und Wolkenuntergrenze. Einschränkungen für den Patiententransport im Hubschrauber können sich bei ausgeprägter Adipositas und bei speziellen Infektionen ergeben. Primäreinsätze durch die Luftrettung finden überwiegend im Tageslichtintervall von 7 Uhr bis Sonnenuntergang statt. Die Vorhaltung
von Luftrettungsmitteln außerhalb des Tageslichtintervalls war ursprünglich auf das ITH-Segment beschränkt, welche in geringem Maße auch in Primäreinsätze eingebunden wurden. Durch den Einsatz von Restlichtverstärkerbrillen (Night-Vision goggles, NVG) im Flugbetrieb wird die Einsatzbereitschaft an immer mehr Luftrettungsstationen in den späten Abend/in die Nacht ausgedehnt. Die Anforderung von Luftrettungsmitteln außerhalb des Tageslichtintervalls wird in Kapitel 6.6.7 erörtert.
6.6
Praktische Aspekte in der einsatzbezogenen Zusammenarbeit mit der Luftrettung
6.6.1 Nachforderung von Luftrettungsmitteln Die Entscheidung für den Einsatz der Luftrettung wird im Idealfall bereits bei Notrufeingang auf Ebene der Rettungsleitstelle getroffen, im Sinne der Umsetzung eines möglichst kurzen Prähospitalintervalls. Ergibt sich die Notwendigkeit erst nach Ankunft der Rettungskräfte am Einsatzort ist die Nachforderung des RTH unverzüglich anzustreben, um weitere Zeitverluste zu minimieren (s. Abb. 4). In die Entscheidungsfindung für oder gegen einen Lufttransport sind unter anderem folgende Überlegungen mit einzubeziehen: Krankheitsbild und notwendige diagnostische und therapeutische Maßnahmen am Einsatzort, Rettungszeit (z.B. bei einer erforderlichen technischen Rettung), Zugang zur Einsatzstelle bzw. Möglichkeiten des Abtransportes des Patienten, Entfernung und Verfügbarkeit des nächstgelegenen Luftrettungsmittels, Landeplatzmodalitäten an der Einsatzstelle und an der Zielklinik, Entfernung und Aufnahmebereitschaft der nächsten geeigneten Klinik(en), Transportwege (Autobahn versus Landstraße), Wetter und
Verkehrslage.
Abb. 4
Mögliche Einsatz- und Dispositionsstrategien für Rettungshubschrauber im Hinblick auf das versorgungsfreie Intervall und das Prähospitalintervall. NEF = Notarzteinsatzfahrzeug; RTH = Rettungshubschrauber; RTW = Rettungswagen. (Gäßler et al. 2013, ©Thieme)
Unter Umständen spielen nur einzelne der genannten Parameter eine Rolle. So wird es bei einer Zuweisung in ein spezialisiertes Zentrum, welches in großer Distanz zur Einsatzstelle liegt, fast immer einen Zeitvorteil für die Luftrettung geben, sofern keine flugbetrieblichen Limitationen (z.B. Wetter) bestehen. Tabelle 3 zeigt den optimalen Ablauf bei der Nachforderung eines RTH. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit oder bei einer aufkommenden Schlechtwetterphase sollte – wenn potenziell notwendig – frühzeitig die Luftrettung alarmiert werden bzw. durch die Leitstelle Kontakt mit der/den
nahegelegenen Luftrettungsstation(en) aufgenommen werden, um eine mögliche Einsatzbeteiligung abzustimmen. Tab. 3
Checkliste zur Nachforderung eines Rettungshubschraubers
Rettungsdienst/Notarzt (Einsatzstelle)
Leitstelle
„früh daran denken“ bei zeitkritischen Krankheitsbildern/Verletzungsmustern (Ziel: Prähospitalintervall von 60 Minuten bis zur Aufnahme in einem geeigneten Zentrum)
bei unklarem Meldebild und primär nicht mit alarmiertem RTH: frühzeitige Nachfrage an den Rettungsdienst/Notarzt vor Ort, ob Bedarf für einen Lufttransport besteht
(„Erinnerungsfunktion“)
Kommunikation der Nachforderung an die Leitstelle
Information an die Einsatzstelle über die Disposition und die geplante Ankunftszeit des RTH
(Information an Rettungsteam vor Ort, wenn umliegende RTH nicht verfügbar und sich durch die Disposition eines weiter entfernten RTH das Eintreffen verzögert; Neubewertung des Zeitvorteils)
Übermittlung der Verdachtsdiagnosen und des Patientenzustandes an die Leitstelle; Definition der Anforderungen an eine potenzielle Zielklinik
Auswahl und Vorinformation einer Zielklinik
Einleitung/Durchführung weiterer indizierter diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen
ggf. Organisation eines Transfers für die MedCrew vom Landeplatz zur Einsatzstelle
Erstellung eines Notarzteinsatz-Protokolls durch den bodengebundenen Notarzt
Information des Rettungsteams vor Ort/des RTH über die erfolgreiche Anmeldung in einer Zielklinik
strukturiertes Übergabegespräch, definierter Verantwortungsübergang
Information der Zielklinik über geplante Ankunftszeit des RTH und Patientenzustand
Die Entscheidung zur Nachforderung der Luftrettung ist – im Sinne eines kurzen Prähospitalintervalls – so früh wie möglich zu treffen und zu kommunizieren.
6.6.2 Lokalisation der Einsatzstelle und Landeplatzauswahl Die ungefähre Lokalisation des Einsatzortes erfolgt über ein GPS-System im Hubschrauber. Bei nicht eindeutigen Lokalisationen (z.B. unklare Örtlichkeit der Einsatz-/Unfallstelle, große Wohnkomplexe oder Baustellen, Fabrikgelände, größere Menschenansammlungen, Berge, etc.) oder unmöglicher Detektion der bereits eingetroffenen Einsatzfahrzeuge aus der Luft (z.B. unter großen Bäumen, in Fabrikhalle eingefahren) ist die Abstellung eines Einweisers sinnvoll. Es sollten möglichst viele Informationen an den RTH frühzeitig von der Leitstelle kommuniziert werden; insbesondere bei speziellen Einsatzlagen und in Extremsituationen (z.B. definierter Ansprechpartner vor Ort). Die Auswahl des Landeplatzes erfolgt nach Erkundung des Einsatzbereiches aus der Luft durch den Piloten. Dabei spielen Größe des Landeplatzes, Wind, Sichtverhältnisse, Hinderniskulisse, Bodenbeschaffenheit und Zugang zum Hubschrauber mit dem versorgten Patienten eine wichtige Rolle. Bei größeren Schadenslagen wird in der Regel ein Bereitstellungsplatz für RTH organisiert (s. Abb. 5), der einer gesonderten Koordination bedarf.
Abb. 5
Bereitstellungsplatz RTH bei Großschadensereignis: Zugunglück Bad Aibling 09.02.2016 (Foto: Max Eichner)
Der Einsatz bei Amoklagen und Anschlägen macht eine dezidierte Abstimmung zwischen Leitstelle, Polizei und Hubschrauber notwendig. Die Luftrettung darf keinesfalls in ungesicherten Bereichen agieren oder polizeiliche Aktionen stören.
Besteht keine nahegelegene Landemöglichkeit, ist unter Umständen ein Transport der Crew zur Einsatzstelle notwendig. Dies kann spontan durch Privatpersonen erfolgen (Anhalten eines PKW) oder wird durch die Leitstelle organisiert (Feuerwehr, Polizei, Rettungsdienst).
6.6.3 Sicherheit am Hubschrauber Der Einsatz eines RTH birgt potenzielle Gefahren für die beteiligten Einsatzkräfte sowie für alle anderen sich in der Nähe befindlichen Personen. Dabei können durch den sog. Downwash (Abwind durch die
drehenden Rotoren) auch schwere Gegenstände beschleunigt werden oder sich aus Fixierungen lösen und nahestehende Personen treffen. Die typischerweise eingesetzten Luftfahrzeuge im deutschen Rettungsdienst erreichen dabei einen Abwind von mehreren Tonnen. Bei einer bereits laufenden Patientenversorgung im Freien ist auf eine Sicherung des Equipments und eine sichere Position der Rettungskräfte zu achten. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Landestelle aus geografischen oder medizinischen Gründen in unmittelbarer Nähe zur Einsatzstelle gewählt werden muss. Eine direkte Kommunikation im Digitalfunk ist je nach regionalen Absprachen in den jeweils zugeordneten Gruppen möglich, in den Start – und Landephasen wegen der Konzentration der Crew auf diese kritische Phase aber nicht machbar. Die Annäherung an den Hubschrauber ist grundsätzlich nur bei stehenden Rotoren, von vorne und nur auf Aufforderung durch den Piloten zulässig. Bei laufenden Rotoren ist ein ständiger Blickkontakt zum Pilot zu halten. Ansteigendes Gelände, leicht erhöhte Fahrwege, Hügel und Bodenwellen verringern die Distanz zum Rotor und können eine lebensbedrohliche Gefahr darstellen. Gerade in Extremsituationen muss die Aufmerksamkeit während Start und Landung bewusst auf die Sicherheit am Hubschrauber gelenkt werden.
6.6.4 Patientenübergabe und -übernahme an der Einsatzstelle Nach der Ankunft des RTH meldet sich die Hubschrauber-Crew bei den vor Ort befindlichen Einsatzkräften bzw. der Einsatzleitung, sofern der Hubschrauber nicht das ersteintreffende Rettungsmittel darstellt. Eine strukturierte Übergabe sollte in Anwesenheit aller beteiligten Kollegen erfolgen, um Informationsverluste zu vermeiden und eine optimale Therapiekontinuität zu gewährleisten. Im Sinne der Patientensicherheit und einer wertschätzenden Interaktion ist es wichtig, einen definierten Verantwortungsübergang für den Patienten zwischen bodengebundenem Notarzt und Hubschraubernotarzt abzustimmen. Das Notarztprotokoll des ersteintreffenden Notarztes ist für den übernehmenden Hubschraubernotarzt und insbesondere für die Kollegen in der Zielklinik essenziell (Gäßler et al.
2013). In extremen und komplexen Einsatzsituationen erscheint eine umfassende, strukturierte Übergabe und Dokumentation von besonderer Relevanz, auch wenn die Rahmenbedingungen dafür in einigen Szenarien ungünstig sind. Zukünftig sind zur optimierten Weitergabe von Informationen neben der papiergestützten Dokumentation vermehrt digitale Erfassungssystem incl. von Bildmaterialien (z.B. Fotos der Auffindesituation, Sonografiebilder) einzusetzen Die Minimierung von Informationsverlusten, durch eine strukturierte Übergabe und eine umfassende Dokumentation bei der Patientenübergabe an die RTH-Crew, ist in Extremsituationen von besonderer Bedeutung.
6.6.5 Transportmodalitäten Beim Einsatz der Luftrettung in Extremsituationen wird der RTH in den meisten Fällen auch das Transportmittel für den Patienten sein. Grundsätzlich kann aber auch eine bodengebundene Begleitung im RTW durch den Hubschraubernotarzt eine geeignete Transportmodalität darstellen, insbesondere wenn der Hubschrauber in der Funktion als „schneller Notarztzubringer“ eingesetzt wird. Letztendlich handelt es sich hierbei um eine individuelle Entscheidung im jeweiligen Einsatz unter Berücksichtigung vielfältiger Faktoren. Die Durchführung aller therapeutischer Maßnahmen (z.B. Reanimation, Atemwegsmanagement) ist während des Lufttransportes möglich. Die letztendliche Entscheidung für oder gegen den luftgebundenen Transport liegt bei der RTH-Besatzung, welche eine Nutzen-Risiko-Abwägung unter Berücksichtigung aller patienten- und einsatzbezogenen Aspekte durchführen muss.
6.6.6 Kommunikationsachse Leitstelle Die Leitstelle stellt die primäre Kommunikationsachse zwischen RTH, Einsatzkräften vor Ort, Kliniken und ggf. Spezialkräften dar. Dies kann bei Bedarf von der Einsatzstelle aus durch einen Einsatzleiter übernommen werden. Bei Großschadensereignissen ist die örtlich zuständige ILS initial oftmals nur für die Erstalarmierung der Einsatzkräfte verantwortlich. Die
weitere Einsatzabwicklung erfolgt dann – je nach länderspezifischen Regularien – mittels einer ergänzenden besonderen Aufbauorganisation, die für die Strukturierung und Sicherstellung der optimalen Patientenversorgung zuständig ist. Eine Koordination des Landeplatzes für die weiter anfliegenden Hubschrauber kann – in Abhängigkeit von dem luftgebundenen Transportbedarf – durch den ersteintreffenden Luftfahrzeugführer erfolgen. Für die Gesamtkoordination mehrerer Luftrettungsmittel hat sich die separate Koordination durch die Nachbarleitstelle als weitere Option dargestellt, um so die einsatzführende Leistelle, insbesondere im Kommunikationsaufwand, zu entlasten. Eine Einsatzlage mit einer potenziellen Gefährdung für die Rettungskräfte bedarf einer klaren Kommunikation und Instruktion durch die Leitstelle, welche wiederum in engem Kontakt mit den anderen beteiligten Einsatzund ggf. Spezialkräften stehen muss. Ein Überflug oder eine Landung innerhalb eines Gefahrenbereichs durch den RTH ist unbedingt zu vermeiden.
6.6.7 Luftrettungseinsätze außerhalb des Tageslichtintervalls An einer immer größer werdenden Anzahl von Luftrettungsstandorten wird die Einsatzbereitschaft für Primäreinsätze bis in den späten Abend bzw. über die gesamte Nacht sichergestellt. Die Verteilung von Stationen mit einer ausgedehnten Einsatzbereitschaft ist aktuell jedoch noch sehr unterschiedlich und unterliegt prinzipiell den Vorgaben des jeweiligen Trägers der Luftrettung. Bei einer Anforderung außerhalb des Tageslichtintervalls besteht eine prolongierte Vorlaufzeit und somit kommt der Entscheidung zur primären Alarmierung gemeinsam mit dem bodengebundenen Rettungsdienst durch die Rettungsleitstelle bzw. der frühzeitigen Nachforderung durch die Einsatzkräfte vor Ort eine wichtige strategische Bedeutung zu.
6.7
Zukünftige Entwicklungen in der Luftrettung
Die Luftrettung in Deutschland ist zunehmend integraler Bestandteil der akut-medizinischen Grundversorgung. Sie muss zukünftig noch mehr Teil optimierter, rettungsdienstlicher Prozesse sein und mit der Krankenhausplanung abgestimmt werden. Der steigende Bedarf an Zentrumsmedizin sowie die Veränderungen in der deutschen Kliniklandschaft werden in der nahen Zukunft an ausgewählten Luftrettungsstandorten zu einer bedarfsorientierten Ausweitung der Einsatzbereitschaft von RTH führen. So fordert auch das Eckpunktepapier 2016 den bedarfsgerechten Einsatz der Luftrettung, welcher nicht vom Tageslicht abhängen darf. Momentane und zu erwartende Einsatzlagen, die sowohl in ihrer räumlichen Ausdehnung und in ihrem zeitlichen Verlauf, wie z.B. großflächiges Hochwasser oder mehrtägiger Wegfall der Energieversorgung, eine breite und langandauernde Reaktion von Einrichtungen des Bevölkerungs- und Zivilschutzes erfordern, müssen neben den bisherigen Vorhaltungen bodengebundener Einsatzkräfte die bisher verfügbaren und zukünftigen Luftrettungsmittel stärker berücksichtigen. In den typischen Vorschriften (z.B. DV 100) finden sich nur begrenzt Aussagen über den einsatztaktischen Wert, bzw. die je nach Auftragsstellung des RTH bestehende Integration in das gesamte Hilfeleistungssystem. Klassischerweise sind die im Geschäftsbereich des Bundesinnenministeriums betriebenen Zivilschutzhubschrauber aufgrund der technischen Ausstattung für Aufgaben der luftgestützten Aufklärung geeigneter, stehen dann aber ggf. nicht für eine medizinische Versorgung zur Verfügung. Die deutlich überregionale Einbindung von RTH bedingt daher ein gestuftes Einsatzkonzept, welches idealerweise in Friedenszeiten zwischen den Verantwortlichen auf Bund-Länderebene abgestimmt ist. Hierbei ist auch die sich entwickelnde Klinikstruktur der kommenden Jahre zu betrachten. Eine Verlegung, bzw. Primärvorstellung bestimmter Patientenkollektive in größerer Anzahl in Kliniken in weiterer Entfernung wird nur zielsicher und quantitativ mit Luftrettungsmitteln in einem vertretbaren Zeitfenster umsetzbar sein. Die technischen Weiterentwicklungen von Hubschraubern und die Einführung von NVG ermöglichen auch in der Nacht einen sicheren Flugbetrieb. Navigationsgeräte, welche Signale des European Geostationary
Navigation Overlay Services (EGNOS) empfangen und verarbeiten können, werden mittel- bis langfristig satelliten-gestützte Präzisionsanflüge an Krankenhäusern und an anderen definierten Landeplätzen zulassen und somit wetterbdingte Einschränkungen der Luftrettung minimieren. Der Originalbeitrag wurde von Dr. med. Michael Gäßler verfasst.
Literatur Andruszkow H, Lefering R, Frink M, Mommsen P, Zeckey C, Rahe K, Krettek C, Hildebrand F (2013) Survival benefit of helicopter emergency medical services compared to ground emergency medical services in traumatized patients. Critical Care 17, R124 Andruszkow H, Schweigkofler U, Lefering R, Frey M, Horst K, Pfeifer R, Beckers SK, Pape HC, Hildebrand F (2016) Impact of Helicopter Emergency Medical Service in Traumatized Patients: Which Patient Benefits Most? PLoS One 11(1), e0146897. URL: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/26771462/ (abgerufen am 22.02.2023) Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie e.V. (2022) S3-Leitlinie Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung (AWMF Registernummer 187-023), Version 4.0 (31.12.2022). URL: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/187-023 (abgerufen am 28.02.2023) Fachverband Leitstelle e.V. (2018) Handlungsempfehlung zur Disposition von Luftrettungsmitteln. Fischer M, Kehrberger E, Marung H, Moecke H, Prückner S, Trentzsch H, Urban B (2016) Eckpunktepapier 2016 zur notfallmedizinischen Versorgung der Bevölkerung in der Prähospitalphase und in der Klinik. Notfall Rettungsmed. URL: https://link.springer.com/article/10.1007/s10049-016-0187-0 (abgerufen am 22.02.2023) Gäßler M, Gloger P, Stolpe E, Ruppert M (2013) Zusammenarbeit von Boden- und Luftrettung. Notarzt 29, 69–82. DOI: 10.1055/s-0032-1332880. Georg Thieme Verlag KG Stuttgart, New York Gries A, Lenz W, Stahl P, Spiess R, Luiz T (2014) Präklinische Versorgungszeiten bei Einsätzen der Luftrettung. Anaesthesist. DOI:10.1007/s00101-014-2340-9 Institut für Notfallmedizin und Medizinmanagement (INM) (2021) Klinikum der Universität München: Rettungsdienstbericht Bayern 2021. URL: https://www.inmonline.de/images/stories/pdf/RD_Bericht2021.pdf (abgerufen am 22.02.2023) Ruppert M, van Boemmel T, Lefering R, Fiala W, Gäßler M (2017) Einsatzspektrum in der Windenrettung. Notfall Rettungsmed 20, 486–494. DOI: 10.1007/s10049-017-0314-6 Schweigkofler U, Reimertz C, Lefering R, Hoffmann R (2014) Bedeutung der Luftrettung für die Schwerverletztenversorgung. Unfallchirurg. DOI: 10.1007/s00113-014-2566-7 Stelle zur trägerübergreifenden Qualitätssicherung im Rettungsdienst Baden-Württemberg (SQR-BW) (2022) Qualitätsbericht 2021 – Rettungsdienst Baden-Württemberg. URL: https://www.sqrbw.de/fileadmin/SQRBW/Downloads/Qualitaetsberichte/SQRBW_Qualita etsbericht_2021_web.pdf (abgerufen am 22.02.2023)
7
Psychosoziale Akuthilfe (PSAH) nach lebensbedrohlichen Einsatzlagen (LebEL)
Andreas Müller-Cyran, Sebastian Hoppe und Michael Weinzierl
Während der letzten Jahre hat die Bedeutung von lebensbedrohlichen Einsatzlagen (LebEl) sowohl in Deutschland wie auch in Europa dramatisch zugenommen. Die Wahrnehmung für die Notwendigkeit entsprechender Vorbereitungen steigt nicht nur in der polizeilichen, sondern auch in der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr. Aspekte einer taktischen Notfallmedizin finden in der Aus- und Fortbildung eine erhöhte Wahrnehmung, sogar die Ausstattung von Einsatzmitteln des Rettungsdienstes wird entsprechend angepasst. Wesentliche Intention aller Inszenierungen bzw. Tathandlungen, die heute als lebensbedrohliche Einsatzlage (LebEl) im Überbegriff bezeichnet werden, liegt darin, einen möglichst großen Schrecken („Terror“) zu verbreiten. Der oder die Täter agieren in einer Öffentlichkeit, in der eine größere Zahl von Menschen zufällig betroffen sind: als Getötete, als Überlebende mit körperlichen Verletzungen, die rettungsdienstlich bzw. notfallmedizinisch versorgt werden müssen, aber auch als Überlebende ohne körperliche Verletzungen, als Augenzeugen oder Vermissende und Hinterbliebene. Die letztgenannten Bedarfsträger psychosozialer Akuthilfe (Überlebende, Augenzeugen, Vermissende und Hinterbliebene) treten in schwer überschaubar hoher Zahl auf. Keine Region in Deutschland hält ausreichende personelle Ressourcen vor, um Bedarfsträger der psychosozialen Akuthilfe nach LebEl zeitnah mit der notwendigen Fachlichkeit adäquat zu versorgen. LebEl’n sind für alle Einsatzkräfte der polizeilichen wie nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr wie auch für Überlebende, Ersthelfer oder Zugehörige mit besonderen Herausforderungen und psychosozialen Belastungen verbunden. Im Weiteren wird auf die psychosoziale Akuthilfe (PSAH) im Rahmen der Psychosozialen Notfallversorgung für Betroffene (PSNVB) näher eingegangen. Auch Einsatzkräfte können nach LebEl zu Bedarfsträgern psychosozialer (Notfall-)Versorgung sein. Die Konzepte für Einsatzkräfte (PSNV-E) unterscheiden sich jedoch in wesentlichen Bereichen von denen betroffener Bevölkerung. Hier wird im Weiteren ausschließlich auf die betroffene Bevölkerung im Sinne der PSNV-B eingegangen.
7.1
Lebensbedrohliche Einsatzlagen
Überlebende von LebEl waren akuter Todesangst ausgesetzt, die sich in erster Linie auf den oder die Täter bezieht. Todesangst kann aber auch durch das taktische Vorgehen polizeilicher Spezialeinheiten (SE) ausgelöst werden, das von Betroffenen als massiv bedrohlich erlebt wird. Dies gilt z.B. für die LebEl im Münchener Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) im Juli 2016, bei der polizeiliches Handeln von Betroffenen punktuell als stark belastend bzw. traumatisierend wahrgenommen wurde. Die taktische Vorgehensweise polizeilicher Spezialkräfte verunsichert Betroffene zusätzlich, da ausgerechnet diejenigen als bedrohlich erlebt werden, die doch helfen. Spezialkräfte der Polizei stellen in LebEl Sicherheit her und gewährleisten sie. Das Beispiel OEZ 2016 macht zudem deutlich, dass empfundene Sicherheit hochgradig subjektiv ist: Menschen an dutzenden Orten innerhalb Münchens wähnten sich in Lebensgefahr und empfanden real Todesangst – auch wenn unter objektiven Kriterien keine Gefahr bestand.
Die Eindrücke am Einsatzort, denen Überlebende oder auch z.B. (spontan agierende) Ersthelfer ausgesetzt sind, unterscheiden sich fundamental von allem, was sie aus dem normalen Leben kennen. Wir leben in einer Kultur, in der das unmittelbare Erleben von maximaler Bedrohung und Todesgefahr weitestgehend ausgeklammert ist. Betroffene werden von jetzt auf gleich aus alltäglichen Situationen herausgerissen und sind mit roher Gewalt, schwerst Verwundeten oder toten Personen konfrontiert – etwas, worauf in dieser Form niemand vorbereitet ist. Der Umstand, dass es sich bei LebEl um eine Gewalttat, eine Amok- oder Terrorlage handelt, ist ein zusätzlich verschärfender Faktor, da von Menschen willentlich herbeigeführte Gewalt als besonders traumatisierend erlebt wird: Es erschüttert zutiefst die menschliche Grundannahme, dass Menschen einander – in aller Regel – grundsätzlich wohlgesonnen sind. Erstaunlich ist der dennoch oftmals hohe Grad an Selbstorganisation von leicht- oder unverletzten Betroffenen, sei es beim Widerstand gegen Angreifer oder beim Leisten Erster Hilfe. Und so stellt die psychosoziale Akutbetreuung un- oder leichtverletzter Betroffener – Überlebender und Ersthelfer, aber auch Vermissender und Hinterbliebener – eine wesentliche Komponente von LebEl dar. Sie ist Aufgabe der Psychosozialen Akuthilfen (PSAH), demjenigen Teilbereich
der Psychosozialen Notfallversorgung (PSNV) also, der von Teams der Krisenintervention und Notfallseelsorge im Rahmen der Gefahrenabwehr abgedeckt wird. Die PSAH verfügt über eigene Führungsstrukturen und gliedert sich in die bestehenden Einsatzstrukturen der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr ein. Die Führungsstrukturen der PSAH werden in den Bundesländern (leider!) nicht einheitlich definiert, ausgebildet und umgesetzt. Die meisten Konzepte in Deutschland sehen einen (Gesamt-)Leiter PSNV vor, der nach Bedarf Einsatzabschnitte mit eigener Führungsstruktur bildet. Zusätzlich hat es sich bewährt, dass in der operativen Gesamteinsatzleitung ein Fachberater PSNV bei der Erstellung eines psychosozialen Lagebilds eingebunden ist. Eine strukturelle Vernetzung zur PSAH kann z.B. im Behandlungsplatz dann von wesentlicher Bedeutung sein, wenn Angehörige von (stationär) behandlungspflichtigen Patienten mit hoher Behandlungspriorität betreut werden, die ansonsten knappe Ressourcen des Rettungsdienstes bzw. der notfallmedizinischen Versorgung in Anspruch nehmen. Eine besondere Bedeutung kommt der PSAH im Zusammenhang mit Patienten zu, die bei ungünstiger Prognose und geringer Behandlungspriorität präklinisch palliativ versorgt werden (müssen). Anfahrende oder anreisende Vermissende stellen eine weitere Herausforderung für alle Einsatzkräfte und den Einsatzführungsdienst dar, solange (noch) keine Strukturen etabliert sind, Vermissungen verlässlich und strukturiert zu bearbeiten. Vermissende, die sich mit den medizinischen Versorgungsstrukturen (in) der Region auskennen, bemühen sich eigeninitiativ und mit extrem hohem Engagement und Nachdruck, den Verbleib vermisster Zugehöriger zu recherchieren. Dies führt an den Absperrungen sowohl des Behandlungsplatzes wie vor den Krankenhäusern der Region (sofern sie abgesperrt werden [können]) zu Menschenansammlungen, die weitere Ressourcen binden – und zudem für Medien leicht zugänglich sind. Bei LebEl spielt die verlässliche Vernetzung in die Einsatzstrukturen der Polizei (Besondere Aufbauorganisation, BAO) eine zentrale Bedeutung. Denn die Polizei wird zügig und zeitnah kriminalpolizeiliche Maßnahmen veranlassen, in die Überlebende, Augenzeugen, Vermissende und ggf.
Hinterbliebene eingebunden werden. Die psychosoziale Akuthilfe findet also integriert in die polizeilichen Maßnahmen statt. Einige Bundesländer sehen bei LebEl einen eigenen Einsatzabschnitt vor, der ausdrücklich für die Vernetzung der nichtpolizeilichen PSAH mit den Strukturen des Polizeieinsatzes zuständig ist. Der Umstand, dass eine sichere Umgebung Grundlage jeder psychosozialen Betreuung ist, erweist sich bei LebEL als Herausforderung: Fühlen sich die Einsatzkräfte der PSAH im gelben Bereich (Einwirkungen von Tätern können nicht sicher ausgeschlossen werden) selbst nicht sicher, so wird eine zielführende Betreuung umso schwieriger oder unmöglich. Deshalb wird die PSAH in der Regel erst dann zur Verfügung stehen, wenn durch die Einsatzkräfte der Polizei Bereiche als sicher ausgewiesen und weiterhin gesichert werden. Auch wenn sich die psychosoziale Betreuung immer den individuellen Bedürfnissen Betroffener anpasst und sich insoweit von Ereignis zu Ereignis und von Mensch zu Mensch unterscheidet, so folgt PSAH doch einem klaren Schema, das auf den fünf Prinzipien für Akutinterventionen nach Hobfoll basiert (Hobfoll et al. 2007). Dazu gehört das Vermitteln von Sicherheit, Beruhigung, sowie die Stärkung des Gefühls von Selbstwirksamkeit, Verbundenheit und Hoffnung. Konkret bedeutet dies u.a., das soziale Netz Betroffener zu aktivieren und nächste Schritte zu besprechen; mögliche körperliche wie psychische Reaktionen während der nächsten Stunden und Tage zu erklären und weiterführende Hilfsangebote zu nennen. Abschiednahmen – ein klassisches Feld der PSAH – kommen bei LebEL naturgemäß erst zu einem späteren Zeitpunkt in Betracht (nach der Identifizierung der Verstorbenen). Doch damit diese Aspekte überhaupt umgesetzt werden können, stehen auch und besonders bei LebEL zwei Faktoren im Fokus der PSAH-Intervention: Das Vermitteln von Sicherheit und Weitergabe von Informationen. Damit ist deutlich, dass die PSAH besonders beim LebEl nur dann sinnvoll und zielführend tätig sein kann, wenn sie eng vernetzt mit den Einsatzstrukturen (BAO) der Polizei arbeitet.
7.2
Sicherheit
Je länger das Sicherheitsgefühl unterbrochen und damit das Überlebensprogramm im Gehirn aktiviert ist, mit dem Menschen auf außergewöhnlich bedrohliche Ereignisse und insbesondere Todesangst reagieren, desto beschwerlicher und länger wird der Weg Betroffener zurück in die Normalität. Zudem erhöht sich das Risiko von Traumafolgestörungen wie z. B. einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Natürlich ist der Begriff der Sicherheit vielschichtig und setzt sich aus mehreren Komponenten zusammen. Zu begreifen, dass eine zuvor vorhandene Gefahr jetzt vorüber ist, man sich nicht mehr im Gefahrenbereich befindet oder der/die Täter gefasst, jedenfalls nicht mehr bedrohlich ist/sind, ist zentral. Ebenfalls bedeutsam ist es, dass meist völlig verloren gegangene Gefühl von Selbstwirksamkeit wiederherzustellen. Betroffene fühlen sich in LebEL den Geschehnissen meist völlig hilf- und machtlos ausgeliefert. Bewährte Maßnahmen der PSAH, Betroffene in Abläufe und kleine Aufgaben mit einzubinden und z.B. selbst Entscheidungen treffen zu lassen, die das Gefühl von Handlungsfähigkeit verstärken, sind bei LebEL schwer vorstellbar. Stattdessen kann hier im Fokus stehen, die Compliance Betroffener (hier konkret: z.B. die Bereitschaft, Anweisungen der polizeilichen Einsatzkräften aus eigener Motivation zu folgen) zu erhöhen. Im Idealfall greift hier eine positive Wechselwirkung: Für polizeiliche Einsatzkräfte sind Betroffene mit hoher Compliance ggf. wichtig, um kriminalpolizeiliche Maßnahmen zu unterstützen. Umgekehrt können Betroffene in ihrer Selbstwirksamkeit gestärkt werden, wenn sie erkennen, mit ihrer Kooperation und ihren Hinweisen (Täterbeschreibungen etc.) einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung der LebEL zu leisten.
7.3
Informationen
Es liegt auf der Hand, dass das Vermitteln wie auch das tatsächliche Wahrnehmen von Sicherheit ohne konkrete Informationen kaum möglich ist. Kommunizierbare Informationen zur Einsatzlage, zum Verbleib vermisster Zugehöriger, zum Gesundheitszustand und Aufenthaltsort Verwundeter sind essenziell für die PSAH, um sie in angemessener Form an Betroffene weiterzugeben. Das gilt im Hinblick auf Überlebende und
Ersthelfer, aber genauso auch auf Angehörige, die wegen fehlender Informationen während der ersten Stunden oftmals der Gruppe der Vermissenden angehören. Es muss damit gerechnet werden, dass die polizeilichen Aufforderungen an die Bevölkerung, den Einsatzort zu meiden und zuhause zu bleiben, ignoriert werden: Zu groß ist oftmals das Bedürfnis Angehöriger, nah am Ort des Geschehens und damit nah bei dem vermissten Angehörigen zu sein. Insofern ist das Erscheinen Vermissender am Einsatzort auch bei anderslautender Weisung zu erwarten (Akutbetreuungsstelle, Vermisstensammelstelle, Zeugensammelstelle). Diese Menschen begleitend zu stabilisieren ist eine der Kernaufgaben von PSAH. Zeitnah-aktuelle und verlässliche Informationen sind die Bedingung für PSAH. Für Betroffene wird kaum nachvollziehbar sein, dass bestimmte Informationen aus einsatztaktischen Gründen nicht kommunizierbar sind. Dies plausibel zu machen, ist ebenfalls Aufgabe von PSAH. So wird deutlich: Ein Schlüssel zur erfolgreichen Einsatzbewältigung von LebEL liegt in der Kommunikation der unterschiedlichen Einsatzdienste miteinander – insbesondere zwischen polizeilicher und nichtpolizeilicher Gefahrenabwehr. PSAH kann nur gelingen, wenn eine zuverlässige Vernetzung mit der BAO der Polizei besteht. Und auch wenn die psychosoziale Akuthilfe bei LebEL aus offensichtlichen Gründen prioritär wie zeitlich nachgelagert ist, so sollte ihre Bedeutung nicht unterschätzt werden, denn die Belastungen für Betroffene von LebEL sind immens.
7.4
Polizeiliche Betreuung von Betroffenen – ein wichtiger Baustein der Psychosozialen Akuthilfe?
„Schuster bleib bei Deinen Leisten!“ So könnte die erste Reaktion aussehen, wenn die Polizei sich neuerdings proaktiv bei der psychosozialen Akuthilfe (PSAH) und im Weiteren der Psychosozialen Betreuung von Betroffenen (PSNV-B) einbringt. Dabei hat die Polizei nach den schrecklichen Ereignissen, Anschlägen und Attentaten der letzten Jahre erkannt, dass ihr im Zusammenhang mit der Betreuung von Opfern und deren Angehörigen eine wichtige Rolle zukommt, ja die polizeiliche PSNVB bei LebEl alternativlos ist. Und das, ohne den etablierten Kräften der
Krisenintervention und der Seelsorge Kompetenzen oder Handlungsfelder zu nehmen – im Gegenteil: es geht darum, sie zu ermöglichen und effizienter zu machen. Im Oktober 2020 wurde nach intensiver Befassung mit der Rolle der Polizei im Bereich der psychosozialen Versorgung von Betroffenen in Bayern die Rahmenkonzeption „Polizeiliche Betreuung von Opfern und Angehörigen“ innenministeriell verfügt. Zwischenzeitlich etablierte sich auf dieser Basis beim Bayerischen Landeskriminalamt eine Zentralstelle für das Themenfeld und in den Polizeiverbänden wurden polizeiliche Betreuungsgruppen (PBG) ins Leben gerufen, die polizeiliche Einsätze mit erkanntem Betreuungsbedarf begleiten. Dabei gehen die Leistungen der PBG (derzeit ca. 200 Polizeibeamt:innen in Bayern) deutlich über die Belange einer taktischen Betreuung hinaus. Die ersten relevanten Einsatzlagen nach der Einführung der PBGen bei den Polizeipräsidien, wie beispielsweise der Messerangriff von Würzburg Ende Juni 2021 oder das Zugunglück bei Garmisch-Partenkirchen im Juni 2022 zeigten, wie wichtig und nachhaltig die polizeiliche Aufgabenerfüllung in Ergänzung zur nicht-polizeilichen Gefahrenabwehr in der Psychosozialen Notfallversorgung ist. Sie zeigten auch, wie wichtig für die Menschen und Rettungskräfte die Schaffung sicherer Orte und Betreuungsstellen ist und wie wichtig für die Betroffenen und etablierten Kräfte der PSNV-B verlässliche und exklusive Informationen sind. Im Zusammenhang mit den Vorbereitungen auf den G7-Gipfel 2022 in Elmau wurde erstmals für mögliche LebEl ein optionaler Einsatzabschnitt „Betreuung“ bei der Bayerischen Polizei vorgeplant. Dabei konnten wertvolle regionale und überregionale Abstimmungen und Absprachen mit den Akteuren im Themenfeld vorgenommen werden, die verdeutlichen, dass entsprechende Einsatzlagen auch ein übergreifendes und konzertiertes Vorgehen aller mit der Betreuung von Betroffenen befassten Stellen (im Bund und den Ländern) sinnvoll und erforderlich machen. Dabei liegen die Schwerpunkte der polizeilichen Betreuungsgruppen beim Zuhören, Erklären und Informieren, beim Schützen, Unterstützen und Begleiten von Betroffenen und Einsatzkräften der nicht-polizeilichen Gefahrenabwehr.
Wo die PBGen zusammen mit den (regionalen) Einsatzkräften der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr zum Einsatz kommen, sind die Erfahrungen durchwegs positiv und immer im Sinne der betroffenen Menschen. Dennoch ist es wichtig, das gegenseitige Verständnis weiter auszubauen und zu stärken, mögliche Vorbehalte zu besprechen und abzubauen. Zudem muss weiter daran gearbeitet werden, dass Betroffene individuell und nahtlos unterstützt werden – eine Aufgabe von wesentlich mehr Akteuren als nur der Krisenintervention, der Seelsorge und der Polizei. Bei schweren Gewalttaten, Amok- oder Terrortaten entscheidet meist nur der Zufall, ob man Opfer wird. Aus diesem Umstand erwächst eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, für die Betroffenen bestmöglich da zu sein – dankbar, selbst nicht unter ihnen zu sein.
Literatur Hobfoll SE, Watson P, Bell CC, Bryant RA, Brymer MJ, Friedman MJ et al. (2007) Five essential elements of immediate and mid-term mass trauma intervention: empirical evidence. Psychiatry 70(4), 283–315
II Besondere Einsatzindikationen in der Industrie
1
Notfälle in Industrieanlagen
Thorsten Becker
Notfälle in Industrieanalagen stellen für die beteiligten Rettungskräfte meist eine nicht alltägliche Situation dar. Die Besonderheiten und die spezifischen Gefahrenschwerpunkte sollen in diesem Kapitel angesprochen und beleuchtet werden. Sicherlich sind hierbei nicht allumfassende Informationen und eine abschließende Aufstellung der individuellen Gegebenheiten möglich, dies ist aber auch nicht der Anspruch des Kapitels. Es soll das Augenmerk auf die Gefahren in solchen Situationen gelenkt und Lösungswege für diese Problempunkte aufgezeigt werden.
1.1
Analyse der spezifischen Gefahren anhand der Gefahrenmatrix
Anlagen der Industrie stellen stets zwei Aspekte der Kompetenz auf die Probe. Einerseits ist eine medizinische Versorgung nach international anerkannten Standards durchzuführen, andererseits ist den spezifischen Besonderheiten Rechnung zu tragen – und das ohne eine genaue Kenntnis dieser. Allgemeine Aussagen bezüglich der zusätzlichen Gefahren kann man im Vorfeld eines Einsatzes nicht treffen, da die Varianz der Industrieanlagen hoch ist. Nachvollziehbarerweise gibt es bei Anlagen der chemischen Industrie eine andere Aufstellung der Besonderheiten als bei einem Hersteller für Möbel oder KFZ-Produktion. Diese Informationsgewinnung und -bewertung stellt eine zeitlich nicht irrelevante Komponente dar, welche idealerweise nicht allein durch das versorgende Team geleistet werden soll. Die frühzeitige Alarmierung von Führungskräften (OrgL, LNA, …) bietet sich hierbei an, um die mannigfaltigen zusätzlichen Aufgaben abzugeben, und um die Hände und den Kopf für die eigentliche medizinische Versorgung frei zu haben. Nachdem diese Unterstützer in den seltensten Fällen parallel an der Einsatzstelle eintreffen, ist es wichtig, sich selbst einen ersten Überblick über die zusätzlichen Gefahren zu verschaffen. Aus dem Bereich der Führungslehre ist die Gefahrenmatrix ein probates und
geeignetes Hilfsmittel, um sich hier etwas Sicherheit zu verschaffen. Die erweiterte Matrix ist hier nicht notwendig, das bekannte AAAA-C-EEEE Schema ist für den ersten Überblick völlig ausreichend: Atemgifte Angstreaktionen Ausbreitung Atomare Strahlung Chemische Stoffe Erkrankung/Verletzung Explosion Elektrizität Einsturz/Absturz Atemgifte Atemgifte entstehen bei jeder (unvollständigen) Verbrennung. Diese sind beim Wohnungsbrand nicht weniger gefährlich als in Industrieanlagen. Generell ist anzumerken, dass in produzierenden Bereichen eine Abgasüberwachung obligat ist und bei potenzieller Gefährdung diese auch schnell detektiert wird. Hierfür nutzt die Industrie einerseits bekannte Warngeräte, andererseits ist eine automatische Messung regelhaft verbreitet und wird standardisiert ausgewertet und überwacht. Je größer der Betrieb ist, desto umfassender kann hier auch spontan Auskunft über die Relevanz der Abgase gegeben werden (s. Abb. 1).
Abb. 1
Atemschutzmaske mit ABEK-Filter (Foto: Thorsten Becker, EH Enterprises)
Es ist ratsam, einen Moment auf die Frage nach Atemgiften und den eventuell notwendigen Schutzmaßnahmen (z.B. Atemschutz, Filtermaske, …) zu verwenden. In Zweifelsfällen sollte die Feuerwehr oder eine andere zur Messung geeignete Institution hinzugezogen werden.
Es wird sich in der Industrie aber nicht nur um Abgase oder Verbrennungsgase handeln, hier ist der Umgang mit gasförmigen Substanzen Alltag, auch diese können ggf. zu notfallmedizinisch relevanten Erkrankungen führen. Hier sei als Beispiel das toxische Lungenödem angeführt. Mehr spezifische Notfallbilder finden Sie im weiteren Verlauf des Kapitels. Angstreaktion Unfälle in Industrieanlagen betreffen meist nicht nur den Verletzten/Erkrankten selbst, sondern auch noch Kollegen. Diese sind in der Regel ähnlich besorgt wie Familienangehörige und daher auch gleichwertig in die Versorgung des Patienten mit einzubeziehen – nach Möglichkeit und Sinnhaftigkeit. Sicherlich ist hier auch eine Unterscheidung zwischen individualmedizinischer Versorgung eines Mitarbeiters (vielleicht sogar in einem Bürogebäude) und einer größeren Schadenslage zu treffen. Bei
letzterer handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um ein Ereignis mit sichtbaren Auswirkungen welche bei den Mitarbeitern zu Sorge führen wird. Jeder Angestellte eines Unternehmens wird die betriebliche Gefahrensituation besser einschätzen können als es Betroffene im privaten Umfeld können. Daher ist die Wahrscheinlichkeit einer Angstreaktion durch die Kenntnis der Gefahren um die Ausbreitung und der eigenen Gesundheit/Unversehrtheit nicht von der Hand zu weisen. Diesem Umstand ist durch eine angepasste und umsichtige Kommunikation Rechnung zu tragen. Ein probates Mittel ist es, sich einen Mitarbeiter der Anlage als Berater zur Seite stellen zu lassen, der die Produktionsverfahren und somit auch die Gefahren kennt. Dies wird auch der eigenen Angstprophylaxe bzw. dem professionellen Umgang mit dem erhöhten Risiko dienen – somit letztendlich auch der Versorgung des Patienten.
Ausbreitung Durch die Verwendung chemischer Stoffe, oxidierend wirkender Substanzen, Rohrleitungen, größerer Mengen von bevorrateten Substanzen, großen Produktionshallen und Brandabschnitte, eingelagerter Betriebsstoffe, Lacke oder sonstigen Gefahrgütern ist die Möglichkeit der Ausbreitung eines Schadensereignisses gegeben. Hierbei ist insbesondere bei Bränden oder Produktaustritten zu rechnen. Bedenken Sie bei der Anfahrt, der Wahl ihres Rettungsmittelhalteplatzes und der Örtlichkeit Ihrer Versorgung immer die Windrichtung.
Atomare Strahlung An vielen Stellen der Produktion kommen atomare Strahlungen zum Einsatz. Letztlich ist im Rahmen der Qualitätskontrolle die Nutzung von Röntgengeräten zum Alltag geworden. Klassischerweise sind die Bereiche mit Nutzung von Strahlenkörpern durch Warnhinweise zu kennzeichnen. Bedenken Sie aber bitte auch, dass diese Substanzen auch angeliefert werden müssen – Verkehrsunfälle innerhalb eines Werksgeländes bieten ein
deutlich höheres Risiko mit Gefahrgut und Strahlern in Kontakt zu kommen als der Standardverkehrsunfall. Chemische Stoffe Chemische Stoffe und ihre Eigenschaften sind für den Nicht-Fachmann oft ein Buch mit sieben Siegeln. Welcher Stoff reagiert wie mit Luft, Wasser, der Haut oder anderen Substanzen. Auch im alltäglichen Einsatz gehen Rettungskräfte standardisiert mit solchen Materialien um – doch gehen sie auch routiniert und fundiert bei der Versorgung vor? Wie werden im rettungsdienstlichen Alltag Verätzungen oder Inhalationen behandelt? Diese Aspekte werden im weiteren Verlauf besprochen. Das Erkennen, Realisieren und Einschätzen der Gefahr durch chemische Substanzen hat daher einen immensen Stellenwert. Überall wo man orangefarbene Warntafeln sieht, sollte man mit Vorsicht an die Einsatzstelle herangehen. In Industrieanlagen hat man den Vorteil, dass das Fachpersonal meist direkt vor Ort ist und fundierte Informationen zu den Stoffen geben kann. Wer kennt sich besser in der Materie aus als die, die regelhaft damit umgehen?!
Zur ersten Information dient die Kennzeichnung der Warntafeln, welche durch die Nummernkodierung die relevantesten Informationen durch die Leitstelle erfahren lassen. Geben Sie daher umgehend eine Rückmeldung und veranlassen Sie ggf. die Nachforderung von Fachdiensten wie Feuerwehr o.ä. Detaillierte Informationen zu den chemischen Stoffen erhalten Sie über Sicherheitsdatenblätter (siehe weiterer Verlauf). Erkrankung/Verletzung Aspekte der Punkte „Erkrankung/Verletzung“ beziehen sich in dieser Einsatzsituation nicht nur auf den Notfallpatienten sondern insbesondere auch auf das Rettungspersonal. Das Tragen der kompletten persönlichen Schutzausrüstung (z.B. Jacke mit langen Ärmeln, Helm, Schutzbrille, …) bekommt bei Notfällen in Industrieanlagen eine herausragende Bedeutung. Nicht zuletzt sollte man die Betriebsangehörigen nach spezifischen
Schutzmaßnahmen – beispielsweise Atemschutz, besondere Handschuhe, oder ähnlichem – befragen. Explosion Industrielle Herstellungsverfahren werden oft unter Druck und Hitzeeinfluss durchgeführt. Eine Überhitzung oder ein Funke kann daher ebenso zu einer Detonation führen wie ein unkontrollierter Druckanstieg innerhalb einer Rohrleitung oder einem Behälter. Neben den thermischen Schäden die aufgrund einer solchen Reaktion erfolgen können sind die Begleitverletzungen nicht unerheblich. So sind auch Frakturen, Schleudertraumen und Hörschädigungen zu erwarten. Gerade bei Explosionen ist dem Themenbereich der Inhalation ein besonderes Augenmerk zu widmen. Besteht im Umfeld des Patienten eine erhöhte Gefahr von Explosionen oder Detonationen, ist der Betroffene so schnell als möglich aus dem Gefahrenbereich zu verbringen (sogenannte Crashrettung) und die Versorgung erst an einem sicheren Ort durchzuführen. Der Eigenschutz der Rettungskräfte geht hier vor, die Rettung aus dem Gefahrenbereich sollte durch Fachkräfte der Feuerwehr erfolgen. Elektrizität Neben der üblichen Stromstärke 220 V werden in industriellen Anlagen oft Hochspannung und Drehstrom eingesetzt. Auch sind werkinterne Schienennetze mit Oberleitung nicht selten. Die Gefahr von Stromunfällen ist daher immer gegeben. Eine Abfrage bei Betriebsmitarbeitern kann hier zur Sicherheit aller Beteiligten beitragen. Einsturz/Absturz Durch baulichen Gegebenheiten ist sowohl der Einsturz von Gebäuden/Gebäudeteilen denkbar, als auch der Absturz von Personen in Gruben, Schächte oder aus der Höhe herab. Dem Bereich der Höhen-/Absturzsicherung ist in diesem Buch das Kapitel IV.1 gewidmet.
Bedenken Sie innerhalb von Werksgeländen die eventuelle Fachkompetenz der Mitarbeiter in diesen Bereichen oder ziehen Sie sich Unterstützung in Form von Feuerwehren (Höhenrettungseinheiten) hinzu. Gerade bei der Rettung von Verletzten/Erkrankten aus Höhen und Tiefen ist eine dezidierte Fachkenntnis sowie spezielle Ausrüstung notwendig.
1.2
Gefahrgutkennzeichnung
Auf die Kennzeichnung von gefährlichen Gütern soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden, siehe hierzu Kapitel II.2 in diesem Buch. Es sei hier nur der Hinweis erlaubt, dass innerhalb der produzierenden Betriebe interne Kennzeichnungen üblich sind, welche ggf. zusätzlich verwendet werden. Bitte ziehen Sie daher unbedingt Betriebsmitarbeiter zu Rate um ausreichende Informationen zu den verwendeten Produkten zu erhalten.
1.3
Umgang mit Sicherheitsdatenblättern
Für jedes chemische Produkt welches innerhalb der Produktion verwendet oder hergestellt wird muss es aufgrund gesetzlicher Bestimmungen ein Sicherheitsdatenblatt geben. Diese sind standardisiert aufgebaut und enthalten eine immense Menge an Informationen. Neben den chemischen Eigenschaften und Erreichbarkeiten der Hersteller sind hier Hinweise zur Ersten Hilfe abgedruckt sowie die notwendigen Schutzmaßnahmen dargestellt (s. Abb. 2).
Abb. 2
Beispielhaftes Sicherheitsdatenblatt (Foto: Thorsten Becker, EH Enterprises)
Auch können über diese Datenblätter Hinweise zur Toxizität erhalten werden. Lassen Sie sich daher unbedingt das jeweilige Sicherheitsdatenblatt ausdrucken, eine Verfahrensanweisung oder eine „Sicherheitshinweise“ sind nicht ausreichend. Nehmen Sie dies auch mit in die weiterbehandelnde Klinik, wertvolle Informationen können somit transferiert werden. Jeder chemische Stoff ist über eine CAS-Nummer zu identifizieren. Diese finden Sie in den Datenblättern und teilweise auch direkt auf dem Produktbehältnis. Wenn Sie diese CAS-Nummer im Vorfeld an die Klinik übermitteln, können diese auch schon vorab die spezifischen Maßnahmen ermitteln und ggf. vorbereiten.
1.4
Besondere Schutzausrüstung
In vielen Industrieanlagen herrschen besondere Vorschriften zum Tragen erweiterter persönlicher Schutzausrüstung. Diese sind auch für den
rettungsdienstlichen Einsatz bindend. Die Nutzung von Schutzhelmen und Schutzbrillen sollte obligat sein, ebenso das Tragen von Jacken mit langen Ärmeln. Medizinische Handschuhe bieten nicht zwingend ausreichenden Schutz gegen die Einwirkung von chemischen Substanzen. Fragen Sie hierzu am besten das Betriebspersonal vor Ort und lassen Sie sich ggf. entsprechende Schutzhandschuhe zur Verfügung stellen.
1.5
Betriebliche Besonderheiten
Jedes Werksgelände besitzt seine eigenen Gesetze und Besonderheiten. Angefangen von Zugangskontrollen – welche im Notfalleinsatz sicherlich zu vernachlässigen sind – über das allgemeine Fotografierverbot bis hin zu speziellen Verkehrsregelungen gibt es einiges zu beachten. In diesem Abschnitt soll exemplarisch auf die häufigsten Punkte eingegangen werden.
1.5.1 Organisatorische Aspekte Betriebsinterne Kommunikation/Funk Je größer das Werk desto ausgeprägter auch die interne Infrastruktur. Betriebsinterne Telefonnetze machen oftmals das Wählen einer „VorVorwahl“ für externe Anrufe notwendig, sodass die Nachforderung von weiteren Kräften ggf. erschwert sein kann. Viele größere Industrien haben eigene Funkkanäle für Feuerwehr und Rettungsdienst sowie den internen Ermittlungsdienst/Werkschutz. Es liegt in der Fürsorgepflicht eines jeden Einzelnen sich über die optionalen Kommunikationswege zu informieren. Eine aktive Zusammenarbeit und gemeinsame Übungen können ggf. bestehende Schnittstellenprobleme detektieren bevor sie im Einsatz zu Fallen werden. Alarmpläne
Bei einem Schadensereignis innerhalb einer Industriegeländes werden interne Alarmpläne greifen. Diese beschreiben aber nicht nur die Alarmierung der Fachdienste sondern auch die Evakuierung der betroffenen Bereiche. Für jedes Gebäude gibt es in aller Regel zumindest einen definierten Sammelplatz. Hier werden sich die Mitarbeiter bei einem Alarm einfinden, das Überprüfen der Vollzähligkeit ist somit ohne großen Aufwand durch die Belegschaft durchführbar. In solchen Plänen können aber auch Schließungen von Zufahrten geregelt sein, weshalb es Aufgabe der Leitstelle ist, bei einer Anforderung auch den Anfahrtspunkt zu erfragen und ggf. für ein Lotsenfahrzeug zu sorgen da die Ortskenntnis in solchen Anlagen von immenser Bedeutung ist. Werkschutz/interne Ordnungsbehörden Der Schutz des Werksgeländes ist eine der obersten Pflichten des Werkschutzes. Zugangskontrollen sollen eine hohe Sicherheit, aber auch eine Transparenz bieten. Nicht selten werden diese Aufgaben von externen Servicedienstleistern erbracht. Diese haben allerdings – genau wie betriebseigene Werkschutzkräfte – Hausrecht und Weisungsbefugnis. Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit ist der Schlüssel zum Erfolg, man sollte sich daher bei Fragen offen und kollegial an die Mitarbeiter wenden, diese werden nach allen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten im Sinne der Patientenversorgung handeln. Betriebliche Ersthelfer Erste Hilfe Unterweisungen sind durch die Berufsgenossenschaften vorgeschrieben, ebenso die Wiederholung solcher Kurse für ausgebildete Ersthelfer in kontinuierlichen Abständen. Durch die recht hohe Durchsetzung der Belegschaft mit ausgebildeten Ersthelfern ist es nicht selten, dass deutlich mehr Maßnahmen der Basisversorgung geleistet wurden als in häuslichem Umfeld zu erwarten wäre. Diese Mitarbeitergruppe arbeitet meist höchst motiviert und nach ihrem Kenntnisstand zuverlässig. Der freundlichen und kollegialen Kommunikation mit diesen Helfern ist eine große Aufmerksamkeit zu schenken.
Nicht selten sind unter den betrieblichen Ersthelfern auch ausgebildetes Rettungsfachpersonal oder Feuerwehrangehörige, diese bieten eine gute Option, in die Versorgung des Patienten eingeschlossen zu werden. Insbesondere bei mehreren Betroffenen (MANV, …) können die Leichtverletzten/gehfähigen („Walking wounded“) durch die betrieblichen Ersthelfer versorgt und betreut werden.
Einsätze mit der Werkfeuerwehr Brandbekämpfung und Gefahrenabwehr in Industrieanlagen ist in vielen Bereichen deutlich different zu den Tätigkeiten einer öffentlichen Feuerwehr. Daher sind die Betriebs- und Werkfeuerwehren auch individuell auf die Bedürfnisse hin ausgestattet. Sie sind als „spezialisierter Partner“ zu sehen und können auch als solcher in unterstützender Weise tätig werden (s. Abb. 3).
Abb. 3
Rettung eines Verletzten mittels Teleskopmast der Werkfeuerwehr (Foto: Thorsten Becker)
Allein die Ortskenntnis und das Wissen über die Abläufe innerhalb der Anlagen sind wertvoll für eine suffiziente und zeitgerechte Versorgung. Nutzen Sie daher die Ressource großzügig und verlassen Sie sich auf die Mitarbeiter der Werkfeuerwehr, diese sind besonders ausgebildet und geschult auf das individuelle Gefahrenpotenzial.
Die Ausrüstung kann nur unter Vorbehalt mit der einer öffentlichen Feuerwehr verglichen werden. Andere Löschmittel, differente Ausstattung zur technischen Hilfe und Sonderbeladung gehören hier zur Tagesordnung. Gerade bei Hoch- oder Tiefbauunfällen und der Schachtrettung kann sowohl vom Manpower als auch von der Ausrüstung profitiert werden. Daher ist der Einsatz der Feuerwehr – analog zu externen Einsätzen – nicht nur bei Brandereignissen und technischen Hilfeleistungen zu sehen, sondern auch zur Patientenrettung zu erwägen.
1.5.2 Berufsgenossenschaftliche Hintergründe beim Arbeitsunfall Nach der Versorgung des Patienten stellt sich häufig die Frage nach einer geeigneten Zielklinik. Beachten Sie bitte nach Möglichkeit, dass es sich um eine Versorgungseinrichtung mit Zulassung für BG-Fälle („D-ArztZulassung“) handelt. Hierbei dreht es sich allerdings in erster Linie um abrechnungstechnische Hintergründe, welche logischerweise der optimalen Patientenversorgung hintangestellt werden. Als Grundsatz sollte jedoch gelten, dass jeder noch so kleine Unfall im Zusammenhang mit der Ausübung einer beruflichen Tätigkeit dokumentiert wird; dies ist idealerweise durch die Vorstellung bei einem zugelassenen Arzt gesichert.
1.5.3 Bauliche Besonderheiten Eines der größten Hindernisse wird regelhaft die völlig unbekannte Infrastruktur sein, es handelt sich eben nicht um die Standardeinsatzstelle in einem Wohn- oder Schlafzimmer. Die baulichen Besonderheiten sollen nun exemplarisch angerissen werden (s. Abb. 4 u. Abb. 5).
Abb. 4
Werksgelände mit Rohrbrücken, Gleisanlagen, Hallen und Tankanlagen (Foto: Thorsten Becker, EH Enterprises)
Abb. 5
Tankanlagen innerhalb eines Werksgeländes mit Rohrleitungen und Fabrikationsgebäuden (Foto: Thorsten Becker, EH Enterprises)
Enge In Fabrikationsbetrieben herrscht durch die Maschinen und die dazugehörigen Rohrleitungen/Anschlüsse oftmals ein beschränkter Bewegungsfreiraum. Je nach Zustand des Patienten sollte gemeinsam entschieden werden ob eine grundlegende Versorgung an Ort und Stelle nötig und möglich ist oder ob zuerst ein Verbringen in verbesserte räumliche Bedingungen (im Sinne der Ordnung des Raumes) notwendig ist. Sicherlich sind lebensrettende Maßnahmen an Ort und Stelle durchzuführen und danach über eine Dislokation nachzudenken. Hitze Betriebsbedingt können in Teilen der Anlage deutlich erhöhte Temperaturen herrschen, dies ist manchmal auch Ursache für den rettungsdienstlichen Einsatz. Bitte bedenken Sie, dass auch die PSA des Rettungsdienstes zu Hitzestau führen kann! Ein Verbringen des Patienten in andere Bereiche der Anlage kann für den Behandlungsprozess förderlich sein. Mitarbeiter die schon längere Zeit in diesen Bereichen tätig sind empfinden die Temperaturen vielleicht sogar völlig anders und bewerten dies fehlerhaft. Lärm In Anlagen mit Produktionsbetrieb herrscht in aller Regel ein erhöhtes Lärmaufkommen, welche zu Problemen bei der Anamnese und der Versorgung führen kann da die Kommunikation mit dem Patienten – aber auch die teaminterne Verständigung – gestört ist (s. Abb. 6).
Abb. 6
Gehörschutz (Foto: Thorsten Becker)
Bedenken Sie dies und verbringen Sie den Patienten zeitnah an einen ruhigeren Ort. Ruhe allein kann sich schon positiv auf die Kreislauffunktion auswirken. Durch die ruhigere Umgebung wird auch die Kommunikation ruhiger geführt, was sich letztlich auch beruhigend auf die Psyche des Patienten auswirkt und Kommunikationsfallen verhindert. Schachtanlagen Eine Kombination aus Enge und ggf. Lärm herrscht in Schachtanlagen. Arbeiter bei Revisionsanlagen oder Herabgestürzte Patienten sind hier zu versorgen – eine Herausforderung für das rettungspersonal, denn die Ausbildung und die Ausrüstung sind nicht für Höhen-/Tiefenrettung ausgelegt. Hier ist man wieder auf das Know-how von Fachdiensten wie der Feuerwehr angewiesen. Doch haben auch viele Betriebe bei ihren Sicherheitsbegehungen Konzepte für „Zwischenfälle in besonderen Anlagenteilen“ erstellt. Vertrauen Sie also auf die Kompetenz und die Hilfe die Ihnen angeboten wird. Rein medizinisch ist nichts Besonderes zu beachten, bedenken Sie jedoch die Gefahrenmatrix und machen Sie sich frühzeitigst an eine Ursachenfindung – nicht dass Sie ausströmendes Gas als Ursache für den Bewusstlosen in der Grube übersehen. Techniken zur Rettung aus Tiefen sind denen der Höhenrettung sehr ähnlich und in Kapitel IV.1 behandelt.
Rohrbrücken Vielfach verlaufen die Versorgungs- und Rohstoffleitungen innerhalb von Industriegeländen oberirdisch auf sogenannten Rohrbrücken/Rohrtrassen/Rohrstraßen. Dies ist eine geordnete Ansammlung und gemeinsame Leitungsführung auf einer Traverse. Die Auslastung solcher Traversen kann völlig unterschiedlich sein, ebenso sind Tieftrassen möglich, insbesondere in Bereichen in denen eine Einspeisung stattfindet. Auch hier herrschen Enge und besondere räumliche Bedingungen bei der Versorgung und Rettung von Betroffenen. Bedenken Sie hierbei bitte die gleichen Aspekte wie bei der Schachtrettung und beachten Sie Ihre eigene Sicherheit durch das Anlegen von Absturzsicherungsgeschirren. Explosionsgefährdete Bereiche Nahezu alle chemische Substanzen und Verbindungen haben in ihren Eigenschaften explosionsgefährdete Bereiche welche in Abhängigkeit der Dichte und des Gemischs mit anderen Stoffen variieren. Bei Produktionsabläufen sind diese Gefahren bekannt und ausreichend berechnet, weshalb ein Vorhandensein eines explosionsfähigen Gemischs sicher vorhersagbar ist. Im Falle einer Betriebsstörung etc. ist diese Vorhersagbarkeit nicht mehr gegeben. Generell sind Bereiche in denen mit Gemischen oder Stoffen innerhalb der Explosionsgrenzen gearbeitet wird als solche gekennzeichnet. Hier würde die Erhitzung durch Feuer oder einen andersartig gelagerten Zündfunken ausreichen um eine weitreichende zusätzliche Reaktion/Reaktion hervorzurufen (s. Abb. 7).
Abb. 7
Die Nutzung von EKG oder anderen stromführenden Geräten ist im EX-Bereich zu unterlassen (Foto: Thorsten Becker)
Auch die Nutzung von Mobiltelefonen, Funk und der Einsatz von energetisch betriebenen Geräten wie EKG/Defi und Absaugung sollte nicht ohne Rückversicherung erfolgen, um eine versehentliche Inbetriebnahme in explosionsgefährdeten Bereichen zu verhindern. Bereits geringe elektrostatische Aufladungen können je nach Anlagentyp gefährlich sein. Im Falle eines Einsatzes innerhalb potenzieller Ex-Bereiche sollten diese durch die Feuerwehr „freigemessen“ werden, bevor ein Aufenthalt oder gar eine länger dauernde Versorgung darin stattfindet.
Tankanlagen Große Mengen Gefahrstoff, beispielweise Treibstoffe, Kerosin, Betriebsmittel oder ähnliches, bieten naturgemäß auch ein größeres Risiko. Dieses wird planbar durch geeignete Tank- und Behälteranlagen minimiert. In Raffinerien und Chemieanlagen sind diese Tankbereiche meist mit stationären Löschanlagen ausgestattet welche oftmals auch fernsteuerbar sind. Bei Notfällen in diesen Bereichen ist mit einer erhöhten Gefährdung zu rechnen wenn es sich nicht um ein individualmedizinisches Ereignis handelt. Auslaufende Stoffe, Atemgifte und durch die Zündfähigkeit auch
eine Explosionsgefahr sind hierbei zu bedenken und der Einsatz von energetisch betriebenen Geräte genau abzuwägen. Im Zweifel sollte der Bereich durch die Feuerwehr oder Werksangehörige als sicher bestätigt werden. Containerterminals In der modernen industriellen Fertigung ist die Automatisierung sehr weit vorangeschritten. Auch bei der Anlieferung und der Lagerung von Rohstoffen wird vieles durch Maschinen erleichtert. Im großen Stil werden Rohstoff mit der Bahn oder LKW angeliefert, die fertigen Güter nehmen gleiche Wege wieder zurück. Daher ist es nicht abwegig, dass es zu Einsätzen im Bereich von Containerterminals kommen kann. Diese befinden sich oft kombiniert mit Straßen- und Gleisanschluss. Der Aufenthalt unter schwebenden Lasten ist hier unbedingt zu vermeiden, schnellstmöglich sollte gewährleistet sein, dass der Betrieb im entsprechenden Bereich eingestellt oder zumindest gesichert gefahren wird. Eisenbahnbetrieb Bedenken Sie bei der Anfahrt schon die Gefahren die durch stromführende Oberleitungen entstehen können und suchen Sie sich einen sicheren Aufstellpunkt. Ihr Zugang zum Patient sollte so gewählt werden, dass möglichst keine Gleise gequert werden müssen, ein Übersteigen von Waggons ist obsolet, da dies mit Lebensgefahr für das Rettungsteam einhergeht. Wann immer möglich, lassen Sie sich einen Lokführer der Werksbahn zur Seite stellen und die Gleisanlagen sperren. Nicht immer ist dies so einfach möglich, nutzen Sie hierzu den Werkschutz, die betriebliche Feuerwehr oder das Anlagenpersonal. Ihr Abstand zu den Fahrleitungen sollte mindestens 3 m betragen. Bedenken Sie aber auch, dass Sie auf dem Bahnsteig auch keine Angst haben, an der Kante zu stehen und nahe an der Oberleitung zu sein (s. Abb. 8).
Abb. 8
Industrieanlage mit Eisenbahngleisen und anderen Verkehrshindernissen (Foto: Thorsten Becker)
Vorsicht und Respekt sind gute Bausteine um die eigene Sicherheit zu optimieren – Angst hingegen kann hinderlich sein. Im innerbetrieblichen Werkverkehr ist es oft nicht möglich, alle Gleisquerungen mit Schranken abzusichern, daher gebührt dem Fahrzeugführer hier eine erhöhte Sorgfaltspflicht. Bedenken Sie auch, dass Schienenfahrzeugen Vorrang zu gewähren ist, da der benötigte Bremsweg für Sie nicht abschätzbar ist. Nähere Informationen finden Sie auch im Kapitel III.1 zu Notfällen im Bahnverkehr.
Schiff Entgegen der Sportschifffahrt und den Notfällen auf Ausflugsschiffen kommt es bei Einsätzen im Bereich der Binnenschifffahrt oft zusätzlich zu Kommunikationsproblemen, da die Besatzungen nicht standardmäßig alle deutsch sprechen. Die Herkunft der Länder ist vielfältig, die baulichen Gegebenheiten der Schiffe ebenso. Man findet hier viele Parallelen zu Schacht- und Höhenrettungssituationen, Enge, Hitze und Lärm. In den meisten Fällen wird es schwierig sein, den Patient mit den regulären
Transportgeräten der Rettungsmittel zu befördern – hier ist wie so oft im Rettungsdienst das professionelle Improvisieren gefordert. Denken Sie an den Eigenschutz und tragen Sie eine Schwimmweste! In den meisten Fällen wird diese nicht zur Ausstattung Ihres Rettungsmittels gehören, fordern Sie diese daher bei der Schiffsbesatzung an oder bestellen Sie sich die Feuerwehr zur „technischen Rettung von Wasserfahrzeugen“ an die Einsatzstelle nach.
1.6
Spezifische Notfallbilder
Wer an Notfälle im Industriebereich denkt hat sicher am ehesten Verätzungen oder ähnlich gelagerte Situationen vor Augen. Dies entspricht aber nicht der Realität, denn auch hier treten die gängigen Notfälle wie Infarkt, Schlaganfall, Hypoglykämie und die traumatologischen Standardfälle der Frakturen und Stürze auf. Zusätzlich zu den „Alltagsnotfällen“ kommen jedoch die industriespezifischen Einsätze hinzu, welche sich durch die oben genannten Gefahren erklären. Stürze aus großer Höhe sowie Elektrounfälle mit diversen Spannungen sind ebenso denkbar wie Quetschungen oder Einklemmungen durch Ladung, Gegenstände oder Gabelstapler. Die meisten Notfälle unterscheiden sich in der Versorgung nur geringfügig im Vergleich zu den externen Einsätzen, lediglich der Hergang/der Unfallauslöser ist unterschiedlich. Das beste Beispiel ist sicher die Hitzesynkope welche durch Schutzanzüge und zu geringen Flüssigkeitsausgleich begründet ist. Verbrennung/Verbrühung Aus dem Bereich der Thermischen Notfälle soll hier nur kurz auf die Verbrennung und die Verbrühung eingegangen werden, da diese zur Standardtherapie geeignet sind. Die Berechnung der betroffenen Körperoberfläche erfolgt anhand der bekannten „9er-Regel“ oder der „1%Handflächenregel“. Eine Unterscheidung zwischen Verbrennung und Verbrühung ist anhand des Mediums möglich, welche die Schädigung ausgelöst hat. Verbrühungen entstehen durch Dämpfe oder heiße Flüssigkeiten, während Verbrennungen
üblicherweise durch direkte Hitze oder Flammeneinwirkung erfolgen. Besonderes Augenmerk sei hierbei auf das Inhalationstrauma gelenkt, welches frühzeitig erkannt und mittels Schutzintubation therapiert werden sollte. Hängetrauma Bei Industriekletterern oder Handwerkern, die in Seilsicherungen arbeiten, kann es durch zu langes Hängen (durch Absturz, durch fehlerhaften Sitz der Bebänderung oder durch zu wenig Muskelaktivierung) zu einem orthostatischen Schockgeschehen kommen (s. Abb. 9). Eine Rettung in sitzender Position ist anzustreben; bei Erreichen des Bodens ist auch hier eine Kauerhaltung empfohlen, die langsam (etwa 10 min Zeitdauer) in eine blutdruckangepasste Flachlagerung überführt werden soll. Eine direkte Schocklagerung würde den Patienten gefährden, da hierbei ähnliche Mechanismen wie beim kardialen Pumpversagen greifen und somit die Gefahr der Herzüberlastung mit konsekutiven Arrhythmien bis hin zum Kammerflimmern besteht. Aus gleichem Grund sollte die Volumengabe sehr restriktiv erfolgen.
Abb. 9
Hängetrauma (Übungssituation) (Foto: Thorsten Becker, Feuerwehr MAFeudenheim)
Verätzung (Produktkontakt) und Notfalldekontamination Bei Kontakt mit chemischen Substanzen sind diese (analog zu auslösenden Agentien bei anaphylaktischen Reaktionen) umgehend zu entfernen. Produktreste, am ehesten ist dies bei pulverförmigen Substanzen der Fall, sollten direkt mechanisch entfernt werden. Ein Abpusten in Richtung weiterer Personen verbietet sich, es bietet sich die Nutzung von Einwegkompressen an. Bitte informieren Sie sich im Vorfeld über die notwendigen Schutzhandschuhe und lassen sich im Zweifel Handschuhe des Betriebs zur Verfügung stellen. Die weitere Reinigung (Dekontamination) muss verdünnend erfolgen, in aller Regel ist hierfür der großzügige Einsatz von Wasser ausreichend. Wasser vermindert die Intensität der Substanz – ob es sich hierbei um eine Lauge (pH Wert größer 7) oder eine Säure (pH Wert kleiner 7) handelt ist nicht Relevanz.
Es greift hier das Gesetz der Verdünnung (vgl. Paracelsus „Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift. Allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.“). Aus diesem Grund sollte die benetzte Kleidung umgehend entfernt und der betroffene Bereich großzügig mit handwarmem Wasser gespült und danach mit Wasser und Seife gewaschen/geduscht werden.
In vielen Bereichen der Industrie kann mit Produktkontaminationen gerechnet werden, daher sind hier Notduschen installiert, welche direkt in den Fabrikationsanlagen zur Verfügung stehen. Diese sind zur ersten Notfalldekontamination geeignet, bedenken Sie aber bitte die Temperaturen am Einsatztag und wägen Sie hierbei dann ab. Eine etwa zweiminütige Erstdusche des entkleideten Mitarbeiters ist sicherlich geeignet um ihn dann ggf. zu einer nahegelegenen regulären Duschmöglichkeit zu verbringen. Dies sollte in Laufweite erreichbar sein um eine Kontaminationsverschleppung insbesondere in das Rettungsfahrzeug zu verhindern, ebenfalls ist hier schon an den Wärmeerhalt zu denken. Verständlicherweise sollte die Gesundheit des Patienten allerdings oberste Priorität haben, weshalb eine kalte Dusche immer dem langen Weg zu einer warmen Dusche vorgezogen werden muss. Während der Betroffene (idealerweise mit Wasser und Seife) den Körper reinigt haben Sie Zeit, im Sicherheitsdatenblatt nach den geeigneten Maßnahmen und der korrekten Dekontaminationszeit zu schauen. In aller Regel sind 15 bis 20 min ausreichend. Nach der Dusche sollte an den betroffenen Stellen eine pHWertbestimmung stattfinden, ebenso muss der Patient eine rückläufige Symptomatik beschreiben. Ist dies nicht der Fall, muss die Dusche wiederholt werden. Einige Produkte auf Ölbasis lassen sich mit Wasser nur schwer abwaschen (vgl. hierzu eine Pfanne mit Fett, welche ohne Spülmittel gereinigt werden soll), in diesem Fall ist der Einsatz von beispielsweise Polyethylenglykol zu erwägen, welches auf die betroffenen Stellen aufgetupft und dann abgeduscht wird (s. Abb. 10). Dieser Vorgang ist über die Dekontaminationszeit hinweg zu wiederholen. Sollte solch eine Substanz nicht verfügbar sein, ist der betroffene Bereich mehrmals mit handwarmem Wasser und Seife zu reinigen und die Klinik telefonisch vorab
zu informieren, ggf. können diese dann weitergehende Dekontaminationsmaßnahmen vorbereiten.
Abb. 10 Dekontamination (Übungssituation) (Foto: Thorsten Becker)
Ein kreislaufinstabiler Patient kann gut notfalldekontaminiert werden, indem man ihn auf eine (aufgebockte) Schaufeltrage legt und dann durch die Feuerwehr abduschen lässt. Somit ist sichergestellt, dass das Wasser ablaufen kann und sich am Rücken kein Flüssigkeitssee bildet.
Nur sehr wenige chemische Stoffe bedürfen einer speziellen Antidottherapie, hierauf sei allerdings nicht näher eingegangen, entsprechende Einsatzhinweise finden sich in den Produktdatenblättern. Nach Abschluss der Dekontamination ist die Wärmeerhaltung ein wichtiges Ziel neben der individuellen symptomatischen Therapie. Patienten die nicht in der Lage sind zu stehen müssen im Liegen dekontaminiert werden. Hierzu bietet es sich an, die Feuerwehr zur Unterstützung zu rufen, welche den Patienten dann mittels Wasserstrahl abduscht. Idealerweise liegt er hierzu auf einer Schaufeltrage welche das Abfließen des Wassers
ermöglicht. Die Dekontamination ist im Sinne des Eigenschutzes eine der ersten Maßnahmen die durchgeführt werden muss, bei lebensbedrohlichen Situationen kann in Absprache hiervon abgewichen werden. Die weiterversorgende Zielklinik ist über die Substanz, die Größe der Fläche und die durchgeführten Dekontaminationsmaßnahmen im Vorlauf zum Transport zu unterrichten. Optisch die Unterscheidung zwischen Kontakt mit Säure und Lauge durch die Art der Wunde möglich. Säuren bilden Koagulationsnekrosen, wobei die Zelleiweiße gerinnen und somit eine tiefergehende Schädigung durch die Säure verhindern. Laugen machen Kolliquationsnekrosen, die Zellanteile werden aufgelöst und das Produkt kann tiefer in das Gewebe eindringen. Daher sind Laugenschädigungen oftmals großflächiger.
Augenverletzung/Augenspülung Analog zur Benetzung von Hautarealen wird bei Produktkontakt im Bereich der Augen vorgegangen. Auch hier ist die Entfernung von Stauben/Pulvern mechanisch möglich, eine Spülung der Augen sollte im Anschluss dennoch erfolgen. Grundsätzlich werden immer beide Augen gespült, das betroffene Auge zuerst. Die Kopfhaltung beim Spülen sollte so gewählt werden, dass das zu spülende Auge unten liegt, um eine Kreuzkontamination des anderen Auges zu vermeiden. Zur Augenspülung eignen sich Flatpack-NaClInfusionsbeutel am besten, die Bevorratung von speziellen Augenspüllösungen ist nicht zwingend erforderlich. Es werden immer beide Augen gespült, dafür jeweils 500 ml Lösung verwenden, wenn bevorratet sollte vor dem Spülen das Auge mit einem Tropfen Lokalanästhetikum (bspw. Conjuncain®) betäubt werden (s. Abb. 11).
Abb. 11 Lokalanästhesie (Übungssituation) (Foto: Thorsten Becker)
Während des Spülens soll der Betroffene das Auge mehrfach in alle Richtungen bewegen – leiten Sie ihn hierzu an („Schauen Sie nach oben, nach unten, nach links, …“) und kontrollieren Sie dies. Nur so haben Sie die Gewissheit, dass alle Bereiche der Augenoberfläche gespült wurden, weshalb sich aus Autorensicht der Einsatz von Augenspülflaschen nur für die Laienhilfe eignet.
Nach der Spülung der beiden Augen sollte (s. Abb. 12) der Patient nach dem individuellen Sehvermögen und den Schmerzen befragt sowie eine pHMessung durchgeführt werden. Sollten weiterhin Schmerzen oder eine pHWertverschiebung vorhanden sein, so ist eine erneute Spülung notwendig. Im Anschluss daran kann ein beidseitiger Augenverband zur Schonung angelegt werden, auf die intensive und klare Kommunikation und Patientenführung ist zu achten. Auf jeden Fall muss eine Vorstellung bei einem Facharzt für Augenheilkunde erfolgen.
Abb. 12 Anschließende beidseitige Augenspülung (Übungssituation) (Foto: Thorsten Becker)
Sollten keine Flatpack-Beutel zur Verfügung stehen, eignen sich auch normale Plastik-Infusionsflaschen, an denen ein unter der Tropfkammer abgeschnittenes Infusionssystem als Spülöffnung angebracht ist. Auf dem Weg zum Einsatz Notfälle in Industrieanlagen gehören sicherlich zu den selteneren Einsatzstichworten. Gerade hier sollte man sich auf der Anfahrt einige Gedanken zum Ablauf vor Ort machen: Holen Sie so viele Informationen wie möglich über das Notfallgeschehen ein. Sollten Chemikalien eine Rolle spielen, lassen Sie sich von der Leitstelle nach Möglichkeit Sicherheitsdatenblätter oder Informationen aus dem Internet faxen oder per E-Mail auf das Smartphone senden. Besprechen Sie im Team die ggf. notwendige Schutzausrüstung und nehmen Sie die komplette PSA mit an die Einsatzstelle. Fragen Sie bei Ankunft den eventuell vorhandenen Einweiser nach Dingen, die Sie beachten müssen. Lassen Sie sich durch den Einweiser oder einen anderen Firmenmitarbeiter an die Einsatzstelle begleiten und stellen Sie sicher, dass dieser als Ansprechpartner für Fragen den gesamten Einsatz über zur direkten Verfügung steht.
Achten und Überprüfen Sie die Schutzausrüstung des ggf. schon vorab eingetroffenen Rettungsmittels. Tätigen Sie einen Blick um die Einsatzstelle herum und schauen Sie auch nach oben! Die SSS-Matrix zur „Szenerie, Situation und Sicherheit“ hat hier einen besonderen Stellenwert. Besprechen Sie im Team regelmäßig nach dem „10-for-10“-Prinzip ihr weiteres Vorgehen.
Notfälle in Industrieanlagen sind aber in aller Regel „normale Notfälle in einer besonderen Umgebung“. Daher ist die standardmäßig vorhandene Wachsamkeit in den meisten Fällen ausreichend. Fachpersonal der Industrie vor Ort bietet einen kompetenten Ansprechpartner für alle Unsicherheiten und Fragen – auch in Notfallsituationen, denn der Zusammenhalt unter den Kollegen ist gerade hier besonders hoch. Auf den Punkt gebracht persönliche Schutzausrüstung vollständig nutzen betriebliches Wissen und Fachkräfte einbeziehen Gefahrenlage ermitteln und bewerten Sicherheitsdatenblätter anfordern und mitnehmen ggf. Giftnotrufzentrale befragen „professionelles Improvisieren“ Ursachen bei jedem Notfall kritisch hinterfragen und auf Gefahren hin abprüfen Dekontamination mit Wasser und Seife über 15 min Zielklinik frühzeitig und umfassend vorinformieren Augenspülung: immer beide Augen mit jeweils 500 ml spülen
2
Chemie-Unfall
Ralf Blomeyer
2.1
Einsatzbedingungen und Gefährdungsbeurteilung
2.1.1 Vorkommen Unsere industrialisierte Gesellschaft ist abhängig von den Produkten der chemischen Industrie. Allerdings können die Produktion, die Lagerung und der Transport chemischer Güter eine erhebliche Gefahr darstellen. Dabei besteht die Gefahr nicht nur an den Produktionsorten, sondern kann jederzeit an jedem Verkehrsweg oder in Lagerhallen der Spediteure auftreten. Verkehrswege sind Pipelines, Wasserstraßen, Bahnlinien und Straßen. Aber nicht nur von den Produkten der chemischen Industrie gehen Gefahren aus. Sowohl in der Landwirtschaft als auch in der Abfallwirtschaft existiert ein erhebliches Risikopotenzial durch giftige Gase. Bei Produktion, Transport, Lagerung und Entsorgung können Chemieunfälle geschehen!
Deshalb muss jeder Notarzt ein Basiswissen über die Einsatzstrategie bei Chemieunfällen besitzen. Dieses Kapitel soll für den ersteintreffenden Notarzt, für den Leitenden Notarzt aber auch für andere Rettungsdienstmitarbeiter die Informationen zur Verfügung stellen, die in den sehr komplexen Einsatzsituationen erforderlich sind, um rational entscheiden zu können. Außerhalb des rettungsdienstlichen Erwartungshorizontes gibt es zwei weitere Szenarien, bei denen Chemikalien freigesetzt werden. In dem ersten Szenario werden durch Terroristen Substanzen freigesetzt, die zu den Chemiewaffen zählen, in dem anderen Szenario kommt es zu einer
unbeabsichtigten Freisetzung unbekannter Substanzen bei Unfällen in illegalen Laboratorien. Die beiden zuletzt genannten Szenarien zeichnen sich dadurch aus, dass die Freisetzung nicht an einem Ort stattfindet, an dem Chemieunfälle erwartet werden, ferner gibt es keine Kennzeichnung und keinerlei Sicherheitsvorkehrungen.
2.1.2 Erkennen der Gefahr Nicht immer wird beim Notruf in der Leitstelle klar, was an der Einsatzstelle wirklich passiert ist und noch passieren kann. Deshalb ist immer mit großer Wachsamkeit die Einsatzstelle zu erkunden. Aussagen und Verhalten von Betroffenen und Augenzeugen können wichtige Hinweise geben. GAMS-Regel Gefahr erkennen Absperren Menschenrettung durchführen Spezialkräfte anfordern
Gefahr erkennen Informationen von anwesenden Personen, Kennzeichnungen wie Warntafeln oder Gefahrenzettel, auffälliger Geruch und sichtbare Dämpfe können auf das Vorhandensein gefährlicher Stoffe und Güter hinweisen. Sehr ernst zu nehmen sind auch objektivierbare Symptome bei mehreren Patienten, die sich am gleichen Ort aufgehalten haben. Absperren Sofort wird von einem Gefahrenbereich von 50 m um die Einsatzstelle ausgegangen und im Umkreis von 100 m abgesperrt. Im Verlauf der weiteren Erkundung müssen der Gefahrenbereich und die Absperrgrenze an den ausgetretenen Stoff und die freigewordenen Mengen angepasst werden. Menschenrettung durchführen
Gehfähige Patienten und Passanten werden aufgefordert, den Gefahrenbereich zu verlassen. Das Betreten des Gefahrenbereichs zur Menschenrettung erfordert geeignete persönliche Schutzausrüstung. Aufgrund fehlender Schutzausrüstung verbietet sich der Einsatz von Rettungsdienstpersonal im Gefahrenbereich.
Die Schutzausrüstung besteht mindestens aus von der Umluft unabhängigem Atemschutz, Chemikalienschutzhandschuhen und Feuerwehr-Gummistiefeln solange der gefährliche Stoff unbekannt ist. Diese Minimalausrüstung stellt keinen umfassenden Schutz für die Mitarbeiter dar, kann aber das Risiko in der Phase der Menschenrettung minimieren. Sofern in dieser frühen Phase des Einsatzes schon klar ist, dass diese Minimalausrüstung nicht ausreicht, muss von Rettungsversuchen Abstand genommen werden. Unkoordinierte und ungeschützte Rettungsversuche gefährden das Leben des Retters, des Patienten und den Erfolg des gesamten Einsatzes.
Spezialkräfte alarmieren Spezialkräfte verfügen über Messgeräte, weitere Schutzausrüstung sowie Sonderfahrzeuge zum Aufnehmen, Umpumpen oder Transport von ausgetretenem Gefahrgut. Eine weitere Qualität der Spezialkräfte besteht in der Verfügbarkeit von Fachkenntnissen. In den unterschiedlichsten Bereichen qualifizierte Fachberater stehen mit großer Expertise zur Verfügung. Überregionale Hilfe kann bei TUIS oder den Analytischen Task Forces von Bund und Ländern angefordert werden. TUIS ist das TransportUnfall-Informations- und Hilfeleistungssystem der chemischen Industrie. Zum Einsatz kommen in diesem System die hochspezialisierten Werkfeuerwehren der chemischen Industrie. Analytische Task Forces sind Einheiten, die auf Betreiben von Bund und Ländern meist bei großen Berufsfeuerwehren stationiert worden sind.
Teile der leistungsfähigen Ausstattung der Analytischen Task Force Gaschromatographen mit Massenspektrometer Fourier-Transformations-Infrarot-Spektrometer für Fest- und Flüssigproben Fernerkundungsgerät mit einer Reichweite von bis zu 5 Kilometern Röntgenfluoreszenz-Analysator RAMAN-Spektrometer
Beide Systeme, TUIS und die ATF arbeiten in einem dreistufigen Konzept. Die erste Stufe bedeutet Hilfeleistung durch telefonische Beratung der Einsatzkräfte. Die zweite Stufe bedeutet Beratung durch Spezialisten, die sich an die Einsatzstelle begeben. Die dritte Stufe bedeutet operative Tätigkeit von Spezialkräften, z.B. Umpumpen oder Messen, an der Einsatzstelle.
2.1.3 Gefährdungsbeurteilung Die Risikobewertung ist ein kontinuierlicher Prozess, der während des gesamten Einsatzes einer hohen Dynamik unterlegen sein kann. Die Beurteilung der Gefährdung hängt natürlich von Informationen ab, die den Einsatzkräften zur Verfügung stehen. Ohne valide Daten über den freigesetzten Stoff und die Konzentration des Stoffes in der Umgebung, kann keinerlei Beurteilung abgegeben werden. Sofern valide Daten vorliegen, kann mittels Grenzwerttabellen das weitere Vorgehen festgelegt werden. Für die Einsatzkräfte ist die Nutzung der AEGL-Werte sinnvoll. AEGL steht für Acute Exposure Guidelines Levels. Die AEGL-Werte werden von der United States Environmental Protection Agency veröffentlicht. Innerhalb dieses Systems werden in Abhängigkeit von der Konzentration tolerable Expositionszeiten festgelegt, die anhaltende Schäden oder eine akute Gefährdung ausschließen. Die Effekte werden graduiert in drei Stufen angegeben: Schwelle zum spürbaren Unwohlsein AEGL-2: Schwelle zu schwerwiegenden, lang andauernden oder fluchtbehindernden Wirkungen AEGL-1:
AEGL-3:
Schwelle zur tödlichen Wirkung
Jeder dieser Schwellenwerte wird für fünf unterschiedliche Expositionszeiten angegeben. Die Zeiträume sind 10 Minuten, 30 Minuten, 1 Stunde, 4 Stunden und 8 Stunden. Der AEGL-2-Wert für das 4Stundenintervall bedeutet, dass es erst nach einer vierstündigen Exposition gegenüber dem Giftstoff zu einer schwerwiegenden, lang andauernden oder fluchtbehindernden Wirkung kommen kann. Die AEGL-Werte sind auf der Internetseite des Umweltbundesamtes veröffentlicht (https://www.umweltbundesamt.de/aegl-stoerfallbeurteilungswerte-stoffe? parent=14618). Allerdings sind nicht zu allen gasförmigen Giften alle AEGL-Werte bekannt. Das in der Bundesrepublik Deutschland entwickelte System der Einsatztoleranzwerte (ETW) stützt sich auf die AEGL-2-Werte.
2.1.4 Nomenklaturen Global harmonisiertes System Das global harmonisierte System (GHS) zur Einstufung und Kennzeichnung von Chemikalien wurde 2009 in Europa mit der Verordnung 1272/2008 (CLP-VO) eingeführt. CLP steht für Classification, Labelling and Packaging. GHS legt eine Kennzeichnung mit Gefahrensymbolen fest und nennt Gefahrenkategorien und Gefahrenhinweise für Chemikalien. Die Gefahrenhinweise werden als HSätze (Hazard) bezeichnet und haben die früheren R-Sätze abgelöst. Sicherheitshinweise werden als P-Sätze (Prevention) gegeben und haben die früheren S-Sätze abgelöst. Gefahrgutkennzeichnung während des Transportes Parallel zu dem beschriebenen GHS existieren für den Transport von Gefahrstoffen andere Warntafeln und Kennzeichen und Klassifizierungen. Je nach Verkehrsträger, See- oder Binnenschifffahrt, Straße, Schiene oder Lufttransport gelten eigene Bestimmungen.
2.1.5 Informationsquellen Eine Vielzahl von Informationsquellen steht uns zur Verfügung. Bei einem Gefahrgutunfall existieren Transportpapiere, der Einsatzleiter verfügt über Nachschlagewerke, z.B. Hommel, telefonisch können Giftinformationszentralen kontaktiert werden und diverse webbasierte Informationsdienste sind verfügbar. Alle diese Instrumente sollte man lange vor dem konkreten Einsatz erprobt haben. Nachfolgend sind zwei Links zu Stoffdatenbanken aufgeführt. Für den Notarzt ist die Gestis-Datenbank sehr hilfreich! http://www.dguv.de/ifa/gestis/gestis-stoffdatenbank/index.jsp http://gischem.de Darüber hinaus gibt es umfangreiche Datenbanken, für die Zugangsdaten erforderlich sind. Beispielhaft genannt seien hier der Gemeinsame Stoffdatenpool von Bund und Ländern und das Noxen-Informationssystem des Landes Nordrhein Westfalen.
2.2
Sicherungs- und Rettungsverfahren
2.2.1 Aufbau der Einsatzstelle schon auf der Anfahrt zur Einsatzstelle sicherstellen, dass eine etwaige Giftwolke nicht durchquert wird ausreichender Abstand zum Schadensort unter Berücksichtigung der Windrichtung frühe Kontaktaufnahme mit dem Einsatzleiter der Feuerwehr Patienten vor Verbringen in den RTW entkleiden/dekontaminieren Fahrzeugaufstellung unter dem Blickwinkel eines raschen Rückzugs festlegen
2.2.2 Dekontamination Dekontamination ist die Reinigung von Oberflächen mit dem Ziel, weitere Verbreitung der Gefahr für den Patienten, die Einsatzkräfte und die Umwelt zu verhindern. Dekontaminationseinheiten der Feuerwehren sind technisch
so ausgestattet, dass radioaktive, biologische und chemische Kontaminationen beseitigt werden können. Dafür werden unterschiedliche Detergentien bereitgehalten. Vor der eigentlichen Dekontaminationsstelle wird eine Patientenablage gebildet, die sich außerhalb des kontaminierten Areals befindet. In dieser Patientenablage wird eine erste medizinische Sichtung durchgeführt. Das Ergebnis dieser Sichtung legt die Reihenfolge der Dekontamination und den Umfang einer eventuell vor der Dekontamination durchzuführenden notfallmedizinischen Behandlung fest. Das Entkleiden der Betroffenen wird ebenfalls anhand der oben beschriebenen Kriterien durchgeführt. Die Haut der Betroffenen darf die äußeren Kleidungsschichten nicht berühren und die Kleidung muss möglichst schnell luftdicht verpackt werden.
Für die Wartezeit bis zur Dekontamination werden den entkleideten Betroffenen Umhänge aus Kunststoff zur Verfügung gestellt. Die Frage nach den geeigneten Detergentien hat Brüne in seiner Bachelorarbeit beantwortet. Lipophile Substanzen können die Haut besser durchdringen als hydrophile Substanzen. Deshalb und weil lipophile Substanzen sich nicht gut mit klarem Wasser von der Haut abwaschen lassen, müssen diese Substanzen frühzeitig mittels Tensiden oder durch Einsatz von Polyethylenglykol von der Haut entfernt werden. Die Dekontamination der Patienten verfolgt zwei Ziele. Bei luftgetragenen Giftstoffen wird durch Entfernen und luftdichtes Verschließen der Kleidung das Ausdünsten des Giftes beendet. Damit werden sowohl der Patient als auch die Einsatzkräfte vor weiterer Inhalation der Dämpfe geschützt. Im Anschluss an das Entkleiden wird die Haut des Patienten gereinigt. Damit wird vor allem das zweite Ziel erreicht, nämlich die Inkorporation hautgängiger Giftstoffe zu unterbrechen. Dekontaminationskonzepte des Bundes und der Länder sehen den Einsatz umfangreicher Technik zur Dekontamination einer Vielzahl von Betroffenen vor.
2.2.3 Notdekontamination
In bestimmten Notfallsituationen ist es jedoch zwingend erforderlich und möglich, vor der Verfügbarkeit der Dekontaminationseinrichtungen die Patienten und Betroffene schnell und vorsichtig von ihrer kontaminierten Kleidung zu befreien und die Körperoberfläche mit Wasser zu reinigen. Dieses Verfahren wird als Notdekontamination bezeichnet. Bevor Patienten in den RTW verbracht werden, ist eine Notdekontamination dringend angeraten! Der enge Raum und die unzureichende Luftzirkulation gefährden die Retter!
Da dieses Verfahren zu einem frühen Zeitpunkt eingesetzt werden kann, ist es in besonderem Maße geeignet, die Einwirkzeit des Giftstoffes zu reduzieren. Nach Gefährdungsbeurteilung muss zwischen dem Einsatzleiter der Feuerwehr und dem medizinisch verantwortlichen Notarzt festgelegt werden, zu welchem Zeitpunkt in welchem Umfang die Dekontamination notwendig ist. Je weniger über den Giftstoff bekannt ist, umso wichtiger ist die frühe und konsequente Notdekontamination.
2.3
Therapeutische Strategien
Folgende Grundsätze müssen beachtet bzw. erwogen werden: Die Exposition beenden, die Giftaufnahme stoppen, den Stoffwechsel modifizieren, die Ausscheidung fördern, die Giftwirkung antagonisieren und Organdysfunktionen durch supportive Maßnahmen entgegenwirken. Nicht bei allen Giften besteht die Möglichkeit, alle therapeutischen Ansätze gleichermaßen zu verfolgen. Insbesondere in der frühen Phase des Einsatzes, bei Unkenntnis des freigesetzten Stoffes wird der Notarzt oft keine andere Möglichkeit haben, als symptomatische Maßnahmen zu ergreifen.
2.3.1 Symptomatische Therapie
Neben den bekannten Maßnahmen zur Unterstützung des Kreislaufs und zur Sicherung der Atmung gilt immer, dass soweit möglich körperliche Ruhe eingehalten werden soll. Um die Inkorporation zu verhindern, ist zunächst orale Nahrungsaufnahme und Flüssigkeitszufuhr zu unterbinden. Venöse Zugänge sind streng zu indizieren und ausschließlich an dekontaminierter Haut durchzuführen.
2.3.2 Spezifische Therapie Anilin Anilin ist ein aromatisches Amin und wird u.a. bei der Herstellung von Farbstoffen, Medikamenten und Kunststoffen eingesetzt. Anilin wird inhalativ und transdermal aufgenommen und führt in der akuten Phase zu einer MetHB-Bildung.
Dadurch entsteht eine Einschränkung der Sauerstofftransportkapazität des Blutes, die hier mit der Zyanose korreliert. Der daraus resultierende Sauerstoffmangel erklärt die Symptome. Zunächst entwickeln sich Schwindel, Kopfschmerzen, Übelkeit und Erbrechen. Bei Fortschreiten der Vergiftung kommt es zu Atemnot, Bewusstlosigkeit und letztlich zum Kreislaufstillstand. Die symptomatische Therapie besteht in der Sauerstoffinhalation. Als Antidot kann Toluidinblau in einer Dosierung von 2–4 mg/kg KG eingesetzt werden. Als Zeichen des Therapieerfolges kann der Rückgang der Zyanose gesehen werden. Ferner kann man an der Einsatzstelle pulsoxymetrische Verfahren (z.B. RAD 57 der Fa. Masimo) einsetzen oder man entnimmt eine Blutprobe und bestimmt den MetHbWert in einem Krankenhaus, das über ein Hämoxymeter verfügt. Blausäure Blausäure wird in vielen Produktionsprozessen der chemischen Industrie und der Schwerindustrie eingesetzt. Blausäure wird aber auch als Schädlingsbekämpfungsmittel eingesetzt und kann bei der Verbrennung stickstoffhaltiger Verbindungen entstehen. Die akzidenzielle Aufnahme der
Blausäure erfolgt über den Atemweg. Dabei ist die Wahrnehmung des typischen Bittermandelgeruchs nur bei niedrigen Konzentrationen zu erwarten. Große Gefahr, auch für die Einsatzkräfte, geht von der kontaminierten Kleidung der Betroffenen aus, sodass frühzeitig und konsequent dekontaminiert werden muss (s.o.). Die Wirkung entfaltet Blausäure durch Blockade des dreiwertigen Eisens der Cytochromoxidase. Damit wird die Sauerstoffverwertung in der Zelle blockiert. Die Symptome, die zu beobachten sind, sind unspezifisch.
Bei niedrigen Konzentrationen treten Schwindel, Übelkeit, Erbrechen und Sehstörungen auf. Bei höherer Konzentration kommt es zu Bewusstseinsverlust, Krampfanfällen, Arrhythmien und letztlich zum Atem- und Kreislaufstillstand. Der Sauerstoff kann nicht verstoffwechselt werden, deshalb sind Haut und Schleimhäute bei schweren Vergiftungen immer rosig. Erste therapeutische Maßnahmen sind Sauerstoffinhalation und Anlage eines venösen Zugangs sowie die Sicherung der Vitalfunktionen. Die Antidottherapie wird in Abhängigkeit der Vergiftungsschwere durchgeführt. Bei niedrigen Konzentrationen, also allen Patienten ohne Vigilanzminderung, wird Natriumthiosulfat in einer Dosierung von 100 mg/kg KG verabreicht. Der Wirkmechanismus des Natriumthiosulfats besteht darin, das körpereigene Enzym Rhodanase bei der Bindung der Blausäure in einem wasserlöslichen und ungiftigen Rhodanid-Komplex zu unterstützen. Die sofortige Therapie bei schweren Vergiftungssymptomen besteht in der Gabe von 4-DMAP in einer Dosis von 3–5 mg/kg KG. 4-DMAP ist ein Methämoglobinbildner, der in der angegebenen Dosierung ca. 30–40% des Hämoglobins in Methämoglobin überführt. Das Eisen im Methämoglobin ist dreiwertig und steht für den Sauerstofftransport nicht zur Verfügung, allerdings kann an das dreiwertige Eisen Blausäure gebunden werden, die deshalb ihre Bindung zur Cytochromoxidase aufgibt. Damit kann die Cytochromoxidase reaktiviert werden und die Sauerstoffverwertung in der Zelle beginnt. In dem Moment der Methämoglobinbildung fällt eine deutliche Zyanose auf, die allerdings keine Verschlechterung der klinischen Situation bedeutet. Als indirektes Zeichen des Therapieerfolges kann beim intubierten Patienten der Anstieg
des endexspiratorischen CO2-Wertes gesehen werden. Sofern die Verbrennung des Sauerstoffs in der Zelle funktioniert, wird daraus Kohlendioxid entstehen. Nach der Therapie mit 4-DMAP wird zusätzlich Natriumthiosulfat wiederum in einer Dosis von 100 mg/kg KG verabreicht um die Ausscheidung der Blausäure zu beschleunigen. Sofern eine schwere Mischintoxikation aus Kohlenmonoxid und Blausäure nachgewiesen ist, ist der Einsatz von 4-DMAP problematisch. Die iatrogene Methämoglobinbildung nach vorausgegangener COHb-Entstehung kann akut lebensgefährlich sein. Als Alternative kann für diese Situationen Hydroxocobalamin als Cyanokit® in Erwägung gezogen werden. Der Wirkmechanismus besteht in einer Komplexbildung mit dem Cyanid. Damit kann der Cyanidkomplex über die Nieren ausgeschieden werden. Eine Hilfestellung bei der Entscheidung, ob es sich um eine Mischintoxikation handelt, kann der Einsatz eines Pulsoxymeters sein, das auch die Dyshämoglobine MetHb und COHb messen kann (z.B. Rad 57, Fa. Masimo). Alternative Therapien Bei Nichtverfügbarkeit von 4-DMAP kann als Methämoglobinbildner Natriumnitrit eingesetzt werden. In den USA ist es das Standard-Antidot, muss allerdings in Deutschland als Zubereitung von Apotheken hergestellt werden.
Die Dosierung beträgt beim Erwachsenen 10 ml der 3%igen Lösung. Ausgeprägte Blutdruckabfälle sind bei zu rascher Applikation zu erwarten. Der Vollständigkeit halber sei hier auch Hydroxocobalamin erwähnt. Der Einsatz ist sehr kostenintensiv. Chlorgas Chlorgas stellt ein Reizgas vom Soforttyp dar. Reizgase vom Soforttyp sind wasserlöslich und schlagen sich deshalb auf den Schleimhäuten nieder und verursachen dort Symptome, z.B. Tränenfluss und Reizhusten. Auch hier gilt, dass die Betroffenen sofort aus der belasteten Umgebung herausgebracht werden.
Wegen der Wahrnehmung des stechenden Geruchs und der Atemwegssymptomatik werden sich die Betroffenen in aller Regel selbst frühzeitig und ausreichend weit von der Gaswolke entfernen.
Besonders bemerkenswert ist bei Chlorgasfreisetzungen mit hoher Konzentration, dass ein nennenswertes Risiko eines toxischen Lungenödems besteht. Das Risiko steigt erheblich an, wenn der Patient sich nicht selbst aus der kontaminierten Atmosphäre befreien konnte! Während die einer geringen Konzentration ausgesetzten Betroffenen unter Sauerstofftherapie und inhalativen β2-Mimetika rasch symptomfrei werden und nach ambulanter Behandlung entlassen werden können, müssen die einer hohen Konzentration ausgesetzten Patienten mit Glucocorticoiden intravenös behandelt und zur Überwachung stationär aufgenommen werden. Phosgen Phosgen wurde wegen dramatischer Schädigung der Lunge im Ersten Weltkrieg als Lungenkampfstoff eingesetzt. Phosgen gelangt wegen schlechter Wasserlöslichkeit, ohne Reizungen an den Schleimhäuten der oberen Atemwege zu verursachen, in die Alveolen. Dort entstehen schwere Schäden, u.a. durch die Spaltung des Phosgens in Salzsäure und Kohlendioxid. Nach einem symptomfreien Intervall kommt es zu einem ausgeprägten toxischen Lungenödem. Folgende Maßnahmen sind nach der Inhalation von Phosgen erforderlich: Sofortiges und striktes Einhalten von Ruhe, keinerlei körperliche Aktivität, topische und intravenöse Applikation von Glukokortikoiden sowie die frühe Beatmung mit hohem PEEP. Hier sei ausdrücklich an die sofortige nicht-invasive Beatmung erinnert!
Schwefelwasserstoff Bei Schwefelwasserstoff handelt es sich um ein farbloses, aber sehr intensiv riechendes Gas, das u.a. bei Fäulnisprozessen und in der Erdölindustrie entsteht. Hier müssen Rettungsdienste und Feuerwehren in besonderem Maße sensibilisiert werden. Die Fäulnisprozesse können in Siloanlagen der
Landwirtschaft, in Biogasanlagen, auf Mülldeponien und in der Fleisch verarbeitenden Industrie auftreten. Auch in den letzten Jahren sind mehrfach Arbeiter und ungeschützte Retter in diesen Anlagen zu Tode gekommen und Mitarbeiter des Rettungsdienstes und der Krankenhäuser wegen fehlender Schutzausrüstung bzw. wegen fehlender Dekontaminationsmaßnahmen zu Schaden gekommen. Der Wirkungseintritt der Schwefelwasserstoffe ist schlagartig und wird in der angloamerikanischen Literatur als „knockdown“ beschrieben. Dieser schlagartige Wirkungseintritt verhindert jeden Selbstrettungsversuch.
Schwefelwasserstoffe riechen nach faulen Eiern, bei höherer Konzentration kommt es allerdings zu einer Lähmung der Geruchsnerven und die Warnwirkung der Substanz entfällt sehr rasch. Auch Schwefelwasserstoffe hemmen wie Blausäure die Cytochromoxidase und führen deshalb zu einer Sauerstoffverwertungsstörung in der Zelle. Allerdings sind auch andere Wirkmechanismen bekannt, dazu zählen vor allem sofortige Atemlähmungen und toxische Lungenödeme nach deutlicher Latenz. Nach der Notdekontamination (s.o.) muss sofort die symptomatische Therapie beginnen. Eine evidente spezifische Therapie existiert nicht. Während im angloamerikanischen Raum der Einsatz von Natriumnitrit empfohlen wird, gibt es in der deutschen Literatur Hinweise auf die Wirksamkeit von 4DMAP. Allerdings kann der Einsatz von 4-DMAP allenfalls als Therapieversuch verstanden werden. Ob der anschließende Einsatz von Natriumthiosulfat sinnvoll ist, muss bezweifelt werden.
2.3.3 Biomonitoring Funktionsweise Unter dem Begriff Biomonitoring versteht man die Bestimmung von Schadstoffen im Organismus. Ziel ist es dabei, so früh wie möglich das Ausmaß der Exposition zu erkennen, um mögliche Folgen bestimmen zu können. Das Verfahren nutzt die Tatsache, dass sich schadstoffspezifische
Addukte z.B. an Hämoglobin oder an DNA anlagern. Die Hämoglobinaddukte sind für den Lebenszeitraum des Erythrozyten, der sich auf 120 Tage beläuft, nachweisbar (Müller u. Schmiechen 2015). Nutzen für Betroffene Biomonitoring spielt in der Umweltmedizin seit vielen Jahren eine große Rolle. In den letzten Jahren wurde das Biomonitoring auch bei Gefahrgutunfällen häufig und mit großem Erfolg eingesetzt. Mit den validen Ergebnissen des Biomonitorings kann man der irrationalen Angst der Betroffenen begegnen. Für diejenigen, bei denen das Biomonitoring negative Ergebnisse liefert, besteht Gewissheit, dass auch keine Spätschäden zu befürchten sind. Dadurch können viele diagnostische und therapeutische Maßnahmen in der Gruppe der Nicht-Vergifteten entfallen. Nutzen für den Verursacher Der Verursacher der Schadstofffreisetzung kann durch das Anbieten des Biomonitorings für Betroffene verdeutlichen, dass er Verantwortung übernimmt und damit versuchen einem möglichen Imageschaden durch das Ereignis entgegen zu wirken. Gleichzeitig kann er sich durch den Einsatz des Biomonitorings vor ungerechtfertigten Schadensersatzansprüchen schützen. Auf dem Weg zum Einsatz sicherstellen, dass kein Mitarbeiter wegen Unkenntnis der Gefahr ungeschützt den Gefahrenbereich betritt (haben alle Einsatzkräfte denselben Informationsstand?) GAMS-Regel ansprechen falls Substanz bekannt ist, sofortige Recherche beginnen (Resorption, AEGL-Werte, Antidote, etc.) in Absprache mit dem Einsatzleiter Ort und Maßnahmen der Notdekontamination festlegen geeignete Behandlungskapazität in Krankenhäusern abfragen
Auf den Punkt gebracht
Der Einsatz bei einem Chemie-Unfall stellt hohe Anforderungen an alle Beteiligten. Zunächst muss die Gefahr erkannt werden, um ausreichenden Abstand zur Gefahrenquelle einhalten zu können. Die Menschenrettung aus einer kontaminierten Atmosphäre darf nur unter einer geeigneten Schutzausrüstung erfolgen. Die frühzeitige Dekontamination verkürzt die Expositionszeit für die Betroffenen und verhindert die Kontamination der Rettungskräfte. Danach wird eine symptomatische Therapie begonnen. Sobald Informationen über die Art des freigesetzten Schadstoffes bekannt sind, und gegebenenfalls Messergebnisse vorliegen, kann eine spezifische Therapie begonnen werden. Der Kontakt zu Spezialisten ist auf jedem Fall empfehlenswert. Dabei geht es sowohl um die präklinische und klinische Therapie als auch um den Nachweis der Kontamination im Sinne des Biomonitorings. Beratend tätig werden u. a. die großen Berufsfeuerwehren, die Analytische Task Forces betreiben, oder die medizinischen Dienste der chemischen Industrie. Zu einem sehr frühen Zeitpunkt werden Fragen nach dem Ausmaß der Schadstofffreisetzung und den Konsequenzen für die nicht unmittelbar Betroffenen sowie die Anwohner gestellt werden. Ziel ist ein rationaler Umgang mit den Befürchtungen. Dazu werden valide Messwerte und ein für die Fragestellung geeignetes Grenzwertsystem benötigt. Nach dem Einsatz kann mit dem Biomonitoring Gewissheit hergestellt werden, ob eine Schadstoffbelastung für die Betroffenen bestanden hat und wie hoch diese war. Grundsätzlich gilt, dass Einsätze dieser Komplexität umso sicherer abgewickelt werden können, je besser die Vorbereitung der Einsatzkräfte, vom ersteintreffenden Rettungsmittel bis zum Einsatzleiter, stattgefunden hat. Die Kenntnis des zur Verfügung stehenden Materials und der anzuwenden Methode ist genauso wichtig wie die Kenntnis der am Einsatz beteiligten Institutionen, deren Aufgaben und deren Leistungsfähigkeit.
Literatur Brüne F (2006) Erstellen von Standard-Dekon-Verfahren. Bachelorarbeit an der Fachhochschule Bonn-Rhein-Sieg Müller M, Schmiechen K (2015) Humanbiomonitoring im Bevölkerungsschutz, Band 16 der Schriftenreihe Forschung im Bevölkerungsschutz. Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe Bonn Organisation for the Prohibition of Chemical Weapons (2016) Practical Guide for Medical Management of Chemical Warfare Casualties vfdb-Richtlinie 10/01 (2016) Vereinigung zur Förderung des Deutschen Brandschutzes
3
Einsätze im Tagebau
Jörg Fibranz
3.1
Einsatzbedingungen und Risikobewertung
3.1.1 Allgemeines Tagebaue werden weltweit betrieben, um oberflächennah mineralische Rohstoffe abzubauen. In Deutschland wird in Tagebaubetrieben ausschließlich noch Braunkohle gefördert. Derzeit werden noch Tagebauanlagen in drei Braunkohlerevieren betrieben. Im östlichen Teil Deutschlands an der Grenze zu Polen befindet sich das Lausitzer Revier, das mitteldeutsche Revier rund um Leipzig – Halle – Bitterfeld und westlich von Köln das Rheinische Braunkohlerevier. Prägend für das Bild des Tagebaus sind die gewaltigen Schaufelbagger und die kilometerlangen Förderbandanlagen. mit denen das Material innerhalb des Tagebaus transportiert wird. (s. Abb. 1) Daneben bilden große Arbeitsbereiche die gesamte Logistik, d.h. Hilfsgeräte aller Art (Radlader, Tieflader, Planierraupen etc.), und die sogenannte Wasserhaltung, bei der mithilfe tiefer Brunnenbohrungen und eines gewaltigen Leitungsnetzes das Grundwasser im Tagebaubereich soweit abgesenkt wird, dass sich die tiefen Erdlöcher nicht mit Grundwasser füllen. Die Teufe (der Bergmann spricht nicht von Tiefe) des tiefsten Tagebaus Hambach bei Düren beträgt fast 400 m!
Abb. 1
Schaufelradbagger (mit freundlicher Genehmigung der RWE Power AG)
3.1.2 Rettungsdienst Obwohl durch hohe und erhöhte Arbeitsschutzstandards die Unfallzahlen in den Betrieben in den letzten Jahrzehnten dramatisch gesunken sind, kommt es in diesem schwerindustriellen Umfeld immer wieder zu lebensbedrohlichen Unfällen. Insbesondere in den letzten Jahren hat sich eine völlig neue Gefährdungslage ergeben, die die Einsatzkräfte in besonderem Umfang fordert. Im Rahmen der Proteste gegen die Kohleverstromung kommt es immer wieder zu selbst- oder fremdgefährdenden Protestaktionen der Braunkohlengegner z.B. durch die Besetzung von Abbauflächen, Geräten, Zugstrecken etc. Alle Betriebsflächen stehen unter besonderer staatlicher Aufsicht der Bergämter der einzelnen Bundesländer. Neben vielen anderen Aspekten ist durch diese Aufsicht auch die Verpflichtung der Betreiber zur Notfallvorsorge geregelt, sodass für die Betriebe Konzepte zur Rettung von Verletzten und Erkrankten entwickelt werden müssen – in der Regel macht das die Vorhaltung eines betrieblichen Rettungsdienstes, eigenständig oder als Teil der Feuerwehr des Tagebaus notwendig. Diese betrieblichen Rettungsdienste und Feuerwehren sind mit geländetauglichen Fahrzeugen zum Verletztentransport ausgerüstet. Ein Befahren des Tagesbaus mit Fahrzeugen des kommunalen Rettungsdienstes ist nur in wenigen Teilbereichen mit normalem Wegebau möglich. Insbesondere sind straßenbereifte SUVs, wie sie heute vielfach als NEFs vorgehalten werden,
definitiv nicht zum Einsatz im schweren Gelände des Tagebaus geeignet (s. Abb. 2).
Abb. 2
RTW des Betrieblichen Rettungsdienstes (mit freundlicher Genehmigung von Henrik Morlock /morlock-fotografie)
Wie bei vielen anderen Einsätzen auch, beginnt die Herausforderung mit der Alarmierung und dem Weg zur Einsatzstelle. Allen Tagebauanlagen gleich sind besonders problematische Einsatzbedingungen in Bezug auf das Auffinden der Einsatzstelle. Die Orientierung in den Tagebauanlagen ist bei einer Betriebsfläche von 50–90 km2Größe (s. Abb. 3) und einer sich ständig durch Abbau und Aufschüttung ändernden Wegeführung extrem schwierig. Um sich die Dimensionen zu verdeutlichen hilft vielleicht ein Vergleich: Die nordfriesische Insel Föhr oder die wunderschöne Frankenmetropole Würzburg fänden auf der Betriebsfläche der größten Tagebaue bequem Platz! Wichtiger Unterschied: Würzburg hat befestigte Straßen – und Straßenschilder!
Abb. 3
Luftaufnahme Tagebau Hambach (mit freundlicher Genehmigung der RWE Power AG)
Alle Betriebe verfügen aus diesem Grund über fest in der kommunalen Leitstelle hinterlegte Lotsenstellen. Hier werden die nachrückenden Kräfte des öffentlichen Rettungsdienstes durch Betriebsmitarbeiter aus Feuerwehr oder Werkschutz in Empfang genommen und je nach Lage der Einsatzstelle mit betrieblichen oder eigenen Fahrzeugen weitergeleitet. Die Betriebe verfügen in der Regel über geeignete Rettungs- und Transportsysteme für den Einsatz. Ebenso über Hilfsmittel zur Schacht- und Höhenrettung. Die RTWs sind in Bezug auf Ausstattung konform zu den gültigen DIN EN Standards. Material und Einsatzvorbereitung:
3.2
Was muss an Eigenmaterial mit in den Einsatz?
Die Fahrzeuge verfügen im Regelfall nicht über eine Btm-Bestückung, der Medikamentensatz kann überhaupt vom gewohnten Standard abweichen – hier empfiehlt sich die Mitnahme eines eigenen Ampullariums oder ggf. des Notfallrucksackes. Die Gerätetechnik in Bezug auf Monitoring und
Beatmung kann natürlich ebenfalls vom eigenen Standard abweichen. Die vorgehaltenen Geräte sind aufgrund der Einsatzumgebung oft insbesondere unter dem Aspekt größtmöglicher mechanischer Robustheit und Witterungsbeständigkeit ausgewählt und haben zudem aufgrund des eher seltenen Einsatzes oft lange Nutzungszeiten. Wer also nicht auf sein gewohntes Monitorbild oder die gewohnte Gerätebedienung verzichten will, sollte hier eigene Systeme zu mindestens ins Zubringerfahrzeug mitnehmen. Ein Rückweg zur Lotsenstelle, um noch „vergessenes“ Material zu holen, ist im Regelfall aufgrund der kilometerlangen Wege innerhalb des Tagebaus nicht oder nur schwer möglich. Nicht zu unterschätzen ist die erhebliche Verschmutzung der Geräte und Ausrüstung insbesondere bei nasser Witterung. Das Tragen eigener PSA (Persönliche Schutzausrüstung) inklusive der Sicherheitsschuhe sollte heute im Rettungsdienst eine Selbstverständlichkeit sein. Insbesondere Helm und Schutzbrille sind allerdings ebenfalls Pflicht innerhalb der Betriebe. Eine nachvollziehbare und zeitlich zuordnungsfähige Einsatzdokumentation ist wie das Tragen der PSA heute eigentlich selbstverständlich. Trotzdem sei an dieser Stelle nochmal kurz auf die Bedeutung der Dokumentation in der besonderen Lage im Tagebau hingewiesen. Jedes Unfallereignis auf der Betriebsfläche wird zum einen durch den Betreiber des Tagebaus, zum anderen auch durch die Aufsichtsbehörde genau nachuntersucht, um hier möglicherweise Veränderungsbedarf in Bezug auf Arbeitsschutz und Notfallmanagement festzustellen. In diesem Zusammenhang werden retrospektiv regelmäßig Informationen zum zeitlichen Verlauf des Einsatzes und der Einsatzlage nachgefragt. Eine exakte Dokumentation erleichtert hier die Arbeit für Einsatzkräfte und Behörden erheblich. Wie in allen anderen Einsätzen auch, unterliegen Informationen, die unmittelbar aus dem Arzt-Patientenkontakt entstanden sind, der Schweigepflicht, allgemeine Information über Lage und Einsatzverlauf müssen/dürfen mitgeteilt werden. Des Weiteren ist zu beachten, dass es sich fast ausnahmslos um Arbeitsunfälle handelt, die dann nachfolgend im D-Arzt-Verfahren behandelt werden. Dokumentation:
3.3
Besondere Einsatzsituationen und therapeutische Strategien
Die Geländeverhältnisse auf dem Weg zur Einsatzstelle können sich abhängig von der Witterung durchaus extrem darstellen. Bei Nässe erlauben der aufgeweichte Boden und zum Teil tiefe Wasserdurchfahrten (s. Abb. 4) in Teilbereichen trotz robuster Geländefahrzeuge nur geringe Fahrtgeschwindigkeiten. Auch nach Erreichen der Einsatzstelle ist die Erschwernis aller Fußwege und des Arbeitens selbst durch Matsch und Dreck nicht zu unterschätzen. Diese außergewöhnliche Lage profitiert sehr stark von einem gutem „Team Ressource Management“. Insbesondere zwei Komponenten sind dabei von Bedeutung: Kommunizieren und Antizipieren. Gelände:
Abb. 4
Wasserdurchfahrt nach Starkregen (mit freundlicher Genehmigung der RWE Power AG)
Versuchen Sie durch Kommunikation von medizinisch erfahrenen externen Rettungskräften und betrieblich erfahrenen Mitarbeitern des Tagebaus die Anforderungen an das gemischte Team einzuschätzen.
Einmal vor Beginn der Fahrt in den Tagebau: Was benötigen wir an Material und wie wird es so für den Transport gesichert, dass es vor Ort noch gut verwendbar ist? Einmal an der Einsatzstelle: Welche Medizingeräte werden unmittelbar am Patienten benötigt und welche nicht
(Verschmutzung!), gibt es noch Hilfe beim Transport der Materialien (weitere fachfremde Mitarbeiter etc.), ist mit besonderen Schwierigkeiten (schlechte Zugänglichkeit des Patienten, längere Verweildauer) zu rechnen? Zuletzt muss an der Einsatzstelle zeitnah entschieden werden, ob dem Patienten ein bodengebundener Transport aus dem Tagebau zugemutet werden kann oder ein Hubschraubertransport eingeleitet werden muss. Hierbei sollten die eigenen Erfahrungen aus der Anfahrt zur Einsatzstelle zur Einschätzung der erreichbaren Immobilisationsqualität herangezogen werden. Die geförderte Braunkohle enthält in ihrem Grundzustand eine relativ hohe Restfeuchte und ist nicht leicht entzündlich. Allerdings kann sich insbesondere bei trockener Witterung der Braunkohlenstaub auf allen möglichen Oberflächen niederschlagen. Zusammen mit der Reibungswärme der vielen Antriebe und mechanischen Komponenten besteht im Tagebau immer eine latente Feuergefahr, der die Betriebe mit eigenen Feuerwehren begegnen. Insbesondere im Bereich der Großgeräte (Bagger und Absetzer) sind Brände gefürchtet, da diese den Fluchtweg über den schmalen Mittelteil des Baggers, den sogenannten Drehkranz versperren können. Für diese Einsatzlagen sind besondere Abseilsysteme (sogenannte Selbstretter) als zweiter Fluchtweg für die Mitarbeiter vorgesehen (s. Abb. 5). Feuer/ Brand:
Abb. 5
Selbstretter im Tagebau (mit freundlicher Genehmigung der RWE Power AG)
Grundsätzlich ist die Versorgung aus der Luft sehr gut für den Bereich des Tagebaus geeignet, da hier viele Probleme des Erreichens der Luftrettung:
Einsatzstelle naturgemäß entfallen. Hierbei ist eine Auswahl und Sicherung des Landeplatzes durch die Feuerwehr vorgesehen. So kann die Festigkeit des Untergrundes beurteilt werden und nicht sichtbare Gefahren wie oberflächlich liegende Starkstromkabel (z.B. 5 kV) zur Energieversorgung der Großgeräte berücksichtigt werden. Bei Bedarf erfolgt eine Markierung des Platzes durch Rauchfackeln und bei trockener Witterung wird der vorgesehene Landeplatz bewässert, um ein Aufwirbeln des brennbaren Kohlenstaubes zu verhindern (s. Abb. 6).
Abb. 6
Einsatz Luftrettung (mit freundlicher Genehmigung der Lausitz Energiebergbau AG)
Bei Unfällen/Erkrankungen im Bereich der Schaufelradbagger/Absetzer sind zur Rettung der Patienten oft Höhenunterschiede bis zu 96 m zu bewältigen. Zur schnellen und schonenden Rettung ist hier im Regelfall eine vertikale Rettung über vorgegebene Anschlagpunkte oder zugelassene Krananlagen einem Transport des Patienten über die engen Stege und Leitern der Geräte vorzuziehen. Die Ausrüstung und die Expertise der Mitglieder der gemischten Teams erlauben im Regelfall allerdings nicht ein „Doppelwinch-Verfahren“ analog zur Bergrettung, d.h. der Patient ist im Regelfall für den Zeitraum des Winchvorganges (ca. 1 min) ohne medizinische Betreuung. Komplexere Höhenrettungsverfahren erfordern die frühzeitige Einbindung von regionalen Höhenrettungsteams. Höhenrettung:
Die Braunkohlenflöze sind aufgrund ihrer geologischen Entstehungsgeschichte im Regelfall von vielen Metern Lockergestein (Bergkies/Sand etc.) überdeckt. Beim Abtragen dieser Schichten entstehen steile Böschungskanten. Bei Einsätzen im Rutschungsbereich von Böschungen oder Schachtkanten ist betrieblichen Anweisungen, welche Bereiche sicher zu betreten sind und welche nicht, strikt Folge zu leisten. Schacht/Böschung:
Auf dem Weg zum Einsatz Auffinden der Einsatzstelle durch Rendezvous-System mit betrieblichen Kräften an festen Zufahrtpunkten vollständige PSA erforderlich Erschwernis durch unwegsames Gelände und Dreck nicht unterschätzen an alternative Luftrettung denken gewissenhaft dokumentieren
Auf den Punkt gebracht Die Herausforderungen bei Einsätzen im Tagebau unterscheiden sich medizinisch nur unwesentlich von denen der präklinischen Notfallmedizin im Allgemeinen, aber nur durch enge Kommunikation und Zusammenarbeit mit den betrieblichen Spezialisten können folgenreiche Probleme beim Erreichen der Einsatzstellen und bei der Auswahl der Transportwege vermieden werden. Organisatorische bzw. einsatztaktische Aspekte sind oftmals die größten Herausforderungen bei Notfällen im Tagebau. Der Originalbeitrag wurde von Dr. med. Robert Dujardin verfasst.
4
Einsätze in Bergwerken
Arndt Melzer
4.1
Einsatzbedingungen und Risikobewertung
In Deutschland gibt es mehrere Dutzend aktive Bergwerke, unzählige ehemalige Betriebe und Stollen mit Arbeitstiefen bis zu 1.500 m unter Normalnull. Abgebaut werden neben Steinkohle in großem Maße auch Kali und Salz, Kaolin und Schiefer. Das tiefste aktive Bergwerk ist das Kalibergwerk Sigmundshall in Wunstorf. Schon 1997 wurde dort das Niveau der 1.400 m Sohle erreicht. Die Bedingungen für Einsätze in dieser Tiefe unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht von einem klassischen Rettungsdiensteinsatz. Die Temperatur nimmt in zunehmender Tiefe zu (s. Abb. 1). Im Werk Sigmundshall beispielsweise werden Temperaturen von bis 50°C gemessen. Durchschnittlich beträgt die Arbeitstemperatur im Bergbau jedoch ca. 23–25°C bei hoher Luftfeuchtigkeit bis zu 90%.
Abb. 1
Arbeitsplatztemperatur in Abhängigkeit der Gebirgstiefe (mit freundlicher Genehmigung des Ring Deutscher Bergingenieure e.V. BV Niederrhein)
Die Einsatzbedingungen sind gekennzeichnet durch die räumliche Enge, die Abhängigkeit vom künstlichen Licht, lange Transportwege, Gefahren durch toxische Gase und Hypoxie („nicht atembare Luft“) und in manchen Betrieben auch Unter- oder Überdruckarbeitsbereiche. Dank der ausgedehnten Feuerschutzmaßnahmen sind Brände unter Tage zum Glück sehr selten geworden. Schmutz, Staub und teilweise schlechte Beleuchtung erschweren die Arbeit unter Tage. In einigen wenigen Bergwerken werden Höhlentaucher eingesetzt, bei denen auch ein Tauchunfall unter Tage eintreten könnte. Neben Einsätzen im gewerbsmäßigen Bergbau sind unter Tage auch Notfälle im Freizeitbereich denkbar wie z.B. in Schaubergwerken, bei Höhlenbesuchern, Höhlenkletterern und Höhlentauchern. In der Organisation des Grubenrettungswesens werden zwei Systeme unterschieden. Das aktive zentrale System mit Berufsgrubenwehren, die sich in ständiger Alarmbereitschaft auf einer mit allen Rettungsmitteln ausgerüsteten Zentralstation befinden. Das passive zentrale System ist in vier Hauptstellen organisiert, die mit den Aufgaben Ausbildung,
Begutachtung und Überwachung der Rettungsstationen, Gerätekontrolle, und der Organisation der gegenseitigen Hilfeleistungen betraut sind. Die möglichen Risiken sind in den verschiedenen Bergbauarten sehr unterschiedlich. Im Steinkohlebergbau beispielsweise besteht das Risiko von Schlagwettern bei hohen Methankonzentrationen mit erhöhter Explosionsgefahr, der Gefahr von Kohlestaubbränden oder Schwefelwasserstoffausbrüchen. Im Kalibergbau besteht eher die Gefahr von CO2- und N2-Ausbrüchen und der Entwicklung von hypoxischen Gasgemischen. Im Uranabbau oder in Zwischen- bzw. Endlagerstätten kann es potenziell zu Strahlenschäden kommen. Weiterhin sind Verkehrsunfälle mit PKW oder LKW, First- und Stoßfälle mit eingeklemmten Personen oder Verletzungen an den Förderanlagen mögliche Unfallszenarien unter Tage. Die zunehmende Temperatur in größeren Tiefen, radioaktive Substanzen zur Markierung, Laugen und Starkstrom sind weitere Gefahren, auf die sich Notärzte und Notfallsanitäter vorbereiten sollten, in deren Rettungsdienstbereich ein Bergwerk liegt. Gemeinsame Übungen sind wichtig zur Vorbereitung möglicher Einsätze und zum Abbau von Ängsten und Unsicherheiten. Es gibt bei den meisten Rettungsdienstmitarbeitern keine klare Vorstellung von den Verhältnissen unter Tage. Oft sind diese bei einer Übung positiv überrascht über die Größe der Gänge und Stollen, die in vielen Bereichen denen einer U-Bahn-Station gleichen. Jeder Rettungsdienstmitarbeiter sollte vor dem Einfahren in den Schacht selbstkritisch bewerten, ob das Risiko besteht, Platzangst in engen Räumen oder großer Tiefe zu entwickeln. Ist dies der Fall, sollte eine Einfahrt auf keinen Fall erfolgen und ein weiteres Team zur Einsatzstelle nachgefordert werden. Das gilt auch für mangelnde körperliche Leistungsfähigkeit bei möglicherweise langen Wegen und engen Verhältnissen unter Tage. Fährt das Notarzt-Team in den Schacht ein, muss kritisch geprüft werden, ob eine potenziell brennbare Atmosphäre zu erwarten ist. Im Kalibergbau ist dies nicht zu erwarten, im Steinkohlebergbau jedoch kann es durchaus zu sog. Schlagwettern, also potenziell brennbaren und explosionsgefährdeten Gasgemischen kommen. In diesen Fällen darf die herkömmliche medizinische Ausstattung wegen möglicher statischer Entladungen und Funkenbildung nicht benutzt werden und es muss auf die von dem
Bergwerksunternehmen vorgehaltenen Geräte zurückgegriffen werden. Vor einer Defibrillation im Steinkohlebergwerk muss beispielsweise zuerst Methan (CH4) freigemessen werden. Beim Auftreten von Methan kann es zu explosiven Gasgemischen kommen. Eine enge Rücksprache mit dem Einsatzleiter vor Ort ist unabdingbar.
4.2
Technische Sicherungs- und Rettungsverfahren
Die technische Sicherung und Rettung wird durch die Grubenwehr gewährleistet, die örtlichen Feuerwehren fahren in der Regel nicht in die Schächte ein. Die Verfahren von medizinischen Hilfeleistungseinsätzen werden von dem betroffenen Bergbauunternehmen, der zuständigen Bergbehörde (§ 74 BbergG) sowie der Berufsgenossenschaft BG Rohstoffe und chemische Industrie festgelegt und geleitet. Die Berufsgenossenschaften haben bundesweit vier Hauptstellen für das Grubenrettungswesen eingerichtet, die jeweils verschiedene Schwerpunktaufgaben wahrnehmen. Dabei handelt es sich um die Hauptstellen: Herne mit dem angegliederten Referat für Brandschutz, Clausthal-Zellerfeld mit dem Schwerpunkt Notfallprävention und dem Referat Notfallmanagement, Leipzig mit dem Schwerpunkt Absturzprävention und Hohenpeißenberg mit dem Referat für Atemschutz. Jeder Bergbauunternehmer stellt einen Notfallplan auf, indem die Alarmierungswege der Grubenwehr sowie die Organisation des „ärztlichen Hilfswerkes“ festgelegt sind. Die Alarmierungskette und der Ablauf eines Rettungsdiensteinsatzes unter Tage unterscheiden sich von einem regulären Notfall-Einsatz über Tage. Bei einem Zwischenfall unter Tage wird zunächst die Schacht-Leitstelle des Bergwerks alarmiert die gegebenenfalls den Grubenwehralarm auslöst. Während sich die Grubenwehr sammelt, flüchtet die Belegschaft unter Tage in festgelegte, sichere Bereiche. Die Kenntnis über die Richtung der Frischund Abluftwege, die im Bergbau allgemein als Wetter bzw. Bewetterung bezeichnet werden, ist wichtig. Frische Luft (Frischwetter) wird über einen
Schacht eingezogen, durch die Strecken geleitet, und an einem anderen Schacht wieder aktiv angesaugt und als sogenanntes Abwetter „ausgezogen“. Bei einem Brand unter Tage findet eine Flucht immer frischwetterseitig aus dem Gefahrenbereich heraus, also dem Frischluftstrom entgegen. Befinden sich die Betroffenen auf der Abwetterseite eines Ereignisses, müssen sie bis zum Zuströmpunkt eines von dem Ereignis unbelasteten Wetterstromes flüchten. An dieser Stelle hat man einen sogenannten Fluchtendpunkt erreicht, wo sich die Belegschaft sammeln kann. Fluchtwege müssen so angelegt sein, dass die maximale Flucht zu Fuß eine Zeit von 90 min nicht überschreitet. Im Steinkohlebergbau sind schon seit 1957 alle Beschäftigten mit einem FilterSelbstretter (FSR) ausgerüstet. Dabei handelt es sich um ein Fluchtgerät zum Schutz gegen CO und andere toxische Gase. Für mindestens 60 min kann der Bergmann damit auch zu Fuß zum nächsten Fluchtendpunkt flüchten. Für Sonderfälle werden in einigen Betrieben auch außenluftunabhängige Sauerstoffselbstretter vorgehalten. In den letzten 50 Jahren wurden FSR in ca. 800 Fällen zur Flucht benutzt. Moderne Bergwerke haben eine erhebliche Ausdehnung mit einem Streckennetz von teilweise mehreren 100 km. Transporte unter Tage werden mit LKW, PKW, Grubenbahnen, Hängebahnen, Förderbändern oder mit Fahrrädern und zu Fuß bewältigt. Da die Einsätze unter Tage teilweise sehr viel Zeit in Anspruch nehmen, müssen die zuständigen Leitstellen rechtzeitig für Ersatz der NEF und RTW-Teams sorgen, die ähnlich wie beim Rettungstunnelzugeinsatz unter Umständen mehrere Stunden gebunden sind. Aufgrund der langen und teils komplizierten Anfahrtswege zum Materiallager und zur anschließenden Sammelstelle im Bergwerk, dauert es länger als bei herkömmlichen Feuerwehreinsätzen, bis die Grubenwehr einsatzbereit ist. In einem sicheren Frischwetterbereich wird eine Bereitschaftsstelle eingerichtet, die über alle notwendigen Kommunikationsmittel verfügt. Funkverbindungen sind in vielen Bergwerken aus verschiedenen Gründen nicht möglich, ein Telefonnetz unter Tage ermöglicht jedoch eine effektive Kommunikation mit der Leitstelle über Tage. Besetzt wird die Stelle mit einem Oberführer, Gerätewarten und den Grubenwehrtrupps. Innerhalb von 30 min müssen
zwei Trupps der Grubenwehr bereitstehen. Ein Trupp besteht aus 5 Mann, die abwechselnd in den Gefahrenbereich einfahren oder vermisste Personen suchen. In der Bereitschaftsstelle laufen alle Informationen zusammen und werden an die Einsatzleitung über Tage weitergegeben. Das „ärztliche Hilfswerk“ steht anders als im öffentlich-rechtlichen Rettungsdienst grundsätzlich unter der Führung der zuständigen Einsatzleitung, die wiederum zum Teil dem Bergamt und der Berufsgenossenschaft unterstellt ist. Rettungsdienst und Notarzt werden je nach Meldebild schon von der Schachtleitstelle, oder erst nach Sichtung, von der Einsatzleitung über die regional zuständige, integrierte Leitstelle angefordert. Die Ausbildung zum Grubenwehrmann umfasst neben der Feststellung der körperliche Eignung, eine vierzigstündige Grundausbildung, eine Atemschutzausbildung sowie eine Erste Hilfe Schulung. Die Ausrüstung der Grubenwehr ist sehr umfangreich. Neben Atemschutzgeräten, Gasmessgeräten und Löschgeräten werden auch Auf- und Abseiltechnik, Gezähe wie Abbauhammer, Spitzeisen und Spitzhacken, verschiedene Kommunikationsmittel und eine ausgedehnte Erste Hilfe Ausrüstung vorgehalten. Ein spezielles Rettungsgerät ist die sogenannte Dahlbuschbombe. Dabei handelt es sich um eine ca. 3 m lange stählerne torpedoförmige Rettungskapsel, mit der eingeschlossene Bergleute durch enge Bohrlöcher gerettet werden können. Sämtliche wichtige Adressen und Ansprechpartner für den Notfall unter Tage werden in einem Verzeichnis für „Rettungswerke bei Grubenunglücken“ von der BG RCI geführt und in der aktuellsten Version auf deren Website online gestellt (www.bgrci.de). Speziell geschulte Höhlenrettungseinheiten sind erreichbar über die Rettungsleitstellen in: Esslingen: Höhlenrettung Baden-Württemberg e.V., Göppingen: Malteser Höhlenrettung in Uhingen, München: Höhlenrettung Südbayern und Bamberg: Höhlenrettung Nordbayern.
4.3
Physiologische und pathophysiologische Besonderheiten
Verschiedene, oft langsam und kontinuierlich verlaufende Oxidationsvorgänge führen zu einer leichten Absenkung des relativen O2Gehalts in der Grubenluft auf etwa 20Vol%. Dementsprechend ist der CO2Gehalt unter Tage etwas erhöht („Matte Wetter“). In den Abwettern können Methan (CH4) und Spuren von hochgiftigem Kohlenmonoxid enthalten sein. In schlecht bewetterten Abschnitten wie etwa in Blindschächten oder bei Bränden und Explosionen verändern sich die Gasgemische dramatisch. Bei Sprengarbeiten beispielsweise entstehen Nitrose Gase und CO, bei Verwendung von toxischen Arbeitsstoffen kann Formaldehyd entstehen, Phenole entwickeln sich bei Kunstschaumeinbringung und Schwefelwasserstoff bei Anfahren von Standwasser. Physiologische Veränderungen bei verschiedenen inspiratorischen O2- Konzentrationen Bei 21–18 Vol% O2 besteht keine Beeinträchtigung für die Belegschaft oder das Rettungsteam. Der O2-Grenzwert für Arbeiten unter Tage liegt bei 18 Vol% O2. Bei 18–14 Vol% O2 nehmen das Atemminutenvolumen und die Herzfrequenz zu, es folgt eine Beeinträchtigung des Muskelzusammenspiels. Bei 14–10 Vol% O2 kommt es zu Tachykardie, Tachypnoe, Vomitus, Schwäche oder Zynose. Bei 10–5 Vol% O2 sind Zyanose, Koma und Tod die Folgen.
Bei der Auffahrt aus einem Bergwerk treten während der Seilfahrt im Förderkorb bei Geschwindigkeiten von 8 m/sek hohe Beschleunigungskräfte auf. Das kann bei hypovolämen oder kardial instabilen Patienten zur endgültigen Dekompensation führen. Durch die starke Beschleunigung kann es zu Volumenverschiebungen kommen und damit zu einer verminderten rechtsventrikulären Vorlast. Die reduzierte rechtsventrikuläre Füllung kann zu relevanten Blutdruckeinbrüchen führen, zur Minderperfusion, Mikrozirkulationsstörungen und letztlich zur
Verstärkung der Azidose und Hypoxie. Bei einem Notfall werden alle Seilfahrtsanlagen vom automatischen Betrieb umgestellt und mit einem Fördermaschinist besetzt. Dieser kann eine schonende Langsamfahrt ermöglichen. Hierzu ist eine ständige enge Absprache zwischen Notarztteam und Einsatzleitung essenziell.
4.4
Therapeutische Strategien
Die wichtigsten Strategien sind das Prinzip der initialen Flucht und das der Selbstrettung der Belegschaft. Die Rettung von verletzen oder erkrankten Personen kann erst erfolgen, wenn keine Eigengefährdung mehr vorliegt. Bei einem medizinischen Notfall unter Tage muss primär abgeklärt werden, ob der Patient zum Arzt über Tage gebracht werden kann oder ob der Arzt zum Patienten einfahren muss. Unter Tage stehen alle üblichen Rettungsdienstmittel zur Verfügung wie Schaufeltrage, Vakuummatratze oder Schleifkorbtrage. In vielen Betrieben gibt es Zweiradwagen, auf denen man eine Trage verlasten kann, um damit den Patienten zum Schacht zu bringen. Optimaler sind natürlich Transporte mit herkömmlichen oder umgebauten RTW, die in einigen Bergwerken unter Tage zu Verfügung stehen. Wichtig ist es, als hinzugerufener Rettungsdienst sämtliches Material, Geräte und Medikamente mitzunehmen, da der eigene RTW, das NEF oder RTH nicht mehr ohne weiteres erreichbar sind. Hier bietet die Luftrettung einen Vorteil, da im Hubschrauber sämtliches Equipment ohnehin kompakt in Rucksäcken zusammengefasst ist. Die Hubschrauber können nicht immer direkt an der Einsatzstelle landen, weshalb das Team regelhaft sämtliches Material zur Einsatzstelle tragen muss. In vielen NEFs sind die Materialien hingegen einzeln verlastet und müssen ausgeräumt und dann noch so verpackt werden, dass sie in den Schacht und unter Tage möglicherweise viele Kilometer weit transportiert werden können Prinzipiell muss der Patient unter Tage möglichst weitgehend stabilisiert und therapiert werden, da ein Transport aus dem Bergwerk und dann weiter in das nächste Traumazentrum viel mehr Zeit in Anspruch nimmt als bei klassischen Rettungsdiensteinsätzen. Die Grubenwehren verfügen über speziell entwickelte Beatmungsgeräte wie das Wiederbelebungsgerät
Dräger Oxylog LA Bergbau oder den Oxylator der Firma Barthels und Rieger, mit dem die Ersthelfer bereits eine Beatmung beginnen können. Dabei handelt es sich um CPAP-Masken die dem Patienten umgeschnallt werden und eine NIV-Beatmung durch die Grubenwehrleute ermöglicht. In den meisten Betrieben wird weiterhin eine ausreichende Anzahl an AEDs über und unter Tage vorgehalten, womit eine suffiziente Initialtherapie erfolgen kann. Auf dem Weg zum Einsatz Bei Ankunft im Bergwerksbetrieb Absprache mit der Einsatzleitung über Tage: Was ist passiert? Wie viele Patienten sind zu erwarten? Gefährdungspotenzial für das Rettungsteam (toxische Gase, Steinschlag, Explosionsgefahr)? Muss das Team einfahren oder wird der Patient zum Notarzt gebracht? Wenn eingefahren werden muss: Wie weit sind die Wege unter Tage, wie wird das Team transportiert? Befindet sich der Patient noch am Unfallort oder schon in der Bereitschaftsstelle? Kann das eigene Equipment benutzt werden oder wird auf das vorhandene Material zurückgegriffen? Gibt es vermisste Personen? Vor dem Einfahren: Anlegen der Bergwerks-Schutzausrüstung mit Helm, Grubenlampe und als Fluchtgerät ein Filterselbstretter wie z. B. den Oxy 6000. Sind alle Materialien und Medikamente mit dabei? Ausreichend Sauerstoff für lange Wege unter Tage? Kein Kollege mit Platzangst im Team? Kurzeinweisung durch den Steiger/Bergewerksbetrieb und Anlegen der Schutzausrüstung erfolgt? Am Patienten: übliche Versorgung nach den aktuellen Leitlinien, grundsätzlich „Stay and Play“ bei oft sehr langen Transportwegen, Stabilisierung des Patienten, soweit unter Tage möglich, und sorgfältige Lagerung vor Transport, Schienung aller Frakturen, großzügige Indikation beim Legen von Thoraxdrainagen und
vorsichtige Auffahrt bei instabilen Patienten (hohe Beschleunigungskräfte).
Auf den Punkt gebracht Selbstrettung der Belegschaft hat im Falle eines Grubenwehralarms höchste Priorität. Sämtliches Equipment und Material muss von Anfang an mit eingefahren werden, da ein Nachholen aus dem NEF oder RTW nicht möglich ist. Teammitglieder mit möglicher Platzangst dürfen nicht einfahren. Überprüfung, ob eine Nutzung elektrischer Geräte gefahrlos möglich ist (elektrostatische Entladungen in einer potenziell explosiven Atmosphäre). Lange Transportwege unter Tage erfordern gute Vorbereitung und die Stabilisierung des Patienten unter Tage („Stay and Play“). Enge Absprache mit der Einsatzleitung über Tage und dem Oberführer in der Bereitschaftsstelle unter Tage. Langsames Auffahren bei instabilen Patienten.
Literatur Deutschen Ausschusses für das Grubenrettungswesens (1991) Empfehlungen des Deutschen Ausschusses für das Grubenrettungswesens für die Vorbereitung und Durchführung von Rettungswerken. Essen: Verlag Glückauf Herbstreit F (2010) Notfälle unter Tage, Up2date (5) 2010, 169–180 Hermühlheim W (Hrsg.) (2007) Handbuch für das Grubenrettungswesen im Steinkohlebergbau. Essen: VGE Verlag Raatz C (2016) Notfall unter Tage, Bergbau-Studenten proben den Ernstfall. Dresdner Neueste Nachrichten. Stand: 13.07.2016. URL: http://www.dnn.de/Region/Mitteldeutschland/Notfall-unter-Tage-Bergbau-Studentenproben-den-Ernstfall, zuletzt zugegriffen am 07. März 2018
5
Notfälle in Überdruckbaustellen
Wilhelm Welslau und Roswitha Prohaska
5.1
Einsatzbedingungen und Risikobewertung
5.1.1 Arbeiten unter Überdruck Im Tunnelbau und bei Bauwerken, die im Bereich mit hohem Grundwasserdruck errichtet werden (Brückenpfeiler-Fundamente …), müssen Erdschichten und Gestein oft unter Überdruck-Bedingungen abgebaut werden. Durch erhöhten Luftdruck wird das Grundwasser aus dem Abbaubereich verdrängt. Der Überdruck im Abbaubereich muss dabei dem Grundwasserdruck entsprechen. Personal und Material muss über Schleusen in die Arbeitskammer ein- und ausgeschleust werden. Für Druckluftarbeiter herrschen Bedingungen, die einem Tauchgang in entsprechender Wassertiefe vergleichbar sind, allerdings ohne die mit der Immersion verbundenen Risiken. Viele Bereiche auf Druckluftbaustellen stehen unter normalem atmosphärischem Druck (ca. 1 bar). Überdruck: Der Luftdruck im Abbaubereich wird in der Regel entsprechend dem dort herrschenden Grundwasserdruck erhöht. Pro 10 m Tiefe unter dem Grundwasserspiegel muss man den Luftdruck um 1 bar erhöhen. Daher beträgt der Luftdruck in 10 m Tiefe: 2 bar, in 20 m Tiefe: 3 bar, in 30 m Tiefe: 4 bar usw. Überdruckbereich: Im Abbaubereich ist der Luftdruck erhöht. Je nach Arbeitsverfahren (s. Kap. 5.1.2) ist dieser Bereich unterschiedlich groß. Eine druckfeste Wand mit Durchführungen trennt den Überdruckbereich von den übrigen Baustellenbereichen. Personenschleuse: Normaldruck- und Überdruckbereich sind durch eine oder mehrere Personenschleusen verbunden. Dort wird der Luftdruck:
Luftdruck langsam erhöht oder verringert, um von einem in den anderen Druckbereich zu gelangen. Ausschleusung: Für die Ausschleusung von Personal aus dem Überdruckbereich müssen vorgeschriebene Zeiten eingehalten werden (Minuten bis Stunden, abhängig von Überdruck und Expositionszeit).
5.1.2 Arbeitsverfahren Arbeiten in Überdruck werden typischerweise bei folgenden unterschiedlichen Rahmenbedingungen durchgeführt: Beim Tunnelbau mit Tunnelbohrmaschinen (TBM) arbeiten Druckluftarbeiter nur dann unter Druck, wenn der Bohrkopf kontrolliert oder repariert werden muss (im Überdruckbereich direkt hinter dem Bohrkopf, s. Abb. 1 u. Abb. 2). Der Bohrkopf ist eine langsam rotierende Stahlkonstruktion mit auswechselbaren „Abraumwerkzeugen“ (Schaber und Rollmeißel) mit dem Außendurchmesser des Tunnels. Taucherarbeit in Tunnelbohrmaschinen: Einige TBM arbeiten im Abbaubereich mit einer Stützflüssigkeit (Bentonit). Bei Reparaturen werden hier ggf. auch Berufstaucher eingesetzt, wenn Arbeiten in der Stützflüssigkeit (als Taucherarbeit) durchzuführen sind (s. Abb. 2). Druckluftarbeit in Tunnelbohrmaschinen:
Abb. 1
Tunnel-Baustelle mit Tunnelbohrmaschine (TBM) ohne Stützflüssigkeit im Abbaubereich (Grafik: Wilhelm Welslau)
Abb. 2
Tunnel-Baustelle mit Tunnelbohrmaschine (TBM) mit Stützflüssigkeit (Bentonit) im Abbaubereich (Grafik: Wilhelm Welslau)
Bei klassischer Druckluftarbeit arbeiten Druckluftarbeiter bis zu mehrere Stunden täglich im Überdruck, im Abbaubereich eines „Senkkastens“ (Caisson, s. Abb. 4) oder an der „Ortsbrust“ einer Tunnelbaustelle (s. Abb. 3). Dieses Verfahren wird im Tunnelbau immer seltener angewendet. Druckluftarbeit im Vollschichtbetrieb:
Abb. 3
Tunnel-Baustelle mit Druckluftarbeit im Vollschichtbetrieb. Der gesamte Bereich zwischen druckfester Wand und Ortsbrust steht unter Überdruck (Grafik: Wilhelm Welslau)
Abb. 4
Senkkasten (Caisson) mit Abbaubereich unter Überdruck, um Grundwasser zu verdrängen und Erdschichten und Gestein „trocken“ abbauen zu können, z.B. für Brückenpfeiler (Grafik: Wilhelm Welslau)
Sonderfall, nur bei Druckluftarbeiten in großen Tiefen. Die Arbeiter verbleiben für mehrere Tage im Überdruckbereich. Vorteil: Vermeidung von wiederholten langen Ausschleuszeiten. Cave: Notfallmanagement schwierig, da die Ausschleusung viele Stunden bis Tage dauern kann! Druckluftarbeit unter Sättigungsbedingungen:
5.1.3 Notfallplanung auf Druckluftbaustellen Unabhängig vom Arbeitsverfahren in Überdruck (s. Kap. 5.1.2) sind die folgenden Bedingungen in der Regel auf jeder Druckluftbaustelle im deutschsprachigen Raum (D, A, CH) anzutreffen: Ein verantwortlicher Druckluftarzt ist in der Regel auf der Baustelle anwesend oder in Rufbereitschaft erreichbar. Er kann Druckluftarzt:
den Notarzt unterstützen, wenn Patienten aus dem Überdruckbereich ausgeschleust werden müssen Schleusenaufsicht: Eine Person ist als Schleusenaufsicht an der Personenschleuse für das korrekte Ein- und Ausschleusen entsprechend Ausschleustabellen für Routine- und Notfälle verantwortlich. Notfalleinweisung: Alle mit Druckluftarbeiten betrauten Personen sind in das Verhalten bei Notfällen auf der jeweiligen Baustelle eingewiesen. Notfallplan: Ein Notfallplan für Unfälle im Überdruckbereich sollte auf der Baustelle und auch direkt an der Personenschleuse vorhanden sein. Behandlungsdruckkammer: Eine Behandlungsdruckkammer mit qualifiziertem Personal ist im Baustellenbereich oder in der Nähe vorzuhalten, um Drucklufterkrankungen unverzüglich zu therapieren (abhängig von der Höhe des Überdrucks, bei geringem Überdruck evtl. nicht vorhanden).
5.1.4 Risiken und Besonderheiten Druckluftarbeit kann in mehrfacher Hinsicht belastend sein. Zusätzlich ergeben sich besondere Risiken und Bedingungen auf Druckluft-Baustellen, welche speziell zu berücksichtigen sind: Abrutschen, Stürzen und Abstürzen, Verletzung durch Werkzeug, lokale Verbrennung und Inhalationstrauma (Schweißen und Brennschneiden), Ertrinken, Ersticken, Unfall durch elektrischen Strom. Typische Unfälle auf Baustellen sind:
Typische Unfälle für Überdruckarbeit sind:
Bei Druckänderung muss in Mittelohren und NNH ebenfalls der veränderte Druck hergestellt werden. Gasvergiftungen: Bei erhöhtem Umgebungsdruck wirken die einzelnen Gase entsprechend dem erhöhten Partialdruck ggf. Mittelohr- und NNH-Barotrauma:
toxisch: Stickstoff (Tiefenrausch), Sauerstoff, CO2 und CO (Atemluftqualität!) Dekompressionskrankheit: Die entsprechend dem Überdruck im Körper physikalisch gelösten Gase können bei zu schneller Ausschleusung in Blut und Geweben Blasen bilden und spezifische Symptome verursachen. Lungen-Überdruckbarotrauma: Behinderte Abatmung während der Ausschleusung führt durch Volumenzunahme zur Zerreißung von Lungengewebe. Baustellentypische Unfälle im Überdruckbereich:
Dekompressions-/Ausschleusungs-Vorschriften sind bei der Notfallversorgung zu beachten. Die Versorgung könnte kompliziert bzw. verzögert werden. Insbesondere zu berücksichtigen ist: Einschleusung: Nur drucklufttaugliche Personen (erfolgreiche Eignungsuntersuchung für Druckluftarbeiten/Taucherarbeiten) und drucklufttaugliche Geräte dürfen in den Überdruckbereich eingeschleust werden. Brandgefahr: Wegen des erhöhten Sauerstoffgehalts unter Überdruck können nicht alle Teile der Notfallausrüstung im Überdruckbereich eingesetzt werden (z.B. elektrisch betriebene Geräte). Schwere Arbeit unter Zeitdruck: Z.B. bei Bohrkopf-Revision in Tunnelbohrmaschinen, kann zu Dyspnoe führen (erhöhte Atemarbeit im Überdruck) und zu Hitzeerschöpfung (Dehydratation und Elektrolytverlust, bei Notfallversorgung zu berücksichtigen). Räumliche Verhältnisse: Im Abbaubereich und in der Personenschleuse bedingen einen erschwerten Zugriff zum Patienten, sowie ggf. lange Transportzeiten bis zum Tunneleingang (Tunnelmund) und evtl. eingeschränkte Kommunikationsmittel. Evakuierung: Eine direkte Evakuierung aus dem Überdruckbereich ist oft nicht möglich, wenn Ausschleusungszeiten einzuhalten sind (Minuten bis Stunden). Die Evakuierung muss wegen der Ausschleuszeiten und der notfallmedizinischen Versorgung während dieser Zeit (Material, Personal) in notfallmedizinischer und druckluftmedizinischer Hinsicht genau geplant werden.
5.2
Technische Sicherungs- und Rettungsverfahren
Grundsätzliche Überlegungen wegen druckluftspezifischer Risiken der Ausschleusung und beengter räumlicher Verhältnisse: Ausschleusung aus dem Überdruckbereich grundsätzlich entsprechend Notfallplan der Baustelle, vor Ausschleusung möglichst immer Rücksprache mit dem Druckluftarzt der Baustelle, Rettungsmittel für besonders beengte Verhältnisse ggf. einplanen (baustellenabhängig), Ausrüstung für spezielle örtliche Verhältnisse sollte auf der Baustelle vorhanden sein, immer Sauerstoffgerät zur Atmung von 100% O2 (mind. 15 l/min) und ausreichend O2-Vorrat mitführen (gut geeignet sind sogenannte Demand-Systeme) und Brandschutzbestimmungen im Überdruckbereich beachten, auch bei Verwendung von Medizingeräten (grundsätzlich erhöhte Brandgefahr!).
5.2.1 Erste Hilfe im Überdruckbereich In der Regel sind auf der Baustelle Personen für die Erste-HilfeMaßnahmen im Überdruck eingewiesen. Sie sind in die Notfallversorgung einzubeziehen, weil sie die Gegebenheiten der Baustelle besser kennen als Ersthelfer von außen. Der verantwortliche Druckluftarzt ist hierfür der erste Ansprechpartner. Grundsätzlich sollen Notarzt und Rettungspersonal nur dann in den Überdruckbereich eingeschleust werden, wenn sie zuvor auf Eignung für Arbeit im Überdruck untersucht wurden (staatliche ArbeitnehmerSchutzvorschriften). Am Einsatztag dürfen nur Personen in den Überdruckbereich eingeschleust werden, deren Belüftung von Mittelohren und Nasennebenhöhlen (Druckausgleich!) und die Lungenfunktion klinisch nicht beeinträchtigt ist. D.h. kein Schnupfen, keine Bronchitis mit starkem Husten etc.
5.2.2 Einschleusung von Notfallausrüstung Grundsätzlich sollte passende Notfallausrüstung für die Evakuierung auf der Baustelle vorhanden sein (alles, was über die Standardausrüstung eines NEF/NAW hinausgeht). Sollte zusätzlich Material in den Überdruckbereich eingeschleust werden, gilt es, Folgendes zu beachten. NICHT einschleusen: (Defibrillator, Monitor, Beatmungsgerät, Pulsoximeter, …) können nicht kalkulierbare Fehlfunktionen haben oder zerstört werden. Perfusoren sind im Überdruck evtl. nicht funktionssicher (Folientasten durch Überdruck betätigt). Elektronische Geräte
VORSICHT bei: können im Überdruck auslaufen (Stöpsel wird in die Flasche gedrückt). Bei geringem Überdruck (z.B. 1 bar) Einschleusen oft möglich, senkrecht transportieren (Stöpsel oben). Ampullen können im Überdruck (z.B. 4 bar) spontan implodieren oder beim Öffnen zersplittern. Daher evtl. vor dem Einschleusen Spritzen vorbereiten. Luftdichte Behälter können komprimiert oder zerstört werden: vor dem Einschleusen öffnen! Durchstechflaschen und gläserne Infusionsflaschen
5.3
Physiologische und pathophysiologische Besonderheiten
5.3.1 Druckluftbedingte Erkrankungen Ein Aufenthalt im Überdruck kann zu spezifischen Krankheitsbildern führen, die entweder bedingt sind durch unzureichenden Druckausgleich in luftgefüllten Körperhöhlen (bei Druck-Erhöhung oder Senkung) oder durch Toxizität von Atemgasen bei erhöhtem Druck. Die untenstehende Liste zeigt stichwortartig typische Krankheitsbilder mit Pathogenese (Path.),
Symptomen (Sy.) und Therapie (Th.). Symptome sind oft unspezifisch, Fehlinterpretationen sind leicht möglich. Im Zweifel mit dem Druckluftarzt der Baustelle beraten. Barotrauma im Bereich NNH:
Path.: durch behinderten Druckausgleich in Mittelohren oder Nasenebenhöhlen (z.B. bei Erkältung) Sy.: lokaler Schmerz, ggf. Vertigo, Sekretbildung oder Einblutung Th.: Nasenspray, abschwellende Maßnahmen Tiefenrausch:
Path.: Intoxikation durch N2-Partialdruckerhöhung (ab ca. 3 bar Überdruck) Sy.: alkoholrauschähnliche Zustände mit Störung von Konzentration, logischem Denken, Reaktionsfähigkeit, Kurzzeitgedächtnis, Urteilsvermögen, etc. Th.: Druckreduzierung akute O2-Intoxikation (hyperoxischer Krampfanfall)
Path.: Intoxikation des zentralen Nervensystems bei O2-Partialdruck > 1,6 bar, vor allem während Ausschleusung mit O2-Atmung, im Überdruckbereich bei Fehlern in der Verwendung künstlicher Gasgemische möglich. Sy.: Seh- und Hörstörungen, Muskelzuckungen (Mund, Hand), Schwindel, Übelkeit, generalisierter Krampfanfall. Th.: O2-Atmung beenden, Schutz vor Verletzungen, selbstlimitierend, Cave: KEINE Druckänderung ohne normale Atmung! CO2-Intoxikation:
Path.: unzureichende Frischluftspülung von Arbeitskammer/Schleuse Sy.: Kopfschmerz, Atemnot, Schwindel, Übelkeit und Verwirrtheit Th.: Frischluft-Spülung, Entfernung aus kontaminierter Atmosphäre, ggf. O2-Atmung CO-Intoxikation:
Path.: Verunreinigung der Atemluft (z.B. durch Arbeitsverfahren im Überdruck), Blockade der Atmungskette
Sy.: unspezifische neurologische Störungen und EKGVeränderungen Th.: Entfernung aus kontaminierter Atmosphäre, 100% O2-Atmung, ggf. Druckkammer (HBO-Therapie) Dekompressionskrankheit:
Path.: Ausperlen von N2-Blasen in übersättigtem Gewebe und Blut, besonders nach langer, tiefer Exposition oder schwerer Arbeit (besonderes Risiko bei Dehydratation) Sy.: je nach Gasblasenlokalisation: Hautjucken und -Marmorierung, Lymphstau, Schmerzen in großen Gelenken, neurologische Ausfälle (Gehirn, Rückenmark, Hirnnerven, Sensibilität, Motorik, Halbseite, Querschnitt, Bewusstlosigkeit), Dyspnoe Th.: 100% O2-Atmung, Hydrierung, Druckkammer (HBO-Therapie) Lungen-Überdruckbarotrauma:
Path.: Lungengewebezerreißung durch behinderte Abatmung bei Druckreduzierung, je nach Lokalisation: Arterielle Gasembolie
Path.: alveoläre Ruptur führt zu Gasembolie in perialveoläre Gefäße mit Fortleitung im arteriellen System Sy.: neurologische Ausfälle ähnlich Apoplex Th.: 100% O2-Atmung, Hydrierung, Druckkammer (HBOTherapie) Pneumothorax
Path.: pleuranahe Ruptur Sy.: Dyspnoe etc., wie bei traumatischem Pneumothorax Th.: jeder Pneumothorax ist vor dem Ausschleusen zu entlasten (Volumenzunahme bei Drucksenkung), Cave: unerkannter Pneumothorax führt zu Beatmungskomplikationen! Mediastinalemphysem/Pneumomediastinum
Path.: hilusnahe Ruptur mit oft verzögerter Luftfortleitung in die Halsweichteile Sy.: Schwellung, obere Einflussstauung, Schluckbeschwerden, Stimmveränderung
Th.: ggf. O2-Atmung, Cave: evtl. gleichzeitig Pneumothorax u/o arterielle Gasembolie!
5.4
Therapeutische Strategien
Die Therapie in einer Behandlungs-Druckkammer (z.B. auf der Baustelle) ist nur erforderlich bei Dekompressionskrankheit oder Lungenüberdehnung mit arterieller (i.d.R. cerebraler) Gasembolie. Eine Druckkammer-„Behandlung“ nach unfallchirurgischer Stabilisierung zum Nachholen ausgelassener Austauchzeiten sollte nur nach Rücksprache mit einem Druckluftarzt/Hyperbarmediziner erfolgen. Im Einzelfall ist zu entscheiden, ob ein Druckkammer-Zentrum mit stationärer notfallmedizinischer Versorgungsmöglichkeit einer Behandlung auf der Baustelle vorzuziehen ist. der Überdruck-Baustelle verwenden bzw. daran anknüpfen, da das Personal vor Ort diesbezüglich eingewiesen ist. Kooperation mit Druckluftarzt und Ersthelfern der Baustelle: Der Notarzt sollte sich mit dem Druckluftarzt verständigen, dieser kann die Risiken durch den Überdruck einschätzen und Entscheidungshilfen geben. Notfallausrüstung der Baustelle verwenden, da Dimensionen und Verwendbarkeit auf die Bedingungen der Baustelle abgestimmt sind. Schon während der Anfahrt die erforderliche stationäre Versorgung anfragen bzw. vorbereiten. Notfallplan
Ggf. Notwendigkeit einer evtl. erforderlichen Druckkammertherapie im
Druckkammer-Behandlungsmöglichkeit vor Ort? Nächste Druckkammer mit Möglichkeit zur stationären Weiterversorgung? Vorfeld abklären:
Auf dem Weg zum Einsatz Patienten im Überdruckbereich oder bei normalem Luftdruck? Wenn Patienten im Überdruckbereich: Kontaktaufnahme und Treffen mit Druckluftarzt vor Ort.
Notfallplan der Baustelle wo? Soll vorbereitet sein, ggf. schicken lassen. Örtliche Gegebenheiten für Patienten-Evakuierung aus Überdruckbereich erfragen. Ist für Evakuierung spezielle Gerätschaft auf der Baustelle vorhanden (Schleifkorbtrage, Kran mit Korb zur Personenbeförderung)? Vorbereiten lassen! Welche Ausrüstung soll zum Unfallort mitgebracht werden bzw. ist vor Ort? Druckluftgeeignete Notfallausrüstung der Baustelle zur Personenschleuse bringen lassen. Alle Ausrüstung mitnehmen, die aufgrund der Alarmierung evtl. erforderlich ist, insbesondere ausreichend Sauerstoff. Nachordern ist evtl. nur sehr verzögert möglich. Der Weg vom NEF/NAW zum Patienten ist evtl. recht weit (Tunnel …). Plan für Abtransport nächstes einsatzbereites Druckkammer-Zentrum? Kontaktmöglichkeit? Diensthabender Arzt?
Auf den Punkt gebracht In der Regel ist Versorgung nach aktuellen notfallmedizinischen Standards unter Berücksichtigung der Besonderheiten der hyperbaren Umgebung erforderlich. Druckluft-Baustellen sind oft schlecht erreichbar, der Schwerpunkt liegt auf der Evakuierung und Transportorganisation. Kontakt zwischen Notarzt und Druckluftarzt der Baustelle ist unerlässlich. Notfall-Logistik der Baustelle sollte erfragt und einbezogen werden. Befindet sich ein Patient im Überdruckbereich, kann der Notarzt i. d.R. nicht direkt zum Patienten, sondern der Patient wird von Ersthelfern der Baustelle vom Unfallort (oft ‚Arbeitskammer‘) in die Personenschleuse transportiert. Zur Personenschleuse besteht für den Notarzt Sicht- und Sprechkontakt, über die Vorkammer kann Notfallmaterial in die Personenschleuse eingeschleust werden. Der Notarzt kann die Ersthelfer in der Schleuse anweisen, was zu tun ist. Die Ausschleusung erfolgt ab einem bestimmten Druck in der Regel mit 100% Sauerstoff-Atmung entsprechend der Dekompressionsvorgaben für Notfälle, abhängig von Überdruck und vorangegangener Arbeitszeit. Not-Ausschleusung ist bei vitaler Bedrohung möglich, für die Risikoabwägung ist die Absprache mit dem Druckluftarzt der
Baustelle erforderlich.
Weiterführende Weblinks Leitlinie Tauchunfall, Download unter: https://www.gtuem.org/download-infos/sh-35.html https://www.oegth.at/60/downloads
6
Einsätze in Windenergieanlagen
Markus Stuhr und Nils Weinrich
6.1
Einsatzbedingungen und Risikobewertung
Nach Angaben vom Bundesverband Windenergie waren Ende 2015 rund 28.300 Windkraftanlagen an Land errichtet (Bundesverband WindEnergie 2022) und nach Angaben der Stiftung Offshore Windenergie zur Mitte des Jahres 2022 etwa 1500 Windkraftanlagen in Offshore-Windparks (OWP) am Netz (Deutsche WindGuard 2022). Je nach Bauart und Standort erreichen die Anlagen dabei Höhen von bis zu 150 m. Während Windkraftanlagen an Land („Onshore“) seit Mitte der 90er-Jahre in Deutschland fest etabliert sind, stellt die Errichtung von Windparks auf See („Offshore“) einen vergleichsweise jungen Zweig dieser Industrie dar. Für die Betrachtung von Notfalleinsätzen ergeben sich zwischen diesen zwei Bereichen gravierende Unterschiede.
6.1.1 Windkraftanlagen Onshore Windenergieanlagen an Land sind in aller Regel mit dem Auto, mindestens aber zu Fuß erreichbar. Damit ist gewährleistet, dass die Besatzung eines Rettungsmittels in der Regel Zugang zu einer solchen Anlage bekommen kann, wenngleich damit z.B. aufgrund schlechter Zuwegungen auch Schwierigkeiten verbunden sein können. Statistiken über Unfälle oder Erkrankungen auf Windkraftanlagen Onshore sind nur vereinzelt verfügbar (Dethleff et al. 2013), einzelne Fallberichte verdeutlichen aber die rettungstechnische Problematik (Dethleff et al. 2016a). Je nach genauer Lokalisation des Patienten in der Anlage ist mit erheblichen technischen Schwierigkeiten und der Notwendigkeit einer „Speziellen Rettung aus Höhen und Tiefen“ (SRHT, s. Kap. 6.2.1 „Spezielle Rettung aus Höhen und Tiefen“) zu rechnen und/oder dem Einsatz eines Rettungshubschraubers mit Windenausstattung. Einer Umfrage unter Höhenrettungsgruppen zufolge machen Einsätze in Windenergieanlagen allerdings nur einen kleinen Teil
unter allen Einsätzen aus, wohingegen die Anlagen als Übungsobjekte von Höhenrettungsgruppen häufiger frequentiert werden (Ruhrmann et al. 2010). Eine Auswertung von rund 1.100 Vorkommnissen aus dem Datenpool verschiedener Berufsgenossenschaften und Firmen (Dethleff et al. 2013) hat gezeigt, dass als vornehmliche Verletzungsmuster „umgeknickt“, „Stoßverletzung“, „Quetschung“, „Schnittwunde“ und „Prellung“ im Vordergrund stehen. Die hauptsächlich verletzten Körperteile sind mit abnehmender Häufigkeit Extremitäten, Kopf und Thorax. Absturzunfälle scheinen in der deutschen Onshore-Windindustrie gegenüber dem nationalen/internationalen Baugewerbe und der internationalen Offshore Öl- und Gas-Industrie prozentual deutlich geringumfänglicher vertreten zu sein. Der Grund hierfür könnte eine ausgeprägte Sicherheits- und Sicherungsmentalität im OnshoreWindbereich sein (Dethleff et al. 2013).
6.1.2 Windkraftanlagen Offshore Nach dem Seerechtsübereinkommen ist das deutsche Meeresgebiet in eine 12-Seemeilenzone (sog. Küstenmeer, Hoheitsgebiet des Küstenstaates) sowie den darüber hinausgehenden Bereich, die auf 200 Seemeilen begrenzte „Ausschließliche Wirtschaftszone“ (s. Abb. 1) aufgeteilt. Für Offshore-Windparks, die dort errichtet und betrieben werden, stellt sich ein Rechtsrahmen dar, der komplex und vielschichtig ist, in dem allerdings grundsätzlich das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) zur Anwendung kommt. Ein Rettungssystem mit einheitlicher Notrufnummer ist in den OffshoreWindparks nicht verfügbar. Entsprechend Satzung und Auftrag gehört die medizinische Versorgung und Rettung von Notfallpatienten auf den Strukturen der OWP (Windenergieanlagen, Plattformen) nicht zu den originären Aufgaben der Seenotrettung oder des maritimen Such- und Rettungsdienstes („SAR“), sodass die Unternehmen in der Pflicht sind, eine lückenlose Rettungskette bis in die Klinik zu etablieren. So hat der Arbeitgeber nicht nur für die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit, sondern auch für die Bereitstellung der zur Ersten Hilfe und Evakuierung erforderlichen Maßnahmen, Einrichtungen und Sachmittel sowie Rettungsgeräte und Rettungstransportmittel Sorge zu tragen. Zudem muss das erforderliche Personal zur Verfügung stehen, welches
unverzüglich Erste Hilfe leisten und eine ärztliche Versorgung veranlassen kann. (Stuhr et al. 2015).
Abb. 1
Übersicht zum Ausbaustand der Offshore-Windenergie (mit freundlicher Genehmigung der Stiftung Offshore Windenergie)
Im internationalen Vergleich stellen die Offshore-Windparks in der Nordund Ostsee aufgrund der naturräumlichen Rahmenbedingungen in Verbindung mit deren Entfernung zur Küste eine besondere Herausforderung für die Rettungsdienste dar. Die Anfahrt mit dem Schiff ist grundsätzlich möglich, eine schnelle Erreichbarkeit der teilweise bis zu 150 km entfernten Windparks aber nur luftgebunden darstellbar. Andere bisher errichtete Offshore-Windparks inner- und außerhalb Europas stehen überwiegend küstennah und sind somit sowohl mittels Hubschrauber als auch mit dem Schiff zeitnah erreichbar. Darüber hinaus muss berücksichtigt werden, dass die einzelnen Offshore-Windparks aufgrund der räumlichen Anordnung der Windenergieanlagen in der Regel sehr große Gebiete abdecken und somit besondere rettungstechnische und -logistische Anforderungen berücksichtigt werden müssen. Der Windpark „BARD Offshore 1“ (s. Abb. 2) in der deutschen AWZ der Nordsee umfasst z.B. eine Gesamtfläche von ca. 60 km2, die sich in etwa rechteckig in Nord-
Süd-Richtung erstreckt, und fast der Größe der Stadt Neumünster in Schleswig-Holstein entspricht. Auf dieser Fläche verteilen sich in einem regelhaften Muster 80 Windenergieanlagen und eine Plattform. Ein weiteres Beispiel ist der Offshore Windpark „Meerwind Süd/Ost“. Dieser Windpark liegt ca. 23 km nördlich der Insel Helgoland, besteht ebenfalls aus 80 Windenergieanlagen und umfasst eine Fläche von ca. 42 km2. Dies entspricht in etwa dem Areal einer Stadt wie Wismar.
Abb. 2
Windpark „Bard Offshore 1“ in der Nordsee (Foto: Dorothea Hory)
Die Arbeiten auf Windenergieanlagen und anderen Strukturen eines Offshore-Windparks finden wiederkehrend in engen Räumlichkeiten, in Höhen sowie an hoch- und tiefgelegenen Arbeitsplätzen statt. Hierzu zählen z.B. die Turmsegmente, das Maschinenhaus, die Rotorblätter, die Außenanlagen sowie die Gründungstrukturen. Diese Arbeitsplätze sind mit spezifischen Unfall- und Verletzungsgefährdungen verbunden. Bei Eintreten eines medizinischen Notfalls unterliegen die Rettungskräfte im
Rahmen der Notfallversorgung und der Patientenrettung den gleichen räumlichen und ortsspezifischen Limitationen und Gefährdungen wie die dort arbeitenden Personen. Die räumliche Enge in Windenergieanlagen wird insbesondere an Durchstiegen (s. Abb. 3), Luken, Türen, Gitterpforten sowie im Maschinenhaus und in den Rotorblättern deutlich. Diese spezifischen Örtlichkeiten können erschwerte Notfallversorgungs- und Rettungsbedingungen mit sich bringen. Kanten, hervorstehende Maschinenund Bauteile, enge Durchgänge sowie Steigleitern beeinträchtigen die Rettung und den Transport eines Schwerverletzten oder Akuterkrankten. Lufttemperaturen im Maschinenhaus von bis zu 35–40°C bei geschlossenem Dach erschweren die physisch ohnehin extrem anstrengenden Rettungsarbeiten in diesen Anlagenbereichen zusätzlich.
Abb. 3
Durchstieg vom Maschinenhaus auf die Windenbetriebsfläche (Foto: Nils Weinrich)
Mit den Offshore-Windparks ist in den letzten Jahren somit zusammenfassend eine ganz neue technisch-logistische Herausforderung auf hoher See entstanden.
6.2
Technische Sicherungs- und Rettungsverfahren
6.2.1 Spezielle Rettung aus Höhen und Tiefen
Die teilweise im Turm von Windenergieanlagen installierten seilgeführten Befahranlagen stehen aufgrund baulicher Limitationen (z.B. maximal zulässige Nutzlast) nur sehr eingeschränkt für Rettungsmaßnahmen zur Verfügung, sodass im Einzelfall Rettungsszenarien denkbar sind, deren Bewältigung Kenntnisse und Fertigkeiten der speziellen Rettung aus Höhen und Tiefen (SRHT) erfordert.
6.2.2 Sondersituation Offshore-Windpark Medizinische Notfälle in einem Offshore-Windpark, die den Einsatz eines professionellen Rettungsteams erfordern, können auf einer Plattform, einem Errichterschiff, einer Windenergieanlage, auf jedem sonstigen Wasserfahrzeug sowie im Wasser eintreten. In Abhängigkeit vom genauen Notfallort ergeben sich verschiedene Handlungsmöglichkeiten, wobei derzeit grundsätzlich die luftgestützte Rettung mittels Hubschrauber favorisiert wird. Dies setzt jedoch voraus, dass der Hubschrauber am Notfallort landen kann (z.B. Hubschrauberlandedeck auf einer Umspannoder Wohnplattform) oder auf der Windenergieanlage selbst eine entsprechend konfigurierte Windenbetriebsfläche installiert ist. Letzteres gibt dem Rettungsteam die Möglichkeit, per Windeneinsatz auf die Anlage zu gelangen und den Patienten auch über diesen Weg an Bord des Hubschraubers zu befördern (s. Abb. 4). Der Einsatz eines Hubschraubers unterliegt jedoch Limitationen, die im Wesentlichen durch Witterungsbedingungen, Sichtverhältnisse, Konfiguration der Strukturen im Offshore-Windpark sowie Größe des Flugmusters bestimmt werden.
Abb. 4
Windenrettung von einer Offshore-Windenergieanlage; Patientensimulationstraining (Foto: Matthias Ruppert)
Auch die wassergestützte Rettung mittels Schiffen unterliegt technischen Limitationen. So ist beispielsweise das Anlegen an einer Windenergieanlage im klassischen Sinne nicht möglich, sondern erfordert eine spezielle Bauart des Schiffes und der Gründungsstruktur der Anlage. Zusätzliche Limitationen ergeben sich z.B. durch die vorherrschenden Wellenhöhen. Bei Betrachtung der Anforderungen für ein in Offshore-Windparks funktionierendes Rettungssystem ist erkennbar, dass sich relevante Einzelaspekte in anderen etablierten Rettungskettenkonzepten wiederfinden lassen. Dazu zählen im Bereich der Luftrettung die Rettung mit einer Winde sowie Erfahrungen aus der alpinen Notfallmedizin, taktischen Medizin und der Rettung unter Tage. Die verschiedenen Konzepte und Inhalte sowie bestehende Erfahrungen müssen an die maritime Realität in OffshoreWindparks angepasst und – wo notwendig – erweitert werden. Ganz wesentlich von Bedeutung sind zudem die jahrzehntelangen Erfahrungen aus der internationalen Offshore Öl und Gas-Industrie, wie z.B. die Besetzung der Plattformen mit medizinischem Personal und die Verfügbarkeit eines Rettungshubschraubers als Rettungseinheit der ersten Wahl. Ausbildung des Personals
Aufgrund der besonderen Offshore-Risiken sollte jeder Offshore-Tätige zumindest als Ersthelfer ausgebildet sein. Als ausgebildeter Laie kann dieser als Erster am Ort des Geschehens geeignete Maßnahmen ergreifen, um akute Gefahren für Leben und Gesundheit abzuwenden. Er darf auf dem Gebiet der Ersten Hilfe aber nur das tun, was seinem Ausbildungsstand entspricht, und hat stets zu beachten, dass Erste Hilfe kein Ersatz für ärztliche Maßnahmen ist. In dem durch Aus- und Fortbildung gestellten Rahmen obliegt es ihm, bei Notfällen die notwendigen und zumutbaren lebensrettenden Sofortmaßnahmen zu ergreifen und den Verletzten oder Erkrankten so lange zu betreuen bis professionelle Rettungskräfte die Versorgung übernehmen. Darüber hinaus sollte ein Teil der Ersthelfer zum sog. Ersthelfer-Offshore (Stuhr et al. 2014) werden. Er soll durch eine entsprechende, zusätzliche Weiterbildung in die Lage versetzt werden, vor Ort in der längeren Wartebzw. Überbrückungszeit bei Offshore-Notfällen bis zum Eintreffen der Rettungskräfte weiterführende Erste-Hilfe-Maßnahmen durchzuführen. Diese erweiterte Kompetenz des „Ersthelfer-Offshore“ setzt sich auf der Basis des Erste-Hilfe-Lehrgangs zum Ersthelfer im Betrieb aus zusätzlicher Erste-Hilfe-Weiterbildung (mit 20 UE) einschließlich ergänzter Ausrüstung und Anwendung von erweiterten Maßnahmen sowie Telekonsultation und regelmäßigem, jährlichen Refresher-Training mit situationsgerechten Übungen zusammen.
6.2.3 Telemedizin Eine zunehmend wichtige Rolle spielen Instrumente, die es gestatten, den Ersthelfer und professionelle Rettungskräfte (Rettungsassistenten/Notfallsanitäter) bei der Einleitung und Durchführung entsprechender Maßnahmen in Echtzeit zu unterstützen. Hierbei kommt insbesondere telemedizinischen Verfahren im Sinne einer Telekonsultation eine besondere Bedeutung zu. Aus der Schifffahrt bekannt sind die weltweit etablierten Systeme einer funkärztlichen Beratung für die Schiffsführung. Erfahrungen aus der Offshore Öl- und Gasindustrie zeigen, dass telemedizinische Assistenzsysteme die Möglichkeiten der (notfall-)medizinischen Versorgung vor Ort erweitern. Auch für die
Branche der Offshore-Windparks wurden erste telemedizinische Projekte erfolgreich etabliert. Die Anwendung telemedizinischer Verfahren setzt aber sowohl beim Ersthelfer und/oder dem Rettungsfachpersonal als auch beim Telenotarzt (TNA) verschiedene Fähigkeiten voraus. So sind Mindestanforderungen sowohl in der Qualifikation der Ersthelfer und dem Rettungsfachpersonal (z.B. Beherrschen der technischen Komponenten) als auch in der ärztlichen Qualifikation (z.B. Kenntnis des Telenotarztes über die Fähigkeiten, Ausstattung und Arbeitsbedingungen des Ersthelfers oder Fachpersonals im Rahmen eines Telekonsultationsverfahrens) zu berücksichtigen.
6.3
Physiologische und pathophysiologische Besonderheiten
6.3.1 Hängetrauma Aufgrund einer Vielzahl an Arbeiten in großer Höhe und im Seil außerhalb und innerhalb einer Windenergieanlage kann es im Rahmen von Unfällen zur Entwicklung eines sog. Hängetraumas kommen. Damit wird ein Kreislaufzusammenbruch aufgrund eines bewegungslosen aufrechten Hängens in einem Sicherungsgurt beschrieben (Lechner et al. 2018).
6.3.2 Besonderheiten in Offshore-Windparks Bei Rettungseinsätzen in Offshore-Windparks sind die Besonderheiten des maritimen Umfeldes zu berücksichtigen (s. Kap. IV.3 „Maritimes Umfeld“). Von Bedeutung ist zudem, dass die dort arbeitenden Menschen in aller Regel für einen längeren Zeitraum (z.B. 14 Tage) auf den Plattformen leben. Es können somit auch psychosoziale Probleme auftreten (z.B. Sorge um einen kranken Lebenspartner oder Kind), die in körperliche Symptome münden und so einen Notfalleinsatz auslösen.
6.4
Therapeutische Strategien
Inzwischen liegen verschiedene Arbeiten zu medizinischen Notfällen in Offshore-Windparks vor. Danach ergibt sich, dass ganz überwiegend Verletzungen der Extremitäten sowie kardiovaskuläre, respiratorische und abdominelle Erkrankungen im Vordergrund stehen (Dambach u. Adams 2015; Stuhr et al. 2015; Dethleff et al. 2016b; Warnecke et al. 2021). Die an Land etablierten medizinischen Standards sind maßstabsbildend für die notfallmedizinische Versorgung Offshore. Aufgrund der naturräumlichen Rahmenbedingungen ist allerdings von einem hohen Improvisationsgrad auszugehen, insbesondere in Offshore-Windparks. Die Rettung von z.B. Verunfallten mit Verdacht auf ein Hängetrauma sollte sehr behutsam und unter kontinuierlichem Monitoring erfolgen, um rasch und adäquat auf Komplikationen reagieren zu können. Die Sinnhaftigkeit der Kauerstellung (zur Verlangsamung des Blutrückstroms) ist dabei in diesem Zusammenhang umstritten und deren Durchführung nicht mit Evidenz hinterlegt. Besonderes Augenmerk bei medizinischen Notfall-Einsätzen in OffshoreWindparks sollte auf die Qualifikation des eingesetzten Personals gelegt werden. Die Tätigkeit in einem komplexen Umfeld mit potenziell kritisch Kranken oder Verletzten setzt eine hohe fachliche Expertise und Erfahrung mit entsprechender Handlungssicherheit voraus. Die sog. „nontechnical skills“ haben eine herausragende Bedeutung. Die erfolgreiche Bewältigung von komplexen Situationen erfordert daher ein gut aufeinander abgestimmtes Team. Auf dem Weg zum Einsatz Eigensicherung beachten! Die Konzepte für Rettungseinsätze in und auf Windenergieanlagen im Umfeld des eigenen Rettungsdienstkreises sollten mit allen Beteiligten vorab abgestimmt werden. Bei Rettungseinsätzen in Windenergieanlagen sollte in Abhängigkeit vom Notfallort rechtzeitig die Alarmierung geeigneter Spezialkräfte (z.B. Höhenrettung) erwogen werden. Bei Einsätzen in Offshore-Windenergieanlagen ist mit einer erheblich verlängerten Einsatzzeit zu rechnen. Bei Einsätzen in Offshore-Windparks ist bei problematischen Witterungsverhältnissen rechtzeitig die Möglichkeit eines
redundanten Rettungsweges mittels eines Schiffes zu prüfen.
Auf den Punkt gebracht Die erfolgreiche Bewältigung von medizinischen Notfällen auf und in Windkraftanlagen ist sowohl „Onshore“ als auch „Offshore“ mit erheblichen Schwierigkeiten und Herausforderungen für die eingesetzten Rettungskräfte verbunden. Die eingesetzten Teams sollten fokussiert, konsequent sowie rasch entscheiden und handeln, wofür eine hohe notfallmedizinische und rettungstechnische Qualifikation aller Beteiligten notwendig ist. Von besonderer Bedeutung für den Erfolg eines Rettungseinsatzes ist das regelmäßige Training entsprechender Szenarien sowie der regelhaft notwendigen technischen Verfahren wie z.B. der Windenrettung. Der Originalbeitrag wurde von Dr. med. Markus Stuhr, Dr. rer. nat. Dirk Dethleff, Dr. rer. nat. Nils Weinrich und Prof. Dr. med. Christian Jürgens verfasst.
Literatur Bundesverband Windenergie (2022) Status des Windenergieausbaus an Land in Deutschland – Erstes Halbjahr 2022. URL: https://www.windenergie.de/fileadmin/redaktion/dokumente/publikationen-oeffentlich/themen/06-zahlenund-fakten/20220711_Status_des_Windenergieausbaus_an_Land_-_Halbjahr_2022.pdf (abgerufen am 11.11.2022) Dambach K, Adams HA (2015) Medizinische Ereignisse in Offshore-Windparks. Art, Inzidenz und medizinische Versorgung. Anästh Intensivmed 56:119–124 Dethleff D, Stuhr M, Weinrich N, Nielsen MV, Seide K, Jürgens C (2013) Absturzunfälle in Onshore Windenergieanlagen – Implikationen für die Rettungskette Offshore Wind. Notarzt 29 – A5 (2013); DOI: 10.1055/s-0033-1350095 Dethleff D, Weinrich N, Seide K, Jürgens C, Stuhr M (2016a) Absturzunfall in einer Onshore-Windenergieanlage – Implikationen für die Offshore-Rettung am Beispiel einer Fallstudie. Notfall Rettungsmed DOI: 10.1007/s10049-016-0181-6 Dethleff D, Weinrich N, Kowald B, Hory D, Franz R, Nielsen M, Seide K, Jürgens C, Stuhr M (2016b) Air medical evacuations from the German North Sea wind farm Bard Offshore 1 – Traumatic injuries, acute diseases and rescue process times (2011–2013); Air Medical Journal 35: 216–226 Deutsche Windguard (2022) Status des Offshore-Windenergieausbaus in Deutschland – Erstes Halbjahr 2022. URL: https://www.offshorestiftung.de/sites/offshorelink.de/files/documents/DWG_Status%20des%20OffshoreWindenergieausbaus_Halbjahr%202022.pdf (abgerufen am 11.11.2022) Lechner R, Staps E, Brugger H, Rauch S (2018) Notärztliche Strategie beim Hängetrauma. Der Notarzt 34: 156–161
Ruhrmann S, Lutz M, Uhle F, Rehmann H, Haverney F, Weigand M, Röhrig R (2010) Medizinische Versorgung in der Höhenrettung – Eine nationale Umfrage. Notfall Rettungsmed 13:485–464 Stuhr M, Kraus G, Weinrich N, Jürgens C, Sefrin P (2014) Erste Hilfe in Offshore-Windparks in deutschen Gewässern – Empfehlungen des Fachbereichs Erste Hilfe der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV). Der Notarzt 30: 159–168 Stuhr M, Dethleff D, Weinrich N, Nielsen MV, Hory D, Seide K, Jürgens C (2015) Vorläufige Auswertung: Medizinische Ereignisse in Offshore-Windparks – Erste Informationen zu Unfallverletzungen und Erkrankungen. FTR 22:14–19 Stuhr M, Dethleff D, Weinrich N, Nielsen M, Hory D, Kowald B, Seide K, Kerner T, Nau C, Jürgens C (2016) Notfallmedizinische Versorgung in Offshore-Windparks – Neue Herausforderungen in der deutschen Nord- und Ostsee. Anaesthesist 65: 369–79 Warnecke T, Neumann D, Book M, Franz R, Jacobsen N, Kleinhäntz W, Warnking E, Overheu D (2021) Medizinische Ereignisse auf Windenergieanlagen offshore – retrospektive Analyse der Behandlungsdaten 2017–2020. Notfall Rettungsmed. URL: https://doi.org/10.1007/s10049-021-00938-1 (abgerufen am 11.11.2022)
III Besondere Einsätze im Zusammenhang mit Verkehrsmitteln
1
Notfälle im Bahnbetrieb
Michael Reng
„Falls sich ein Arzt an Bord befindet bitten wir ihn, in Wagen 26 im vorderen Zugteil zu kommen.“ tönt es aus dem Lautsprecher im ICE von München nach Hamburg. Dieser in einem Booklet für die Zugbegleiter vorgegebene, standardisierte Text ist Teil des umfassenden Notfallmanagements der Deutschen Bahn. Wer sich, nachdem ein solcher Rundruf ertönt ist, zum Notfallort im Zug begibt, findet dort in der Regel neben dem oder den mehr oder minder akut erkrankten oder verunfallten Patienten auch mindestens einen Zugbegleiter vor, der die bahnspezifischen Besonderheiten kennt und die ggf. mitreisenden professionellen Ersthelfer unterstützen soll. Was aber tun, wenn man selbst Zeuge einer Notfallsituation im Zug oder im Bahnbereich wird, ohne dass ein Zugbegleiter nahe wäre? Welche Hilfsmittel stehen im Zug zur Verfügung? Welche Bahnbetriebs-immanenten Regelungen und Gefahren sind bei Unfällen im Bereich von Schiene und Schienenfahrzeugen zu berücksichtigen?
1.1
Gefahren im Bahnbetrieb
Gleise sollten nach Möglichkeit nicht betreten werden. Allein das Gehen im Gleisbereich ist selbst ohne die weiter unten genannten Gefährdungen gefährlich. Stolpern und Ausrutschen sind hier nicht selten und führen wegen der resultierenden Stürze auf die kantigen Oberflächen im Gleisbereich nicht selten zu schmerzhaften Blessuren. Auch bewegliche Teile bergen Gefahren im Gleisbereich. Moderne Weichen laufen leise, sehr schnell und mit großer Kraft. Sie werden oft bewegt, ohne dass der Steuernde Sichtkontakt hat. In der Folge kann ein Einklemmen an den beweglichen Teilen schwere Verletzungen verursachen. Für Passagiere und Mitarbeiter der Bahn bestehen natürlich auch die allgemeinen Krankheits- und Verletzungsrisiken. Speziell zu beachten ist dabei, dass die Situation im fahrenden Zug mehrere Besonderheiten birgt, die ein Anpassen des Vorgehens beim Notfall an die besonderen Bedingungen des Schienenverkehrs erforderlich machen.
1.1.1 Spezifische Gefahren durch Schienenfahrzeuge Spezifische Gefahren, die vom Bahnbetrieb selbst ausgehen, sind vor allem die Gefährdungssituationen, die von den bewegten Fahrzeugen drohen sowie die elektrischen Gefahren durch Oberleitung oder Stromschiene. Von Schienenfahrzeugen gehen zusätzlich zu den bekannten Gefahren des Straßenverkehrs eigene, spezielle Gefahren aus. Züge, insbesondere moderner Bauart, sind bei der Annäherung im Vergleich zum allgemeinen Straßenverkehr meist sehr leise, obwohl Geschwindigkeiten bis über 300 km/h (d.h. über 80 m/sec) erreicht werden. Die Wahrnehmung eines sich annähernden Zuges ist daher – sofern nicht gute Sicht auf einen langen Streckenabschnitt herrscht und diese auch aufmerksam genutzt wird – sehr eingeschränkt. Die Geschwindigkeit eines solchen Zuges wird in der Regel deutlich unterschätzt. Allein das Verlassen des Schienenkörpers schützt zudem nicht vor Gefährdung. Ein vorbeifahrender Zug entwickelt insbesondere bei Wagenreihungen von mehreren hundert Metern Länge unerwartet hohe, anhaltende Druck- und Sogkräfte entlang des Gleises mit einem resultierenden erweiterten Gefahrenbereich. Die Schienenfahrzeuge können zudem naturgemäß nicht ausweichen, der Triebwagenführer (Fachwort für den umgangssprachlichen „Lokomotivführer“) hat also keine Möglichkeit, ein Hindernis durch Lenkbewegungen zu umfahren. Das Vermeiden eines Aufpralls auf ein Hindernis im Gleisbereich ist – wenn überhaupt – nur durch Bremsen möglich. Der Bremsweg eines Zuges, der u.a. von Gewicht und Geschwindigkeit des Zuges wie auch von Wetterbedingungen abhängig ist, überschreitet auch bei sogenannten Notfallbremsungen nicht selten mehrere Kilometer Länge. Ein sicheres „Fahren auf Sicht“ ist im Zugverkehr daher nicht möglich. Einsatzfahrzeuge dürfen in der Konsequenz keinesfalls im Gleisbereich aufgestellt werden, hier gilt wie für Menschen im Gleisbereich ein Mindestabstand (auch geöffnete Türen berücksichtigen!) von 3,30 m ab Gleismitte.
Sicherheit vor Fahrzeugen im Gleisbereich – insbesondere bei mehrgleisigen Strecken – besteht nur, wenn eine Gleissperrung („Einstellung des Fahrbetriebs“) durch die Fahrbetriebsleitung der Bahn erfolgt ist. Dies ist ein formalisierter, zur Sicherheit schriftlich zu dokumentierender Vorgang (Faxformular an die integrierte Leitstelle), der in Absprache mit der Feuerwehr bzw. mit dem Notfallmanager der Bahn umgesetzt wird. Ebenso wird auch das Ausschalten der Oberleitung schriftlich auf einem Formular dokumentiert. Der Notfallmanager (weißer Helm, Rückenschild „Notfallmanager“) ist der Notfall-Einsatzleiter der Bahn. Er wird bei entsprechenden Schadenslagen von der Bahn an die Unfallstelle entsandt, verfügt über eisenbahnspezifische Kenntnisse und Fertigkeiten und ist an der Unfallstelle einziger autorisierter Ansprechpartner der Bahn für die agierenden Rettungskräfte. Den Kontakt zum 24/7 verfügbaren Notfallmanager stellt die integrierte Leitstelle her. Die Stationierung der Notfallmanager ist so geregelt, dass eine Anfahrzeit von in der Regel unter 30 Minuten gewährleistet werden kann. Das oben genannte „Einstellen des Bahnbetriebes“ hat keinen Einfluss auf eventuell automatisch erfolgende Weichenstellungen. Weichen können nur vor Ort durch den Notfallmanager stillgelegt werden.
Zusätzliche Gefahr kann bestehen, da die Bahn – aufgrund der im Vergleich zum Straßenverkehr besonders hohen Sicherheit des Bahnbetriebes – nicht selten Gefahrstoffe in größeren Mengen transportiert, die ihr spezifisches Risiko mit sich bringen. Die Kennzeichnung der Gefahrstoffe erfolgt dabei am jeweiligen Schienenfahrzeug mit den aus dem Straßenverkehr bekannten orangenen Gefahrentafeln, die mithilfe von zweizeilig angebrachten schwarzen Zahlen die eindeutige Identifikation des Gefahrstoffes zulassen. Selbst der ruhende Verkehr birgt bei der Bahn eigene Gefahren. Da sich abgestellte Schienenfahrzeuge – insbesondere bei An- und Abkupplungsvorgängen – unbeabsichtigt bewegen können und da die Sicht auf den Gleiskörper für den anfahrenden Triebwagenführer sehr
eingeschränkt ist, muss beim Queren der Schienen vor (scheinbar) ruhenden Fahrzeugen immer ein Abstand von mindestens drei Metern vom Puffer des nächstgelegenen Schienenfahrzeugs eingehalten werden.
1.1.2 Elektrische Gefährdung durch Oberleitung und Stromschiene Die Oberleitung transportiert in Deutschland einen Wechselstrom von 16,7 Hz mit 15.000 Volt Spannung. Der Mindestschutzabstand beträgt hier 1,5 m, was der (u.A. witterungsbedingt unterschiedlichen) maximalen Entfernung entspricht, die ein Lichtbogen, der von der Oberleitung ausgeht, überschlagen kann. Wer sich also auf ein Zugdach begibt, schwebt immer in akuter Lebensgefahr, wenn die Oberleitung über dem Schienenfahrzeug nicht abgeschaltet ist. Bei gerissener und auf den Boden hängender, noch eingeschalteter Oberleitung beträgt der zum Selbstschutz keinesfalls zu unterschreitende Mindestabstand sogar zehn Meter. Dies ergibt sich aus der Gefährdung durch den sog. Spannungstrichter, der sich um den Erdkontaktpunkt der Oberleitung ausbreitet. Berührt eine abgerissene Oberleitung statt des Bodens das Dach eines Schienenfahrzeugs, so muss davon ausgegangen werden, dass allein das Berühren des Schienenfahrzeugs zum tödlichen Stromschlag führen kann. Die Insassen des Schienenfahrzeugs sind in einem solchen Fall allerdings nur gefährdet, wenn sie ihre sichere Position im Inneren des Schienenfahrzeugs zu verlassen versuchen. Stromschienen (bodennahe Spannungsträger) finden sich insbesondere bei U- und S-Bahnen und verlaufen rechts oder links neben dem Schienenstrang am Rand des Gleisbettes. Hier kommt in der Regel Gleichstrom mit einer Spannung von 800 bis 1.200 Volt zum Einsatz. Stromschienen sind meist abgedeckt, sodass der gefährliche Kontakt nur durch ein Berühren der Stromschiene von unten geschlossen wird. Verlässliche Sicherheit in der Nähe von allen stromführenden Leitern im Bahnbereich besteht nur, wenn neben der Abschaltung der Oberleitung durch die Notfallleitstelle der Bahn zusätzlich die in der Regel gut sichtbare, sogenannte „Bahnerdung“ vor Ort erfolgt ist, die vom
Notfallmanager der Bahn wie auch von der Feuerwehr vorgenommen werden kann.
1.2
Notruf aus dem Zug und von der Bahnstrecke
Beim Notfall im bewegten Schienenverkehrsmittel koordinieren ILS und Notfallleitstelle der Bahn Ort und Zeit des Rendezvous von Zug und Rettungsmitteln mit der lokalen Rettungsleitstelle. Die Bahn verfügt über acht bahneigene Notfallleitstellen und zusätzliche regionale Meldestellen (z.B. für die S-Bahn Hamburg). Diese werden von den Bahnbediensteten im Zug, wie auch von den Bahnmitarbeitern im Gleisbereich bei allen Arten von Notfällen direkt kontaktiert. Sie kommunizieren mit den regional zuständigen integrierten Leitstellen (ILS). Im umgekehrten Fall, wenn ein Notfall im Zuständigkeitsbereich der Bahn über die Notrufnummer 112 (z.B. via Mobiltelefon aus dem Zug) an eine ILS gemeldet wird, nimmt die ILS Kontakt zur Notfallleitstelle der Bahn auf. Die Notfallleitstelle der Bahn kontaktiert dann das Zugpersonal. Da „eigenständige“ Notfallmelder aus dem Zug in der Regel weder genau wissen, wo sich der Zug befindet, noch wie die genaue Bezeichnung des Zuges lautet, ist diese Form der Notfallmeldung wenig sinnvoll. Idealerweise bittet man daher bei einem Notfall das Bahnpersonal, die Notfallmeldung abzusetzen. Nur wenn dies nicht möglich ist, sollte der Notruf „privat“ via 112 und Mobiltelefon gemeldet werden. In einem solchen Fall ist zu berücksichtigen: ICE-Züge erreichen (zusammengekoppelt) Längen von über 400 m und können über 800 Passagiere befördern. Daher ist beim Notruf neben der Nennung der Zugnummer (die man u.a. im Faltblatt „Ihr Reiseplan“, das in allen Fernzügen ausliegt, findet) auch die Nennung der Wagen-Nummer (im Vorraum jedes Wagens angebracht), in dem der Notfall aufgetreten ist, wichtig. Beim Notruf wegen eines Unfalles im Gleisbereich können die sog. Hektometertafeln zur örtlichen Orientierung genutzt werden. Hektometertafeln sind rechteckige Schilder mit schwarzen Zahlen auf weißem Grund die sich alle 200 m entlang der Schienenwege finden. Bei
diesen zweizeiligen Schildern steht in der oberen Zeile der Streckenkilometer, in der unteren Zeile die Hundert-Meter-Angabe.
1.3
Medizinisches Equipment an Bord
An Bord aller Züge der ICE-Flotte befinden sich „Notarztkoffer“, die sich im Inhalt aber von Standard-Notarztkoffern des Rettungsdienstes unterscheiden. Die Notarztkoffer sind je nach ICE-Baureihe an unterschiedlicher Stelle untergebracht (Konferenzabteil, Zugbegleiterabteil, unterhalb einer Schauvitrine etc.). Die Koffer sind verplombt und nur für das Zugpersonal zugänglich. Sie dürfen nur von medizinischem Fachpersonal geöffnet werden. Jede Öffnung wird dokumentiert, verbrauchter Inhalt wird im Anschluss an die Nutzung von einer Vertragsapotheke nachgefüllt, der Koffer wird dann wieder verplombt. Im Notarztkoffer der Deutschen Bahn befinden sich aktuell (Stand 9/2022) (s. Tab. 1). Einen automatischen externen Defibrillator (AED) findet man bei der Deutschen Bahn – ganz im Gegensatz zu den Flugzeugen der Lufthansa oder zur französischen Schienenkonkurrenz, dem TGV – bisher nur in einigen ICE-Zügen. Eine aktuelle Information der Deutschen Bahn besagt allerdings, dass zeitnah alle ICE-Züge und im Anschluss daran sukzessive alle Fernzüge mit AEDs ausgerüstet werden sollen. Während sich in UBahnhöfen häufig AEDs befinden, sucht man diese Geräte an den Bahnsteigen der Deutschen Bahn wegen befürchteter negativer Witterungseinflüsse vergebens. In 60 größeren deutschen Bahnhöfen sind zwischenzeitlich bereits AEDs – meist in der Nähe der WC-Anlagen – verfügbar. Tab. 1
Zum Zweck der Übersichtlichkeit modifizierte Inhaltsliste des Notarztkoffers der ICE-Züge (Die Auflistung der Medikamente erfolgt entsprechend der OriginalBestückungsliste der Bahn mit Handelsnamen. Der Inhalt der Koffer wird regelmäßig überprüft und angepasst.)
Beatmung Beatmungsbeutel mit PeepVentil + Maske
Diagnostik Blutdruckmesser mit Klettmanschette
i.v.-Zugang Stauschlauch
Beatmungsmaske für Kinder
Stethoskop nach Bowles
Venenverweilkanüle klein (rosa), mittel (grün)
Beatmungsfilter (Bakterienund Virenfilter)
elektronisches Fieber thermometer
Fixierpflaster für Venenverweilkanüle
Sauerstoff-Atemmaske Erwachsene
Finger-Pulsoximeter
Einmalkanüle Nr. 12 G 22, Nr. 1 G 20
Guedel-Tubus Gr. 1, 3, 5
Blutzuckermessgerät mit Zubehör
Einwegspritze 2 ml, 5 ml, 10 ml
Larynxtubus Gr. 3, 5 mit Spritze 100 ml
Diagnostik-Lampe
Infusionssystem
Sauerstoff in Flasche 0,3 l + Druckminderer
Kanülenabwurfbehälter klein
SauerstoffVerbindungsschlauch 2 m i.v.-Medikamente
Enterale Medikamente
Sonstiges
Atropin 0,5 mg Ampulle
Diazepam 5 mg
Einmalhandschuhe Nitril klein, Nitril groß
Adrenalin 1:1.000 1 ml Ampulle
Paracetamol 500 mg
Magill Zange 25 cm
Beloc 5 mg Ampulle
Berotec Dosier-Aerosol 10 ml
Rettungsdecke silber-gold 210 x 160 cm
Buscopan Ampulle
Nitrolingual-PocketSpray
Kleiderschere ca. 20 cm
Diazepam 10 mg Ampullen 2 ml
Diazepam Desitin 10 mg. Mikroklistier
Verbandpäckchen mittlere Größe
Fenistil 5 mg Ampulle
Mullkompresse 10 x 10 cm einzeln
Glucose 40%ig 10 ml Ampullen
Haut- und Händedesinfektionsmittel 100 ml
Prednisolon 250 mg Pulver + Lösungsmittel
Pflasterkleber 5 m x 2,50 m
Tramal 100 mg 2 ml Ampullen Vomex A i.v. 10 ml Ampulle NaCl 0,9%ig 10 ml Ampullen Ringer-Lösung 500 ml Atropin 0,5 mg Ampulle
1.4
Technische Rettungshilfsmittel der Bahn
In jedem Landkreis und jeder kreisfreien Stadt Deutschlands steht den Feuerwehren ein sog. „Rüstsatz“ der Bahn zur Verfügung. Es handelt sich dabei um zwei schienenfahrbare Rollpaletten, eine Arbeitsplattform und fünf mit diesen Hilfsmitteln kompatible Tragen. Der Umgang mit den schienenfahrbaren Rollpaletten bedarf der umfangreichen Schulung. Insbesondere bei Gefällestrecken geht bei unsachgemäßem Einsatz eine nicht geringe Gefährdung von diesen Draisine-ähnlichen Fahrzeugen für Mitfahrer und Umstehende aus. Im Rüstsatz finden sich auch spezielles Kartenmaterial und Einsatzmerkblätter mit allen relevanten Informationen zu Reisezugwagen und Triebwagen. Ein Schnellbaugerüst ist zudem Bestandteil des Rüstsatzes. Personen auf der Arbeitsplattform unterschreiten ggf. den Schutzabstand zur Oberleitung. Die Arbeitsplattform darf daher nur bei abgeschalteter und geerdeter Oberleitung zum Einsatz kommen.
Für die Tunnel auf den Schnellfahrstrecken (z.B. Hannover-Würzburg, Mannheim-Stuttgart) werden von der Bahn sechs sog. Rettungszüge vorgehalten. Die Züge sind mit zwei Lokomotiven, zwei Transportwagen, einem Gerätewagen, einem Löschmittelwagen sowie einem Sanitätswagen ausgestattet. Innerhalb von zehn Minuten soll die Stammbesatzung den Zug an festgelegten Übernahmeplätzen besetzt haben. Sie besteht aus 20 Feuerwehrleuten (davon ein Einsatzleiter), zwei Triebfahrzeugführern, zwei
Notärzten und acht Rettungsassistenten. Die Rettungszüge bieten Möglichkeiten zur Gefahrenabwehr und -bekämpfung sowie die Rettung und Versorgung von Personen. Bei Notfällen in einem Tunnel machen sich immer zwei der Rettungszüge, je einer von jeder Seite des Tunnels, auf den Weg zum Unfallort. Der Vollständigkeit halber sei auch angemerkt, dass gerade neue BahnTunnel über wenig bekannte, sehr unterschiedliche Schutz- und Rettungseinrichtungen verfügen. So sind einige Tunnel so ausgebaut, dass die Gleise für konventionelle Straßenfahrzeuge befahrbar sind, manche Tunnel verfügen über eigene Rettungsplätze mit einer Größe von bis zu 1.500 m2. Lokale Kenntnisse sind für den Notarzt daher – wie auch in anderen Zusammenhängen – wünschenswert und hilfreich.
1.5
Fluchtweg und Notfallzugang bei verunfallten Zügen
Kaum ein Notarzt hat sich wohl schon Gedanken gemacht, wie er einen Zug im Notfall verlassen kann, geschweige denn, wie er im Notfall als Retter in einen Zug eindringen könnte. Da unzählige Fahrzeugtypen im Dienst der Deutschen Bahnbetriebe unterwegs sind, soll sich dieses Kapitel auf die ICE-Fahrzeuge der Bahn beschränken und diese beispielhaft vorstellen. Generell sollte immer versucht werden, das Eindringen in Schienenfahrzeuge bzw. deren Verlassen im Notfall über die Außentüren des Zuges zu bewerkstelligen. An allen ICE Waggons finden sich Türen mit manueller Notentriegelung, die sich im Notfall von innen und außen entriegeln lassen, sofern der Mechanismus nicht klemmt. Um den Zug im Notfall von innen zu verlassen, muss eine Schutzscheibe eingeschlagen werden, um den Nottaster drücken zu können. Dann kann der darunterliegende Handhebel gezogen werden, woraufhin sich die Tür nun am Türgriff von Hand verschieben lässt. Für die manuelle Öffnung von außen lassen sich die Türen mit einem roten Handhebel neben der Tür entriegeln und von Hand aufschieben. Ein Eindringen in den Zug bzw. ein Verlassen des Zuges über die Fenster ist nur an den markierten, dafür vorgesehenen Fenstern möglich. Diese
Notausstiegsfenster sind von innen mit einem schwarzen Feld am oberen Rand der Scheibe, in dem sich ein zentraler roter Punkt befindet, gekennzeichnet. In unmittelbarer Nähe der Notausstiegs-Fenster ist ein Notfallhammer angebracht. Von außen können diese Fenster durch einen gut erkennbaren roten Punkt im oberen Bereich der Scheibe identifiziert werden. Um das Fensterglas „von innen“ zu entfernen, muss man mit dem Nothammer kräftig auf den gekennzeichneten Einschlagpunkt schlagen. Sobald eine deutliche Glasschädigung sichtbar ist, wird weiter geschlagen, bis auch die dahinterliegende Scheibe zerstört ist. Nun kann das Isolierglas mit ausgestreckten Armen nach außen gedrückt werden. Beim Eindringen „von außen“ müssen ebenfalls beide Scheiben durch kräftiges Schlagen mit dem Nothammer auf den gekennzeichneten Einschlagpunkt gebrochen werden. Das Fenster lässt sich aber nicht nach innen drücken, das Scheibenpaket muss mit einem Werkzeug (Pickel o.ä.) gegen den Wagenkasten nach außen gehebelt werden. Beim Ein /Ausstieg sollte eine Decke oder dergleichen auf die Fensterkante gelegt werden, um Verletzungen zu vermeiden. Alternativ kann als Zugang zum Zug das Textilmaterial des Balges am Übergang zwischen zwei benachbarten Wagons mit einem starken Messer von außen oder innen aufgeschnitten werden. Dabei muss die Innen- und Außenhülle durchtrennt werden. Unterhalb der Fenster verlaufen elektrische Leitungen. Sägen und Trennen kann bei noch unter Strom stehendem Fahrzeug sehr gefährlich sein. Jedes Eindringen durch Wagenwand, -boden oder decke ist sehr zeitaufwändig und nur sehr selten sinnvoll.
Das Eindringen in den Triebwagenkopf ist für Retter schwierig. Die Hecktür ist in der Regel verriegelt und kann nur mit einem Spezialschlüssel geöffnet werden. Ein Eindringen durch Aufschneiden des Faltenbalgs ist hier nicht möglich. Als Notausstieg aus dem Führerraum ist beidseits je ein nur von innen bedienbares, nur nach innen zu öffnendes Seitenfenster vorgesehen.
Die Bahn weist in ihren Informationen auch darauf hin, dass die geerdete (und damit stromlose) Oberleitung bei Arbeiten auf dem Wagendach als Halt für Personen-Sicherungssysteme (Karabiner mit Gurt) verwendet werden kann. Letzteres bleibt aber vermutlich Rettern mit Bergwachterfahrung vorbehalten.
1.6
Notarzteinsatz im Gleisbereich
Wenn es zu Zugverspätungen kommt, die mit einem „Notarzteinsatz im Gleisbereich“ begründet werden, ist dies meist die Umschreibung für einen ein Suizidversuch bzw. einen erfolgreichen Suizid durch Überfahren oder beabsichtigt herbeigeführten Kontakt mit dem Stromleiter. Leider kann der Notarzt bei Suiziden im Schienenverkehr nicht selten nur wenig für den Suizidanten tun. Wichtig ist es, in einem solchen Fall, keinesfalls zu vergessen, das Augenmerk auch auf den Triebwagenführer zu richten, der das ganze Geschehen meist miterleben musste, ohne etwas dagegen tun zu können. Er ist daher nahezu immer schwer traumatisiert und braucht ärztliche und psychologische Unterstützung.
1.7
Fazit
Falls – wie einleitend dargestellt – der Ruf nach dem Arzt im Zug erfolgt, stehen zumindest im ICE der Bahn ein Zugbegleiter und ein akzeptabel ausgestatteter Notarztkoffer zur Unterstützung der Hilfeleistung zur Verfügung. Einen AED wird man dagegen in Zügen der Deutschen Bahn meist vergeblich suchen. Auch kann sich der ggf. zur Hilfe eilende Arzt sicher sein, dass der regionale Rettungsdienst im Zusammenwirken von integrierter Leitstelle und Notfallleitstelle der Bahn über eine erprobte Logistik so schnell wie möglich zugezogen werden kann, sobald die Notfallmeldung abgesetzt wurde. Das wohl bekannteste aber hier bisher noch nicht besprochene Notfallinstrument der Bahn sollte im vorgenannten Fall keinesfalls zum Einsatz kommen: die Notbremse. Ein Stehenbleiben des Zuges auf freiem
Terrain ist in der Regel wenig hilfreich. Um durch eine Notbremsung nicht zusätzliche Gefahren zu generieren, verfügen moderne Züge über Überbrückungssysteme, die Notbremsungen erst nach dem Passieren einer Brücke oder nach dem Passieren eines gerade befahrenen Tunnels erlauben. Die Notbremse ist eigentlich nur sinnvoll einzusetzen, wenn es beim Anfahren des Zuges im Bahnhof zu Gefährdungen kommt oder wenn unterwegs ein Brand ausbricht, der eine sofortige Evakuierung des Zuges nötig macht. In nahezu allen anderen Notfallsituationen im Schienenverkehr sollte in Kenntnis der in diesem Artikel vorgestellten Bahn-Spezifika in vertrauensvoller Zusammenarbeit mit dem Bahnpersonal unter Nutzung der hochentwickelten Kommunikations-Infrastruktur, die für den jeweiligen Notfall, für den jeweiligen Patienten beste Lösung – in der Regel mit Halt im nächsten geeigneten Bahnhof – gefunden werden können. Derzeit sind in Deutschland über 190 Eisenbahninfrastrukturunternehmen und über 400 Eisenbahnverkehrsunternehmen tätig, die für das Notfallmanagement in ihren Bereich selbst verantwortlich sind. Die Aussagen im vorangegangenen Text beziehen sich auf Bereiche in der Zuständigkeit der Deutschen Bahn. Die DB stellt aktuelle Informationen für Fachkreise online bereit: www.deutschebahn.com/notfallmanagement Mein Dank für die Unterstützung bei der Recherche gilt Dr. med. Anika Brea Salvago und Maike Matthiessen.
CASE REPORT: Das Zugunglück vom 03.06.2022 bei Burgrain, GarmischPartenkirchen
Klemens Reindl
Der Unfallhergang Für den 03.06.2022 meldet der Wetterbericht strahlenden Sonnenschein, einen blauen Himmel und 27oC. Es ist der letzte Tag vor den Pfingstferien, Freitagmittag und alle sind in Ferienstimmung. Pünktlich um 12:06 Uhr verlässt die Regionalbahn RB6 den Bahnhof Garmisch-Partenkirchen in nördlicher Richtung auf der eingleisigen, elektrifizierten Strecke in Richtung Murnau und München. Der Zug ist mit 162 Fahrgästen voll besetzt. Dies sind Schüler, Pendler, Soldaten und Urlauber. Der Zug besteht aus fünf Doppelstock-Waggons und einer Lokomotive, die am Ende des Zuges angehängt ist. Nach circa drei Kilometern, beim Bahnkilometer 97,5, entgleist der Zug aus bis dahin unbekannter Ursache und drei Waggons stürzen nach rechts über die Böschung den Bahndamm hinab. Zufällig ist der Kommandant der (örtlich zuständigen) Freiwilligen Feuerwehr Partenkirchen mit zwei Kollegen mit einem Feuerwehrdienstfahrzeug zur selben Zeit unterwegs in Richtung Norden, um ein neues Feuerwehrfahrzeug abzuholen, das für den Ende des Monats bevorstehenden G7-Gipfel der Staats- und Regierungschefs der führenden demokratischen Wirtschaftsnationen im Schloss Elmau, wenige Kilometer südlich von Garmisch-Partenkirchen, beschafft wurde. Die Feuerwehrmänner befinden sich noch im Ortsbereich von Partenkirchen, als sie vor sich eine große Staubwolke aufsteigen sehen und sind ca. zwei Minuten später an der Unfallstelle. Damit erfolgt die erste Notfallmeldung bei der Integrierten Leitstelle Oberland (ILS) über Funk durch den Kommandanten der Freiwilligen Feuerwehr Partenkirchen. Die sichtbare Anwesenheit eines Feuerwehrfahrzeuges mit Blaulicht an der Unfallstelle
führt dann auch dazu, dass in der ILS insgesamt nur zehn Anrufe zu diesem Unfallereignis eingehen.
Die kalte Lage Topografie des Landkreises Der Landkreis Garmisch-Partenkirchen weist aufgrund seiner Lage und Topografie einige Besonderheiten auf: Im Süden liegt die Staatsgrenze zu Österreich, zum Bundesland Tirol. Diese wird im Wesentlichen durch das Wettersteingebirge gebildet, das mit der Zugspitze den höchsten Berg Deutschlands aufweist (2.968 m). Das Gebirge ist an zwei Stellen durchlässig: im Südosten am Grenzübergang Mittenwald/Scharnitz mit der Bundesstraße 2 und im Südwesten am Grenzübergang Griesen/Ehrwald mit der Bundesstraße 23. Der Garmisch-Partenkirchner Talkessel, das Werdenfelser Land, wird zudem im Westen durch das Ammergebirge und im Osten durch das Estergebirge begrenzt, die beide keine befahrbaren Durchlässe bieten. Damit ist die Zufahrt zur Unfallstelle nur aus nördlicher Richtung über die Autobahn A95 und die Bundesstraße 2 von München, Weilheim und Murnau oder über die Bundesstraße 23 von Augsburg, Schongau und Oberammergau möglich. Beide Zuwege vereinen sich in Oberau, ca. 5 km nördlich der Unfallstelle und trennen sich unmittelbar südlich der Unfallstelle wieder in Richtung Südosten über den Ortsteil Partenkirchen in Richtung Mittenwald und in Richtung Südwesten über den Ortsteil Garmisch in Richtung Ehrwald (s. Abb. 1).
Abb. 1
Landkartenansicht Garmisch-Partenkirchen (Foto: Bayerische Vermessungsverwaltung – www.geodaten.bayern.de; CC BY 3.0 DE)
Rettungsdienstliche Situation Rettungsdienstlich sind in den Regelzeiten im Landkreis GarmischPartenkirchen mit seinen ca. 88.500 Einwohnern, sechs Rettungswagen besetzt. Diese befinden sich an den Standorten Mittenwald (ca. 32 km südlich der Unfallstelle), in Garmisch-Partenkirchen mit zwei Rettungswagen des BRK und einem Rettungswagen des MKT (ca. 2 km südlich der Unfallstelle) in Oberammergau (ca. 17 km nördlich der Unfallstelle) und in Murnau (ca. 22 km nördlich der Unfallstelle). Zudem befindet sich in Murnau an der BG-Unfallklinik ein Standort des ITH Christoph Murnau, der als dual-use-Hubschrauber auch für Primäreinsätze zur Verfügung steht. Aufgrund der topografischen Situation und angesichts einer ganzen Reihe von Erfahrungen mit Katastrophenfällen und Großschadensereignissen in der Vergangenheit hat das Bayerische Rote Kreuz im Landkreis in allen größeren Orten auch Schnelleinsatzgruppen etabliert (s. Abb. 2), die weitgehend mit organisationseigenen Rettungswagen ausgestattet und kurzfristig alarmier- und einsetzbar sind. In der Alarm- und Ausrückeordnung der ILS Oberland werden daher die ehrenamtlichen Einheiten bereits sehr niederschwellig (mit–)alarmiert, weil weitere Einheiten des Regelrettungsdienstes nur aus dem Norden disponiert werden können und lange Anfahrtszeiten haben.
Abb. 2
Ehrenamtliche Einheiten des BRK im Landkreis Garmisch-Partenkirchen (mit freundlicher Genehmigung des BRK)
Die Kliniklandschaft Der Landkreis Garmisch-Partenkirchen verfügt über zwei Akutkliniken: Das Klinikum Garmisch-Partenkirchen mit ca. 490 Betten, das sich in kommunaler Trägerschaft des Landkreises befindet. Ein Haus der Schwerpunktversorgung mit Traumazentrum, angeschlossener Kinderklinik und angeschlossener Psychiatrie, allerdings ohne Neurochirurgie, etwa 5 km südlich der Unfallstelle gelegen. Die BG-Unfallklinik Murnau mit ca. 500 Betten, die sich in Trägerschaft der Berufsgenossenschaften befindet. Die BGU weist ein Traumazentrum mit Neurochirurgie, eine Druckkammer und ein Brandverletztenzentrum auf und befindet sich ca. 25 km nördlich des Schadensortes. Die Rahmenbedingungen
Der bereits angesprochene G7-Gipfel der Bundesregierung stand unmittelbar bevor. Dadurch waren die Alarmpläne aller Beteiligten frisch überarbeitet und kommuniziert. Beide Kliniken hatten sich intensiv auf mögliche Schadensereignisse vorbereitet, das Klinikum GarmischPartenkirchen hatte für den folgenden Dienstag bereits eine größere interne Übung angesetzt. Sie waren damit bestens vorbereitet. Zudem waren aufgrund der COVID-19-Pandemie und des Fachkräftemangels Betten sowohl in den Intensivstationen wie auch auf Normalstation für die Regelbelegung gesperrt, was sich für die Aufnahmekapazitäten als sehr hilfreich herausstellte. Letztlich waren bedingt durch das bevorstehende Großereignis bereits eine Vielzahl von Polizeibeamten der Landes- und Bundespolizei im Großraum Garmisch-Partenkirchen stationiert und für den Einsatz verfügbar.
Der Einsatz Alarmierung Da aufgrund der geschilderten Besonderheiten in der rettungsdienstlichen Struktur des Landkreises bereits niederschwellig auf unterschiedliche Ressourcen zugegriffen werden muss, sind bei größeren Schadensereignissen mit einer Vielzahl von Patienten auch Trägertrupps der Feuerwehren in die Alarmierung des Rettungsdienstes eingeplant. Um hier nicht zu einer Doppelalarmierung zu kommen und Personalengpässe zu verursachen alarmiert die ILS Oberland bei Großschadensereignissen zunächst die zuständigen Feuerwehreinsatzkräfte und erst danach den Rettungsdienst entsprechend der benötigten Alarmstufe. Zur Vermeidung von zeitlichen Verzögerungen erfolgt aber parallel zur Feuerwehralarmierung die Alarmierung des Rettungsdienstes nach der Alarmstufe RD5, weil bis dahin keine Feuerwehreinsatzkräfte im Rettungsdienst verplant sind. Alarmierung des Rettungsdienstes
Mit Alarmierung nach RD5 und dem Alarmstichwort #T3910#VU#Zug RD5 wurden 13 Rettungswagen (RTW), davon fünf aus dem Regelrettungsdienst und acht aus den ehrenamtlichen Schnelleinsatzgruppen (SEG), zwei Notarzteinsatzfahrzeuge (NEF), ein Rettungshubschrauber (RTH), hier der ITH Christoph München, weil der örtliche ITH Christoph Murnau einsatzgebunden war, vier Krankentransportwagen (KTW), davon einer aus dem Regelrettungsdienst und drei aus ehrenamtlichen SEG, der Helfer vor Ort (HVO), der Gerätewagen Sanität 25 und die Einsatzleitung Rettungsdienst alarmiert. Im vorliegenden Einzelfall wurden aufgrund einer Entscheidung des Schichtführers in der ILS auch die Sanitätseinsatzleitung (SANEL) und die Unterstützungsgruppe hierzu (UG SANEL) mit alarmiert. Alarmierung der Feuerwehren Bei den Feuerwehren erfolgte die Alarmierung nach dem Alarmstichwort #T3910#VU#Zug THL VU ZUG, was nach Alarmplan die Alarmierung folgender Notfallorgane nach sich zog: die Freiwillige Feuerwehr (FF) Partenkirchen als örtlich zuständige Feuerwehr einen Rüstwagen (FF Partenkirchen) zwei hydraulische Rettungssätze (FF Partenkirchen und FF Garmisch) je ein Lösch- und Tanklöschfahrzeug (FF Partenkirchen) den Bahnerdungssatz (FF Garmisch) eine Drehleiter (FF Partenkirchen) den Fachberater THW den Ansprechpartner der Führungsgruppe Katastrophenschutz im Landratsamt (FüGK) den Örtlichen Einsatzleiter (ÖEL) die Unterstützungsgruppe zum Örtlichen Einsatzleiter (UG ÖEL) den Kreisbrandmeister (KBM) den Kreisbrandinspektor (KBI) den Kreisbrandrat (KBR) einen Einsatzleitwagen (ELW) einen Abschnitts-ELW (beide FF Partenkirchen)
einen Kranwagen (FF Garmisch) Alarmierung in der ILS Um das erhöhte Dispositions- und Kommunikationsaufkommen zu bewältigen hat die ILS Oberland ebenfalls ihre Kapazitäten erhöht und neben dem im Haus befindlichen Bereitschaftsdienst die ehrenamtliche Unterstützungsgruppe (UG ILS) alarmiert, sowie einen Vollalarm für das hauptamtliche ILS-Personal ausgelöst, den Leitungsdienst ILS und die Systemverwaltung einbestellt, sodass die Personalkapazität auf 14 Personen in der ILS erhöht werden konnte. Damit konnten die sieben Einsatzleitplätze (ELP) und nachfolgend auch die Anrufannahmeplätze (AAP) besetzt werden. Mit Eintreffen des Ergänzungspersonals wurde ein ELP für den Funkverkehr „Sonderlage Zug“ definiert (ELP2) und auch für die Bettenverteilung aus dieser Sonderlage ein eigener ELP geschaffen (ELP3) (s. Abb. 3). Letzteres wurde notwendig, weil auch im Regelrettungsdienst außerhalb der Sonderlage ein hohes Einsatzaufkommen zu bewältigen war und die Bettenverteilung nicht über den Dispositionsplatz erfolgen konnte.
Abb. 3
Besetzung der ELP in der ILS Oberland (mit freundlicher Genehmigung der ISL Oberland)
Die ersten Entscheidungen Alarmstufenerhöhung und erste Raumordnung Aufgrund der Nähe des Unfallortes zum Hauptort des Landkreises waren die Fahrtzeiten für die ersteintreffenden Fahrzeuge sehr kurz. Bereits wenige Minuten nach der Alarmierung um 12:18 Uhr traf der erste RTW ein und etwa zeitgleich mit ihm auch der Einsatzleiter Rettungsdienst, der Organisatorische Leiter (OrgL) und ein weiterer Kollege aus dem Einsatzführungsdienst, der die Funktion des Abschnittsleiters Schaden
übernahm. Mit Eintreffen an der Unfallstelle und dem Schaden auf Sicht erhöhte der OrgL die Alarmstufe von MANV 26–50 (Massenanfall von Verletzten und Kranken mehr als 25 bis zu 50 Personen) auf MANV 51– 100 und teilte dies der ILS über Funk mit. Da der einsatzleitende Kommandant der FF Partenkirchen bereits am Einsatzort war, konnte zwischen dem OrgL und dem Einsatzleiter Feuerwehr (EL FW) die Raumordnung kurzfristig abgestimmt werden, was sich im weiteren Einsatzverlauf als sehr günstig herausstellte. So wurde festgelegt, dass die nach Süden führende zweispurige Fahrbahn der Bundesstraße 2/23 für die Einsatzkräfte der Feuerwehren und des THW freigehalten werden und die nach Norden führende zweispurige Fahrbahn den Einsatzkräften des Rettungsdienstes zur Verfügung steht. Zwischen dem havarierten Zug und der westlichen Fahrbahn sollte durch die Feuerwehr ein Übergang geschaffen werden und die Mittelleitplanken zwischen beiden Fahrbahnen sollte entfernt werden (s. Abb. 4).
Abb. 4
Foto des Zugunglücks bei Garmisch-Patenkirchen (mit freundlicher Genehmigung des KFV GAP)
Einsatztaktische Überlegungen des Rettungsdienstes Gefahr durch Strom?
Ebenfalls unmittelbar nach Eintreffen des OrgL konnte mit dem EL FW geklärt werden, dass von der Stromleitung der Bahn keine Gefahr mehr ausging. Durch das Unfallereignis war ein Mast der Stromleitung aus der Verankerung gerissen und zerstört worden. Dies führte dazu, dass auch die Stromleitung abgerissen wurde und sich um die Fahrgestelle eines Waggons gewickelt hatte. Damit war sichergestellt, dass eine Erdung vorlag (s. Abb. 5). Sichtung im Zug? Im Landkreis Garmisch-Partenkirchen ist seit geraumer Zeit das Sichtungsverfahren nach MStart eingeführt und zunächst war der Plan des Abschnittsleiters Schaden, dies über Sichtungsteams im Zug durchzuführen. Letztlich wurde dies jedoch durch die Einsatzdynamik überholt. Im vorderen Waggon, der noch auf dem Gleiskörper stand, befanden sich etwa 20 Soldaten aus der Kaserne Mittenwald, die auf dem Weg ins Wochenende waren. Diese haben sofort nach dem Unfall in den havarierten Waggons entsprechende Rettungsmaßnahmen eingeleitet, die Scheiben der Waggons eingeschlagen und die Patienten nach oben aus den auf der Seite liegenden Waggons herausgereicht. Damit musste die Sichtung in die Patientenablage verlegt werden, die gegenüber der Schadenstelle auf der östlichen Fahrbahn der Bundesstraße etabliert wurde.
Abb. 5
Foto des entgleisten Zugs in der Nähe von Garmisch-Patenkirchen (mit freundlicher Genehmigung des KFV GAP)
Risikomanagement und einsatztaktisches Vorgehen Nach dem Eintreffen des Leitenden Notarztes (LNA), der ebenfalls sehr zeitnah an der Unfallstelle eintraf, standen für die Sanitätseinsatzleitung zwei Entscheidungen im Vordergrund: 1. Warum entgleist an dieser Stelle ein Zug? 2. Wie gehen wir vor? Die erste Frage war deshalb von Bedeutung, weil wir uns wenige Wochen vor dem G7-Gipfel befanden und aus den regelmäßigen Briefings der Polizei wussten, dass sich die Gipfelgegner formierten und von einer abstrakt erhöhten Gefährdungssituation auszugehen war. Zudem hatte es bereits erste Proteste und Schmierereien im Ort gegeben. Wir zogen daher auch ein Anschlagsszenario ins Kalkül und sorgten uns um einen möglichen second strike. Nachdem eine Nachfrage bei den anwesenden Polizeikräften keine weiteren Erkenntnisse hierzu erbrachte, entschieden wir uns, gemeinsam die nähere Unfallstelle, das Gleisbett und die umgestürzten Waggons zu besichtigen. Nachdem dies keine Erkenntnisse in Richtung eines Anschlagsszenarios erbrachte und die Rettungsaktionen der Fahrgäste
ohnehin bereits in vollem Gang waren, entschieden wir uns für eine konsequente Rettung. Aus einsatztaktischer Sicht wurde entschieden, dass oberste Priorität hatte, alle Patienten der Sichtungskategorie „rot“, also lebensbedrohlich Verletzte, schnellstmöglich in eine geeignete Klinik zu verbringen und dabei die „golden hour of trauma“ nach Möglichkeit einzuhalten. Diese Entscheidung wurde auch an die Abschnittsleitungen kommuniziert (s. Abb. 6).
Abb. 6
Grafik BRK (Foto: Google Maps)
Als einsatztaktische Abschnitte wurde neben dem Abschnitt Schaden und der Patientenablage noch ein Bereitstellungsraum für die Rettungsmittel, eine Sammelstelle für die gehfähigen Patienten, eine Ablagefläche für Verstorbene, sowie eine Betreuungsstelle für Betroffene und eine separate Betreuungsstelle für ankommende Angehörige und Dritte eingerichtet und jeweils mit Abschnittsleitern besetzt. Ein Bereitstellungsraum für Luftfahrzeuge war ebenfalls definiert worden, wurde jedoch aufgrund eines hohen Kommunikationsaufkommens nicht weiter kommuniziert und in der Folge vergessen. Die ankommenden Hubschrauber landeten jedoch selbständig und unproblematisch auf einer großen Wiese südlich der Unfallstelle in ca. 350 m Entfernung. Die Betreuungsstelle wurde aufgeteilt in eine Betreuungsstelle für Betroffene aus dem Zug, die in einer nahegelegenen Gaststätte eingerichtet wurde, die aufgrund des G7-Gipfels für die Öffentlichkeit gesperrt war und eine Betreuungsstelle für nachkommende Angehörige und sonstige Dritte, die im Lehrsaal des BRK-Kreisverbandes eingerichtet wurde. Grund für die Trennung war die Befürchtung, dass sich aufgrund des sehr hohen Medieninteresses, das bereits unmittelbar nach dem Unfallereignis eintrat, seitens der Einsatzleitung damit gerechnet werden musste, dass sich unter vermeintlich Angehörige auch Journalisten und andere Interessierte mischen, mit denen die Betroffenen in dieser Phase nicht konfrontiert werden sollten. Alle Einsatzabschnitte wurden sodann neben den Abschnittsleitern auch mit Notärzten besetzt. Hintergrund der Überlegung war, dass in allen Abschnitten die notärztliche Versorgung sichergestellt war, dass aufgrund des schwerwiegenden traumatischen Ereignisses und der Vielzahl der Betroffenen auch damit gerechnet werden musste, dass zunächst als gehfähig eingestufte Patienten und vermeintlich Unverletzte sich im späteren Verlauf noch als Verletzte herausstellten. Dies ist in einigen wenigen Fällen auch so eingetreten. Seitens der Sanitätseinsatzleitung wurden bewusst keine ärztlichen Abschnittsleiter eingesetzt, weil dies nicht für notwendig angesehen wurde und zunächst auch ein Mangel an Notärzten bestand. Im Einsatzverlauf hat sich jedoch herausgestellt, dass dies von den beteiligten Notärzten nicht immer so umgesetzt wurde. Teilweise haben Notärzte sich entsprechende Leitungsfunktionen selbst
zugeschrieben und mit zum Teil sehr hohem Kommunikationsaufkommen am Funk die vordefinierte Funkgruppe für Abschnittsleiter zum Erliegen gebracht.
Einsatzverlauf Nachdem die ersten einsatztaktischen Entscheidungen getroffen waren, entwickelte sich der Einsatz extrem dynamisch. Aufgrund der Alarmstufenerhöhung war die ILS sehr stark mit den Nachalarmierungen belastet. Gleichzeitig meldeten sich jedoch bereits die ersten Fahrzeuge aus der ersten Alarmierungswelle. Dadurch entstand eine starke Überlastung des Funkverkehrs, die es kaum noch möglich machte, weitere Meldungen abzusetzen. Die Nachforderung von weiteren Notärzten, die nicht über Funkmeldeempfänger erreichbar waren, erfolgte durch den LNA deshalb über vorhandene WhatsApp-Gruppen und teilweise über direkte Telefonate. Auch die Leitungen der Nothilfen der beiden Kliniken wurden so vorab informiert. Dies führte natürlich zu einem Informationsverlust in der ILS, verhinderte aber Alarmierungs- und Informationsverzögerungen an diesen beiden Schnittstellen. Da aufgrund der einsatztaktisch sehr günstigen Lage der Unfallstelle zwischen dem Schadensgebiet und der Patientenablage nur ein sehr kurzer Weg bestand und zudem sehr schnell ein große Anzahl von helfenden Händen verfügbar war (s. Abb. 7), konnten die Patienten an der Patientenablage zügig gesichtet und behandelt werden. Nachdem eine Funkkommunikation zu diesem Zeitpunkt kaum noch möglich war, erfolgte die Anmeldung der Patienten, der ausgegebenen Strategie „rote Patienten so schnell wie möglich in die Klinik!“ folgend, direkt von den Notärzten der Patientenablage bei der jeweiligen Nothilfe des Klinikums GarmischPartenkirchen bzw. der BG-Unfallklinik Murnau. Insgesamt wurden 15 Patienten der Kategorie „rot“ primär auf die beiden Kliniken verteilt. Ein Patient wurde nach Erstversorgung mit einer beidseitigen Carotisdissektion und epi-, sowie subduralen Blutungen eine Stunde nach der CT-Diagnostik mit RTH nach München weiterverlegt.
Abb. 7
Rettung der Verunfallten aus dem Zug (mit freundlicher Genehmigung des KFV GAP)
Im Ergebnis wurden 15 Patienten der Sichtungskategorie „rot“ und 20 Patienten der Sichtungskategorie „gelb“ von Fahrzeugen des Rettungs- und Sanitätsdienstes transportiert. Circa zehn Patienten wurden zusätzlich, zumeist von anwesenden Polizeikräften, ohne Abstimmung direkt ins Klinikum Garmisch-Partenkirchen verbracht. Darunter befand sich jedoch keine schwerverletzte Person. Bei den gehfähigen Patienten der Sichtungskategorie „grün“ befanden sich 32 Patienten und sechs dazugekommene Angehörige, die ebenfalls betreuungsbedürftig waren. Fünf Personen haben das Zugunglück nicht überlebt, eine Person davon konnte noch lebend gerettet werden, verstarb jedoch noch an der Unfallstelle. Die weiteren vier Personen wurden durch den Unfallhergang, bei dem die entgleisenden Waggons einen Strommast nebst Betonsockel aus der Verankerung rissen und dieser Betonsockel einen Waggon der Länge nach aufschlitzte, aus dem Waggon geschleudert und kamen schließlich unter dem Waggon zum Liegen. Sie hatten keine Überlebenschance. Die 35 Patienten wurden auf neun Kliniken zwischen Innsbruck und München verteilt.
Ende des Rettungsdiensteinsatzes
Um 15.30 Uhr, mithin gut zwei Stunden nach der Alarmierung, wurde der rettungsdienstliche Einsatz weitgehend beendet. Es blieben noch drei RTW und ein Notarzt zur Absicherung der weiteren Bergungsmaßnahmen und für den Fall, dass in den Trümmern noch Verletzte gefunden werden, obwohl mehrmalige Durchsuchungen ergebnislos waren. Insbesondere der Staubereich zwischen den Waggons zwei und drei war jedoch aufgrund der massiven Verformungen und der Verkeilung der beiden Waggons ineinander nicht einsehbar. Die Bergung der Waggons durch die Feuerwehr und das THW gestaltete sich über einen längeren Zeitraum sehr schwierig, da es trotz der Anwesenheit mehrerer Notfallmanager der Deutschen Bahn bis in die Abendstunden nicht gelang, eine fachkundige Auskunft über geeignete Anschlagpunkte zur Bergung der havarierten Waggons zu erhalten. Zudem mussten die Waggons zertrennt und mit angeforderten Spezialkränen angehoben und auf die Straße gelegt werden (s. Abb. 8). Damit waren eine erhebliche Anzahl von Einsatzkräften der Feuerwehren und des Technischen Hilfswerkes noch bis zum Montag, den 06.06.2022 um 16:10 Uhr am Einsatz gebunden. Der Einsatz dauerte für diese Kräfte daher insgesamt nahezu 76 Stunden. Bis zu diesem Zeitpunkt war auch der Betreuungsdienst des Bayerischen Roten Kreuzes im Einsatz, um die Einsatzkräfte zu betreuen und zu verpflegen.
Abb. 8
Bergung der havarierten Waggons (mit freundlicher Genehmigung der ADAC Luftrettung gGmbH)
Einsatzkritik Lessons learned Wie jeder Einsatz dieser Größenordnung gibt auch der Vorliegende Anlass zu einer kritischen Betrachtung der getroffenen Entscheidungen und Vorgehensweisen. Zunächst haben wir aus diesem Einsatz – wieder einmal – viel gelernt. Der Landkreis Garmisch-Partenkirchen gehört zu denen in Bayern, die über viel Katastrophenerfahrung verfügen. Vom Unfall des Gläsernen Zuges 1995 über das Pfingsthochwasser 1999, den Zugunfall am Katzensteintunnel Pfingsten 2000, weitere Hochwasser- und Schneekatastrophen, den G7-Gipfel 2015 und viele weitere größere und kleinere Schadensereignisse sind wir gut trainiert in der Bewältigung von größeren Schadensereignissen. Dennoch ist kein Einsatz wie der andere und jeder eine neue Herausforderung. Auch dieser Einsatz hat wieder gezeigt, dass man am Ende immer „in der Lage leben“ muss. Dabei waren die folgenden Punkte bemerkenswert. Golden hour of trauma Der zentrale Plan, die „golden hour of trauma“ einzuhalten, ist aufgegangen. 45 Minuten nach dem Eintreffen am Unfallort wurde der letzte Patient transportiert. Dabei wurde nicht, wie man vielleicht vorschnell vermuten möchte, das Chaos von der Unfallstelle in die Klinik verlegt. Beide Kliniken waren bestens vorbereitet und gut aufgestellt. Sie konnten die Patienten zügig sichten, diagnostizieren und, wo notwendig, operieren. Dabei gab es sicherlich einige positive Umstände, die weder reproduzierbar noch übertragbar sind: Coronabedingt gab es freie Kapazitäten auf der Intensiv- und Normalstation. Aufgrund des nahenden G7-Gipfels waren die Notfallprogramme aktuell überarbeitet und alle Mitarbeitenden eingewiesen. Der Unfallzeitpunkt um die Mittagsstunde war für die Kliniken ideal, weil die Frühschicht noch anwesend und die Spätschicht weitgehend bereits unterwegs war.
Die direkte Kommunikation mit den Notärzten an der Unfallstelle hat die Klinik gut vorbereitet. Nichts ist umsonst Durch die direkte Kommunikation zwischen den Notärzten und den Klinikärzten kam es zu Informationsverlusten bei der ILS und bei der UG SANEL. Darunter hat auch die Dokumentation stark gelitten. So musste erst im Nachgang zu dem Einsatz – und teilweise mühsam – ermittelt werden, welcher Patient in welche Klinik gekommen ist. Nachdem in den Kliniken teilweise eine eigene Nummerierung über das klinikeigene System vorgenommen wurde und die Nummerierung aus dem Rettungsdienst verworfen wurde, war dies nicht immer ganz einfach. Die Geschwindigkeit des Abtransports hat letztlich auch dazu geführt, dass die ILS immer noch am Nachalarmieren war, als die Patienten bereits die Schadensstelle verlassen hatten. Damit wurden Einsatzmittel von der Einsatzleitung aus dem Einsatz entlassen, während die ILS weitere Rettungsmittel anforderte. Das sorgte durchaus für Verwirrung. Die Funkkommunikation ist nahezu vollständig zum Erliegen gekommen. Dies lag initial an mangelnden personellen Ressourcen in der ILS und einem hohen Kommunikationsaufkommen anrückender Fahrzeuge. Damit war es nicht immer möglich, Anfahrtsbeschreibungen und Bereitstellungsräume zu kommunizieren, was in der Folge zu einem ebenfalls sehr hohen Kommunikationsaufkommen bei der UG SANEL führte. Auf der Funkgruppe der Abschnittsleiter entstand nachfolgend ebenfalls ein extrem hohes Kommunikationsaufkommen, weil diese Gruppe von vielen als „Ausweichgruppe“ genutzt wurde, weil man auf der regulären Rettungsdienstgruppe nicht durchkam. Zudem war die Funkdisziplin nicht immer vorbildlich. Das Bettenmanagement durch die ILS war nachfolgend ebenfalls nicht mehr möglich. Die Rettungsdienstfahrzeuge hatten ins Klinikum GarmischPartenkirchen nur eine Fahrzeit von etwa fünf Minuten und konnten in dieser Zeit keinen Kontakt herstellen. Zudem hat das wiederholte Senden von Statusmeldungen, teilweise auf verschiedenen Funkgruppen, dazu
geführt, dass in der ILS die Bildschirme vollliefen und die Übersicht verloren ging.
Resümee Abschließend ist festzuhalten, dass der Einsatz von allen Beteiligten als große Herausforderung empfunden wurde, jedoch das gute Gefühl zurückgeblieben ist, dass seitens der Rettungs- und Bergungskräfte alles in ihrer Macht Stehende getan wurde, um die Unfallfolgen so gering wie möglich zu halten. Die Zusammenarbeit der beteiligten Einsatzkräfte und -organisationen funktionierte vorbildlich, professionell und kameradschaftlich. Hier bewährte sich wieder einmal die langjährige vertrauensvolle Zusammenarbeit und die Tatsache, dass die verantwortlichen Einsatzleiter sich lange persönlich kennen. Der Unfallort, der Unfallzeitpunkt und das Wetter im Einsatzzeitraum waren ideal und haben vieles erleichtert. Rettungsdienstlich konnten wir das Schadensereignis in der geschilderten Art und Weise nur abarbeiten, weil wir über starke und kompetente ehrenamtliche Einsatzeinheiten verfügen und regelmäßig auch größere Schadensfälle aufwändig üben.
2
Notfälle in Verkehrsflugzeugen
Christopher Neuhaus
Notfälle in Verkehrsflugzeugen stellen primär keine klassischen Einsatzindikationen für den Rettungsdienst dar. Dennoch wird medizinisches Fachpersonal immer häufiger im Rahmen privater oder beruflicher Flugreisen mit der plötzlichen Notwendigkeit der Patientenversorgung an Bord konfrontiert und dabei vor besondere logistische und organisatorische Herausforderungen gestellt. Weiterhin haben Notärzte häufig Kontakt mit Notfallpatienten aus Luftfahrzeugen, wenn beispielsweise nach der Landung mit einem medizinischen Notfall (sog. in-flight medical emergencies, IFME) eine notärztliche Versorgung am Boden mit Transport in ein Krankenhaus erforderlich ist. Neben notfallmedizinischem Basiswissen sind bei diesen Notfällen insbesondere spezifische Kenntnisse über flugphysiologische Besonderheiten unerlässlich, um Symptome des Patienten richtig erfassen und bewerten zu können. Insbesondere die Bewegung in der „dritten Dimension“ Höhe kann durch Beschleunigung und atmosphärische Veränderungen von hoher pathophysiologischer Relevanz für den Patienten bzw. dessen Versorgung sein.
2.1
Einsatzbedingungen und Risikobewertung
2.1.1 Inzidenz Laut der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation ICAO wuchs das weltweite Passagieraufkommen in den letzten Jahrzehnten stetig bis auf 2,5 Milliarden Personen im Jahr 2012 an, wovon 209 Millionen allein in Deutschland transportiert wurden (Hinkelbein et al. 2013). Gemäß der demografischen Entwicklung der Industrienationen stieg damit auch der Anteil älterer Passagiere, die am Luftverkehr teilnehmen. Deren wachsende Zahl an Vorerkrankungen, gepaart mit zunehmenden Transportkapazitäten und Reichweiten moderner Flugzeugmuster, erhöhen die Wahrscheinlichkeit für medizinisches Fachpersonal mit einem Notfall an Bord eines Linienflugs konfrontiert zu werden. Trotz einer in Fachkreisen empfundenen und viel diskutierten Häufung von Notfällen in der kommerziellen Luftfahrt, existieren jedoch nur wenig detaillierte Daten über deren genaue Inzidenz, Ursachen und Outcome. Weitestgehend
unbekannt sind bisher auch Details zu medizinischen Notfällen von Flugzeugbesatzungen, die trotz strenger und regelmäßiger Kontrollen ihrer flugmedizinischen Tauglichkeit ebenfalls hiervon betroffen sein können. Aktuelle Studien beziffern die Inzidenz eines medizinischen Notfalls mit ca. einem Notfall pro 10.000 bis 40.000 transportierte Passagiere bzw. 22 bis 33 Zwischenfällen pro Tag im internationalen Luftverkehr.
Diese Zahlen basieren jedoch im Wesentlichen auf retrospektiven Analysen einzelner Airlines, wobei bisher nahezu keine Daten einzelner Länder oder internationaler Datenbanken verfügbar sind. Ein weiteres Problem stellt die Abhängigkeit der Daten von der gewählten Bezugsgröße dar. Einige Studien nutzen die absolute Anzahl gemeldeter Zwischenfälle pro Jahr, wodurch nur ein relatives Risiko beschrieben wird. Andere Autoren beziehen sich auf die Gesamtzahl der geflogenen Stunden bzw. die Anzahl der durchgeführten Flüge. Diese wesentlich solidere Vergleichsmenge ist aber sehr schwer zu erfassen und im Allgemeinen nur als Schätzwert verfügbar, da Daten hierzu von den Fluggesellschaften nur selten publiziert werden (Hinkelbein et al. 2010). Neuere Studien berechnen die Inzidenz bezogen auf Passagierzahlen als Vergleichsmenge. Die Deutschen Lufthansa AG rechnet aufgrund eigener Daten mit einer Wahrscheinlichkeit von 95% eines Zwischenfalls pro 24 Interkontinentalflüge (Graf et al. 2012). Daten zu plötzlichen Todesfällen und Herz-Kreislauf-Stillständen in der kommerziellen Luftfahrt sind limitiert. Die International Airlines Transport Association (IATA) geht von 1.000 Fällen pro Jahr aus, die Inzidenz läge somit bei 1 Herzstillstand pro 5–22,6 Mio. transportierte Passagiere. Angaben über Todesfälle an Bord schwanken zwischen 1 pro 3–10 Mio. transportierter Passagiere (AWMF 2015; Hinkelbein et al. 2016). Zur künftigen Verbesserung der Datengrundlage gibt es erste Bemühungen für größere Register von Notfällen an Bord von Verkehrsflugzeugen; die Deutsche Gesellschaft für Luft- und Raumfahrtmedizin e.V. (DGLRM) stellt hierfür ein Formular zur Verfügung (Hinkelbein et al. 2016).
2.1.2 Art der Notfälle Es konnte gezeigt werden, dass ca. 2/3 der Notfälle an Bord von Verkehrsflugzeugen auf einer Verschlechterung vorbestehender Erkrankungen beruhen, wohingegen neu aufgetretene Probleme wesentlich seltener sind. Bei den vorbestehenden Erkrankungen waren Atemwegserkrankungen (21%), kardiovaskuläre Erkrankungen (14%) und abdominelle Erkrankungen (10%) am häufigsten. Über die genauen pathophysiologischen Ursachen der Zustandsverschlechterung ist vergleichsweise wenig bekannt. Insbesondere aber der reduzierte Luftdruck, erniedrigte Sauerstoffsättigung, verminderte Luftfeuchtigkeit, Dehydration und eventuell Stress können Zustandsverschlechterungen begünstigen. Kardiale Erkrankungen sind Ursache für die meisten Probleme an Bord.
Die Synkope stellt, unabhängig von den Vorerkrankungen des Patienten, den mit Abstand häufigsten Notfall dar, gefolgt von Angina pectoris und unspezifischen kardialen Beschwerden, gastrointestinalen Erkrankungen, respiratorischen Problemen und psychiatrischen Notfällen. Die Inzidenz von Herz-Kreislauf-Stillständen an Bord von Luftfahrzeugen kann als gering angenommen werden (AWMF 2015). Daten der Lufthansa AG aus den Jahren 2010–2011 ergaben im Mittel 8 Fälle pro Jahr. Untersuchungen konnten zeigen, dass in bis zu 89% der Herz-Kreislauf-Stillstände ein Kammerflimmern bzw. eine ventrikuläre Tachykardie vorlag, weswegen das Mitführen von AED bei US-amerikanischen Airlines seit 2004 durch die Federal Aviation Administration (FAA) vorgeschrieben ist (Brown et al. 2010). Europäische Airlines sind bisher nicht gesetzlich zur Vorhaltung derartiger Geräte verpflichtet, wobei die US-Standards bereits häufig erfüllt werden. Daten zur Frühdefibrillation an Bord von Flugzeugen zeigen Erfolgsraten von bis zu 91%, wobei in 33–55% der Patienten ein Überleben bis zur Krankenhausentlassung erreicht werden kann.
2.2
Physiologische und pathophysiologische Besonderheiten
In der Arbeitsumgebung eines Verkehrsflugzeuges müssen der Einfluss von Höhe und Beschleunigung auf den Zustand des Patienten berücksichtigt werden, wobei dies von differenzialdiagnostischer und therapeutischer Relevanz sein kann.
2.2.1 Höhe und Luftdruck Ausgangspunkt aller Überlegungen zum Einfluss der Flughöhe ist die ICAO-Standardatmosphäre (ISA). Der Luftdruck beträgt nach der ISA bei einer Temperatur von 15 °C auf Meereshöhe 1.013,25 hPa. Dieser Druck nimmt mit zunehmender Höhe langsam ab. Die Druckabnahme erfolgt bis zu einer Höhe von etwa 3 km (10.000 ft) linear, danach nimmt der Druck exponentiell ab. In einer Höhe von ca. 5,5 km (18.000 ft) hat sich der Luftdruck im Vergleich zum Druck auf Meereshöhe halbiert (Hinkelbein u. Neuhaus 2009). Die Luft in der Atmosphäre setzt sich aus verschiedenen Gasen zusammen, im Einzelnen (gerundet): 21% Sauerstoff (O2), 78% Stickstoff (N2), 0,03% Kohlendioxid (CO2) und 0,97% Edelgase (z.B. Xenon, Argon und andere). Nach dem Gesetz von Dalton gilt, dass der Partialdruck eines Gases im Gasgemisch proportional zum Volumenanteil des Gases im Gasgemisch ist. Der Gesamtdruck errechnet sich der aus der Summe der Teildrücke. Dies bedeutet bei der ISA, dass bei einem Luftdruck von 1.013,2 hPa auf Meereshöhe der Sauerstoff einen Partialdruck von 1.013,2 hPa ∙ 0,21 = 212,77 hPa besitzt. Um in der lebensfeindlichen Umgebung gängiger Flughöhen (8–12 km) überleben zu können, sind Linienflugzeuge mit Druckkabinen ausgestattet. Deren „Kabinenhöhe“ beträgt 8.000 ft (2.400 m), bei neueren Mustern sogar 6.000 ft (1.800 m). Der Luftdruck in 8.000 ft entspricht ca. 560 mmHg; entsprechend dem Dalton’schen Gesetz besitzt der nutzbare Sauerstoff (21%) in dieser Höhe einen Partialdruck von 117 hPa bzw. 88 mmHg (1 hPa = 0,75 mmHg). Dies resultiert beim Lungengesunden in einer peripheren Sauerstoffsättigung (SpO2) von ca. 90–93% (s. Abb. 1).
Abb. 1
Zusammenhang zwischen der Flughöhe (ft) und der Sauerstoffsättigung (%). Bis zu einer Höhe von etwa 10.000 ft (ca. 90% Sauerstoffsättigung; gestrichelte Linie) befindet man sich „im sicheren Bereich“ (aus Hinkelbein u. Neuhaus 2009, mit freundlicher Genehmigung der aeromedconsult GbR).
Dies ist besonders bei der Versorgung pulmonal vorerkrankter Patienten relevant, da diese bei zunehmender Flughöhe symptomatische Beschwerden entwickeln können, die auf Meereshöhe noch kompensiert waren. Teilweise werden erhöhte inspiratorische Sauerstoffkonzentrationen benötigt, um einen konstanten inspiratorischen Sauerstoffpartialdruck aufrecht zu erhalten. Hierfür ist zusätzlicher medizinischer Sauerstoff an Bord verfügbar. Die folgende, allgemeine Gasgleichung ist die Grundlage für die Nachvollziehbarkeit von Vorgängen im Körper bei veränderten Außenbedingungen. Sie fasst die Gesetze von Boyle-Mariotte und von GayLussac zusammen.
Im Steigflug dehnen sich Gasansammlungen aus, da der Umgebungsluftdruck abnimmt. Betrachtet man die allgemeine Gasgleichung, so kann man feststellen, dass sich das Volumen des Gases im Steigflug durch die gleichzeitig abnehmende Außentemperatur auch verringert. Die beiden Effekte können sich deshalb aufheben. Da der menschliche Körper allerdings die Körperkerntemperatur relativ konstant hält, dehnen sich die im Körper eingeschlossenen Gase stärker aus als ein Gaspaket außerhalb des Körpers. Dies gilt allerdings nur für trockene Gase. Mit Wasserdampf gesättigte Gase, wie sie im menschlichen Körper vorliegen, dehnen sich noch stärker aus. Das heißt, dass sich die im Körper eingeschlossene feuchte Luft mit einer konstanten Temperatur von 37°C bei einer Halbierung des Umgebungsluftdruckes um mehr als das Doppelte ausdehnt. Dies muss differenzialdiagnostisch bei abdominellen Beschwerden sowie anamnestisch bei kürzlich operierten Patienten mit Restluftansammlungen in Darm und Abdomen berücksichtigt werden. Gasgesetze Das Boyle-Mariotte-Gesetz beschreibt den Zusammenhang zwischen Druck (p) und Volumen (V) bei einer konstanten Temperatur (T). Es gilt: p x V = konstant. Dies ist besonders für im Körper eingeschlossene Gase wichtig, da der Körper eine konstante Körpertemperatur aufrechterhält. Mit zunehmender Höhe des Flugzeuges wird der Außen- oder Luftdruck immer niedriger. Das heißt, dass sich im Körper des Patienten die Volumina der eingeschlossenen Gase vergrößern. Dies äußert sich zum Beispiel in verstärkten Blähungen oder Geräuschen beim Druckausgleich im Mittelohr. Die beiden Gesetze von Gay-Lussac zeigen den Zusammenhang zwischen Temperatur (T), Druck (p) und Volumen (V) eines Gases auf. Das Volumen eines eingeschlossenen Gases ist bei gleichbleibendem Druck proportional zur Temperatur. Steigt also die Temperatur an, so vergrößert sich das Volumen des Gases. Der Druck eines eingeschlossenen Gases ist bei gleichbleibendem Volumen proportional zur Temperatur. Steigt also die Temperatur und ist kein Platz zur Ausdehnung des Gases, so steigt dessen Druck. Das Henry-Gasgesetz besagt, dass die Menge eines in einer Flüssigkeit gelösten Gases (M) proportional zum Druck des Gases auf die Flüssigkeit ist. Dies ist hauptsächlich für die Menge des im Blut gelösten Stickstoffs relevant. Diese nimmt mit zunehmender Flughöhe ab; geschieht dies zu
schnell kann der freiwerdende Stickstoff ausperlen und Mikroembolien verursachen (Caisson-Krankheit).
2.2.2 Beschleunigung Auf den Körper wirkt im Ruhezustand nur die Schwerkraft ein. Diese verläuft senkrecht nach unten, man spricht dabei von 1 g. Selbst vermeintlich harmlose Beschleunigungen, wie sie bei Start und Landung oder im Kurvenflug eines Luftfahrtzeuges auftreten, potenzieren diese Kräfte – bei einem Kurvenflug mit 60° z.B. wird der Körper bereits mit 2 g, also dem doppelten Körpergewicht, in den Sitz gedrückt. Da die Dauer der einwirkenden Beschleunigung eine entscheidende Rolle spielt und diese im Regelflugbetrieb meist kurz sind (im Vergleich zu Kunstflug o.ä.), nehmen diese Phänomene im kommerziellen Luftverkehr eine eher untergeordnete Rolle ein. Negative Beschleunigungen treten im zivilen Routineflugbetrieb nicht auf und können höchstens kurzzeitig bei Turbulenzen auf das Luftfahrtzeug und die Insassen wirken; medizinische Implikationen sind im Vergleich zu den Vibrationen und der Gefahr durch nicht gesicherte Ausrüstungsgegenstände oder mangelhafte Patientenfixierung vernachlässigbar.
2.3
Therapeutische Strategien
2.3.1 Ausrüstung an Bord Europäische Regularien fordern einen Erste-Hilfe-Kit (First-Aid-Kit, FAK) als Minimalstandard für die Versorgung des Notfallpatienten an Bord, in dessen Handhabung das gesamte Kabinenpersonal geschult und eingewiesen sein muss (EU 2008). Das FAK enthält neben (nicht verschreibungspflichtigen) Medikamenten gegen leichtere Symptome wie Kopfschmerzen, Übelkeit oder Durchfall auch Material zur oberflächlichen Wundversorgung und Schienung, Verbandspäckchen, Binden und Nahtmaterial. In Luftfahrzeugen mit mehr als 30 Sitzplätzen wird zusätzliches Material gefordert, welches in der Regel unter Verschluss
gehalten wird und nur medizinischem Fachpersonal zugänglich ist (Emergency Medical Kit, EMK/Doctor’s Kit, DK). Jede Airline kann durch ihre jeweiligen medizinischen Abteilungen oder Beraterfirmen festlegen, welchen genauen Inhalt Erste-Hilfe-Kits an Bord haben und was zusätzlich mitgeführt wird. Das kann besonders bei der medikamentösen Ausstattung zu großen Unterschieden führen.
Ungefähr die Hälfte der europäischen Airlines stellt orale Schmerzmittel zur Verfügung; mehr als zwei Drittel der Flugzeuge haben antipyretische, antiemetische und antiallergische Medikamente an Bord. Knapp 2/3 der Airlines stellen Material für i.v.-Zugänge und Infusionslösungen bereit, ungefähr die Hälfte hält Medikamente zur Narkoseführung sowie Material zur Atemwegssicherung (Laryngoskope, Endotrachealtuben) vor. Opioide werden generell nicht vorgehalten, was nicht zuletzt den aufwändigen Bestimmungen in Bezug auf sichere Lagerung und internationalen Transport geschuldet ist. Es muss vom behandelnden Fachpersonal jedoch beachtet werden, dass insbesondere auf Luftfahrzeugen im Kurzstreckenverkehr auf viele dieser Ausrüstungsgegenstände verzichtet wird. Beispielhaft sei erwähnt, dass von einem Drittel der europäischen Airlines dort keinerlei Equipment für die Atemwegssicherung bereitgestellt wird. Eine vorausschauende Planung und gute Kommunikation mit der Flugzeugbesatzung ist daher essenziell! Für die Versorgung des kardialen Notfallpatienten werden von etwa einem Drittel der Airlines EKG- bzw. AED-Geräte mitgeführt (Hinkelbein et al. 2014). Katecholamine zur Behandlung von Hypotensionen sind vergleichbar selten, während in mehr als zwei Drittel der EMK antihypertensive Wirkstoffe vorhanden sind. Die leitliniengerechte Behandlung des Myokardinfarkts (mit Aspirin, Heparin, Nitraten und Antiarrhythmika) ist aufgrund der heterogenen Ausstattung nicht sicher gewährleistet. Für den Fall einer kardiopulmonalen Reanimation halten nicht alle Airlines Adrenalin in den EMKs vor (Peterson et al. 2013; Nable et al. 2015).
2.3.2 Einsatzbedingungen an Bord Bei der Behandlung des Notfallpatienten müssen neben der medizinischen Ausstattung an Bord auch die logistischen Möglichkeiten und Beschränkungen berücksichtigt werden. Das Platzangebot ist insbesondere bei kleineren Flugzeugen im Kurzstreckenbereich häufig eingeschränkt, da diese Luftfahrzeugmuster im Allgemeinen nur über einen zentralen Gang mit jeweils einer kleinen Küche (Galley) am vorderen und hinteren Ende des Flugzeugs verfügen („narrow-body jets“). Sofern ein Patient nicht an seinem Platz versorgt werden kann und flach hingelegt werden muss, bietet sich die vordere Galley an. In diesem Bereich zwischen Cockpittür, vorderem WC und den vorderen Türen der Maschine ist der Patient von allen Seiten zugänglich. Durch das Zuziehen des regelhaft installierten Vorhangs kann ein Mindestmaß an Privatsphäre für die Behandlung ermöglicht werden.
Bei längeren Flügen mit größeren Luftfahrzeugmustern ist aufgrund des größeren Kabinendurchmessers insgesamt mehr Platz vorhanden. Diese sog. „wide-body jets“ verfügen über zwei Gänge und eine zusätzliche mittlere Sitzreihe. Größere Freiflächen sind in der Regel im Bereich der zahlreichen Galleys oder Toiletten vorhanden, die auch immer durch Vorhänge abgetrennt werden können. In der mittleren Sitzreihe kann zusätzlich durch Hochklappen der Armlehnen eine durchgehende Liegefläche geschaffen werden. Insbesondere in der ersten Reihe nach einem Raumteiler (normalerweise für Familien mit Babykrippen reserviert) kann der liegende Notfallpatient gut zugänglich versorgt werden (s. Abb. 2 u. 3) (AWMF 2015).
Abb. 2
Simulierte Reanimation (Foto: Jochen Hinkelbein)
Abb. 3
Simulierte Reanimation (Foto: Jochen Hinkelbein)
2.3.3 Personelle Überlegungen Bei der Versorgung an Bord müssen aufgrund der besonderen logistischen Situation alle Ressourcen optimal genutzt werden. Hierfür sollte man sich einen Überblick über im Flugzeug befindliches medizinisches Fachpersonal verschaffen, dies kann anhand einer Durchsage oder Passagierlisten der Fluggesellschaften mit speziellen Anmerkungen erfolgen (z.B. Doc-onboard Programme). Das Kabinenpersonal selbst wird in regelmäßigen Zeitabständen notfallmedizinisch geschult und kann somit in assistierender Funktion, insbesondere bei der kardiopulmonalen Reanimation, in die Versorgung eingebunden werden. Einige Airlines verfügen über Technologien zur telemedizinischen Konsultation; diese reichen von einfacher telefonischer Unterstützung durch ein Callcenter bis hin zur differenzierten Übertragung von an Bord erhobenen Vitalparametern mithilfe spezieller Monitoringsysteme. Zu Beginn der Versorgung müssen diese Optionen mit der Crew besprochen werden; Ansprechpartner ist in der Regel der/die Purser/-ette (Chef/-in des Kabinenpersonals).
2.3.4 Medizinisch indizierte Zwischenlandungen Unplanmäßige Zwischenlandungen stellen eine wichtige Option zur Behandlung kritisch kranker Passagiere dar, sind aber auch mit Kosten und möglicherweise Gefahren verbunden. Medizinisches Fachpersonal an Bord wird während eines Notfalls regelhaft von der Besatzung um eine Einschätzung der Lage gebeten; diese sollte auch Hinweise zur Dringlichkeit der Weiterbehandlung beinhalten. Da der Kapitän die Gesamtverantwortung für das Luftfahrzeug, die Besatzung und alle Passagiere trägt, obliegt ihm allerdings die endgültige Entscheidung über eine mögliche außerplanmäßige Zwischenlandung oder die Fortsetzung des Flugs. Gemäß gutem Crew Ressource Management (CRM) wird er neben dem Patientenzustand noch eine Vielzahl anderer Aspekte in die Entscheidungsfindung mit einbeziehen, unter anderem verbleibende Flugstrecke, Wetter, Treibstoffmenge, Verfügbarkeit und Zustand alternativer Landemöglichkeiten sowie die Logistik am Ausweichflughafen.
Nach einer Studie (Gårdelöf 2002) führen 13% der schweren Notfälle an Bord zu einer unplanmäßigen Zwischenlandung, wobei hier kardiale Ursachen am häufigsten waren, gefolgt von neurologischen (18%) und respiratorischen (6%). Herz-Kreislauf-Stillstände waren nur für 6,8% der unplanmäßigen Zwischenlandungen verantwortlich. Die Indikation zur Zwischenlandung wurde in 41,4% der Fälle von Piloten oder medizinischem Personal an Bord getroffen, in den restlichen Fällen waren telemedizinische Konsultationen ausschlaggebend.
2.3.5 Übernahme eines Patienten aus einem Verkehrsflugzeug Bei der Übernahme eines Patienten aus einem Verkehrsflugzeug ist eine Vielzahl unterschiedlicher Szenarien denkbar. Prinzipiell muss hierfür der Sicherheitsbereich des Flughafens betreten werden, um den Patienten entweder auf dem Rollfeld oder am Gate in Empfang nehmen zu können. Die Koordination hierfür übernimmt optimalerweise die Leitstelle in direktem Kontakt zum Flughafenbetreiber. Um die Sicherheit des Flugverkehrs nicht zu gefährden, müssen die Anweisungen des Flughafenbetreibers unbedingt befolgt werden (zugewiesener Standplatz, Verlassen des Fahrzeugs, etc.). Verkehrsflughäfen haben in der Regel eigene RTWs, die via Funk mit der Vorfeldkontrolle verbunden und deren Besatzungen im Verhalten auf Flugplätzen geschult sind. Generell gilt, dass sich Luftfahrzeugen nicht ohne explizite Aufforderung der Besatzung genähert werden darf. Warten Sie, bis die Besatzung die Türen geöffnet hat und Sie bittet, an Bord zu kommen. Es gilt in einem Luftfahrzeug grundsätzlich das Recht des Zulassungsstaates (Achtung: Zum Beispiel kann US-amerikanisches Recht innerhalb des Flugzeugs gelten, obwohl dieses auf einem deutschen Flughafen steht!). Im Patientenkontakt gelten die gleichen einsatztaktischen Überlegungen wie bei sonstigen Notfalleinsätzen: Nach einer initialen Übergabe durch erstversorgende Personen und ggf. erforderliche Stabilisierung des Patienten sollte der Patient schnellstmöglich aus dem Flugzeug in die geschützte Umgebung des RTW verbracht werden, um dort vor dem
Transport zwischenversorgt zu werden. Erörtern Sie die hierfür günstigste Strategie mit der Crew. Sofern es der Gesundheitszustand des Patienten ermöglicht, ist der gehende oder sitzende Transport mit Tragestuhl bei engen Platzverhältnissen im Luftfahrzeug gegenüber dem Tragetuch zu bevorzugen. Vom Flughafenbetreiber können neben den üblichen Passagiertreppen auch spezielle Hubwagen (evtl. liegend mit sog. HighLoader) bereitgestellt werden, um auf dem Vorfeld eine Trage direkt an der Tür des Flugzeugs zu positionieren. Auf dem Weg zum Einsatz Bei einem Notfall an Bord: Wie lang ist die verbleibende Flugzeit? Welche Ausrüstung ist an Bord vorhanden? Wo kann der Patient an Bord behandelt werden? Gibt es weiteres medizinisches Fachpersonal an Bord, das die Versorgung unterstützen kann? Besteht die Möglichkeit zur telemedizinischen Konsultation? In welcher Entfernung gibt es eine Option zur Zwischenlandung? Wie ist die dortige medizinische Infrastruktur? Bei Übernahme eines Patienten aus einem Verkehrsflugzeug nach der Landung: Wie lang war die Flugzeit? Was waren die Symptome? Gab es eine Zustandsänderung während der Versorgung an Bord? Welche diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen wurden durchgeführt?
Auf den Punkt gebracht An Bord von Luftfahrzeugen wird medizinisches Fachpersonal am häufigsten mit kardialen Notfällen oder Synkopen konfrontiert. In Bezug auf die medizinische Ausstattung an Bord erfüllen Fluggesellschaften einen gesetzlichen Mindeststandard, ergänzen diesen aber nach eigenen Anforderungen. Im Einzelfall muss das vorgehaltene Material evaluiert und die daraus resultierenden Behandlungsoptionen abgeleitet werden. Außerplanmäßige Zwischenlandungen können je nach Flugroute eine Option zur optimalen Versorgung des Notfallpatienten
darstellen. Dies kann vom behandelnden Arzt an Bord angeregt werden; die endgültige Entscheidung hierüber trifft aber der Kapitän. Dieser trägt die Gesamtverantwortung für das Luftfahrzeug, die Besatzung und alle Passagiere. Die Wahl eines geeigneten Behandlungsplatzes im Flugzeug ist von großer Wichtigkeit und sollte mit Hinblick auf eine mögliche Verschlechterung des Patientenzustands frühzeitig erfolgen. Die Erfahrungen in der Versorgung von Notfallpatienten an Bord von Verkehrsflugzeugen sollte internationalen Registern zugänglich gemacht werden, um eine solide Datenbasis für weiterführende Studien aufzubauen. Hierfür kann das Register der Deutschen Gesellschaft für Luft- und Raumfahrtmedizin (DGLRM) genutzt werden.
Literatur Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) (2015) S2e-Guideline: In-flight Cardiopulmonary Resuscitation during Commercial Air Transport: Consensus statement and Supplementary Guideline from the German Society of Aerospace Medicine (DGLRM). URL: https://register.awmf.org/assets/guidelines/182-001l_S2e_In-flight-cardiopulmonaryresuscitation_2016-08_abgelaufen.pdf, zuletzt zugegriffen am 07. März 2018 Brown A, Rittenberger J, Ammon C, Harrington S, Guyette F (2010) In-flight automated external defibrillator use and consultation patterns. Prehosp Emerg Care 14: 235–39 Europäische Union (EU) (2008) Verordnung (EG) Nr. 859/2008 der Kommission vom 20. August 2008 zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 3922/91 des Rates in Bezug auf gemeinsame technische Vorschriften und Verwaltungsverfahren für den gewerblichen Luftverkehr mit Flächenflugzeugen. Amtsblatt der Europäischen Union 2008; L254: 1– 238 Gårdelöf B (2002) In-flight medical emergencies. American and European viewpoints on the duties of healthcare personnel. Lakartidningen 99: 3596–99 Graf J, Stüben U, Pump S (2012) In-flight medical emergencies. Dtsch Aerztebl Int 109:591–602 Hinkelbein J, Neuhaus C (2009) Flugmedizin und Flugpsychologie für die Privatpilotenausbildung. Hördt: aeromedconsult GbR Hinkelbein J, Neuhaus C, Schwalbe M, Dambier M (2010) Lack of denominator data in aviation accident analysis. Aviat Space Environ Med 81(1): 77; author reply 77–78 Hinkelbein J, Spelten O, Wetsch WA, Schier R, Neuhaus C (2013) Emergencies in the sky: In-flight medical emergencies during commercial air transport. Trends in Anaesthesia and Critical Care 3(4): 179–182 Hinkelbein J, Neuhaus C, Wetsch WA, Spelten O, Picker S, Bottiger BW, Gathof BS (2014) Emergency medical equipment on board German airliners. Journal of travel medicine 21: 318–23 Hinkelbein J, Kalina S, Braunecker S, Böhm L, Glaser E, Neuhaus C (2016) Notfälle an Bord von Luftfahrzeugen – Standardisiertes Erfassungsprotokoll der Deutschen
Gesellschaft für Luft- und Raumfahrtmedizin. Flug u Reisemed 23(1): 19–22 Nable JV, Tupe CL, Gehle BD, Brady WJ (2015) In-Flight Medical Emergencies during Commercial Travel. N Engl J Med 373: 939–945 Peterson DC, Martin-Gill C, Guyette FX, Tobias AZ, McCarthy CE, Harrington ST, Delbridge TR, Yealy DM (2013) Outcomes of medical emergencies on commercial airline flights. N Engl J Med 368(22): 2075–2083 Rainford D, Gradwell DP (2016) Ernsting’s aviation and space medicine. Boca Raton, FL: CRC Press, Taylor & Francis Group
3
Der eingeklemmte Patient
Willi Schmidbauer und Christoph Jänig
3.1
Definition
Eingeklemmte Verletzte sind infolge eines Unfalles durch Fahrzeug- oder Maschinenteile in einer Weise eingeschlossen, dass eine eigenständige Rettung ausschließlich durch Rettungsdienstpersonal nicht mehr möglich ist. Typische Unfallmechanismen dafür sind Einklemmung in Fahrzeugen bei schweren Verkehrsunfällen durch Kollisionen (Fahrzeug gegen Fahrzeug, Fahrzeug gegen Baum) oder Einklemmungen von Körperteilen in Maschinen. Weitere Formen der Einklemmung können durch Gebäudeteile (z.B. Erdbeben, Explosionen) oder Bäume/Äste (z.B. Unwetter, Holzfällarbeiten) verursacht werden. Eine besondere Form der Einklemmung stellt die Verschüttung dar. Gemeinsam ist den Szenarien, dass häufig hohe Energien einwirken (s. Abb. 1).
3.2
Grundsätzliches
Grundsatz 1: Die allgemeinen Prinzipien zur Versorgung Verletzter ändern sich nicht durch die Tatsache, dass eine Einklemmung vorliegt. Die Versorgung von eingeklemmten Verletzten erfolgt nach den gleichen Grundsätzen wie bei allen anderen (Schwer-)Verletzten auch. Dabei gilt es den aktuellen Zustand der Patienten rasch, strukturiert und zuverlässig zu erfassen (cABCDE-Schema) und darauf aufbauend zielorientiert notfallmedizinische Behandlungen einzuleiten. Die Reihenfolge muss priorisiert werden („Treat first, what kills first“): Dieses Vorgehen wird jedoch gleichzeitig durch die Einklemmung z.T. deutlich erschwert.
Abb. 1
Frontalzusammenstoß zweier PKW mit hoher Geschwindigkeit, die zu einer maximalen Verformung der Fahrzeuge führte. Insgesamt waren 3 Patienten eingeklemmt. (Foto: Christoph Jänig)
Grundsatz 2: Die Versorgung eingeklemmter Verletzter ist mit spezifischen Herausforderungen und Pitfalls verbunden. Jeder/Jede in der Notfallmedizin Tätige muss mit den besonderen Herausforderungen und Pitfalls bei der Rettung eingeklemmter Personen vertraut sein. Dazu zählen: Herausforderung: Gefahr Patientenzugang Zeit Teamarbeit Ordnung der Einsatzstelle technischer Fortschritt Pitfall: Unterkühlung Szenarienvielfalt falsche Fokussierung schnelle Dekompression Herausforderung Gefahr Die Einsatzstelle „eingeklemmte Person“ ist immer mit besonderen Gefahren sowohl für die Patienten als auch für die Helfer verbunden. Dazu gehören
ungesicherte Unfallstellen, gefährliche Maschinenteile, scharfe Kanten, auslaufende Betriebsstoffe mit Explosions- und Rutschgefahr, Splitterbildung und Funkenflug durch technische Rettung, Brand eines Fahrzeuges, nicht ausgelöste Airbags, herabstürzende Gebäudeteile oder weitere Verschüttung. Grundsätzlich muss zwischen Szenarien unterschieden werden, in denen die notfallmedizinische Versorgung der Eingeklemmten schon vor und während der technischen Rettung möglich ist (z.B. eingeklemmte Person im Fahrzeug) und Szenarien, in denen aus Sicherheitsgründen zunächst die komplette technische Rettung abgeschlossen sein muss bis der Zugang des Rettungsdienstes zum Patienten möglich ist (z.B. Verschüttungen, Rettung aus einsturzgefährdeten Gebäuden). Herausforderung Patientenzugang Die Lage „Einklemmung“ bedingt per se, dass der Zugang zu den Patienten bis zu deren vollständigen Befreiung z.T. erheblich erschwert ist. Herausforderung Zeit Eingeklemmte sind durch verlängerte präklinische Versorgungszeiten im besonderen Maße gefährdet. Die Rettung eingeklemmter Personen ist nahezu immer mit einem deutlichen Mehrbedarf an Zeit verbunden. Gleichzeitig gilt uneingeschränkt die Golden Hour of Trauma, sodass ständig die Herausforderung besteht, zwischen optimaler, patientenschonender Rettung und möglichst geringen dafür erforderlichen Zeitaufwand abzuwägen. Unabhängig von allem anderen Faktoren kann aber festgehalten werden, dass niemals Zeit verschenkt werden darf. Da durch die technische Rettung die Einsatzzeit bereits verlängert wird, müssen vermeidbare Verzögerungen unbedingt vermieden werden!
Herausforderung Teamarbeit Die erfolgreiche Rettung Eingeklemmter ist immer das Ergebnis der Zusammenarbeit verschiedener Akteure (u.a. Rettungsdienst, Feuerwehr, Technisches Hilfswerk, Polizei). Der Erfolg hängt von vorausschauender Planung, guter Kommunikation, der Festlegung klarer Zuständigkeiten, strukturiertem Vorgehen, einem hohen Maß an Kooperation und letztlich von
den individuellen Erfahrungen der Einsatzkräfte ab. Gerade Letztere ist wegen des insgesamt seltenen Szenarios nicht immer in gleichem Maße bei allen Einsatzkräften vorhanden. Herausforderung Ordnung der Einsatzstelle Unfallstellen mit Eingeklemmten müssen von Anfang geordnet sein, um die verschiedenen Einsatzabschnitte einerseits zu trennen und andererseits die erforderliche Zusammenarbeit zu ermöglichen (s. Abb. 2a und 2b). Dazu wird dem Rettungsdienst eine Entwicklungsfläche zugeteilt, indem sowohl Personal als auch Material vorgehalten wird. Falls erforderlich wird ein Gefahrenbereich definiert, der in der Regel vom Rettungsdienst nicht betreten werden darf (® Herausforderung Gefahr). In diesem Fall muss ein Übergabepunkt für Patienten festgelegt werden. Ist kein Gefahrenbereich erforderlich, wird der Bereich der Erstöffnung definiert, über den Patienten initial versorgt werden. Darüber hinaus muss festgelegt werden, wo sich der Rettungsdienst während der laufenden technischen Rettung aufhält (z.B. ein Helfer im Wageninneren). Ein wesentliches Merkmal einer gelungenen Raumordnung ist, dass Wege sich nicht kreuzen. So sollte etwa während der technischen Rettung Rettungsdienstpersonal so positioniert sein, dass die technischen Arbeiten nicht behindert werden. Es ist sinnvoll, dass sich im optimalen Fall der Rettungsdienst auf der der technischen Rettung gegenüberliegenden Fahrzeugseite positioniert. Gleiches gilt auch für das eingesetzte Werkzeug. Z.B. sollten die Hydraulikleitungen der Feuerwehrrettungsgeräte nicht durch den rettungsdienstlichen Sektor verlaufen. Abschließend ist der Sicherstellung von Zu- und Abfahrtswegen größte Aufmerksamkeit entgegenzubringen.
Abb. 2a Idealtypische Raumordnung bei der Rettung einer eingeklemmten Person (grün) aus einem PKw (blau). Der Arbeitsbereich Feuerwehr (schwarz) und Rettungsdienst (orange) liegen sich gegenüber und überschneiden sich nur unmittelbar am Patienten. Hydraulikleitung (gelb) und C-Rohr sind so verlegt, dass der Rettungsdienst nicht behindert wird. Der bereitstehende RTW kann nach Aufnahme des Patienten die Unfallstelle ungehindert verlassen (oranger Pfeil).
Abb. 2b Raumordnung in der Praxis. Aufgrund der Lage vor Ort kann aus Platzmangel die komplette gegenüberlegende Aufstellung von Rettungsdienst und Feuerwehr nicht konsequent umgesetzt werden. Dennoch wurde die Trennung zwischen medizinischem und technischen Arbeitsbereich lageangepasst beibehalten. (Foto: Christoph Jänig)
Es muss gewährleistet werden, dass trotz der zahlreichen Einsatzfahrzeuge die eingesetzten Rettungsfahrzeuge nicht zugestellt werden, was den Abtransport der Patienten u.U. erheblich verzögern könnte (s. Abb. 3).
Abb. 3
Aufnahme aus dem RTH beim Anflug. Gut zu sehen ist, dass ein die beiden RTWs schon vor der technischen Rettung so weit vorne abgestellt wurden, dass sie nach der Aufnahme der Patienten ungehindert abfahren können. (Foto: Willi Schmidbauer)
Herausforderung technischer Fortschritt Gerade im Bereich der Mobilität ist ein bahnbrechender Wandel hin zu EMobilität mit Elektro- und Hybridantrieben eingetreten. Aber auch moderne Sicherheitssysteme wie z.B. Airbags, automatische Gurtstraffungssysteme, Verwendung deutlich härterer Materialen im Fahrzeugbau sowie Einbau von zusätzlichen Verstärkungen führt dazu, dass sich die technische Rettung kontinuierlich diesen Neuerungen anpassen muss. Es ist deshalb gerade für Rettungsdienstpersonal nur schwer möglich, dieses – oft vom Fahrzeugtyp abhängige – Wissen aktuell parat zu haben. Aus diesem Grund ist es essenziell bei der gemeinsamen Planung mit der Feuerwehr deren geplantes Vorgehen einschließlich möglicher Besonderheiten/Gefahren zu erfahren, zu verstehen und bei Unklarheiten gezielt nachzufragen. Bei modernen Fahrzeugen wird durch den Hersteller eine Unfallkarte im Fahrzeug hinterlegt, auf der die wesentlichen sicherheitsrelevanten Daten, wie etwa Lage der Airbags oder Batterien dokumentiert sind. Diese befindet sich in der Regel hinter der linken Sonnenblende und kann auch vor Eintreffen der Feuerwehr vom Rettungsdienst zur ersten Lagebeurteilung herangezogen werden. Pitfall Unterkühlung
Eingeklemmte sind einer längeren Zeit den Witterungseinflüssen ausgesetzt. Besonders in der kalten Jahreszeit und/oder bei Nässe erhöht sich das Risiko einer Unterkühlung drastisch. Dies ist beim blutenden Schwerverletzten mit einer Zunahme der Letalität verbunden (Tödliche Trias). Hinzu kommt die Tatsache, dass sich Eingeklemmte kaum bzw. nur schlecht bewegen können und damit ein wichtiger Mechanismus zur Gegenregulation ausgeschaltet ist. Pitfall Szenarienvielfalt Die denkbaren Lagen sind sehr variabel (u.a. Unfallmechanismen, Fahrzeugtypen, Umfang der Einklemmung, Verletzungsschwere) und kommen gleichzeitig sehr selten vor. Dies bedeutet, dass u.U. selbst erfahrene Retter bei Einklemmungsszenarien mit Fakten konfrontiert werden, die sie bisher in dieser Form noch nicht erlebt haben. Deshalb ist höchste Aufmerksamkeit geboten und eine umfassende, und regelmäßig Lagebeurteilung zwingend erforderlich, um Fehler und Fehlentscheidungen zu vermeiden, bzw. früh zu erkennen. Pitfall Falsche Fokussierung Bei schweren Unfällen mit eingeklemmten und nicht eingeklemmten Personen besteht die Gefahr, dass sich der rettungsdienstliche Fokus zu sehr auf die Eingeklemmten richtet. Deshalb muss die Unfallstelle ausreichend erkundet werden und alle Verletzten erfasst werden. Im Anschluss muss eine Priorisierung der Behandlung aller Verletzten festgelegt werden, wobei die am schwersten Verletzten zuerst behandelt werden. Eingeklemmte müssen nicht zwangsläufig die am schwersten verletzten Patienten sein!
Pitfall Schnelle Dekompression Patienten, die im Bereich Becken und/oder untere Extremitäten eingeklemmt sind, erfahren über diesen Mechanismus u.U. eine Kompression der unteren Körperhälfte, was durchaus einen stabilisierenden Effekt auf die Kreislauffunktion haben kann. Wird die Einklemmungssituation durch die technische Rettung beendet, kann es infolge der damit verbunden schnellen Dekompression zu einem gleichermaßen raschen wie massiven Einbruch der
Kreislauffunktion kommen. Dazu muss der Rettungsdienst vorbereitet sein (z.B. zweiter großlumiger Zugang, vorbereitete Plasmaexpander und/oder Katecholamine).
3.3
Die Versorgung Eingeklemmter Schritt für Schritt am Beispiel Eingeklemmte Person im Fahrzeug
Um einerseits den genannten Herausforderungen und Pitfalls gerecht zu werden und andererseits eine adäquate Patientenversorgung sicherstellen zu können ist ein strukturiertes Vorgehen unumgänglich. Dies gilt vor allem für Situationen, in denen medizinische Versorgung und technische Rettung parallel und miteinander koordiniert möglich sind. Deshalb wird im Nachfolgenden beispielhaft ein allgemeines Versorgungskonzept für Eingeklemmte in Fahrzeugen vorgestellt, indem Einzelschritte in chronologischer Reihenfolge dargestellt werden. Um der Komplexität solcher Einsätze gerecht zu werden, ist die exakte Abstimmung der einzelnen Schritte essenziell (® Teamarbeit). Einschränkend muss erwähnt werden, dass eine solche Verallgemeinerung nie für alle möglichen Situationen vollständig zutrifft und deshalb immer lageabhängig angepasst werden muss (® Szenarienvielfalt). Schritt 1: Sicherstellung Eigen- und Patientenschutz Unmittelbar nach Eintreffen an der Einsatzstelle müssen aufgrund des erhöhten Gefahrenpotenzials Maßnahmen zum Eigen- und Patientenschutz umgesetzt werden. Tab. 1
Allgemeine Schutzmaßnahmen im Rahmen der Rettung eingeklemmter Personen und Darstellung der Verantwortungen
Maßnahme
Verantwortung
Absichern der Unfallstelle
Polizei
Absichern Fahrzeug gegen Wegrollen
Feuerwehr
Brandschutz
Feuerwehr
Binden von auslaufenden Betriebsstoffen
Feuerwehr
Schutz vor Stromschlag
Feuerwehr
Schutz des Patienten vor Splitter und Funken während technischer Rettung
Feuerwehr und Rettungsdienst
Schutz des Patienten vor Witterung/Auskühlen
Rettungsdienst
In Tabelle 1 sind die allgemeinen Schutzmaßnahmen mit den primären Verantwortlichkeiten aufgelistet. Zusätzlich ist für das Rettungsdienstpersonal zwingend die Anlage der Persönlichen Schutzausrüstung (PSA) bestehend aus Rettungsdienstjacke (mit langen Ärmel!), Helm mit Augenschutz (Visier, Schutzbrille) und ggf. Arbeitshandschuhen erforderlich. Schritt 2: Lagefeststellung und Durchführung lebensrettender Sofortmaßnahmen über Erstöffnung Die Lage „eingeklemmte Person“ ist nicht immer von Beginn an bekannt und wird möglicherweise erst von den ersteintreffenden Rettungsmitteln als solche erkannt. Es gilt dann sofort das neue Lagebild an die Leitstelle zu melden, damit die erforderliche (Nach-)Alarmierung aller benötigten Kräfte sichergestellt ist. Die erweitere Lagefeststellung umfasst immer eine technische und eine medizinische Lage. Es obliegt in dieser Phase dem Rettungsdienst, sich vor allem ein valides medizinische Lagebild zu verschaffen. Dies umfasst neben der Gesamtzahl an Verletzten, die Anzahl an eingeklemmten Patienten und die jeweilige Verletztenschwere (® Falsche Fokussierung ® Szenarienvielfalt). Um mit Eingeklemmten in Verbindung zu treten bzw. diese untersuchen zu können, muss zuerst ein direkter Zugang zum Patienten z.B. über eine offene Fahrzeugtür (s. Abb. 4) oder ein offenes Seitenfenster geschaffen werden (Erstöffnung). Ist dies primär nicht möglich, muss eine geeignete Erstöffnung entweder mit den Mitteln des Rettungsdienstes (z.B. Rettungshammer) oder durch die Feuerwehr erfolgen (z.B. Entfernen Frontscheibe, Aufspreizen einer Tür).
Abb. 4
Rettungsdienstlicher Erstzugriff über geöffnete Seitentür (Foto: Willi Schmidbauer)
Ist die Erstöffnung etabliert, erfolgt der rettungsdienstliche Erstzugriff mit der Durchführung von Patientencheck und lebensrettender Sofortmaßnahmen. Dabei gilt es, einerseits den Patientenzustand sowie die Verletzungsschwere richtig einzuschätzen und nahezu gleichzeitig lebensrettende Sofortmaßnahmen einzuleiten. Dies muss strukturiert, z.B. durch Nutzung des cABCDE Schemas, erfolgen (s. Tab. 2). Dabei ist zu berücksichtigen, dass in Abhängigkeit von Größe und Ort der Erstöffnung sowohl der Patientencheck als auch die lebensrettenden Sofortmaßnahmen deutlich erschwert bzw. manchmal schlicht nicht durchführbar sind. Wenn der rettungsdienstliche Erstzugriff strukturiert abgearbeitet ist, muss eine valide Aussage über die Stabilität der Patienten getroffen werden, da davon das weitere Vorgehen der technischen Rettung abhängt. Tab. 2
Nach cABCDE Schema strukturierter rettungsdienstlicher Erstzugriff
Bedrohung
Untersuchungen
Symptome/Zeichen
Sofortmaßnahmen
c (Blutungskontrolle)
körperliche Inspektion
spritzende Blutung
Kompression, Tourniquet, Druckverband
A
Inspektion Atemweg
Verlegung Atemweg
(In-Line) Überstrecken, Wendeltubus,
Güdeltubus
A
HWS-Verletzung
Zervikalstütze
B
Zeichen eines Spannungspneumothorax
massive Dyspnoe, Hautemphysem, gestaute Halsvenen, Tachykardie, einseitige Belüftung
Entlastung mit Kanüle
B
Abfall SpO2
< 90%
Sauerstoffinhalation
B
Atemstillstand
C
Schock
Rekapillarisierungszeit >
2 Sekunden,
Peripherer Puls nicht tastbar, Fehlende SpO2-Kurve
Schockbekämpfung
D
gestörtes Bewusstsein
nicht ansprechbar
ggf. Wendeltubus
D
Schmerzen
VAS > 5
Analgesie
E
Hypothermie
kalte Körperoberfläche
Wärmeerhalt z.B. durch Decken, Leuchten der Feuerwehr
E
Wo ist der Patient eingeklemmt?
Lenkrad, Armaturenbrett, Motorbloch, Pedale Airbags ausgelöst
manuelle In-Line Stabilisierung, „chin lift“, Beatmung (Maske/Beutel)
Je instabiler Patienten sind, desto schneller muss die technische Rettung durchgeführt werden.
Typische Beispiele für eine begründete Sofortrettung sind: Schwerer hämorrhagischer Schock infolge einer nicht primär zu kontrollierenden Blutung infolge Thorax- Abdominal- oder
Beckentrauma. Intubationsindikation infolge GCS < 9 z.B. bei schweren SHT und nicht gesichertem Atemweg und/oder Gefahr der Hypoventilation/Aspiration. Berücksichtigt werden muss zusätzlich, ob die erforderlichen lebensrettenden Sofortmaßnahmen durchführbar bzw. wirksam waren und der Patientenzustand dadurch stabilisiert werden konnte. So ist ein B-Problem infolge eines Spannungspneumothorax bei wirksamer Entlastung im Rahmen einer Kanülenpunktion zunächst gelöst und die Rettung kann normal durchgeführt werden, während dasselbe B-Problem bei nicht möglicher bzw. unwirksamer Entlastung weiter bestehen bleibt und zwangsläufig eine Sofortrettung erfordert. Neben der medizinischen Situation können auch technische Umstände eine schnelle Rettung begründen, wie ein Fahrzeugbrand oder drohender Absturz des Fahrzeuges. Deshalb ist es absolut sinnvoll, dass die Entscheidung über die Geschwindigkeit der Rettung gemeinsam zwischen Rettungsdienst und Feuerwehr getroffen und umgesetzt wird. Bei der Sofortrettung wird, wie die Bezeichnung bereits deutlich macht, der schnellste Weg der Befreiung der eingeklemmten Person gewählt. Die Prinzipien der patientenschonenden Rettung haben in einer solchen Situation keine Bedeutung. Anmerkungen zu den lebensrettenden Sofortmaßnahmen c: Blutungskontrolle Aufgrund der schweren Zugänglichkeit sind sowohl Tourniquets als auch zirkuläre Verbände nicht immer umsetzbar. Hier muss dann versucht werden, die Situation durch direkte Kompression auf die Blutung zu lösen. Sollte dies nicht möglich sein, muss die schnelle Rettung sofort eingeleitet werden. Häufig ist eine valide Ganzkörperinspektion initial nicht durchführbar. Neben der fehlenden Wahrnehmung starker/spritzender Blutungen schließt dies auch ein, dass die Beurteilung hinsichtlich Thorax, Abdomen und Becken nicht möglich ist. Dies lässt sich zwar einerseits nicht ändern, muss aber anderseits auch dazu führen, dass die
Awareness des Rettungsdienstes hoch ist, dass bei Eingeklemmten immer mit dem Vorhandensein von lebensbedrohlichen (nicht sofort direkt erkennbaren) Blutungen zu rechnen ist. In der Praxis bedeutet dies, dass bei Zeichen eines schweren Schocks immer von einer solcher Blutung auszugehen ist und eine schnelle Rettung eingeleitet werden muss. A: Atemweg In der Regel ist ein A Problem nur bei bewusstlosen Eingeklemmten zu erwarten. Hier bietet der Wendeltubus den Vorteil gegenüber den Güdeltubus, dass er besser toleriert wird und seltener zu Würgereizen führt und damit das Risiko für Erbrechen und möglicher Aspiration geringer ist. Eine Intubation sollte vermieden werden, solange Patienten noch eingeklemmt sind. Schlechter Zugang zum Patienten und fehlende Möglichkeit der Lagerung erhöhen drastisch das Risiko eines schwierigen Atemwegs und den damit verbundenen Komplikationen. Die Anlage der Zervicalstütze ist aufgrund des Unfallmechanismus und der Notwendigkeit der späteren achsengerechten Rettung indiziert. Als adäquate Erstmaßnahme dient die manuelle, achsengerechte Stabilisierung des Kopfes und der HWS durch einen Helfer. B: Breathing Bei der Entlastung eines Spannungspneumothorax ist infolge des eingeschränkten Zugangs zum Patienten oftmals nur die Punktion in Monaldi-Position (Mitte Schlüsselbein zwischen 2. und 3. Rippe) möglich (z.B. Einklemmung des Thorax durch Lenkrad und/oder Armaturenbrett). Alle eingeklemmten Patienten sollten zunächst Sauerstoff erhalten. Hintergrund ist die große Gefahr des Verblutens. Durch die Erhöhung des Sauerstoffangebotes kann ein höherer Blutverlust bis zum kritischen Sauerstoffmangel im Gewebe toleriert werden. C: Circulation Die Einschätzung der Schwere des Schockes kann manchmal schwierig sein. Dies liegt daran, dass gerade bei schlechter Perfusion das Monitoring an seine technischen Grenzen gelangt (z.B. RR-Manschette nicht anlegbar, RR-Messung nicht durchführbar, RR-Messung dauert
viel zu lange). In einer solchen Situation ist es essenziell, den Patientenzustand mit einfachen Mitteln abzuschätzen. Entscheidend ist in dieser Situation der Schockindex bestehend aus Tachykardie und Hypotonie. Die Tachykardie lässt sich häufig noch valide über den zentralen Puls bestimmen, während sich die Hypotonie als Zeichen einer verminderten Perfusion über eine verlängerte Rekapillarisierungszeit gut beurteilen lässt. Dabei ist nicht nur die Testung am Nagelbett eine Möglichkeit der Durchführung, sondern auch der Druck auf das Sternum. Dort gilt ebenfalls, dass sich die komprimierte Stelle innerhalb von 2 Sekunden wieder rosig färben sollte. Weitere Hinweise auf eine Hypotonie sind der nicht messbare periphere Puls sowie die Unmöglichkeit der Darstellung einer SpO2Kurve. Gerade der letzte Punkt wird in der Praxis häufig als Messfehler missinterpretiert. Dies trifft aber nicht zu, denn der Grund ist vielmehr, dass die schwache Perfusion eine Messung der SpO2-Kurve nicht zulässt. Bei der Schockbekämpfung ist nach dem Prinzip der permessiven Hypotonie zu verfahren. D: Disability Eine adäquate Schmerztherapie muss von Beginn an sichergestellt werden. Grundsätzlich sind dazu verschiedene Vorgehensweise möglich. Oberste Ziele neben ausreichender Analgesie sind Erhalt der Schutzreflexe und das Vermeiden kreislaufdepressiver Phasen. In der Praxis hat sich die effektive, nebenwirkungsarme und gut steuerbare Analgesie mit Esketamin und Midazolam zumindest bis zur Befreiung bewährt. E: Wo ist der Patient eingeklemmt Diese Informationen sind oftmals für die Planung der technischen Rettung für die Feuerwehr von entscheidender Bedeutung. So wird z.B. eine Einklemmung der Füße durch Pedale leicht übersehen. Schritt 3: Technische Rettung Die technische Rettung durch die Feuerwehr wird eng durch den Rettungsdienst begleitet. Ziel ist es bei stabilem Patientenzustand eine
achsengerechte Rettung umzusetzen. Damit ist gemeint, dass unter frühzeitigem Beginn einer effektiven Immobilisation, die gesamte Rettung ohne nennenswerte aktive und passive Bewegungen der Wirbelsäule erfolgt. Im Folgenden kann mit verschiedenen Rettungstechniken weiter vorgegangen werden. Deshalb ist es nahezu unmöglich, hier eine Universallösung zu präsentieren. Letztlich sollte mit den vorhandenen Rettungsmitteln und den örtlichen Feuerwehren ein Standardvorgehen abgesprochen werden. Ziel der Feuerwehr ist dabei immer, einen so großen Zugang zum Patienten zu schaffen, dass eine Rettung aus dem Fahrzeug problemlos möglich ist. Standardverfahren sind z.B. Entfernen von Fahrzeugtüren, Entfernen des Fahrzeugdaches und Entfernung von Teilen, die den Patienten direkt einklemmen (z.B. Lenkrad, Armaturenbrett, Motorblock, Fußpedale). Zusätzlich kann die Bodenkarosserie eingeschnitten werden und über Hydraulikzylinder der Motorblock nach vorne abgekippt werden (s. Abb. 5). Die geplanten Schritte sollen mit dem Rettungsdienst abgesprochen werden. Nach jedem durchgeführten Schritt besteht die Möglichkeit zur Reevaluierung.
Abb. 5
Technische Rettung durch Feuerwehr. Es ist gut zu erkennen, dass auf der Feuerwehrseite während der Rettung kein Platz für den Rettungsdienst ist. (Foto: Willi Schmidbauer)
Die technische Rettung ist oftmals mit Lärm, Funken- und Splitterflug sowie z.T. starken Bewegungen des Fahrzeugwracks verbunden. Der Patient muss deshalb analog zu den Helfern geschützt werden. Möglichkeiten sind das
Aufziehen eines Schutzhelmes und die Abtrennung des Patienten von den technischen Maßnahmen z. B. mit schweren Decken (haben die Feuerwehren oft noch mit dabei). Unter diesen schwierigen Umständen wird es noch mal wichtiger, eingeklemmte Patienten kontinuierlich zu betreuen. Dazu muss zunächst mindestens ein Retter über die Erstöffnung die Patienten überwachen. Sobald möglich, kann versucht werden ins Innere des Fahrzeuges zu gelangen und damit noch besser in die unmittelbare Nähe des Patienten zu gelangen (s. Abb. 6). Minimalmonitoring in dieser Situation ist neben dem direkten Patientenkontakt die Pulskontrolle und die Pulsoxymetrie. Ziel muss neben der psychischen Betreuung des Patienten vor allem sein, rasch eine Verschlechterung des Patientenzustandes festzustellen, die entweder weitere medizinische Maßnahmen erfordern (z.B. Aufrechterhaltung der Analgesie) oder sogar eine Änderung des Vorgehens mit unmittelbarer Einleitung einer Sofortrettung notwendig machen.
Abb. 6
Während der technischen Rettung wird der eingeklemmte Patient zum Schutz abgedeckt und wird durch Rettungsdienstpersonal im Fahrzeug betreut (roter Pfeil). (Foto: Christoph Jänig)
Rettung aus dem Fahrzeug Ist die Rettungsöffnung groß genug und der Patient von der eigentlichen Einklemmung befreit, beginnt die notfallmedizinische Rettung aus dem
Fahrzeug. Dabei sollte großer Wert daraufgelegt werden, unnötige Mobilisierungen des Patienten zu verhindern. Die erste Maßnahme der Immobilisierung sollte durch die Anlage der Zervicalstütze bereits im Rahmen des Erstzugriffes erfolgt sein. Ziel ist immer eine möglichst achsengerechte Rettung durchzuführen, d.h. eine Mobilisierung des Achsenskeletts gänzlich zu verhindern: Dabei wird in der Regel die Rettung über das entfernte Fahrzeugdach von hinten durchgeführt. Dazu wird die Schaufeltrage/das Spineboard zwischen Patienten und Rücklehne eingesteckt. Anschließend die Rückenlehne in eine möglichst horizontale Stellung abgesenkt, bzw. abgetrennt, wenn das Absenken nicht möglich ist. Zum Schluss wird der Patient entlang der Längsachse komplett auf die Schaufeltrage gezogen (Inline ohne seitliche Rotation), anschließend fixiert und aus dem Wrack gehoben. Ist diese Rettung nicht möglich (z.B. im LKW eingeklemmte Person) muss die Person in der Regel über eine seitliche Rettungsöffnung möglichst schonend aus dem Fahrzeug befreit werden. In diesem Fall kann, falls vorhanden ein Korsettsystem z.B. KED (Kendrick-Extrication-Device) zum Einsatz gebracht werden. Damit wird über eine Kombination aus einer Platte und einem Gurtsystem ein Korsett aufgebaut, welches bereits beim sitzenden Patienten die Mobilisierung der HWS, BWS und z.T. der LWS stark einschränkt. Beide Formen der Immobilisierung können miteinander kombiniert werden, indem zunächst das KED-System angelegt wird und anschließend der Patient mit Schaufeltrage/Spineboard gerettet wird. Dies ist sicherlich mit der geringsten Gefahr einer unnötigen Mobilisierung verbunden andererseits aber auch am zeitaufwendigsten. Unabhängig von der angewandten Technik muss bei der Rettung aus dem Fahrzeug darauf geachtet werden, dass der Patient nach Möglichkeit horizontal bewegt wird, während Kopf-Hochlagen wegen der damit verbundenen Umverteilung von Blut in die unteren Körperhälften zu vermeiden bzw. auf ein Minimum zu reduzieren sind. Versorgung nach der Rettung Nach der Befreiung erfolgt die notfallmedizinische Versorgung entsprechend den Grundsätzen der Versorgung Schwerstverletzter.
Rettungsdienstliche Organisation Grundpfeiler der rettungsdienstlichen Organisation des Einsatzes ist die Verfügbarkeit aller erforderlichen Rettungsmittel entsprechend des Szenarios. Dabei ist nicht nur die Anzahl, sondern auch die Art der eingesetzten Rettungsmittel wichtig. So sollte so früh wie möglich die Luftrettung genutzt werden, da durch Rettungshubschrauber gerade bei ländlichen Einsatzstellen die Transportzeiten deutlich verkürzt werden können (® Herausforderung Zeit). Aufgrund der oben geschilderten Komplexität der verschiedenen Einsatzlagen ist es oft sinnvoll, Organisatorischen Leiter und Leitenden Notarzt frühzeitig einzusetzen.
3.4
Besonderheit Verschüttung/Einklemmung in eingestürzten Gebäuden
Diese seltenen Formen der Einklemmung sind durch zwei Besonderheiten gekennzeichnet. 1. Die eingeklemmten Personen befinden sich in der Regel innerhalb des Gefahrenbereiches, sodass der Rettungsdienst oft erst nach erfolgter Rettung und Übergabe der Patienten am Übergabepunkt mit der Versorgung beginnen kann. 2. Durch die oft länger anhaltende Kompression großer Teile der Körperoberfläche durch Schüttgut oder Gebäudeteile ist die Gefahr des Bergetodes besonders hoch (® Pitfall Schnelle Dekompression).
3.5
Besonderheit Einklemmung in Maschinen
Besonderes Augenmerk muss auf das komplette Ausschalten der Maschine gelegt werden, damit einerseits die eingeklemmte Person bei versehentlicher erneuter Inbetriebnahme nicht noch weiter in die Maschine gezogen wird und andererseits auch keine Gefahr für die Helfer ausgeht. In Fabriken und Werkstätten muss unverzüglich entsprechendes Fachpersonal aus den Betrieben herangezogen werden. Die Eingeklemmten selbst sind häufig in einer psychischen Belastungssituation, die oft mit starken Schmerzen verbunden ist. Deshalb hat neben der Blutstillung (z.B. über Tourniquet) vor
allem die rasche Analgesie eine herausragende Bedeutung. Die eingeklemmten Personen selbst müssen bis zur Befreiung oft aufwendig gelagert werden, da sie häufig in unnatürlicher Stellung an die Maschine herangezogen worden sind. Dies gilt umso mehr, wenn durch eine erfolgreiche Analgosedierung die Körperspannung abnimmt.
3.6
Reevaluierung
Die Rettung und Versorgung Eingeklemmter erfordert ein zielgerichtetes und koordiniertes Handeln verschiedener Partner. Unter zusätzlicher Berücksichtigung der Tatsache, dass solche Einsatzlagen eher selten vorkommen, ist es sinnvoll, solche Einsätze intensiv und offen nachzubesprechen. Da dies nicht immer unmittelbar an der Einsatzstelle erfolgen kann, sollte eine Reevaluierung später nachgeholt werden. Der Originalbeitrag wurde von Prof. Dr. med. Jörg Beneker verfasst.
Literatur Brandt S, Hessemer P, Blomeyer R.: Aktionsplan für die Rettung des eingeklemmten Patienten. Notfallmedizin up2date. 2012; 7, 212–26 Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie (Hrsg.) (2022) S3-Leitlinie Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung. Stand: 12/2022. URL: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/187-023 (abgerufen am 28.02.2023)
IV Rettungssituationen unter besonderen geografischen und topografischen Gegebenheiten
1
Rettung aus Höhen und Tiefen
Björn Hossfeld, Johannes Hühn und Raphael Bender
Fallbeispiel Bei Wartungsarbeiten an einer Hochspannungsleitung wird ein Techniker bewusstlos und stürzt in seine Selbstsicherung. Ein Kollege am Boden beobachtet das Geschehen und alarmiert die Rettungsleitstelle. Diese entsendet zunächst einen Rettungswagen (RTW) und als am schnellsten verfügbaren Notarztzubringer einen Rettungshubschrauber (RTH) sowie die örtliche freiwillige Feuerwehr an die Einsatzstelle. Schon aus der Luft ist der offensichtlich bewusstlose Patient in etwa 35 m Höhe gut zu erkennen. Nach Landung auf einem Acker unmittelbar neben der Einsatzstelle erklärt der Kollege des Patienten, dass die Leitungen wegen der Arbeiten definitiv keinen Strom führten. Zur Rettung des Patienten wird mit der eintreffenden Feuerwehr der Einsatz der Drehleiter diskutiert – diese reicht jedoch mit 28 m Länge nicht bis zum Patienten. Deshalb wird die Höhenrettungsgruppe der Feuerwehr aus der nahegelegenen Kreisstadt alarmiert. Bis zu deren Eintreffen machen sich ein Feuerwehrmann sowie der Kollege des Patienten, gesichert an den Aufstieg. Nach Ankunft beim Patienten können diese über Funk ein erstes Zustandsbild übermitteln: Der Patient öffne auf Ansprache die Augen, wirke jedoch sehr müde und verlangsamt. Als einziges Monitoring wurde dem Feuerwehrmann ein Pulsoxymeter mitgegeben. Als Befund werden übermittelt eine Herzfrequenz von 104/min sowie eine Sauerstoffsättigung von 94%. Mit der eintreffenden Höhenrettungsgruppe wird diskutiert, wie der Zugang zum Patienten und die anschließende Rettung dargestellt werden kann. In Anbetracht des schwierigen Zustiegs und der beengten Platzverhältnisse um den Patienten wird beschlossen, einen dem Notarzt bekannten Rettungssanitäter (RS) der Höhenrettungsgruppe zum Patienten aufsteigen zu lassen und die weitere Versorgung über Funkkontakt mit dem Notarzt am Boden abzustimmen. Da ausreichend Material zum Aufbau einer Sicherung zum Ablassen des Patienten (Seile, Schlingen, Karabiner) mitgeführt werden muss und der Patienten als zwar verlangsamt; aber vigilant angesehen wird, beschränkt sich die medizinische Ausrüstung auf eine Blutdruckmanschette, Material für einen intravenösen Zugang, eine vorbereitete und entlüftete
kristalline Infusion sowie ein Ampullarium mit Notfallmedikamenten und Spritzen. Während des Aufstiegs des RS mit einem weiteren Feuerwehrmann der Höhenrettungsgruppe, berichtet der beim Patienten befindliche Kollege über Funk, dass dieser weiter aufklare. Nach Eintreffen der beiden Höhenretter beim Patienten, wird in Absprache mit dem Techniker eine Sicherung oberhalb des Patienten etabliert sowie diesem ein i.v.-Zugang gelegt und die Infusion angehängt. Der in diesem Zusammenhang bestimmte Blutzucker ergibt einen Normalwert von 109 mg/dl. Der RS beschreibt einen GCS von 14 Punkten (A3; V5; M6) bei einem verlangsamt aber orientiert wirkenden Patienten ohne äußere Verletzungen; die Pupillen seien isocor und lichtreagibel. Im Folgenden wird der Patient über die Sicherung der Höhenrettungsgruppe im eigenen Gurtzeug abgelassen (s. Abb. 1) und am Boden von Notarzt und RTW-Team auf die Trage übernommen. Eine ausführliche körperliche Untersuchung zeigt einen Zungenbiss sowie eine eingenässte Hose des Patienten als Zeichen für einen unkontrollierten Harnabgang. Vor diesem Hintergrund wird der 28-jährige Patient mit dem Verdacht auf einen erstmaligen Krampfanfall in die Notaufnahme transportiert, wo sich in der Computertomographie die Erstdiagnose eines Meningioms ergibt.
Abb. 1
Ablassen des Patienten vom Hochspannungsmast (Foto: traumateam e.V.)
1.1
Einleitung
Dieses Fallbeispiel zeigt gleich mehrere Aspekte der Patientenrettung aus großen Höhen: Hochhäuser, Baukräne, Windkraft- und Industrieanlagen, oder wie im Fallbeispiel Hochspannungsleitungen, überschreiten häufig die Höhen, die mit Drehleitern oder Teleskopmastbühnen erreicht werden können. Um auch in derart exponierten Höhen die Rettung von erkrankten oder verletzten Personen zu ermöglichen, finden sich bei den Feuerwehren – aber auch beim Technischen Hilfswerk (THW) oder der Bergwacht – Spezialisten, die in sogenannten Höhenrettungsgruppen organisiert sind. Da mit der gleichen Ausrüstung und Ausbildung auch die Rettung von Personen aus Schächten und Gruben gelingt, lautet die korrekte Bezeichnung: Spezielle Rettung aus Höhen und Tiefen (SRHT). Die Aufgaben dieser Spezialisten umfassen:
die Sicherung der Einsatzstelle und aller Betroffenen, die notfallmedizinische Erstversorgung durch eigenes Personal oder durch das gesicherte Zuführen von Fachpersonal (z.B. Notarzt), die Durchführung der technischen Rettung und Hilfeleistungen und Beratung anderer Hilfsdienste und Feuerwehren in extremer Umgebung. Grundlage für die Durchführung dieser Aufgaben sind Seil- und Sicherungstechniken, wie sie aus dem Bergsport oder der Bergrettung bekannt sind. Einen wesentlichen Unterschied stellt dabei jedoch die Redundanz dar: neben dem Lastseil, welches das Gewicht von Höhenretter und Patient trägt, wird stets ein zusätzliches Sicherungsseil mit eigenen Anschlagspunkten verwendet. Als Anschlagspunkte werden Fixpunkte bezeichnet, welche nicht nur der Gewichtsbelastung durch die Retter und den Patienten entsprechen müssen, sondern darüber hinaus auch einer möglichen Sturzbelastung (dem sogenannten Fangstoß) standhalten müssen. Entsprechend ist die sorgfältige Auswahl der Anschlagspunkte von besonderer Bedeutung. In seltenen Fällen gibt es genormte Anschlagspunkte (z.B. für Fensterputzer an Hochhausfassaden. Meist jedoch müssen mit Seilen oder Bandschlingen Verankerungen an Gebäudeoder Maschinenteilen, Felsen oder Bäumen gelegt werden. Auch standsicher abgestellte Fahrzeuge (eingelegter Gang, festgestellte Handbremse, in Zugrichtung unterkeilte Räder etc.) können als Anschlagpunkte verwendet werden. Hebelwirkungen (z.B. an Geländern) sollten durch bodennahe Anschlingungen vermieden werden. Ist kein solcher Anschlagpunkt oberhalb einer Einsatzstelle verfügbar, können auch die Drehleiter oder ein Kran als Fixpunkte genutzt werden. Insgesamt bleib im Einsatzfall wenig Zeit für die Lage- und Risikobeurteilung. Dementsprechend sind die Erfahrung und physikalische Grundkenntnisse des Höhenretters wesentliche Voraussetzungen bei der Auswahl geeigneter Anschlagpunkte. Idealerweise sollte eine Verankerung immer aus mehreren sich gegenseitig absichernden Anschlagpunkten bestehen.
1.2
Gefahren
In der SRHT wird wie in der Bergrettung zwischen objektiven und subjektiven Gefahren unterschieden (s. Tab. 1): Während objektive Gefahren (wie Wetter, Tageszeit, Gelände, …) nicht durch die Höhenretter beeinflusst werden können, entstehen subjektive Gefahren aus den persönlichen Fähigkeiten, dem Ausbildungs- und Trainingszustand jedes Einzelnen sowie der Ausrüstung und dem sachgerechten Umgang mit derselben. Diesen subjektiven Gefahren kann am besten durch eine umfassende Aus- und regelmäßige Weiterbildung begegnet werden. Im Einsatz sind sowohl die Eigenverantwortung, als auch die Verantwortung für den Partner von herausragender Bedeutung. Deshalb ist die gegenseitige Überprüfung der persönlichen Schutzausrüstung (PSA) sowie des korrekten Anseilverfahrens (Partnercheck) zu Einsatzbeginn unerlässlich. Tab. 1
Gefahren
Objektive Gefahren
Subjektive Gefahren
Wetter
mangelnde Erfahrung
Tageszeit/Lichtverhältnisse
Selbstüberschätzung
Besonderheiten der Einsatzstelle
unzureichendes Können
instabile Gebäudeteile
unzureichende Kondition
Einsturzgefahr
unzureichende oder mangelnde Ausrüstung
Elektrizität
technisches Versagen von Material/Ausrüstung
Explosionsgefahr
fehlerhafte Beurteilung der Lage
1.3
Angst
Die Teilnahme an der SRHT ist stets freiwillig – Angstreaktion der Höhenretter in Anbetracht der extremen Ausgesetztheit mancher Einsatzstellen können somit weitgehend ausgeschlossen werden. Anders
verhält es sich mit der Situation der zu Rettenden. Diese Personen befinden sich in absoluten Ausnahmesituationen, welche durch akute Erkrankung oder Verletzung potenziert werden. Eine Angst- oder Panikreaktion kann deshalb im Vorfeld nur sehr schwer eingeschätzt werden. Eine völlige Reaktionsunfähigkeit des zu Rettenden (sogenannte Emotionslähmung) ist ebenso denkbar wie das Festklammern am Retter, was diesen unter Umständen durch Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit auch gefährden kann. Wichtig im Umgang mit dem zu Rettenden ist daher eine einfühlsame Gesprächsführung, bei der dem Betroffenen jeder Schritt der Rettungsmaßnahmen verständlich erläutert wird.
1.4
Ausrüstung
1.4.1 Sicherungstechnik Jeder Höhenretter ist für seine persönliche Schutz-Sicherungsausrüstung selbst verantwortlich. Dazu gehören: ein wetterfester Overall, Stiefel mit griffiger Sohle, tastempfindliche Schutzhandschuhe zum Schutz vor Verbrennung durch Seilreibung, Helm mit Visier und Stirnlampe (für Arbeiten in Dunkelheit), ein Komplettgurt, eine Selbstsicherung mit Falldämpfer, ein Kappmesser und diverse Bandschlingen und Karabiner zum Aufbau von Sicherungen. Darüber hinaus werden innerhalb einer Höhenrettungsgruppe vielfältige weitere Materialien vorgehalten: Seile in verschiedenen Längen, Karabiner unterschiedlicher Form und Größe mit Schraub- oder Automatikverschluss,
Steigklemmen und Seilbremssysteme zum Aufsteigen am Seil oder zum Sichern, Seilrollen zum Umlenken oder dem Aufbau von Flaschenzügen, Bandschlingen unterschiedlicher Länge und Seilschutze aus Kunststoff oder Aluminium, damit Seile beim Verlauf über Kanten nicht geschädigt werden.
1.4.2 Systeme für den Patiententransport Die sogenannte Schleifkorbtrage wird bei den Feuerwehren zur Rettung aus schwierigem Gelände verwendet. Durch die Wannenform bietet sie einen guten Schutz für den Patienten, der dank unzähliger Sicherungs- und Anschlagmöglichkeiten waagrecht, schräg und sogar senkrecht transportiert, bzw. auf- und abgelassen werden kann. Nachteilig ist, dass die Schleifkorbtrage wegen ihrer Abmessungen bei beengten Verhältnissen mitunter schwierig einzusetzen ist. (s. Abb. 2)
Abb. 2
Patient in Schleifkorbtrage (Foto: Sylvi Thierbach)
Alternativ kann eine sogenannte Rolltrage eingesetzt werden, die nahezu ähnliche Möglichkeiten bietet, wie die Schleifkorbtrage, jedoch zum Transport zusammengerollt werden kann. Um zu Rettende zu sichern, die nicht (wie im Fallbeispiel) mit eigenem Gurt ausgestattet sind, hat sich ein Rettungsdreieck bewährt. Ähnlich wie bei einer Windel legt man ein mit Gurten benähtes dreieckiges Tuch mit der Basis um die Hüfte des Patienten und führt die Spitze zwischen den Beinen hindurch, sodass die Ecken vor dem Bauch des Patienten in einen Karabiner eingehängt werden können. Dadurch entsteht ein einfacher aber sicherer Sitz, der nach dem Pionier der Bergrettung als „Gramminger-Sitz“ oder nach zwei Herstellern als „Petzl- oder Kong-Windel“ bezeichnet wird.
1.5
Ausbildung und Training
Jede Höhenrettung erfordert eine individuelle Anpassung an Lage und Gegebenheiten. Trotzdem müssen wiederkehrende Handlungen wie Aufbau der Sicherung, Zustieg zum Patienten, Sicherung und Zuführung von medizinischem Personal, Übernahme und Transport des Patienten sowie Integration notfallmedizinischer Maßnahmen zur Erlangung von Handlungssicherheit immer wieder trainiert werden.
1.5.1 Zustieg zum Patienten Der Aufbau einer Sicherung ist nicht immer von oben möglich. Entsprechend kann der Zustieg zum Patienten eine Herausforderung darstellen. Eine Sicherung „von unten“ erfolgt über ein von einem zweiten Höhenretter straff geführtes Kernmantelseil, welches den Vorsteigenden gerade nicht am Steigen hindert. Um bei einem etwaigen Sturz nicht bis zum Boden zu fallen, muss der Vorsteigende in regelmäßigen Abständen Zwischensicherungen aus Bandschlingen und Karabinern installieren. Nur über diese Zwischensicherungen kann der Sichernde einen Sturz halten. Der Stürzende fällt dann die doppelte Strecke, die er seit der letzten Zwischensicherung gestiegen ist. Hinzu kommt die Dehnung des Seils. Um den Sturzfaktor gering zu halten, darf der Abstand der Zwischensicherungen also nicht zu weit gewählt werden.
1.5.2 Abseilen oder Ablassen Während der Höhenretter beim Abseilen mit einem Bremssystem in das fixierte Lastseil eingebunden ist, seine Abseilgeschwindigkeit selbst kontrolliert und lediglich die Sicherung mit einem zweiten Seil von einem Partner geführt wird, hängt er beim Ablassen am Ende des Lastseils (u.U. mit Patient). Dabei werden Sowohl Last- als auch Sicherungsseil von oben oder über eine Umlenkung geführt. Der Retter kann die Geschwindigkeit dabei zwar nur indirekt (z.B. per Funkanweisung) kontrollieren, hat dafür aber die Hände frei, um sich um den Patienten oder um das Führen der Trage zu kümmern.
1.5.3 Kapp-Rettung Eine besondere Anforderung stellt auch das Retten von Patienten aus hängender Position. Hängt ein Arbeiter oder Kletterer verletzt oder erkrankt in seiner Eigensicherung, muss dieser in die Sicherung der Höhenrettung übernommen werden. Hierzu wird der Patient zunächst im Sicherungssystem der Höhenretter fixiert und dann aus der eigenen Sicherung gelöst. Häufig sind nach Sturzbelastung Knoten im Seil jedoch so fest gezogen, dass diese sich nicht öffnen lassen. In solchen Fällen muss der Patient nach Sicherung im Seilsystem der Höhenrettung, von seiner eigenen Sicherung mittels Messer oder Schere gekappt werden (sogenannte „Kapp-Rettung“).
1.6
Einsatztaktik
1.6.1 Hubschrauber Der Einsatz von Hubschraubern (wie in der Bergrettung) erscheint auf den ersten Blick auch in der Höhenrettung sinnvoll. Allerdings sind nur wenige RTH in Deutschland mit Winden- oder Fixtau-Systemen ausgestattet. Darüber hinaus kann sich der Rotorabwind des Hubschraubers ungünstig auf die Situation an der Einsatzstelle auswirken. Dieser Aspekt muss bei jeder Lage durch den Einsatzleiter (möglichst in Absprache mit dem Piloten des RTH) in Betracht gezogen werden. Sicher aber erscheint es sinnvoll, bei entsprechenden Lagen und (über-)regionaler Verfügbarkeit frühzeitig einen Hubschrauber mit der Option der Windenrettung zuzuführen, um diese Rettungsmethode auch ggf. zeitgerecht zur Verfügung zu haben.
1.6.2 Einsatzablauf Der Einsatzablauf einer Höhenrettung gliedert sich grundsätzlich in folgende Phasen: 1. Erkundung und Lagebeurteilung, 2. Sichern der Einsatzstelle und der Höhenretter, 3. Erreichen und Sichern des Patienten,
Notfallmedizinische Erstversorgung (ggf. mit Delegation medizinischer Maßnahmen) und 5. Aufnahme und Rettung des Patienten. 4.
Erkundung und Lagebeurteilung Der Einsatz der Höhenrettung wird stets individuell an die Lage adaptiert werden. Wichtig ist es, frühzeitig an die Alarmierung zu denken, vor allem, wenn die nächste Höhenrettungsgruppe eine längere Anfahrt hat. Nach dem Eintreffen der Höhenretter müssen gemeinsam mit Rettungsdienst/Notarzt folgende Punkte erörtert werden: Welche objektiven Gefahren bestehen für das Rettungsteam? Welche Sicherungen und welche technischen Geräte sind nötig, um den Patienten zu erreichen? Was weiß man bereits jetzt über den Zustand des Patienten? Ist es erforderlich, den Notarzt zum Patienten zu bringen oder kann der Patient zunächst gerettet und dann vom Notarzt versorgt werden? Die Sicherung des Notarztes ist eine Zusatzaufgabe für die Höhenretter und bindet Personal. Es bedarf immer einer Einzelfallentscheidung zwischen Einsatzleiter und Notarzt, ob die medizinische Versorgung nicht auch warten kann oder eine Delegation medizinischer Maßnahmen möglich ist. Sollte sich der Notarzt gemeinsam mit den Spezialkräften zum Patienten begeben oder den Patienten beim Abseilen begleiten, ist er von den Höhenrettern vorab ebenfalls mit einer Sicherungsausrüstung auszustatten. Welches Sicherungs- und Rettungsmaterial und welche medizinische Ausrüstung muss zu welchem Zeitpunkt zum Patienten gebracht werden? Grundsätzlich ist es am besten, umgehend das komplette Equipment am Patienten zu haben. Da aber v.a. bei erschwertem Zustieg alles von Helfern getragen werden muss, ist es durchaus sinnvoll, vorab abzusprechen, welches Material zuerst am Patienten benötigt wird.
Aus technischer Sicht gilt es z.B., zunächst den Patienten zu sichern – für die Rettung benötigtes Material kann man nachführen. Ähnliche Überlegungen muss auch das medizinische Team treffen (wie im Fallbeispiel zunächst nur Pulsoxymetrie als Monitoring). In welcher Form lässt sich die Kommunikation zwischen den einzelnen Rettern über den gesamten Einsatzablauf sicherstellen? Hierzu gilt es vor allem eine gemeinsame Sprechgruppe festzulegen und einen Geräte-Check mit Sprechprobe durchzuführen. Sichern von Einsatzstelle und Rettern Um Sicherheit für den gesamten Einsatzablauf zu erlangen, müssen zunächst mögliche Anschlagpunkte erkannt und eine umfassende Sicherung für alle Rettungskräfte installiert werden. Erst dann ist es möglich, sich dem Patienten zu nähern (s. Abb. 3). Darüber hinaus muss auch unterhalb der Einsatzstelle dafür gesorgt werden, dass niemand von herabfallendem Material getroffen werden kann. Hierfür sind auch Absperrungen durchaus sinnvoll.
Abb. 3
Rettung eines Kranführers aus 64m Höhe (Foto: Björn Hossfeld)
Erreichen des Patienten und Erstversorgung Während der Rettungsdienst es gewohnt ist, umgehend die Vitalfunktionen des Patienten zu sichern, muss man im Rahmen der Höhenrettung
i.d.R. zunächst den Patienten gegen Absturz sichern. Erst danach sind ein Check der Vitalfunktionen (idealerweise nach dem ABCDE-Schema) und weitere Maßnahmen möglich. Noch vor der Sicherung der Vitalzeichen muss der Patient gegen Absturz gesichert werden.
Mit Erreichen der Einsatzstelle Was ist passiert? Welche Informationen gibt es bereits zum Patienten? Welche Gefahren bestehen: für die Retter und für den/die Patienten? Welche weiteren Kräfte/technischen Hilfsmittel sind erforderlich? Wie kann der Patient erreicht werden?
Delegation medizinischer Maßnahmen In vielen Fällen ist es nicht möglich, dass der Notarzt initial selbst den Patienten erreicht. Daher ist eine fundierte rettungsdienstliche Ausbildung der Höhenretter unerlässlich. Verfügt der Höhenretter über ausreichende notfallmedizinische Kenntnisse, kann der Notarzt nach Übermittlung der Vitalparameter erste medizinische Maßnahmen delegieren (z.B. i.v.Zugang, Volumentherapie oder Analgosedierung). Im Verlauf der Rettung gilt der Grundsatz, dass die Kooperationsfähigkeit des Patienten die Rettung vereinfacht und das notwendige Monitoring reduziert. Aus diesem Grund gilt auch für den Notarzt, invasivere Therapiemaßnahmen – wann immer möglich – bis zum Erreichen des Rettungswagens zu verschieben (z.B. Narkose). Ähnlich geht man auch bei der technischen Rettung eingeklemmter Patienten vor, nur dass der Notarzt während der gesamten Rettung beim Patienten sein und bei Bedarf intervenieren kann.
Ein kooperationsfähiger Patient ist einfacher zu retten. Deshalb sollten Maßnahmen wie die Einleitung einer Narkose – soweit vertretbar – auf den Zeitpunkt nach der Rettung verschoben werden.
Aufnahme und Rettung des Patienten Während der Rettung sollte der Notarzt (oder ein Höhenretter) den Patienten begleiten, indem er z.B. neben der Schleifkorbtrage eingehängt wird. Selbstverständlich sind die Interventionsmöglichkeiten während dieses Transports beschränkt. Umso wichtiger ist es, den Patienten bestmöglich vorzubereiten. Die Immobilisation sollte entsprechend den Verletzungen erfolgen. Dazu können neben HWS-Immobilisationskragen auch das sog. KED-System (Kendrik-Extrication-Device®) sowie die Vakuummatratze oder ein SpineBoard zum Einsatz kommen. Da Erschütterungen während des Transportes oft nicht auszuschließen sind, müssen verletzte Körperteile ausreichend geschient werden. Anschließend muss der Patient im vorgesehenen Rettungsmittel (z.B. Schleifkorbtrage) sicher fixiert werden, um ein Herausfallen auch dann zu verhindern, wenn die Trage nicht waagerecht abgelassen oder aufgezogen werden kann. Sichere Fixierung aller Katheter und Tuben (z.B. mit Heftpflaster), um Dislokation zu vermeiden. Platzierung des Monitorings im Sichtfeld des notfallmedizinischen Begleiters (s. Abb. 4). Ebenso gilt es, eine ggf. nötige Sauerstoffflasche (z.B. durch eine kurze Bandschlinge mit Karabiner) gegen Absturz zu sichern.
Abb. 4
Monitor im Sichtfeld der Notärztin (Foto: traumateam e.V.)
Um im Verlauf der Rettung auf Veränderungen des Patientenzustands (Kreislaufdepression, Analgesiebedarf etc.) reagieren zu können, muss ein fertig aufgezogenes Medikamentenset für den begleitenden Notarzt oder Höhenretter griffbereit liegen. Komplikationen und weitere Überlegungen Räumliche Enge kann es erforderlich machen, die Schleifkorbtrage nicht waagerecht, sondern nahezu senkrecht abzulassen oder aufzuziehen. Dies kann gravierende Auswirkungen auf die Kreislaufsituation des Patienten haben, auf die der Notarzt ggf. medikamentös reagieren muss. Andererseits kann man aber auch in Situationen mit ausreichendem Platzangebot eine solche Lagerung gezielt therapeutisch nutzen. So ist es möglich, nach Absprache von Notarzt und Höhenrettern den Patienten je nach Verletzungsmuster in Oberkörperhoch- oder Schocklage zu transportieren.
1.7
Fazit
Die fachgerechte Rettung aus Höhen und Tiefen erfordert eine umfassende Ausbildung aller Beteiligten. Medizinische und technische Rettung müssen optimal aufeinander abgestimmt sein. Die Höhenretter müssen die medizinischen Erfordernisse einordnen können, Notarzt und Rettungsdienst die Möglichkeiten und Grenzen der Höhenrettung einzuschätzen wissen. Obwohl jeder Einsatz spezielle Anforderungen an die Rettungskräfte stellt und Musterlösungen existieren, führt die Verknüpfung der trainierten Rettungstechniken zur Lösung des jeweils speziellen Problems. Die Sicherheit der Einsatzkräfte hat dabei Priorität vor einer übereilten Rettung. Gemeinsame Übungen von Notärzten, Rettungsdienst und Höhenrettungsgruppe tragen zur besseren Kommunikation, zu erhöhter Sicherheit und zuletzt zur erfolgreichen Rettung bei.
Literatur Hossfeld B, Hühn J, Bender R (2011) Höhenrettung – eine besondere Herausforderung für das Rettungsteam. Notfallmedizin up2date 6, 233–248 Hossfeld B, Hühn J, Bender R (2016) Rettung aus großen Höhen - Sicherheit, Material und Techniken. RETTEN 5 340–347 Lischke V (2010) Höhenrettung. In: Wölfl C, Matthes G. (Hrsg.) Unfallrettung. Stuttgart: Schattauer, 158–175 Ruhrmann S, Lutz M, Uhle F, Rehmann H, Haverney F, Weigand M, Röhrig R (2010) Medizinische Versorgung in der Höhenrettung. Notfall RettMed; 13: 458–464 Stelzer M, Prause B (2003) Absturzsicherung und Höhenrettung, Handbuch für Praxis und Ausbildung. Heilbronn: Bornack
2
Einsätze im schwierigen und unzugänglichen Gelände – Optionen der Windenrettung mit Hubschraubern
Daniel Werner und Thomas van Boemmel
2.1
Einsatzbedingungen
Aus Sicht der Retter sind Einsätze im schwierigen Gelände häufig mit schlechter Zugänglichkeit zum Einsatzort, einem ungenauen primären Meldebild und einer unpräzisen Ortsangabe verbunden. Der mit Abstand häufigste Einsatzort in diesem Kontext ist das alpine und maritime Umfeld (Ruppert 2017). Auch Katastrophenlagen, wie beispielsweise Hochwasser sind zunehmende Einsatzszenarien. Hierbei kann ebenfalls die Rettungswinde ein sinnvolles Mittel zur Erreichung solcher Einsatzörtlichkeiten sein. Im Focus dieser Missionen steht grundsätzlich das schnellstmögliche Zubringen von Einsatzkräften. Dies ist meist der Notarzt oder andere Spezialeinsatzkräfte, wie beispielsweise Bergretter. Auch wenn moderne Kommunikationsmittel und Ortungssysteme heute routinehaft eingesetzt werden und die Lokalisierung der Einsatzörtlichkeit deutlich erleichtert wurde, stellen diese Einsatzsituationen noch immer eine Herausforderung für alle Beteiligten dar. Neben technischen Aspekten müssen insbesondere Skills im Bereich der erweiterten medizinischen Versorgung gut trainiert sein und in Form einer SOP festgeschrieben werden (Pietsche 2018). Einsatzindikation – Winde im alpinen Umfeld Wanderwege und Steige Kletterfelsen Eis- und Wasserfälle
freies Skigelände steile Skipisten steiles Almgelände Forststraßen entlegene Bauernhöfe Wasserspeicher für Beschneiungsanlagen Seil- und Gondelbahnen weitläufige Waldlandschaften Passstraßen Verbindungsstraßen durch bewaldetes Gebiet
Die Planung und Durchführung dieser Einsätze ist regelhaft deutlich aufwendiger. Ein erhöhter Kommunikationsbedarf für die Koordinierung unterschiedlichster Rettungsdienstgruppen ist charakteristisch für Einsätze im schwierigen Gelände. Die Abläufe eines typischen Notfalleinsatzes müssen durch Fragen der technischen Rettung ergänzt werden. Dieses ist auch der Grund für die oft längere Prähospitalzeit unabhängig vom ggf. langen Weg zum Einsatzort (Fischer et al. 2016). Gerade deshalb ist hier die Luftrettung mit Einsatz einer Rettungswinde oder Tau und auch aufgrund der oft fehlenden Landemöglichkeit am Einsatzort das Rettungsmittel der ersten Wahl (Tomazin et al. 2011). Einsatzbesonderheiten verlängerte Einsatzzeiten hoher Planungs- und Kommunikationsaufwand Gefahren am Einsatzort: z. B. Steinschlag, Lawine, Gletscherspalten schlechte Wetterbedingungen: Temperatur, Niederschlag, Wind, Sonne Erschöpfung des Rettungsteams
Die wachsende Anzahl im alpinen Gelände zu versorgender Patienten ist nicht auf die bekannten alpinen Risikosportarten (Paragliding, Drachenfliegen, Klettern) oder neue Trendsportarten (Base-Jumping, Speed-Gliding, Canyoning), sondern vor allem auf Veränderungen in der Demografie mit einer bis in höhere Lebensalter erhaltenen Mobilität und Aktivität und einem in allen Altersgruppen zu verzeichnenden wachsenden Interesse am Bergsport (Wandern, Skifahren, Skitouren) zurückzuführen.
Die gute GSM-Abdeckung für die mobile Telefonie bietet zum einen neben der Kommunikation eine Fülle sofort verfügbarer Information zum Wetter und Ort, zum anderen wird aber auch Sicherheit vermittelt. Gute Ausrüstung und Bekleidung führen zur deutlichen Verbesserung der Sicherheit und auch zur Reduktion der Unfallhäufigkeit im z.B. Wintersport (Ruedl et al. 2014). Die Häufigkeiten der medizinischen Einsatzindikationen verschieben sich dem Umfeld entsprechend vom sonst vorgefundenen internistischen und neurologischen Schwerpunkt hin zu Erschöpfungszuständen und traumatologischen Notfällen. Trends im Bergsport Faktor der sich ändernden Demografie und guter Gesundheit im höheren Alter mehr verfügbare Freizeit bei gleichem Einkommen Freizeitpark Alpen mit guter verkehrstechnischer Erreichbarkeit gute mobile Kommunikation und Informationen (WebCams, Wetter, GPS-Ortung) gute Ausrüstung und Bekleidung
2.1.1 Einsatzvoraussetzungen im schwierigen Gelände Das Team im Rettungstransporthubschrauber setzt sich im Idealfall aus Pilot, Windenoperator, Notfallsanitärer (HEMS-TC = Helicopter Emergency Medical Service – Technical Crew Member) und Notarzt zusammen. Bei einer drei-Mann-Besatzung übernimmt der HEMS-TC zusätzlich die Windenoperatorfunktion und damit die Bedienung der Winde. Die Bergrettung unterstützt mit ortskundigen Teams den Transport und die Versorgung des Patienten und sorgt ggf. für eine Absturzsicherung aller Beteiligten. Jeder aus diesen Berufsgruppen absolviert eine langjährige Ausbildung. Die Rettungsspezialisten der Bergrettung durchlaufen, bei guter physischer Eignung, eine mehrjährige Grundausbildung mit technischen und notfallmedizinischen Inhalten. Der Notarzt muss neben einem umfangreichen notfallmedizinischen Können, körperlich fit sein, sich im
alpinen Terrain bewegen können und umfassende Kenntnisse in alpinen Rettungstechniken sowie den Eigenheiten alpiner Notfallmedizin haben. Einsatzvoraussetzungen spezielle Qualifikation aller Einsatzkräfte hohe Kooperationsfähigkeit aller Einsatzbeteiligten Patienten- und Retter-Sicherheit hat höchste Priorität Hubschrauber mit Windenvorrichtung medizinische Ausrüstung: Verfügbarkeit leichter und mobiler Geräte schwierigere klinische und apparative Diagnostik und Versorgung
Die Möglichkeit, den Unfall einer Leitstelle zeitnah zum Unfallereignis zu melden, hat sich zwar durch die Handynutzung verbessert, nach wie vor sind aber Einsatzplanung und -durchführung für die Rettungsleitstellen trotz inzwischen korrekter abzufragender Meldebilder und der Möglichkeit einer genaueren Ortsbestimmung bei alpinen Einsätzen aufwändiger als bei Einsätzen nur mit bodengebundenen Rettungskräften. Die lokalen Gegebenheiten am Einsatzort und die Wetterbedingungen haben im alpinen Umfeld eine hohe Priorität. Bei alpinen Rettungseinsätzen muss von längeren Einsatzzeiten, möglicherweise einer physischen Ermüdung der Rettungskräfte und in der Folge mit einer Veränderung des Entscheidungsverhaltens und oftmals einer höheren Risiko-Akzeptanz ausgegangen werden. Der Erfolg eines Einsatzes im Gebirge wird neben den rein technischen (z.B. Behandlungsmethoden, alpine Sicherungstechniken, Ausrüstung) ganz wesentlich durch die nicht-technischen Fertigkeiten (z.B. Kommunikation, Entscheidungskultur, Führungsverhalten) bestimmt. In vergleichbaren Bereichen, wie der Luftfahrt, wird von „menschlichem Versagen“ als Ursache gefährlicher Situationen in 70–80% der Fälle ausgegangen. Das speziell hierfür entwickeltes Trainingsformat ACRM (Aeromedical Crew Ressource Management) macht die Wichtigkeit dieser Elemente bewusst. Die Schnittstelle zwischen Bergrettung und Hubschrauberteam im Gebirge wird bei jährlichen Windenübungen trainiert. Die verpflichtende Teilnahme hat zum Ziel, möglichst realitätsnahe Übungssituationen zu simulieren (z.B. beatmeter Patient im unwegsamen Gelände). Wesentliche
Erfolgsfaktoren für einen Gebirgseinsatz sind damit zusammengefasst der Ausbildungsstand, gegenseitiges Vertrauen und die Akzeptanz des beteiligten Personals (Lang et al. 2010).
2.1.2 Einsatzrisiko im alpinen Umfeld Die Behandlungsbedingungen am Einsatzort und beim Abtransport sind mit einem hohen Risiko für z.B. den Verlust von Zugängen und Atemwegssicherungen (Tubus) verbunden. Deshalb muss auf eine gute Sicherung und Zugänglichkeit geachtet werden. Bei dem in der Hälfte der Fälle genutzten Bergesack ist besonders der intubierte und beatmete Patient eine Herausforderung. In diesem besonderen Fall bedarf eines standardisierten Vorgehens, um für alle Beteiligte einen möglichst gleichen Informationsstand sicherzustellen (s. Standards im Windeneinsatz). Risiken am Einsatzort lange Einsatzzeiten: die situative Risikobereitschaft unter physischer Ermüdung ändert sich Kommunikations- und Kooperationsbereitschaft in ad-hoc-Teams sehr unterschiedlich Unfallrisiko im schwierigen Gelände Behandlungsbedingungen vor Ort: hohes Risiko für Verlust der Venenverweilkanüle und/oder des Atemweges, Fehlintubation, Fehlmedikation, Gerätefehler, inklusive Fehlbedienung
2.1.3 Strategien für das Treffen von Entscheidungen Im Einsatzgeschehen muss das gesamte Rettungsteam bei meist unvollständiger Informationslage und unter Zeitdruck immer wieder rettungsrelevante Entscheidungen treffen. Entscheidungsfehler gefährden dabei nicht nur den Patienten, sondern im alpinen Gelände in weit höherem Maß als in der Landrettung auch die Rettungskräfte. Zur Optimierung der Entscheidungsprozesse und Vermeidung von Entscheidungsfehlern wurden folgende Verfahren etabliert. Standardisiertes Vorgehen
In der Luftfahrt ist der Gebrauch von Standard-Operation-Procedures (SOPs) und Checklisten in vielen Standardsituationen üblich. Wird die Situation durch den Entscheider eindeutig identifiziert und passt das vorgegebene Standardvorgehen dazu, wird er entsprechend vorgehen können (Beispiel: Landung eines Hubschraubers). Sequenzielle Entscheidungsverfahren Differiert das Szenario zu den Standardsituationen oder liegen nicht alle Informationen für eine gute Entscheidung vor, wird der Entscheider sich nur an den vorhandenen Fakten orientieren können und Teilentscheidungen treffen, diese überprüfen und erneut entscheiden, bis die Aufgabe bestmöglich entschieden ist (FORDEC-Modell): Welche Situation liegt vor? Options: Welche Handlungsoptionen bieten sich an? Risks & Benefits: Welche Risiken und Nutzen sind mit den jeweiligen Optionen verbunden? Decision: Auswahl einer Handlungsoption Execution: Ausführen der gewählten Handlungsoption Check: Führt der eingeschlagene Weg zum gewünschten Ziel? Facts:
Heuristiken Intuitive Entscheidungen zu treffen, ist die Kunst, mit begrenztem Wissen und wenig Zeit zu guten Lösungen zu kommen. Dieses überschlägige und häufig unbewusste Denken, auch Heuristiken genannt, führt zu einfachen Lösungen für meist komplexe Probleme. Unbedingte (Porcelli u. Delgado 2017) Voraussetzung ist in jedem Fall eine umfangreiche berufliche Erfahrung und ein hohes Trainingsniveau. Teamentscheidungen Kann ein Einsatz aus objektivierbaren Gründen nicht durchgeführt werden, wird dieses sinnvollerweise im Team entschieden. Dabei wird der Vorteil verschiedener Expertisen des Einzelnen genutzt, um eine gute Entscheidung treffen zu können. Voraussetzung ist eine möglichst allen bekannte
vollständige Information zum Einsatzgeschehen. Deshalb ist darauf zu achten, zunächst eine Informationssammelphase zu durchlaufen, um dann erst in die Bewertungsphase einzutreten (vgl. FORDEC). Damit wird der oft gemachte Fehler vermieden, dass nur der kleinere Teil der allen bekannte Information zur Entscheidungsgrundlage wird und ggf. das Potenzial der Gruppe für eine gute Entscheidung nicht ganz ausgeschöpft wird. Zudem sollte der Entscheidungsprozess in einer konstruktiven Atmosphäre stattfinden.
2.1.4 Trainingsformate für den Betrieb einer Rettungswinde Die Arbeit an der Rettungswinde (s. Abb. 1) bedeutet für alle Beteiligten einen deutlich erhöhten Schulungs- und Trainingsaufwand. Auch die fortlaufende Auffrischung und der Erhalt des Gelernten sind von essenzieller Bedeutung. Das Konzept der Schulung und dauerhaften Übung sieht folgende Bausteine vor: Grundschulung in Theorie und Praxis, regelmäßiges „Trockentraining“ an der Station, Simulationstraining, beispielsweise im Zentrum für Sicherheit und Ausbildung der Bergwacht Bayern, Realwindentraining im Gebirge (mehrmals jährlich), Alpintraining der Einsatzteams und Schulung der non technical skills mittels ACRM-Trainings für medizinische und fliegerische Crew.
Abb. 1
Hubschrauber in Windenoperation (Foto: Peter Schellig)
2.2
Technische Sicherungs- und Rettungsverfahren
2.2.1 Sichere Flugverfahren Die heute eingesetzten Hubschrauber wie der Airbus H145 gewähren ein hohes Maß an Sicherheit. Eine sehr gute Triebwerksleistung ermöglicht auch (Winden-)Einsätze unter schwierigen Bedingungen mit ausreichend Reserven. Aufgrund gesetzlicher Vorgaben werden europaweit Maschinen mit zwei Triebwerken (sog. Twin Engines) im Luftrettungsdienst eingesetzt. Dies ermöglicht auch bei einem Triebwerkausfall die Möglichkeit, die Einsatzmaschine kontrolliert und sicher landen zu können.
2.2.2 Flugbetriebliche Voraussetzungen für den Windeneinsatz Der Zugang aus der Luft muss prinzipiell möglich sein. Über der Einsatzstelle sollte ein ausreichend großer Zugriffskorridor vorhanden sein,
d.h. die Einsatzstelle ist in diesem Korridor nach oben frei von Hindernissen und der Zugriff von oben ist möglich. Zudem müssen der Hubschraubercrew vorhandene Hindernisse im Bereich der Einsatzstelle unbedingt mitgeteilt werden (z.B. Hochspannungsleitungen, Funkmasten, Seile von alpinen Liftanlagen/Beförderungsmitteln, Sprengseilbahnen, über weite Distanzen und meist temporär aufgebaute Holzrückeseile). Grenzen für einen Windeneinsatz Wetterbedingungen, Wetterlimits Sicht für Piloten uneingeschränkt Temperatur und Gewicht = Sicherheit, Windstärke und Richtung Bedingung: in Abflugrichtung Hindernisfreiheit für Hubschrauber mit Bergesack zeitliche Begrenzung des Windeneinsatzes: „Bürgerliche Dämmerung“
2.2.3 Rettungsverfahren – Tau- vs. Windenrettung Beide Verfahren bieten sowohl Vor- als auch Nachteile. Das Tau ist deutlich kostengünstiger in Anschaffung und Unterhalt, an der zentralen Aufhängung unter dem Hubschrauber kann mit dem Tau ein deutlich höheres Gewicht angehängt werden. Hier ist die Rettung mehrerer Personen ohne weiteres möglich. Ein Nachteil ist die geringere Flexibilität, da ein Einsatz mit Tau immer ein gewisses Maß an Vor- und Nachbereitung erfordert, zudem nach Versorgung und Bergung des Patienten vom Unfallort in der Regel eine Zwischenlandung notwendig wird, um den Patienten in den Hubschrauber zu transferieren. Bei einem Betrieb mit Rettungswinde hingegen kann sehr flexibel auf sich ändernde Einsatzbedingungen reagiert werden. In der Regel kann die Rettungswinde zu jeder Zeit in den Einsatz genommen werden. Die Rettungsgurte werden als Teil der persönlichen Schutzausrüstung (PSA) bereits zu Dienstbeginn angelegt und während fast aller Einsätze getragen. Das heute problemlose Umsteigen des Windenoperators, bei langsamen Vorwärtsflug, vom Cockpit in den hinteren Teil des Hubschraubers, macht die Rettungswinde sofort einsatzbereit. Für ein solches Verfahren hat jedes Luftrettungsunternehmen ein standardisiertes Verfahren festgelegt. Alle Beteiligten haben hier
bestimmte Maßnahmen durchzuführen, damit der Vorgang reibungslos und rasch funktioniert. Das Umsteigen des Windenoperators hat neben dem Aspekt des schnellen Zubringens von Einsatzkräften insbesondere einen weiteren wesentlichen Vorteil: Der Windenoperator steht dem Piloten bis kurz vor die/das Einsatzstelle/das Einsatzgebiet zur Unterstützung (Navigation, Luftraumbeobachtung) im Cockpit zur Verfügung. Auch die Möglichkeit, den Patienten nach Aufwinchen und noch während des Abfluges von der Einsatzstelle ohne Zwischenlandung in den Hubschrauber zu verladen, ist in der Regel ein wesentlicher Vorteil der Rettungswinde. Der Betrieb ist allerdings deutlich kostenintensiver, da mit Indienststellung einer per se teuren Rettungswinde, in der Regel auch die Schulung des Personals (Windenoperator, Pilot, Notarzt) einhergeht.
2.2.4 Ausstattung und Windenkonfiguration des Hubschraubers Bei Alarmierung zum Einsatz mit Rettungswinde wird der Innenraum der Kabine umgebaut, um ein reduziertes Abfluggewicht der Maschine zu erreichen und ein bestmögliches Platzangebot für das Arbeiten mit Patientenbergesack herzustellen. Sowohl die Standard-Patiententrage wie auch bei Bedarf zusätzlich installierte Sitzgelegenheiten werden ausgebaut (s. Abb. 2 u. 3). Der Ausbau von Ausrüstungsgegenständen ist aber nicht zwingend notwendig. Gerade bei medizinischer und rettungstechnischer Dringlichkeit sollte umgehend in den Einsatz gestartet werden. Die Hubschrauberkonfiguration in Form einer zusammenklappbaren Trage und individuell verschiebbaren Stühlen, macht sowohl das schnellstmögliche Zubringen der Rettungskräfte möglich als auch das ggf. darauffolgende Bergen und Verladen des Patienten. Hierfür gibt es innerhalb der einzelnen Luftrettungsbetreiber jeweilige SOPs. Gewichtsersparnis kann durch Zusammenfügung des Wärme- und Bergesackes u.a. erreicht werden. Somit ist nur mehr ein Ausrüstungsgegenstand mitzuführen.
Abb. 2
Innenansicht eines Hubschraubers in Windenkonfiguration (Foto: Stefanie Seyringer)
Abb. 3
Weitere Innenansicht eines Hubschraubers in Windenkonfiguration (Foto: Stefanie Seyringer)
Windenkonfiguration des Hubschraubers ggf. Patiententrage ausbauen: Gewichtsersparnis und genug Platz im Innenraum Bestuhlung nach Zulassung erreichbar und fixiert im Innenraum: Rettungssack, Rettungsrucksäcke, Monitor Sicherungs-Systeme im Innenraum eingehängt
Rettungswinde Exemplarisch wird hier die Winde für das Hubschraubermuster Airbus H145 beschrieben. Die maximale Anhängelast der Windenvorrichtung beträgt bei > 0° Celsius 249 kg, bei < 0° Celsius 227 kg. Die Windengeschwindigkeit ist von diversen Faktoren wie z.B. der angehängten Last abhängig und beträgt zwischen 0,75 m/s und 1,25 m/s. Seiltechnik
Es handelt sich um ein geöltes Stahlseil mit einer Länge von 90 m und einer maximalen Bruchlast von 1.500 kg. Das Windenseil darf ausschließlich statisch belastet werden, da bei einer dynamischen Belastung entsprechend einem textilen Seil aus dem Bergsportbereich mit einem Versagen des Windenseils zu rechnen ist. Entsprechend müssen die Verfahren beim Windeneinsatz durchgeführt werden, um eine dynamische Belastung definitiv ausschließen zu können. Die Nutzungsdauer des Windenseils kann bis zu 1.500 Cycles (definiert als Aus- und Einfahren länger als 5 m Seillänge) betragen, das Windenseil unterliegt einer strengen Qualitätskontrolle und wird in der Regel vor Ablauf der Regellebenszeit ausgemustert. Tägliche Kontrollen vor und nach dem Windeneinsatz garantieren eine engmaschige Überwachung des Windensystems und des Seils, welches sich in Abhängigkeit der Beanspruchung ständig verändern kann. Windenhaken Der Windenhaken ist ein selbstverriegelnder Edelstahlhaken (Typ D-LockHook), in den mehrere großvolumige Karabiner eingehängt werden können. Ein Karabinerüberwurf mit selbstständigem Aushängen des Karabiners ist konstruktionsbedingt ausgeschlossen. Rutschkupplung an der Winde Das Rettungswindensystem ist mit einer sogenannten Rutschkupplung ausgestattet, die ab einer bestimmten Belastungsgröße das Windenseil bis zum erneuten Unterschreiten des Limits freigibt. Auch diese Kupplung unterliegt regelmäßigen Kontrollen. Das Belastungslimit der Rutschkupplung liegt bei einem Vielfachen der maximal zulässigen Anhängelast. Cable Cutter/Sprengvorrichtung an der Winde Das Rettungswindensystem ist mit einer pyrotechnischen Sprengvorrichtung ausgestattet, sodass im Notfall das Windenseil abgesprengt werden kann. Sowohl Pilot als auch Windenoperator können diese Sprengvorrichtung auslösen. Die Aktivierung dieses Systems wird als
Ultima Ratio gesehen, um gegebenenfalls einen Totalverlust des Hubschraubers zu verhindern. Kapp-Rettung Der Bergretter wird mit dem Windenseil zum Verletzten abgelassen. Nach kurzer Evaluation des Gurtsystems des Verunfallten, wird dieser in die vorbereitete Aufhängung am Windenhaken übernommen. Der Hubschrauber ist jetzt für einen kurzen Moment am Fels „gefesselt“. Nun wird durch den Retter das Bergeseil des Patienten durchtrennt, also gekappt. Anschließend werden sowohl Retter als auch Patient am freien Windenseil in den Hubschrauber gewincht. Diese sog. Kapp-Rettung stellt sowohl für Bergretter wie Verunfallten eine große psychische und physische Belastung dar.
2.2.5 Rettungsmittel Luftrettungssack vs. Rettungsdreieck Eine Abweichung von den folgenden Empfehlungen (s. Tab. 1) muss im Einzelfall – so z.B. bei einer Crash-Bergung aus einem gefährlichen Bereich (Gefahr durch Nachlawine, Steinschlag, Absturz bei fehlender Eigensicherungsmöglichkeit) – erwogen werden. In einem alpinen Setting kommen beide Verfahren in etwa gleich häufig zur Anwendung (Ruppert 2017). Tab. 1
Empfehlungen für die Wahl der Rettungsmittel Luftrettungssack und Rettungsdreieck
Indikation Luftrettungssack Schienung von Frakturen (Wirbelsäule, Extremitäten) Beatmung reduzierte Vigilanz jede ausgedehntere Verletzung
Indikation Rettungsdreieck wach, völlig orientiert, kooperativ keine Frakturen keine aktiv blutende Verletzung Schmerz kompensiert
Antirotationssysteme für den Bergesack
Die durch den Downwash des Hubschraubers verursachte Rotation des Rettungssackes wurde bislang durch eine Fuß-seitig am Sack befestigte Antirotationsleine verhindert, welche von einer Person vom Boden aus am Einsatzort geführt wurde. Das nun zur Ausstattung des Rettungssackes gehörende Segel ermöglicht es dem Retter am Luftrettungssack direkt den Drehimpuls durch Gegensteuern zu verhindern. Der Sicherheitsgewinn ist hoch und das Team kann klein gehalten werden, da die Bedienung der Antirotationsleine entfällt. Persönliche Einsatzkleidung des Retters Die Einsatzbekleidung der Retter im alpinen Gelände muss besonderen Anforderungen standhalten. Sie muss über die Einsatzdauer vor Nässe, Schnee, Kälte, Steinschlag und Wind schützen. Dabei muss bedacht werden, dass die Retter ggf. auch für einen längeren bodengebundenen Transport des Patienten oder eine eigenständige, eigenverantwortliche und bodengebundene Rückkehr vom Einsatzort ausgerüstet sein müssen. Zusätzlich bedarf es neben den alpinen Sicherungssystemen (Sitz- und Brustgurt, Karabiner, ggf. zusätzliche Reepschnüre, Schlingen und Abseilachter) einer Eigensicherungsschlinge mit einer dynamischen Falldämpfung, die im Falle eines Sturzes eine dynamische Fallsicherung bietet. Persönliche Schutzausrüstung im Einsatz Rettungsgurtsystem (Sitz- und Brustgurt) mit Selbstsicherungsschlinge und zentraler Aufhängung Steinschlaghelm mit Gehörschutz und Brille Kapp-Schere Schutzhandschuhe Wetterfeste Bekleidung bergtaugliche Einsatzschuhe Funkgerät
2.2.6 Einsatztaktik im Windeneinsatz
Der Einsatzleiter hat die Aufgabe, neben der Planung des Rettungsmittels auch den Einsatzort durch Bergwacht oder andere Einsatzkräfte für das medizinische Team zugänglich zu machen und abzusichern. Dabei muss die Dringlichkeit der medizinischen Versorgung mit dem Unfallrisiko der Retter und des Patienten in exponierten Lagen und Umweltbedingungen (Temperatur, Sonne, Winde, Niederschlag) abgewogen und in eine sinnvolle Abfolge gebracht werden. Leitgedanken Im Mittelpunkt der Einsatzplanung stehen die Patienten- und RetterSicherheit. Es sollte immer eine ausreichende Einsatzvor- und nachbearbeitung im gesamten Team stattfinden.
Alarmierung und Einsatzkonfiguration Bei Alarmierung ist es sinnvoll, im Rahmen einer kurzen Rückfrage bei der meldenden Stelle möglichst genaue Parameter zum Windeneinsatz in Erfahrung zu bringen. Interessant sind hier z.B. Details zur Einsatzstelle, zum Wetter vor Ort, zur Art des Unfalls und nähere Informationen zum Einsatzgelände, die nicht zuletzt auch die Crewzusammenstellung bestimmen. Ein solcher Rückruf an der Einsatzstelle bzw. beim Melder darf im Rahmen einer dringend benötigten rettungstechnischen- oder medizinischen Hilfe aber unter keinen Umständen die Alarmierung von weiteren Einsatzkräften, wie z.B. einen (Bergrettungs-)Notarzt oder einen Rettungshubschrauber verzögern. Bei definitivem Meldebild oder bei einem wahrscheinlichen Windeneinsatz wird der RTH sowohl im Cockpit als auch in der Kabine, wie unten ausgeführt, konfiguriert, um den Einsatz sicher und bedarfsgerecht durchführen zu können: Schließen der Gurtschlösser am Co-Pilotensitz, um ein Verhängen derselben in den Steuerorganen zu verhindern; Einstellen der Intercom-Anlage und der Funkgeräte für eine sichere Kommunikation. Cockpit:
Umbau des Kabinenequipments, um ein erhöhtes Platzangebot zu schaffen und das Abfluggewicht zu reduzieren. Kabine:
Teamzusammensetzung Im Anflug gilt es soweit möglich noch fehlende Informationen per Einsatzfunk zu sammeln, um sich ein möglichst genaues Bild über den anstehenden Einsatz machen zu können. Dem anfliegenden RTH müssen alle bereitstehenden Informationen hinsichtlich Meldebild, Örtlichkeit, Patientenzustand von Seiten der Rettungsleitstelle und des Einsatzleiters zur Verfügung gestellt werden. Ist dringende medizinische Hilfe notwendig und lässt die Einsatzörtlichkeit ein Arbeiten der medizinischen Besatzung zu, sollte in der Regel die Einsatzstelle direkt angeflogen werden. Ist das Gelände am Notfallort alpin anspruchsvoll, müssen zunächst Einsatzkräfte der Bergwacht eingeflogen werden, um für adäquate Sicherungsbedingungen vor Ort zu sorgen. Erst dann kann mit der definitiven Patientenversorgung begonnen werden. Da im Gebirge die Performance des Hubschraubers und damit auch die Zulademöglichkeiten begrenzt sind, muss das einsatztaktisch sinnvoll zusammengestellt werden. Oftmals muss eine Einsatzstelle wiederholt angeflogen werden, um die versorgende Mannschaft am Einsatzort zu komplettieren. Sollte sich die Einsatzsituation auf vielerlei Ebene (Örtlichkeit, Absturzgelände) komplex darstellen, so ist es zielführend an einem Zwischenlandeplatz eine Einsatzbesprechung – geführt durch den Einsatzleiter – abzuhalten. In der Anflugphase Steht das hochalpine Umfeld mit all seinen Gefahren im Vordergrund, dies ist nicht selten der Fall bei Rettungen aus Bergnot, so wird die Bergung durch Rettungsspezialisten durchgeführt, da hier ganz klar die adäquate Sicherung an der Einsatzstelle und somit auch der Eigenschutz der medizinischen Crew oberste Priorität hat. Bei all diesen Entscheidungen ist der Windenoperator maßgeblich beteiligt, da er sich für die Sicherheit während des gesamten Windeneinsatzes verantwortlich zeichnet. Eine sehr gute Ortskenntnis sowie profunde Kenntnisse der alpinen Rettung sind dabei für den Windenoperator
essenziell wichtig, um ständig wechselnde Anforderungen adäquat beurteilen zu können. Der Windeneinsatz vor Ort – Sicht des Windenoperators Ist die Einsatzstelle lokalisiert, gilt es beim sog. Probeanflug sämtliche Gefahrenquellen zu detektieren und die erforderlichen Leistungsparameter des Hubschraubers festzustellen. Wichtig sind hier Informationen über Hindernisse wie Seilbahnen, Sprengleitungen, Bäume, etc. Auch die Windverhältnisse vor Ort geben vor, wie der Hubschrauber an der Einsatzstelle positioniert werden kann oder muss. Diese Positionierung muss zu einer eventuell erforderlichen Notabflugrichtung passen und kann nur zweitrangig sein, wenn das Powersetting vor Ort ausreichend gut ist. Der Referenzpunkt vor Ort muss ein ruhiges Winchen ermöglichen. Die Aspekte Windrichtung, Powersetting, Notabflugrichtung, Positionierung zwischen Hindernissen, Referenzpunkt, etc. müssen sinnvoll priorisiert werden. Zudem muss vorab ebenfalls die Frage geklärt werden, ob die Parameter vor Ort ein dynamisches Winchen (Fahren des Seils im Anflug) erlauben oder ob man erst über der Einsatzstelle das Windenseil fahren kann (statisch). Mehrere Faktoren beeinflussen die zu wählende Seillänge während eines Windeneinsatzes. Dazu gehören die topografischen Verhältnisse und die damit vorhandenen optischen Referenzpunkte vor Ort, das vorherrschende Wetter – insbesondere der Wind – und die geforderte Triebwerksleistung (Hover Power) vor Ort; hier muss wieder ein sicherer Abflug bei OEIBedingungen (One Engine Inoperative) gewährleisten sein. Wird das erste Team mit der Rettungswinde abgesetzt, so kann es je nach Gelände zu einer „Gefesselt-Situation“ kommen, d.h. der Hubschrauber ist über die Retter fest mit der Felswand verbunden. Besonders hier sind deutliche Handzeichen (ggf. mit Unterstützung durch Funkkommunikation) essenziell wichtig, um die Aktion sicher und zügig durchführen zu können. Nach Absetzen der kompletten Rettungsmannschaft am Einsatzort ist eine erste Rückmeldung der Retter vor Ort an die Flight Crew im Hubschrauber wichtig, da nun das weitere (flugbetriebliche) Prozedere festgelegt werden muss. Informationen über Zustand des Patienten, Art der nun folgenden
Rettung, Zeitdauer bis zu Abholung sind in dieser ersten Rückmeldung wichtige Bestandteile. Je nach übermittelter Information entscheidet sich die Flight Crew eventuell, in der Luft zu bleiben, um durch weiteres Verbrennen von Treibstoff das Gewicht der Maschine zu reduzieren. Auch das Nachliefern weiteren Equipments oder die Voranmeldung des Patienten für die Zielklinik werden hier gemeinsam entschieden. Die am Windeneinsatz beteiligten Personen werden in sinnvoller Reihenfolge und unter stetiger Einhaltung aller sicherheitsrelevanter Punkte abgeholt, um den Patienten sicher und zügig der entsprechenden Zielklinik zuzuführen. Hier kann es durchaus erforderlich sein, dass der Hubschrauber nach Aufwinchen des Patienten mit Notarzt den sofortigen Weg in die Klinik antritt und den Rest der verbliebenen Mannschaft zu einem späteren Zeitpunkt abholt (s. Abb. 4).
Abb. 4
Aufwinchen eines polytraumatisierten, intubierten Patienten mit Notarzt nach Absturz im Felsgelände (Foto: Max Eichner)
2.2.7 Kommunikation während des Windeneinsatzes
Eine korrekte und sachgerechte Kommunikation ist der wichtigste Erfolgsfaktor eines Windeneinsatzes. Dafür sind verschiedene Ebenen des Austausches definiert. Der Einsatzleiter nimmt dabei eine übergeordnete Position ein und hat optimaler Weise während des Einsatzes Kontakt zu jeder Gruppe. Zwischen Windenoperator und Pilot Während des Windeneinsatzes bilden der Windenoperator und der Pilot eine sehr enge Kommunikationseinheit. Checklisten-basiert werden alle Vorbereitung zum eigentlichen Windenvorgang zwischen beiden abgesprochen (Inbetriebnahme der Winde, Absprengmechanismus, Kontrolle Sicherungssysteme, Öffnen der Seitentüre). Da der Pilot keinen eigenen Sichtkontakt zur Einsatzstelle unter dem Hubschrauber hat, spricht der Windenoperator ihn fortlaufend ein. Ist eine optimale Position des Hubschraubers zur Einsatzstelle erreicht und sind alle flugtechnischen Parameter seitens des Piloten erfüllt, beginnt der eigentliche Winchvorgang unter ständiger Positionsangabe vom Windenoperator an den Piloten. Die Länge des ausgefahrenen Seils und jede Zustandsänderung, wie z.B. Rotation oder Pendelbewegungen des Rettungssackes, wird dem Piloten sofort mitgeteilt. Der Abbruch des Windenvorganges oder der zügige Abflug bei Hindernisfreiheit sind mögliche Lösungen, die Pilot und Windenoperator gemeinsam entscheiden. Zwischen Windenoperator und Team am Einsatzort Nachdem der Patienten versorgt ist und sich entweder im Bergesack befindet oder mit einem Rettungsdreieck ausgerüstet ist, wird per Funk der Hubschrauber zur Einsatzstelle beordert. Dem Patienten wird erklärt, dass er in jedem Fall allen Anweisungen folgen muss und sich z. B. bei Benutzung des Rettungsdreieckes beim Aufwinchvorgang nicht an den Retter klammern darf. Es ist in jedem Fall nötig, Sicherheit zu vermitteln und beruhigend auf dem Patienten einzuwirken. Nachdem der Retter erst sich und dann den Patienten mit den Karabinerhaken in den Windenhaken eingehängt hat, wird durch Handzeichen dem Windenoperator signalisiert, dass beide Personen sicher und frei von Hindernissen hängen und der Aufwinchvorgang beginnen kann (s. Abb. 5). Sollte es wider Erwarten zu
einem Abbruch kommen, wird dieses vom Retter dem Windenoperator durch ein gesondertes Handzeichen bedeutet. In diesem Fall werden beide wieder auf dem Boden abgesetzt.
Abb. 5
Die Handzeichen (Einzelgrafiken: Georg Sojer)
2.2.8 Standard-Workflow und Kommunikation direkt am Einsatzort Die Häufigkeit der aufgetretenen Gefahrensituationen zeigen, dass es sich hier um komplexe und multifaktoriell beeinflusste Abläufe in der Bergrettung handelt, die selbst in einer kontrollieren Trainingssituation nicht immer unproblematisch sind. Um Einsatzsicherheit und -qualität zu garantieren, ist es sinnvoll, die Standardabläufe vorher zu definieren, zu trainieren und vor Einsatzbeginn nochmals abzusprechen. Der beschriebene Workflow ist umfassend für alle Teilnehmergruppen am Einsatz verpflichtend. 1. Alarm, Organisation, Briefing Es wird der Einsatzort anhand der vorliegenden Information des Notrufes identifiziert und die notwendigen Rettungsmittel und
Helfer festgelegt. Der verantwortliche Einsatzleiter der Bergwacht legt in Zusammenarbeit mit der Rettungsleitstelle die spezifische Ausrüstung für den Einsatz fest (Ski, Lawinenschutz, Hubschrauber). 2. Sichern und ordnen Am Einsatzort wird die Lage erneut beurteilt. Vorrang haben hier die Eigensicherung und eine Sicherung des erreichbar positionierten Materials. Die Aufgabenverteilung wird abgesprochen, der Patient muss für die Versorgung ggf. zugänglich positioniert und gesichert werden. 3. Medizinisch versorgen Die medizinische Notfallversorgung orientiert sich ebenfalls an den lokalen Gegebenheiten und medizinischen Notwendigkeiten: Monitoring (Sauerstoffsättigung, EKG, Blutdruck, Kapnometrie), i.v.-Zugang mit ggf. Infusion, Anlegen einer HWS-Immobilisation, Stabilisierung von Frakturen mit Schienen, bei Beatmungspflichtigkeit Einleiten der Narkose sowie Intubation und Beatmung. 4. Verpacken Der Luftrettungssack wird positioniert, gesichert und der Patient in ihm gelagert und fixiert. Der i.v. Zugang muss so gelagert werden, dass er jederzeit zugänglich ist. Ist der Patient beatmet, sollte zur Vermeidung von Abknickungen am Tubus eine Gänsegurgel verwendet werden. In der Regel wird der Patient mittels Beatmungsbeutel beatmet, welcher neben dem Kopf im Bergsacke positioniert wird. Zusätzlich kann dieser noch mit einer Schlinge gesichert werden. Werden maschinelle Beatmungsgeräte verwendet, so sollten diese so positioniert werden, dass auch diese gut zugänglich sind. Eine verwendete Sauerstoffflasche wird an den Füßen gelagert. Hier braucht es ebenfalls eine Sicherung mittels Schlinge, welche die Flasche gegen Absturz sichert. Dann wird der Rettungssack verschlossen und das Monitoring zwischen den Rettungssackaufhängungen fixiert. Das Antirotationssegel wird auf der Vorderseite in Richtung Füße angebracht. Es erfolgt eine Sichtkontrolle durch das gesamte anwesende Team und das Signal an die
Hubschrauberbesatzung gegeben, bereit zum Abtransport zu sein. 5. Aufwinchen und Einladen Der Notarzt hängt sich und dann den Rettungssack in den Windenhaken ein. Unter erneuter Sichtkontrolle und Blickkontakt zum Windenoperator gibt er das o.k.-Handzeichen, bereit zum Aufwinchen zu sein. Zu diesem Zeitpunkt wird nochmals geprüft, ob alle terrestrischen Sicherungen abgebaut sind, die den Hubschrauber fesseln würden. Die Patientenüberwachung durch den Notarzt erfolgt visuell. Er hat den Patienten, den Monitor und falls beatmet den gesicherten Atemweg im Blick. Seine rechte Hand kontrolliert das Antirotationssegel, ggf. beatmet er mit seiner linken Hand den Patienten Nach dem Aufwinchvorgang wird der Patient in enger Absprache mit dem Windenoperator (Intercom, Handzeichen) in den Innenraum des Hubschraubers verladen. Bei Überlängen des Patienten ist es u.U. einfacher, mit dem Rettungssack an der Winde über eine 180 Grad Rechtsdrehung zuerst mit den Füssen in den Innenraum zu gelangen.
2.3
Pathophysiologische Besonderheiten und typische Krankheitsbilder
Einsatzorte in exponierten und schwierigen Lage bringen für die Patienten neben den Verletzungsfolgen oder vorliegenden Erkrankung einige zusätzliche Belastungsfaktoren mit sich. Im Folgenden sei nur ein kurzer Überblick gegeben: Hypothermie In exponierten Lagen mit längerer Liegezeit muss bei Patienten immer auch an eine die eigentliche Verletzung oder Erkrankung begleitende und dann aggravierende Unterkühlung gedacht werden. Die Mehrzahl der Patienten weißt eine Köpertemperatur > 28°C auf. Bei Versorgung dieser Patienten kann die zu schnelle Rezirkulation peripheren kalten Blutvolumens nach
zentral zu gefährlichen Herzrhythmusstörungen bis zu Reanimationssituationen führen (Luxem 2010). Insolation Die zu lang andauernde direkte Sonneneinstrahlung auf den Kopf und den Nackenbereich führt ohne Kopfbedeckung zu einer meningealen Irritation bis in schweren Fällen zu einem Hirnödem. In besonders schweren Fällen kommt es zu allen Zeichen des erhöhten Hirndruckes (Enke et al. 2015). Gefahrgutexposition Das Arbeiten in exponierten ist häufig auch mit der Exposition mit Gefahrengut verbunden (z.B. Industrieanlagen, Landwirtschaft). Hier ist zuerst eine vollständige Information über die Art des Gefahrgutes und möglicherwiese des Austrittortes zu erlangen, bevor die Retter den Einsatzort betreten. Erschöpfung Mangelnde Kraft und mentale Ermüdung der Patienten, die oftmals auch unabhängig voneinander auftreten, haben dann Koordinierungsunsicherheiten zur Folge, die wiederum ein erhöhtes Unfallrisiko mit sich bringen. Oft ist auch eine gestörte Thermoregulation zu beobachten (Schommer u. Bärtsch 2011). Erschöpfte Patienten sind sehr schonend zu transportieren. Trauma Verletzungen stellen den größten Anteil der Bergrettungseinsätze dar. Beim verletzten Bergwanderer ist gehäuft mit Wirbelsäulen-, Becken- und Schädel-Hirn-Verletzungen zu rechnen. Bei Mountainbikern stellen Verletzungen der oberen Extremitäten die größte Verletzungsgruppe. Den Ski- und Snowboardverletzungen betreffen häufiger die unteren Extremitäten (Brucker et al. 2014). Abgestürzte Gleitschirmflieger weisen häufig Wirbelsäulenverletzungen am thorakolumbalen Übergang auf (Mort u. Godden 2011). Der erfahrene Notarzt wird sich auf die Maßnahmen des unmittelbaren Lebenserhalts beschränken, um die präklinische Zeit so gering wie möglich zu halten (Matthes et al. 2015). Die
Basisgrundsätze des Prehospital Trauma Life Support (PHTLS) (Wölfl et al. 2008) gelten jedoch weiter: Airway: Atemwegssicherung, Schutz der Halswirbelsäule Breathing: Atmung und Oxygenierung sicherstellen Circulation: Kreislauf stabilisieren, Blutungskontrolle Diagnosis: Diagnostik neurologischer Störungen, GCS erheben Exposure/Environmental Control: Ausziehen, Umgebung, Unfallmechanismus
2.3.1 Das Hängetrauma mit Kapp-Rettung Das bewegungslose Hängen im Seil über 20 Minuten kann die Pathomechanismen des Hängetraumas auslösen (Lechner u. Lobensteiner 2015). Das auch Suspensions-Syndrom genannte Krankheitsbild wird durch hinzukommende Erschöpfungszustände, Unterkühlung, Verletzungen und psychische Belastungen noch aggraviert. Durch Minderung des venösen Rückstroms aus den abhängigen Körperpartien tritt eine relative Hypovolämie auf. Sympatho-adrenerge Gegenregulationen sind zügig ausgereizt, der Patient klagt über Ohrensausen, Schwindel, Übelkeit und Parästhesien in den unteren Extremitäten. Ist der Abgestürzte nicht mehr aktiv in der Lage, z.B. seine Muskelpumpe über eine Trittschlinge zu nutzen, kommt es zum Versacken des Blutes und zum orthostatischen Schock (Mortimer 2011). Wird der Verunfallte nicht schnell aus seiner hängenden Position befreit, kommt es zum Kreislaufversagen. Die nötige Crashrettung erfolgt oft in Form einer s. g. Kapp-Rettung (s. Abb. 6). Da eine medizinische Versorgung selten vorher möglich ist, erfordert die Bergung eine hohe Schmerztoleranz des Patienten. Erst am sicheren Zwischenlandeplatz kann der Verletzten notärztlich behandelt werden. Einige Autoren postulieren, dass eine sofortige horizontale Umlagerung des Patienten wegen des raschen Volumenrückstromes aus abhängigen Perfusionsgebieten und der konsekutiven Gefahr einer akuten Rechtsherzbelastung vermieden werden soll.
Abb. 6
Hängetrauma und Kapp-Bergung (mit freundlicher Genehmigung der ADAC Luftrettung gGmbH)
2.3.2 Der kardiovaskuläre Notfall Das akute Koronarsyndrom gehört zu den häufigsten Krankheitsbildern im Rettungsdienst – dies gilt auch für das alpine/maritime Einsatzsetting. Aufgrund der insgesamt hohen Infarkt-bedingten Letalität von 11 bis 18% ist auch mit einer relativ hohen Inzidenz bereits präklinisch tödlicher Komplikationen zu rechnen (Kuch et al., 2009). Um die Chancen für ein gutes Outcome zu verbessern, kommt es ganz wesentlich auf eine schnelle Diagnosestellung und adäquate Akutversorgung an, wozu insbesondere der schnellstmögliche Transport in ein Zentrum mit ständiger Vorhaltung der Reperfusionstherapie (PCI) gehört (Fischer et al. 2016).
2.4
Therapeutische Strategien und Einsatzablauf
2.4.1 Grundsätzliche Überlegungen Medizinische Notfallversorgung im schwierigen Gelände stellt eine zunehmende Herausforderung für die beteiligten Rettungsdienste dar. Bevor mit der eigentlichen medizinischen Versorgung begonnen werden kann, treten oftmals am Einsatzort Sicherheitsfragen für das Einsatzteam auf, die zunächst von der Bergwacht gelöst werden müssen. Damit verschiebt sich die Priorität im Einsatzablauf hin zu Gelände- und Wetterbedingungen und bedarf damit zwingend einer sehr guten Einsatzplanung.
2.4.2 Medizinische Versorgungskonzepte Ziel ist es, wie im normalen Rettungsdienst auch, innerhalb von 90 Minuten nach Eintritt des Notfalls im weiterversorgenden Krankenhaus einzutreffen (Fischer et al. 2016). Daher muss am Einsatzort im schwierigen Gelände die zur Verfügung stehende Behandlungszeit und Möglichkeit gegenüber einem schnellen Transport ins Zielkrankenhaus abgewogen werden. Wenn eine kardio-pulmonale Stabilisation des Patienten mit minimal-invasiven therapeutischen aber ausreichenden Mittel erreicht ist, sollte deshalb zügig der Transport ins weiterversorgende Krankenhaus beginnen. Grundsätzlich sind drei verschiedene Versorgungskonzepte zu nennen. Diese bilden den Entscheidungsrahmenrahmen eines situationsgerechten Einsatzablaufes. Den Patienten möglichst schnell vom Einsatzort in ein Krankenhaus zu bringen. Verletzungen bzw. Erkrankungen, die präklinisch nicht beherrschbar sind Gefährdung am Notfallort (s. Abschnitt 2.3.1) drohende wetterbedingte Blockierung Treat and run: Die Patientenversorgung auf dem schnellen Transport. Zeit am Einsatzort wird möglichst kurz gehalten bei schwierigem Gelände oder Wetter Einschränkung auf lebensrettende Maßnahmen am Einsatzort Gabe von Analgetika und Fixation (z.B. Stiff Neck, SAMSplint) Intubation beispielsweise während dem Flug nach SOP Stay and play: Versorgung am Einsatzort, solange bis der Patient stabil ist. ausreichend Platz und genügend kompetente Helfer am Einsatzort Möglichkeit der effektiven Behandlung Load and go:
2.4.3 Maßnahmenpakete
Im Spannungsfeld der genannten Versorgungskonzepte kommen folgende Maßnahmenpakete um Einsatz: 1. Schmerztherapie, Zugang, Infusionstherapie Mit einer ausreichenden Schmerztherapie sollte sofort begonnen werden. Dabei sollten Analgetika wenn möglich intravenös appliziert werden, alternativ ist eine nasale oder im Ausnahmefall auch eine intraossäre Applikation in Betracht zu ziehen. Ein liegender intravenöser Zugang macht nicht zwingend eine Infusion nötig, die Indikation zur Volumentherapie sollte eng gestellt werden. 2. Wundverbände, Schienung, Fixation Offene Wunden sowie Frakturen sollten abgedeckt werden. Instabile Frakturen der Extremitäten oder Wirbelsäulenverletzungen erfordern, auch u.a. zur Schmerzreduktion, eine Schienung (z.B. SAM-Splint oder Vakuumschiene) bzw. eine Vakuummatratze als Einlage im Bergesack. 3. Schutz vor Auskühlung Die meist offene Exposition Unfallverletzter führt zu schneller Auskühlung. Der Schutz vor Wind und die schnelle Nutzung eines Bergesackes verhindert die negativen Folgen einer Unterkühlung, wie Herzrhythmus- und Gerinnungsstörungen. 4. Monitoring Bei einer technischen Rettung muss ggf. auf ein umfangreiches Monitoring (Sauerstoffsättigung, Blutdruck, EKG, Temperatur) des Patienten zugunsten des klinischen Blickes verzichtet werden. Oftmals ist ein Fingertipp mit einer Sauerstoffsättigungsmessung völlig ausreichend. 5. Beatmung Die Sicherung der Atemwege mit einer Larynxmaske oder einem endotrachealen Tubus muss immer in einer NutzenRisiko-Abwägung entschieden werden. Goldstandard aber auch hier bleibt die endobronchiale Intubation Die Intubationsbedingungen sind fast immer durch Sonneneinstrahlung und eingeschränkte Lagerungsmöglichkeit
nicht optimal. Hier ist die standartisierte Mitführung eines Videolaryngoskops hinischtlich Patientensicherheit entscheidend. Für die andauernde technische Rettung sollte eine sichere Fixierung des Tubus vorhanden sein. Im Bergesack wird der beatmete Patient in einer standardisierten Zusammenstellung des Beatmungsgerätes-/beutels mit Sauerstoffflasche sowie des Monitorings transportiert. Dieses Vorgehen vereinfacht die Kommunikation in der Gruppe der Retter und im Hubschrauber nach dem Aufwinchen erheblich. Die Verwendung einer Kapnometrie ist Standard. 6. Reanimation Der Erfolg einer kardio-pulmonale Reanimation im schwierigen Gelände wird so gut wie immer durch die nachteiligen Faktoren wie längere Eintreffzeit, widrige Umstände am Einsatzort und Anzahl (geeigneter) Helfer nachteilig beeinflusst. Der Einsatz mechanischer Reanimationshilfen kann an dieser Stelle insbesondere im Kontext Hypothermie/Lawinenrettung sinnvoll sein (Gaißer u. Schanderl 2014).
2.4.4 Das Trauma Bundle Die Mehrzahl der im alpinen Umfeld Behandelten sind verletzte Patienten. Die interdisziplinäre S3-Richtlinie zur Behandlung schwerverletzter und polytraumatisierter Patienten der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie e.V. (Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie 2022) zur Grundlage nehmend, wird ein sogenanntes Maßnahmenbündel (engl. Care Bundle) definiert, um eine zielgerichtete Behandlung mit möglichst geringen Komplikationen sicherzustellen (Matthes et al. 2015). Die einzelnen Elemente dieses Maßnahmenbündels orientieren sich an dem ABCDE-Konzept und setzen sich aus evidenzbasierten Empfehlungen der S3-Leitlinien zusammen.
2.5
Zusammenfassung in Checklisten
Die zuständige Rettungsleitstelle alarmiert die Hubschrauberbesatzung. Abhängig vom Ort, vom Wetter, von der Dauer des Anfluges und vom
medizinischen Meldebild wird im Team vor dem Start folgendes Fragenschema abgearbeitet. Vorbereitung eines Windeneinsatzes Ausbau der Patiententrage sofort oder ggf. erst am Zwischenladeplatz? Anflug mit Windenoperater vorn im Cockpit oder hinten – bereit, die Winde sofort einzusetzen (Direktanflug zur Einsatzstelle oder Zwischenlandeplatz)? Anziehen der Gurte MedCrew und Windenoperator sofort oder ggf. erst am Zwischenlandeplatz? Innenraumsicherungen im Hubschrauber sofort einhängen oder ggf. erst später?
Einsatztaktische Entscheidungen während des Anfluges werden von Medizinischer und Flight Crew gemeinsam getroffen. Folgende Fragen stellen sich regelmäßig. Auf dem Weg zum Einsatz Wie zeitkritisch ist der Einsatz, d. h. wie schwer verletzt oder erkrankt ist der Patient? Wie setzt sich das Team der Retter beim ersten Windenvorgang zusammen? Wie (alpin) anspruchsvoll ist das Einsatzgelände? Ist am Einsatzort eine adäquate Patientenversorgung möglich und sinnvoll? Landet der Hubschrauber nach Absetzen des ersten Teams oder kann/muss in der Luft gewartet werden (Treibstoff ausfliegen, um Gewicht zu reduzieren)? Der Originalbeitrag wurde von Dr. med. Thomas van Boemmel und Dr. med. Matthias Vogel verfasst.
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3
Maritimes Umfeld
Markus Stuhr und Jens Kohfahl
3.1
Einsatzbedingungen und Risikobewertung
Die Bewältigung von medizinischen Notfällen auf hoher See stellt die eingesetzten Rettungskräfte vor besondere Herausforderungen. Als Notfallort kommen zahlreiche Möglichkeiten in Betracht, da in der Nordund Ostsee einige der meistbefahrenen Seewege der Welt verlaufen und diese Seegebiete auch sehr beliebte Reviere für Wassersportler aller Art darstellen. Neben Handelsschiffen aller Art und Größe (sog. Kauffahrteischifffahrt) kommen auch die zahlreichen Fährschiffe, Behörden-, Lotsen- und Fischereifahrzeuge sowie Sportboote aller Art als Notfallorte infrage. Einen weiteren großen und wichtigen Bereich stellen die Kreuzfahrtschiffe dar, die zwar über eigene medizinische Ressourcen (Schiffsarzt, Bordhospital) verfügen, im Falle eines zeitkritischen Notfalls aber auch auf externe Unterstützung angewiesen sind. Mit den OffshoreWindparks ist in den letzten Jahren eine ganz neue technisch-logistische Herausforderung auf hoher See entstanden. Neben dem Faktor Zeit spielt die Erreichbarkeit des Notfallortes eine große Rolle. Es ist ganz offensichtlich, dass v.a. die Nordseeeinsatzgebiete teilweise ungeschützt stürmischen Westwindwetterlagen ausgesetzt sind. Dies betrifft die offene See sowie die der Küste vorgelagerten Inseln. Im Bereich der Flussmündungen (Elbe, Weser, Ems) und den Seegatten (Einfahrten zwischen den Inseln) kommt noch starke Strömung hinzu, was im ungünstigen Fall (Strom gegen Wind) zu erheblichem Seegang führen kann. Meistens sind Schiffe der Ort des Einsatzes, sodass sich auch der „Einsatzort“ – in Abhängigkeit von der herrschenden Witterung – in einer permanenten Bewegung befindet. Neben den dadurch entstehenden Schwierigkeiten für die Patientenversorgung können auch die Rettungskräfte beeinträchtigt werden, z.B. durch Seekrankheit. Vor dem Einsatz auf See sollten sich Einsatzkräfte daher kritisch prüfen, ob das
„maritime Umfeld“ als Arbeitsumgebung überhaupt infrage kommt. Im Falle der Zuführung der Rettungskräfte per Hubschrauber steht nur in ganz seltenen Fällen (z.B. auf der Ölförderplattform „Mittelplate“) ein Hubschrauberlandedeck zur Verfügung, sodass in aller Regel sowohl für die Zuführung des Personals als auch die Rettung des Patienten der Einsatz einer Rettungswinde notwendig ist. Das eingesetzte Personal muss hierfür ausgebildet sein und entweder durch Einsätze oder aber geeignete Simulationstrainings regelmäßig in Übung gehalten werden.
3.1.1 Handelsschiffe Schiffsbesatzungen sind auf hoher See in medizinischen Notfallsituationen nahezu immer auf sich allein gestellt, da die Zuführung notfallmedizinischer Handlungskompetenz durch geeignete Rettungskräfte (z.B. Notarzt, Rettungsassistent/Notfallsanitäter) und Rettungsmittel (insbesondere Hubschrauber) nur in deutlich verlängerten Zeiträumen, nicht selten auch erst nach Tagen (wenn die Schiffe sich in Landnähe befinden), möglich ist. Mit den Standards an Land vergleichbare notfallmedizinische Hilfsfristen sind in diesem Umfeld daher nicht einzuhalten und im gesetzgeberischen Sinne auch nicht vorhanden. Es zeigt sich bereits hier eine ganz wesentliche Problematik von medizinischen Notfällen im maritimen Umfeld: die verlängerte Dauer des notfalltherapiefreien Intervalls. In logischer Konsequenz können auch entsprechende Einsätze einen sehr langen Zeitraum in Anspruch nehmen (bis hin zu mehreren Stunden bei langen Anfahrts- und auch Transportzeiten) und das eingesetzte Rettungspersonal für eine lange Zeit binden (Stuhr et al. 2015; Flesche u. Hertig 2008). Im Unterschied zu Kreuzfahrt- oder Forschungsschiffen befindet sich an Bord eines Handelsschiffes in aller Regel kein Arzt, da dieser nach § 6 der Schiffsbesetzungsverordnung (SchBesV) erst ab einer Personenzahl von 100 an Bord vorgeschrieben ist. Die Ausstattung von zivilen Schiffen unter deutscher Flagge mit Medikamenten, medizinischen Instrumenten und Hilfsmitteln ist aber nach dem sog. „Stand der medizinischen Anforderungen in der Seeschifffahrt (Stand der medizinischen Erkenntnisse)“ geregelt. Für die medizinische Versorgung an Bord ist der Kapitän verantwortlich. Alle Medikamente und Instrumente sind fortlaufend nummeriert und diesen Nummern auf allen Schiffen
identische Produkte zugeordnet, die an definierter Position in einer normierten Bordapotheke vorgehalten werden. Erst diese Vereinheitlichung und Strukturierung macht eine seefunkärztliche Beratung durch ein TMAS („Telemedical Maritime Assistance Service“) aus der Ferne sinnvoll möglich (Flesche u. Hertig 2008).
3.1.2 Kreuzfahrtschiffe Im Gegensatz zu den Kauffahrteischiffen ist an Bord von Kreuzfahrtschiffen sowohl ein medizinisches Team als auch eine medizinische Ausstattung vorhanden. Die Arbeit als Schiffsarzt ist sehr vielfältig und setzt eine breite Ausbildung und Qualifikation voraus. Gegebene stationäre Überwachungsmöglichkeiten an Bord stoßen an Grenzen, wenn eine zeitkritische medizinische Versorgung beispielsweise bei akuten neurovaskulären/kardiovaskulären Erkrankungen oder schweren Traumata notwendig ist, sodass sich in Abhängigkeit von der Seeposition des Schiffes auch die Frage einer Evakuierung stellen kann. Die hierfür notwendigen Maßnahmen sind Teil der Rollenpläne des Schiffes und bedürfen einer regelmäßigen Übung.
3.1.3 Wassersport Neben der Berufsschifffahrt stellt die Sportschifffahrt einen bedeutenden Anteil der sich auf dem Wasser befindlichen Menschen. Dabei kommt es immer wieder zu Notlagen auf See. Diese können grundsätzlich in technische Notlagen (z.B. Manövrierunfähigkeit durch Motor- und Ruderausfälle oder Mastbrüche bei Segelschiffen) und medizinische Notlagen (z.B. „Person über Bord“ oder klassische Notfallsituationen wie z.B. der V.a. Herzinfarkt oder Schlaganfall) unterteilt werden. Der klassische Seenotfall stellt oft eine Kombination mehrerer Faktoren dar. So kann z.B. die Besatzung eines Sportbootes durch den Verlust der Ruderanlage oder bei drohender Strandung in einem Sturm in eine akut bedrohliche Situation geraten, oder wenn sie durch Untergang des Bootes zum Besteigen einer Rettungsinsel (s. Abb. 1) mit der Gefahr von Unterkühlung und Seekrankheit gezwungen ist.
Abb. 1
Voll besetzte Rettungsinsel im Rahmen einer Übung (Foto: Markus Stuhr)
3.1.4 Bauwerke auf hoher See Plattformen Im Bereich der deutschen Ausschließlichen Wirtschaftszone von Nord- und Ostsee (AWZ, s. Abb. 2, dunkleres Blau) existieren nur wenige Plattformen (z.B. Forschungsplattformen FINO 1–3, Ölförderplattform „Mittelplate“), die im Hinblick auf das Notfallgeschehen eine eher untergeordnete Rolle spielen. Mit Ausnahme der Plattform FINO 2 verfügen sie alle über ein Hubschrauberlandedeck. Hinzu kommen die Umspann- und Wohnplattformen der Offshore-Windparks (s. Kap. II.6 zu Windenergieanlagen).
Abb. 2
Einsatzgebiet und Stationen der DGzRS-Flotte (die gestrichelte Linie beschreibt die Grenze der ausschließlichen Wirtschaftszone) (mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger, Grafik: Bernd Jocham)
Offshore-Windenergieanlagen Eine neue Entwicklung der jüngeren Zeit stellen die Offshore-Windparks dar. Diese werden in einer Entfernung von teilweise über 100 km von der Küste entfernt errichtet und betrieben. Zur Evakuierung von Erkrankten und Verletzten werden betriebsseitig durch entsprechende Vertragspartner Rettungshubschrauber mit einer notfallmedizinischen Ausstattung vergleichbar einem RTH vorgehalten. Neben der notwendigen fliegerischen Besatzung verfügen diese über einen Winden-Operator, HEMS-TC und Notarzt (s. Kap. II.6 zu Windenergieanlagen).
3.1.5 Ausbildung des Personals Grundvoraussetzung für eine Tätigkeit in der Seenotrettung oder an Bord eines über Seegebieten eingesetzten Hubschraubers ist die körperliche Fitness und Eignung sowie die Befassung mit umfeldspezifischen
Besonderheiten wie sie z.B. die Deutsche Gesellschaft für Maritime Medizin vorgeschlagen hat (s. Tab. 1) Tab. 1
Curriculum „Einführungslehrgang in die maritime Notfallmedizin“ der Deutschen Gesellschaft für Maritime Medizin (DGMM) (aus Stuhr et al. 2015)
Schiff und Besatzung Seemannschaft und nautische Bedingungen Bordorganisation, interne und externe Ressourcen Sicherheits- und Rettungseinrichtungen an Bord
Persönliche Sicherheit Eigensicherung Persönliche Schutzausrüstung Seekrankheit
Spezielle maritime Notfallmedizin Medizinische Ausrüstungsstandards auf Schiffen Schiffsspezifische psychologische Belastungen Interkulturelle Verhaltensmuster Akute und protrahierte Versorgung von Brandverletzungen Ertrinken und Hypothermie Risiken durch Infektionskrankheiten und Gefahrgut Funkärztlicher Beratungsdienst, „Standard Marine Communication Phrases“ Forensische Besonderheiten, ärztliche Schweigepflicht, Todesfeststellung an Bord
In Abhängigkeit vom eingesetzten Rettungsmittel (Schiff vs. Hubschrauber) sollten die dort tätigen Rettungskräfte regelhaft und verpflichtend durch Kurse wie „Überleben auf See“ (s. Abb. 3) und „Unterwasserausstiegstraining“ (sog. „HUET“: Helicopter Underwater Escape Trainer, s. Abb. 4) für die Gefahren und Besonderheiten im maritimen Umfeld sensibilisiert und im Umgang mit eigenen Notlagen trainiert werden. Die erfolgreiche Versorgung von kritisch kranken und/oder verletzten Menschen in der rauen und grundsätzlich lebensfeindlichen Umgebung des Meeres setzt zudem eine optimale Teamarbeit voraus. Die sog. „nontechnical skills“ bekommen hier noch mehr Bedeutung als an Land. Komplexe Szenarios (z.B. ein schwerverletzter Maschinist im Maschinenraum eines großen Schiffes) und herausfordernde Situationen
(z.B. hohe Windstärken mit entsprechendem Wellengang) setzen eine sehr hohe notfallmedizinische Kompetenz und insbesondere Erfahrung als zwingend voraus, da ein sehr großer Teil der situationsbedingten Aufmerksamkeit durch die maritimen Rahmenbedingungen gebunden ist.
Abb. 3
Übung aus dem Lehrgang „Überleben auf See“ (Foto: Markus Stuhr)
Abb. 4
Helicopter Underwater Escape Trainer der Marine (Foto: Markus Stuhr)
3.2
Technische Sicherungs- und Rettungsverfahren
3.2.1 Seenotrettung, Such- und Rettungsdienst (Search and Rescue, SAR) Für den Rettungsdienst im unmittelbaren Küstensaum sowie die Schiffsbrandbekämpfung sind die Bundesländer zuständig. Jenseits des unmittelbaren Küstensaums liegt die Zuständigkeit beim Bund, der die hoheitliche Aufgabe der Seenotrettung an die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) übertragen hat. Die Luftnotrettung – ob über Land oder See – obliegt dem Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) und damit der Bundeswehr (Flesche u. Toepfer 2013). Wasserfahrzeuge Die DGzRS betreibt entlang der deutschen Nord- und Ostseeküste ein Netz aus gut 60 Einheiten auf 55 Stationen (s. Abb. 2) von kleinen Seenotrettungsbooten bis zu großen Seenotrettungskreuzern, die zusätzlich jeweils ein Tochterboot für Flachwassereinsätze und zur Rettung Schiffbrüchiger unmittelbar aus dem Wasser mitführen. Die rund um die Uhr besetzten Seenotrettungskreuzer werden von professionellen Berufsseeleuten mit einem entsprechenden Patent gefahren (Nautiker und Maschinisten). Die rund 40 kleineren Seenotrettungsboote werden von Freiwilligen gefahren, sie stellen vier Fünftel der Mannschaften der DGzRS und erhalten dieselbe professionelle SAR-Dienst-spezifische Ausbildung wie ihre festangestellten Kollegen. Bei den Einsätzen überwiegen technische Hilfeleistungen (z.B. Schlepphilfe, Leck- oder Brandbekämpfung), während medizinische Einsätze mit im Schnitt 20% aller jährlichen Einsätze eher seltener sind. An Bord der Seenotrettungskreuzer befindet sich jeweils mindestens ein ausgebildeter Rettungssanitäter. Alle Seenotretter der DGzRS sind mindestens in erweiterter Erster Hilfe ausgebildet. Die DGzRS kann für ihre Aufgaben auf regionaler und insbesondere lokaler Ebene auf Unterstützung durch ortsansässige und in den regulären Rettungsdienst eingebundene Ärzte zurückgreifen, die im Bedarfsfall die Besatzung eines Seenotrettungskreuzers ergänzen können. Koordiniert werden die Einsätze von der durch die DGzRS betriebenen deutschen Rettungsleitstelle See in
Bremen, im internationalen Sprachgebrauch bekannt als Maritime Rescue Coordination Centre (MRCC). Erschwerend zum Seegang kommen oft auch Regenschauer, Dunkelheit und Kälte hinzu, die das ohnehin schon schwierige und gefahrgeneigte Übersteigen von einem Schiff auf ein anderes unmöglich machen können. Auch das Abbergen von Patienten auf einen Seenotrettungskreuzer setzt Übung und regelmäßiges Training voraus (s. Abb. 5).
Abb. 5
Patientenversorgung auf einem Seenotrettungskreuzer (Foto 1 und 3: Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger; Foto 2: Peter Neumann, YPScollection)
Luftfahrzeuge Die Deutsche Marine unterhält einen SAR-Dienst zur Hilfeleistung bei Unfällen mit militärischen See- und Luftfahrzeugen auf See und im Küstenbereich. Im Rahmen der gegenseitigen maritimen Sicherheitspartnerschaft werden diese Einheiten aber auch bei sonstigen Notfällen alarmiert. Vom Geschwader in Nordholz wird dafür mindestens eine Maschine vom Typ NH-90 NTH Sea Lion mit Rettungswinde vorgehalten (s. Abb. 6), die mit zwei Hubschrauberführern, einem Luftfahrzeugoperationsoffizier und einem Bordmechaniker mit medizinischem Ausbildungstand (Rettungssanitäter) besetzt ist.
Abb. 6
NH-90 NTH Sea Lion bei Winchex mit einem Seenotrettungskreuzer der DGzRS (Foto: Die Seenotretter – DGzRS)
Im Einzelfall besteht die Möglichkeit – ähnlich zum Vorgehen bei der DGzRS – einen Notarzt an Bord zu nehmen. Sollte dieser Hubschrauber nicht verfügbar sein, besteht die Möglichkeit, Hubschrauber vom Typ „Super Puma“ der Bundespolizei einzusetzen, die ebenfalls über eine Rettungswinde verfügen. Aus dem öffentlich-rechtlichen Luftrettungsdienst ebenfalls verfügbar ist der in Sande stationierte und mit einer Winde ausgestattete Rettungshubschrauber Christoph 26 der ADAC Luftrettung gGmbH. Nicht zuletzt kann die von der DGzRS betriebene deutsche Rettungsleitstelle See auch Hubschrauber privater Betreiber, die für Notfälle auf Offshore-Windenergieanlagen vorgehalten werden, für Rettungseinsätze über See einsetzen.
3.2.2 Massenanfall von Verletzten auf See Zur Bewältigung von sog. komplexen Schadenslagen wurde im Jahr 2003 das Havariekommando (HK) als eine gemeinsame Einrichtung des Bundes und der fünf Küstenländer in Cuxhaven in Dienst genommen. In den Küstenbundesländern sowie Bremen und Hamburg wurden für die Brandbekämpfung und Verletztenversorgung Einsatzkräfte der Feuerwehren und Notärzte speziell ausgebildet und für Großschadenslagen in Maritime Incident Response Groups (MIRG) zusammengefasst. In Einsätzen hat sich gezeigt, dass neben der Problematik seekrank werden zu können
insbesondere die logistischen Fragen wie z.B. die Zuführung der Einsatzkräfte erhebliche Herausforderungen darstellen.
3.3
Physiologische und pathophysiologische Besonderheiten
3.3.1 Hypothermie und Ertrinken Neben allen auch an Land denkbaren Notfallsituationen stellen Hypothermie und Ertrinkungsunfälle klassische „maritime“ Einsatzindikationen dar. Der Ertrinkungsunfall wird definiert als ein Ereignis, bei dem es durch Untertauchen in eine Flüssigkeit (Immersion = teilweises Untertauchen vs. Submersion = vollständiges Untertauchen) zu einer respiratorischen Störung kommt (Szpilman et al. 2012). Sofern ein Schiffbrüchiger nicht primär an einer Hypoxie nach Ertrinkungsunfall verstirbt, sondern noch schwimmfähig ist, bestimmt das Ausmaß der Hypothermie die Handlungsmöglichkeiten. Wesentliche Faktoren für das Überleben sind neben der Wassertemperatur die Begleitumstände wie z.B. das Vorhandensein einer Schwimmhilfe, das Alter und die körperliche Verfassung sowie Begleiterkrankungen. Je kälter das Wasser, desto geringer sind die Überlebenschancen. Unter medizinischen Gesichtspunkten betrachtet, ist bereits eine Wassertemperatur unter 25°C als „kalt“ anzusehen. Die meisten Regionen der Welt haben somit „kaltes“ Wasser, sodass eine potenzielle Gesundheitsgefährdung permanent gegeben ist (Buschmann et al. 2015).
3.3.2 Rettungskollaps und Afterdrop Nach einem Sturz ins Wasser können Verunfallte, die von Rettungskräften noch lebend erreicht wurden, unmittelbar vor, während oder nach der Rettung versterben. Dieser Vorgang wird als Rettungskollaps bezeichnet (Golden u. Tipton 2002). Er ist definiert als Herzstillstand im direkten Zusammenhang mit der Rettung und dem anschließenden Transport eines tief hypothermen Patienten. Er wird zurückgeführt auf eine Hypovolämie und kardiale Arrhythmien, ausgelöst durch z.B. Bewegung des Patienten
und weitere Auskühlung (Brown et al. 2012). Der sog. Afterdrop ist definiert als eine weitere Auskühlung des Körperkerns nach der Rettung, was in experimentellen Untersuchungen dokumentiert bzw. rückgeschlossen wurde als Diskrepanz zwischen der rektal gemessenen und der Körperkerntemperatur (Golden u. Tipton 2002). Unter Einsatz aktiver externer and minimal invasiver Wiedererwärmungsmethoden mit gleichzeitiger ösophagealer Temperaturmessung wurde ein Afterdrop bisher nicht berichtet (Brown et al. 2012). Der Afterdrop darf aber nicht verwechselt werden mit einer weiteren Auskühlung des Verunfallten, wenn aufgrund längerer Transportzeiten (z.B. im Hubschrauber nach Rettung auf See) der Schutz vor weiterer Auskühlung nur unzureichend durchgeführt wird oder situationsbedingt nicht ausreichend durchführbar ist. Nach Rettung aus dem Wasser kommt es durch Wegfall des hydrostatischen Drucks und dem zunehmenden Einfluss der Schwerkraft, bei bestehendem Volumenmangel, zu einem Abfall des arteriellen Blutdrucks und damit zu einem reduzierten kardialen Auswurfvolumen. Ob ein Immersionsunfall überlebt werden kann, hängt zusätzlich von der Verweildauer im Wasser ab, von dem Grad der Hypothermie und von der Art und Weise des Rettungsvorgangs (Körperhaltung horizontal oder vertikal und ob der Verunfallte sich bei der Rettung körperlich anstrengen musste). Auch Überlebende in einer Rettungsinsel sind oft unterkühlt und hypovolämisch und können ebenso infolge eines Rettungskollapses versterben.
3.4
Therapeutische Strategien
Die therapeutischen Strategien unterscheiden sich nicht wesentlich von denen an Land, müssen aber an die maritime Umgebung angepasst, bzw. ihr in bestimmten Fällen auch untergeordnet werden. So beeinflusst im Bereich der Seenotrettung das Wetter entscheidend alle Rettungsmaßnahmen. Auch das Seegebiet und nicht zuletzt die Tide spielen eine Rolle. Es macht einen erheblichen Unterschied, ob sich das Unglück bei Nordweststurm in der Elbmündung mit ablaufendem Wasser und dementsprechend hohem Seegang ereignet, da in diesem Fall der Strom gegen den Wind läuft oder unter relativem Landschutz zum Beispiel in der Lübecker Bucht.
Auf dem Weg zum Einsatz kurzes Teambriefing vor dem Ausrücken Persönliche Schutzausrüstung (4-Augen-Prinzip) angelegt/vorhanden? frühzeitige Kommunikation mit anderen Rettungseinheiten anstreben (z.B. DGzRS) enge Einbindung der Leitstelle insbesondere im Hinblick auf Kommunikation zwischen den eingesetzten Einheiten Eigenschutz: „Eine Hand für Dich – Eine Hand für das Schiff“ Eigenschutz: „Eine Hand für Dich – Eine Hand für den Patienten“ Bei Patienten, die direkt aus dem Wasser gerettet werden, ist – wenn möglich – auf eine schonende (horizontale) Rettung und einen schonenden Weitertransport an Bord zu achten. Sollte der Rettungsvorgang zu viel Zeit in Anspruch nehmen oder geraten die Atemwege bei der Rettung unter Wasser, dann muss der Verunfallte so schnell wie möglich gerettet werden.
Auf den Punkt gebracht Die Bewältigung von medizinischen Notfällen in einer maritimen Umgebung ist mit erheblichen Schwierigkeiten und Herausforderungen für die eingesetzten Rettungskräfte verbunden. Neben einer sehr guten physischen und psychischen Verfassung, der persönlichen Eignung, einer sehr hohen notfallmedizinischen Kompetenz und Erfahrung sind die Fähigkeiten, sich einer rauen und lebensfeindlichen Umgebung anzupassen und in dieser rasch und konsequent zu handeln von entscheidender Bedeutung für den Erfolg des Einsatzes. Regelmäßiges Training im Team in allen notwendigen Verfahren und Prozeduren schafft Handlungssicherheit und -ruhe, v.a. für besonders schwierige und langdauernde Einsätze.
Literatur Brown DJA, Brugger H, Boyd J, Paal P (2012) Accidental hypothermia N Engl J Med 367: 1930–1938 Buschmann C, Tsokos M, Kohfahl J (2015) Der Ertrinkungsunfall – Begriffe, Einteilungen und Befunde. Notarzt 31: 123–128 Flesche CW, Hertig J (2008) Notfallmedizin an Bord von Schiffen. Notfallmed up2date 3: 257–271 Flesche CW, Toepfer W (2013) Seenotrettung. In: Scholz J, Sefrin P, Böttiger B, Dörges V, Wenzel V (Hrsg.) Notfallmedizin, 3. Auflage 530–538, Thieme, Stuttgart, New York
Golden F, Tipton M (2002) Essentials of Sea Survival. Human Kinetics Pub Inc, 253–258 u. 245–253 International Maritime Organization IMO (2012) A Pocket Guide for Cold Water Survival. IMO Publication; 10–11 Stuhr M, Kohfahl J, Kerner T (2015) Maritime Notfallmedizin in der deutschen Nord- und Ostsee. Notarzt 31: 294–300 Szpilman D, Bierens JJLM, Handley AJ, Orlowski JP (2012) Drowning. N Engl J Med 366: 2102–2110
4
Einsätze bei Tauchunfällen
Stefan Braunecker und Katja Rücker
4.1
Einleitung
Während vor 20 Jahren die Zahl von Tauchsportlern in Europa gerade mal bei einer Millionen lag, gibt es heute allein in Deutschland mehr als fünf Millionen Sporttaucher (Statista 2022). Deutschland bietet mit seinen Seen und seiner Küstenregion viele Möglichkeiten zum Ausleben des Tauchsports. Auch wenn Tauchunfälle im normalen notfallmedizinischen Alltag eher eine untergeordnete Rolle spielen, müssen Rettungsdienstbereiche mit betauchbaren Gewässern auf die Behandlung möglicher Patienten vorbereitet sein. Obwohl der Tauchsport im Vergleich zu anderen Sportarten als relativ sicher gilt, gibt es jährlich eine bedeutende Anzahl an leichten bis schweren Tauchunfällen. Das Risiko für das Auftreten eines Dekompressionsunfalls ist dabei maßgeblich von den Bedingungen des Tauchgangs und den unter Wasser durchgeführten Arbeiten bzw. der körperlichen Belastung abhängig. Seit 1995 sammelt das Divers Alert Network (DAN) auf freiwilliger Basis Daten von Tauchern über deren Tauchverhalten. Aus den Daten von mehr als 137.000 Tauchgängen seit Beginn des Projektes ergibt sich eine konstante Inzidenz von 3,1 Dekompressionserkrankungen auf 10.000 Tauchgänge. In ihrem jährlichen Report, berichtet DAN von weltweit 228 tödlichen Tauchunfällen, wobei 124 auf das Sporttauchen entfallen (s. Tab. 1) (Denoble 2019). Tab. 1
Tödliche Tauchunfälle weltweit im Jahr 2017 (Denoble 2019)
Tauchart
Todesfälle (weltweit)
Sporttauchen
124
technisches Tauchen
13
ohne Tauchausbildung
4
Militär
3
Tauchschüler
2
Berufstaucher
1
Feuerwehr- und Rettungstaucher
1
unbekannt
23
apnoe Taucher
57
Gesamt
4.2
228
Dekompressionserkrankung (DCI)
Unter dem Begriff Dekompressionserkrankung oder „Decompression illness“ (DCI) werden Erkrankungen zusammengefasst, die aus der Verringerung des Umgebungsdrucks um einen Körper resultieren. Die DCI umfasst dabei zwei Erkrankungen: die Dekompressionskrankheit oder „Decompression sickness“ (DCS) und die arterielle Gasembolie (AGE). Während es bei der DCS zu einer Gasblasenbildung (Stickstoff) im Gewebe mit anschließender lokaler Schädigung kommt, handelt es sich bei der AGE um Luftblasen, welche durch Verletzungen der Lunge in den Lungenkreislauf übertreten und im Körperkreislauf zu einem Verschluss von arteriellen Gefäßen führen (s. Abb. 1).
Abb. 1
Übersicht über die Klassifikation der Dekompressionserkrankung (DCI) (Stefan Braunecker) (DCS: Dekompressionskrankheit, AGE: arterielle Gasembolie)
DCIs betreffen nicht nur Taucher, sondern auch Flugzeuginsassen, Astronauten und Druckluftarbeiter. Hauptrisiko für das Entstehen einer DCI ist die Verringerung des Umgebungsdrucks. Allerdings begünstigen auch andere Faktoren, wie z.B. tiefe und lange Tauchgänge, Dehydratation, kaltes Wasser, körperliche Anstrengung während des Tauchgangs und schnelle Aufstiege das Entstehen einer DCI. Vor allem schnelle Aufstiege sind eng mit dem Risiko einer AGE verbunden. Allerdings ist die Neigung zur Bildung von Mikroblasen individuell sehr unterschiedlich. Trotz gleichem Tauchprofils (Tiefe, Zeit, Luftgemisch) scheinen einige Taucher ein höheres Risiko für die Entwicklung einer DCI zu entwickeln als andere. Dies lässt vermuten, dass einzelne Risikofaktoren für das Entstehen einer DCS noch nicht identifiziert sind. Da die bekannten und unbekannten Risikofaktoren die Wahrscheinlichkeit für das Entstehen von Mikroblasen in vielfältigster Weise beeinflussen können, kann fast jedes Tauchprofil zu einer DCI führen. Aus diesem Grund muss die Untersuchung eines Tauchers für das Vorhandensein einer möglichen DCI von Fall zu Fall auf Grundlage der präsentierten Symptome und nicht anhand des Tauchprofils allein erfolgen.
4.2.1 Dekompressionskrankheit (DCS) Die Dekompressionskrankheit (DCS, auch Caisson-Krankheit genannt) ist das Ergebnis einer unzureichenden Dekompression nach einem erhöhten Umgebungsdruck. Je nach Schweregrad der Symptome lässt sich die DCS in eine leichte (DCS Typ I) und schwere (DCS Typ II) einteilen. Während es beim DCS Typ I lediglich zu Symptomen im Bereich der Haut (z.B. Juckreiz oder Hautausschlag) oder des Bewegungsapparates (Gelenkschmerzen, „Bends“) kommt, treten bei der DCS Typ II auch in anderen Bereichen des Körpers Symptome auf. Hierzu zählt vor allen Dingen die Beteiligung der Lunge, der Nerven (sensible und/oder motorisch; „Chokes“, „Staggers“) und des Herz-Kreislauf-Systems. Grundlage dafür ist der während des Tauchgangs im Körpergewebe absorbierte Stickstoff aus der Atemluft. Beim Auftauchen und der damit verbundenen Reduzierung des Umgebungsdrucks kommt es zum Ausperlen
des Stickstoffs (Mikroblasen) in das umliegende Gewebe und in den Blutstrom. Stickstoffblasen, die sich in oder in der Nähe von Gelenken bilden, sind die vermutete Ursache für den Gelenkschmerz einer klassischen „Bends“. Kommt es zu einem starken Ausperlen des Stickstoffs, z.B. nach langen und tiefen Tauchgängen und anschließendem schnellen Auftauchen, können auch komplexere Systeme wie Rückenmark oder Gehirn betroffen sein („Chokes“, „Staggers“). Als Folge kann es zu sensorischen und motorischen Ausfällen oder sogar zu Störungen höherer zerebraler Funktionen bis hin zur Bewusstlosigkeit kommen. Symptome für das Vorliegen einer DCS: ungewöhnliche Müdigkeit Hautjucken, fleckiger Hautausschlag Schmerzen in den Gelenken und/oder Muskeln der Arme, Beine oder Rumpf Schwindel Parästhesien, Lähmungen, Muskelschwäche Verwirrung, Verminderter GCS, Bewusstlosigkeit Kurzatmigkeit, Luftnot Symptome und Anzeichen für eine DCS treten gewöhnlich innerhalb von zehn Minuten bis zwölf Stunden auf (Klingmann u. Tetzlaff 2012). In schweren Fällen können die Symptome schon während des Auftauchens oder unmittelbar nach Erreichen der Wasseroberfläche auftreten. Ein verzögertes Auftreten ist selten – kann aber besonders bei einer weiteren Dekompression (z.B. Flugreise oder Passüberquerung) bis zu 48 Stunden nach dem Tauchgang auftreten. Obwohl es bei der DCS Typ I zu lokalen Symptomen kommt, handelt es sich trotzdem um eine systemische Erkrankung. Während die schwere DCS Typ II aufgrund der eindeutigen Symptome leicht zu identifizieren ist, lässt sich eine DCS Typ I oftmals nur schwer diagnostizieren. In vielen Fällen werden die vorliegen Symptome (ungewöhnliche Müdigkeit, Gelenk-/Muskelschmerzen) einer Überanstrengung, schwerem Heben (Tauchausrüstung) oder sogar einem
engen Neoprenanzug zugeschrieben. Eine frühzeitige und notwendige Therapie kann so verzögert oder sogar komplett übergangen werden. Als Folge kann es zu dauerhaften Schädigungen der Gelenke und des Knochens (Osteonekrose) kommen.
4.2.2 Arterielle Gasembolie (AGE) Aufgrund der Volumenzunahme von Gasen beim Auftauchen kann es bei schnellem Aufstieg zur Überdehnung und damit zur Verletzung der Lunge kommen. Als Folge kann es zum Übertritt von Luft in die kleinen Lungenarterien und damit zu einer arteriellen Gasembolie mit lokaler Ischämie kommen. Eine lebensbedrohliche Form stellt dabei die zerebralarterielle Gasembolie (CAGE), ein Gefäßverschluss analog zum Apoplex, dar. Vor allem in der Akutphase ist eine Differenzierung zwischen CAGE und DCS oft nicht möglich. Aufgrund der ähnlichen Symptomatik lassen häufig nur die zeitliche Dynamik, das Tauchprofil und das Auftreten begleitender Symptome einen Rückschluss auf die Erkrankungsursache zu (s. Tab. 2). Tab. 2
Entscheidungshilfe zur Differenzierung zwischen DCS und AGE DCS
Tauchprofil
Symptombeginn
Symptome
tiefer, langer Tauchgang Sättigungstauchgang Wiederholungstauchgang Minuten bis Stunden nach Tauchgang meist innerhalb von 3–6 Stunden Bewusstseinsstörungen Schwindel, Erbrechen neurologische Ausfälle
AGE schneller Aufstieg Notaufstieg von Tauchtiefe unabhängig unmittelbar nach Ende des Tauchgangs meist innerhalb von weniger Minuten Bewusstseinsstörungen Schwindel, Erbrechen neurologische Ausfälle kardiopulmonale Begleitsymptome Herz-Kreislauf-Versagen möglich
4.2.3 (Neurologische) Untersuchung Neben der kontinuierlichen Überwachung der Basis-Vitalparameter (Herzfrequenz, Blutdruck, Sauerstoffsättigung) steht vor allem die neurologische Untersuchung im Fokus. Die Untersuchung wird dabei in regelmäßigen Abständen wiederholt um eine Veränderung der Symptomatik frühzeitig zu erkennen. Die Verwendung von „Neurological Assessment Charts“ (z.B. von Divers Alert Network – DAN) können dabei bei der strukturierten Untersuchung helfen. Die neurologische Untersuchung sollte den Bewusstseinszustand (Glasgow Coma Scale), die kognitiven Fähigkeiten, die Funktion der Hirnnerven, die Reflexe und die Dermatome und Myotome umfassen.
4.2.4 Tauchprofile Das Tauchprofil hat einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung einer DCI. Vor allem Dauer, Tiefe und Aufstiegsverhalten (Dekompressions-/Sicherheitsstopps) geben einen Hinweis auf die mögliche Ursache (DCS/AGE) und die vorliegende Stickstoffbelastung. Auch Wiederholungstauchgänge oder Tauchgänge mit mehreren Aufstiegen („Jojo-Tauchgänge“) steigern das Risiko für das Entstehen einer Dekompressionserkrankung. Das getauchte Tauchprofil sollte dokumentiert und dem weiterbehandelten Arzt der Druckkammer mitgeteilt werden. Die Tauchgangsdaten können dafür bereits vor Ort (wenn auch nur begrenzt) aus dem Tauchcomputer ausgelesen werden (s. Abb. 2). Unter Umständen ist ein detailliertes Auslesen der Daten im Druckkammerzentrum möglich. Aufgrund der großen Vielfalt an Tauchcomputern auf dem Markt lässt sich dies aber nicht für alle Modelle gewährleisten.
Abb. 2
Tauchcomputer mit Tauchprofil (Foto: Stefan Braunecker)
4.3
Behandlung von Tauchunfällen
Ziel der Behandlung ist die frühestmögliche Wiederherstellung einer suffizienten Gewebeoxygenierung bei gleichzeitiger Reduktion der Stickstoffbelastung. Der in den aktuellen Leitlinien zur Behandlung von Tauchunfällen der Gesellschaft für Tauch- und Überdruckmedizin (GTÜM) veröffentlichte Algorithmus sieht dabei vor allem die Gabe von Sauerstoff (Stickstoffreduktion) und die Verabreichung von Flüssigkeit (Verbesserung der Gewebeperfusion) vor (s. Abb. 3) (GTÜM 2014).
Abb. 3
Leitlinie Tauchunfall der Gesellschaft für Tauch- und Überdruckmedizin (mit freundlicher Genehmigung des GTÜM e.V. 2022)
4.3.1 Reanimation (Basic life support/Advanced life support) Bei bewusstlosen Tauchern ohne erkennbare Eigenatmung erfolgt zunächst die Reanimation nach den aktuell gültigen Leitlinien. Da Ertrinken die häufigste Ursache von tödlichen Tauchunfälle darstellt, sollte während der Reanimation auf eine möglichst gute und frühe Oxygenierung geachtet werden.
4.3.2 Sauerstofftherapie Sauerstoffinhalation Im Gegensatz zu der im Rettungsdienst durchgeführten, konventionellen Sauerstofftherapie mit dem Ziel einer möglichst hohen Sauerstoffsättigung, ist die verbesserte Oxygenierung nur sekundäres Ziel der Sauerstoffapplikation bei Tauchunfällen. Im Vordergrund steht vor allem die Schaffung eines möglichst großen Stickstoffgradienten zwischen den Alveolen und dem Blut, um so möglichst schnell den Stickstoff aus dem Blut und damit auch aus dem Gewebe auszuwaschen. Der größtmögliche Gradient wird dabei durch die Inhalation von 100% Sauerstoff (0% Stickstoff) erreicht. Am besten wird dies über sogenannte Demand-Ventile erreicht. Die Verwendung von Gesichtsmasken (ohne Reservoir) führt selbst bei höchstem Flow nur zu einer inspiratorischen Sauerstofffraktion (FiO2) von ca. 0,6. Im Vergleich zur Atmung von Luft wird der Stickstoffgradient von
ca. 80% auf ca. 40% gesenkt und somit die Diffusion von Stickstoff aus dem Blut annähernd verdoppelt (Fick’sches Diffusionsgesetz). Erst unter Verwendung von Sauerstoffmasken mit Reservoir lässt sich der inspiratorische Stickstoffgehalt (FiN2) auf ca. 5% reduzieren und damit ein fast idealer Diffusionsgradient aufbauen. Der optimalste Gradient mit einem Stickstoffanteil von nahezu 0% wird durch Verwendung eines sogenannten Demand-Ventils erreicht (s. Abb. 4).
Abb. 4
Demandsystem zur Sauerstoffapplikation mit 100% Sauerstoff (Fa. Porter Instrument)
Auch wenn die Symptome innerhalb von 30 Minuten rückläufig sind, wird die Verabreichung von Sauerstoff bis zur taucherärztlichen Begutachtung fortgeführt. Sollte der vorhandene Sauerstoff nicht für den gesamten Transport reichen (z.B. auf einem Schiff) wird dennoch mit einem möglichst hohem Flow (>10L/min) begonnen. Die frühzeitige Herstellung einer größtmöglichen Partialdruckdifferenz zum Abatmen des während des Tauchgangs gelösten Stickstoffs ist primäres Ziel der Sauerstofftherapie. Nitrox Bei Nitrox handelt es sich um ein Gasgemisch mit verringerter Stickstofffraktion. Aufgrund des reduzierten Stickstoffanteils kommt es unter Verwendung von Nitrox zu einer Verlangsamung der Stickstoffaufnahme in den Körper. Eine Verringerung der Stickstofffraktion wird dabei durch „blenden“ von Luft mit Sauerstoff erreicht. Die nummerische Bezeichnung des Nitrox gibt dabei die Sauerstofffraktion des Gemisches an. Nitrox 32 entspricht dabei einem FiO2 von 0,32 und einem FiN2 von ca. 0,67. Da Nitrox einen geringeren Stickstoffanteil als die
Umgebungsluft besitzt, kann es im Notfall auch zum Auswaschen von Stickstoff aus dem Körper verwendet werden, solange Sauerstoff nicht verfügbar ist. Der Auswascheffekt ist dabei umso größer, je höher der Sauerstoffanteil im Nitrox ist. CPAP Der Stellenwert von nicht-invasiver Beatmung (NIV) in der Notfallmedizin hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Vor allem die Verwendung von kontinuierlichem positivem Atemwegsdruck (CPAP) ist heutzutage bei vielen pulmologischen, aber auch kardialen Krankheitsbildern etabliert. Obwohl sich mit CPAP die inspiratorische Sauerstofffraktion gegenüber einem Demandventil nicht weiter verbessern lässt, hilft der positive Druck kollabierte Alveolen zu rekrutieren und damit den Gasaustausch, bzw. das Auswaschen des Stickstoffs, zu verbessern. Die Anwendung von CPAP wird daher seit 2014 in den Leitlinien der GTÜM erwähnt (GTÜM 2022). Da der kontinuierliche Druck bei der CPAP-Beatmung bei gleichzeitigem Vorliegen eines Lungenbarotraumas zu einem Spannungspneumothorax führen kann, muss vor Verwendung von CPAP das Vorliegen eines Pneumothorax ausgeschlossen werden. Intubation Um auch bei intubierten Patienten ein rasches Auswaschen von Stickstoff zu gewährleisten, erfolgt die Beatmung bis zum Erreichen der Behandlungsdruckkammer mit 100% Sauerstoff (FiO2 1,0).
4.3.3 Flüssigkeitstherapie Bedingt durch die Immersion (Eintauchen bis zum Kopf) und Submersion (vollständiges Eintauchen) kommt es während des Tauchgangs zu einer Dehydration. Orale Flüssigkeitszufuhr Taucher, die selbstständig trinken können, sollen ca. 0,5–1 Liter Flüssigkeit trinken. Dabei sollte es sich nach Möglichkeit um isotonische,
kohlensäurefreie Getränke handeln. Taucher mit Bewusstseinsstörungen sollten keine orale Flüssigkeit erhalten. Infusionstherapie Ist eine orale Flüssigkeitssubstitution aufgrund eines reduzierten Bewusstseinszustands nicht möglich, so ist eine intravenöse Volumengabe erforderlich. Hierzu erfolgt nach Anlage eines i.v.-Zugangs die Verabreichung von 500 bis 1.000 ml Vollelektrolytlösung pro Stunde.
4.3.4 Medikamentengabe Bis auf die Anwendung von Sauerstoff gibt es aktuell keine Evidenz für die Verwendung von Medikamenten zur Verbesserung der Durchblutung. Eine Wirksamkeit von ASS, Heparin oder Cortison konnte bisher wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden und wird deshalb nicht empfohlen.
4.3.5 Hypothermie Aufgrund der guten Wärmeaufnahme von Wasser, kommt es beim Tauchen schnell zur Auskühlung. Um einen Wärmeverlust entgegen zu wirken, tragen Taucher je nach Jahreszeit Neoprenanzüge verschiedener Stärken oder gar Trockentauchanzüge. Dennoch kommt es vor allem in der kalten Jahreszeit und bei langen Tauchgängen immer wieder zu Unterkühlungen. Beim Vorliegen einer Hypothermie sollten Taucher schonend wiedererwärmt werden. Schlagartige Erwärmungen (heißes Duschen oder gar Saunagänge) können zu einem erhöhten Ausgasen von im Gewebe gespeicherten Inertgasen (Stickstoff), und einer damit verbundenen Gefahr einer Dekompressionserkrankung führen.
4.3.6 Rekompressionstherapie Die Rekompression stellt bis heute die einzige kausale Therapie von Dekompressionsunfällen dar und gilt heute als weltweiter Standard zur Behandlung von Dekompressionskrankheit und arterieller Gasembolie. Das
Grundprinzip der Rekompressionsbehandlung basiert auf der physikalischen Verkleinerung der Stickstoffblasen. Bei gleichzeitiger Einatmung von 100% Sauerstoff, der sogenannten hyperbaric oxygenation (HBO), kommt es zu einer beschleunigten Abatmung von Stickstoff. Als zusätzlichen Effekt kommt es durch den in Abhängigkeit des Umgebungsdrucks im Blut physikalisch gelösten Sauerstoffs zu einer Verbesserung der Gewebsversorgung. Entscheidend ist dabei nicht der hohe pO2 (z.B. bei 3,0 bar Druck: 2.000 mmHg), sondern die Tatsache, dass der physikalisch gelöste Sauerstoff deutlich weiter ins Gewebe diffundiert und so einzelne von der Blutversorgung abgeschnittene Gewebebereiche wieder mit Sauerstoff versorgen kann. Die HBO Therapie erfolgt anhand verschiedener Behandlungstabellen. Dabei zählt die US-Navy-Behandlungstabelle 6 mit ihren Modifikationen heute weltweit zu den meistangewandten Behandlungstabellen bei Tauchunfällen (s. Abb. 5).
Abb. 5
US-Navy-Behandlungstabelle 6 zur initialen Therapie nach Dekompressionsunfall (mit freundlicher Genehmigung des GTÜM e.V. 2022)
Eine Übersicht über die verfügbaren Druckkammern in Deutschland, Österreich und der Schweiz bietet die Seite der GTÜM: www.gtuem.org
4.3.7 Taucherärztliche Telefonberatung Um bei Tauchunfällen eine Hilfestellung für die optimale Versorgung bieten zu können, existieren unterschiedliche tauchärztliche Telefonberatungen. Empfohlen wird die frühestmögliche Konsultation, um ein geeignetes Vorgehen abzustimmen (Reihenfolge alphabetisch): aqua med-Hotline: +49 700 348 354 63 DAN-Hotline für Deutschland und Österreich: 0800 326 668 783 DAN-Hotline für die Schweiz (via REGA): +41 333 333 333 DAN-Hotline International: +39 06 4211 5685 Schifffahrtmedizinisches Instituts der Marine: +49 431 5409 1441 VDST-Hotline: +49 69 800 88 616
4.4
Andere Erkrankungen während des Tauchens
Auch wenn der Aufenthalt unter Wasser einen Zusammenhang zwischen Überdruck und DCI nahelegt, müssen auch immer andere zugrunde liegende Erkrankungen ausgeschlossen werden. Eine Untersuchung des Verbands Deutscher Sporttaucher (VDST) aus dem Jahre 2011 konnte zeigen, dass knapp ein Drittel aller tödlichen Tauchunfälle (12 von 34) zwischen den Jahren 2007 bis 2010 durch internistische Ereignisse während des Tauchgangs bedingt waren (Meyne 2011). Vor allem chronische Erkrankungen der kardiopulmonalen Systeme, aber auch Stoffwechselerkrankungen sind wichtige Differenzialdiagnosen bei der Versorgung verunfallter Taucher. Auch wenn es sich definitiv um einen Tauchunfall handelt, schließt dies nicht das gleichzeitige Vorhandensein einer internistischen Erkrankung aus.
4.4.1 Immersions-Lungenödem
Ähnlich dem kardialen Lungenödem, handelt es sich auch beim Immersions-Lungenödem (Immersion Pulmonary Edema – IPE) um eine Flüssigkeitsansammlung in der Lunge. Grund für das Auftreten eines IPE ist allerdings nicht die Überforderung des Herzens, sondern ein abrupte Flüssigkeitsumverlagerung aus den Extremitäten durch Kompression der Gefäße aufgrund des steigenden Umgebungsdrucks. Die Umverteilung wird dabei durch die kältebedingte Gefäßverengung verstärkt. Die Erkrankung ist allerdings nicht nur bei Tauchen, sondern auch bei Schwimmern zu beobachten. Neben dem plötzlichen Auftreten ist das IPE durch Husten, Kurzatmigkeit, verringerte Sauerstoffsättigung und Hämoptysen gekennzeichnet. Bei Verdacht auf ein IPE muss immer auch eine kardiale Ursache ausgeschlossen werden. Ansonsten verläuft die Behandlung des IPE nach dem POND-Schema für Patienten mit akutem Lungenödem (s. Tab. 3). Tab. 3
POND-Schema
P Position and Pressure
aufrechte Körperlage und Anwendung von CPAP
O Oxygen
Sauerstoffgabe
N Nitroglycerin
Anwendung von Nitroglyzerin, z.B. 2 Hub Nitrolingual Spray oral
D Diuretics
Diuretika, z.B. 40 mg Furosemid i.v.
4.5
Einsatztaktik und Organisation
Zum Zeitpunkt der Alarmierung ist es oftmals noch unklar ob sich der Taucher noch im Wasser befindet oder bereits durch andere Taucher an die Wasseroberfläche bzw. an Land gebracht wurde. Um den Zeitverlust zu minimieren ist die gleichzeitige Alarmierung eines Wasserrettungszugs durchaus sinnvoll. Zusätzlich kann auch der Einsatz eines Hubschraubers (Polizei oder Rettungsdienst) zum Absuchen der Wasseroberfläche in Erwägung gezogen werden. Die parallele Alarmierung von entsprechenden
Einsatzkräften und Einsatzmitteln sollte bereits auf der Anfahrt mit der Leitstelle geklärt werden. Gleichzeitig kann die Leitstelle entsprechende Informationen für die Versorgung von Patienten zur Verfügung stellen. Hierzu zählt beispielsweise die Recherche welche Druckkammern sich in der näheren Umgebung befinden und welche Transportmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Dabei ist zu beachten, dass nicht alle Druckkammern eine 24Stunden Bereitschaft oder die Möglichkeit zur Beatmung (bei intubierten Patienten) gewährleisten können. Je nach benötigtem Zentrum (Beatmungsmöglichkeit? Angeschlossene Intensivstation?) müssen hier längere Strecken in Kauf genommen werden. Hier kann zur Gewährleistung einer zügigen Versorgung ggf. der Transport mit einem Rettungshubschrauber sinnvoll sein. Um ein weiteres Ausgasen von Stickstoff zu vermeiden, sollte beim Transport mit dem Hubschrauber die niedrigste fliegerisch vertretbare Flughöhe gewählt werden. Die aktuellen Leitlinien der GTÜM sehen keinen Nachteil des luftgebundenen Transports, solange auf eine niedrige Flughöhe geachtet wird. Da Taucher fast nie allein tauchen, sollte beim Vorliegen eines Tauchunfalls auch stets ein Augenmerkt auf den Tauchpartner geworfen werden. Dieser taucht in der Regel dasselbe Tauchprofil und unterliegt damit derselben Stickstoff-Aufsättigung wie der verunfallte Taucher. Auch wenn der Tauchpartner zum Zeitpunkt der Erstuntersuchung keine Symptome aufweist, sollte er zumindest klinisch vorgestellt werden, um ein verzögertes Auftreten einer DCI auszuschließen. CHECKLISTE – auf dem Weg zum Einsatz parallele Alarmierung des Wasserrettungszugs sicherstellen ggf. Alarmierung von Feuerwehr und RTH/Polizeihubschrauber zur Oberflächensuche Identifikation der nächsten Druckkammer (Cave: Möglichkeit zur Beatmung vorhanden?) Kontaktaufnahme mit Tauchmediziner ggf. zweiten RTW für Tauchpartner (taucht in der Regel dasselbe Tauchprofil)
Auf den Punkt gebracht Unter dem Begriff Dekompressionserkrankungen (DCI) werden die beiden Formen Dekompressionskrankheit (DCS) und Arterielle Gasembolie (AGE) zusammengefasst. Eine Abgrenzung der beiden Erkrankungen ist im präklinischen Alltag oft nur schwer möglich. Neben der Sicherung der Vitalparameter stehen die Reduzierung der Stickstoffbelastung und die Gewährleistung einer adäquaten Perfusion im Vordergrund der Therapie. Um dies sicher zu stellen sollten Patienten mit dem Verdacht einer Dekompressionserkrankung frühestmöglich Sauerstoff und Flüssigkeit (oral oder i. v.) erhalten. Eine adjuvante medikamentöse Therapie (z.B. mit Gerinnungshemmern) bietet nach aktuellem Stand der Wissenschaft keinen zusätzlichen Vorteil. Die Druckveränderungen im Wasser können aber nicht nur zu Dekompressionserkrankungen führen. Aufgrund der Flüssigkeitsumverteilung beim Eintauchen ins Wasser kann es zum sogenannten Immersions-Lungenödem (IPE) kommen. Beim Verdacht auf ein IPE sollte eine kardiale Ursache ausgeschlossen werden. Ansonsten erfolgt die Behandlung nach dem POND-Schema.
Literatur Denoble PD (2019) DAN Annual Diving Report 2019 Edition: A report on 2017 diving fatalities, injuries, and incidents. Divers Alert Network Gesellschaft für Tauch- und Überdruckmedizin e.V. (GTÜM) (2022) S2k-Leitlinie Tauchunfall 2022–2027. URL: http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/072-001.html (abgerufen am 24.07.2023) Klingmann C, Tetzlaff K (2012) Moderne Tauchmedizin. 2. Auflage. Gentner Verlag, Stuttgart Meyne K (2011) VDST-Tauchunfallstatistik 2007–2010. Sporttaucher 5, 38–39. URL: https://d-nb.info/1018057307/34 (abgerufen am 22.02.2023) Statista (2022) Anzahl der Personen in Deutschland, die in der Freizeit Tauchen gehen, nach Häufigkeit von 2018 bis 2022. URL: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/171152/umfrage/haeufigkeit-von-tauchen-inder-freizeit/ (abgerufen am 22.02.2023)
5
Notfallmedizin extrem – Erfahrungen aus Tropenexpeditionen
Thomas Küpper
Medizinische Notfälle unter „tropischen“ Bedingungen werden maßgeblich von den folgenden sieben externen Faktoren geprägt: vom gewohnten Repertoire abweichendes Krankheits- und Diagnosespektrum eingeschränkte Versorgungs- und Überwachungsmöglichkeiten des Patienten Abgeschiedenheit/geringe oder gar fehlende Infrastruktur eingeschränkte bis fehlende Kommunikationsmöglichkeiten reduzierte Hygienebedingungen (Wasser!) hohe Temperatur, große Temperaturdifferenzen (Tag/Nacht), große Feuchtigkeit oder Trockenheit Kultur- und Sprachbarriere, falls einheimische Kräfte betroffen sind Jeder Faktor hat direkte oder indirekte Auswirkung auf Patient, Personal und Material. Doch zunächst zur Definition „Tropen“ für die folgenden Überlegungen: Betrachtet werden Notfälle in Regionen mit geringer Infrastruktur und entweder trocken-heißem Klima (z.B. [Halb-]Wüsten) oder feuchtheißem Klima („klassische“ Tropen, Regenwald). Derartige Klimazonen stellen bereits in Ruhe erhöhte kardiopulmonale Anforderungen: Allein zur Kontrolle des Wärmehaushalts steigt die kardiopulmonale Belastung um etwa 15%. Damit verringert sich die Leistungsbreite sowohl des Patienten als auch des Helfers. Die Belastungshöhe bei Rettungstätigkeiten in solchen Klimazonen ist ebenso wenig untersucht, wie für fast alle anderen. Aus Untersuchungen in der alpinen Luftrettung ist jedoch bekannt, dass auch in großen Höhen (untersucht wurde bis 4.560 m) Herz-Lungen-Wiederbelebung im aeroben
(Langzeit-)Ausdauerbereich durchgeführt werden kann, nicht jedoch jegliche Maßnahme, die mit dem Transport von Patienten zusammenhängt. Hier liegt die Belastung weit im anaeroben Bereich und es kommen auch trainierte Helfer jederzeit an ihre individuelle Belastungsgrenze. Diese Ergebnisse aus 3.000 m Höhe dürften wegen der dort vorliegenden Abnahme der Ausdauerbelastbarkeit von etwa 15% mit der Belastung in heißem Klima auf Meereshöhe vergleichbar sein. Das würde dann aber bedeuten, dass Mitglieder von Rettungsteams mindestens 3,0 (besser 3,5) Watt pro Kilogramm Körpergewicht als PWC 170 leisten sollten, denn unterhalb von 2,5 W/kg wäre das Erreichen des operativen Ziels nicht sicher. Merke Bei der taktischen Planung der Rettung muss das Leistungsvermögen der Helfer sehr vorsichtig und eher niedrig eingeschätzt werden!
Regelmäßig wird es zu Schwierigkeiten mit dem Material kommen. Die meisten Notfallmedikamente sind recht resistent gegen hohe Temperaturen. Aber zahlreiche Substanzen sind mehr oder weniger UV-sensibel. So ist von Nifedipin, Metoclopramid und Insulin bekannt, dass sie sich unter UVEinstrahlung relativ schnell zersetzen. Die Datenlage für andere Substanzen ist außerordentlich lückenhaft. Daher Merke Auch in der Hektik eines Notfalles die Ausrüstung nicht offen herumliegen lassen!
Dadurch erhöht sich auch die Sauberkeit und Hygiene der Notfallausrüstung. Aus verschiedensten Studien ist bekannt, dass die Notfallausrüstung abhängig von Situation oder Fahrzeug ohne weiteres +60°C, teilweise über +80°C heiß werden kann. Nur von ganz wenigen Medikamenten ist bislang bekannt, dass sie derartig temperaturresistent sind. So sind beispielsweise Atropin, Lidocain und Naloxon auch unter diesen Bedingungen noch stabil, soweit bislang recherchiert auch alle
Medikamente, die gefriergetrocknet als Pulver ausgeliefert werden und zum Gebrauch aufgelöst werden müssen. Clonidin ist dagegen hitzesensibel. Das gilt auch für Nitroglycerin in Kapselform: Bereits eine halbe Stunde Hitzeexposition bei etwa +40°C lässt das Nitroglycerin ausgasen und eine wirkungslose Kapsel bleibt zurück. Das gilt natürlich nicht für die Sprayapplikation. Alle druckgetriebenen Applikatoren (Sprays) haben in den Tropen aber ein anderes Problem: Ab +50° Behältertemperatur können sie explodieren. Pulverinhalatoren müssen in feuchtem Klima sorgfältig trocken gelagert und angewendet werden, um Klumpung der Substanz zu vermeiden. Dies kann in sehr feuchtem Klima oder bei Regenwetter ein ernstes Problem werden (Regenzeit!). Zusammenfassend muss man in Ermangelung von Daten – kein Medikament wird herstellerseitig für den Tropeneinsatz geprüft! – davon ausgehen, dass man mit seinen Medikamenten die eine oder andere Überraschung erleben kann. Merke Wenn sich die Symptomatik nach Medikamentengabe nicht wie erwartet entwickelt kann dies daran liegen, dass die Substanz ihre Wirksamkeit (teilweise) eingebüßt hat. In vielen Fällen führt eine höhere Dosierung zum Erfolg – auch über die sonst übliche Dosis hinaus unter sorgfältiger Beobachtung des Patienten. Unter Tropenbedingungen kann die Medikamentenwirkung auch deutlich stärker sein als erwartet, denn bei hitzebedingt exsikkiertem Patienten ist dessen Verteilungsvolumen reduziert und die Plasmakonzentration der Substanz entsprechend höher.
Aus diesen beiden Merksätzen kann geschlossen werden, dass insbesondere in unklaren Situationen eine fraktionierte Gabe sinnvoll sein kann. Die Planung der Ausrüstung sollte im Vorfeld bereits berücksichtigen, dass die Transportwege langwierig sind und einen hohen Anteil improvisierter Transporttechniken über unebenes, raues Terrain erwarten lassen. Im Vergleich zu „üblichen“ Notfallausrüstungen ist daher ein wesentlich größerer Vorrat an Schmerzmitteln unabdingbar. Hier hat sich Ketamin besonders bewährt, und zwar aus mehreren Gründen: Hohe Resistenz
gegenüber Umwelteinflüssen (Temperatur), gute Steuerbarkeit, zahlreiche Applikationsmöglichkeiten, das stärkste Schmerzmittel, das weltweit (außer in Italien) bislang nirgendwo unter Betäubungsmittelgesetze fällt, ohne Substanzwechsel ist sowohl Analgesie als auch Narkose möglich usw. Es kann beispielsweise auch oral appliziert werden, wegen des üblen Geschmacks vorzugsweise zusammen mit einem intensiv schmeckenden Getränk. Oral zeigt es eine der i.v.-Gabe nahezu identische Kinetik. Längerfristige Analgesie kann mit der i.m.-Gabe erreicht werden. Die psychischen Nebenwirkungen sind unter den gegebenen Bedingungen vernachlässigbar und außerdem leicht mit einem Benzodiazepin zu kontrollieren. Der Transport der Ausrüstung kann nur in Spritzwasser geschützter Verpackung – damit gleichzeitig gegen Staub geschützt – erfolgen. Die Verpackung muss stoßfest, trotzdem flexibel, reißfest und wenig wasseraufnahmefähig sein. Kunstfasergewebe sind hier vorteilhaft. Trotzdem wird es bei längerem Aufenthalt in feuchtem Klima immer zu Feuchtigkeitsproblemen kommen. Durch übertriebene Klimatisierung kann man selbst – leicht vermeidbare – Probleme schaffen. Wenn beispielsweise bei einer Anfahrt zu einem Notfallort mit irgendeinem Fahrzeug dieses auf angenehme Kühle klimatisiert wird, wird beim Verlassen des Fahrzeugs im feuchtheißen Klima die Luftfeuchtigkeit sofort auf allen kalten Oberflächen der Ausrüstung kondensieren. So werden alle -skope vorübergehend unbenutzbar, Pulverinhalatoren auch, Elektronik leidet und bildet schlimmstenfalls Kurzschlüsse aus. Nässe und intensive Feuchtigkeit sollte unbedingt beim Wechsel von Sauerstoffflaschen vermieden werden: Durch das expandierende Gas können im Druckminderer abhängig vom Minutenvolumen –60° bis –90°C auftreten, was schlimmstenfalls zur Vereisung des Druckreduzierventils führen kann. Mit der Frage zu möglichen Reanimationen und dem dazu notwendigen Material sollte man sich abseits der Zivilisation nicht weiter beschäftigen: Leider sind die Ergebnisse von Reanimationen bereits in städtischer Umgebung schlecht, v.a. weil zu spät von Ersthelfern begonnen wird (wenn überhaupt). Unter Expeditionsbedingungen hat das Opfer allein schon
wegen der langen Transportwege und der dabei praktisch nicht möglichen Überwachung keine Überlebenschance. Gleiches gilt für alle Traumata, bei denen im klinischen Routinealltag eine Intubationsnarkose und Beatmung indiziert wäre: Die dann notwendige Überwachung und Beatmung ist bei einem Transport unter Expeditionsbedingungen nicht möglich. Daher sollte um jeden Preis auf eine derartige Maßnahme verzichtet werden und mit wenig invasiven Maßnahmen versucht werden, unter Spontanatmung und Schmerzfreiheit den Patienten zu stabilisieren. Das Thema „Vorbereitung/Planung“ beinhaltet auch die Retter: durch Prävention vor dem Einsatz (beispielsweise sinnvolle Impfungen, rechtzeitig beginnen, um im Bedarfsfall umgehend einsetzbar zu sein!), angemessene Kleidung, umsichtiges Verhalten vor Ort und auch mentale Vorbereitung bleibt man nicht nur selbst gesund, sondern erhält auch die Fähigkeit des Teams, das operative Ziel zu erreichen. Hinsichtlich der Impfungen muss an dieser Stelle auf die entsprechende Literatur und spezifische reisemedizinische Beratung verwiesen werden. Bei der Kleidung sollte lockere, helle Kleidung aus Baumwolle der Vorzug gegeben werden. Im Gegensatz zu Kunstfasern gewährleistet diese nicht nur ein besseres Hautklima und dadurch ganz nebenbei auch ein geringeres Risiko wunder Stellen oder von Hautpilz, sondern Baumwolle kann auch gebügelt werden. Dies ist nach dem Reinigen in den Tropen aus zwei Gründen besonders wichtig: Zum einen trocknet Gewebe in feuchtem Klima kaum und zum anderen legen Insekten in feuchte Kleidung Eier ab. Bügeln verbessert hier massiv die Hygiene. Langjährige Erfahrung liegen von zahlreichen zivilen und militärischen (Rettungs-)Einsätzen in tropischen Gegenden vor. Laien unterschätzen massiv die Konsequenzen psychischer Dauerbelastung längerer Einsätze in solchem Klima. Hier scheint insbesondere der vierte Tag ein häufig „kritischer“ Punkt zu sein. Hier häufen sich schlechte Stimmung, Müdigkeit, Konzentrationsmangel, depressive Stimmungslage und Spannungen im Team. Wird dieses Zwischentief überwunden, stabilisiert sich die Lage sowohl bei den Einzelnen als auch im Team. Nur bei wesentlich längeren Einsätzen kommt es nach etwa 3–4 Wochen zur drohenden psychischen Dekompensation als Konsequenz etlicher Störfaktoren, die „die Nerven blank legen“ wie dauernde Insektenbisse und
-stiche, Stolpern, Stürze, kleinere Wunden mit Heilungsproblemen bei schlechten Hygienebedingungen, eintönigem ungewohntem Essen u.v.a. Merke Zielgerichtete Planung und Umsetzung innerhalb eines überschaubaren Zeitraums – wenn möglich in weniger als vier Tagen – und konservative Einschätzung der psychischen Belastbarkeit der Teammitglieder sind unabdingbare Voraussetzung für die erfolgreiche Durchführung einer Rettungsaktion unter Tropenbedingungen
Retter wie auch Patient sind mehr oder weniger dauerhaft hohen bis extremen Temperaturen ausgesetzt. Die Prävention von hitzebedingten Erkrankungen muss von vornherein Teil der Behandlungsstrategie des Patienten sein, aber ebenso präventive Strategie für die Retter zum Erhalt ihrer Leistungsfähigkeit. Der Prophylaxe hitzebedingter Exsikkose kommt bereits in der Frühphase der Operation besondere Bedeutung zu. Hier muss vor dem in Amerika manchmal gegebenen Rat „Drink at least 4 gallons of water!“ dringend gewarnt werden: Mehr als 4 Liter reines (salzfreies) Wasser führt zur Verdünnungshyponatriämie und Krämpfe und Kollapszustände sind beispielsweise am Grand Canyon, wo dieser Rat offensichtlich besonders intensiv den Touristen eingeprägt wird, an der Tagesordnung. Es ist natürlich nicht notwendig, laufend Elektrolytlösung zu trinken – ein kräftig gesalzenes Essen tut es auch, zumindest für einen beschränkten Zeitraum. Der Erhalt eines angemessenen Hydratationszustandes trägt wesentlich zum Erhalt der körperlichen Belastbarkeit und damit dem Erreichen des operativen Ziels bei, denn bereits der Verlust von 1% Körperwasser führt zu einem Leistungsverlust von 5%. Als Faustformel sollte für einen befristeten Einsatz der Wasserbedarf auf 4–5 Liter pro Kopf und Tag gerechnet werden. Ökonomischer Umgang mit der Ressource, beispielsweise indem man zunächst darüber nachdenkt, welche Maßnahmen sauberes Wasser überhaupt nötig machen und Kenntnis der Aufbereitung und Konservierung von Wasser sind unabdingbar. Hier haben sich wegen des Vorteils, dass einfach und schnell größere Wassermengen gereinigt werden können, Keramikfilter oder UV-C Strahlung („SteriPen®“) besonders bewährt.
Zumindest für längere Einsätze oder für den Fall, dass ein Teammitglied einen Reisedurchfall erleidet – der unter den gegebenen Bedingungen eines Rettungseinsatzes aggressiv therapiert werden sollte – darf Pulver für orale Rehydratationslösung (ORS) nicht fehlen. In der Zusammensetzung ist eine ORS einem isometrischen Sportgetränk deutlich überlegen und kann in einer Survivalsituation auch als oraler Volumenersatz eingesetzt werden, sofern der Patient nicht bewusstlos ist. Falls Sportgetränke genutzt werden, sollten sie in jedem Fall nicht isotonisch eingesetzt, sondern (leicht) hypotonisch verdünnt werden, da sie so deutlich schneller volumenwirksam sind. Besonders „kritisch“ weil schwerer zu erkennen ist Dehydratation im Wüstenklima: In der extrem trockenen Luft schwitzt man subjektiv nicht, die Haut ist immer trocken. Und das Durstgefühl reicht nicht aus, um den Bedarf zu decken. Das Ausnutzen von Schatten und Wind ist eine weitere Präventionsmaßnahme, notfalls verlegt man die körperlich hoch belastenden Aufgaben in die kühleren Nachtstunden. Das gilt insbesondere für die meist schattenfreien Wüstengegenden. Steht ausreichend Wasser zur Verfügung kann man die Kleidung des Patienten anfeuchten und ihn windexponiert legen, um Überhitzung zu vermeiden. Alle diese Maßnahmen haben in den ersten Tagen der Hitzeexposition eine besondere Bedeutung, weil im Laufe der Zeit eine „Hitzeakklimatisation“ einsetzt, deren vielerlei Mechanismen die Regulation der Körpertemperatur wesentlich effektiver machen. Falls man überhaupt die Möglichkeit einer Teamauswahl hat, sollten Personen, die Betablocker, Diuretika oder Antichiolinergika einnehmen, Rettungseinsätze in tropischem Klima vermeiden, denn diese Menschen haben ein erhöhtes Risiko von Hitzeerkrankungen. Bei Rettungseinsätzen unter Tropenbedingungen wird es regelmäßig zu kleineren Verletzungen der Helfer kommen. Hier muss davon ausgegangen werden, dass das Risiko der Wundinfektion wesentlich höher ist als daheim. Durch die feuchte Hitze schließt sich die Wunde verzögert, durch Schweiß, Regen und Schlamm kommen Keime in den Wundbereich, auch wird die Wunde durch die körperliche Schwerarbeit bei der Rettungsmaßnahme regelmäßig wieder aufreißen. Es liegt im Verantwortungsbereich der Retter,
hier auch an sich selbst zu denken und auch im Sinne des Erhalts der Einsatzfähigkeit auch kleinere Wundbereiche sauber zu halten, zu desinfizieren und angemessen abzudecken. Besonders verletzungsanfällig sind Hände und Füße, unter anderem auch deshalb, weil im feuchtheißen Klima die Haut quillt und wesentlich weniger widerstandsfähig ist, insbesondere auch gegenüber Scherbelastungen. Blasen an Händen und Füßen sind häufige Folge bei derartigen Einsätzen. Gelpflaster erlauben hier eine gute Prävention. Besonders schlechten Wundverschluss wird man nach einem „Angriff“ durch Blutegel vorfinden. Sie können schließlich nur saugen, wenn sie durch die vorherige Injektion eines Gerinnungshemmers für Erhalt der Blutung sorgen. Das Entfernen eines Egels steht ja noch in den meisten Büchern, aber nicht, dass man danach einen festen Verband, in Einzelfällen sogar einen Druckverband, anlegen muss, um die Blutung zu stillen. Ist man in größeren Gruppen unterwegs ist eine Position im vordersten Bereich der Reihe weniger den möglicherweise am Weg lauernden Blutegeln ausgesetzt als die hinteren Plätze. Je länger man sich mit Notfällen und Rettung in den Tropen beschäftigt desto mehr wird bewusst, dass eine wohl durchdachte und vorausschauende Taktik buchstäblich über das Überleben nicht nur des Patienten, sondern auch des Teams entscheiden kann. Neben den bereits erwähnten Umweltfaktoren kommen weitere hinzu, an die man daheim in der „Zivilisation“ nie denken würde, beispielsweise Orientierung. Bei nahezu senkrecht stehender Sonne und somit richtungslosen Schatten ist Buschland extrem unübersichtlich und Verirren leicht. Um eine Rettungsoperation abseits von Straßen effektiv zu gestalten sollte ein GPS-Gerät nicht fehlen – und sei es nur als Backup für Notfälle. Das kann aber nur funktionieren, wenn man am letzten eindeutig bekannten Ort dessen Position im Gerät speichert. Das klingt vielleicht merkwürdig, aber nur wer mal im Busch ein paar Minuten gegangen ist ohne auf die Umgebung (Richtung) zu achten, wird sofort verstehen, warum dieser Rat gegeben wird! Man vergesse nicht, dass jede vermeidbare Anstrengung die Chancen eines Patienten verschlechtert!
Zur vorausschauenden Taktik gehört auch, dass überlegt wird, wie eine Kommunikation mit der Außenwelt etabliert bzw. aufrecht gehalten werden kann. Gerade in den Tropen wird das Kabelzeitalter übersprungen und gleich Mobilfunk montiert. Wenn der Einsatz nicht allzu weit entfernt von der Zivilisation – und sei es nur eine Überlandstraße, entlang der in vielen Ländern gute Mobilverbindungen bestehen – stattfindet, so sollte ein Mobiltelefon zur Ausrüstung gehören, vorzugsweise ein 3-Band-Gerät. In weiter abgelegenen Gebieten kann ein Satellitentelefon sinnvoll sein. Hier sollte jedoch bedacht werden, dass diese Geräte in einigen Ländern für Zivilpersonen verboten sind. In jedem Fall sollte man mit einem konkreten Ansprechpartner in der „Zivilisation“ feste Kommunikationszeiten verabreden und dazwischen das Gerät ausschalten, um die Akkus zu sparen. Zusammengefasst stellt der Notfallort in den Tropen eine besondere Herausforderung für Menschen und Material dar. Diese ist nur durch Beachtung der genannten Faktoren, vorausschauende Taktik und Disziplin – auch im Umgang miteinander – beherrschbar. Hier nicht genannte Gefahren wie Großwild, Giftpflanzen und -tiere usw. sind beim Rettungseinsatz dagegen praktisch vernachlässigbar.
Literatur Küpper T, Schraut B, Rieke B, Hemmerling AV, Schöffl V, Steffgen J (2006) Drugs and drug administration in extreme environments. J Travel Med 13(1), 35–47 Auerbach PS, Cushing TA, Harris NS (2016) Wilderness Medicine. Elsevier, Philadelphia, 7th ed. Pandolf KB, Burr RE (2001) Medical Aspects of Harsh Environments. Textbooks of Military Medicine, Washington DC Rieke B, Küpper T (2013) Moderne Reisemedizin. Gentner Verlag, Stuttgart. 2. Aufl. Tannheimer M. (2020) First aid and rescue of a critically injured person at 5,700 m. Dtsch Z Sportmed. 71, 300–304. DOI: 10.5960/dzsm.2020.446
6
Medizinische Herausforderungen des alpinen Umfelds
Simon Rauch, Bernd Wallner und Hermann Brugger
6.1
Einsatzbedingungen und Risikobewertung
Im Falle eines notfallmedizinischen Einsatzes im alpinen Terrain ist die Rettungsmannschaft neben medizinischen auch mit logistischen und alpinistischen Herausforderungen konfrontiert. Wie in der gesamten Notfallmedizin hat die Prämisse „Selbstschutz vor Fremdschutz“ höchste Priorität. Vor und während jeder Bergungs- und Rettungssituation soll das mögliche Risiko für die Retter dem besten erwarteten Benefit für den Patienten kritisch gegenübergestellt werden.
Gefahren, die bei einem Einsatz im alpinen Gelände miteinkalkuliert werden müssen, sind unter anderem: Tageslänge (Einbruch der Dunkelheit) Wetterphänomene, -änderungen (Wind, Regen, Gewitter, Blitz, Sonne, Nebel, Kälte) Höhe Stein-, Eisschlag Absturz und Verletzungen im Gelände Lawinen Gletscherspalten schwierige Orientierung subjektive Gefahren (mangelnde Kondition, schlechte technische Ausrüstung, Fehleinschätzung der Situation, mangelnde Erfahrung, Selbstüberschätzung)
Personelle und materielle Ressourcenknappheit erschwert oft die Rettungsarbeit und erfordert großes Improvisationsvermögen der Retter. Dem Notarzt im alpinen Gelände stehen meist auch nicht die gewohnten Therapie- und Monitoringoptionen zur Verfügung (Berghold et al. 2015) – dies ist bei jeder medizinischen Entscheidung zu bedenken. Weitere einsatztaktische und medizinisch relevante Unterschiede umfassen die deutlich längeren Alarmierungs-, Bergungs- und Transportzeiten im alpinen Einsatz. Prähospitalzeiten von mehreren Stunden sind keine Seltenheit und müssen wiederum in die Einsatztaktik und Patientenversorgung eingeplant werden. Schlechtwetter und Kälte verschlechtern oft die Folgen des alpinen Traumas. Gegenüber dem urbanen Gelände sind aufgrund der langen Transportwege auch andere logistische Überlegungen zu Therapie, Analgesie, Notfallnarkose, kardiopulmonaler Reanimation zu treffen. Neben den traumabedingten Komplikationen kommt auch der Hypothermie in den Bergen eine substanzielle Rolle zu: Verletzte und Erkrankte gelten so lange als unterkühlt, bis das Gegenteil bewiesen ist (Brown et al. 2012). Ärztliche Maßnahmen sollten zu keiner weiteren Auskühlung führen (Soreide 2014). Der zunehmende Einsatz von Helikoptern in der alpinen Notfallmedizin bringt entscheidende Vorteile für Patienten und Retter mit sich, wobei auch hier eine eingehende Risikoanalyse, Einsatzplanung und Organisation erfolgen muss. Der große Vorteil der Luftrettung besteht in der Tatsache, dass der schwer verletzte Notfallpatient in der Regel bereits innerhalb der „golden hour of trauma“ im entsprechenden Zielkrankenhaus eintrifft (Kotwal et al. 2016; Scrimgeour 2003). Im Rettungsteam muss eine Entscheidung über die Art der Versorgung und Bergung getroffen werden: „Load and go“ vs. „Treat and run“ vs. „Stay and Play“.
Bei Luftrettungseinsätzen müssen die Möglichkeiten und Grenzen der medizinischen Versorgung des Patienten den sich ständig ändernden Wetterund Umgebungsbedingungen gegenübergestellt werden (Tomazin u.
Kovacs 2003). So erfolgt je nach medizinischer Notwendigkeit und Beschaffenheit des Unfallortes entweder eine sofortige Bergung mit späterer Versorgung („Load and go“) oder eine notwendige Erstversorgung und Analgesie mit anschließender Bergung („Treat and run“) oder eine ausgedehnte medizinische Versorgung und Stabilisierung am Notfallort („Stay and Play“) (Durrer 1993). Diese Entscheidung muss immer in Absprache des Notarztes mit den Sanitätern und dem Piloten erfolgen und der Selbstschutz muss wieder gewährleistet sein.
6.2
Technische Sicherungs- und Rettungsverfahren
Die Grundsätze der Sicherheit unterscheiden sich im Prinzip nicht von denen im allgemeinen Rettungsdienst. Es sind lediglich die oft schwierigen, gefährlichen und sich rasch verändernden Umgebungsbedingungen, welche eine Gefahr für die Sicherheit der Helfer darstellen kann. Des Weiteren ist im alpinen Raum, speziell bei terrestrischen Einsätzen, ein schneller Rückzug oft nicht möglich. Allein aus diesen Überlegungen ergeben sich daher folgende Grundsätze: Die Wichtigkeit des Selbstschutzes kann nicht oft genug betont werden. Vor jedem Rettungseinsatz im alpinen Gelände müssen zwingend eine angepasste Evaluierung der Sicherheit und eine Risiko-Nutzen-Abwägung erfolgen. Im Übereifer helfen zu wollen mussten schon viele Retter ihr Leben lassen. Planung und Struktur: Diese umfasst zunächst das Bilden eines Einsatz-Teams, Bestimmen des Einsatzleiters, Zuteilung der einzelnen Aufgaben. Bei fest eingeteilten Helikopter-Mannschaften entfällt dies natürlich. Das Team führt eine Risikoevaluierung durch, erstellt eine Zustiegs- oder Flugroute und erfasst alle einsatzrelevanten Informationen (Wetter, Wegbeschaffenheit, Orientierung, Lawinengefahr, usw.) Priorisierung und Entscheidung: Im Falle eines Massenanfalls von Verletzten (MANV) muss durch Triagierung eine Priorisierung und Selbstschutz:
Entscheidung über eine Verteilung von Ressourcen und Möglichkeiten erfolgen. Ressourceneinteilung: Neben der Koordination seines Teams und der Kommunikation mit anderen Einsatzkräften besteht eine der wichtigsten Aufgaben des Einsatzleiters in der Erhebung und sorgsamen Planung der personellen und materiellen Ressourcen. Eine Nachforderung von personellen und materiellen Ressourcen ist nur sehr schwer und mit großem Zeitaufwand möglich. Antizipation: Neben den Gefahren im Gebirge müssen auch die ständigen Änderungen der selbigen im Auge behalten werden. Faktoren wie Temperatur, Witterung, Helligkeit, Niederschlag, Gelände, menschliche Ausdauer und psychische Belastbarkeit können sich rasch verschlechtern und zu einer Gefährdung für die gesamte Rettungsaktion führen. Kooperation und Integration: Der Rettungseinsatz im alpinen Gelände versteht sich als Zusammenarbeit im Team, welches aus unterschiedlichsten Professionen und Fachbereichen besteht und nur als solches funktionieren kann. Rettung und Bergung: Die Rettung eines verunfallten oder in Not geratenen Patienten ist eine individuelle und einzigartige Aufgabe für das multidisziplinäre Notfallteam in jedem einzelnen Einsatz. Grundsätzlich gilt es, den Patienten so effizient und schnell, aber auch so schonend und atraumatisch wie möglich an einen Ort zu bringen, wo die erste oder weitere Behandlung erfolgen. In jedem Fall müssen Sekundärverletzungen sofern irgend möglich verhindert werden. Oft ist vor Bergung eine Analgesie durch den Notarzt erforderlich. Erstbehandlung: Für die Behandlung von verletzten oder erkrankten Patienten im alpinen Gelände gibt es keine eindeutigen Empfehlungen. Natürlich müssen alle o.g. Aspekte in die Behandlung einfließen. Als Richtschnur für die Diagnostik und Therapie stehen internationale Guidelines zur Verfügung (z.B. ERC, ICAR MedCom). Kontinuierliche Re-Evaluierung: Die Rettungsaktion muss einer ständigen Re-Evaluierung unterzogen und an die aktuelle Situation
angepasst werden. Abtransport: Art und Weise des Transportes, Dauer, Belastbarkeit und Verletzung/Erkrankung des Patienten, Möglichkeiten der Teams, entscheiden über die Möglichkeiten des Abtransportes. Rückzug: Sollte es zu einer Gefahrensituation kommen, sollte auch die Möglichkeit eines Rückzugs und Fortsetzung zu einem späteren Zeitpunkt in Betracht gezogen werden.
6.3
Spezielle Einsätze im alpinen Umfeld
6.3.1 Hypothermie Die Hypothermie spielt nicht nur beim Lawinen- oder Gletscherspaltenunfall eine herausragende Rolle, im alpinen Gelände ist die Kälteeinwirkung insbesondere bei Wind und Nässe allgegenwärtig. Eine akzidentelle Hypothermie, definiert als ein ungewollter Abfall der Körperkerntemperatur auf < 35°C, ist mit einer signifikanten Morbidität und Mortalität assoziiert (Mair et al. 1994; Silfvast u. Pettila 2003; Walpoth et al. 1997). Stadieneinteilung und Klinik Nach der Schweizer Klassifizierung kann die Hypothermie nach Bewusstseinszustand, Vitalparametern und Körperkerntemperatur in vier Stadien eingeteilt werden (s. Tab. 1). Die überarbeitete Schweizer Stadieneinteilung (Musi et.al. 2021) basiert auf der Beurteilung des Bewusstseinszustandes und sollte immer dann verwendet werden, wenn die KKT nicht gemessen werden kann (s. Tab. 2). Tab. 1
Stadieneinteilung der akzidentellen Hypothermie (Paal et al. 2016)
Stadium I (mild)
Klinische Symptome Patient bewusstseinsklar, Muskelzittern
Körperkerntemperatur 35–32°C
II (moderat) Bewusstsein beeinträchtigt, Muskelzittern fakultativ
32–28°C
III (schwer) Patient bewusstlos, Vitalzeichen vorhanden
< 28°C
IV (schwer) keine Vitalzeichen vorhanden
Tab. 2
variabel
Die Grundprinzipien des prähospitalen Hypothermie Managements gemäß der überarbeiteten Schweizer Stadien Einteilung der akzidentellen Hypothermie (Musi et al. 2021). ECLS: extracorporeal life support. CPR: cardiopulmonary resuscitation/kardiopulmonale Reanimation. GCS: Glasgow Coma Scale, SpO2 periphere Sauerstoffsättigung
1 In der überarbeiteten Schweizer Stadien Einteilung korrespondiert “Wach” mit einem GCS von 15, “Ansprechbar” mit einem GCS von 9-14 (inklusive verwirrter Patienten) sowie “Schmerzreiz” und “Bewusstlos” mit einem GCS < 9. Zittern wird der überarbeiteten Schweizer Stadien Einteilung nicht zur Stadieneinteilung herangezogen, bedeutet aber
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gewöhnlich eine KKT > 30°C und somit eine Temperatur, bei der ein hypothermer Herzkreislaufstillstand bei jungen und gesunden Personen unwahrscheinlich ist. Keine Atmung, kein tastbarer Carotis- oder Femoralispuls, kein messbarer Blutdruck. Suche nach Lebenszeichen (Puls und besonders Atmung) für eine Minute. Der Farbübergang symbolisiert den fließenden Übergang zwischen den Stadien. Die Hypothermie ist in dieser Darstellung der einzige betrachtete Risikofaktor zur Auslösung eines Herzkreislaufstillstandes. Bei zusätzlichen Ursachen einer Vigilanz Minderung, wie z.B. Asphyxie, Intoxikation, Höhenhirnödem oder Trauma kann die überarbeitete Schweizer Stadien Einteilung fälschlicherweise einen höheren Grad der Unterkühlung suggerieren. Patienten im Stadium “Wach” oder “Ansprechbar”, die Zeichen einer hämodynamischen Instabilität aufweisen (z.B. Bradykardie oder Hypotension), müssen vorsichtig beurteilt werden, da dies ein erhöhtes Risiko für einen Herzstillstand bedeutet. Durch eine kältebedingte periphere Vasokonstriktion kann es schwierig sein ein messbares Signal abzuleiten. Bei einer Hypoglykämie sollte Glukose verabreicht werden. Wenn eine Blutzuckermessung am Einsatzort nicht möglich ist, sollte einem hypothermen Patienten mit Wesensveränderung empirisch Glukose verabreicht werden. Aktive Bewegung ist erlaubt, wenn ein ausgeprägtes Kältezittern (hohe Bewegungsamplitude) vorhanden ist. Wenn nach drei Defibrillationen bei einer KKT < 30°C ein Kammerflimmern weiter besteht, sollten weitere Defibrillationen erst bei einer KKT > 30°C erfolgen. Bei einer KKT < 30°C sollten weder Adrenalin noch Amiodaron verabreicht werden. Bei einer KKT von 30-35°C sollte das Dosierungsintervall auf 6-10 Minuten verdoppelt werden. Patienten mit einem Herzkreislaufstillstand, einer KKT < 30°C, einem systolischen Blutdruck < 90 mmHg oder ventrikulären Arhythmien sollten direkt in ein ECLS Zentrum transportiert werden.
Bei leichter Hypothermie ist der Patient bewusstseinsklar und zittert, Atemund Herzfrequenz sind erhöht. Mit weiterem Abfall der Körpertemperatur trübt das Bewusstsein ein, das Kältezittern lässt nach, die Atmung wird flach und das Risiko für Herzrhythmusstörungen steigt. Bei schwerer Hypothermie ist der Patient bewusstlos, bradypnoisch und hypoton. Bei fehlenden Lebenszeichen sollte angesichts der bestehenden Hypotension und Bradykardie („vita minima“) der Puls an der A. carotis bis zu einer Minute lang gesucht werden (Lott et al. 2021). Im Stadium IV sind keine Vitalfunktionen vorhanden. Allerdings hat die Hypothermie durch den verminderten zerebralen Sauerstoffverbrauch (Ehrlich et al. 2002) einen neuroprotektiven Effekt und auch ein länger anhaltender Kreislaufstillstand kann ohne neurologische Folgeschäden überlebt werden (Althaus et al. 1982), vorausgesetzt die Hypothermie tritt vor der Hypoxie ein (Brugger et
al. 2013; Brugger et al. 2011; Suominen u. Vahatalo 2012; Topjian et al. 2012). Wie rasch die Körperkerntemperatur abfällt ist individuell verschieden und hängt von zahlreichen Faktoren ab: Umgebungstemperatur, Wind, Körperoberfläche, Alter, Isolation (Kleidung, subkutanes Fett), Erschöpfung, körperliche Bewegung/Zittern usw. (Stocks et al. 2004; Mittermair et al. 2021). Diagnose und Körperkerntemperaturmessung Falls eine Messung der Kerntemperatur nicht möglich ist, gilt ein Patient nach Kälteexposition oder mit sich kalt anfühlendem Körperstamm als hypotherm (Lott et al. et al. 2021). Bei vorhandenem Kreislauf kann die Körpertemperatur epitympanal (am Trommelfell) gemessen werden, allerdings muss auf einen freien Gehörgang und eine gute Isolierung des Thermometers gegen die Umgebung geachtet werden (Skaiaa et al. 2015; Strapazzon et al. 2015; Walpoth et al. 1994). Auch sollte die Messung durch einen Thermistor und nicht mittels Infrarot erfolgen (Rogers et al. 2007; Strapazzon et al. 2014). Im Kreislaufstillstand hingegen ergibt die epitympanale Messung häufig falsch niedrige Werte (Walpoth et al. 1994) und die Körperkerntemperatur sollte ösophageal im unteren Ösophagusdrittel gemessen werden (Whitby u. Dunkin 1968). Therapie Mit den präklinisch zur Verfügung stehenden Mitteln kann ein schwer hypothermer Patient nicht aufgewärmt, sondern nur vor weiterer Auskühlung geschützt werden.
Schutz vor weiterer Auskühlung kann durch heiße, kohlenhydratreiche Getränke, Wechsel nasser Kleidung, mehrschichtige Isolation (z.B. durch Kleider, Decken, Schlaf- oder Biwacksack), Windschutz und Applikation von chemischen Wärmepackungen am Stamm erfolgen. Die stadienabhängige Therapie der Hypothermie ist in Tabelle 2 und Abbildung 1 dargestellt.
Abb. 1
Mehrschichtige Isolation. Die Isolierung sollte mit einer äußeren robusten windund wasserdichten Dampfsperre erfolgen. Innen isolieren Decken den Körper. Es sollten chemische Wärmepads am Rumpf, sowie Fäustlinge oder Handschuhe an den Händen angebracht werden. Kopf und Gesicht sollten vor Kälte geschützt werden (übersetzt nach Paal et al. 2022, Creative Commons Lizenz https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/)
Während bei milder Hypothermie bei vollem Bewusstsein eine aktive Bewegung des Patienten erfolgen kann, muss ein Patient mit moderater oder schwerer Hypothermie möglichst vorsichtig und bewegungsarm gerettet werden, um eine Durchmischung des kälteren Blutes aus der Körperperipherie mit dem Blut im Körperstamm zu vermeiden. Dies kann zu einer weiteren Abkühlung des Körperkerns (Afterdrop) und zum sog. Bergungstod führen. Bei Patienten mit schwerer Hypothermie erfolgt – falls notwendig – eine Atemwegssicherung mittels endotrachealer Intubation oder supraglottischen Hilfsmitteln und Beatmung mit warmen, feuchtem Sauerstoff. Patienten mit instabilem Kreislauf (systolischer Blutdruck < 90 mmHg, ventrikuläre Arrhythmien) oder einer Körperkerntemperatur < 30°C (bzw. < 32°C bei alten und multimorbiden Patienten) sollen in eine Klinik mit Möglichkeit der extrakorporalen Kreislaufunterstützung (ECLS, wie extrakorporale Membranoxygenierung ECMO oder Herzlungenmaschine HLM) gebracht werden (Lott et al. 2021). Außer bei Vorliegen von eindeutigen Todeszeichen (tödliche Verletzungen oder durchgefrorener Körper), einer
entsprechenden Patientenverfügung oder hohem Risiko für die Rettungsmannschaft (Paal et al. 2012), wird bei Vorliegen eines hypothermen Herzkreislaufstillstandes mit der kardiopulmonalen Reanimation begonnen. Die tiefste bisher gemessene Körperkerntemperatur mit erfolgreicher Wiedererwärmung nach akzidenteller Hypothermie bei Erwachsenen liegt bei 13,7°C (Gilbert et al. 2000), bei einem Kleinkind bei 11,8°C (Mroczek et al. 2020). Auf eine Temperaturuntergrenze für die Reversibilität der Hypothermie und damit das Unterlassen von therapeutischen Maßnahmen wird verzichtet. Unter kontinuierlicher CPR werden Patienten mit hypothermen Kreislaufstillstand in eine Klinik mit ECLS-Möglichkeit gebracht. Mittels des Hypothermia outcome prediction after extracorporeal life support (HOPE) Score sollte die Überlebenswahrscheinlichkeit nach ECLS Erwärmung errechnet werden (www.hypothermiascore.org) (Pasquier et al. 2018). Das Aufrechterhalten einer qualitativ hochwertigen Herzdruckmassage ist in unwegsamem Gelände und während des Transports auf beengtem Raum häufig schwierig oder gar unmöglich (Odegaard et al. 2009; Putzer et al. 2012). Nach Möglichkeit sollten daher mechanische Reanimationshilfen (z.B. LUCAS® oder Autopulse®) zum Einsatz kommen, wodurch die Kontinuität und Qualität der Herzdruckmassage verbessert werden können (Putzer et al. 2012). Ist eine kontinuierliche CPR nicht durchführbar, kann bei schwer hypothermen Patienten auch eine intermittierende CPR durchgeführt werden, um den Transport über unwegsames Gelände zu ermöglichen: Bei Patienten mit einer Körperkerntemperatur < 28°C können 5 Minuten CPR mit ≤ 5 Minuten ohne CPR abgewechselt werden, liegt die Körperkerntemperatur < 20°C können 5 min CPR mit ≤ 10 min ohne CPR abwechseln (Gordon et al. 2015; Lott et al. 2021). Bei einer Körpertemperatur von < 30°C gibt es keine Evidenz für die Verabreichung von Medikamenten; bei defibrillierbaren Rhythmen werden maximal drei Defibrillationsversuche unternommen, häufig gelingt die Defibrillation jedoch erst bei einer Körperkerntemperatur von > 30°C (s. Abb. 2). Bei einer Körperkerntemperatur zwischen 30 und 35°C wird eine Verdoppelung des Intervalls zwischen den Medikamentengaben empfohlen (d.h. Adrenalin alle 6-10 min anstatt alle 3–5 min) (Lott et al. 2021).
Abb. 2
Stadienabhängiges Management bei akzidenteller Unterkühlung (nach Lott et al. 2021): (1) Dekapitation; Durchtrennung des Körperstamms; ganzer Körper zersetzt oder ganzer Körper festgefroren (Brustwand nicht komprimierbar). (2) SBP < 90 mmHg ist eine sinnvolle präklinische Einschätzung einer kardiozirkulatorischen Instabilität, aber für innenklinische Entscheidungen sind minimal notwendige Kreislaufparameter für einen stark unterkühlten Patienten (z. B. < 28°C) nicht definiert. (3) Schweizer Einteilung einer akzidentellen Unterkühlung. (4) Bei einem hypothermen Patienten mit Kreislaufstillstand wird der direkte Transport in ein ECMO-Zentrum empfohlen. In abgelegenen Gebieten sollen Transportentscheidungen das Risiko einer längeren Transportzeit mit dem potenziellen Nutzen einer Behandlung in einem ECLS-Zentrum (z.B. 6h) in Einklang bringen. (5) Warme Umgebung, chemische, elektrische oder Forced-airHeizpackungen oder -decken und warme intravenöse Flüssigkeiten (38–42°C). Im Fall einer therapierefraktären Kreislaufinstabilität soll eine Wiedererwärmung mit ECLS in Betracht gezogen werden. (6) Wenn die Entscheidung getroffen wird, unterwegs an einem Krankenhaus anzuhalten, um das Serumkalium zu messen, soll ein Krankenhaus auf dem Weg zu einem ECLS-Zentrum ausgewählt werden. HOPE- und ICE-Scores sollen nicht bei Kindern verwendet werden; stattdessen sollen Experten konsultiert werden. CPR kardiopulmonale Wiederbelebung; DNR „do not resuscitate“; extrakorporale ECLS Lebenserhaltung; HT Hypothermie; MD Arzt, ROSC Rückkehr der Spontanzirkulation; SBP systolischer Blutdruck
6.3.2 Lawinenunfall In Europa und Nordamerika sterben pro Jahr etwa 150 Menschen nach einem Lawinenunfall (Brugger et al. 2001). Voraussetzung für einen erfolgreichen Lawineneinsatz sind Grundkenntnisse der Pathophysiologie und Einhaltung der Empfehlungen zur Triage von Lawinenopfern mit Herzkreislaufstillstand. Ziel des Lawineneinsatzes ist es, Verschüttete mit einer Chance auf erfolgreiche Reanimation bereits am Unfallort zu erkennen und die Rettungskette zur erfolgreichen Wiedererwärmung in einem geeigneten Krankenhaus fortzusetzen. Überlebenswahrscheinlichkeit von Lawinenopfern Die Überlebenswahrscheinlichkeit der Betroffenen hängt ab von Verschüttungsgrad, Verschüttungsdauer, freien Atemwegen und Vorhandensein einer Atemhöhle sowie von Verletzungsschwere.
Wird eine Person von einer Lawine erfasst und ganzverschüttet, beträgt die Mortalität ca. 52%, bleiben Kopf und Oberkörper dagegen frei, spricht man von einer Teilverschüttung. Hierbei beträgt die Mortalität 4% (Brugger et al. 2001). Kommt es zu einer Ganzverschüttung, hängt die Überlebenswahrscheinlichkeit wesentlich von der Verschüttungsdauer ab: Gelingt es, den Verschütteten innerhalb von 15 Minuten aus der Lawine zu bergen, beträgt die Überlebenswahrscheinlichkeit ca. 85–90%. Anschließend fällt diese rasch ab und liegt nach 30-minütiger Verschüttungsdauer bei nur mehr 30% (Brugger et al. 2001; Falk et al. 1994). Grund hierfür ist in der Regel eine Asphyxie durch Verlegung der Atemwege mit kompaktem Schnee. Offene Atemwege sind Voraussetzung, um längere Zeit unter einer Lawine zu überleben. Eine zusätzlich vorhandene Atemhöhle (d.h. ein Luftraum vor Mund und Nase) erhöht die Überlebenswahrscheinlichkeit (Procter et al. 2016). Das Risiko, im Rahmen eines Lawinenunfalls schwere oder tödliche Verletzungen zu erleiden, hängt vor allem von Gelände- und Schneebeschaffenheit ab, wobei etwa 6% der Lawinentodesfälle in den Alpen traumatisch bedingt sind (Hohlrieder et al. 2007). Fehlen tödliche Verletzungen und sind die Atemwege frei, kann ein Lawinenopfer auch eine Verschüttungsdauer von bis etwa eineinhalb Stunden überleben, bei noch längerer Verschüttungsdauer besteht nur mehr sehr geringe Hoffnung ( 30°C wird der Standard-ALSAlgorithmus wie für nicht-hypotherme Patienten angewandt. Liegt eine Asystolie vor und trat während der CPR auch kein defibrillierbarer Rhythmus oder Spontankreislauf auf, so sollte nach 20 Minuten ein Abbruch der kardiopulmonalen Reanimation (CPR) in Betracht gezogen werden (Paal et al. 2012). Patient ohne Vitalzeichen mit Verschüttungsdauer > 60 min bzw.
Körperkerntemperatur < 30°C Liegt die Verschüttungsdauer bei > 60 Minuten bzw. die Körperkerntemperatur < 30°C wird mit der CPR begonnen und das weitere Vorgehen vom Herzrhythmus abhängig gemacht. Bei Kammerflimmern, pulsloser Kammertachykardie oder pulsloser elektrischer Aktivität sollte der Patient rasch unter kontinuierlicher CPR in eine Klinik mit Möglichkeit der extrakorporalen Kreislaufunterstützung transportiert werden. Bei Vorliegen einer Asystolie dagegen sollte bei obstruierten Atemwegen ein Abbruch der CPR erwogen werden. Sind die Atemwege frei, kann das weitere Management basierend auf dem HOPE-Score erfolgen (s. Abb. 3), liegt das Serumkalium bei > 8 mmol/l sollte ein Abbruch der CPR erwogen werden. Trotz Wiedererwärmung mittels ECLS haben Patienten, welche nach einer Verschüttungsdauer von > 35 Minuten geborgen werden und keine
Vitalzeichen aufweisen, eine sehr schlechte Prognose. Patienten mit Herzkreislaufstillstand, der während bzw. nach Ausgrabung beobachtet wurde, haben hingegen trotz langer Verschüttungsdauer eine realistische Überlebenschance (Boue et al. 2014; Hilmo et al. 2014; Mair et al. 2014; Klocker et al. 2022).
6.3.3 Spaltenunfall Die große Gefahr von Gletscherspalten besteht in der Tatsache, dass sie im Frühling und Sommer durch nicht tragfähige Schneebrücken bedeckt und somit eingeschränkt einsehbar sind. Aus diesem Grund ereignen sich die meisten Gletscherspaltenunfälle in den Monaten März bis August (Pasquier et al. 2014; Klocker et al. 2022). Die Kombination von schweren Verletzungen führt in Kombination mit der konsekutiven Hypothermie rasch zu einer lebensbedrohlichen Situation. Durch einen Sturz aus großer Höhe (Mittelwert 16,5 m) kommt es häufig zu Verletzungen und Frakturen der unteren Extremitäten, des Beckens und der Wirbelsäule (Pasquier et al. 2014). Nach dem Spaltensturz kommt es durch den direkten Kontakt mit Gletschereis oder Schmelzwasser zum raschen Eintritt einer Hypothermie. Durch eine Einklemmung des Verletzten und die beengten Platzverhältnisse gestaltet sich eine adäquate medizinische Versorgung meist extrem schwierig. Aus diesem Grund muss der Rettung des Verunfallten meist Vorrang vor der Therapie gegeben werden. Sofern ein Zugang des Notarztes zum Patienten möglich ist, sollte zumindest eine adäquate Schmerztherapie erfolgen (Hohlrieder et al. 2010). Bei der technischen Rettung kommen unterschiedliche Spaltenbergungssysteme zum Einsatz. Neben den klassischen Kameradenrettungstechniken (Mannschaftszug, Lose Rolle und Flaschenzug) sind seit kurzem auch vorgefertigte Spaltenrettungssysteme erhältlich. Bei professionellen Rettungsaktionen kommen des Weiteren Spezialausrüstung, wie das sogenannte „Dreibein“, Seilwinden und auch Schremmhammer/Schlagbohrmaschine zum Einsatz. Aufgrund der häufigen Wirbelsäulenverletzungen wird der Einsatz des Kendall Extrication Device (KED) zur Bergung empfohlen. Unter optimalen Bedingungen (Spaltengröße und Wetter) besteht durchaus die Möglichkeit
einer Direktbergung mit dem Hubschrauber aus der Gletscherspalte (Winterberger et al. 2008).
6.3.4 Das alpine Trauma Nachfolgend soll auf wesentliche Unterschiede zwischen dem Trauma am Berg und dem Trauma in städtischem Umfeld eingegangen werden. Der häufigste Unfallmechanismus am Berg ist der Absturz, während in der Stadt der Verkehrsunfall die häufigste Trauma-Ursache darstellt. In der Mehrzahl der Fälle geht das alpine Trauma mit einer geringen Verletzungsschwere einher (Hohlrieder et al. 2004), beim Absturz aus großer Höhe weisen die Patienten im Mittel jedoch schwerere Verletzungen auf als städtische Unfallopfer (Rauch et al. 2018). Das alpine Trauma ist gekennzeichnet durch lange Prähospitalzeiten, besonders was die Dauer bis zum Eintreffen der Rettungskräfte betrifft. Häufig befinden sich alpine Trauma-Patienten in schwer zugänglichem Gelände, was nicht nur die Erreichbarkeit sondern auch die unmittelbare Durchführung von medizinischen Maßnahmen und den anschließenden Abtransport erschweren. Atemwegsmanagement Die Möglichkeit einen intubierten Patienten während eines terrestrischen Transports kontinuierlich zu ventilieren und monitieren kann eingeschränkt sein. Die Indikation zur Notfallnarkose, Intubation und Beatmung sollte unter Berücksichtigung der Ressourcen, Transportdauer und -risiken in der alpinen Notfallmedizin daher äußerst zurückhaltend gestellt werden, insbesondere vor einer Windenrettung (Pietsch et al. 2018). Absolute und relative Indikationen für eine präklinische Notfallnarkose sind in Tabelle 3 dargestellt. Tab. 3
Absolute und relative Indikation für invasives Atemwegsmanagement inkl. endotrachealer Intubation und Beatmung im alpinen Gelände
Absolute Indikation Apnoe oder Schnappatmung
Relative Indikation schweres Schädel-Hirn-Trauma mit Bewusstlosigkeit (GCS < 9) aber noch ausreichender Spontanatmung
schweres Thoraxtrauma mit Hypoxie trotz Sauerstoffgabe mit hohem Fluss über Maske mit Reservoir schweres Schädel-Hirn-Trauma mit ungenügender Ventilation oder Oxygenierung trotz Sauerstoffgabe mit hohem Fluss
kardiopulmonale Reanimation mit mechanischer Herzdruckmassage, z.B. nach hypothermem Herzkreislaufstillstand
Die im alpinen Gelände oft nicht optimale Lagerung des Patienten, blendendes Licht im glitzernden Schnee oder Gegenlicht bei tiefer Sonneneinstrahlung erschweren die Sichtverhältnisse bei der endotrachealen Intubation. Hier schafft oft einfaches Abdecken mit einer Decke oder einem Kleidungsstück Abhilfe. Im Falle eines frustranen Intubationsversuchs sollten die Bedingungen für die endotracheale Intubation verbessert werden, z.B. mittels Optimierung der Kopfposition, Absaugung, tieferer Sedierung und vollständiger Muskelrelaxierung. Nach drei frustranen Intubationsversuchen sollte ein supraglottischer Atemweg der zweiten Generation (z.B. Larynxmaske oder Larynxtubus inkl. Absaugkanal) zur Anwendung kommen (Rixen et al. 2012), welcher Bestandteil der alpinen Notfallausrüstung sein sollte (Elsensohn et al. 2011). Schocktherapie Priorität in der präklinischen Versorgung von Patienten im hämorrhagischen Schock haben die Blutstillung und ein rascher Transport in eine geeignete Zielklinik.
Blutstillung Äußere Blutungen sind in der Regel gut zugänglich und werden mittels Kompressionsverband gestillt. Im Falle von Blutungen an den Extremitäten kommen Ruhigstellung, Hochlagerung und bei anhaltender Blutung die Anlage eines Tourniquets als Therapieoptionen hinzu (Rixen et al. 2012). Eine Tourniquetanlage bedarf einer Analgesie, der Zeitpunkt der Anlage sollte notiert werden. Die Überprüfung der Effektivität sollte über ein
Stoppen der Blutung, nicht über das Verschwinden des distalen Pulses erfolgen. Es gibt nur unzureichende Daten über die Dauer einer sicheren Anwendungszeit für Tourniquets. Beträgt die Transportzeit bis zur operativen Versorgung weniger als eine Stunde, kann das Tourniquet belassen werden. Bei längeren Rettungszeiten sollte beim stabilisierten Patienten versucht werden, das Tourniquet zu lösen, im Falle einer erneuten Blutung sollte das neu angelegte Tourniquet bis zur Versorgung im OP belassen werden (Lee et al. 2007). Bei Verdacht auf eine Beckenringverletzung wird eine externe Stabilisierung und Kompression mittels Beckengurt empfohlen (Lee u. Porter 2007). Insbesondere bei Patienten mit Verdacht auf schwere innere Blutungen (z.B. Verletzungen großer Gefäße, Leber- und Milzrupturen) ist ein rascher Transport in eine geeignete Zielklinik zur chirurgischen oder interventionell-radiologischen Blutstillung notwendig. Bei polytraumatisierten Patienten mit hämodynamisch wirksamer Blutung sollte nach Möglichkeit Tranexamsäure (1 g über 10 Minuten) bereits prähospital verabreicht werden, sofern das Trauma nicht länger als drei Stunden zurück liegt, gefolgt von einer weiteren Dauerinfusion von 1g über die nächsten acht Stunden (Spahn et al. 2019). Volumen- und Katecholamintherapie Zur hämodynamischen Stabilisierung werden Katecholamine einer intensiven Volumentherapie (z.B. > 1 Liter) vorgezogen. Im alpinen Gelände kann eine aggressive Volumentherapie kontraindiziert sein aufgrund des Risikos einer Dilutionskoagulopathie, Abkühlung des Patienten (warme Infusionen in der Regel nicht verfügbar) und des Aufschaukelns der „letalen Trias“ bestehend aus Koagulopathie, Hypothermie und Azidose. Einige Flugrettungsorganisationen führen Blutprodukte (Erythrozytenkonzentrate und Plasma) und/oder Gerinnungsfaktoren (insbesondere Fibrinogen) mit. Im Gegensatz zur Kriegsmedizin konnte im zivilen Setting bisher kein eindeutiger Überlebensvorteil durch eine präklinische Verabreichung von Blutprodukten gezeigt werden (Crombie et al. 2022). Gerade bei langen Transportzeiten (z.B. da kein Flugwetter), könnte die Gabe von Blutprodukten aber einen Vorteil bringen.
Zur Volumentherapie stehen kristalloide und kolloidale Lösungen zur Verfügung. Nach aktuell gültigen Leitlinien werden balancierte Kristalloide den Kolloiden vorgezogen (Spahn et al. 2019). 0,9%ige Kochsalzlösung sollte aufgrund der erhöhten Rate an hyperchlorämischer Azidose nicht eingesetzt werden (Spahn et al. 2019). Auch wenn die wissenschaftliche Datenlage uneinheitlich ist, erscheint eine „small volume resuscitation“ mit Verabreichung geringer Mengen (4 ml/kg Körpergewicht) einer hypertonen Lösung (7,5% NaCl) als Bolus insbesondere in der alpinen Notfallmedizin vorteilhaft, da hierdurch auf das Mitführen großer Mengen an Volumina verzichtet werden kann (Sumann et al. 2009). Beim Schädel-Hirn-Trauma können hypertone Lösungen zudem zu einer Reduktion des intrazerebralen Drucks beitragen (Hartl et al. 1997; Hinkelbein et al. 2003). Haes-haltige Infusionslösungen sind nicht mehr in allen europäischen Ländern verfügbar. Zur hämodynamischen Stabilisierung kommen präklinisch neben der small volume resuscitation und begrenzten Gabe von isotoner Flüssigkeit auch Vasopressoren zum Einsatz. So können Katecholamine bis zum Start der Volumentherapie bzw. bei persistierender Hypotension trotz Volumengabe zur Aufrechterhaltung eines ausreichenden Gewebsperfusionsdrucks verabreicht werden (Spahn et al. 2019). Aufgrund der oft langen Rettungszeiten in der alpinen Notfallmedizin kann es zu einem prolongierten Schockgeschehen kommen, was mit einer rapide ansteigenden Mortalität gerade beim Polytraumatisierten einhergeht. Auch in diesem Fall erscheint die Gabe von Vasopressoren sinnvoll, um einen suffizienten Kreislauf mit Sauerstoffversorgung der Peripherie möglichst lange aufrecht zu erhalten (Spahn et al. 2019). Als Zielblutdruck bei Patienten im hämorrhagischen Schock ohne SchädelHirn-Trauma gilt im Sinne der permissiven Hypotonie ein systolischer Wert von 80–90 mmHg. Bei schwerem Schädel-Hirn-Trauma sollte ein mittlerer arterieller Druck von ≥ 80 mmHg aufrechterhalten werden (Spahn et al. 2019). Um diesen Zielwert zu erreichen sind häufig Vasopressoren notwendig (Rauch et al. 2021). Analgetische Therapie
Eine wirksame Schmerztherapie gehört zu den wichtigsten therapeutischen Zielen der präklinischen Notfallmedizin. Neben der pharmakologischen Schmerztherapie sollten Maßnahmen wie Schienung, Lagerung und lokale Kühlung genutzt werden (Ellerton et al. 2009). Die Datenlage zur präklinischen, medikamentösen Schmerztherapie ist insbesondere in der Alpinmedizin begrenzt. Zur Therapie von starken Schmerzen sind intravenös verabreichte Opioide (besonders Fentanyl) oder Ketamin effektiv und sicher (Smith et al. 2012). Ketamin bewirkt im Vergleich zu Opioiden eine dissoziative Anästhesie, wobei Atmung und Schutzreflexe weitgehend erhalten bleiben. Auch fehlt durch die sympathomimetischen Eigenschaften die kreislaufdepressive Nebenwirkung, die bei Gabe von starken Opioiden auftreten kann. Schwach wirksame Opioide wie z.B. Tramadol sowie Nicht-Opioid-Analgetika wie Paracetamol oder nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) können zur Behandlung von moderaten Schmerzen eingesetzt werden (Craig et al. 2012). Gerade bei langen präklinischen Rettungszeiten (z.B. lang dauernder terrestrischer Abtransport) sollte an die Möglichkeit einer Regionalanästhesie gedacht werden (Sumann et al. 2020).
6.3.5 Flugunfälle Die Sportluftfahrt beinhaltet die Sportarten Ballonfahren, HeißluftLuftschifffahren, das Fliegen von Flugzeugen diverser Bauarten (u.a. Segelflugzeuge, Gleitflugzeuge, Ultraleichtflugzeuge), Gleitschirmfliegen (Paragleiten), Hängegleiten („Drachenfliegen“), Basejumping und das Fallschirmspringen. In diesem Kapitel wird nur das Gleitschirmfliegen, Hängegleiten und Fallschirmspringen behandelt. Gleitschirmfliegen/Hängegleiten Gleitschirmfliegen und Hängegleiten zählen zu den Extremsportarten und können individuell oder im Tandem ausgeübt werden. Die meisten Unfälle passieren beim Start und während des Fluges, die meisten tödlichen Unfälle im Rahmen eines Absturzes während des Fluges. Beim Gleitschirmfliegen und Hängegleiten betreffen die meisten Verletzungen die untere Extremität, das Becken, die Wirbelsäule und den Thorax (Rekand 2012).
Bis zu 25% dieser Unfälle haben einen tödlichen Ausgang, meist als Resultat von Verletzungen großer Gefäße, intrakraniellen Blutungen, zervikalen Frakturen und Pneumothorax (Canbek et al. 2015). Auch ist eine sehr hohe Rate an polytraumatisierten Patienten zu erwähnen, welche sich durch die großen Kräfte, die im Falle eines Absturzes aus großer Höhe mit hoher Geschwindigkeit auf den Körper einwirken (Dezelerationstrauma), erklären lassen. Die Rettung erfolgt terrestrisch oder mittels Helikopter ausschließlich durch speziell geschultes Personal (z.B. Bergrettung) unter Zuhilfenahme etablierter und erprobter Rettungssysteme. Bei der Helikopterrettung von Unfallopfern, deren Gleitschirm sich beispielsweise an Felsen oder Bäumen verhangen hat, sind long-line Bergungen aufgrund der Gefahren durch den Abwind vorzuziehen. Hierbei muss größte Sorgfalt auf eine schonende Rettung, Bergung und Transport gelegt werden und Stabilisierungs- und Immobilisierungssysteme sollen großzügig zum Einsatz kommen. Bei der Versorgung nach Flugunfällen ist auf die Immobilisierung der Wirbelsäule und die Vermeidung von Sekundärverletzungen zu achten.
Nach entsprechender Rettung muss eine sofortige, schnelle und zielführende Diagnostik und Untersuchung des Patienten erfolgen. Die weitere Versorgung des Patienten hat nach ALS und ATLS Guidelines, inklusive einer zentralen und peripheren neurologischen Untersuchung, zu erfolgen, wobei die häufigen Verletzungen der großen Gefäße (Aortenrupturen- und aneurysmata), ZNS-Verletzungen und Thoraxverletzungen stets mitberücksichtigt werden müssen. Auch bei scheinbar fehlenden Verletzungen, allein aufgrund des Verdachts auf ein Dezelerationstrauma, ist die Indikation zur Abklärung nach einem jeweiligen Schockraum-Algorithmus großzügig zu stellen.
6.3.6 Blitzunfälle Blitzschläge führen zu einer massiven Stromeinwirkung in kürzester Zeitdauer. Direkte Blitzverletzungen werden durch Hochspannung, Hitzeeinwirkung und Explosionskraft verursacht (Cherington 1995). Die
häufigsten Todesursachen sind ein Atemstillstand durch Beeinträchtigung des zentralen Atemantriebs oder ein Herzstillstand, wobei durch die direkte Blitzeinwirkung am Myokard Kammerflimmern oder Asystolie ausgelöst werden (Zafren et al. 2005). Ein primärer Atemstillstand kann durch eine Hypoxie sekundär zum Herzstillstand führen, was durch eine rechtzeitige Beatmung bis zum Wiedereinsetzen der Spontanatmung verhindert werden kann. Verbrennungen zeigen sich meist punkt- oder linienförmig (Domart u. Garet 2000) und sind angesichts der extrem kurzen Einwirkzeit meist nur erst- oder zweitgradig. Ausgenommen sind Ein- und Austrittsstelle, wo auch tiefe Verbrennungen auftreten können (Zafren et al. 2005). Durch die explosionsartige Verdunstung des Schweißes können Kleidung und Schuhe zerstört werden. Die Beurteilung und Behandlung von Blitzopfern erfolgt nach dem üblichen ABC-Schema (airway, breathing, circulation). Entgegen anderen TriageSituationen, in denen Patienten mit vorhandenen Vitalfunktionen vorrangig versorgt werden, gilt im Falle von mehreren Verletzten bei einem Blitzunfall der Grundsatz, dass leblos erscheinende Patienten prioritär behandelt werden sollen (Truhlář et al. 2015). Bei frühzeitigem Beginn der kardiopulmonalen Reanimation haben Blitzopfer ohne schwere Organschäden eine günstige Prognose, da Atem- und Herzstillstand häufig reversibel sind. Bei primärem Atemstillstand kann die alleinige Beatmung bis zum Wiedereinsetzten der Spontanatmung lebensrettend sein.
6.3.7 Hängesyndrom Das Hängesyndrom (engl. Suspension syndrome) beschreibt ein potenziell lebensbedrohliches Ereignis, welches nach längerem, freien Hängen in einem Gurtsystem auftreten kann. In der alpinen Notfallmedizin tritt das Hängesyndrom beispielsweise bei Kletterern auf, die nach einem Sturz ohne relevante Verletzungen eine längere Zeit im Seil hängen. Die Pathophysiologie des Hängesyndroms wird kontrovers diskutiert. Durch die Schwerkraft und die fehlende Aktivität der Muskelpumpe kommt es zu einem Blutpooling in den Venen der unteren Extremitäten. Rezente
Untersuchungen konnten jedoch zeigen, dass das Pooling nicht zu einer relevanten Verminderung der kardialen Vorlast führt, wie dies beispielsweise beim hypovolämen Schock der Fall ist. Vielmehr scheint eine plötzliche vagale Aktivierung zu Bradykardie, Hypotension und letztlich Bewusstseinsverlust und Tod zu führen (Rauch et al. 2019). Frei im Seil hängende Kletterer sollten so rasch wie möglich gerettet werden. Eine anschließende flache Lagerung des Patienten wurde lange Zeit als kritisch angesehen, mit der Befürchtung, dass es hierdurch zu einer plötzlichen rechtsventrikulären Volumenüberladung kommen könnte. Neuere Untersuchungen stützen diese Theorie jedoch nicht, sodass der Patient mit Hängesyndrom nicht in einer Hock- oder Kauerstellung, sondern in einer horizontalen Position gelagert werden soll (Mortimer 2011; Thomassen et al. 2009).
6.3.8 Höhenkrankheit Mit zunehmender Höhe über dem Meeresspiegel kommt es mit sinkendem Luftdruck auch zu einer konsekutiven Abnahme des SauerstoffPartialdrucks. Diese Kombination, welche als hypobare Hypoxie bezeichnet wird, kann zu verschiedenen und unterschiedlich schweren Symptomen führen, welche unbehandelt zum Tod führen können. Es unterscheiden sich drei höhenbedingte Krankheiten: die akute Höhenkrankheit (Acute Mountain Sickness AMS), das Höhenlungenödem (High Altitude Pulmonary Edema HAPE) und das Höhenhirnödem (High Altitude Cerebral Edema HACE) (s. Tab. 4 u. 5). Akute Höhenkrankheit (AMS) Der Begriff der akuten Höhenkrankheit beschreibt einen Symptomenkomplex, welcher oberhalb der Schwellenhöhe (ca. 2.500 m) ohne ausreichende Akklimatisation bei prinzipiell jedem Menschen auftreten kann. Das Leitsymptom der akuten Höhenkrankheit ist der Höhenkopfschmerz, dieser ist fronto-parietal akzentuiert und verstärkt sich bei Anstrengung. Weitere Symptome umfassen Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Schwindelgefühle, Schwäche, Müdigkeit, Benommenheit,
Teilnahmslosigkeit und Schlafstörungen. Erkrankte Patienten sollen ein weiteres Aufsteigen vermeiden, da dies die Symptome verschlimmern und rasch zu einer schweren Erkrankung führen kann. Die wirksamste Therapie ist der Abstieg. Zur Linderung der Kopfschmerzen kann Ibuprofen eingenommen werden (bis zu dreimal täglich 400–600 mg), zur Prophylaxe Azetazolamid (zweimal täglich 125 mg). Tab. 4
Symptome und klinische Zeichen von AMS, HACE und HAPE
AMS
HACE
HAPE
Kopfschmerzen
Ataxie
retrosternaler Druckschmerz
Appetitlosigkeit
Desorientiertheit
persistierender Husten
Übelkeit
Übelkeit
schaumiger Auswurf
Erbrechen
Erbrechen
lange Atempausen
Schlaflosigkeit
Bewusstseinseinschränkung
nächtliche Erstickungsangst
Schwindelgefühl
Psychose
Abgeschlagenheit Müdigkeit Benommenheit
Tab. 5
Therapie von AMS, HACE und HAPE Höhentaktik Medikamente
Sauerstoff
Überdrucksack
AMS
Rasttag, evtl. Abstieg
Ibuprofen (400 mg–600 mg)
nicht indizidert
nicht indiziert
HAPE
passiver Abtransport
Nifedipin 20 mg alle 6 Stunden
Sauerstoff (Beginn mit hohem Fluss, später 2–3 L/min)
indiziert
HACE
passiver Abtransport
Dexamethason initial 8 mg, dann alle 6 Stunden 4 mg
Sauerstoff (Beginn mit hohem Fluss, später 2–3 L/min)
indiziert
Höhenlungenödem (HAPE) Das Höhenlungenödem tritt in der Regel ab 48 h Aufenthalt in einer Höhe von > 3.000 m auf. Als Leitsymptom gilt eine akute Verminderung der Leistungsfähigkeit (Leistungsknick) und zunehmende Atemnot bei Belastung. Weitere Symptome umfassen persistierenden Husten, der im Zuge der Verschlechterung von weißem oder rötlichem Auswurf (Hämoptyse) begleitet wird. Außerdem kann es zu thorakalen Druckschmerzen, Tachypnoe, Zyanose, Erbrechen, Oligurie und selten auch Fieber kommen. Klinisch sind grobblasige Rasselgeräusche über allen Lungenabschnitte auskultierbar. Die entscheidende Therapie des Höhenlungenödems ist die Sauerstoffgabe und der sofortiger Abstieg in niedrigere Lagen. Sofern verfügbar ist auch eine tragbare Druckkammer (Gamow-Sack©) eine geeignete Therapieoption (Swenson u. Bartsch 2012). Als medikamentöse Therapie wurde Nifedipin (viermal täglich 20 mg), Sildenafil (50 mg) und Tadalafil (20 mg) erfolgreich angewandt (Maggiorini et al. 2006; Oelz et al. 1989; Richalet et al. 2005). Erstlinientherapie des HAPE: 20 mg Nifedipin alle 6 h.
Höhenhirnödem (HACE) Ataxie ist das Leitsymptom des Höhenhirnödems und meist auch das erste Symptom (Grissom 2011). In weiterer Folge entwickeln sich rasch weitere Alarmzeichen wie Bewusstseinsstörung, Hirndruckzeichen wie Übelkeit, Erbrechen, diverse weitere psychiatrische und neurologische Symptome bis hin zu Koma. Somit ist das Höhenhirnödem ein lebensbedrohlicher Zustand, welcher ohne Abtransport in 100% zum Tod führt (Berghold 1988). Neben Sauerstoffgabe, dem passiven Abtransport und der beschriebenen Therapie mit dem Überdrucksack hat sich Dexamethason als Therapie der Wahl etabliert (Keller et al. 1995). Empfohlen werden 8 mg initial und 4 mg alle 6 Stunden intravenös. Therapie des HACE: Dexamethason 8 mg initial, dann alle 6 Stunden 4 mg intravenös.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die einzige kausale Therapie aller höhenassoziierten Erkrankungen der rasche Abtransport in tiefere Lagen ist. Die Rettung aus großen oder extremen Höhen (>5.000 m) ist mit erheblichen Schwierigkeiten und einem hohen Risiko für die Retter verbunden. Aufgrund der körperlichen Anstrengung ist ein Abtransport eines Patienten aus über 7.000–8.000 m praktisch nicht durchführbar und trotz des technischen Fortschrittes ist zurzeit eine Helikopterrettung aus einer Höhe von > 7.000 m nicht routinemäßig möglich. Auf dem Weg zum Einsatz Art der Anforderung (technische Menschenrettung aus alpinem Gelände, verletzte oder erkrankte Person in mittleren oder großen Höhen) Anzahl der beteiligten Personen und Art der Verletzungen/Erkrankungen (soweit bekannt) Gelände des Einsatzes (Berge, Gletscher, Große Höhen, Lawinenkegel) Art des Einsatzes (terrestrische Rettung, Hubschrauberbergung) mögliche Gefahren und potenzielle Risiken für Retter und Patienten benötigtes Material inklusive medizinisches Equipment und Medikamente Anforderungen an personelle Ressourcen (Mannschaftsstärke und spezialisierung) Versorgungsoptionen und Bedürfnisse der Retter Anforderungen an die Rettungsmannschaft und jede einzelne Person mögliche Dauer des Einsatzes (muss mit einem Wechsel in der Rettungsmannschaft gerechnet werden?) spezielle Überlegungen für diesen speziellen Einsatz Sicherheitsoptionen und Rückzugsmöglichkeiten bei auftretenden Gefahren „Stop or go“ – Punkte auf dem Weg: fixe Wegpunkte, wo bei unklaren Verhältnissen über Abbruch oder Fortsetzung der Mission entschieden wird Rettungs- und Bergungsmöglichkeiten Versorgungsoptionen und Prioritäten vor Ort Transport
Literatur
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7
Erfahrungen aus Polarregionen
Andreas Werner, Karlheinz Waltner und Josefine Tiedemann
„In all the World, there is no desolation more complete than the polar night. It is a return to the Ice Age – no warmth, no life, no movement. Only those who have experienced it can fully appreciate what it means to be without the sun day after day and week after week. Few men unaccustomed to it can fight off its effects altogether and it has driven some men mad.“ (Sir Ernest Shackleton, Lansing 1959)
7.1
Einleitung
Die notfallmedizinische Versorgung in den beiden Polarregionen ist wahrscheinlich eine der schwierigsten Situationen, in denen sich Ärzte oder medizinisches Personal befinden können (Renouf 2005). Vergleichbar ist allenfalls die Situation bei Einsatzkräften (Militär, THW etc.) (Neitzel u. Ladehof 2015), in jedem Fall aber die internationale Raumstation (ISS) (Roxby 2016) oder zukünftige Weltraumflüge (Marsmission) (Daines 2017). Terrestrisch ist im Besonderen die Antarktis zu nennen, weil sich Entfernungen, klimatische Verhältnisse sowie jahreszeitlichen Abläufe von denen anderer Regionen der Welt stark unterscheiden. Die Polarnacht ist durch die nahezu halbjährige Dunkelheit von erheblicher Bedeutung. Personen, die sich auf den ganzjährig fast ausschließlich wissenschaftlich genutzten Stationen befinden, sind in diesem Zeitraum von der Außenwelt nahezu isoliert. Durch die extremen Umgebungsbedingungen, die eisigen Untergründe sowie die schlechte Sicht, Spalten werden oft nicht gesehen, sind Unfälle die Hauptgefährdung; internistische Ereignisse sind eher selten ein Notfallgrund für einen Transport. Grundsätzlich müssen aus rettungsdienstlicher Sicht drei verschiedene Situationen unterschieden werden. Das medizinische Personal in der Polarregion ist bei einem Notfall auf sich selbst gestellt und muss erstens die erstversorgende Stabilisierung des Patienten sicherstellen. Zweitens
muss das Team in der Lage sein auch über einen längeren Zeitraum (besonders während der Polarnacht) einen Patienten in der Polarstation zu versorgen. Daher sind eine solide Ausbildung und das Vorhandensein einer den medizinischen Anforderungen entsprechenden Ausrüstung zu gewährleisten und sicherzustellen. Der Auswahl und der Ausbildung des Personals kommt somit ein extrem hoher Stellenwert bei. Die dritte Situation ist die ‚Medical Evacuation – MedEvac‘ von der Station zu einer weiterversorgenden Klinik. Unter Umständen kann diese weit entfernt sein und ist daher zumeist nur mit einem Flugzeug möglich. Die Übergabe des Patienten erfolgt an den eintreffenden Rettungsdienst, welcher seinerseits eine entsprechende Ausbildung haben muss. Das medizinische Team der Polarstation verbleibt in der Polarregion, die Übernehmenden kehren nach Abgabe des Patienten wieder an ihren Heimatort zurück. Transporte im Polargebiet erfolgen mithilfe schnee- und eistauglicher Fahrzeuge wie Pistenraupen oder Motorschlitten (Ski-Doos), so auch von einem Unfallort. Nach Erstversorgung dienen zunächst die Stationen als aufnehmende Einrichtung, die bezüglich des medizinischen Standards sehr unterschiedlich eingerichtet sind. Eine Weiterverlegung kann über den Seeweg erfolgen, aber nur mit einem eisbrechenden Schiff, wie z.B. das deutsche Forschungsschiff „Polarstern“. Diese kommen jedoch nur innerhalb eines sehr begrenzten Zeitraumes nahe genug an die Polarregionen heran und sind von den Möglichkeiten einer medizinischen Versorgung nicht besser ist als die der modernen Polarstationen. Der Zeitbedarf für eine Fahrt von mehreren tausend Kilometern über mehrere Tage ist zudem nicht akzeptabel. Als wichtigste Option bleibt der Luftweg. Zwar ist im ant-/arktischen Sommer (Polartag) die Voraussetzung durch fortwährendes Licht für ein Ausfliegen besser als in der Polarnacht, aber die Witterungsbedingungen unterbinden dennoch sehr oft diesen Rettungsweg. Daher muss die Notfallversorgung bis zur Durchführung einer „Medical Evacuation“ bereitgestellt sein, was unter Umständen mehrere Tage/Wochen dauern kann. In jedem Fall stellen notfallmedizinische Transporte aus dem Polargebiet eine enorme organisatorische, logistische und hohe finanzielle Herausforderung dar. Durch den Einsatz der Telemedizin hat sich die Situation zwar verbessert, da durch die Übermittlung medizinischer Daten und moderner
Kommunikationsmöglichkeiten in gewissem Umfang eine beratende Unterstützung von außen ermöglicht wird. Aber die notfallmedizinische Versorgung vor Ort bleibt immer eine Herausforderung.
7.2
Extreme Bedingungen Historie – Erreichen der Erdpole Die Grönländer nennen den Nordpol: „kingmersoriartorfigssuak, der Ort, an dem man gezwungen ist, seine Hunde zu essen“ (Alexander u. Alexander 1993). Der erste Mensch, der den nördlichsten Punkt mit einer vierköpfigen Expedition und Schneemobilen auf dem Eisweg nachweislich erreichte, war R. Plaisted 1968 (Ramstad u. Pickering 2011; Lawson 2016); ein Jahr später Sir W.W. Herbert mit Hundeschlitten. Die Forscher R.E. Peary und M. Henson behaupteten mit ihrer Crew den geografischen Nordpol am 6. April 1909 betreten zu haben. Die gemachten Aufzeichnungen sind aber wissenschaftlich haltlos, denn zeitlich ist eine Strecke von über 120 km im Eis innerhalb von 56 Stunden hin und zurück sowie die Tagesleistung von 50 km im Packeis unrealistisch. Die geografischen Entdeckungen auf seiner Strecke konnten zudem nicht gefunden werden (Wille 1979). Ein Jahr zuvor nahm F. Cook für sich in Anspruch den Nordpol als erster betreten zu haben. Viele Ungereimtheiten wurden durch Peary als Lüge bezeichnet, was wohl den Tatsachen entsprechen dürfte. Der erste Überflug des Nordpols fand mit der Norge 1926 durch U. Nobile, R. Amundsen und L. Ellsworth statt. 1937 flog eine Gruppe sowjetischer Wissenschaftler zum Nordpol. Unter der Leitung von I. Papanin wurde die erste Polarstation Nordpol-1 errichtet und das Umfeld des Pols betreten. Das erste Seefahrzeug am Nordpol war das U-Boot USS Nautilus (1958). 1977 erreichte als erstes Schiff der sowjetische Atomeisbrecher Arktika den Pol und erst 1991 erreichten nach schwerer Eisfahrt die ersten konventionell betriebenen Schiffe den Pol (Oden, Schweden; Polarstern, Deutschland. Durch eine Resolution in London startete 1895 das große „Wettrennen“ um den Südpol (American Geographical Society 1895), wobei er erst am 14. Dezember 1911 erreicht werden konnte. Die beiden Abenteurer R. Amundsen und R.F. Scott führten einen erbitterten Kampf um die Eroberung dieses „weißen Flecks“ auf der Landkarte. Amundsen erreichte als Erster und genau einen Monat vor seinem Konkurrenten das Ziel. Die Expedition um Scott kam auf dem Rückweg in einen extremen Schneesturm, der alle Expeditionsmitglieder das Leben kostete wegen der extremen Kälte
und Unterernährung (Langner 2007). Das erste Betreten des menschenleeren, antarktischen Kontinents soll deutlich früher gewesen sein, nämlich am 7. Februar 1821 durch J. Davis (Stewart 2011). Die eigentliche Entdeckung um 1820 ist nicht mit Sicherheit zuzuordnen. Berichten zufolge sollen F. von Bellinghausen, E. Bransfield, M.P. Lasarew und N. Palmer innerhalb weniger Wochen im gleichen Jahr die Antarktis gesehen haben (Stackpol 1955). J. Cook durchquerte 1773 wohl als erster den südlichen Polarkreis, wurde jedoch durch Packeis gehindert. Es gibt Hinweise, dass einige Jahrhunderte zuvor Menschen die Antarktis gesehen haben könnten. Auf altem Kartenmaterial ist eine ‚Terra Australis‘ aufgetragen, die mit der heutigen geologisch-geografische Formation ziemlich übereinstimmt (Gurney 2000). Schon in der Antike wurde ein Südkontinent von Ptolemäus (100– 175) hypothetisiert. Überflogen hat den Südpol 1929 erstmalig B. Balchen (Balchen 1958).
7.2.1 Klimatische Besonderheiten Die Arktis hat keine klar festgelegten Außengrenzen, daher werden diese nach der Temperatur bestimmt, und zwar wenn Sie die 10°C Marke in der mittleren Monatstemperatur im Juli nicht überschreitet. Dennoch sind erhebliche Wetter- und Klimaschwankungen vorhanden und es gibt große regionale Unterschiede. Diese kommen dadurch zustande, dass es unterschiedliche Längen der Polarnächte und der Polartage gibt, damit verbunden ist der Einfallwinkel der Sonnenstrahlen und deren Absorption. Zudem ist die Nähe zum Meer mit warmen und kalten Strömungen und Niederschläge ein erheblicher Faktor. In den Polarwintern steigt die Sonne oft nicht über den Horizont, dennoch reicht es aus um das Meereis zu schmelzen. In der Hocharktis hingegen bleibt Land und Meer nahezu ganzjährig gefroren und es kommt zu Temperaturen von –55°C (Permafrost). Der kälteste Punkt in der Arktis ist mit –77,8°C der nordsibirische Ort Oimjakon und nicht der Nordpol. Die Durchschnittstemperatur im antarktischen Inland liegt bei –55°C, die Temperaturen sind jedoch stark jahreszeiten- und lichtabhängig. So wurden in der Polarnacht schon Werte unter –80°C gemessen (–89,2°C niedrigste je in freier Natur registrierte Temperatur, 21.07.1983, sowjetische WostokStation) und in Sommertagen in Küstennähe Temperaturen über dem Gefrierpunkt verzeichnet. Die geografische Lage, unmittelbar den Südpol
umfassend, birgt den Aspekt monatelanger Phasen der Dunkelheit beziehungsweise der Helligkeit, da die Rotationsachse der Erde in diesen Gebieten Phänomene wie Mitternachtssonne und Polarnächte hervorruft. Dadurch, dass der Kontinent zu 98% von Eis bedeckt ist, dessen weiße Fläche den größten Teil der einstrahlenden Sonnenenergie reflektiert, kommt es zu einer hohen Wärmeabstrahlung ins All. Durch die zusätzlich vorherrschende dünne Troposphäre, werden die extrem niedrigen Temperaturen erreicht und dies lässt die Antarktis als trockenste und kälteste Wüste der Welt gelten. Dennoch ist sie kein lebensarmer Raum, vielmehr existiert dort das nahrungsreichste Ökosystem der Welt durch immense Krillvorkommen und daraus resultierend eine umfangreiche Artenvielfalt von Fischen, Walen, Robben über Pinguine sowie zahlreiche Meeresvögel. Zudem besteht eine reiche Fauna und Flora, welche größtenteils Moose und Flechten sowie zwei Blütenpflanzen beherbergt.
7.2.2 Örtliche Besonderheiten Die Arktis ist ein vereistes Meer (von Landmassen umschlossen) und die Antarktis ist ein vereister Kontinent (umschlossen von Ozeanen) (s. Abb. 1 u. 2).
Abb. 1
Landkarte Arktis (mit freundlicher Genehmigung von Dr. Bernd Ramm, www.goruma.de)
Abb. 2
Landkarte Antarktis (mit freundlicher Genehmigung von Dr. Bernd Ramm, www.goruma.de)
Aufgrund der Lage ist an den Polen nur sehr wenig Sonnenlicht und damit wenig Sonnenwärme über das Jahr vorhanden. Die Sommer sind besonders kurz, weshalb es dort immer extrem kalt ist. Aufgrund der Kälte (durchschnittlich –70°C) sind riesige Eismassen entstanden und bilden die größten Eisflächen der Erde. Die Eismassen am Nordpol schwimmen auf dem Nordpolarmeer und umfassen eine Fläche von mehreren Millionen Quadratkilometern, welche die nördlichen Gebiete von Europa, Asien und Nordamerika bedeckt. Der Kontinent Antarktis ist fast vollständig mit einer bis zu 4 Kilometer dicken Eisschicht bedeckt, welches den Speicher von fast Dreiviertel des gesamten Süßwassers der Erde ausmacht. Es ist der kälteste Ort der Erde. Wegen der großen Kälte wächst in den Regionen
kaum etwas, nur in den kurzen Sommermonaten können in den antauenden Grenzregionen besondere Pflanzen wachsen und dienen den wenigen Tierarten als Futter. Ursprünglich lebten nur in der Arktis wenn auch sehr wenige Menschen. Die bekanntesten Bewohner sind die Inuit in Nordamerika und Grönland, die Lappen in Nordskandinavien und Naturvölker im nördlichen Sibirien. Die Antarktis wurde erst nach deren Entdeckung „besiedelt“.
7.2.3 Forschungsstationen Die Erkundungen mithilfe von permanenten oder nur in den Sommermonaten betriebenen Forschungsstationen überwiegen in der Arktis. Zusätzlich werden Driftstationen auf größeren Eisschollen eingerichtet, die längere Zeit über den Arktischen Ozean treiben. In der Antarktis gibt es mittlerweile an die 80 Forschungsstationen. Ungefähr die Hälfte davon sind ganzjährig besetzt, die anderen nur im Sommer. Die meisten Antarktis-Stationen befinden sich in den polarmeernahen Randregionen des Kontinents, nur wenige befinden im Inneren, wie z.B. die Scott-Amundsen-Station (USA), welche direkt am Südpol liegt. Deutschland betreibt aktiv eine ganzjährig besetzte Südpolarstation (Neumayer III, s. Abb. 3) und eine im Sommer betriebene Kohnen-Station (s. Abb. 4).
Abb. 3
Neumayer III Station, Antarktis (mit freundlicher Genehmigung des AlfredWegener-Instituts/Thomas Steuer CC-BY 4.0)
Abb. 4
Blick auf die Kohnen-Station – Dronning Maud Land, Ostantarktika (mit freundlicher Genehmigung des Alfred-Wegener-Instituts/H. Gernandt)
Die Etablierung einer deutschen Forschungsstation begann 1977, als die Bundesregierung beschloss die bereits existierenden Projekte in der Arktis durch eine kontinuierliche Forschung in der Antarktis zu vervollständigen. Erste Sichtungen fokussierten auf das Filchner-Ronne-Schelfeis, welches jedoch aufgrund der schwer zugänglichen und sehr hohen Schelfeiskante keine optimale Versorgung einer Station durch Schiffe zuließ. Daher entschloss man sich für die Errichtung der Station auf dem EkströmSchelfeis in der Atka-Bucht des nordöstlichen Weddell-Meeres (70°39’S 8°15’W). Am 24. Februar 1981 wurde die ganzjährig besetzte GeorgNeumayer-I-Station unter der Schirmherrschaft des Alfred-WegenerInstituts offiziell übergeben. Diese Station hatte keine medizinischen Räume. Nach etwas mehr als 11 Jahren wurde 1993 die Nachfolgestation (Neumayer II) in Betrieb genommen, da durch den jährlichen Schneezutrag die Stabilität der ersten nicht mehr gewährleistet war. Ab diesem Zeitpunkt war bei den Überwinterern ein Arzt im Team und eine kleine Krankenstation vorhanden. Nach weiteren sechzehn Jahren wurde im Februar 2009 die nunmehr immer überirdisch bleibende Neumayer IIIStation eingeweiht (Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung 2017). Diese hat jetzt eine gut ausgestattete medizinische Versorgung, es wird von einem Hospital zur Erst- und Weiterversorgung von Erkrankungen und Verletzungen gesprochen. Bei Notfällen ist es wegen der weiterentwickelten Kommunikationsinfrastruktur mittlerweile oft sogar Leitstelle für Rettungsmaßnahmen.
Die 2001 eröffnete Kohnen-Station ist die zweite deutsche Forschungsstation für bis zu 20 Personen, welche nur im Sommer genutzt wird. Sie liegt im Inneren der Antarktis (75°00’S 00°04’O) auf 2.892 m Höhe. In dieser Station gibt es keine medizinischen Räume. Die Stationen liegen 757 km auseinander und bei den örtlichen und klimatischen Verhältnissen braucht ein Schneefahrzeug neun bis vierzehn Tage dorthin. Eine solche Reise erfordert daher eine präzise Planung und Durchführung. Unvorhersehbare Zwischenfälle sowie ständige Kälte und wechselnde Wetterbedingungen stellen große Anforderungen an die physische und psychische Belastbarkeit. Die amerikanische McMurdo-Station ist die größte Station in der Antarktis und im Grunde wie eine Kaserne aufgebaut. Seit 1956 ist sie in Betrieb und befindet sich auf der Ross Insel (77°51’S 166° 40’O). Mit 800 bis 1.200 Einwohnern im Sommer und fast 150 Personen im Winter ist sie die größte „Stadt“ in der Antarktis. Es befindet sich neben einigen anderen Gebäuden, die man zum Leben und Arbeiten braucht, auch ein Krankenhaus auf dem Gelände, welches mit zwei Ärzten, einem Zahnarzt und sechs weiteren Personen aus dem medizinischen Bereich betrieben wird.
7.2.4 Menschliche Isolation „Früher hätte niemand überlebt“ – die Polarregionen als Bereiche der extremen Isolation, so kommt es in den Berichten der Expeditionsmitglieder immer zum Ausdruck (Schorsch 2011). Dabei ist ein erheblicher Unterschied zwischen der Arktis und Antarktis, denn am Nordpol landet einmal wöchentlich ein Flugzeug bzw. sind im Sommer die Buchten voller Touristenschiffe. Daher hat die Isolation in der Arktis eine eher untergeordnete Auswirkung. In der Antarktis hingegen sind im Polarwinter die Überwinterer nicht mehr erreichbar. Wenn das letzte Flugzeug geflogen oder das letzte Schiff gefahren ist, sind die zurückgebliebenen Personen auf sich gestellt und zwischen Februar und November (ca. 300 Tage) ist keinerlei persönliche Kontaktaufnahme möglich. Wissenschaftlich bietet diese Situation sowohl medizinisch als auch psychologisch einzigartige Bedingungen zur Untersuchung der Isolation auf den Tag-/Nachtrhythmus, die Ernährung und die
psychologischen Veränderungen von kleinen Gruppen zum Teil unter hohem Stress (Tiedemann 2012). Die Isolation bewirkt auch andere Missempfindungen und Erkrankungen – Menschen brauchen die emotionale und soziale Bindung zu anderen Artgenossen, denn man weiß, dass Isolation und Einsamkeit krankmachen oder sogar tödlich enden können (Steptoe et al. 2013); zudem leidet die kognitive Leistungsfähigkeit (Shankar et al. 2013). Dies betrifft alle Überwinterer, also auch den Arzt, die in Gleichgültigkeit, emotionaler Kälte, Zurückgezogenheit und Distanziertheit münden kann. „Unfähig, mit Menschen zu leben, zu reden. Vollständiges Versinken in mich. Stumpf, gedankenlos, ängstlich. Ich habe nichts mitzuteilen, niemals, niemandem“ (Brod 1986). Somit ist es von entscheidender Bedeutung, dass auch in diesem Bereich der Arzt und das ärztliche Laienpersonal eng miteinander verknüpft sind und zusammenarbeiten können, letztlich ein Team bilden, welches im Katastrophenfall reagieren und handeln kann. Dies ist vergleichbar mit den Bedingungen im All auf ISS oder bei zukünftigen Missionen zu anderen Planeten – aktuell der Mars.
7.3
Medizinische Versorgung und Notfall
7.3.1 Medizinische Infrastruktur Die Infrastruktur ist eine ganz wesentliche Komponente in der Versorgung von Patienten. Es bedarf einer entsprechenden Ausstattung der Station mit ausreichender Medikation sowie sterilen Bereichen, sollte eine operative Versorgung notwendig werden. Mittlerweile wird in der Neumayer III Station von einem Hospital gesprochen. Es beinhaltet ein Arztbüro, ein Behandlungs- und Untersuchungsraum, ein klinisches Labor, einen Operationssaal, eine Krankenstation (Intensivbehandlung), eine Röntgeneinheit und eine Apotheke. Der Behandlungsraum ist mit modernen Geräten ausgerüstet, was auch ein Ultraschallgerät beinhaltet. Für die Notfallbehandlung und die weitere intensivmedizinische Betreuung sind entsprechende Geräte für die Herz-Kreislauf- und Lungenfunktion (Beatmung) vorhanden. Für die klinische Chemie und Blutuntersuchungen sind entsprechende Laborgeräte in Betrieb. Für die radiologische
Diagnostik sind ein mobiles Röntgengerät sowie ein C-Bogen vorhanden und die Entwicklung der Bilder wird ebenfalls vor Ort durchgeführt, zudem ist für die zahnmedizinische Diagnostik auch ein Zahnröntgengerät vorhanden. Der Operationssaal ist mit einem kleinen Krankenhaus vergleichbar (s. Abb. 5). Moderne Anästhesiegeräte sowie chirurgisches Instrumentarium bilden einen zentralen Anteil in der notfallmedizinischen Versorgung. Die Sterilisierung der Instrumente und Gegenstände wird ebenfalls selbst durchgeführt.
Abb. 5
OP-Raum der deutschen Antarktis-Forschungsstation Neumayer (mit freundlicher Genehmigung des Alfred-Wegener-Instituts/Stefan Christmann CC-BY 4.0)
Für die notfallmedizinische Versorgung werden sowohl mobile als auch spezielle ‚first aid‘ Koffer vorgehalten, die bis in die weiten, kalten Regionen gebracht werden können um auch hier eine optimale Erstversorgung durchführen zu können. Für den Patiententransport werden Tragen und Intensivliegen bereitgestellt, welche vom Ort des Geschehens bis zum Hospital einen sicheren Transport auf den Ski-Doos gewährleisten können. Nach der Erstversorgung und Stabilisierung des Patienten muss die Verlegung geplant und durchgeführt werden. Dies ist zumeist mit einem langen Transport auf dem Luftweg verbunden und bei Schwerstverletzten muss ein MedEvac organisiert werden. Die tertiären, aufnehmenden Kliniken in der Arktis sind unproblematisch denn Spitzbergen (Norwegen) hat eine eigene Klinik. Weitere Kliniken befinden sich in Norilsk (Sibirien, RUS), Tromsø (Norwegen) und Barrow (Alaska, USA). Auf dem antarktischen Kontinent selbst existiert keine Klinik. Auf der nachfolgenden
Karte sind die Luftwege und die entsprechenden Orte aufgezeigt, die eine Notfallversorgung, jedoch nach einer langen Flugzeit, darstellen können.
7.3.2 Arzt und medizinisches Team Gerade in der Abgeschiedenheit der Antarktis muss die medizinische Versorgung aus heutiger Sicht absolut sichergestellt sein (Fodstad et al. 1999). Expeditionsteilnehmer werden vor einer solchen Mission entsprechend vorbereitet und ausgebildet. Sie lernen wie man Verunglückte aus z.B. Eisspalten rettet bei ganztägiger Dunkelheit, klirrender Kälte, starken Stürmen und vor allem über eine lange Distanz transportiert, zumindest zwischen dem Unfallort und der Station. Ein Weitertransport zu einer tertiären Einrichtung ist in den Wintermonaten nicht mehr möglich. Das heißt im Krisen- oder beim Unfall sind die Patienten nicht mehr zu weiterführenden medizinischen Einrichtungen zu transportieren und der Arzt sowie das medizinische Personal müssen die gesamte Situation vor Ort allein bewältigen. Dieser Personenkreis, aber vor allem der Arzt hat eine ganz zentrale Aufgabe und ist bei solchen Expeditionen immer dabei und eine der wertvollsten Positionen beim Unternehmen. Eine Überwinterung ist (heute) ohne den Arzt nicht möglich, eine Zuführung eines Ersatzes jedoch auch nicht, daher muss er nicht nur sehr gut ausgebildet, sondern wie alle Teilnehmer bei guter Gesundheit sein. Daher werden die Teilnehmer nach strengen medizinischen und psychologischen Kriterien ausgewählt. Aber auch der Arzt kann mal Betroffener sein, dann wird die Lage extrem schwierig. Auf der deutschen Überwinterungsstation ist ganzjährig ein Arzt, welcher zumeist auch der Stationsleiter ist. Die Forscher und Logistiker werden durch einen Arzt versorgt, der sich mit seiner Situation und den Gegebenheiten vertraut machen muss. Die Ausbildung ist hierbei ein entscheidender Faktor und es wird immer eine Facharztausbildung gefordert. Die Einstellungsvoraussetzungen für den Arzt sind: Facharztausbildung Chirurgie/Unfallchirurgie, Kenntnisse in Zahnmedizin und Anästhesie sowie ein umfangreiches allgemeinmedizinisches Wissen. Das medizinische Hilfspersonal wird ausgebildet und dabei auf medizinische Erfahrungen aufgebaut, wenn diese bei den sich freiwillig
meldenden Überwinterern vorhanden sein sollten. Es werden Praktika für die Laienhelfer durchgeführt, was die Ausbildung im Operationssaal und in der Ambulanz beinhaltet. Dies wird durch die Kooperation mit dem Klinikum Bremerhaven-Reinkenheide sichergestellt. Während der Winterzeit sind der Arzt und zwei bis drei Laienhelfer vor Ort, die die gesamte medizinische Versorgung sicherstellen müssen, ohne eine direkte medizinische Hilfe von extern. Es gibt Planungen/Ideen einen Masterstudiengang anzubieten, der sich mit Medizin in solchen Settings beschäftigt, welches eine optimale Abrundung ermöglichen könnte (Haston et al. 1996).
7.3.3 Erkrankungs- und Notfallarten Die Arten der Erkrankungen und der Notfälle unterscheiden sich in der Arktis und Antarktis grundlegend. Die Personen, die in die jeweilige Region kommen, sind unterschiedlich. In der Arktis sind es neben Wissenschaftlern vor allem Touristen, die eine Reise dorthin unternehmen. Im Gegensatz zur Antarktis, wo sich fast ausschließlich Wissenschaftler aufhalten. Die Touristen brauchen keine medizinische Untersuchung, hingegen müssen sich die Antarktisreisenden einer medizinischen Voruntersuchung unterziehen (Australian Government 2010). In der Arktis sind eher Erkrankungen aus dem allgemeinmedizinisch-internistischen Spektrum vorhanden, da viele Touristen dort hinfahren. Grippale Infekte, Lungeninfekte und HNO-ärztliche Erkrankungen sind am häufigsten. Notfälle mit einer intensivmedizinischen Betreuung kommen zwar vor, sind aber eher die Seltenheit (Norum u. Elsbak 2010). Statistisch ausgewertet dominieren in der Arktisregion bei Notfällen mit tödlichen Ausgang die Suizide, Vergiftungen und Verkehrsunfälle (s. Abb. 6 u. 7), im anderen Fall die Stürze, Verkehrsunfälle sowie Tierangriffe (Pollock et al. 2016; Grete et al. 2010).
Abb. 6
Statistische Auswertung der tödlichen Unfälle in Alaska nach Altersgruppen im Zeitraum 2011 bis 2015 aus „Alaska Bureau of Vital Statistics (last update11/08/2016, Ambrosia Roming)“, angefertigt von Andreas Werner
Abb. 7
Statistische Auswertung der nicht-tödlichen Unfälle in Alaska nach Altersgruppen im Zeitraum 2011 bis 2015 aus „Alaska Bureau of Vital Statistics (last update11/08/2016, Ambrosia Roming)“, angefertigt von Andreas Werner
In der Antarktis sind es zwar auch vornehmlich allgemeinmedizinische Erkrankungen, dennoch kommen aufgrund des Personenkreises, nämlich Wissenschaftler und Personal durch ihre entsprechende Funktion, eher Verletzungen vor, die chirurgisch versorgt werden müssen. Aber auch internistische Erkrankungen müssen entsprechend behandelt werden – zum Teil bedürfen sie auch einer intensivmedizinischen Versorgung (Ogle u. Dunckel 2002; Ingebrigtsen et al. 2003). Vergleicht man beiden Regionen im Sinne von spärlich und dicht „besiedelt“ hinsichtlich der Schwere des medizinischen Status so ist festzustellen, dass in den menschleeren Gebieten diese schwerwiegender sind als in den menschenreichen und dadurch werden auch mehr Medikamente eingesetzt (Beillon et al. 2009). In beiden Regionen kommen als gemeinsame Verletzungsarten natürlich die durch Temperatur bedingten Erfrierungen und Mortalitäten vor (Moghadamnia et al. 2017).
7.3.4 Patientenevakuierung und -transport Durch die monatelang andauernde absolute Unerreichbarkeit der Stationen, kann man auf die folgenden Transportmöglichkeiten nur sehr beschränkt zurückgreifen. Dennoch sind auch während der anderen Zeiten, in denen ein Transport möglich ist, die Evakuierungsmöglichkeiten und -wege schwierig und langwierig. Die Rettungskette muss minutiös geplant werden in der Hoffnung, dass auch alles zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist (Podkolinski u. Semmens 1979; Mahura u. Baklanov 2004). Landtransport Landverkehr in der Antarktis wird für gewöhnlich zu Fuß (mit Skiern oder Schneeschuhen) oder Fahrzeugen (Kettenfahrzeuge wie Schneemobile und Bulldozer und in der Vergangenheit Hundeschlitten) absolviert. 1964 begann die australische Mawson-Station, eine Reihe von VW Käfern zu
verwenden, der erste Serienwagen, der in der Antarktis genutzt wurde. Das erste Modell erhielt den Namen ‚Antarctica 1‘. Die wenigen, qualitativ schlechten und häufig schneeverwehten Straßen begrenzten jedoch die Einsatzmöglichkeiten stark. Eine der Hauptstraßen ist die South Pole Traverse, welche etwa 1.450 Kilometer ist und die amerikanische McMurdo-Station an der Küste mit der Amundsen-Scott-Südpolstation verbindet. Zwischen der russischen Station Mirny und der Wostok-Station existiert eine ungeebnete Schneepiste, die zur alljährlichen Versorgung mit Nahrungsmitteln, Treibstoff und anderen Gütern dient. Für rettungsdienstliche Einsätze gibt es keine Fahrzeuge, nach den allgemein gültigen Regeln. Wenn ein Landtransport unumgänglich ist, muss man auf die vorhandenen Fahrzeuge zurückgreifen und diese gegebenenfalls für einen derartigen Transport umrüsten und vorbereiten. Seetransport Der einzige Hafen der Antarktis befindet sich bei der McMurdo-Station. Die meisten Küstenstationen haben aber Ankerplätze vor der Küste, von wo aus Waren mit kleineren Booten, Frachtkähnen oder Helikoptern an Land gebracht werden. Einige Stationen haben einfache Werfteinrichtungen. Der Eisbrecher Polarstern ist das deutsche Forschungsschiff, welches ebenfalls die Versorgung vornehmlich der deutschen Stationen durchführt. Das Schiff lief 1982 vom Stapel und ist seitdem zu Expeditionen in der Arktis und Antarktis mit international zusammengesetzten Forschergruppen im Einsatz. Es sind zwar auch zwei Hubschrauber an Bord, die jedoch nicht für Rettungseinsätze ausgelegt sind, sondern für Aufklärungsmissionen. Eine medizinische Versorgung bis hin zur Operation ist jedoch in den medizinischen Räumen des Schiffs möglich. Der Schiffsarzt ist immer ein Chirurg wie auf der Neumayer III Station. Zudem gibt es eine telefonische und eine telemedizinische Anbindung an die deutsche Kooperationsklinik (Stüwe u. Hauenschild 2011). Lufttransport Schon in den 1950er-Jahren gab es Überlegungen zur Errichtung einer Landebahn in der Antarktis. Wegen politischer, logistischer und ökologischer Einwände konnte der Bau erst 2005 begonnen werden (The
Sydney Morning Herald 2008), welcher fast 3 Jahren andauerte. Die australische Civil Aviation Safety Authority (CASA) genehmigte der Fluggesellschaft ‚Skytraders‘ den ersten Flug im Januar 2008 (Clarke 2008). Die 3.200 m lange Landebahn wurde aus dem Eis gefräst und liegt in mehr als 700 m Höhe auf einem etwa 500 m dicken Gletscher (Australian Government 2017). Der Standort wurde wegen seines relativ flachen Geländes sowie seiner im Vergleich zur Küste höhenbedingt niedrigeren Temperaturen gewählt – das Risiko der Eisschmelze während des Sommers ist dadurch geringer (Colborne 2010). Die Flugplatzoberfläche besteht zu ca. 70% aus reinem Eis, der Rest ist eine Schneeschicht von weniger als einem Meter. Sie kann ausschließlich von Oktober bis März betrieben werden. Flüge können nur stattfinden, wenn keine Niederschläge vorhergesagt wurden, da aus Umweltschutzgründen keine Enteisungsflüssigkeiten erhältlich sind. Der 4½-stündige Flug (spart eine 10-tägige Schiffsreise) startet auf dem Hobart International Airport in Tasmanien und ist nur für Wissenschaftler und Angestellte der Stationen bestimmt. Neben der Landebahn wurden umgebaute Schiffscontainer aufgestellt, die die Infrastruktur bilden. Neben Wohnungen und Transiträumen sind Lagerräume, Notfalleinrichtungen, eine Navigationsund meteorologische Station, medizinische Versorgung, Werkstätten, Schutzbauten für Kommunikationseinrichtungen, Abstellmöglichkeiten für Fahrzeuge und Schlitten, Ausrüstung zur Stromerzeugung und Brandbekämpfung, Treibstofflager sowie Betankungsausrüstung vorhanden. Von dort aus fliegen weitere Flugzeuge (BT-67, DHC-6 Twin Otter) innerhalb der Antarktis zu den jeweiligen Stationen (Casey-Station, Mawson-Station, Davis-Station). Im Gebiet der deutschen Station sind auch Dornier 228 im Einsatz, welche für Such- und Rettungsaufgaben (SAR) bei Notfällen zur Verfügung stehen (Norum u. Elsbak 2011a u. 2011b). Telemedizin Der telemedizinischen Versorgung kommt in den Regionen eine besondere Bedeutung zu, denn es sind nicht alle medizinischen Bereiche, wie man sie in einer Klinik vorfindet, in den Polarregionen personell und infrastrukturell realisierbar (Grant 2004; Ohno et al. 2012). Der Ausbildung des begleitenden Arztes kommt eine besondere Bedeutung zu, aber auch dieser
kann nicht alle Eventualitäten abdecken. Daher ist es notwendig, eine telemedizinische Versorgung vorzuhalten, um Fachexpertise bei Erfordernis hinzuziehen zu können. Bis zu 10 Monate sind die Arbeiter und Wissenschaftler der Stationen im antarktischen Winter nur über Satellit mit der Außenwelt verbunden. Ein Chirurg ist zwar stets Mitglied der Überwinterungsmannschaft, aber es gibt kein weiteres medizinisches Personal, welches unterstützen kann. Daher ist er auf die „Laienhelfer“, die sich aus den anderen Mitgliedern der Mannschaft rekrutieren, angewiesen. Um hier eine Verbesserung herbeizuführen, wurde 2004 begonnen, eine telemedizinische Komponente zu testen, welche seit 2005 zumindest in der Neumayer-Station fester Bestandteil geworden ist. Damit können die mehrere tausend Kilometer entfernten Ärzte virtuell miteinander kommunizieren und sogar das Monitoring während einer OP verfolgen und gegebenenfalls eingreifen. Die Übertragung geschieht nahezu in Echtzeit, Aussetzer gibt es praktisch nicht und die Qualität der übertragenen Bilder ist so gut als wären sie innerhalb eines Krankenhauses übertragen worden. Für die Neumayer-Station ist eine Zusammenarbeit mit dem Klinikum Bremerhaven vorhanden und mit dem Corlink-System werden die medizinisch relevanten Daten dorthin übertragen und bewertet. Damit kann die Narkose überwacht und mithilfe des Telefons oder direkt über einen Bildschirm eingegriffen werden, sodass der vor Ort behandelnde oder operierende Arzt die notwendige Unterstützung bekommt (Alfred Wegener Institut für Polar- und Meeresforschung 2005). Kasuistik Neben rein wissenschaftlichen Aktivitäten finden während der Sommersaison auf den Station in der Antarktis auch technische Arbeiten wie Instandhaltungs- und Baumaßnahmen rund um die Station statt. Außerdem besteht allgemein ein großes Interesse der Öffentlichkeit an den Geschehnissen in der Antarktis. So war die Idee entstanden, einen Dokumentarfilm über eine Überwinterung zu drehen, was schließlich vom Alfred-Wegener-Institut genehmigt worden war. In diesem Zusammenhang fanden während der Sommersaison Dreharbeiten einige Kilometer von der Station entfernt statt, bei denen es um technische Vorbereitungen für die geplante Neuerrichtung der Neumayer-III-Station ging. Dabei kam es zu einem folgenschweren Unfall, bei dem aufgrund einer Verkettung mehrerer unglücklicher Umstände ein 41-jähriger Mann, bei dem es sich nicht um ein
Mitglied des Überwinterungs-Teams handelte, von einer Pistenraupe überfahren wurde und vom Fahrer zunächst unbemerkt für etwa eine Minute unter den Ketten der Pistenraupe, die inzwischen zum Stehen gekommen war, eingeklemmt wurde. Nachdem der Unfall registriert worden war und die verunglückte Person aus ihrer Position befreit werden konnte, erfolgte über Funk die Alarmierung des Stationsarztes, der sich daraufhin mit dem SkiDoo und einer auf dem angehängten Schlitten transportierten Notfallmedizinkiste von der etwa 3 km entfernten Station zum Unfallort begab. Die Situation am Unfallort stellte sich folgendermaßen dar: Patient bekleidet am Boden auf einer Rettungsfolie unter einer Decke liegend. Ansprechbar, reagiert adäquat auf Fragen und Aufforderungen. Erinnerung an das Unfallereignis etwas verschwommen. Puls regelmäßig, normofrequent, Atmung etwas oberflächlich, aber regelmäßig. Bei orientierender Untersuchung kein sicherer Hinweis auf knöcherne Verletzungen. Beine und Arme können bewegt werden, wobei eine Einschätzung des Kraftgrades nicht sicher möglich ist. Aufgrund der am Unfallort und der Situation nur sehr eingeschränkten Untersuchungsbedingungen erfolgte mithilfe einer Rettungstrage der Liegendtransport in einem Kabinen-Bully auf die Station. Dabei erhielt der Verunglückte während des Transports Sauerstoff über eine Nasensonde. Während des Transports blieb der Zustand des Patienten stabil. Nach Ankommen auf der Neumayer-II-Station erfolgten im Stationshospital das Legen eines venösen Zuganges zur Infusionsbehandlung mit Blutabnahme sowie das Entkleiden und die detaillierte klinische Untersuchung des Patienten. Dabei fiel bei Kompression des Thorax eine linksseitige knöcherne Krepitation auf. Bei Auskultation und Perkussion kein eindeutiger Hinweis auf Pneumothorax. Kein Hinweis auf Extremitätenverletzungen. Sonographie des Abdomens ohne Nachweis einer Organverletzung. Im Röntgen des Thorax bei nicht optimaler Bildqualität erkennbare Frakturen mehrerer Rippen linksseitig. Kein eindeutiger Nachweis eines Pneumothorax. Pulsoxymetrisch war allerdings eine Tendenz zur Verschlechterung der Oxygenierung festzustellen. Nach Erhebung der o.g. Befunde wurden folgende Maßnahmen durchgeführt: Intubation mit Etomidate und Succinylcholin, kontrollierte Beatmung mit dem Narkosegerät mit 40% O2 unter kontinuierlicher Gabe von Propofol über Perfusor und intermittierenden Gaben von Pancuronium zur Sedierung bzw. Relaxierung. Legen einer linksseitigen Thoraxdrainage mit einem Sog zwischen 15 und 20 cm Wassersäule. Sowohl die Kreislaufsituation als auch die Oxygenierung des Patienten waren dabei stabil. Die inzwischen etablierte telemedizinische Ausrüstung der Station
befand sich zu diesem Zeitpunkt noch im Aufbau, sodass sie zur Behandlung dieses Patienten noch nicht zur Verfügung stand. Zeitgleich mit den Behandlungsmaßnahmen fanden intensive Bemühungen zur Ermöglichung eines möglichst raschen Rettungsfluges des Patienten in das ca. 4.000 km entfernte Kapstadt statt, wo eine dort ansässige große Klinik kontaktiert worden war, die bereit war, die Behandlung des Patienten zu übernehmen. Dies gestaltete sich insofern etwas schwieriger als erwartet, da kurzfristig ein fertig ausgerüstetes Rettungsflugzeug nicht zur Verfügung stand und notfallmäßig ein anderes Flugzeug mit den dafür notwendigen Utensilien ausgerüstet werden musste, was die Rettungsaktion deutlich verzögerte. Da die Landung eines solchen Flugzeugs auf der Landebahn der NeumayerII-Station nicht möglich war, sondern nur auf der mehrere hundert Kilometer östlich gelegenen norwegischen Polarstation Troll, musste außerdem ein Transport des Patienten dorthin organisiert und mit dem Rettungsflug aus Kapstadt koordiniert werden. Nach Kontaktaufnahme mit der der NeumayerStation nächstgelegenen südafrikanischen Polarstation Sanae, wo während der Sommersaison die Hubschrauber des südafrikanischen Forschungsschiffes stationiert sind, erklärten sich diese bereit, einen ihrer Hubschrauber samt Piloten zur Verfügung zu stellen, um den Transport auf die norwegische Station durchzuführen. Aus den genannten Gründen war frühzeitig klar, dass der Patient zumindest bis zum darauffolgenden Tag weiter auf der Neumayer-Station behandelt werden musste. Dabei traten keine wesentlichen Probleme auf. Nachdem am nächsten Tag um die Mittagszeit mitgeteilt wurde, dass das umgerüstete Flugzeug in Kapstadt gestartet war, konnte auch damit begonnen werden, den Hubschraubertransport nach Troll so zu organisieren, dass sowohl die Landung des Hubschraubers von der Neumayer-Station als auch die des aus Kapstadt ankommenden Flugzeuges möglichst ohne große zeitliche Differenz stattfanden. Nach Erstellung eines entsprechenden Zeitplanes wurde der Verunglückte dann zum vereinbarten Zeitpunkt unter Einsatz des transportablen Beatmungsgerätes und der mitgeführten Sauerstoff-Flaschen auf einer Rettungstrage in den aus Sanae angekommenen Hubschrauber verbracht und unter Begleitung zweier Ärzte unter kontinuierlichem Monitoring nach Troll geflogen. Der erstellte Zeitplan funktionierte dabei optimal. Während des Landeanfluges mit dem Hubschrauber war das aus einer anderen Richtung gleichzeitig ankommende Rettungsflugzeug zu erkennen, sodass ein annähernd verzögerungsfreier Übergang zwischen dem Hubschraubertransport und Rettungsflug möglich war. Nach kurzer mündlicher Übergabe und Mitgabe eines schriftlichen Arztberichtes hob wenig später das Flugzeug in Richtung Kapstadt ab. Für das Gelingen des
Rettungsfluges waren dabei auch die günstigen Witterungsbedingungen entscheidend. Unter anderen Bedingungen hätte hier durchaus eine noch kritischere Situation entstehen können, da z.B. die für das Aufrechterhalten einer künstlichen Beatmung notwendigen medikamentösen Ressourcen und trotz vorhandenem Narkosegerät und Ausrüstung mit Notfallmedikamenten auch die logistischen Möglichkeiten zur Intensivtherapie auf einer Polarstation deutlich begrenzt sind und somit auch nur ein begrenztes Zeitfenster zur Evakuierung eines Schwerverletzten zur Verfügung steht. Dies bewahrheitete sich auch im weiteren Verlauf, da bei den täglichen Telefonaten mit den behandelnden Ärzten zu erfahren war, dass sich insbesondere die pulmonale Situation in den nächsten Tagen in Kapstadt durch Entwicklung eines ARDS zunächst progredient verschlechterte, sodass schließlich vorübergehend sogar eine Beatmung mit 100% O2erforderlich war. Die zu diesem Zeitpunkt durchaus berechtigten Befürchtungen, dass der Patient den Unfall nicht überleben würde, bewahrheiteten sich zum Glück nicht – schließlich konnte er extubiert und nach ca. 4-wöchigem Aufenthalt in Kapstadt nach Deutschland geflogen werden. Leider war es im Rahmen des Unfalles auch zu einem im CCT nachgewiesenen Hirninfarkt am ehesten aufgrund einer vorübergehenden zerebralen Ischämie gekommen, was eine Hemiparese zur Folge hatte, von der sich der Patient nicht vollständig erholte, sodass trotz des Überlebens eine gesundheitliche Einschränkung verblieb. Eine als mögliche Ursache für die zerebrale Ischämie zunächst angenommene Verletzung einer der hirnzuführenden Arterien konnte nicht bestätigt werden. Während eines Wiedersehens Jahre danach, erfreute sich der Patient guter Gesundheit, bis auf eine Unterarmgehstütze, aufgrund der neuronalen Schädigung, war augenscheinlich soweit alles genesen.
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V Besondere Situationen und Spezialfragen
1
Einsätze unter besonderer öffentlicher Wahrnehmung
Veronika Morhart-Bojko und Falko Schmid
Vor dem Hintergrund von Einsätzen unter besonderer öffentlicher Wahrnehmung der letzten Zeit reflektieren die Autoren bekannte Einsatzabläufe in den folgenden Katastrophensituationen, mit dem Ziel, vorhandene Kompetenzen aufzuzeigen und weiterzuentwickeln: bei Naturkatastrophen bei MANV/Katastrophen in Industrie und Verkehr bei extremen Gewaltdelikten und Terroranschlägen
1.1
Naturkatastrophen
Ende Mai/Anfang Juni 2013 kam es in sieben Ländern Mitteleuropas durch anhaltende Regenfälle zu schweren Überschwemmungen. In Deutschland waren durch das Hochwasser vor allem die Bundesländer BadenWürttemberg, Bayern, Brandenburg, Niedersachsen, Sachsen, SachsenAnhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen betroffen. In 55 Landkreisen musste Katastrophenalarm ausgerufen werden, vor allem in Bayern, Sachsen und Sachsen-Anhalt. Die regionalen Feuerwehren entsandten in der ersten Juniwoche knapp 43.500 Einsatzkräfte in die betroffenen Gemeinden, wobei auch aus anderen Bundesländern Feuerwehrkräfte zur Unterstützung hinzugezogen wurden. Bis zum 9. Juni 2013 wurden über 75.000 Feuerwehrleute eingesetzt, der bis dato größte Feuerwehreinsatz der Bundesrepublik Deutschland. Ab dem 28. Mai 2016 trafen Deutschland schwere Unwetter mit Starkregen, Blitzeinschlägen, Überschwemmungen, Sturzfluten, Schlammlawinen, Windböen, Hagel und Tornados. Hierdurch kam es unter anderem durch beispielsweise überflutete Straßen zu schweren Verkehrsbeeinträchtigungen – also auch Blockaden von Rettungswegen. Umgestürzte Strommasten führten in größeren Gebieten zu weiteren
zeitweisen Zusammenbrüchen relevanter Infrastruktur und behinderten sowohl Notruf- und öffentliche Informationssysteme als auch die Kommunikation der beteiligten Organisationen und Behörden untereinander.
1.2
Massenanfall an Verletzten und Erkrankten in Industrie und Verkehr
Im Rahmen der „Love Parade“ kam es am 24. Juli 2010 in Duisburg zu einer Massenpanik infolge Überfüllung der Veranstaltung. Planungsfehler und fehlgeleitete Besucherströme im Zugangsbereich führten zu Gedränge unter den Besuchern, in dessen Folge 21 Menschen starben und 541 weitere verletzt wurden. Bei dem Eisenbahnunfall von Bad Aibling am 9. Februar 2016 stießen zwei Personentriebzüge auf der Bahnstrecke Holzkirchen – Rosenheim bei Bad Aibling frontal zusammen. Zwölf Menschen starben, 85 wurden verletzt, 24 davon schwer. Auf einem Sommerausflug einer 45-köpfigen Jugendfeuerwehrgruppe aus Schleswig-Holstein sind am 30. Juli 2016 22 Jugendliche und drei Betreuer offenbar am Norovirus erkrankt. Acht Personen wurden in ein Krankenhaus eingeliefert. Am 17. Oktober 2016 ereignete sich ein schwerer Unfall bei BASF in Ludwigshafen mit zwei Explosionen und einem mehr als zehn Stunden andauernden Brand. Bei dem Unfall starben insgesamt drei Angehörige der Werksfeuerwehr BASF sowie ein Matrose eines Tankschiffes. Dreißig weitere Personen wurden verletzt, acht davon schwer. Zwei Opfer der örtlichen Feuerwehr starben im Einsatz, ein schwerverletzter Feuerwehrmann erlag zwölf Tage später seinen Verletzungen. In Ludwigshafen selbst wurde der Katastrophenfall ausgerufen, 133 Menschen mussten aus dem Gefahrenbereich evakuiert werden.
1.3
Extreme Gewaltdelikte und Terroranschläge
Am 22. Juli 2016 tötete der 18-jährige Schüler David S. im Rahmen eines Amoklaufs im Olympia-Einkaufszentrum in München neun Menschen. Vier weitere erlitten Schussverletzungen. Mindestens 32 Personen verletzten sich auf der Flucht oder aufgrund der Panik, die in der Münchner Innenstadt ausbrach. Die Polizei war mit einem Großaufgebot im Einsatz. Gut zweieinhalb Stunden nach Beginn des Amoklaufs stellte die Polizei den Täter in der Nähe des Einkaufszentrums, woraufhin dieser sich erschoss. Die deutschen Fernsehsender berichteten nach Bekanntwerden der Schüsse ausführlich über die Ereignisse. Die ARD zog den Beginn der Hauptausgabe der Tagesschau auf 19:23 Uhr vor und berichtete über drei Stunden lang. Bei dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz erschoss ein 24-jähriger Attentäter am 19. Dezember 2016 den Speditionsfahrer eines Sattelzuges, raubte dessen LKW und steuerte diesen gegen 20:00 Uhr in eine sich auf dem Weihnachtsmarkt befindende Menschenmenge. Elf Menschen wurden getötet, 55 weitere zum Teil lebensgefährlich verletzt. Der Täter wurde am 23. Dezember 2016 bei einer Routinekontrolle in Italien von der Polizei erschossen.
1.4
Grundsätzliches zur Einsatzabwicklung
Bei Einsätzen unter besonderer öffentlicher Wahrnehmung ergeben sich für die Einsatzkräfte folgende Besonderheiten in der Versorgung: 1. Die zur Katastrophe führenden Auslösefaktoren bestehen meist zum Zeitpunkt des Einsatzes fort und betreffen natürlich auch direkt die Einsatzfähigkeit der Rettungskräfte, wie zum Beispiel: Wetterbedingungen planerische/bauliche Gegebenheiten unklare Gefahrenlage 2. Schwierigkeiten bei Koordination und Kommunikation, logistische Probleme durch Zusammenbruch der etablierten Infrastrukturen. 3. Zusammenbruch der (Regel-)Versorgung, vor allem in unklaren Gefahrenlagen, durch menschliche Faktoren.
4. Nichtverfügbarkeit der vorgehaltenen Ressourcen durch die Katastrophe selbst. 5. Öffentliche Wahrnehmung, Flut an individuellen Eindrücken und Informationen über die sozialen Medien, mit der Schwierigkeit, die Informationsmasse nach „hilfreicher Information“ oder „individueller Interpretation“ zu prüfen und zu differenzieren: Die ungefilterte Informationsflut über die sozialen Medien bergen ein hohes Gefahrenpotenzial durch fehlerhafter Interpretation der ungerichteten Informationsflut und darauf beruhender fehlerhafter Einschätzungen der Lage mit unter Umständen eklatanten Fehlentscheidungen.
Und diese wiederum mit unmittelbarem Einfluss auf die Nachbereitung der Einsatzlage und die öffentliche Darstellung und Diskussion in Politik und Medien – unter Umständen mit Nachwirkungen auf politische Köpfe und Hilfsorganisationen.
1.4.1 Vom vorhandenen Wissen ausgehen – nicht immer möglich Die öffentliche Wahrnehmung der vorstehend nicht abschließend aufgeführten Ereignislagen steht in unmittelbarer Wechselwirkung mit dem jeweiligen Ereignis. Konkrete Einsatzvorbereitungen sind möglich bei (inter-)nationalen Großveranstaltungen in Sport, Gesellschaft, Kultur und Politik. Die Einsatzkräfte können sich in Ruhe und planmäßig auf das bevorstehende Ereignis vorbereiten. Erfahrungen und Erkenntnisse aus bisherigen analogen Einsätzen bilden hierbei den Grundstock und können individuell der aktuellen Veranstaltung angepasst werden. Sofern hierbei nichts außergewöhnlich Berichtenswertes passiert, gewinnen formelle und informelle Mitteilungen über die Kompetenz rettungsdienstlicher Strukturen ebenso an Bedeutung wie auftretende Befindlichkeitsstörungen in den Bereitstellungsräumen. Hierbei gilt es in der Tat relevante Sachverhalte als solche zu erkennen, zu bewerten und in die Planung einzubeziehen. Bei der Bewältigung solcher Einsatzlagen kann
meist auf Erfahrungswerte aus anderen (analogen) Lagen zurückgegriffen und vom Erfahrungsschatz profitiert werden. Anders bei nicht sicher planbaren Lagen oder Ereignissen ohne Vorwarn-/Vorbereitungszeit, bei denen dann vor allem die mentalen Anforderungen an die beteiligten Menschen eine zentrale Rolle in der Einsatzabwicklung spielen: Gerade bei unerwartet eintreffenden Ereignissen kommt es darauf an, die heutzutage vor allem meist über soziale Medien eintreffende, primär subjektiv (durch mehr oder weniger panische Anwesende Personen, HörenSagen etc.) geprägte Informationsflut schnellstmöglich auf ihre Informationsqualität, -validität und -reliabilität zu filtern, um in kürzest möglicher Zeit ein realistisches Lagebild zu erhalten. Die außergewöhnliche mentale Anforderung besteht dabei darin – über persönliche Befindlichkeiten hinweg – effizient zu denken, Schlussfolgerungen zu ziehen und Entscheidungen zu treffen. Persönliche Aspekte, Befindlichkeiten oder zwischenmenschliche Differenzen in den Führungsebenen dürfen hierbei keine Rolle spielen. Kurz: nicht gefragt sind in dieser Situation übersteigertes Ego, Geltungsdrang und Selbstüberschätzung, sondern einzig und allein die Fähigkeit rascher Auffassungsgabe, strukturierten analytischen Denkens, Informationsverarbeitung, sowie die Fähigkeit, richtige Schlüsse zu ziehen, konkrete Entscheidungen zu fällen und im größten Chaos Arbeitsstruktur zu etablieren. Insofern besteht ein wesentlicher Erfolgsfaktor in der Abwicklung einer unübersichtlichen Einsatzlage in der taktisch vernünftigen Besetzung der einzelnen Führungsstabspersonalien: Im Zweifelsfall sollten individuelle Fachkompetenzen und Fähigkeiten im Sinne der operativen Lageabwicklung höher priorisiert werden, als politisch oder persönlich motivierte Besetzungen. Dies gibt dem einzelnen Entscheidungsträger Handlungssicherheit in der Komplexität der Lage.
1.4.2 Schnelle Rückkehr zur Normalität
Die Rückkehr zum Alltag fällt naturgemäß schwer in Anbetracht all der Folgen, die das jeweilige Ereignis hatte. Sie bildet aber den Kern der Lagebewältigung und stellt damit letztendlich den Gesamtauftrag dar. Diesem Anspruch gilt es zu erfüllen. Doch was ist nun „Normalität“? Normalität ist aus soziologischer Sicht das Selbstverständliche in einer Gesellschaft, das nicht mehr erklärt und über das nicht mehr entschieden werden muss. Dieses Selbstverständliche betrifft soziale Normen und konkrete Verhaltensweisen von Menschen. Es wird durch Erziehung und Sozialisation vermittelt und gewährleistet Sicherheit (Handlungskompetenz) zwischen den Menschen einer Gesellschaft. Wenn eine Krisensituationen erfolgreich beendet wurde, kehrt die Gesellschaft folglich wieder zur Normalität zurück. Jedoch haben – insbesondere im Rahmen der COVID-19-Pandemie – die Erfahrungen gezeigt, dass gerade die sozialen Medien und die öffentliche Berichterstattung einen wesentlichen Anteil daran haben, wann die „Normalität“ als wieder erreicht wahrgenommen wird – unter Umständen völlig unabhängig von der tatsächlichen Lage. Vor allem durch die Bedeutung der Kommunikation über soziale Medien ist die Frage von „individueller“ Wahrnehmung und „tatsächlicher“ Sachlage nicht immer eindeutig zu klären – was wiederum zu Entscheidungsirrtümern aufseiten der operativen Einsatzleitungen und politischen Entscheidungsträgern führen kann.
1.4.3 Adäquates Erreichen Einzelner in der Bevölkerung Vor allem seitens der Einsatzleitungen gilt es, ebenso kultur- wie sprachbezogen differente soziale Gruppierungen mit validen und reliablen Informationen bei Ereignissen mit besonderer öffentlicher Wahrnehmung zu versorgen. So sehr wir rettungsdienstlich die Signalfarbe „rot“ gewöhnt sind: in rot oder grün geschriebene Informationstexte können bis zu acht Prozent der männlichen Bevölkerung nicht oder schlechter lesen (DeuterAnomalie). Ebenso gilt es, Menschen mit besonderer Anforderung an Sehfähigkeit und Gehör, auch in Ausnahmesituationen sicher zu erreichen. Gerade die heutzutage gepflegten Social-Media-Auftritte gilt es hierbei zu berücksichtigen.
Bei mutmaßlich länger dauernden Einsätzen mit besonderer öffentlicher Wahrnehmung „darf“ auch das Führungspersonal an die eigene Vertretung (turnusmäßige Wechsel einzelner Funktionen) und Versorgung (Verpflegung, Unterkunft, etc.) denken und auch danach handeln – nicht zuletzt zum Nutzen aller Beteiligten. „Interessierte“ Personen können mitunter die Einsatzkommunikation stören und Fehlinterpretationen vom Einsatzgeschehen an die Medien weitergeben. Daher ist hier ein proaktives Handeln der Führungskräfte (Einsatzleitung und Pressesprecher) unabdingbar.
1.5
Eigene Einsatzerfahrungen bei kontinuierlicher Aus- und Weiterbildung sind der Schlüssel zum Erfolg
Ein konsequentes Umsetzen erlernter Strategien und Maßnahme ist – ganz besonders bei Einsätzen unter besonderer öffentlicher Wahrnehmung – eine gute Basis, um die Herausforderungen bewältigen zu können. Neben (teuren) Übungen bieten unter anderem Großveranstaltungen stets eine ideale Trainingsmöglichkeit für Einsätze mit besonderer öffentlicher Wahrnehmung. Aktuell verfügbare Simulationssysteme (z.B. SAFER® der Feuerwehr- und Katastrophenschutzschule Rheinland-Pfalz) bieten auch hier, nach Einschätzung der Autoren, sehr gute, bisher jedoch zu wenig genutzte Chancen. Eine nicht zuletzt emotional intelligente, klare, lageabhängige, sichere Einsatzführung stellt eine weitere wichtige Komponente dar. Die potenziell risikogeeignete webbasierte Kommunikation bedarf stets einer besonderen Aufmerksamkeit mit geeignetem proaktiven Handeln aller Beteiligten. Der Originalbeitrag wurde von Prof. Dr. med. Johann Wilhelm Weidringer und Falko Schmid verfasst.
Literatur Neitzel C, Ladehof K (2015) Taktische Medizin – Notfallmedizin und Einsatzmedizin, 2. Auflage. Springer Berlin Heidelberg
Schmidt J (2012) Gewalt gegen Rettungskräfte. Bestandsaufnahme zur Gewalt gegen Rettungskräfte in Nordrhein-Westfalen, Abschlussbericht, Lehrstuhl für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft, Ruhr-Universität Bochum Weidringer JW, Weiss W (2013) Katastrophenmedizin. Leitfaden für die ärztliche Versorgung im Katastrophenfall, 6. Auflage. Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, Bonn
2
Einsätze bei Sport- und Massenveranstaltungen Harald Genzwürker
In einer eventorientierten Gesellschaft spielen Großveranstaltungen eine immer wichtigere Rolle. Das Spektrum reicht dabei von Sport-, Show- und Musikveranstaltungen an dafür ausgelegten und ausgestatteten Veranstaltungsorten über Open-Air-Konzerte und andere Freiluftveranstaltungen wie Marathonläufe bis zu Flugshows und einmaligen internationalen Sportereignissen wie Welt- und Europameisterschaften, teilweise oder vollständig im öffentlichen Raum. Die medizinische Versorgung und die Gefahrenabwehr bei Großveranstaltungen sind dabei sensible Bereiche, nicht zuletzt wegen dramatischer Folgen bei Schadensfällen in der Vergangenheit mit zahlreichen Verletzten und sogar Toten. Die umfassende Vorbereitung des Veranstalters bedarf deshalb der Abstimmung mit den Genehmigungsbehörden sowie den beauftragten Einsatzkräften der Rettungsdienste und Hilfsorganisationen. Die Einsatztätigkeit bei Großveranstaltungen soll eine medizinische Grundversorgung unter „besonderen Umständen“ sicherstellen und Versorgungslücken schließen, die im Bereich der Veranstaltung oder auch gerade durch diese im Umfeld des Veranstaltungsgeländes entstehen (z.B. durch Straßensperrungen, Nichterreichbarkeit medizinischer Einrichtungen etc.). Entsprechend variabel können die Vorgaben sein, die für eine Veranstaltung zu erfüllen sind.
2.1
Vorbereitung der Einsatztätigkeit bei Großveranstaltungen
Die Planung für den notfallmedizinischen Einsatz bei Sport- und Massenveranstaltungen muss den besonderen Risiken Rechnung tragen, die in Abhängigkeit von Art und Ort der Veranstaltung für Besucher und Mitwirkende bei der Veranstaltung bestehen. Zielsetzung ist dabei analog zu der Organisation der öffentlichen Rettungsdienste eine bedarfsgerechte und wirtschaftliche notfallmedizinische Vorhaltung. Die lokal zuständigen Ordnungs- bzw. Polizeibehörden prüfen unter Berücksichtigung der gesetzlichen Vorgaben im Vorfeld von
Großveranstaltungen die potenziellen Auswirkungen und Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung sowie die Planungen des Veranstalters für den Ablauf sowie die Hilfeleistung bei Notfällen. Dabei wird regelhaft entsprechender Sachverstand beispielsweise seitens der Feuerwehren sowie der Rettungsdienste hinzugezogen, um eine Risikoanalyse durchzuführen, aus der dann Sicherheitsauflagen abgeleitet werden, die dem Veranstalter mitgeteilt werden. Einflussfaktoren hinsichtlich des notfallmedizinischen Risikos sind dabei beispielsweise Veranstaltungsort und -art, die Besucherzahl, aber auch mögliche Witterungseinflüsse bei Veranstaltungen im Freien. Verschiedene Konzepte zur Risikoevaluation bei Großveranstaltungen wurden entwickelt. Am bekanntesten ist dabei der von Klaus Maurer publizierte Algorithmus (Maurer 2001), der mittlerweile in verschiedentlich modifizierter Version die Grundlage für die Planung vieler in die notfallmedizinische Versorgung von Großveranstaltungen Involvierte bildet. Dabei sind auch softwaregestützte Varianten verfügbar, die eine einfache Bewertung anhand der Eingabe weniger Parameter ermöglichen sollen. Aufgrund der hohen Variabilität und Bandbreite des Aufkommens medizinischer Notfälle bei verschiedenen, aber auch bei wiederholt im selben Setting durchgeführten Veranstaltungen bedarf die Risikoevaluation aber einer hohen Sachkompetenz, idealerweise aufbauend auf Daten von entsprechenden vergleichbaren Ereignissen – und selbst dann sind die Prognosemöglichkeiten häufig sehr eingeschränkt (Greulich et al. 2002). Bei allen Hemmnissen ist aber eine profunde Vorbeurteilung geplanter Großveranstaltungen gerade aus notfallmedizinischer Sicht unabdingbar. Dabei müssen die lokalen, infrastrukturellen Gegebenheiten ebenso berücksichtigt werden wie Konzepte für einen möglichen Massenanfall von Verletzten (Dirks et al. 2004). Die grundsätzlichen Aspekte, die in eine Risikoevaluation einfließen müssen, sind die Anzahl der Zuschauer (bzw. der maximal zulässigen Besucherzahl), die Örtlichkeiten unter besonderer Berücksichtigung der Fluchtmöglichkeiten und möglicher Witterungseinflüsse, der Charakter der Veranstaltung (s. Tab. 1), aber auch polizeiliche Erkenntnisse beispielsweise zur Gewaltbereitschaft von Besuchern oder dem Konsum legaler und illegaler Substanzen. In der jüngeren Vergangenheit ergaben sich
Einschränkungen bis hin zu kompletten Absagen geplanter, aber auch laufender Veranstaltungen aufgrund des Risikos von Terroranschlägen, aber auch im Rahmen der COVID-19-Pandemie. Die notfallmedizinische Sicht auf eine Veranstaltung kann dabei erheblich von der polizeilichen Einschätzung abweichen: während eine Konzertveranstaltung mit überwiegend älterem Publikum aus Sicht der Ordnungsbehörden als eher risikoarm einzustufen ist, bergen die kumulativ vorhandenen Vorerkrankungen ein nicht unerhebliches Risiko für das Auftreten ernsthafter medizinischer Probleme, die mit einer gewissen stochastischen Wahrscheinlichkeit auch unabhängig von der Veranstaltung auftreten würden. Während beim Konzert einer Teenie-Band möglicherweise viele junge Fans kollabieren und mit entsprechendem Kräfteansatz versorgt werden müssen, sind weiterreichende notfallmedizinische Maßnahmen und Kliniktransporte in diesem Setting eher die Ausnahme; bei einer Veranstaltung mit zahlreichen Senioren müssen in der Regel nur wenige medizinische Versorgungen erfolgen, die dann aber deutlich häufiger zu Klinikeinweisungen führen. Über die Vorgaben der Ordnungsbehörden im Rahmen von Sicherheitsauflagen hinaus können weiterreichende (notfall-)medizinische Vorhaltungen aus entsprechenden Anforderungen und Vorgaben des Veranstalters oder beteiligter Organisationen resultieren, sei es im Rennoder Kampfsport oder beispielsweise auch beim nationalen und internationalen Fußball (Al Jufaili et al. 2018).
2.2
Einsatztätigkeit bei Großveranstaltungen
Die Kenntnis der behördlichen Vorgaben (und deren Einhaltung) sowie Informationen zu den eingesetzten Kräften und den Kommunikationswegen sind elementar für eine sichere und erfolgreiche Tätigkeit bei Großveranstaltungen. Bezüglich der Erkrankungen und Verletzungen muss mit dem gesamten allgemeinmedizinischen und notfallmedizinischen Spektrum gerechnet werden, ergänzt um veranstaltungsspezifische Verletzungen zum Beispiel bei Renn- und Reitsportveranstaltungen. Tab. 1
Beispiele für Veranstaltungen (Maurer 2001)
Art der Veranstaltung
Risikofaktor Art der Veranstaltung
Risikofaktor
allgemeine Sportveranstaltung
0,3
Rockkonzert
1,0
Flugveranstaltung
0,9
Volksfest
0,4
Karnevalsumzug
0,7
Weihnachtsmarkt
0,3
Musikveranstaltung
0,5
Motorradveranstaltung
0,8
Wichtig ist die Definition der Zuständigkeiten der für die Veranstaltung zuständigen Einsatzkräfte versus den Aufgaben des öffentlichen Rettungsdienstes im Umfeld des Veranstaltungsgeländes. Eine Kommunikation der Einsatzleitung mit der zuständigen Leitstelle ist hier unabdingbar, wobei Ansprechpartner, Schnittstellen und Übergabepunkte im Vorfeld festgelegt werden sollten.
Für die eigentliche notfallmedizinische Tätigkeit bei einer Sport- oder Massenveranstaltung gelten grundsätzlich dieselben Regeln wie für den alltäglichen rettungsdienstlichen Einsatz: der Aufenthalt erfolgt in den dafür vorgesehen Bereitstellungs- und Aufenthaltsräumen, um eine umgehende Erreichbarkeit zu gewährleisten. Die vorhandene Ausstattung muss bekannt sein und überprüft werden, auch bei eingesetzten Rettungsmitteln wie KTW, RTW oder NEF. Die notfallmedizinische Versorgung erfolgt mit den verfügbaren Materialien entsprechend aktueller Leitlinien und Empfehlungen, wie sie beispielsweise für die Wiederbelebung, die Behandlung von Patienten mit Herzinfarkt, Schlaganfall oder Trauma existieren. Besonderheiten bei Großveranstaltungen resultieren aus veranstaltungsspezifischen Faktoren. Die Erreichbarkeit von Notfallpatienten kann durch große Menschenansammlungen, durch Absperrungen etc. erheblich erschwert sein. Absprachen mit dem Veranstalter sind notwendig, um den Einsatzkräften problemlos Zugang zu einzelnen Abschnitten wie Backstage- und VIP-Bereichen zu ermöglichen, ggf. sind gesonderte Kräfte einzuteilen. Auch das Heranführen von Fahrzeugen und zusätzlicher Ausstattung ist häufig nicht problemlos möglich, Transporte müssen mit teilweise deutlich höherem Personalansatz
geplant werden. Zusätzlich erschwert die Geräuschkulisse bei Konzert- oder Motorsportveranstaltungen sowie in Stadien die Kommunikation mit dem Patienten sowie der Einsatzkräfte untereinander. Nicht zuletzt findet die Einsatztätigkeit und die Versorgung von Notfallpatienten noch mehr als im regulären Rettungsdienst häufig unter hoher öffentlicher Aufmerksamkeit und teilweise auch medialem Interesse statt (s. Abb. 1).
Abb. 1
Improvisierte Patientenablage im Bereich eines Wellenbrechers bei hohem Patientenaufkommen (Foto: Thorsten Finteis)
2.3
Bewältigung MANV bei Großveranstaltungen
Unabhängig von besonderen Bedrohungslagen müssen bei Großveranstaltungen immer auch Konzepte für einen möglichen Massenanfall von Verletzten (MANV) vorliegen. Diese müssen den eingesetzten Einsatzkräften bei der Einsatzbesprechung bekannt gemacht werden und beinhalten neben einem entsprechenden Einsatzstichwort und der Benennung von Sammelpunkten für die Einsatzkräfte auch die Vorabdefinition von Verletztensammelstellen. Seitens der Einsatzleitung müssen Kommunikationsstrukturen für die alarmierten Kräfte des Rettungsdienstes, insbesondere für den Leitenden Notarzt und den Organisatorischen Leiter, bestehen. Eine Meldung des Schadensbildes, der Anzahl der Betroffenen und der Anfahrtsmöglichkeiten erleichtern der
zuständigen Leitstelle die rasche Heranführung der benötigten Einsatzkräfte.
2.4
Auswertung von Großveranstaltungen
In Anbetracht der vorgenannten Probleme bei der prognostischen Risikoevaluation von Massenveranstaltungen ist die konsequente Dokumentation des Patientenaufkommens, die mittlerweile in vielen Bereichen Standard ist, absolut begrüßenswert. Dennoch wird das Patientenaufkommen bei Veranstaltungen ähnlich wie im Regelrettungsdienst von einer erheblichen Streuung um Mittel- und Erfahrungswerte geprägt sein.
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3
Rettungsdienstliche Einsätze in „bedrohlichen Lagen“
Björn Hossfeld, Matthias Helm und Florent Josse
3.1
Einleitung
Auch wenn Anschläge durch radikal-islamistisch motivierten Terrorismus seit 2016 in Deutschland wieder seltener geworden sind, zeigen Angriffe wie die Messerattacke 2021 in Würzburg, oder der als rechtsextremer Terrorakt eingestufte Anschlag in Hanau 2020, wie bedeutend die Auseinandersetzung mit der Thematik „bedrohliche Einsätze im zivilen Rettungsdienst“ ist, und wie dringend Konzepte für die Bewältigung solcher Lagen in Deutschland benötigt werden. Die Arbeitsgruppe (AG) „Taktische Medizin“ des Arbeitskreises Notfallmedizin der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) befasst sich seit Jahren intensiv mit den Besonderheiten solcher Einsatzlagen im zivilen Rettungsdienst. Zusätzlich gibt es erste Versuche, das rettungsdienstliche Vorgehen systematisch anhand von Qualitätsindikatoren zu beschreiben und zu evaluieren. International haben vor allem außereuropäische Länder Erfahrungen mit terroristischen Anschlägen machen müssen. Experten (z.B. aus Israel) sind sich einig, dass die üblichen zivilmedizinischen Konzepte zur prähospitalen Bewältigung eines Massenanfalls von Verletzten (MANV) nicht geeignet sind, derartige Ereignisse adäquat notfallmedizinisch zu bewältigen. Ausschlaggebend dafür sind vor allem einsatztaktische Gründe. Medizinisch ist bei einem (konventionellen) Anschlag mit einer hohen Zahl schwer und lebensbedrohlich verletzter Patienten zu rechnen. Wird der Anschlag mit Schusswaffen oder Explosivstoffen durchgeführt, sind die Patienten vor allem durch massive Hämorrhagie bedroht. Notfallmedizinisch hat die Blutungskontrolle dementsprechend die höchste Priorität. Deshalb wird das in der Notfallmedizin und insbesondere in der
Traumaversorgung übliche prioritätenorientierte ABCDE-Schema um ein vorangestelltes für die Suche nach „Kritischer Blutungen“ und das unmittelbare Stillen dieser erweitert. Dieses Vorgehen nach ABCDE hat auch Eingang in die S3-Leitlinie Polytrauma- und Schwerverletztenversorgung gefunden. Anschlagsopfer, unverletzte Beteiligte sowie Einsatzkräfte sind in vielfältiger Weise gefährdet; neben noch nicht durch Polizeikräfte neutralisierten Tätern („active shooter“) verstärken multiple – evtl. auch zeitversetzte – Anschläge (wie in Paris 2015) und/oder dynamische Lagen eine „bedrohliche Lage“. Deshalb hat einsatztaktisch für die Polizei die Kontrolle des oder der Täter bzw. der Bedrohung höchste Priorität, um so weitere Opfer zu verhindern. Dabei sind Patienten und Rettungskräfte dem permanenten Risiko eines oder mehrerer Folgeanschläge („second hit“) ausgesetzt. Da Rettungskräfte weder ausgebildet noch ausgerüstet sind, sich selbst zu schützen, muss ein Aufenthalt im unsicheren Gefahrenbereich vermieden oder zumindest die Dauer minimiert werden. Dabei ist es gerade in „bedrohlichen Lagen“ schwierig unsichere und sichere Bereiche voneinander abzugrenzen; vielmehr wird es stets einen teilsicheren Bereich dazwischen geben, in dem Täter aktuell nicht wirken, der aber von den Polizeikräften nicht hundertprozentig gesichert werden kann. Da im unsicheren Bereich ausschließlich Polizeikräfte eingesetzt werden (ähnlich der Feuerwehr bei Brandeinsätzen), müssen erste notfallmedizinische Maßnahmen (z.B. die Tourniquet-Anlage zur Blutstillung bei Extremitätenverletzungen) durch diese vorgenommen werden. Eine erste notfallmedizinische Diagnostik und Versorgung wird erst außerhalb des unsicheren Bereichs möglich und kann unter Umständen erst fern vom Anschlagsort oder in einer erstversorgenden Klinik erreicht werden. Die prähospitale Etablierung von stationären Versorgungsstrukturen (z.B. Aufbau eines Behandlungsplatzes) verbietet sich aus einsatztaktischen Erwägungen.
3.2
Strategie „clear the scene“
Oberstes Ziel ist es, das Überleben einer möglichst hohen Zahl von Verletzten bzw. Beteiligten zu ermöglichen und dabei gleichzeitig die
Gefährdung von Patienten, Beteiligten und Rettungskräften so gering wie möglich zu halten. Die prähospitale Versorgung folgt der Strategie „stopp the bleeding and clear the scene“. Dies bedeutet: rasche Identifizierung der Patienten, die infolge einer Blutung am ehesten zu versterben drohen, Kontrolle solcher Blutungen durch Tourniquet-Anlage oder Kompression, zeitkritische Rettung der Patienten aus der „unsicheren“ Zone und zügiger Transport in eine geeignete Klinik (sicherer Bereich).
3.3
Rettungsdienstliche Einsatzpläne und Alarmierung
Erste Informationen von einem Schadensereignis werden immer bei den Einsatzzentralen der Polizei oder den integrierten Leitstellen von Feuerwehr und Rettungsdienst auflaufen. Dabei wird ein Ereignis primär nicht als „Terroranschlag“ oder „Amoklage“ erkannt und gemeldet werden. Umso wichtiger ist es, Leitstellenpersonal zu sensibilisieren, um aus ähnlichen Informationen schnell das Bild einer „bedrohlichen Lage“ entstehen zu lassen und die alarmierten Rettungskräfte frühzeitig auf eine mögliche Bedrohung aufmerksam zu machen. Terroristische Ziele sind häufig exponierte Örtlichkeiten, wie: Veranstaltungen, öffentliche Plätze, Verkehrskontenpunkte (Bahnhöfe, Flughäfen, Bus-Terminal etc.), öffentliche Verkehrsmittel (Busse, Bahnen etc.) und besondere Objekte (Regierungs-/Verwaltungsgebäude, technische Anlagen, Kliniken). Ähnlich einer Telefon-Reanimation hat es sich gezeigt, dass das Leitstellenpersonal dem Anrufer lageangepasst Hilfestellung geben kann – z.B.: „Suchen Sie Deckung“, „Stellen Sie sich tot“.
Wird durch den Disponenten eine „bedrohliche Lage“ erkannt, muss ein regional etablierter Einsatzplan aktiviert werden. Mögliche Inhalte eines solchen Einsatzplans sollen im Folgenden vorgestellt werden, müssen aber auf die Gegebenheiten (Großstadt, ländliche Region, Infrastruktur, vorgehaltene Rettungskräfte, verfügbare Polizeikräfte etc.) regional angepasst werden. Schon bei Verdacht auf eine „bedrohliche Lage“ sind von der Einsatzzentrale der Polizei (PEZ) die Integrierten Leitstelle von Feuerwehr und Rettungsdienst (ILS) (oder umgekehrt) zu informieren, sowie die jeweiligen Führungsdienste zu alarmieren. Für die gegenseitige Information ist die Einrichtung einer stabilen direkten priorisierten Telekommunikationsverbindung zu empfehlen. Nur der unverzügliche Kontakt zwischen PEZ und ILS ermöglicht ein gemeinsames Planen des Einsatzes von Beginn an, um Gefahrenbereiche zu kommunizieren, Anfahrtswege abzustimmen, Bereitstellungsräume festzulegen und diese den alarmierten Einsatzkräften mitzuteilen. Bereits eingesetzte Rettungskräfte müssen unmittelbar über die „bedrohliche Lage“ in Kenntnis gesetzt werden. Bereitstellungsräume sollten im Vorfeld benannt und im Alarmplan definiert sein, sodass diese nach Alarmierung lediglich zugewiesen werden müssen. Eine frühzeitige Alarmierung ermöglicht darüber hinaus das zeitnahe Zuführen überörtlicher Einsatzkräfte (Polizei, Spezialeinheiten, Feuerwehren, Rettungsdienst, Katastrophenschutz, entfernte Rettungshubschrauber etc.). Die Alarmierung solcher überregionaler Strukturen implementiert allerdings auch einen verantwortungsvollen Umgang. Da diese Kräfte dem regulären Rettungsdienst andernorts fehlen, muss einer frühzeitigen Alarmierung mit Lageübersicht bei fehlendem Bedarf auch eine zeitnahe Deaktivierung folgen.
3.4
Führungsorganisation und Kommunikation zwischen den Diensten
In vergangenen Einsätzen wurden mangelnde Kommunikationsmöglichkeiten zwischen Sicherheitskräften und
Rettungsdienst als Problem beschrieben. Polizei und Rettungsdienst/Feuerwehr werden meist von unterschiedlichen Leitstellen/Einsatzzentralen geführt, wobei die Polizei regelmäßig rückwärtig führt, während die Sanitätseinsatzleitung (SanEL) – aus Leitendem Notarzt (LNA) und Organisatorischem Einsatzleiter Rettungsdienst (OrgL) – in Abstimmung mit dem Einsatzleiter der Feuerwehr den notfallmedizinischen Einsatz vor Ort führen. Daraus ergeben sich wichtige Führungsaspekte: Einrichten einer hoch prioritären Exklusivverbindung zwischen PEZ und ILS. Unverzügliches Entsenden eine Verbindungsperson in die jeweilige andere Führungszentrale. Abstellen eines polizeilichen Vertreters als Verbindungsperson zur SanEL, um so den Informationsfluss vor Ort zu gewährleisten. Kennzeichnung der verantwortlichen Führer und Entscheidungsträger vor Ort, ohne diese durch auffällige Kleidung zur „Zielscheibe“ zu machen. Führung des Einsatzes über einen eigenen Funkkreis – getrennt vom Regelrettungsdienst.
3.5
Sicherheit an der Einsatzstelle und Raumordnung
Helfer an einem Anschlagsort sind stets durch einem weiteren Anschlag („second hit“) bedroht. Die Aufenthaltsdauer muss deshalb für Betroffene, Patienten und Einsatzkräfte so kurz wie möglich gehalten werden. Entsprechend empfehlen mit solchen Szenarien erfahrene Kollegen aus Israel, dass die Strategie hinter allen taktischen Überlegungen „clear the scene“ lauten muss. Für den Einsatz von Rettungskräften zur Menschenrettung gilt grundsätzlich, dass eine Gefährdung der Gesundheit oder gar des Lebens der Rettungsdienstmitarbeiter nicht in Kauf genommen werden darf. Weder die Ausbildung noch die Ausrüstung rechtfertigen eine berufliche Verpflichtung zum Einsatz in einem Gefahrenbereich. Die fallweise Ausstattung von taktisch nicht ausgebildetem Rettungsdienstpersonal mit
Spezialkleidung, um diese unter Schutz der Polizei zum Patienten zu geleiten, ist daher regelmäßig abzulehnen. Wie bei einem Gefahrguteinsatz die Feuerwehr, so agiert bei „bedrohlichen Lagen“ ausschließlich die Polizei im Gefahrenbereich. Grundsätzlich gilt es an jeder Einsatzstelle mögliche Gefahren frühzeitig zu erkennen und zu vermeiden. Für das Herangehen an Gefahrgutsituationen wird seitens der Feuerwehren die GAMS-Regel gelehrt: Gefahr erkennen, Absperrung einrichten, Menschenrettung durchführen und Spezialkräfte anfordern. Prinzipiell lässt sich dieses Konzept auf „bedrohliche“ Lagen übertragen, wobei die Menschenrettung situationsabhängig erst durch den Einsatz von Polizeikräften ermöglicht wird. Da dafür nicht immer auf Spezialeinheiten gewartet werden kann, sehen die polizeilichen Einsatzkonzepte vor, dass auch sog. Einzeldienstkräfte tätig werden, um unter Inkaufnahme eines höheren persönlichen Risikos das weitere Agieren des Täters (z.B. bei einer Amoklage) einzudämmen oder zu stoppen. Im Rahmen einer „bedrohlichen Lage“ obliegen die Einsatzführung und die ersten beiden Aspekte der GAMS-Regel dem Einsatzleiter der Polizei, der die Gefährdungsbereiche dreistufig unterteilt (s. Abb. 1) in: einen unsicheren („roten“), einen teilsicheren („gelben“) und einen sicheren („grünen“) Bereich.
Abb. 1
Gefährdungsbereiche
Die Abgrenzung dieser Bereiche kann sich allerdings während des Einsatzverlaufes gerade bei noch agierenden Täter äußert dynamisch verändern. Dies gilt vor allem für den teilsicheren Bereich; entsprechend sollten Rettungskräfte im unsicheren Bereich nicht und im teilsicheren Bereich möglichst kurz agieren und sich der Gefährdung bewusst sein. Im unsicheren Bereich ist es Aufgabe der Polizei die verletzten Personen zu „triagieren“, allenfalls eine Blutstillung bei bedrohlichen Extremitätenblutungen mittels Tourniquet vorzunehmen (s. Abb. 2) und den Patienten dem Rettungsdienst – an zu definierenden sicheren Übergabepunkten, die im teilsicheren Bereich liegen können – zuzuführen.
Abb. 2
Erstversorgung durch Polizei (Foto: Sylvi Thierbach)
Von den Polizeikräften kann keine „Sichtung“ im (katastrophen-)medizinischen Sinn erwartet werden. Es darf jedoch davon ausgegangen werden, dass unverletzte Betroffene oder leicht verletzte Patienten selbstständig (ggf. koordiniert durch die Einsatzkräfte und innerhalb der festgelegten Raumordnung) versuchen, sich in Sicherheit zu bringen. Für die Triage der übrigen Betroffenen kann vereinfachend gelten: „Hat Lebenszeichen“ bzw. „Hat keine Lebenszeichen“. Betroffene mit Lebenszeichen sollen von den Polizeikräften bevorzugt auf bedrohliche Extremitätenblutungen überprüft, ggf. mit Tourniquet versorgt und an einem sicheren Übergabepunkt an den Rettungsdienst übergeben werden. Entsprechend sollten Polizeikräfte im Umgang mit Tourniquets geschult werden. In einigen Bundesländern (z.B. Bayern) ist die bereits der Fall: Die Einsatzkräfte werden mit sog. „Individual First Aid Kits“ (IFAK, inkl. Tourniquet) ausgestattet und trainiert.
Trotz aller Vorsicht kann es passieren, dass sich Rettungskräfte unwissentlich in der unsicheren Zone befinden, da vor allem zu Beginn eines Einsatzes oder bei Alarmierung der ersten Kräfte nicht klar ist, dass es sich um eine „bedrohliche Lage“ handelt. Für diesen Fall muss das Rettungsfachpersonal trainiert sein, Zeichen einer Gewalttat vor Ort oder mögliche Gefahren selbstständig zu erkennen und sich adäquat zu verhalten, d.h. Maßnahmen zum Eigenschutz zu ergreifen, nachfolgende Kräfte über die ILS umgehend zu warnen und mit möglichst vielen Betroffenen/Patienten aus der Situation auszuweichen.
3.6
Triage, Vorsichtung und Sichtung
Die Klassifizierung der Patienten und der damit verbundene Zeitaufwand müssen sich an den Sicherheitsbereichen orientieren. Während Polizeikräfte in der unsicheren Zone allenfalls nach „mit oder ohne Lebenszeichen“ (angelehnt an den Field Triage Score – FTS) triagieren können, wird in der teilsicheren Zone eine rettungsdienstliche Vorsichtung (z.B. nach mSTART) möglich. Eine ärztliche Sichtung erfolgt spätestens vor Klinikaufnahme im sicheren Bereich und dort vor allem im Hinblick auf dringliche OPIndikationen.
3.7
Entwaffnung
Es ist nicht auszuschließen, dass sich Attentäter unter die Patienten mischen, um die Anschlagzone zu verlassen. Zur Identifizierung sowie zur Sicherheit der Rettungskräfte sollen Patienten vor Übergabe an den Rettungsdienst seitens der Polizei auf Waffen oder Sprengmittel überprüft und ggf. entwaffnet werden. Da leichtverletzte Patienten und unverletzte Betroffene den unsicheren Bereich ohne die Polizei verlassen, muss auch an Übergabepunkten, Bereitstellungsräumen und vor den Kliniken bedacht werden, wie mit einer potenziellen Bewaffnung von vermeintlichen Patienten umzugehen ist. Es geht dabei ausdrücklich nicht um die Entwaffnung offen mit Waffen agierender Personen, sondern um die Überprüfung von Patienten, ob diese Waffen bei sich tragen, um zu vermeiden, dass sich aus ungesicherten
Waffen akzidentell während Transport und Versorgung ein Schuss löst. Neben Waffen soll auch auf den Transport weiterer Effekten wie Taschen oder Rucksäcke verzichtet werden, da dies einfacher ist, als diese gründlich auf den Inhalt hin zu prüfen. Diese Maßnahmen tragen wesentlich zur Sicherheit der eingesetzten Kräfte bei.
3.8
Rettungsdienstliche Einsatztaktik
Wie in Paris sind mehrere Anschlagsorte in zeitlicher und räumlicher Nähe denkbar („multiple Lage“). Während der Versorgung solcher Szenarien laufen die rettungsdienstlichen Regelaufgaben jedoch weiter. Um auf derart multiple Lagen mit weiteren Anschlagsorten reagieren zu können, dürfen nicht alle verfügbaren Kräfte unmittelbar an die Einsatzstellen entsandt werden. Vielmehr gilt es in sicheren Bereitstellungsräumen Reserven zu schaffen. Dabei gilt es zu bedenken, dass eine große Ansammlung von Rettungsfahrzeugen im öffentlichen Raum zum Ziel eines weiteren Anschlags werden könnte. Um eine einfachere Kommunikation zu ermöglichen, müssen die für die Bewältigung der bedrohlichen Lage vorgesehenen Einsatzkräfte durch Nutzung eines eigenen Funkkreises vom Regelrettungsdienst abgekoppelt werden. Nach Möglichkeit und in Absprache mit der polizeilichen Einsatzleitung sollten in der teilsicheren Zone Übergabepunkte gebildet werden, deren medizinische Leistungsfähigkeit einem Notarzt-Einsatz-Fahrzeug (NEF) sowie einem oder mehreren Rettungswagen (RTW) entsprechen soll. In einer solchen „geschützten Patientenablage“ ist eine erste, wenn auch eingeschränkte rettungsdienstliche Versorgung möglich, die sich an den Prinzipien des Tactical Combat Casualty Care (TCCC) orientiert, bevor die Patienten dann in den sicheren Bereich und weiter in die klinischen Notfallaufnahmen transportiert werden.
3.8.1 TCCC und TEMS Eine gute Grundlage für die notfallmedizinische Versorgung in einer „bedrohlichen Lage“ bietet das militärische TCCC-Konzept oder der in Anlehnung daran für den zivilen Bereich entstandene Tactical Emergency
Medical Support (TEMS). Schulungen auf dieser Grundlage – v.a. im Umgang mit Tourniquets – finden zunehmend auch im Bereich der Polizei statt, um in der unsicheren Zone zumindest eine kritische Extremitätenblutung stillen zu können. Rettungsdienste und Notärzte sollten ebenfalls nach diesem Konzept ausund weitergebildet werden. Dieses Vorgehen wurde beispielsweise in das PHTLS (Prehospital Trauma Life Support) übernommen. Die notfallmedizinischen Maßnahmen werden in Abhängigkeit von der taktischen Lage und der damit verbundenen Bedrohung in drei Phasen eingeteilt (s. Abb. 2): Care under fire, Tactical field care und Tactical evacuation care. Im deutschsprachigen Raum können die Empfehlungen der TREMA (Tactical Rescue and Emergency Medical Association) – in sinngemäßer Anwendung – als Ausbildungsgrundlage dienen. Wenn sich der Patient noch im unsicheren Bereich befindet („Care under fire“), werden sich die Polizeikräfte zunächst an der Bewältigung der Lage beteiligen, da die Kontrolle der taktischen Situation den besten Schutz für die Verletzten darstellt. Parallel können Patienten zur Eigeninitiative angeleitet und aufgefordert werden, sich (ggf. kriechend) in einen besser geschützten Bereich zu bewegen. In diesem unsicheren Bereich (rote Zone) erfolgt lageabhängig durch die Polizeikräfte eine Erstversorgung. Diese Maßnahmen beschränken sich in der Regel auf das Stillen bedrohlicher Blutungen mittels Tourniquet. Sind Polizeikräfte nicht mehr innerhalb direkter Bedrohung, jedoch weiterhin im unsicheren Bereich, spricht man zunehmend von einer „orangen“ Zone, in der die Polizeikräfte weitere notfallmedizinische Maßnahmen durchführen können, bis ein Abtransport in die geschützten Patientenablagen im teilsicheren Bereich erfolgen kann. Hier erfolgt die Übergabe an den Rettungsdienst. Erst wenn die Polizeikräfte den Täter unter Kontrolle haben, bleibt Zeit für erste medizinische Hilfsmaßnahmen, diese beschränken sich in der Regel auf das Stillen bedrohlicher Extremitätenblutungen mittels Tourniquet, bevor die
Verletzten in die „geschützten Patientenablage“ transportiert und an den Rettungsdienst übergeben werden. Im teilsicheren Bereich können eine erste orientierende Untersuchung und erste lebensrettende Maßnahmen gemäß dem ABCDE erfolgen („Tactical field care“). Auch hier hat die Sicherheit der Helfer und Patienten höchste Priorität. Der Rettungsdienst, ggf. unterstützt durch einen Notarzt, führt eine (Vor-)Sichtung durch, verschafft sich einen ersten Eindruck von den Patienten und versucht kritische Blutungen, wenn nicht bereits geschehen, jetzt zu stillen. Dazu stehen neben Tourniquets auch Verbandmittel für Kompression und Wundpacking sowie Hämostyptika zur Verfügung. Angepasst an die taktische Lage kann die im PHTLS als „initial assessment“ beschriebene orientierende Untersuchung („Bodycheck“) des Patienten nach dem ABCDE-Schema (s. Abb. 3) erfolgen.
Abb. 3
Initial Assessment (mit freundlicher Genehmigung des TREMA e.V.)
3.9
Notfallaufnahmen als sichere Bereiche
Die Etablierung stationärer Versorgungsstrukturen im prähospitalen Bereich (z.B. zeltgestützter Behandlungsplatz – BHP) lässt ein nicht zu schützendes „weiches“ Ziel entstehen. Polizeikräfte, die zum Schutz einer solchen Infrastruktur nötig wären, sind bei einer „bedrohlichen Lage“ mit vielfältigen anderen Aufgaben ausgelastet und nicht verfügbar. Eine Alternative bieten die Notfallaufnahmen der Krankenhäuser. Diese könnten zu möglichst sicheren Bereichen gemacht werden und durch das Personal des Katastrophenschutzes, welches den BHP betrieben hätte, unterstützt werden. Dazu ist eine entsprechende Planung und Beübung gemeinsam mit dem Klinikpersonal erforderlich. Dieses Vorgehen muss im Notfallplan des Krankenhauses abgebildet sein. Besucher und ambulante Patienten werden zum Verlassen der Klinik aufgefordert. Aus- und Eingänge müssen besetzt werden, wobei die Medizinische Hochschule Hannover dafür seit Jahren Vereinbarungen mit Kräften der Freiwilligen Feuerwehren getroffen hat, die u.a. auch helfen, Patientenströme zu kanalisieren). Der Patientenzugang zur Klinik darf ausschließlich über die Notfallaufnahme erfolgen, und es muss alles versucht werden, das Eindringen potenzieller Attentäter zu verhindern.
3.9.1 Erste klinische Versorgung Je nach Entfernung zum Anschlagsort kommen Patienten – zunächst eher Leichtverletzte – selbstständig zur Notfallaufnahme, bevor eine offizielle Alarmierung über die ILS erfolgt. Eine Vigilanzschulung des Personals der Notfallaufnahme für „ungewohntes Patientenaufkommen“ kann helfen, eine solche Situation frühzeitig zu erkennen. Eine Sichtung aller eintreffenden Patienten sollte möglichst schon vor der Notfallaufnahme erfolgen, um nur die Patienten in die Notfallaufnahme einzulassen, welche tatsächlich akut behandlungsbedürftig sind. Leichter verletzte können in anderen Bereichen einer Klinik (Speisesaal/Hörsaal
o.ä.) betreut werden. Im Rahmen der Sichtung muss erneut an das oben beschriebene Thema Entwaffnung gedacht werden. Mögliche Lösungen für dieses Problem müssen im Vorfeld besprochen im Notfallplan des Krankenhauses abgebildet sein. Oberstes Ziel der Sichtung in der Klinik ist die Entscheidung über eine zeitkritisch notwendige Operation. Da gerade die diagnostischen Möglichkeiten (Bildgebung, Labor) in dieser Situation einen „Flaschenhals“ bilden, hilft die Sichtung im Team durch einen erfahrenen Notfallmediziner und einen in Katastrophen-, Einsatz- oder Taktischer Medizin erfahrenen chirurgischen Fach- oder Oberarzt die richtige OPIndikation zu stellen. Um eine flächendeckende Befähigung deutscher Kliniken in „Damage Control-Techniken“ zu erreichen, hat die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie in Zusammenarbeit mit dem Sanitätsdienst der Bundeswehr und der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie & Intensivmedizin ein Kurskonzept zu Terror and Disaster Surgical Care – TDSC® entwickelt. Da der Rettungsdienst in dieser Phase maximal ausgelastet ist, sollen bei Versorgungsengpässen vital bedrohte Patienten möglichst nicht in eine andere Klinik transferiert, sondern Spezialisten und Material zugeführt werden. Rettungshubschrauber bieten ein leichtes Ziel für Beschuss und sollten deshalb in bedrohlichen Lagen nicht unmittelbar zur Einsatzstelle alarmiert werden, sondern durch weiträumige Verlegungen eher zur Entlastung der erstversorgenden Krankenhäuser beitragen.
3.9.2 Infrastrukturelle Vorbereitung der Notfallaufnahmen Da die Fahrzeuge des Rettungsdienstes in einem Massenanfall nach Patientenübergabe an der Klinik umgehend zur Einsatzstelle zurückkehren müssen, sind Vorbereitungen der Notfallaufnahme zur Wiederausstattung des Rettungsdienstes mit Verbrauchsmaterial (Infusions- und Verbandmaterial, Tourniquets etc.) notwendig. Eine solche Bereitstellung von Material der Klinik für den Rettungsdienst bedarf wiederum Absprachen im Vorfeld.
Um die Dokumentation bei einem Massenanfall von Notfallpatienten zu erleichtern und der Verwechslung von Anamnesen, Befunden und Anordnungen vorzubeugen, sollen die Patienten in der Reihenfolge ihres Eintreffens in der Notfallaufnahme nummeriert werden und Sets mit entsprechend vornummerierten Dokumentationsunterlagen erhalten. Um Informationsverlusten bei der Übergabe der Patienten zwischen einzelnen Bereichen der Klinik vorzubeugen, empfiehlt es sich, den Patienten festen Teams zuzuordnen, die sie durch alle Behandlungsstationen bis in den OP oder auf die Intensiv- oder Normalstation begleiten.
3.10 Fazit Personal von Rettungsleitstellen und Rettungsdienstes müssen für das Thema „bedrohliche Lagen“ sensibilisiert werden. Die Einsatzführung in solchen taktischen Lagen obliegt der Polizei, welche Gefahrenbereiche definiert. Die Strategie „clear the scene“ bestimmt das taktische Vorgehen und die notfallmedizinische Versorgung angelehnt an das aus dem aus dem Militär bekannten Tactical Combat Casualty Care, um die Gefährdung des eingesetzten Personals so gering wie möglich zu halten. Dabei kommt der Stillung kritischer Blutungen besondere Bedeutung zu. Die Etablierung bisher in der Katastrophenmedizin üblicher stationärer Behandlungsstrukturen in der Präklinik ließen zusätzliche und nur schwer zu schützende „weiche“ Anschlagsziele entstehen und sollten vermieden werden. Stattdessen sind Maßnahmen erforderlich um Notfallaufnahmen zu sicheren Bereichen zu machen. Auf dem Weg zum Einsatz Einsatzkräfte: Eigenschutz beachten! Welche Anzeichen gibt es für eine „bedrohliche Lage“ (z.B. exponierte Lage, s.o.)? Kommunikation mit Polizei (über eigene Leitstelle) zur Definition der Gefahrenbereiche Absprache mit Rettungsleitstelle bzgl. Anfahrtswegen und Bereitstellungsräumen
Führungskräfte: Eigenschutz beachten! Welche Anzeichen gibt es für eine „bedrohliche Lage“ (z.B. exponierte Lage, s.o.)? Treffpunkt/Kontakt mit Einsatzleitern der anderen BOS Definition von Gefahrenbereichen, Einsatzabschnitten, Anfahrtswegen und Bereitstellungsräumen Nachforderung, Alarmierung von zusätzlichen, überregionalen Kräften
Literatur Adams HA, Flemming A, Krettek C, Koppert W (2015) Der Notfallplan des Krankenhauses. Medizinische Klinik – Intensiv Notfallmed 110: 37–48 Eastridge BJ, Butler F, Wade CE, Holcomb JB, Salinas J, Champion HR, Blackbourne LH (2010) Field triage score (FTS) in battlefield casualties: validation of a novel triage technique in a combat environment. AJS 200: 724–727 Frykberg ER (2002) Medical management of disasters and mass casualties from terrorist bombings: how can we cope? J Trauma 53: 201–212 Hossfeld B, Hinkelbein J, Helm M (2015) Richtig handeln bei Terroranschlägen. Notfall + Rettungsmedizin 18: 265–266 Hossfeld B, Josse F, Bernhard M, Fischer M, Böttiger BW, Gräsner JT, Walcher F, Kulla M, Lampl L, Helm M (2061) Prähospitale Anwendung von Tourniquets. Anaesth & Intensivmed 57: 698–704 TREMA e.V. (2018) Leitlinien der TREMA e.V. für Tactical Combat Casualty Care (taktische Verwundetenversorgung). Version 2.1. URL: https://www.trema-europe.de/wpcontent/uploads/2018/10/TREMA-e.V.-Guidelines-fuer-TCCC-3.0.pdf, zuletzt zugegriffen am 07. März 2018 Wurmb T, Justice P, Dietz S, Schua R, Jarausch T, Kinstle U, Greiner J, Möldner G, Müller J, Kraus M, Simon S, Wagenhäuser U, Roewer N, Helm M (2017) Qualitätsindikatoren für rettungsdienstliche Einsätze bei Terroranschlägen oder anderen Bedrohungslagen. Der Anaesthesist 66: 404–411
CASE REPORT: Die Amokfahrt in Trier 2020
Tim Piepho, Wolfgang Tichy und Andreas Kirchartz Trier ist eine Stadt im Südwesten Deutschlands. Sie befindet sich unweit der luxemburgischen Grenze und liegt in der Weinbauregion Mosel. Die Stadt Trier hat ca. 110.000 Einwohner. Der Rettungsdienst erfolgt durch die Berufsfeuerwehr. In direkter Nähe zur Innenstadt gibt es zwei große Krankenhäuser: Das Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Trier ist ein Schwerpunktversorger und überregionales Traumazentrum. Hier ist auch das Notarzteinsatzfahrzeug der Stadt positioniert. Das Mutterhaus der Borromäerinnen verfügt mit zwei Standorten über 1.000 Planbetten und ist Maximalversorger.
Fallbericht Am 01.12.2020 fuhr gegen 13.45 Uhr ein 51-jähriger Mann in einem Land Rover Freelander 2 mit einer Geschwindigkeit von ca. 80 km/h durch die Fußgängerzone von Trier. Dabei wurden absichtlich Menschen um- und überfahren. Die gefahrene Strecke betrug etwa 1 km. Bereits wenige Minuten nach der Fahrt konnte der Fahrer von der Polizei unweit der Innenstadt an seinem Wagen lehnend festgenommen werden (s. Abb. 1).
Abb. 1
Fahrtstrecke des Täters der Amokfahrt in Trier 2020 (Tim Piepho)
Die ersten Notrufe in der integrierten Leitstelle der Stadt Trier gingen um 13.46 Uhr ein. Der erste Anrufer berichtete, dass zwei Passanten angefahren wurden. Wenige Sekunden später erfolgte der zweite Notruf mit der Meldung, dass eine junge Frau in Höhe der Porta Nigra von einem sehr schnell fahrenden Fahrzeug überfahren worden sei. Eine Sekunde später berichtete der nächste Anrufer von einer angefahrenen Frau im Bereich der Trierer Brotstraße. Nur Sekunden später waren alle Disponenten der Leitstelle mit Notrufen, die Lage in der Innenstadt betreffend, beschäftigt. Mit dem Alarmierungsstichwort „MANV“ wurden im Rahmen der ersten Alarmierung vier RTWs, zwei NEF und zwei KTW alarmiert. Ein zufällig in der Innenstadt befindlicher Notfall-KTW gab die erste Rückmeldung „Exitus in der Nähe der Porta Nigra, keine weiteren Verletzten zu sehen“. Das Fahrzeug bewegte sich von hier weiter in die Innenstadt und gab die erneute Rückmeldung, dass sich mehrere Verletzte im Bereich des Hauptmarktes befinden würden.
Bereits um 13.51 Uhr traf das Notarzteinsatzfahrzeug des Brüderkrankenhauses im Bereich des Hauptmarktes ein. Durch Passanten und auch durch Mitarbeitende umliegender Arztpraxen fand zu diesem Zeitpunkt eine Erstversorgung der Verletzten auf der Straße statt. Das NEF hielt nicht unweit der Stelle an, an der ein neun Wochen alter Säugling durch eine zufällig anwesende Ärztin reanimiert wurde. Durch die langgezogene Einsatzstelle war es für die ersteintreffenden Kräfte unmöglich einen adäquaten Überblick zu bekommen. Zudem war unklar wo die Amokfahrt begann und wo sie endete. Die zweite Alarmierungswelle der Leitstelle erfolgte unter dem Einsatzstichwort „Amok“. Zusätzlich zu Feuerwehrkräften wurden auch SEGn, weitere zehn RTWs, zehn KTW, vier NEF und vier Hubschrauber alarmiert. Bereits um 14.00 Uhr waren sechs RTW, sechs KTW und zwei NEF vor Ort. Um 14.05 Uhr konnte eine erste Lagebesprechung der ersteintreffenden Kräfte mit dem Einsatzleiter der Feuerwehr durchgeführt werden. Zu diesem Zeitpunkt begann bereits der Transport von schwerverletzten Patienten in die umliegenden Krankenhäuser. Um 14.20 Uhr waren neun RTW, neun KTW, drei NEF und zwei Hubschrauber vor Ort. Insgesamt vier Patienten verstarben an der Einsatzstelle und wurden nicht mehr in die Krankenhäuser transportiert. Fünf Patienten wurden der Sichtungs-Kategorie I zugeordnet, ein Patient der Sichtungs-Kategorie II und zwölf Patienten der Sichtungs-Kategorie III (Rohrmann et al. 2019). Es waren 30 Fahrzeuge des Regelrettungsdienstes in der Trierer Innenstadt im Einsatz, 32 Fahrzeuge der SEGn und 25 Fahrzeuge der Feuerwehr. Im Bereich des Palastgartens landeten vier Hubschrauber. Innerhalb von 48 Minuten nach Alarmierung der Rettungskräfte waren alle Patienten der Sichtungs-Kategorien I und II in einem Krankenhaus eingetroffen, nach 60 Minuten auch alle Patienten der Sichtungs-Kategorie III. Die einzige Ausnahme war ein Patient, der in ein weiter entferntes Zielkrankenhaus transportiert wurde. Die beiden großen Krankenhäuser wurden frühzeitig von der Leitstelle über die Lage in Kenntnis gesetzt. Entsprechend den Alarm- und Einsatzplänen wurden die Einsatzleitungen und Leitungs- und Koordinierungsgruppen
aktiviert. Aufgrund der unklaren Lage wurden keine neuen Operationen begonnen, OP-Säle sowie OP-Teams freigehalten und zusätzliche Bereiche zur Betreuung und Versorgung von Patienten geschaffen. So wurde z.B. der Aufwachraum im Brüderkrankenhaus mit zusätzlichen Beatmungsgeräten bestückt. In den Notaufnahmen standen mehrere Teams zur Versorgung der Verletzten zur Verfügung. Im Brüderkrankenhaus wurde in der Wagenhalle der Zentralen Notaufnahme ein Sichtungspunkt etabliert. Die Aufnahme der ankommenden Patienten erfolgte sehr schnell, da im Krankenhausinformationssystem bereits 75 Katastrophenschutzpatienten in einer eigenen Institutsambulanz vorangelegt waren. Somit konnten alle digitalen Anforderungen (Labor/Blutbank, Röntgen, etc.) über diese vorangelegten „Katastrophenschutzpatienten“ direkt erfolgen.
Diskussion In der kritischen Zusammenschau gab es zur Rettung und Versorgung der Betroffenen viele positive Aspekte: Es waren sehr viele gut ausgebildete Helfer zufällig vor Ort, die eine adäquate Erstversorgung durchführen konnten und die Patienten mit den eintreffenden Einsatzkräften weiter versorgten. Sehr schnell waren ausreichend Rettungskräfte zur Verfügung, um eine vernünftige Individualmedizin durchzuführen. Aus Luxemburg waren sowohl Hubschrauber als auch Rettungswagen entsandt, die sich im Bereitstellungsraum befanden. Hierdurch waren eine schnelle Versorgung und auch ein schneller Transport aller verletzten Personen gewährleistet. Günstig war auch der Zeitpunkt: In den Krankenhäusern waren die Frühdienste oft noch im Haus und die Spätdienste schon da. Durch die zentrale Lage der Krankenhäuser in Trier konnten fast alle Patienten nach nur kurzer Transportzeit versorgt werden.
Noch am Tattag, aber auch am Folgetag erfolgte eine psychologische Betreuung der Einsatzkräfte und auch der Mitarbeiter in den Krankenhäusern. Zudem wurde ein Gesprächsangebot für alle betroffenen
Personen unterbreitet. Neben örtlichen Kräften waren auch geschulte Personen aus anderen Bereichen des Bundeslandes eingesetzt. Durch die Corona-Situation war an diesem Tag die Trierer Innenstadt nicht stark frequentiert. Hätte allerdings, wie in den Vorjahren, der Weihnachtsmarkt stattgefunden hätten sich dadurch viele Touristen in der Trier Innenstadt aufgehalten, wodurch das Ausmaß dieser Tat deutlich größer gewesen wäre. In Hinblick auf typische Lehraussagen im Rahmen der MANV-Ausbildung ist der Einsatz in Trier besonders hervorzuheben. Es handelte sich hierbei nicht um ein Punktereignis, sondern um eine Lage, die sich über eine Strecke von ca. 1 km erstreckte und im Gesamten nicht einzusehen war. Somit war es sowohl für den ersteintreffenden Notfall-Sanitäter als auch für den ersteintreffenden Notarzt schwierig, sich einen Überblick über die Situation zu verschaffen. Ein Ablaufen oder Abfahren der Einsatzstelle war nicht möglich. Dieses Problem bestand auch für nachfolgende Einsatzkräfte, bis das wirkliche Ausmaß erkennbar wurde. Auch für den später hinzukommenden Leitenden Notarzt war die Lage anfangs unübersichtlich und eine Kommunikation schwierig. Interessant bei der Betrachtung des Einsatzes ist auch die große Anzahl an Patienten der Sichtungs-Kategorie I im Vergleich zu Patienten der Sichtungs-Kategorie II. Typischerweise ist hier eine andere Verteilung zu erwarten. So ist der Anteil von Patienten der Sichtungs-Kategorie II mit 42% bei Amokfahrten beschrieben (Juncken et al. 2018). Die schwerverletzten Patienten wiesen allesamt ähnliche Verletzungen auf, da sie frontal von dem schnell fahrenden Fahrzeug erfasst wurden. Bei allen Patienten bestanden knöcherne Verletzungen der unteren Extremitäten, ein Abdominaltrauma, Thoraxtrauma und ein Schädelhirntrauma. In Hinblick auf die Einsatztaktik bleibt festzuhalten, dass bei der vorgestellten Lage die schnelle Nutzung aller vorhandenen Ressourcen von großer und somit entscheidender Bedeutung war, um die Beherrschung und Abarbeitung des Ereignisses in dem angeführten Zeitraum möglich zu machen. Neben dem Einbinden zufällig anwesender Personen mit zum Teil medizinischer Fachkompetenz, dem Vorhandensein einer Vielzahl ausgebildeter Helfer aus Rettungsdienst und von der Feuerwehr sowie der
Nutzung internationaler Einsatzkräfte, erwiesen sich hier die Durchführung von Soforttransporten und die Initiation von schnellen Transporten nach zum Teil nur „Sichtung via Funk oder Telefon“ durch den ersteintreffenden Notarzt als sinnvolles und probates Mittel. Es bleibt also zu überlegen bei ähnlichen Einsätzen mit zentraler aber unübersichtlicher Lage, sich von der prolongierten Versorgung im Rahmen einer erweiterten Patientenablage zu entfernen, und vermehrt die Durchführung von schnellen Transporten in die umliegenden Zielkrankenhäuser anzustreben. Auch sei an dieser Stelle noch einmal auf die immense Vielzahl an Faktoren hingewiesen, denen bei der Bearbeitung einer solchen Großschadenslage Beachtung zu schenken ist. Zusätzlich zu den geografischen Gegebenheiten und den personellen Ressourcen inkl. der einsetzbaren Fahrzeuge vor Ort, spielen Umgebungsbedingungen wie Jahreszeit, Uhrzeit und Wetterlage genauso eine gewichtige Rolle wie die Lage und Aufnahmemöglichkeit in den umgebenden Zielkrankenhäusern.
Zudem endet der Einsatz nicht mit dem Verbringen des letzten Patienten in ein Krankenhaus, sondern bedarf einer sorgfältigen Aufarbeitung, nicht zuletzt einer ausgiebigen psychologischen Nachbetreuung.
Literatur Rohrmann A, de Faber R, Wollermann M (2019) Protokoll. 8 SichtungsKonsensusKonferenz. AKNZ: Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. URL: https://www.bbk.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Gesundheit/Sichtung/protokoll8sikokon-download.pdf?__blob=publicationFile&v=4 (abgerufen am 22.02.2023) Juncken K, Heller AR. Cwojdzinski D, Disch AC, Kleber C (2018) Verteilung der Sichtungskategorien bei Terroranschlägen mit einem Massenanfall von Verletzten. Der Unfallchirurg 122, 299–308
4
Versorgung von Personen des öffentlichen Lebens
Falko Schmid und Veronika Morhart-Bojko
Im Rahmen der notfallmedizinischen Versorgung unter Extremsituationen können Einsatzkräfte des Rettungsdienstes auch zu Notfällen in Zusammenhang mit der Versorgung von Personen des öffentlichen Lebens (Politikern, Prominenten, Personen aus Film, Fernsehen, Sport etc.) herangezogen werden. Zunächst ist festzustellen, dass der Begriff „Person des öffentlichen Lebens“ nicht exakt definiert ist. Lediglich im Rahmen der Rechtsprechung wurde bislang dargelegt, dass es sich hierbei um Personen handelt, bei welchen das öffentliche Interesse an Informationen ihrer Privatsphäre stets dann berechtigt ist, wenn die jeweils betroffene Person wirklich prominent ist oder öffentliches Aufsehen erregt. Hierbei kann die individuelle Bekanntheit durch den gesellschaftlichen Rang oder das individuelle Ansehen der Person, deren Amt oder Einfluss, besondere Fähigkeiten oder Handlungen entstehen. Beispielsweise seien hier Politiker, Inhaber hoher weltlicher oder kirchlicher Ämter sowie prominente Spitzensportler genannt.
4.1
Einsatz von Personenschutzkräften
Sehr oft werden diese Personen durch Kräfte des Personenschutzes (auch sogenannte „Bodyguards“) begleitet. Beim Personenschutz handelt es sich um die Gewährleistung der persönlichen Sicherheit einer als schutzwürdig eingestuften und/oder angesehenen Person vor Angriffen durch Dritte wie beispielsweise Attentate oder Entführungen. Private Sicherheitsdienstleister arbeiten lediglich auf Grundlage der „Jedermann-Rechte“ (wie vorläufige Festnahme nach § 127 Strafprozessordnung – StPO, bzw. Notwehr (§ 32 Strafgesetzbuch – StGB), Nothilfe (§ 34 StGB), Notstand (§ 35 StGB)) und haben keinerlei polizeiliche oder hoheitliche Befugnisse und Rechte. Ihnen können Besitzdienerrechte (vgl. § 855 Bürgerliches Gesetzbuch BGB) übertragen werden. Behördliche Personenschützer (Polizei, Militär, Nachrichtendienste etc.) können hingegen von hoheitlichen Vollzugsrechten Gebrauch machen.
Eine Besonderheit hierbei stellen Staatsbesuche dar: Ein Staatsbesuch ist ein herausgehobener Besuch eines Staatsoberhauptes, welchem bei dieser Gelegenheit alle protokollarischen Ehren gewährt werden. Hierzu gehören z.B. die Begrüßung mit militärischen Ehren und ein Staatsbankett. Die Anzahl der eingehenden Staatsbesuche in Deutschland liegt in der Regel bei etwa vier pro Jahr. Von den Staatsbesuchen abgegrenzt werden offizielle Besuche, Arbeitsbesuche und Terminbesuche, die sich durch eigene Protokolle unterscheiden. Ebenfalls abzugrenzen ist der Begriff des Staatsempfangs, der zu Ehren anderer von einem Staat empfangener Personen – beispielsweise auch eigener Bürger – gegeben wird. Aber auch Eventereignisse mit Prominenten aus Film, Fernsehen oder Sport etc. stellen Herausforderungen sowohl für Personenschutzkräfte, als auch für den Rettungsdienst dar. Im Bereich des Personenschutzes sind staatliche Einrichtungen (z.B. Bundeskriminalamt, Landeskriminalämter, Präsidien der Bundes- und Landespolizei, Feldjäger der Bundeswehr, Beamte des Bundesnachrichtendienstes und ausländische Dienste) und private Sicherheitsdienste tätig. Personenschützer erhalten hierzu eine spezielle Ausbildung bei den entsprechenden Behörden oder bei privaten Sicherheitsakademien. Mittlerweile gibt es eine zertifizierte Ausbildung zur Personenschutzfachkraft (IHK) mit einem Umfang von 944 Unterrichtseinheiten als Vollzeitausbildung von 6 Monaten. Hierbei werden auch Kenntnisse in Erster Hilfe sowie der Anwendung automatischer externer Defibrillatoren vermittelt. Die Inhalte dieser spezifischen Ausbildung sind nicht deckungsgleich mit einer gewöhnlichen Erste-HilfeAusbildung, sondern sie sind auf die spezifischen Belange des Personenschutzes praxisorientiert abgestimmt (Hörner 2003). Von Bedeutung ist ferner, dass private Sicherheitsdienstleister im Gegensatz zu jenen der Polizei oder Bundeswehr lediglich auf Grundlage der allgemeinen „Jedermann-Rechte“ (wie die vorläufige Festnahme gemäß § 127 Absatz 1 der Strafprozessordnung, Notwehr gem. § 32 Strafgesetzbuch, rechtfertigender Notstand gem. § 34 Strafgesetzbuch) arbeiten und keine polizeilichen oder hoheitlichen Befugnisse und Rechte gemäß den Polizeiaufgabengesetzen von Bund und Ländern bzw. den Rechtsvorschriften der Strafprozessordnung (StPO) besitzen.
4.2
Gefährdungslage
Attentate stellen eine absolute Seltenheit dar und nur in wenigen Fällen werden Personen des öffentlichen Lebens auch durch medizinisches Fachpersonal begleitet, sodass die Personenschützer neben ihrem Schutzauftrag auch noch die Aspekte der notfallmedizinischen Erstversorgung abzudecken haben. Im Rahmen der Vorplanungen von Reisen werden bekannte Krankheiten der Schutzperson im Hinblick auf etwaige Risiken thematisiert und oftmals Krankenunterlagen und spezielle Medikamente auf Reisen der betreffenden Schutzperson mitgeführt. Jedoch kann auch der Fall eintreten, dass die jeweilige prominente Person akut erkrankt oder infolge eines etwaigen Substanzmittelkonsums vom Rettungsdienst versorgt und in eine Klinik eingewiesen werden muss. Daher wird für jede dieser Personen im Vorfeld der jeweiligen Maßnahmen eine individuelle Gefährdungsanalyse erstellt (Fremdgefährdung, Eigengefährdung, Sicherheitslage im betreffenden Land etc.). Im Anschluss daran werden die jeweils zu treffenden Schutzmaßnahmen definiert, um dann mit involvierten Behörden und sonstigen Stellen (Veranstalter, Hotels, etc.) umgesetzt werden zu können. Auch diese Fälle sorgen für eine erhöhte Aufmerksamkeit im direkten Umfeld und in der Öffentlichkeit. Ein besonderer Schwerpunkt liegt daher beim Absetzen der Notfallmeldung sowie dem Absichern und Sichern des Notfallortes durch die Personenschützer vor: so geben eine vorherige Planung von Anfahrts- wie Abfahrtswegen, Objekten, Lage von Kliniken entlang der Fahrtroute, Ausweichrouten etc. die Kriterien für eine etwaige notfall- und rettungsmedizinische Versorgung an. Inhaltlich werden die Personenschutzkräfte speziell auf die Erstversorgung von Schuss- und Stichwunden, Vergiftungen, Einwirkung von Reizstoffen, plötzliche Erkrankungen der Schutzperson, traumatische Verletzungen im Straßenverkehr sowie Explosionstraumata geschult. Hochgefährdete Schutzpersonen erhalten Personenschutz von mehreren Personenschützern. Die klassische Taktik eines Schutzes ist das Schutzkreuz, eine karoartige Anordnung der Personenschützer um die Schutzperson. Personenschützer arbeiten häufig in ziviler Kleidung. Sind mehrere Personenschützer tätig, sind sie auch im persönlichen Umfeld der Schutzperson tätig. Die
Hauptaufgabe ist das rechtzeitige Erkennen und Verhindern von Gefahren für die Schutzperson. Dabei achtet man besonders auf auffälliges Verhalten von Personen, ungewöhnliches Äußeres, sowie markante Gegenstände und Abläufe (Tompson 2014). Bei der Planung von derartigen Einsatzlagen werden auch stets für den etwaigen Ernstfall geeignete Kliniken eingeplant. Die Beurteilung der Gefährdungslage umfasst die anlassbezogene oder wiederkehrende Analyse und Bewertung von Informationen sowie die schlüssige Feststellung des Grades der Gefährdung. Dieser wird regelmäßig oder auch anlassbezogen fortgeschrieben. Es werden insgesamt drei Gefährdungsstufen unterschieden: 1. Die Schutzperson ist erheblich gefährdet. Mit einem Anschlag oder einer Entführung ist jederzeit zu rechnen. 2. Die Schutzperson ist gefährdet, ein Anschlag oder eine Entführung ist nicht auszuschließen. 3. Eine allgemeine Gefährdung der Schutzperson ist nicht auszuschließen. Anhand der jeweiligen individuellen Gefährdungsstufe werden die erforderlichen Maßnahmen festgelegt. Für den Transport einer Schutzperson werden in verschiedene Schutzklassen unterteilte, gepanzerte Fahrzeuge eingesetzt. Diese sind nach heutigem Stand der Technik äußerlich so gut wie nicht von normalen Fahrzeugen zu unterscheiden, bereiten aber im Anschlagsfall deutliche Nachteile in Bezug auf eine schnelle Rettung der im Fahrzeuginneren befindlichen Personen. Die Rettung von Personen aus Sonderschutzfahrzeugen stellt eine weitere Problematik dar, welche die Einsatzkräfte von Feuerwehr und Rettungsdienst mitunter vor große Probleme stellt: aufgrund spezieller Materialverstärkungen bei diesen Fahrzeugtypen müssen meist deutliche höhere Kräfte als üblich aufgewandt werden, um Zugang zu den eingeschlossenen und zu rettenden Personen im Inneren des Fahrzeuges zu erlangen. Hierbei ist grundsätzlich einer äußeren und inneren Panzerung zu unterscheiden. Darüber hinaus sind diese Fahrzeuge mit speziellen schusshemmenden Fenstern ausgestattet. Diese Fahrzeuge führen je nach individueller Ausgestaltung von Basisfahrzeug, Schutzstufe und Aufbaumethode besondere Probleme mit sich: die
Fahrzeugscheiben sind deutlich dicker und mit üblichen Methoden so gut wie nicht zu schneiden, die Türscharniere bestehen aus speziell gehärtetem Stahl, Karosserieteile sind mit spezialgehärteten Stahlplatten armiert, schusshemmende Einlagen sind in Teilen der Karosserie und von Türen eingearbeitet, Dach und Fahrzeugboden sind speziell verstärkt und es ist generell mit Waffen und Munition in diesen Fahrzeugen zu rechnen. Jedoch verfügen etliche dieser Fahrzeuge über eine Vorrichtung zum Notausstieg im Bodenbereich. Folglich müssen hierzu im Vorfeld Informationen hinsichtlich Fahrzeugtypen und Rettungseinrichtungen über die polizeiliche Einsatzleitung gewonnen werden (Cimolino et al. 2003).
4.3
Einsatzablauf
Bei Besuchen von hochrangigen Staatsgästen erfolgt stets eine umfangreiche Planung der gesamten Dauer. Diese Einsatzplanung wird bundesweit durch die jeweils zuständigen Dienststellen der Landespolizei in Zusammenarbeit mit dem Bundeskriminalamt und ausländischen Sicherheitsbehörden sichergestellt. Hierzu wird eine sogenannte „Besondere Aufbauorganisation – BAO“ gebildet, welche speziell neben dem alltäglichen Geschehen nur zu diesem einen Zweck besteht. Im Rahmen der Planungen werden Fahrtrouten nebst Besuchsorten und -zeiten in einem gesonderten Einsatzbefehl festgelegt, der in der Regel der Geheimhaltung unterliegt. Auch werden Codewörter für den Anschlagsund Einsatzfall verbindlich festgelegt. Bei derartigen Szenarien handelt es sich um sogenannte „Planlagen“. Hierzu werden sich in der Regel Verbindungsbeamte der BAO mit den Rettungsdienstkräften im Einsatzgebiet im Vorfeld zusammenfinden, um das Procedere im Ernstfall aufeinander abzustimmen, helfen folgende Fragen: Muss ein separater Notarztwagen oder Rettungswagen speziell für diesen Einsatz vorgehalten werden oder genügt die allgemeine Vorhaltung aus dem Rettungsdienst? Muss gesondert ärztliches Personal bereitgehalten werden? Müssen geeignete Kliniken im Vorfeld auf die Eventualität einer Akutversorgung der Schutzperson informiert werden? Nach einem Anschlag auf die Schutzperson wird diese in der Regel so schnell wie möglich von Personenschützern aus dem Gefahrenbereich in ein
nahegelegenes (oftmals bereitgehaltenes) Fahrzeug oder Objekt verbracht. Entweder wird die Schutzperson, sollte sie verletzt sein, dann auf direktem Weg von den Personenschützern in eine nahegelegene Klinik verbracht oder wird im Rendezvous-Verfahren an den Rettungsdienst übergeben. In letzterem Fall ergibt sich das unabdingbare Erfordernis klarer Absprachen im Vorfeld (Übergabeort, Kommunikationswege, Funkkanäle etc.). Es versteht sich von selbst, dass in einem solchen Fall bei der damit einhergehenden hohen Komplexität schnell gehandelt werden muss. Ferner gilt es auch stets, den Persönlichkeitsschutz der betroffenen Schutzperson so weit als irgend möglich zu wahren (z.B. Abschirmung mit Decken, schnelles Verbringen in das Rettungsdienstfahrzeug mit Abfahrt aus dem Übergabebereich). Die erforderliche Abschirmung der betroffenen Personen erfolgt auch im Fall einer Klinikeinlieferung stets durch die begleitenden Personenschutzkräfte. Insofern sind hier situationsbezogen klare Absprachen im Einzelfall zu treffen.
4.4
Maßnahmen des Rettungsdienstes
Sobald Planungen für einen anstehenden Staatsbesuch oder den Auftritt einer sonstigen Person des öffentlichen Interesses anlaufen, müssen die Kräfte des Rettungsdienstes hierzu vorbereitende Informationen abrufen. Die dann für den Einsatz vorgesehenen Führungskräfte (z.B. Leitender Notarzt, Organisatorischer Leiter, Einsatzleiter Rettungsdienst) haben Rettungs- und Versorgungsstrategien eng mit der planenden Dienststelle der Polizei bzw. dem beauftragten Sicherheitsunternehmen abzustimmen. Staatlicher Personenschutz für Privatpersonen wird nur in den seltensten Fällen vorgehalten werden; daher sind in diesem Fall die damit beauftragten privaten Sicherheitsunternehmen über die Ansprechpartner der polizeilichen Einsatzleitung oder direkt zu kontaktieren, um die jeweils im Ernstfall zu treffenden Maßnahmen aufeinander abzustimmen. Schnell kann man hierbei an Grenzen gelangen, wenn es um den Austausch geheimhaltungsbedürftiger Aspekte zwischen den öffentlichen Sicherheitsbehörden und dem Rettungsdienst geht. Der neuralgische Aspekt hieran besteht in der so gut wie kaum vorhandenen Ermächtigung zum Umgang mit Verschlusssachen bei rettungsdienstlichen Führungskräften
(Schmid u. Morhart-Klute 2016). Folglich muss man davon ausgehen, dass nie alle relevanten Informationen bekannt gegeben werden, man also im Ernstfall auf die eigene und schnelle Reaktionsfähigkeit angewiesen sein wird. Im Vorfeld abzuklärende Aspekte Wie sehen die polizeilichen Einsatzstrukturen aus? Dauer und Art des Besuches/der Veranstaltung? Welche Personen mit welchem Gefährdungspotenzial werden erwartet? Welches Risikopotenzial ist vorhanden? Hat die jeweilige Organisationseinheit umfangreiche Kenntnisse in ACLS (Advanced Cardiac Life Support), TCCC (Tactical Combat Casualty Care), und PHTLS (Prehospital Trauma Life Support)? Sind die Alarm- und Einsatzpläne darauf abgestimmt? Sind ausreichende Ressourcen an Personal und Material vorhanden? Besteht ein kontinuierlicher Kontakt zur (polizeilichen) Einsatzleitung? Sind Übergabestellen verletzter Schutzpersonen vom Personenschutz an den Rettungsdienst festgelegt bzw. wie werden diese schnell kommuniziert? Wie lautet das verbindliche Codewort für den Ernstfall? Wie erfolgt die Rettung der Schutzperson in Zusammenarbeit mit dem Personenschutz?
4.5
Problemfelder
An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass allgemeingültige Vorgehensweisen zur Rettung schutzbedürftiger Personen in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Personenschutzkräften nicht existieren. Relevant ist in Zusammenhang mit den spezifischen Aufgaben des Personenschutzes, dass bei jeglichen Notfällen durch die Handlung Dritter (Attentate, Stich- und Schussverletzungen etc.) die Leistung von erster Hilfe nachrangig zu dem allgemeinen Schutzauftrag steht, da Personenschützer nur äußerst selten zum Tatzeitpunkt des Angriffes/Attentates allgemeine Erste-Hilfe-Maßnahmen leisten können, da sie in diesem Moment mit Schutz- und Abwehrmaßnahmen beschäftigt
sind! Auch werden stets nie alle Personenschützer zugleich Hilfe leisten, da das Verbringen der Schutzperson durch den Rest des Personenschutzteams aus dem Gefahrenbereich oberste Priorität hat. Letztlich kann ja auch nur ein lebender und handlungsfähiger Personenschützer nach Verbringen der Schutzperson aus dem Gefahrenbereich auch effektiv Hilfe leisten. Anders sieht es bei Notfällen aus, bei welchen keinerlei Einwirkung von außen vorliegt: hier hat das Leisten Erster Hilfe absolute Priorität (Tompson 2014). Folglich sind im Vorfeld mit den beteiligten Behörden und Institutionen klare Absprachen zu treffen und die einzelnen Vorgehensweisen konkret aufeinander abzustimmen und zwischen den beteiligten Akteuren im Ernstfall situativ klar und eindeutig zu kommunizieren! In jedem Fall muss darauf hingewirkt werden, dass im Ernstfall diese relevanten Informationen den Rettungskräften sofort bereitgestellt werden! Hier kommen insbesondere spezielle Herausforderungen auf die Integrierten Leitstellen zu, indem sie nahtlos diese Informationen von der Polizei an die Einsatzkräfte vor Ort weiterzugeben und den gesamten Einsatz koordinierend und unterstützend zu begleiten haben (von Kaufmann et al. 2015). Handelt es sich um einen „normalen“ Begleitschutz einer Person des öffentlichen Lebens und bedarf es hierbei einer notfallmedizinischen Versorgung, so werden die Personenschutzkräfte stets von sich aus auf den Rettungsdienst zukommen und das weitere Vorgehen im Rahmen der Versorgung gemeinsam bewerkstelligen. In jedem Fall der Notwendigkeit zur Versorgung einer Person des öffentlichen Interesses hat sich das folgende Grundschema im Rahmen vorbereitender Planungen und Schulungen bewährt. Grundschema zur Versorgung einer Person des öffentlichen Interesses Alarmieren – Informieren – Aktivieren = „AIA“! Unzureichende Information und unzureichender Ausbildungsstand = Angst! Angst = Stress = Panik!
4.6
Besonderheiten im Einsatz
In speziellen geheimhaltungsbedürftigen Polizeidienstvorschriften wird die medizinische Erstversorgung auch im Zusammenhang mit Personenschutzaufgaben als direkte polizeiliche Aufgabe definiert. Dementsprechend wird bei derartigen Einsatzlagen innerhalb der Polizei auch ein Einsatzabschnitt „Medizinische Maßnahmen“ gebildet, welcher die Vorbereitung und Durchführung notfallmedizinischer Maßnahmen mittels einer Koordinierung des Rettungsdiensteinsatzes als Zielsetzung beinhaltet. Alle speziellen polizeilichen Vorschriften bezeichnen die medizinische Erstversorgung als Bestandteil der polizeilichen Aufgabe zum Schutz von Leib und Leben sowie der körperlichen Unversehrtheit. Nicht zuletzt deshalb weisen die Polizeien von Bund und Ländern innerhalb ihrer eigenen Strukturen polizeiärztliche Dienststellen auf; dort werden notfallmedizinisch ausgebildete Ärzte sowie Notfallsanitäter, Rettungsassistenten und medizinische Fachangestellte neben der arbeitsund sozialmedizinischen Versorgung der Polizeivollzugsbeamten auch für die medizinische Erstversorgung im Polizeieinsatz beschäftigt. Auf dem Weg zum Einsatz Zuerst selbst zur Ruhe kommen: Die Polizei bzw. der Personenschutz muss die Lage primär selbst in den Griff bekommen! Ruhe auf andere ausstrahlen! Wer ruhig und besonnen ist, trifft die besseren Entscheidungen! Einsatzstelle immer erst nach Freigabe durch die Polizei anfahren! Bleiben Sie cool: Es gibt nie DEN perfekten Einsatzablauf! Der Originalbeitrag wurde von Falko Schmid verfasst.
Literatur Cimolino U, Heck J, Linde C, Springer H, Südmersen J (2003) Technische Rettung bei LkwUnfällen – Technische und medizinische Rettung eingeklemmter Personen, Umgang mit verunfallten schweren Straßenfahrzeugen. 80ff., Ecomed Verlagsgruppe, Landsberg Hörner R (2003) Erste-Hilfe-Ausbildung für Personenschützer: Im Notfall doppelt geschützt. Rettungsdienst, 26. Jg, 1.2003, 79–80, Stumpf und Kossendey Verlag, Edewecht
von Kaufmann F, Kiening S, Morhart-Klute V, Schmid F (2015) Technik als Voraussetzung für eine effizientere Prozessabwicklung in der Leitstelle. Sinnvoller Einsatz von innovativer Technik unter Betrachtung des Organisationsaufbaus und gegebener Rahmenbedingungen am Beispiel der Integrierten Leitstelle München. Notfall und Rettungsmedizin, Heft 7, 11/2015, 573–580, Springer Verlag, Heidelberg Neitzel C, Ladehof K (2013) Taktische Medizin. Notfallmedizin und Einsatzmedizin. 304ff., Springer Verlag, Heidelberg Schmid F, Morhart-Klute V (2016) Überlegungen zur künftigen Ausbildung und Bestellung von Leitenden Notärzten. Notfall und Rettungsmedizin, Heft 6, 09/2016, 500–505, Springer Verlag, Heidelberg Schmid F, Weber G (2003) Situatives Führen im Rettungsdienst. Notfall und Rettungsmedizin, Heft 4, 06/2003, 256–264, Springer Verlag, Heidelberg Tompson S (2014) Personenschutz International – Kompakt und Effektiv. 243ff., Books on Demand, Norderstedt
5
Notfälle innerhalb der BOSOrganisationen
Veronika Morhart-Bojko und Falko Schmid
Tätige in Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS) assoziieren mit diesen Thema häufig länger nachwirkende Bilder, Einsätze oder besondere Belastungssituationen: von der gar nicht banalen Nadelstichverletzung über somatische oder psychische Belastungen bei diversen, auch traumatischen Eigenunfällen, Ereignissen mit chemischen oder strahlen Agenzien, bis hin zum – leider – derzeit häufig auftretenden Fall der „Gewalt gegen Einsatzkräfte“.
5.1
Gewalt gegen Einsatzkräfte
Aktuelle Debatten zeigen, dass das Thema der Gewalt gegen Einsatzkräfte und Rettungsdienste eine große Präsenz hat. In Abhängigkeit regional unterschiedlicher Gewalt-Gefährdungslagen haben sich Eigenschutz und Deeskalationstrainings für verschiedene Einsatzkräfte in gewissem Rahmen bewährt. Es gilt, einsatzsituativ dem Spektrum von verbaler bis auch (drohender) tätlicher Gewalt möglichst vorausschauend zu begegnen. Zum eigenen Schutz gehören außerdem der Rückzug und die partnerschaftliche Unterstützung von gegebenenfalls Spezialkräften auf allen Ebenen bewusst dazu. Die aktuell anstehende Verschärfung der Strafgesetze zur Ahndung von Gewalttaten, gerade auch gegen Rettungskräfte, dürfte auch mittelfristig kaum eine abschreckende Wirkung mit sich bringen, da typischerweise Angehörige von BOS ja dann zum Einsatz kommen, wenn sich Einzelne oder Gruppen bereits in einer Ausnahmesituation befinden.
5.2
Notfälle innerhalb der BOS
Als primär traumatisch bedingte Ursachen gelten beispielsweise:
Nadelstichverletzung, Sturz von der Drehleiter, Unfall mit Einsatzmitteln zu Lande, aus der Luft oder zu Wasser, tätliche Angriffe wie Schlag-, Schuss- und Stichverletzungen. Unter primär nicht-traumatischen Ursachen versteht man beispielsweise: Atemschutznotfall, Reizgas-Beaufschlagung, Unfälle mit chemischen oder strahlenden Agenzien, psychosoziale Notfallsituationen. Diese Notfälle innerhalb der BOS beinhalten für Betroffene selbst sowie für ihre Kollegen – besonders, wenn aus nächster Nähe miterlebt – häufig eine Extrembelastung, die zu nachhaltigen Folgen wie Langzeitarbeitsunfähigkeit und gar Berufsunfähigkeit führen können. Professionelle und routinierte Arbeitsteilung unter den Partner-BOS während des unmittelbaren Einleitens und gegebenenfalls Sicherns von Rettungsmaßnahmen für betroffene Einsatzkollegen ist und bleibt der Schlüssel für Erhalt und ggf. schnellmögliches Wiederherstellen der somatischen wie psychischen Gesundheit. (Eigen-)Sicherung bedeutet professionelle Arbeitsteilung, auch bei Notfällen mit Einsatzkollegen.
Bei den genannten Ereignissen ist die Spannbreite bekanntlich groß: von sicherer Reaktion bei Nadelstichverletzung über ein Einbeziehen von Spezialisten zu einigen der vorbenannten Situationen, bis hin zum Kümmern um ein gemeinsames Melde-/Lagebild für leitende Notärzte und organisatorische Leiter. Auch bei Katastrophenschutzorganisationen sind ereignisbezogene Handlungsroutinen abzurufen und gegebenenfalls checklistengestützt abzuarbeiten. Einfachstes, jedoch wichtigstes Element zur Verarbeitung traumatischer Erlebnisse und Prophylaxe einer anhaltenden Einsatztraumatisierung stellen Einsatznachbesprechungen dar. Diese müssen nicht strukturiert am Tisch stattfinden und die Einsatztaktik diskutieren. Allein am Ende des Einsatzes formlos zusammen die gemeinsamen Erlebnisse zu reflektieren und die eigenen Wahrnehmungen
dabei zu externalisieren, stellt eine wesentliche Prophylaxe vor späteren Nachwirkungen dar. Gegenseitiger Respekt und Wertschätzung sollten dabei nicht erwähnt werden müssen. Gegebenenfalls sollte auch nicht die entsprechende Meldung an die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege vergessen werden.
5.3
Fazit
Menschenmöglich bestes Auflösen erlebter Belastungssituationen im Einsatz für und mit Kollegen innerhalb von BOS ist eben aufgrund nachhaltiger Verbundenheit mit dem Einsatz ein besonderes humanitäres Ziel. Auch situativ haben hier verantwortliche Führungskräfte kooperierender Einsatzorganisationen einen im Interesse der Betroffenen höchstmöglichen Wirkungsgrad, wenn nach Zahl und Diensten unterschiedliche Teams professionell und routiniert handeln. Regelmäßige Übungen, Simulationstrainings und bewährte Routine schaffen hier einen sicheren Rahmen und geben gute Perspektiven. Traumatisierung selbst kann jedoch nicht trainiert werden, insofern es für Betroffene besonders stabilisierend sein kann, wenn eine kompetente Bezugsperson innerhalb oder außerhalb der Organisation längerfristig begleitend zur Seite steht (Peers, organisationsinterne Kriseninterventionsund psychologische Unterstützungsangebote, CISM, PSU etc.). Der Originalbeitrag wurde von Prof. Dr. med. Johann Wilhelm Weidringer und Falko Schmid verfasst.
Literatur Neitzel C, Ladehof K (2015) Taktische Medizin – Notfallmedizin und Einsatzmedizin, 2. Auflage. Springer Berlin Heidelberg Schmidt J (2012) Gewalt gegen Rettungskräfte. Bestandsaufnahme zur Gewalt gegen Rettungskräfte in Nordrhein-Westfalen, Abschlussbericht, Lehrstuhl für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft, Ruhr-Universität Bochum Stumpf + Kossendey Verlag (2016) 222 Rettungsdienstkräfte wurden 2014 Opfer von Gewaltkriminalität. Stand: 20.01.2016. URL: https://www.skverlag.de/rettungsdienst/meldung/newsartikel/222-rettungsdienstkraeftewurden-2014-opfer-von-gewaltkriminalitaet.html (abgerufen am 22.02.2023)
Weidringer JW, Weiss W (2013) Katastrophenmedizin. Leitfaden für die ärztliche Versorgung im Katastrophenfall, 6. Auflage. Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, Bonn
Weiterführende Weblinks Nadelstichverletzungen: https://www.lgl.bayern.de/arbeitsschutz/arbeitsmedizin/infektionsgefaehrdung/nadelstichverl etzungen.htm Atemschutz-Notfälle: http://www.atemschutzlexikon.de/lexikon/a/atemschutznotfall http://atemschutzunfaelle.de/ Psychosoziale Notfallsituation: https://www.bbk.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Mediathek/Publikationen/PiB/PiB-07psnv-qualitaet-stand-leitlinien-teil-1-2.pdf?__blob=publicationFile&v=6 https://www.notfallseelsorge-bayern.de
6
Einsätze mit Spezialkräften der Polizei
Renate Bohnen
Einsätze zusammen mit der Polizei sind für den Rettungsdienst nichts Außergewöhnliches. Aufgrund von Verkehrsunfällen, Kneipenschlägereien, häuslicher Gewalt, hilfloser Personen z.B. im Drogenmilieu oder anderen Anlässen arbeitet man häufig mit der Polizei am gleichen Ereignisort. Oftmals kennt man die Beamten der Streifenwagenbesatzung schon und die Zusammenarbeit gelingt problemlos bzw. gehört zur (fast täglichen) Routine. Anders ist das bei Einsätzen mit Spezialeinheiten der Polizei. Diese kennt man höchstens aus dem Fernsehen oder der Zeitung und wenn man doch einmal einen gemeinsamen Einsatz hat, so bleiben die Einsatzkräfte durch ihre Maskierung anonym und man erkennt noch nicht einmal, wer der verantwortliche Ansprechpartner ist. Hinzu kommt die mulmige Situation, denn Spezialeinheiten kommen in der Regel zum Einsatz, wenn mit einer besonderen Gefährdung gerechnet wird.
6.1
Einsatz von Spezialeinheiten
Als erste polizeiliche Spezialeinheit in Deutschland wurde 1972 die GSG 9 des damaligen Bundesgrenzschutzes (heute Bundespolizei) gegründet. Ihr folgten nach Beschluss der Innenministerkonferenz 1974 die Aufstellung der heutigen Spezialeinsatzkommandos (SEK) der einzelnen Bundesländer. Sie dienen u.a. der Terrorismusbekämpfung, Geiselbefreiung oder bei Zugriffen mit besonderer Gefährdung. Heute gibt es in jedem Bundesland mindestens ein Spezialeinsatzkommando (SEK), in einigen Bundesländern auch mehrere an verschiedenen Standorten. Sie zeichnen sich durch besondere Fähigkeiten, Ausrüstung und Bewaffnung aus und insbesondere durch spezielle Taktiken, um z.B. schlagartig einen Täter auszuschalten oder sich unbemerkt einem Täter zu nähern und dann das Überraschungsmoment auszunutzen.
Dabei kommen Spezialeinsatzkommandos in der Regel dann zum Einsatz, wenn Erkenntnisse vorliegen, dass von einem Täter eine hohe kriminelle Energie oder Aggressivität ausgeht bzw. eine entsprechende Bewaffnung (Schuss- oder Stichwaffe) oder brennbare bzw. Explosivstoffe zu erwarten sind. Typische Einsatzanlässe sind daher z.B. Überfälle auf Geldinstitute, Geiselnahmen, Entführungen, Bedrohungslagen, Amoktaten oder Anschläge, aber auch geplante Einsätze, z.B. wenn Haftbefehle vollstreckt werden sollen und man in der Wohnung des Beschuldigten entsprechende Waffen vermutet.
6.2
Zusammenarbeit mit dem Rettungsdienst
Häufig werden für diese geplanten Einsätze Rettungsmittel des zivilen Rettungsdienstes zur Bereitstellung angefordert. Weitere Informationen zum genauen Anlass oder Einsatzort erhalten die Rettungsdienstmitarbeiter meistens nicht, und es kommt auch nicht selten vor, dass der Einsatz bereits beendet ist und man vergessen hat, der RTW-Besatzung Bescheid zu sagen, dass sie abrücken kann. Kommt es dennoch zu einem gemeinsamen Einsatz, z.B. in einer Täterwohnung, so überfordert den Notarzt oder Rettungsdienstmitarbeiter oft schon der Anblick der vermummten und schwer bewaffneten SEK Beamten (s. Abb. 1).
Abb. 1
Das Erscheinungsbild von Spezialkräften der Polizei ist für Mitarbeiter von Feuerwehr und Rettungsdienst ungewohnt und kann unter Umständen die eigene Handlungsfähigkeit beeinflussen (mit freundlicher Genehmigung der GSG 9).
Im schlimmsten Fall ist man von den Eindrücken und der Situation so überwältigt, dass man in eine Art Schockstarre verfällt und die einfachsten Dinge des rettungsdienstlichen Handelns nicht mehr beherrscht. Ähnliches kann bei ad hoc Lagen passieren (z.B. Amoklauf, Anschlag), wenn man nicht sicher ist, ob Täter bereits gefasst sind und keine Gefahr mehr besteht. Grundsätzlich sollte der Rettungsdienst bei einer Polizeilage nicht im Gefahrenbereich eingesetzt werden.
Die Mitarbeiter des Rettungsdienstes können sich nicht selbst schützen und sind dafür weder ausgebildet noch ausgerüstet – für den Gefahrenbereich ist die Polizei zuständig. Dabei gilt es in erster Linie, Druck auf die Täter auszuüben, diese handlungsunfähig zu machen und so weitere Verletzte oder Schäden zu verhindern. Zeitlich nah muss aber auch die medizinische Erstversorgung von Verletzten sichergestellt werden. Dies ist im
Gefahrenbereich bei einer Polizeilage grundsätzlich Aufgabe der eingesetzten Polizeikräfte. Der Rettungsdienst übernimmt die Verletzten an einem sicheren Übergabepunkt z. B. an der Grenze des Gefahrenbereiches. Dafür muss den Rettungsdienstkräften bekannt sein, dass es sich überhaupt um eine Polizeilage handelt, sodass bereits der Leitstelle eine hohe Verantwortung und Sensibilisierung abverlangt wird, eine Notrufmeldung entsprechend zu bewerten und ein geeignetes Alarmstichwort auszugeben. Im Zweifelsfall sollten Informationen mit der Leitstelle der Polizei ausgetauscht werden, um die Gefahrensituation besser einschätzen zu können. Die alarmierten Einsatzkräfte sollten zunächst einen sicheren Bereitstellungsraum anfahren, ggf. ein Erkundungsteam entsenden, um weitere Lageinformationen zu gewinnen und Kontakt mit der Einsatzleitung der Polizei vor Ort aufzunehmen. Eine frühe Lagemeldung für nachrückende Kräfte und die Planung von weiteren Material- und Kräfteanforderungen ist unabdingbar. Nach Absprache mit der Polizei können im weiteren Verlauf Patientenablagen und Übergabestellen im sicheren Bereich eingerichtet werden (s. Abb. 2).
Abb. 2
Einteilung der Gefahrenbereiche bei einer Polizeilage (In einigen Bundesländern wird im unsicheren Bereich noch zwischen roter und oranger Zone unterschieden, wenn man zwar im Gefahrenbereich aber hinter einer 1. Deckung ist.)
Ein Einsatz im teilsicheren Bereich, geschützt durch Polizeikräfte, sollte nach Lagebeurteilung und -verlauf in Erwägung gezogen werden aber
insgesamt eine Ausnahme bleiben, da aufgrund der hohen Dynamik solcher Lagen ein zunächst teilsicherer Bereich auch schnell zum unsicheren Bereich werden kann und ein Rückzug dann evtl. nur schwer möglich ist (s. Abb. 3). Bei diesen Überlegungen muss wieder der Eigenschutz oberste Priorität haben. Im weiteren Verlauf sollten so schnell wie möglich Verbindungspersonen in die Führung der jeweils anderen Organisation entsendet werden, um möglichst viele Informationen austauschen zu können. Dabei ist zu beachten, dass der Polizeiführer in der Regel nicht vor Ort ist (Prinzip der Führung von hinten), sodass ggf. mehrere Verbinder in unterschiedliche Führungsebenen erforderlich sind. Entsprechend der Lageentwicklung müssen Bereitstellungsräume, Patientenablagen und Kräfte unter Umständen verschoben werden, weil die Sicherheit nicht mehr gewährleistet werden kann. Geraten Rettungsdienstkräfte unvorhergesehen in den unsicheren Bereich und erkennen dies, so sollte nach Möglichkeit der direkte Rückzug erfolgen, und wenn dies nicht möglich ist, eine geeignete Deckung gesucht werden.
Abb. 3
Im Gefahrenbereich muss zum Eigenschutz während der Verletztenversorgung eine Sicherung aufgebaut werden (mit freundlicher Genehmigung der GSG 9).
Die Aufenthaltszeit am Ereignisort sollte so kurz wie möglich sein. Nach einem Anschlag ist jederzeit mit einem Zweitschlag (sog. „second hit“) zu rechnen. Die zu erwartenden Verletzungsmuster (Stich-, Schuss-, Explosions- und Verbrennungsverletzungen) erlauben keine individuelle, präklinische Maximalversorgung, sondern erfordern eine schnelle Versorgung vital bedrohlicher Zustände, Evakuierung aus dem Gefahrenbereich und schnellstmöglichen Transport in eine Klinik. Denn nur der Chirurg im Operationssaal (OP) kann solche Verletzungsmuster adäquat versorgen. Strategie am Einsatzort schnelle Versorgung vital bedrohlicher Zustände („treat first what kills first“) schnelle Evakuierung aus dem Gefahrenbereich („clean the scene“) schneller Transport in die Klinik („der Chirurg im OP ist das Ziel“)
Aber auch stumpfe Traumata treten in den letzten Jahren zunehmend in Zusammenhang mit Terroranschlägen auf. So nutzen Täter leicht zu erlangende Tatmittel wie Kraftfahrzeuge, Kleintransporter oder Lastwagen und steuern diese in Menschenmengen, um so eine möglichst hohe Anzahl an Verletzten zu erreichen. Dabei kommt es zu Überrolltraumata und allen Verletzungsmustern, die Feuerwehr und Rettungsdienst vom normalen Verkehrsunfall her gewohnt sind.
6.3
Medizinisches Vorgehen Bei der Versorgung vital bedrohlicher Zustände hat bei penetrierenden Verletzungen die Blutstillung oberste Priorität.
Der im Rettungsdienst häufig verwendete und bekannte TraumaAlgorithmus wird daher von einem zusätzlichen Akronym angeführt (s. Abb. 4), das diesem Umstand Rechnung trägt. Dabei wird inzwischen das für die kritische Blutung häufig durch ein ersetzt, um bei zwei C
Akronymen in einem Algorithmus Verwechslungen oder Missverständnisse zu vermeiden.
Abb. 4
Behandlungsalgorithmus bei penetrierenden Verletzungen
Spezialeinheiten der Polizei verwenden, ähnlich wie militärische Einheiten, für die Blutstillung besondere Medizinprodukte wie z. B. Tourniquets, Wundschnellverbände oder Hämostyptika. Insbesondere die Verwendung von Tourniquets für die Versorgung starker Blutungen bei ExtremitätenVerletzungen findet inzwischen auch Einzug im zivilen Rettungsdienst und ist in der aktuellen S3-Leitlinie Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung explizit erwähnt. Bei all diesen Produkten ist eine fachlich fundierte Ausbildung sowie regelmäßiges Training erforderlich, um im Einsatz eine effiziente Anwendung gewährleisten zu können. Neben der Blutstillung liegt das weitere Augenmerk auf der Atemwegssicherung und der Versorgung von penetrierenden Thoraxverletzungen. Letzteres erfolgt häufig durch die Anwendung von Okklusivverbänden, sog. „chest seals“, um der Entwicklung eines Spannungspneumothorax entgegenzuwirken. Kommt es dennoch zu einem solchen, so ist die Anlage einer Thoraxdrainage in der Regel so zeitintensiv, dass es nicht gerechtfertigt ist, dafür am Einsatzort zu verbleiben. Eine Entlastungspunktion mit einer Nadel und ein schneller Transport in die Klinik könnten hier die bessere Alternative darstellen. Zur Stabilisierung und Aufrechterhaltung der Kreislauffunktion gilt bei penetrierenden Verletzungen das Prinzip der permissiven Hypotension mit restriktiver
Flüssigkeitsgabe und Aufrechterhaltung eines mittleren arteriellen Blutdruckes im subnormalen Bereich. Des Weiteren sollte beim Verletzten frühzeitig an den Wärmeerhalt gedacht werden. Wenn die Einsatzkraft schwitzt, heißt das noch lange nicht, dass der Verletzte auch schwitzt. Die Hypothermie ist gerade bei einem Verletzten mit penetrierenden Wunden nicht zu unterschätzen, da sie ähnlich wie die Azidose sowohl die Thrombozytenfunktion und Gerinnungsfaktoren als auch die Thrombinbildung beeinflusst und sich somit negativ auf die Blutung und die Mortalität (letale Trias) auswirken kann. Bei allen medizinischen Maßnahmen muss man sich die Frage stellen, ob man genug Personal, Material und vor allem Zeit hat, sie jetzt am Einsatzort durchzuführen und ob es dem Verletzten gerade jetzt etwas nutzt. Der Schwerverletzte benötigt vielleicht jetzt nicht direkt die Einleitung einer Narkose und anschließende endotracheale Intubation, wenn er während dieser Zeit mit einem freien Atemweg und ausreichender Spontanatmung bereits das Krankenhaus erreichen könnte. Es gilt das Prinzip, nur so viel Medizin wie zur Stabilisierung des Verletzten unbedingt nötig einzusetzen und die Verweildauer am Ereignisort so gering wie möglich zu halten.
Dies gilt auch bei der Beurteilung der Transportpriorität: der Verletzte, dessen Blutung z.B. durch ein Tourniquet gestoppt werden konnte, und der stabil ist, kann bei mangelnder Transportressource noch einen Moment vor Ort bleiben, anders als bei einem Verletzten mit z.B. nicht kontrollierbarer Bauchhöhlenblutung.
6.4
Vorkehrungen für Polizei und Rettungsdienst im Hinblick auf terroristische Anschläge
Die Spezialeinheiten der Polizei haben sich in den letzten Jahren aufgrund des bei Einsätzen permanent hohen Gefahren- und Verletzungspotenzials bereits weitgehend auf Maßnahmen der medizinischen Erstversorgung
eingestellt. Diese Maßnahmen werden von besonders geschulten Ersthelfern oder polizeilichen Rettungssanitätern bis hin zu Notfallsanitätern durchgeführt. Damit überbrücken medizinisch qualifizierte Einsatzkräfte der Polizei den Zeitraum bis der Verletzte an den Rettungsdienst übergeben oder der Ereignisort als sicher freigegeben werden kann. Letzteres geschieht z. B. sehr rasch bei den nahezu täglichen Zugriffen in Wohnungen, die nur von kurzer Dauer sind und bei denen der Rettungsdienst in sicherer Entfernung bereitgestellt wird (s. Abb. 5).
Abb. 5
Training der Erstversorgung von Verletzten durch Einsatzsanitäter der Polizei (Foto: Dennis Wilhelms)
Komplexer wird es bei Anschlagsszenarien oder sogar multiplen Anschlagsorten zur gleichen Zeit wie sie auch in Europa in den letzten Jahren häufiger zu beobachten waren. Daher ist es wichtig, dass sich auch der Rettungsdienst mit solchen, möglichen Ereignissen auseinandersetzt und planerisch, materiell und ausbildungsmäßig vorbereitet. Kenntnisse über die Fähigkeiten und Vorgehensweisen des jeweils anderen sind dabei
immens wichtig. Optimal wäre die Entwicklung und Abstimmung gemeinsamer Einsatzkonzepte, die in ebenfalls gemeinsamen Übungen erprobt, verbessert und gefestigt werden könnten. Das Anschlagsszenario selbst ist schon eine Extremsituation; da sollte der Umgang mit Spezialkräften der Polizei bzw. die Schnittstelle zwischen Polizei und Rettungsdienst/Feuerwehr nicht auch noch eine Extremsituation darstellen. Auf dem Weg zum Einsatz Alarmierung bereits in der Leitstelle Notrufe sensibel auswerten (ungewöhnliches Ereignis, weiches Ziel, symbolträchtiges Datum o.ä.) geeignetes Alarmierungsstichwort, um ausrückende Einsatzkräfte auf mögliche Polizei- bzw. Gefahrenlage hinzuweisen ggf. Notfallpläne aktivieren Bereitstellungsraum zunächst abgesetzt vom Ereignisort warten bis weitere Informationen vorliegen bzw. Kontakt mit der Polizei hergestellt ist und Absprachen getroffen wurden ggf. eigenes Erkundungsteam losschicken Lagemeldung nachrückende Kräfte frühzeitig informieren Lageänderungen unverzüglich melden und eigenes Vorgehen ggf. anpassen (z.B. Rückzug, Behandlungsplatz verlagern) Kontaktaufnahme mit der Polizei und Verbindungswesen am Ereignisort den zuständigen Einsatzabschnittsführer der Polizei suchen (nicht einfach, da meistens nicht gekennzeichnet; notfalls so lange fragen und suchen, bis man den richtigen Ansprechpartner gefunden hat) direkter Informationsaustausch und Absprachen über Raumeinteilung, Gefahrenbereiche, sichere Übergabestellen etc. gegenseitige Entsendung von Fachberatern/Verbindungsbeamten in die jeweiligen Führungsebenen Gefahrenbereiche unsicherer Bereich: eine unmittelbare Gefahr durch Täter oder Waffenwirkung bzw. Explosivstoffe ist zu erwarten = Verantwortungsbereich der Polizei = kein Einsatz von Rettungsdienstkräften: Eigenschutz!
teilsicherer Bereich: bereits durchsuchter oder etwas entfernter Bereich, der jedoch aufgrund hoher Dynamik und unklarer Gefährdung (Täterzahl, Waffenart, unsichere Gegenstände o.ä.) noch nicht als sicher gilt; Einsatz von Rettungsdienstkräften nur im Ausnahmefall sowie nach vorheriger enger Absprache und Erlaubnis der Polizei und unter Schutz von Polizeikräften sicherer Bereich: Einsatzort ist gesichert, außer von allgemeinen Betriebsgefahren ist von keiner weiteren Gefährdung auszugehen Medizinische Maßnahmen oberste Priorität: Blutstillung und präklinische Zeit minimieren nur so viel Medizin wie zur Stabilisierung und Herstellung der Transportfähigkeit unbedingt nötig einfacher Algorithmus (ABCDE bzw. ABCDE) und einfache, lebensrettende Maßnahmen Transportorganisation hat große Bedeutung zügige Evakuierung und Transport wirkt der möglichen Gefahr eines Zweitschlags (sog. „second hit“) entgegen Debriefing Einsatzende an alle Kräfte melden Nachbereitung (unmittelbar und wiederholend in den folgenden Tagen und Wochen) Betreuungsangebote
6.5
Fazit
Spezialeinheiten der Polizei kommen immer dann zum Einsatz, wenn mit hoher Gefährdung durch besonders gewaltbereite Personen oder durch entsprechende Bewaffnung oder sogar Explosivstoffe zu rechnen ist. Bei Zugriffen in Wohnungen wird der Rettungsdienst häufig hinzualarmiert und in Bereitstellung versetzt. Dennoch ist der Anblick der schwer bewaffneten und oft vermummten Beamten ungewohnt und befremdlich. Noch schwieriger wird die Situation, wenn es sich um ein komplexes Anschlags szenario mit einer Vielzahl von Betroffenen und Verletzten handelt. Ein einfaches MANV-Konzept (Massenanfall von Verletzten) reicht hierfür nicht aus. Gefahrenbereiche müssen beachtet werden unter dem Aspekt des Eigenschutzes und auch die präklinische Notfallmedizin muss sich den besonderen Bedingungen eines solchen Szenarios anpassen.
Ein abgestimmtes Vorgehen von Polizei und Rettungsdienst/Feuerwehr ist unabdingbar und stellt alle Beteiligten vor besondere Herausforderungen.
CASE REPORT: Der Anschlag von München 2016
Stephan Rudolph
Die Ausgangslage Tagtäglich sind Rettungsdienste und Feuerwehren gefordert, professionelle Hilfe den Bürgerinnen und Bürgern in lebensbedrohlichen Lagen zu leisten und das oft unter enormen Zeitdruck. Diese alltägliche Situation wird in Ausnahmesituationen besonders auf die Probe gestellt und in der Bewältigung zeigt sich die Qualität des Einsatzes. Zu dieser Ausnahmesituation kam es am Freitag, den 22. Juli 2016. Kurz vor 18:00 Uhr ereignete sich im Bereich des Olympia Einkaufszentrums (OEZ) im Münchner Norden ein rechtsradikal motivierter Anschlag durch einen 18-jährigen Deutsch-Iraner. Bei dem Anschlag wurden neun Menschen durch Schüsse getötet und fünf weitere Personen zum Teil schwer vom Täter verletzt. Darüber hinaus entstanden durch Gerüchte über weitere Schießereien in der Münchner Innenstadt, die in den Sozialen Medien sich rasant verbreiteten, zusätzliche weitere Einsatzorte, die das Einsatzgeschehen verschärften. Die Falsch-Nachrichten lösten Panik aus, in deren Folge sich mindestens 32 Personen bei der Flucht in sichere Bereiche verletzten. Der nachfolgende Beitrag schildert den Einsatzablauf, die Herausforderungen und die Konsequenzen dieses besonderen Einsatzes.
Notrufeingang, Alarmierung und erste Maßnahmen der Leitstelle Der Einsatz begann in der Integrierten Leitstelle (ILS) München um 17:55 Uhr mit dem Eingang der ersten Notrufe. Alle Anrufer meldeten eine
Schießerei mit verletzten Personen in einem Schnellrestaurant und auf der davor vorbeiführenden Hanauer Straße. Die ILS alarmierte daraufhin als erste Reaktion Rettungsdiensteinheiten der Stufe RD 4 (4–5 Patienten; Einsatzmittel: Einsatzleiter Rettungsdienst/ELRD, ein NEF, zwei RTW). Die alarmierten Kräfte wurden aufgrund des Meldebildes bereits bei der Alarmierung bzw. auf der Anfahrt durch die ILS über den Schusswaffengebrauch am Einsatzort informiert und aufgefordert, nur die definierten Abrufplätze anzufahren. Hierfür wurden von der ILS jeweils ein Abrufplatz im Norden und Süden der Einsatzstelle, im Abstand von ca. 500 m zur Einsatzstelle, festgelegt (s. Abb. 1).
Abb. 1
Bereitstellung der Einsatzkräfte der Feuerwehr am Abrufplatz (mit freundlicher Genehmigung der Berufsfeuerwehr München)
Parallel zur Alarmierung der Einsatzkräfte nahm die ILS unmittelbar mit der Einsatzzentrale (EZ) der Polizei Kontakt auf, um einen Informationsaustausch der Lageerkenntnisse herbeizuführen. Zu diesem Zeitpunkt ergab sich folgendes, in vielen Teilen jedoch noch nicht abschließend bestätigtes, Lagebild: Ebenfalls zahlreiche eingehende Notrufe zu dem Einsatzgeschehen bei der Einsatzzentrale (EZ) der Polizei, Schusswaffengebrauch eines oder mehrerer Täter in dem Schnellrestaurant und auf der Straße davor, mehrere schwer verletzte Patienten,
einige Patienten vermutlich bereits tödlich verletzt, bis zu drei, mit Langwaffen bewaffnete Täter, die sich (teilweise) auf der Flucht befinden und/oder (teilweise) im Inneren des OEZ verschanzt haben könnten. Kurz nach Eingang der ersten Notrufe bzgl. der Schießerei, löste um 17:57 Uhr die Brandmeldeanlage (BMA) des in unmittelbarer Nachbarschaft zum Schellrestaurant gelegenen Einkaufzentrums OEZ aus. Entsprechend der Alarm- und Ausrückeordnung für dieses Objekt wurden daraufhin zwei Löschzüge mit Sonderfahrzeugen mit einem Einsatzführungsdienst alarmiert. Nachdem ein Bezug der BMA-Auslösung zu dem Schusswaffengebrauch als sehr wahrscheinlich galt, wies die ILS auch die Einsatzkräfte der Feuerwehr an, das Objekt nicht direkt anzufahren, sondern in den Abrufplätzen in Bereitstellung zu gehen und den Eigenschutz zu beachten (s. Abb. 2).
Abb. 2
Bereitstellung der Einsatzkräfte des Rettungsdienstes am Abrufplatz (mit freundlicher Genehmigung der Berufsfeuerwehr München)
Aufgrund der ersten Rückmeldungen über die Polizei über vermutet drei, mit Langwaffen bewaffneten Täter, deren Aufenthaltsort und weitere Absicht völlig unklar war, musste zu diesem Zeitpunkt vom Schlimmsten,
einem soeben begonnenen Anschlag in der Stadt München ausgegangen werden. Um für diesen Fall bei einer weiteren Eskalation der Lage vor Ort, aber auch für weitere nicht auszuschließende Anschlagsereignisse an anderen Örtlichkeiten im Stadtgebiet vorbereitet zu sein, wurden von der ILS bereits innerhalb der ersten halben Stunde folgende Maßnahmen veranlasst: Sofortige Verstärkung des Personals in der Leitstelle durch im Dienst befindliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus der Bereitschaft. Sofortige Einrichtung eines kleinen Führungsstabes beim Lagedienst der Leitstelle durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der ILS aus der Bereitschaft. Sofortige Erhöhung der Rettungsdienststufe auf MANV 10–24 für die Einsatzstelle OEZ. Auslösung der Patientenverteilungsmatrix mit Krankenhausalarmplan für die Stadt München zur Verbesserung der Aufnahmekapazitäten in den Kliniken. Alarmierung einer zweiten Sanitätseinsatzleitung (SanEL) und Örtlichen Einsatzleitung (ÖEL) als Einsatzführungskomponenten für mögliche weitere Einsätze im Stadtgebiet. Entsendung eines Verbindungsbeamten zur EZ der Polizei bzw. dem Polizeiführungsstab. Alarmierung der Gefahrenabwehrleitung (GAL) als rückwärtiger Führungsstab der Stadt München. Alarmierung von dienstfreien Kräften der Berufsfeuerwehr. Vollalarm der 21 Abteilungen der FF München zur Bereitstellung in den Gerätehäusern. Anforderung überörtlicher Kräfte des Rettungs- und Sanitätsdienstes über die benachbarten ILS. Einrichtung von drei vordefinierten Bereitstellungsräumen für die überörtlichen Kräfte an den am Stadtrand gelegen Feuerwachen. Einrichten eines „Breitstellungsraum Luft“ für Rettungstransporthubschrauber (RTH) mit dem Ziel kurzfristige überörtliche Verlegungen aus den Kliniken bzw. von der Einsatzstelle gewährleisten zu können. Nach ca. 1,5 Stunden
standen in dem Bereitstellungsraum 18 RTH verschiedenster Betreiber u.a. auch aus Österreich für den Einsatz bereit.
Die Situation an der Einsatzstelle vor Ort Mit Erhöhung des Alarmstichwortes auf MANV 10–24 mit den entsprechenden Einsatzmitteln des Rettungsdienstes und der Sanitätseinsatzleitung (SanEL) wurde auch der diensthabende Direktionsdienst (D-Dienst) als Gesamtverantwortlicher Einsatzleiter für die nichtpolizeiliche Gefahrenabwehr vor Ort (ÖEL) von der ILS zum OEZ alarmiert. Der D-Dienst der Berufsfeuerwehr wird in der Landeshauptstadt München bei den rettungsdienstlichen Alarmstichworten „MANV“ grundsätzlich als Vertreter der Sicherheitsbehörde bzw. als möglicher Örtlicher Einsatzleiter mitalarmiert. Er erhält hierdurch sehr frühzeitig ein Bild der Lage vor Ort und kann sehr schnell die Notwendigkeit des Koordinierungsbedarfes nach Art. 15 BayKatsG erkennen. Bis zur Übernahme der Örtlichen Einsatzleitung ist er für die Sanitätseinsatzleitung i.d.R. der Verbindungsbeamte zur Sicherheitsbehörde bzw. zur Feuerwehr.
Beim Eintreffen im Bereich des südlichen Abrufplatzes erfolgte zwischen dem Einsatzleiter Rettungsdienst (ELRD), dem Organisatorischen Leiter Rettungsdienst (OrgL RD) und dem D-Dienst ein erster Informationsaustausch sowie die erste Abstimmung von Maßnahmen (s. Abb. 3). Keinem der anwesenden Führungsdienste lagen jedoch belastbare Informationen der Polizei über die Sicherheitslage vor Ort vor. Eine Kontaktaufnahme mit der Polizei war von dieser Stelle aus nicht möglich. Vielmehr wurde ein massiver Anmarsch von Polizeikräften an die Einsatzstelle festgestellt. Nach der Rückmeldung eines RTW der Feuerwehr über „mehrere Tote und schwer Verletzte“ war klar, dass sich dieser bereits direkt an der Einsatzstelle vor Ort befindet. Die erst eintreffende RTW Besatzung nahm mit Einsatzkräften der Polizei vor Ort Kontakt auf, die mitteilten, dass der Bereich des Schnellrestaurants momentan „sicher“ sei.
Abb. 3
Lagebesprechung der Örtlichen Einsatzleitung (mit freundlicher Genehmigung der Berufsfeuerwehr München)
Aufgrund dieser Situation und der immer noch nicht abschließend geklärten Sicherheitslage vor Ort, entschied der D-Dienst zur weiteren Lageerkundung und Kontaktaufnahme mit der Polizei unter Beachtung des Eigenschutzes selbst an die Einsatzstelle vorzurücken. Der erste Eindruck ergab dort folgendes Lagebild: Die Sicherheitslage war sehr undurchsichtig. Eine Vielzahl an schwer bewaffneten Polizeikräften war im Umfeld des OEZ und des Schnellrestaurants mit Sicherungsmaßnahmen zwischen verängstigten Zivilisten beschäftigt. Mehrere schwer verletzte Personen mit starken Blutungen wurden im unmittelbaren Bereich des Schnellrestaurants erkannt. Der ersteintreffende RTW der Berufsfeuerwehr forderte weitere Kräfteunterstützung zur Sichtung und dem Abtransport an. Zu diesem Zeitpunkt wurde jedoch aufgrund der immer noch nicht geklärten Sicherheitslage vor Ort auf die Heranführung weitere
Einsatzkräfte vorerst verzichtet. Erst nach dem erfolgten Austausch mit dem Einsatzleiter der Polizei vor Ort und der Freigabe des Einsatzraumes im Schnellrestaurant und dem Umfeld wurden eine begrenzet Anzahl an Rettungsmittel herangeführt. Der Bereich des OEZ war von der Polizei für die Täterverfolgung zu diesem Zeitpunkt für die Rettungskräfte noch gesperrt. Die weitere Koordination des Rettungsdiensteinsatzes direkt vor Ort wurde nach Einweisung durch den D-Dienst an den ELRD und ORGL übergeben. Die ersten Rettungsdienstkräfte führten eine Vorsichtung der Patienten nach dem mStart Algorithmus durch. Aufgrund der Schwere der Verletzungen der Patienten und der unveränderten Gefährdungslage vor Ort, musste vom sonst üblichen Vorgehen bei Großschadenlagen abgewichen werden. Die normalerweise erfolgte Erstbehandlung vor Ort, wurde nach der erfolgten Vorsichtung durch einen schellen Abtransport („load an go“) ersetzt. D.h. die lebensgefährlich verletzten Patienten wurden auf schnellstem Wege in die bereits voralarmierten Schockräume der alarmierten Kliniken gebracht. Bereits eine knappe Stunde nach Alarmierung der Rettungskräfte waren alle schwerverletzten Patienten trotz der schwierigen Rahmenbedingungen zur weiteren Behandlung in den Schockräumen der Kliniken und die „golden hour of trauma“ konnte eingehalten werden. Neben dem RD-Einsatzabschnitt am Schnellrestaurant zur Patientenversorgung und zum -abtransport wurde von der SanEL eine Akutbetreuungsstelle in einer Sporthalle zur Betreuung unverletzter Beteiligter, vorrangig aus dem Umfeld des OEZ, eingerichtet. Hier kam auch das Kriseninterventionsteam (KIT) zum Einsatz. Zu Spitzenzeiten wurden dort ca. 350 Personen betreut. Aufgrund der sehr dynamischen und unklaren Gesamtlage vor Ort und der möglichen weiteren Lageentwicklung wurde vom D-Dienst der Koordinierungsbedarf nach Art. 15 Bayrisches Katastrophenschutzgesetz (BayKatSG) festgestellt und die Funktion des Örtlichen Einsatzleiters übernommen. Hierdurch war eine einheitliche Einsatzführung aller nichtpolizeilicher Einsatzkräfte sichergestellt.
Das OEZ wurde von der Polizei 5,5 Stunden nach Einsatzbeginn für die nichtpolizeilichen Einsatzkräfte freigegeben. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich bereits keine Verletzten oder Besucher mehr im Einkaufszentrum.
Fazit Insgesamt waren an der Einsatzstelle OEZ rund 250 Einsatzkräfte von Rettungs-, Sanitätsdienst und Feuerwehr im Einsatz. Sechs Patienten wurden teilweise mit multiplen Schussverletzungen in Kliniken transportiert. Acht Personen waren vor Ort bereits tödlich verletzt, eine Person verstarb später im Krankenhaus. Der Täter suizidierte sich einige Stunden nach dem Amoklauf auf öffentlichem Grund im Bereich einer nördlich des OEZ gelegenen Wohnanlage (s. Abb. 4).
Abb. 4
Örtliche Einsatzleitung und Großraumrettungswagen der BF (mit freundlicher Genehmigung der Berufsfeuerwehr München)
Der Einsatz stellte die Einsatzkräfte aufgrund der sehr undurchsichtigen, dynamischen Lage vor Ort und der nicht kalkulierbaren Eigengefährdung vor sehr große Herausforderungen.
Durch die sehr schwierige Informationslage vor Ort machte sich insbesondere der Zielkonflikt zwischen einer schnellen Patientenversorgung und dem erforderlichen Eigenschutz sehr deutlich. Die Lösung hierfür kann nur der schnelle und ständige Informationsaustausch und die Abstimmung der Maßnahmen zwischen den Einsatzleitern der Polizei und der Rettungsdienste vor Ort sein. Die ersten Befürchtungen über Anschläge mehrerer Täter an unterschiedlichen Tatorten bewahrheitete sich zum Glück nicht. Nichtsdestotrotz waren die eingeleiteten Maßnahmen für ein solches Szenario erforderlich und richtig, um „vor die Lage zu kommen“. Erstmals mussten bei diesem Einsatz viele, teilweise bereits seit Jahren entwickelten Einsatzkonzepte der Branddirektion (z.B. Bereitstellungsräume für überörtliche Kräfte, Bereitstellungsraum RTH im MANV Einsatz, Patientenverteilungsmatrix, rückwärtige Führung usw.) einzeln oder in Kombination in einer kurzfristig eingetretenen Lage unmittelbar eingesetzt werden. Im Ergebnis konnten diese im Wesentlichen sehr erfolgreich zur Anwendung gebracht werden. Die über Stunden, auch für die Polizei, unklare Lage (Anzahl der Täter?, Wo befinden sich der/ die Täter?, Ist mit weiteren Anschlagsorten zu rechnen?) war für alle beteiligten Einsatzkräfte, insbesondere vor Ort am OEZ aber auch darüber hinaus sehr belastend. Die flächendeckende Vorhaltung von rettungsdienstlich ausgebildetem Personal auf den Löschfahrzeugen der BF (Notfallsanitäter, Rettungssanitäter) hat sich auch bei diesem Einsatz bewährt. Die initial wegen der BMA Auslösung alarmierten, aber für diesen Fall dann nicht benötigten, Feuerwehrkräfte waren unter anderem für die Sichtung und die Patientenversorgung für den Fall einer noch größeren Anzahl von Verletzten vorgesehen.
7
Medien und Öffentlichkeit – Der Umgang in besonderen Einsätzen
Christoph Fasel
Immer häufiger behindern Schaulustige Rettungsarbeiten nach Unfällen, indem sie Fotos mit Smartphones schießen. Kamerareporter drängen Hilfskräfte beiseite, um näher an Opfer und Geschehen zu gelangen, die Öffentlichkeit giert nach Informationen über spektakuläre Unfälle und Rettungseinsätze. Welche Kommunikationsanforderungen auf Einsatzkräfte zukommen, wie sie vor, während und nach dem Einsatz damit professionell umgehen können, und welche Möglichkeiten Rettungskräfte haben, auf Regelbrüche zu reagieren, behandelt der folgende Beitrag. „Ein Schäferhund, der bellt, um Gaffer abzuschrecken, die mit ihrem Handy filmen, wie ein Mann aus dem Wrack seines Autos geborgen wird: Es klingt nach einem makabren Gag […]. Und doch ist es wahr. Der Hund heißt Dark, er wurde eigentlich dafür ausgebildet, nach Sprengstoff zu schnüffeln. Doch im nordrhein-westfälischen Hagen musste er vor einigen Tagen herhalten, um 150 Schaulustige vom Unfallort zu vertreiben. Die Menschen standen um das Autowrack herum und ignorierten die Aufforderungen der Polizei, den Platz zu räumen. Erst der Anblick eines Hundes flößte ihnen Respekt ein.“ (Hildebrandt 2016) So beschreibt ein Bericht der Zeitung DIE WELT das Szenario eines Einsatzes für die Rettungskräfte nach einem spektakulären Unfall. Die Szene ist kein Einzelfall. Von ähnlichen Vorfällen berichten Rettungskräfte immer öfter: Ob im rheinland-pfälzischen Ingelheim, in Berlin oder in Essen: Bei spektakulären Rettungseinsätzen wird der Versuch, sich in das öffentliche Geschehen einzumischen, von bestimmten Menschen immer aggressiver – und brutaler.
Der hier beschriebene Voyeurismus ist nur der eine, eher privat motivierte Aspekt von Störung der Öffentlichkeit, auf den Rettungskräfte bei besonderen Einsätzen vorbereitet sein sollten. Der zweite Aspekt betrifft ein durchaus legitimes Interesse der Öffentlichkeit an Informationen darüber, was an aktuellen Geschehnissen – zumal im lokalen Umfeld – zu verzeichnen ist. Hier sind es die professionellen Journalisten, die einerseits ein Auskunftsrecht gegenüber staatlichen Organen haben, andererseits gegenüber ihren Lesern, Hörern, Zuschauern oder Usern unter dem Zugzwang stehen, rasch aktuelle, richtige und interessante Information in ihrem Medium zu liefern.
7.1
Journalismus versus Voyeurismus
Was müssen Rettungskräfte beachten, die sich diesen unterschiedlichen Verhaltensweisen und Ansprüchen gegenüber sehen? Zuerst einmal gilt es, den Unterschied zwischen professionellen Akteuren und deprofessionalisierter Information zu definieren, um damit eine Grundlage für die entsprechenden unterschiedlichen Handlungsoptionen in der Öffentlichkeitsarbeit von Einsatzkräften zu finden. Professioneller Journalismus bietet: Fakten, keine Fiktionen, Trennung von Nachricht und Meinung, Themenfindung nach professionellen Regeln, Recherche nach handwerklichen Grundsätzen, mehrere Quellen, die gehört werden, Selektion der Nachricht nach journalistischen Relevanzkriterien, Reduktion von Komplexität, Präsentation in verständlicher Sprache, Darstellung in einem professionellen Medium und Arbeit nach den ethischen Prinzipen des Pressekodex. Diese Liste zeigt das Anforderungsprofil journalistischer Arbeit, dem Öffentlichkeitsarbeiter sich beim Kontakt mit professionellen Vertretern der Presse gegenüber sehen. Der Vorteil dieser Anforderungen lautet: Sie gelten
für alle Seiten gleich. Ihre Regeln sind nachvollziehbar und deshalb auch bedienbar für den Öffentlichkeitsarbeiter. Zur Seite des Voyeurismus wiederum zählen oft die Beiträge der deprofessionalisierten Information. Sie sind eine Frucht der Digitalisierung. Sie eröffnete in den 90er-Jahren jedem Menschen, der Zugang zu einem Internetanschluss besitzt, die Möglichkeit, ohne die bislang nötigen technischen Voraussetzungen, zum Kommunikator zu werden. Blogs, Foren, Websites, Twitter, Facebook und weitere soziale Netzwerke lassen – im Gegensatz zu den Mechanismen eines professionellen Journalismus – Öffentlichkeit in Form von Texten, Fotos oder Bewegtbildern ohne jede publizistische Qualitätskontrolle zu. Und genau da liegt das Problem. Merkmale deprofessionalisierter Information: erscheinen nicht in etablierten Medien, sind meist nur digital in sogenannten sozialen Netzwerken verfügbar, bieten nur eine willkürliche Selektion und keine Einordnung, lassen Absender oft unklar bleiben, bieten keine Transparenz über die eigene Arbeitsweise, trennen nicht zwischen Fakten und Meinungen, argumentieren mit großer Subjektivität, haben stets eine Tendenz, recherchieren nicht professionell und sind anfällig für Fake News. Anders als in den Zeiten vor der Verbreitung digitaler Medien müssen heute auch die Kommunikateure von Polizei, Hilfeleistungsorganisationen, Feuerwehr oder Technischem Hilfswerk die Akteure der deprofessionalisierten Information bei ihrer Kommunikation berücksichtigen. Warum es wichtig ist, zwischen beiden Gruppen zu unterscheiden, und wie das in der Praxis geschehen kann, klärt man am besten mit einem Praxistipp: Kommunikateure müssen in speziellen Einsätzen zwischen Vertretern professioneller und denjenigen deprofessionalisierter Informationsverbreitung unterscheiden. Fragen Sie deshalb jeden, der
am Einsatzort des Geschehens Bilder macht oder Informationen einsammelt, woher er kommt und für welches Medium er tätig ist!
7.2
Deprofessionalisierte Information stoppen
Die eingangs erwähnten Szenen ließen sich beliebig fortschreiben: Fast jeder Helfer, ob bei Rettungsdiensten, der Feuerwehr oder sogar der Polizei, dürfte mittlerweile einschlägige Erfahrungen gemacht haben mit der Barbarei des Voyeurismus, die sogar so weit gehen kann, die Rettungschancen der Opfer zu verringern. Hier hilft eine klare Handlungslinie, die an alle Beteiligten solcher Einsätze idealerweise vor einem Einsatz rechtzeitig kommuniziert und gefestigt wird. Wie kann man bei Notfalleinsätzen Voyeure stoppen? vor dem Einsatz: Den Sprecher bestimmen und trainieren Es gilt die Regel: Nur der Sprecher spricht zur Presse. klären, ob ein professioneller Journalist Auskunft begehrt sperren Sie das Geschehen großräumig ab zeigen Sie am Einsatzort Entschlossenheit – verbal, gestisch und mimisch lassen Sie nur autorisierte Personen zum Einsatzort durch lassen Sie durch die Polizei Personalien aufnehmen und Platzverweise aussprechen – und auch durchsetzen, falls nötig
Professionelle Journalisten haben in Deutschland einen öffentlichen Auftrag: Ihre Arbeit dient, so ein wegweisendes Urteil des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahr 1966, der Information, Aufklärung und Meinungsbildung. Dieser Öffentlichkeitsauftrag, den ein verantwortungsbewusster und auf den ethischen Prinzipen des Presserates fundierter Journalismus leistet, hat also nichts mit dem Voyeurismus der privaten Bestücker digitaler Netzwerke zu tun. Denn in diesem unprofessionellen Kontext dienen die aus dem Zusammenhang gerissenen Bilder, die die Höhepunkte von Leid, Schmerz und Tod zeigen, allein der Befriedigung sensationalistischer Bedürfnisse.
Der voyeuristische Zuschauer und deprofessionalisierte Nachrichtenproduzent, der solche Bilder aufnimmt und im Netz verbreitet, verfolgt als einziges Ziel, sich selbst zu profilieren. Das tut er, indem er mit seinen Bildern Aufmerksamkeit auf sich zieht. Gaffern drohen neue Sanktionen Einsatzkräfte von Polizei, Feuerwehr und Rettungsdiensten berichten in den letzten Jahren von einem Trend der als moralisch verwerflich bezeichnet werden kann: In den häufig verletzlichsten Momenten, die eine Person durchleben kann, zücken Schaulustige ihr Handy, machen Fotos oder drehen Videos, anstatt den Verletzten zu helfen. Deshalb wurden schon seit langem Forderungen erhoben, solche Formen von Voyeurismus unter Strafe zu stellen. Diesen Forderungen wurden im Bußgeldkatalog 2022 nun entsprochen: Gaffen kann mit einem Bußgeld von 20 bis 1000 Euro bestraft werden. Bei unterlassener Hilfeleistung droht sogar eine Haftstrafe. Das Fotografieren einer hilflosen Person stellt nun einen Straftatbestand dar und kann mit bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe geahndet werden. Im Originaltext des Bußgeldkataloges liest sich das so: „Mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft (…) wer eine Bildaufnahme, die die Hilflosigkeit einer anderen Person zur Schau stellt, unbefugt herstellt oder überträgt und dadurch den höchstpersönlichen Lebensbereich der abgebildeten Person verletzt.“ (§ 201a StGB)
Kommunikateure von Hilfeleistungsorganisationen tun gut daran, schon im Vorfeld von Einsätzen die Abwehr solcher voyeuristischer Attacken vorzubereiten. Dazu gehören zum Beispiel auch die vorsorgliche Bereitstellung von Blickschutzwänden, so wie sie in Nordrhein-Westfalen bei Sonderlagen rings um die entsprechenden Einsatzorte aufgestellt werden können; Organisationen in anderen Bundesländern behelfen sich mit blickdichten Planen, mit denen Einsatzorte und die Opfer abgeschirmt werden können. So haben Voyeure nur noch bedingt die Chance, an ihre Bilder zu gelangen.
7.3
Medienprofis am Einsatzort – Der richtige Umgang während der Lage
Anders sieht die Lage aus, wenn sich ein durch einen offiziellen Ausweis legitimierter Journalist am Ort des Geschehens einfindet. Hier gilt es für die Hilfeleistungsorganisationen, eine Reihe von Spielregeln zu beachten. Die erste dieser Spieregeln lautet: Ein professioneller Journalist darf sich zu Recht auf das Informationsrecht der Medien berufen. Das heißt: Er darf im Rahmen der Ausübung seiner Profession bei Behörden, Ämtern, Ministerien und öffentlichen Institutionen – also auch bei der Feuerwehr oder Rettungsdiensten – darauf bestehen, mit den wichtigsten Informationen versorgt zu werden – so lange diese Informationsweitergabe nicht den aktuellen Rettungseinsatz behindert oder verzögert. Die Rolle des professionellen Journalismus ist in den einzelnen Bundesländern in sogenannten Landespressegesetzen geregelt. Ein Bundespressegesetz gibt es nicht. Die Inhalte der Landespressegesetze sind in den wesentlichen Fragen deckungsgleich. Hier ein Auszug der Informationsrechte professioneller Journalisten am Beispiel des Bayerischen Landespressegesetzes. Informationsrecht der Presse – Auszug aus dem Landespressegesetz Baden-Württembergs (1) „Die Behörden sind verpflichtet, den Vertretern der Presse die der Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben dienenden Auskünfte zu erteilen.“ (2) „Ein Anspruch auf Auskunft besteht nicht, soweit durch sie die sachgemäße Durchführung eines schwebenden Verfahrens vereitelt, erschwert, verzögert oder gefährdet werden könnte oder Vorschriften über die Geheimhaltung entgegenstehen oder ein überwiegendes öffentliches oder ein schutzwürdiges privates Interesse verletzt würde oder deren Umfang das zumutbare Maß überschreitet.“ (Landespressegesetz Baden-Württemberg § 4, Absatz 1 und 2)
Auch für den Umgang mit professionellen Journalisten gelten die Grundregeln einer Kommunikation am Einsatzort. Diese Grundregeln müssen vom gesamten Notfallteam präventiv beschlossen, eingeübt und durchgehalten werden.
Kommunikationsregeln müssen VOR einem Einsatz jedem Mitglied im Team klar sein. Während des Einsatzes ist weder Zeit, noch Gelegenheit, sie festzulegen und professionell anzuwenden!
Zwei Ziele der Arbeit am Einsatzort sind dabei der zentrale Maßstab allen Handelns: 1. Die rasche und erfolgversprechende Rettung und Versorgung der Patienten und 2. die Wahrung der Würde und Persönlichkeitsrechte der Patienten und Mitarbeiter. Erst danach tritt das Recht der professionellen Journalisten in Kraft, über die entsprechenden Fakten aus dem Einsatz informiert zu werden. Nicht autorisierten Personen steht dieses Recht übrigens im Akutfall in keiner Weise zu. Wie können sich Notfallteams präventiv auf die Kommunikationssituation vorbereiten? Folgende Regeln können helfen, die Mitarbeiter des Teams entsprechend zu informieren. Vor dem Einsatz sollten Kommunikationsregeln festgelegt werden: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Es spricht nur ein einziges autorisiertes Teammitglied. Dieses Teammitglied muss nicht unbedingt der Einsatzleiter sein. Es gilt die Regel: Niemand anderes spricht mit der Presse. Dieses Teammitglied wird für alle Beteiligten klar und eindeutig ermächtigt. Das Teammitglied bereitet sich schon vor einer Einsatzlage auf die möglichen Standardfragen der Presse vor (siehe unten). Das Teammitglied sollte am Einsatzort deutlich als Ansprechpartner für die Presse gekennzeichnet sein (z.B. mit auffälliger Weste „Kommunikation“/„Pressesprecher“). Das Kommunikationsteammitglied bewegt sich auch vor den Absperrungen, um aktiv mit der Presse Kontakt aufzunehmen. Bei Großlagen wie Amoklauf, Terrorismus, Großunfall oder Naturkatastrophe empfiehlt sich die Einrichtung eines Presseraumes
im Lagezentrum, in dem der Kommunikator für die Journalisten in Echtzeit tätig werden kann und permanent ansprechbar bleibt. Unter den zwei genannten Prämissen akuter Einsätze gilt es, natürlich auch gegenüber professionellen Journalisten klare Grenzen zu ziehen. So haben Sie etwa kein Recht, an einer Rettung oder Versorgung teilzunehmen – außer, dies ist im Vorfeld ausdrücklich aus dokumentarischen Gründen besprochen. Trotzdem kann es immer wieder vorkommen, dass sich Journalisten, Fotografen und Kameramänner aus Boulevardmedien, aus TV oder Zeitung nicht an diese Regeln halten – und auf Umwegen versuchen, an direkte Bilder oder Informationen heran zu kommen. Hier ist dann die Exekutive gefragt – die Kollegen von der Polizei müssen in solchen Fällen eingreifen und Platzverweise aussprechen. Es gilt auch hier der Grundsatz, dass keine Behinderung der Einsatzkräfte zugelassen werden darf! Auch die willkürliche Befragung der Helfer muss sofort unterbunden werden, denn für die Kommunikation gilt „der Grundsatz der einen Stimme“: Das heißt, die gewünschte Information wird nur durch den einen autorisierten Sprecher gegeben. Deshalb sollte jeder im Einsatzteam auch wissen, dass er Fragen, die an ihn gestellt werden – von wem auch immer – an den festgelegten Kommunikator verweist. Wichtig ist es, jeden am Einsatz beteiligten Helfer auf sein Recht hinzuweisen, dass er die Aussage Dritten gegenüber verweigern darf! Sie müssen nicht sprechen! Auch wenn manchmal Journalisten mit dem Hinweis „Ich bin von der Presse. Sie müssen mit mir reden!“ versuchen, auf unlautere Weise an Informationen zu gelangen: Lassen Sie sich nicht einschüchtern!
Ebenso gilt ein weiterer Grundsatz für den Umgang mit der Presse am Einsatzort: Es darf kein „Privileg“ für einzelne Medien geben: Unlauter wäre es also, Vertreter bestimmter Medien mit besseren Informationen zu versorgen als die anderer Medien – aus welchen Gründen auch immer. Hier gilt der Grundsatz der unbedingten Gleichbehandlung, da sich die Organisation sonst gegenüber weiteren Medienvertretern unglaubwürdig machen und berechtigte Kritik auf sich ziehen würde. Besonderes
Augenmerk verdienen hier private Absprachen mancher Notfallretter mit Vertretern bestimmter Medien, die Geld für Informationen zahlen. Solche Praktiken sind im Team auch vorsorglich zu thematisieren und sofort zu unterbinden.
7.3.1 Medienprofis – Wie Pressesprecher Vertrauen schaffen Es gibt eine Reihe schlechter Gründe, warum die Kommunikation im öffentlichen Raum manchmal nicht funktioniert (vgl. Hepp u. Fasel 2013). Mangelndes Zuhören auf der einen, genauso wie unprofessionelle Umsetzung der Botschaften auf der anderen Seite. Absender von Nachrichten müssen sich fragen: Wie kann ich erreichen, dass der Inhalt meiner Botschaft professionell umgesetzt wird? Oder, in anderen Worten: Ist meine Botschaft so vorgetragen, dass die Kerninformation über die Vermittlung des Journalisten an den Bürger gelangen kann? Es handelt sich auf dieser Ebene also um Fragen von Attraktion, Glaubwürdigkeit und Vertrauen: Attraktion der verwendeten Mittel, Glaubwürdigkeit des Absenders und schließlich um eine Voraussetzung, die jede Kommunikation aufweisen muss, wenn sie glücken will: Vertrauen. Wie wichtig das Thema Vertrauen in der heutigen Zeit geworden ist, zeigen die Vertrauenskrisen, denen sich der Bürger in den letzten Jahren gegenüber sieht – wie etwa Verbraucherskandale um unredlich in Verkehr gebrachte Lebensmittel. Hinzu kommen Beispiele von in vielen Fällen in ihrer Qualität zweifelhaften Informationsangeboten von sogenannten sozialen Netzwerken – Stichwort: Fake News. All dies führt mit der gleichzeitigen De-Professionalisierung von Informationen zu einer wachsenden Sehnsucht der Bürger nach mehr Vertrauen in die Information. Dies beweisen auch eindrucksvoll die Erkenntnisse der Verbraucherforschung (vgl. Fasel et al. 2010).
7.3.2
Professionelle Information – Die Regeln des Kommunikationshandwerks
Wie schon ein Blick auf einen durchschnittlichen deutschen Bahnhofskiosk deutlich macht, ist der deutsche Medienmarkt von einer schier unfassbaren Angebotsfülle gekennzeichnet. Wie soll sich angesichts dieser Flut einprasselnder Informationen die Botschaft von Hilfeleistungsorganisationen behaupten können? Um Glaubwürdigkeit und Attraktivität auszustrahlen, muss sich Kommunikation des kommunikativen Handwerks besinnen. Der Benchmark dafür sind die Ergebnisse der aktuellen Journalismus- und Kommunikationsforschung. Der Leser der Gegenwart ist unerbittlich. Seine Frage lautet: „Warum muss ich das jetzt lesen?“ Deshalb darf es auch und gerade bei der Vermittlung von Inhalten an den Bürger keinen journalistischen Text ohne diese Kernbotschaft geben. Denn wer gelesen werden will, der braucht als Erstes eine Botschaft.
7.3.3 Die Kernbotschaft finden und präsentieren Um diese Botschaft auszumachen, lohnt es sich, ein journalistisches Modell des STERN-Gründers Henri Nannen zu benutzen – den sogenannten „Küchenzuruf“ (Fasel 2008, S. 16ff.). Dieser Begriff besagt nichts anderes, als dass jede Kommunikation so beschaffen sein muss, dass sie dem Leser nach der ersten Lektüre – zum Beispiel eines Berichtes über eine Steuerreform – die Möglichkeit geben kann, jemandem, der diesen Text nicht persönlich gelesen hat, etwas in die Küche nachzurufen: „Stell Dir vor, Willi, die in Berlin haben die Lohnsteuerkarte abgeschafft!“ Diese zwei bis drei kurzen Sätze, die man jemanden „in die Küche zurufen“ würde, charakterisieren also den Kern, das Herz, die Hauptbotschaft einer Information an den Bürger, wenn sie gelingen soll. Der Küchenzuruf Konzentrieren Sie sich bei jeder Kommunikation eines Einsatzes auf das Wesentliche. Fragen Sie sich, bevor Sie Informationen an die
Presse geben: Was ist unsere Kernbotschaft bei diesem Einsatz? Warum muss der Bürger das jetzt lesen?
Im Gegenzug bedeutet das für Organisationen als Absender einer Botschaft: Es hat keinen Zweck, mit einer überbordenden Fülle von Details auf den Bürger zuzustürmen. Denn die Kommunikationswissenschaft weiß, dass jede zusätzliche Botschaft, die abgesendet wird, die eigentliche Kernbotschaft in ihrer Wirkung verwässert. Für die Kommunikation mit dem Bürger gilt deshalb der Grundsatz: Lieber eine Botschaft dreimal erklärt als drei unterschiedliche Botschaften jeweils einmal gesagt! Folgende Fragen sollten beantwortet sein, bevor sich der Kommunikator einer Organisation den Fragen der Presse stellt: Wer? Wann? Wo? Was? Warum? Mit welchen Folgen? Mit welcher Bedeutung für die Öffentlichkeit? Ein professioneller Absender klärt also seine Botschaft: Was habe ich dem Bürger Wichtiges zu sagen? Finde ich beim besten Willen nicht die Möglichkeit, das in zwei bis drei kurzen Sätzen zu sagen, ist das, was ich schreiben will, offensichtlich keine brauchbare Botschaft. Der Küchenzuruf hilft uns zudem dabei, Titel und Einleitung unserer Pressemitteilung in Wort und Schrift professionell festzulegen: Hat meine Geschichte nämlich eine klare Aussage, dann fällt es mir leicht, diese Aussage in Titel und den einleitenden Sätzen zu einem solchen Informationstext, dem von Journalisten sogenannten „Vorspann“, aufscheinen zu lassen.
7.4
Nach dem Einsatz – So kommunizieren Helfer richtig
Wichtig ist, dass die Information nach den Grundprinzipien der Notfallkommunikation erfolgt. Dazu gehört es, schnell und pünktlich, präzise, aufrichtig, frei von Widersprüchen und glaubwürdig zu sein. Außerdem sind folgende Punkte zusammenfassend zu beachten: Informationen zu verbreiten kann nur dann gelingen, wenn auch Hilfeleistungsorganisationen schon im Vorfeld gute Kontakte zur Presse und ihren Vertretern pflegen und wissen, mit wem sie im Zweifelsfall vertrauensvoll zusammenarbeiten können. Besetzen Sie die digitalen Kanäle: Facebook und Twitter sollten auch von Hilfeleistungsorganisationen sofort bespielt werden, um Fake News keinen Raum zu geben und die Verbreitung von Falschnachrichten im Keim zu ersticken. Zeigen Sie sich als prominenter Absender: Stets sollte auch hier die glaubwürdige Absenderadresse der Organisation prominent in den Vordergrund gestellt werden, um Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Absenders von vorneherein zu zerstreuen. Bestücken Sie Ihren „Präventiven Kommunikationskoffer“: Zur weiteren Vorbereitung gehören die Zusammenstellung von Fragelisten und Hinweisen auf die eigenen technischen und taktischen Vorgehensweisen. Deshalb sollten solche Fragen, die erst einmal unabhängig von der einzelnen Einsatzlage sind, schon im Vorhinein in einem „Präventiven Kommunikationskoffer“ bereitgestellt werden. Beherrschen Sie die Fakten über Technik, Zahlen, Strategien: Denn schwammige Auskünfte wirken unprofessionell – und als ob die Quelle etwas zu vertuschen hätte: Zeigen Sie Tempo: Schnelligkeit ist in der digitalen Medienwelt von heute wichtiger denn je für die Kommunikation: Denn je mehr und je schneller glaubwürdige Informationen geliefert werden, desto weniger Raum bleibt für Spekulationen. Dazu muss aber schon vor Bereiten Sie sich vor:
dem Einsatz abgeklärt sein, wer welche Informationen an wen weiterleiten darf. Lassen Sie die Kommunikatoren ran, nicht die Wissenschaftler: Die Kommunikation sollte nicht von Fachwissenschaftlern oder dem Höchsten in der Hierarchie geführt werden – sondern von demjenigen, der am meisten Vermittlungskompetenz hat: Von geschultem Personal also, das notwendige Informationen gekonnt und verständlich kommunizieren kann. Bleiben Sie bei der Wahrheit: Verschweigen Sie nichts: Denn alles kommt früher oder später ans Licht. Besetzen Sie Emotionen: Zeigen Sie Mitgefühl, argumentieren sie nicht wie ein Eisklotz, bleiben Sie wertschätzend für Opfer, Helfer, Angehörige. Nehmen Sie Ängste ernst: Ein zynischer Unterton beispielsweise zeugt von Kaltschnäuzigkeit. Besser ist es, auf jede noch so abstruse Frage, auch wenn sie zum zehnten Mal gestellt wird, gelassen zu antworten. Machen Sie kein Fass auf, das zu bleiben kann: Der Versuch, eine Situation zu relativieren kann schief gehen: „Diese Explosion war ja harmlos. Da hätten sie erstmal die vom letzten Jahr sehen müssen …“, also vermeiden Sie dies besser. Sprechen Sie verständlich: Sprechen Sie in kurzen Sätzen, ohne Fremd- und Fachwörter, mit Beispielen und in Bildern und Vergleichen. Sprechen Sie eine einzige Sprache: Im Krisenfall eignen sich vor allem etablierte Kommunikationskanäle, um schnell Informationen zu verbreiten sowie mit den eigenen Quellen einen Informationsverbund aufzubauen. Checkliste – So organisieren Sie die Kommunikation richtig Stabile Netzwerke zu Journalisten und Multiplikatoren aufbauen. Solche Beziehungen auch zum internen Netzwerk der Entscheider aufbauen. Regelmäßige Abstimmungen zur Übung einführen.
Meldeverfahren und Alarmketten präventiv installieren und aktualisieren. Verantwortliche benennen, die die Kommunikation im Ernstfall führen. Adressen, Alarmierungslisten und Verzeichnisse über Erreichbarkeiten pflegen. Bestimmte erwartbare Szenarien aufbauen und in Übungen einbeziehen. Sprachregelungen für erwartbare Situationen vorher festlegen (Lückentexte). Dark Site im Internet installieren und im Einsatzfall freischalten. Im akuten Einsatz ist es notwendig, regelmäßige Abstimmungen zu organisieren und dauernd neue Informationen bereitzustellen.
7.5
Fazit – Gutes tun und darüber sprechen
Bei dieser Prämisse gilt: Bitte lassen Sie sich und die Kollegen bei der Arbeit weder von Gaffern noch von aufdringlichen Journalisten stören. Sondern: Schützen Sie die Rettungsarbeit. Sichern Sie die Persönlichkeitsrechte der Patienten. Bewahren Sie die Sicherheit der Helfer. Berichten Sie an die Multiplikatoren sachlich und verständlich. Verhindern Sie Voyeurismus. Besetze schon präventiv alle wichtigen Kontakte in Presse und Netz. Sei kluger und gerechter Vermittler von Nachrichten, die die Öffentlichkeit braucht und nütze so Deiner Organisation.
Literatur Fasel C (2008) Textsorten. Wegweiser Journalismus, Band 2, Konstanz, S. 16ff. Fasel C, Rosenberger G (2010) 1, 2 oder 3. Bessere Informationen, bessere Entscheidungen? Eine handlungsorientierte Untersuchung zur Bedeutung von Information und Faustregeln im Entscheidungsalltag von Verbrauchern. Im Auftrag des Verbraucherzentrale Bundesverbandes e.V. (vzbv), vorgelegt vom Institut für Verbraucherjournalismus (ifv) GmbH an der SRH Hochschule Calw, Calw Hepp R, Fasel C (2013) Den Bürger im Blick. Warum es gerade für die Polizei wichtig ist, mit ihren Botschaften die Bevölkerung zu erreichen. In: Die Polizei, Heft 1 Hildebrandt A (2016) Mit Hunden gegen Gaffer. Die Welt. URL: https://www.welt.de/print/welt_kompakt/vermischtes/article155273107/Polizeihunde-
gegen-Gaffer.html, zuletzt zugegriffen am 07. März 2018
VI Notfall- und katastrophenmedizinische Herausforderungen bei Naturkatastrophen, extremen Klimaereignissen und Kriegshandlungen
1
Notfälle und Einsätze in extremer Hitze und in extremen Hitzeperioden Anna Lang, Daria Luschkova, Monika Seemann und Claudia Traidl-Hoffmann
1.1
Klimakrise
„Planetary Health“ befasst sich mit den „Zusammenhängen zwischen der menschlichen Gesundheit und den politischen, ökonomischen und sozialen Systemen, sowie den natürlichen Systemen unseres Planeten, von denen die Existenz der menschlichen Zivilisation abhängt“ (Müller et al. 2018). Der Planet, von dem unser aller Existenz abhängt, befindet sich in multiplen Krisen. Die zwei schwerwiegendsten sind die Klimakrise und die Biodiversitätskrise. Auch andere planetare Grenzen sind längst weit überschritten. Schuld daran sind wir Menschen selbst. „Seit Mitte des 20. Jahrhunderts steigen die menschlichen Aktivitäten und deren globale Auswirkungen nahezu exponentiell an.“ (sogenannte Great Acceleration) (Müller et al. 2018) Dadurch hat sich die Erde aufgrund der Treibhausgasemissionen aus menschlichen Aktivitäten inzwischen um etwa 1,1 Grad Durchschnittstemperatur im Vergleich zur vorindustriellen Zeit (1850–1900) erwärmt (Bednar-Friedl et al. 2022). Das hat einerseits viele direkte Folgen wie beispielsweise steigende Meeresspiegel oder erhöhte Wahrscheinlichkeiten für Extremwetterereignisse (z.B. Stürme, Überschwemmungen und Hitzewellen). Andererseits ergeben sich hieraus auch indirekte Folgen, z.B. Unsicherheiten in der Nahrungsmittel- und Wasserversorgung oder verminderte Luftqualität. Aufgrund der rasanten Änderung der Ökosysteme steigt der Stellenwert der Katastrophenmedizin zum Schutz der Bevölkerung vor Extremwetterereignissen aber auch für die Anpassung an lokale Veränderungen. Die größte Gefahr für die menschliche Gesundheit stellen hierbei Hitzewellen dar. Hitzewellen stellen ein Gesundheitsrisiko für alle Bevölkerungsgruppen dar, insbesondere aber für vulnerable Gruppen können sie schnell zu einer akuten Gefahr werden. Es gilt daher, bei Einsätzen während extremer Hitze und bei der Behandlung thermischer Schäden, auf Hitzespezifische Maßnahmen zu achten.
1.2
Hitze – ein Gesundheitsrisiko
Der Klimawandel führt zu einem Anstieg der globalen Durchschnittstemperaturen sowie der Häufigkeit, Intensität und Dauer von Hitzewellen (Romanello et al. 2022). Die Hitze ist wohl die spürbarste Auswirkung des Klimawandels, gehört jedoch in Deutschland zu den am meisten
unterschätzten Gefahren. Der Lancet-Bericht geht von 108.000 Hitzetoten in Europa im Jahr 2019 aus, dabei ist insbesondere Deutschland von der Hitze betroffen (Romanello et al. 2021). Insgesamt sei die Zahl hitzebedingter Todesfälle bei Menschen über 65 Jahren im Zeitraum von 2017 bis 2021 im Vergleich zu den Jahren 2000 bis 2004 um 68 Prozent gestiegen (Romanello et al. 2022). Schwankungen der optimalen Kernkörpertemperatur toleriert der menschliche Organismus nur in einem sehr geringen Maß und reguliert diese permanent durch Vasodilatation und Schwitzen. Die Thermoregulation hat Nebeneffekte: Mit dem Schweiß verliert der Körper Wasser und Elektrolyte. Durch die Vasodilatation und eine Blutdrucksenkung ist das Herz-Kreislauf-System belastet. Bei älteren Menschen, Kleinkindern und Personen mit chronischen Erkrankungen können eine Dehydrierung und die hitzebedingte Belastung des Herz-Kreislauf-Systems lebensbedrohliche Folgen haben. Hitze befeuert lokale und systemische Entzündungsreaktionen, eine höhere Hämoviskosität sowie eine Aktivierung der Blutgerinnung und kann somit kardiovaskuläre Erkrankungen fördern. Hitze kann zudem die Pharmakokinetik und den Metabolismus von Medikamenten im Körper verändern und zu unerwünschten Arzneimittelwirkungen führen. Die Exposition gegenüber extremer Hitze wird mit akuten Nierenschäden, Hitzschlag, ungünstigen Schwangerschaftsergebnissen, verschlechterten Schlafgewohnheiten, Auswirkungen auf die psychische Gesundheit, einer Verschlimmerung der zugrundeliegenden Herz-Kreislauf- und Atemwegserkrankungen (s. Abb. 1) und einem Anstieg der Todesfälle in Verbindung gebracht (Romanello et al. 2022). Hitze fördert Aggressionen und Streitsüchtigkeit und lässt die Kriminalitätsrate und Suizidalität ansteigen (Ranson 2014; Schneider et al. 2020).
Abb. 1
Hitze – gesundheitliche Auswirkungen (Daria Luschkova)
Die langanhaltende Hitze begünstigt Waldbrände, die neben unmittelbaren Todesfällen auch zu posttraumatischen Belastungsstörungen sowie aufgrund der freigesetzten Luftschadstoffe zu erhöhter kardiovaskulärer und respiratorischer Mortalität und erhöhtem Risiko von Früh- und Totgeburten führen kann (Yu et al. 2020). Der Klimawandel beeinflusst zudem die Ökosysteme und die Verbreitungsgebiete im Pflanzen- und Tierreich. Durch den Temperaturanstieg nehmen Infektionen, die durch Vektoren wie z.B. Stechmücken oder Zecken übertragen werden, zu. Höhere Temperaturen verlängern die Pollensaison, erhöhen die Pollenkonzentration in der Luft und verstärken allergische und asthmatische Symptome.
1.3
Risikogruppen
Es gibt sowohl Personengruppen, deren Vulnerabilität für Hitze durch bestimmte Faktoren gesteigert ist, als auch Situationen, die die Hitzeanfälligkeit einer Person erhöhen (Mora 2017). Zu den Risikosituationen zählen große Menschenansammlungen, Sport oder starke körperliche Belastung. Durch Hitze besonders gefährdet sind folgende Personengruppen: älteren Menschen isoliert lebende Menschen pflegebedürftige Menschen
Personen mit starkem Übergewicht Menschen mit chronischen Erkrankungen Menschen mit fieberhaften Erkrankungen Menschen mit Demenz Menschen, die bestimmte Medikamente einnehmen Menschen mit eingeschränkter Thermoregulation Säuglinge und Kleinkinder Personen, die im Freien körperlich intensiv tätig sind (z.B. Berufe des Baugewerbes, der Landwirtschaft und Gastronomie) und Obdachlose
1.4
Notfälle und Einsätze bei extremer Hitze
Die Prävention irreversibler Gesundheitsschäden und die Senkung des Mortalitätsrisikos, die von hitzeassoziierten Notfallereignissen ausgehen, hängen von dynamischen Prozessen, die aufeinander abgestimmt sind, ab. Zunächst ist, auch aus gesundheitsökonomischer Sicht, die Alarmierung des korrekten Rettungsmittels in der Präklinik essenziell sodass innerhalb einer angemessenen Hilfsfrist die Notfallversorgung der hitzegeschädigten Person eingeleitet werden kann. Generell kann man thermische Schäden und durch Temperaturen bedingte Exazerbationen unterscheiden. Jedoch ist auch relevant, ob der betroffene Mensch sich körperlich angestrengt hat. Der sogenannte exertional heat stroke betrifft vor allem junge gesunde Menschen, ein classic heat stroke aber eher ältere Menschen oder solche mit Risikofaktoren. Ebenfalls betroffen sind Kinder, deren Thermoregulation noch nicht voll ausgebildet ist (Amboss 2022).
1.4.1 Thermische Schäden Auch nicht vorerkrankte Menschen können durch zu lange Exposition zu sehr heißen Temperaturen direkt hitzeassoziierte Krankheitsbilder entwickeln. Die schwerste Form des Hitzeschadens ist der Hitzschlag (auch Hitzepyrexie), bei dem die Thermoregulation des Körpers aufgrund der Überlastung der körpereigenen Kompensationsmechanismen ausfällt. Leichtere Formen umfassen Hitzesynkope und -erschöpfung, aber auch Sonnenbrand und Hitzekrämpfe (unwillkürliche Muskelzuckungen durch Elektrolytverschiebungen als Folge einer Dehydration). Im Notfallgeschehen ist es wichtig, zwischen dem Hitzschlag und leichteren Formen der Hitzeschäden mit intakter Thermoregulation unterscheiden zu können, da sich die Behandlung teils unterscheidet. Ein Sonderfall ist der Sonnenstich. Hier kommt es durch mangelnden Sonnenschutz zu einem isolierten Temperaturanstieg im Schädel mit Reizung der Hirnhäute, der Rest des Körpers hat meist Normaltemperatur. Generelle Maßnahmen sollten stets die Sicherung und Kontrolle der Vitalparameter, Kühlung mit feuchten Tüchern oder Eisbeuteln, je nach Schwere der Kreislaufdekompensation einen Zugang für die Volumengabe und Sauerstoffgabe umfassen. Dafür verbringt man den betroffenen Menschen am besten an einen kühlen Ort und lagert ihn flach (s. Tab. 1). Tab. 1
Hitzebedingte Krankheitsbilder mit passender Therapie
Krankheitsbild
Hitzesynkope
Hitzeerschöpfung
Hitzeschlag
Sonnenstich
Pathophysiologie
Kreislaufdekompensation
massive Volumenverluste
nichtfunktionierende Schweißproduktion
isolierter Temperaturanstieg im Schädel, Reizung Hirnhäute
Symptome
Beginn mit Schwindel, Übelkeit/Erbrechen, Kopfschmerz, kurze Bewusstlosigkeit, erst hochrote, dann blasse Haut, Tachykardie, Hypo- tonie
generalisierte Erschöpfung (Entwicklung über längere Zeit), Hypovolämie, Anstieg Körperkerntemperatur, hypoxie-bedingte Bewusstlosigkeit
hohes Fieber (über 40 Grad), Haut trocken und heiß, Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit/Erbrechen, Verwirrtheit, Tachykardie
hochroter heißer Kopf, restlicher Körper schweißnass und kalt, Schwindel, Übelkeit/Erbrechen, Meningismus, rasch zentrale Symptome wie Krampfanfälle, Sehstörungen
besondere Therapie
-
evtl. Schocklage, körperliche Ruhe
Notarzt (NA), evtl. stationäre Aufnahme
NA nachfordern bei zentralen Symptomen, Benzodiazepine bei Krampfanfällen, Oberkörper hochlagerung
Wichtigste Maßnahme neben dem Sichern der Vitalfunktionen ist stets die rasche Kühlung des Körpers! Auch bei Reanimationspflichtigkeit muss weiter gekühlt werden. Bei Erreichen einer Körpertemperatur von unter 38 Grad muss mit der Kühlung aufgehört werden. Antipyretika sind kontraindiziert!
Gerade bei einem Hitzeschlag sind die systemischen Effekte sehr akut und meist der Grund für eine intensivmedizinische Behandlung. Die Mortalität beträgt bei Fällen von Hitzschlägen, die stationär aufgenommen wurden 21 bis 63% (Amboss 2022). Das mag an den vielfältigen Möglichkeiten für Komplikationen liegen. Aufgrund von Elektrolytverschiebungen als Folge der Dehydratation kann es zu Tachyarrhythmien und anderen EKG-Veränderungen kommen, daher ist eine frühzeitige Gabe von isotonischen Elektrolytlösungen – auch zur Vermeidung weiterer zentralnervöser Schäden – essenziell. Wird man der Komplexität der Elektrolytverschiebung nicht gerecht, kann das zu Krampfanfällen und Hirnödemen führen (von Wichert 2008). Die schwerwiegendsten Komplikationen umfassen Rhabdomyolyse, die zum Nierenversagen führt und die disseminierte intravasale Koagulation (DIC), die unbehandelt zum Multiorganversagen führt.
1.4.2 Dekompensation bekannter Vorerkrankungen Ein klassisch hitzeassoziiertes Notfallereignis stellt die Dekompensation bereits bestehender Vorerkrankungen dar. Hierbei können pathophysiologisch eine periphere Vasodilatation, die Erhöhung von Entzündungsmediatoren und die Erhöhung der Blutviskosität und eine
veränderte Blutzusammensetzung bis hin zur disseminierten intravasalen Koagulation eine Rolle spielen (Mora 2017). Der Übergang zwischen Erkrankungen, die rein durch Hitzeexposition hervorgerufen werden und der Exazerbation einer bereits bestehenden Erkrankung ist teils fließend. Genauso kann die Überlastung eines Organs zur Schädigung eines weiteren Organsystems führen und letztendlich im Multiorganversagen enden, wenn nicht rechtzeitig die richtigen Maßnahmen ergriffen werden. Hier steht wieder die Kühlung der Patient: innen und die symptomatische Therapie im Vordergrund. Je nach Krankheitsbild können eventuelle organspezifische Maßnahmen oder sogar eine intensivmedizinische Behandlung notwendig werden. Generell kann fast jede Erkrankung durch zusätzlichen Hitzestress exazerbieren, vor allem die folgenden: kardiovaskuläre Erkrankungen: v.a. die periphere Vasodilatation und eine mit Dehydratation einhergehende erhöhte Viskosität des Blutes üben eine zusätzliche Belastung aus Diabetes mellitus Typ 1 und 2 dermatologische Erkrankungen respiratorische Erkrankungen Darmerkrankungen Lebererkrankungen onkologische Erkrankungen psychische und zentralnervöse Erkrankungen Nierenerkrankungen Heat-stress-Nephropathie ist ein relativ „neues“ Krankheitsbild, das ein Nierenversagen aufgrund von Dehydratation und Volumenverlust mit eventuellen zusätzlichen kardiovaskulären Symptomen beschreibt. In der Schwere kann es bis hin zur Dialysepflichtigkeit und der Notwendigkeit einer intensivmedizinischen Betreuung gehen (Traidl-Hoffmann et al. 2021, S. 77–82). Gerade bereits geschädigte Nieren reagieren hier sehr empfindlich.
1.4.3 Verhalten bei Hitze Prävention ist die beste Medizin. Beachtet man verschiedene Aspekte, treten viele hitzebedingte Erkrankungen gar nicht erst auf. Das übergeordnete Ziel ist hierbei, übermäßige Hitzeexposition zu vermeiden. Das ist nicht nur für vorerkrankte Patient:innen wichtig, sondern auch für das medizinische Personal selbst. Wie stark der Körper durch Hitze belastet ist, hängt von der Temperatur, aber auch von der Luftfeuchtigkeit ab. Weitere Faktoren, wie Bekleidung, körperliche Anstrengung und individuelle Resilienz spielen auch eine Rolle. Um die Belastung möglichst gering zu halten, gibt es einige Möglichkeiten. Viele zielen auf persönliches Verhalten ab, aber auch regionale beziehungsweise lokale Hitzeschutzpläne können die Gesundheit der Menschen gut schützen (s. Tab. 2). Bisher gibt es davon wenige. In Städten kann es aufgrund des sogenannten Hitzeinsel-Effektes deutlich wärmer werden als in ländlichen Regionen. Da Gebäude und Straßen Wärme speichern und Industrien und Verkehr zusätzlich Wärme produzieren, sind städtebauliche Maßnahmen wie das Anlegen von Windschneisen, Grünflächen, Bäume, begrünte Fassaden und Parks von großer Bedeutung.
Tab. 2
Tipps zur Beratung von Patient:innen (Gothmann u. Becker 2021)
Konkreter Tipp
Erklärung/Durchführung
Aufenthaltsräume kühl halten
Nachts und frühmorgens lüften, wenn die Luft noch kühl und unverschmutzt ist. Danach Fenster verschatten, am besten mit außen angebrachten Jalousien oder Ähnlichem. Tagsüber kann die Luftzirkulation durch Ventilatoren aufrechterhalten werden (Achtung: ab ca. 35 Grad wirkt das nicht mehr kühlend, sondern zusätzlich erhitzend. Ventilatoren beschleunigen außerdem eine Dehydrierung, daher nie direkt auf Menschen richten und ausreichend trinken).
Kleidung anpassen
Luftige, helle Kleidung, die am besten auch Arme, Beine und Hals bedeckt. Kopfbedeckung.
Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme anpassen
Über den Tag hinweg genug trinken, dabei Wasser, Tees und verdünnte Säfte bevorzugen. Kleine Portionen essen. Schwere Speisen (viel Fett, viel Volumen) meiden, auf Salzeinnahme achten.
Aktivitäten und Tagesplanung anpassen
Anstrengende Aktivitäten und Sport am besten in den kühlen Morgenstunden erledigen, sonst abends nach Sonnenuntergang.
Medikation anpassen
Besonders kreislaufwirksame Medikamente und solche, die den Flüssigkeitshaushalt beeinflussen, sollten individuell angepasst werden (also Dosis verringern). Aber auch Nebenwirkungen durch erhöhten Serumspiegel (bei Dehydratation) müssen mit bedacht und durch eventuelle Dosisanpassung beziehungsweise erhöhte Trinkmenge vermieden werden. Bestimmte Medikamente müssen kühl gelagert werden.
keinen Alkohol, keine sonstigen Substanzen
Alkohol und viele weitere illegale Substanzen wirken dehydrierend und schränken die Selbstwahrnehmung z.B. bezüglich Trinkmengen und Sonnenexposition ein.
Wetter im Blick behalten
Macht Planung für kommende Hitzetage einfacher, damit man rechtzeitig kühle Orte aufsuchen, genügend Getränke und Nahrungsmittel vorhalten oder sich Hilfe suchen kann.
aktive Kühlung
Aufenthalt und Schlafplatz an kühlstem Ort (wenn das nicht die Wohnung ist, eignen sich tagsüber oft Parks o.Ä.), Körper kühlen durch feuchte Tücher, kalte Bäder oder Duschen, Wassersprays, Wärmflasche mit kaltem Wasser.
UV-Schutz beachten
Sonnencreme verwenden, Sonnenbrille, schützende Kleidung und Kopfbedeckungen tragen, am besten meiden, in direkte Sonne zu gehen.
1.4.4 Selbstschutz von Personal Gerade wenn man nicht im gekühlten Krankenhaus arbeitet, sondern draußen bei Notfalleinsätzen, gilt es, gut auf sich selbst und Kolleg:innen acht zu geben. Denn wem es selbst nicht gut geht oder wer im schlimmsten Fall sogar ausfällt, kann auch für Patient:innen keine Hilfestellung mehr geben. Grundsätzlich gelten für einen gesunden arbeitenden Menschen die gleichen Empfehlungen wie in Tabelle 2. Durch die Arbeit unter freiem Himmel und an Patient:innen ergeben sich noch zusätzliche Empfehlungen. 1. Arbeitsabläufe und Leistungsbereitschaft anpassen
a. genug Pausen b. Tätigkeiten, wenn möglich, auf kühlere Tageszeiten verlegen c. keine Höchstleistungen d. Einsatz- und Übungszeiten möglichst kurzhalten e. frühzeitig Ablösen lassen 2. Flüssigkeitszufuhr nach Einsätzen unter erschwerten Bedingungen erhöhen a. nach Einsätzen in der Mittagshitze b. nach dem Tragen von zusätzlicher Schutzausrüstung (wie Infektionsschutz, Atemmaske …) c. nach anstrengenden Einsätzen (viel Tragen, Reanimation …) 3. Für Führungskräfte: Einsatzkräfte rechtzeitig über zu erwartende Temperaturen und sinnvolle Maßnahmen informieren (Friedrich 2022)
1.5
Fazit
Hitze ist gefährlicher und wir Menschen sind vulnerabler für die Gefahren, die von extremer Hitze ausgehen, als man zunächst vermuten würde. Zwar ist eine Anpassung an wärmere Temperaturen für den Körper möglich, doch das ist ein Prozess, der sich über einen längeren Zeitraum zieht und auch schnell seine Grenzen erreicht. So gibt es zwar zu Beginn des Sommers mehr Hitzetote bei einer Hitzewelle als im Spätsommer. Allerdings kann sich der Körper an einen schnellen Anstieg der Temperatur nicht adäquat anpassen (von Wichert 2008). Auch individuelle Maßnahmen zur Kühlung und Vermeidung von Hitzeexposition erreichen irgendwann ihre Grenzen. Hier kommen Hitzeaktionspläne ins Spiel. Auf kommunaler Ebene sollen sie eine Grundlage für Schutz vor Exposition, Schulung von medizinischem Personal und Vorbereitung von Versorgungseinrichtungen schaffen. Aber auch stadtplanerische Maßnahmen für gutes Stadtklima, Zugang zu kühlen Räumen und Warnung vor extremem Wetter über ein Warnsystem sollten hier verankert sein. Mit Hitzeaktionsplänen würde man dem Anspruch der Anpassung des Gesundheitssystems an die Hitze gerecht, es wäre einer der notwendigen Schritte in Richtung eines klimaresilienteren Gesundheitssystems. Weitere wichtige Schritte auf Ebene des Gesundheitssystems wären solche hin zu Klimaneutralität. Das Gesundheitssystem selbst stößt etwa 5% der weltweiten Treibhausgasemissionen aus und trägt daher die Verantwortung, diese möglichst schnell zu reduzieren, um die Klimakrise nicht weiter zu befeuern. Diese hat neben Hitzewellen auch weitere Auswirkungen, wie beispielsweise erhöhtes Auftreten von Allergien, neue Infektionserkrankungen, Missernten durch verändertes Wetter und Wassermangel, daraus resultierende Migrationsbewegungen und Kriege (Bednar-Friedl et al. 2022). Einzelne sind nur beschränkt handlungsfähig, wichtig ist daher ein systemischer Schutz vor den Effekten und der Exposition zu extremer Hitze. Hitzeaktionspläne wären ein guter erster Schritt!
Eine Verbindung von Klimaresilienz und Klimaneutralität ist im Sinne einer wirtschaftlichen, effektiven und effizienten Notfallversorgung (Emergency Preparedness) entscheidend für das
deutsche Gesundheitssystem, um auch zukünftig eine qualitativ hochwertige Versorgung der Bevölkerung sicherstellen zu können.
Literatur Amboss (2022) Hitzeschlag und Sonnenstich – AMBOSS-SOP. URL: https://next.amboss.com/de/article/Rt0lW3? q=hitzekollaps#Zfaec69b1196ffa62aeb75423eb749c50 (abgerufen am 22.02.2023) Bednar-Friedl B, Biesbroek R, Schmidt DN (2022) IPCC Sixth Assessment Report (AR6): Climate Change 2022Impacts, Adaptation and Vulnerability: Regional Factsheet Europe Bundesamt (2022) Pressemitteilung Nr. 343 vom 9. August 2022. URL: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/08/PD22_343_126.html (abgerufen am 22.02.2023) Chen K, Breitner S, Wolf K, Hampel R, Meisinger C, Heier M, von Scheidt W, Kuch B, Peters A, Schneider A (2019) Temporal variations in the triggering of myocardial infarction by air temperature in Augsburg, Germany, 1987– 2014. European heart journal 40, 1600–1608 Friedrich K (2022) Einsatz in der „Hitzewelle“ – was kann ich tun? URL: https://www.feuerwehrverband.de/app/uploads/2022/07/Der_Bundesfeuerwehrarzt_Einsatz_unter_Hitze_07.22. pdf (abgerufen am 22.02.2023) Grothmann T, Becker R (2021) Der Hitzeknigge. Umweltbundesamt #Schattenspender: Becker, Romy; Buth, Mareike; Sander, Kirsten; neues handeln AG. URL: https://www.umweltbundesamt.de/en/publikationen/hitzeknigge (abgerufen am 22.02.2023) Klauber H, Koch N (2021) Individuelle und regionale Risikofaktoren für hitzebedingte Hospitalisierungen der über 65-Jährigen in Deutschland. In: Günster C, Klauber J, Robra BP, Schmuker C, Schneider A (Hrsg.) Versorgungs-Report: Klima und Gesundheit. 63–78. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Berlin Luschkova D, Ludwig A, Traidl-Hoffmann C (2021) Klimakrise und deren Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit. DMW-Deutsche Medizinische Wochenschrift 146, 1636–1641 Mora C (2017) Twenty-Seven Ways a Heat Wave can Kill You. Deady Heat in the Eara of Climate Change. AHA Journals 10. URL: https://doi.org/https://doi.org/10.1161/CIRCOUTCOMES.117.004233 (abgerufen am 22.02.2023) Müller O, Jahn A, Gabrysch S (2018) Planetary Health: Ein umfassendes Gesundheitskonzept. Dtsch Arztebl. URL: https://www.aerzteblatt.de/archiv/201358/Planetary-Health-Ein-umfassendes-Gesundheitskonzept (abgerufen am 22.02.2023) Pawlitzki M, Luschkova D, Traidl-Hoffmann C (2022) Auswirkungen der Klimakrise auf die Gesundheit in Deutschland. In: Graalmann J, von Hirschhausen E, Blum K(Hrsg.) Jetzt oder nie: Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen: Ökologisch. Ökonomisch. Menschlich. Digital. 15–22. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Berlin Ranson M (2014) Crime, weather, and climate change. Journal of environmental economics and management 67, 274–302 Romanello M, Di Napoli C, Drummond P, Green C, Kennard H, Lampard P, Scamman D, Arnell N, Ayeb-Karlsson S, Ford LB, Belesova K, Bowen K, Cai W, Callaghan M, Campbell-Lendrum D, Chambers J, van Daalen KR, Dalin C, Dasandi N, Costello A et al. (2022) The 2022 report of the Lancet Countdown on health and climate change: health at the mercy of fossil fuels. Lancet 400, 1619–1654. URL: https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(22)01540-9/fulltext (abgerufen am 22.02.2023) Romanello M, McGushin A, Di Napoli C, Drummond P, Hughes N, Jamart L, Kennard H, Lampard P, Rodriguez BS, Arnell N (2021) The 2021 report of the Lancet Countdown on health and climate change: code red for a healthy future. The Lancet 398, 1619–1662 Schneider A, Hampel R, Ladwig KH, Baumert J, Lukaschek K, Peters A, Breitner S (2020) Impact of meteorological parameters on suicide mortality rates: A case-crossover analysis in Southern Germany (1990–2006). Sci Total Environ 707, 136053 Traidl-Hoffmann C, Schulz C, Herrmann M, Simon B (2021). Planetary Health. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Berlin von Wichert P (2008) Klimatische Hitzewellen und deren Konsequenzen für die gesundheitliche Betreuung vorgeschädigter Personen. Medizinische Klinik 103, 75–79. URL: https://link.springer.com/article/10.1007/s00063-008-1017-z (abgerufen am 22.02.2023) Yu P, Xu R, Abramson MJ, Li S, Guo Y (2020) Bushfires in Australia: a serious health emergency under climate change. The Lancet Planetary Health 4, e7-e8
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2
Notfälle und Einsätze nach Einsatz von CBRN-Waffen
Ralf Blomeyer
Chemische, biologische, radiologische und nukleare Gefahren existieren grundsätzlich in allen industrialisierten Ländern. Die Strukturen der Gefahrenabwehr zielen deshalb auf die Abwehr der Folgen akzidenteller Freisetzungen. Charakteristisch für diese Situationen sind örtlich und zeitlich begrenzte Ereignisse, die auf eine intakte Infrastruktur und handlungsfähige Institutionen der Gefahrenabwehr treffen. Die geopolitische Lage mit vielen Konflikten bis hin zu Kriegen macht es erforderlich, dass wir uns mit dem Thema der chemischen, biologischen, radiologischen und nuklearen Gefahren im Kontext des militärischen oder terroristischen Einsatzes auseinandersetzen.
2.1
Szenarien
Die Szenarien, in denen wir mit den genannten Gefahren in Berührung kommen können, sind vielfältig. Selbst die unmittelbare Beteiligung der Bundesrepublik an kriegerischen Auseinandersetzungen innerhalb des Verteidigungsbündnisses der NATO und Kriegshandlungen auf deutschem Territorium lassen sich seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine leider nicht mehr ausschließen. Andere Szenarien umfassen die Freisetzung chemischer, biologischer, radiologischer oder nuklearer Agenzien mittels unkonventioneller Sprengund Brandvorrichtungen (USBV). Diese Szenarien sind nicht neu und werden deshalb in den einschlägigen Einsatzkonzepten genannt. Die Herausforderung bei der Einsatzabwicklung nach der Detonation dieser Vorrichtungen besteht darin, die zeitkritische Traumaversorgung und die zeitaufwändige Detektion und Dekontamination in Einklang zu bringen. Durch Unkenntnis oder fehlende Aufmerksamkeit der Einsatzkräfte wird die CBRN-Gefahr unterschätzt, was zur Kontaminationsverschleppung und zur Gefährdung von Einsatzkräften und Krankenhauspersonal führt. Eine
übermäßige Fokussierung auf die CBRN-Gefahr führt demgegenüber zu einer verzögerten Traumaversorgung und zur Gefährdung der Verletzten. Das Szenario der mittelbaren Beteiligung entsteht, wenn Verletzte bzw. Betroffene aus dem Einsatzgebiet mit zerstörter Infrastruktur in Staaten bzw. Regionen mit intakter Infrastruktur gebracht werden, damit dort die erforderliche Behandlung stattfinden kann. Um mit jedem dieser Szenarien umgehen zu können, ist die Auseinandersetzung mit diesem schrecklichen Thema notwendig. Dieses Kapitel ist zu kurz, um medizinisches Personal auf die Bewältigung ihrer Aufgabe im Falle eines CBRN-Einsatzes vorzubereiten. Aber es ist hoffentlich umfangreich genug, um Ihnen die Notwendigkeit weiterer Planungen vor Augen zu führen und Sie mit den geeigneten Informationsquellen auszustatten.
2.2
Grundlegendes
Typische Gefahrensituationen sind wahrnehmbar. Beispielhaft sei eine brennende Küche, ein verletzter Motorradfahrer oder ein Patient mit akutem Thoraxschmerz genannt. Patienten, Augenzeugen, Rettungsdienst und Feuerwehr wissen, welches Verhalten oder welche Maßnahmen in solchen Situationen zu ergreifen sind. Selbst eine Kohlenmonoxidvergiftung kann durch CO-Warner rasch detektiert werden. Die Augenzeugen und Einsatzkräfte sind in der Lage sich der wahrgenommenen Gefahr zu entziehen oder sich vor der Gefahr ausreichend zu schützen. Bei den CBRN-Lagen fehlen unter Umständen die Wahrnehmung eines schädigenden Ereignisses, die Kenntnis des freigesetzten Stoffes und das Wissen um dessen Wirkung ganz, teilweise oder zeitweise. Das hat weitreichende Konsequenzen für die Betroffenen aber auch für die Einsatzkräfte der Gefahrenabwehr, Mitarbeitende im Gesundheitswesen und darüber hinaus für scheinbar Unbeteiligte. Menschen, die Kontakt mit den schädigenden Agenzien hatten, bewegen sich in Unkenntnis der Gefahr weiter oder versuchen bei Wahrnehmung einer Gefahr zu fliehen. Selbstverständlich werden sich auch Einsatzkräfte in Unkenntnis des
Ereignisses in Gefahr bringen, indem sie die Einsatzstelle betreten. In allen Fällen führt dieses Verhalten zu einer Weiterverbreitung der Substanz. Diese Phase der Unkenntnis von Art und Ausmaß der Gefährdung und der unkontrollierten Ausbreitung der schädigenden Agenzien existiert in jedem CBRN-Einsatz. Die Länge dieser Phase ist abhängig von der Latenz zwischen Freisetzung des Stoffes und dem Auftreten erster, oft unspezifischer Symptome, von der Verfügbarkeit geeigneter Detektionsverfahren, aber auch von der Vigilanz der Beteiligten. Der Augenzeuge, der während des Notrufs Auffälligkeiten beschreibt, der Notrufannehmer, der aufmerksam zuhört oder die ersten Einsatzkräfte, die Besonderheiten entdecken und für erwähnenswert halten, lenken den Einsatz in die entscheidende Richtung.
2.2.1 Informationsquellen Die ausgebrachten Substanzen gehören sicher nicht zu den Substanzen, mit denen der Rettungsdienst oder die Feuerwehr täglich umgehen. Deshalb sind Informationen nicht in vollem Umfang bei den Einsatzkräften vorhanden. Exemplarisch werden hier einige gut geeignete Apps oder Websites genannt. Bundesamt für den Strahlenschutz: https://www.bfs.de/DE/home/home_node.html Gefahrstoffinformationssystem der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung: https://www.dguv.de/ifa/stoffdatenbank/index.jsp GESTIS-Biostoffdatenbank der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung: https://www.dguv.de/ifa/gestis/gestisbiostoffdatenbank/index.jsp Center of Disease Control and Prevention: NIOSH Pocket Guide to chemical hazards Organisation for the Prohibition of Chemical Weapons: https://www.opcw.org Robert-Koch-Institut: https://rki.de Weltgesundheitsorganisation: https://who.int
Die Verfügbarkeit der Informationen muss auch bei fehlender Netzabdeckung bzw. bei Nichtverfügbarkeit des Internets gegeben sein.
Deshalb ist es erforderlich, dass die Behörden der Gefahrenabwehr über die entsprechenden Offline-Datenbanken verfügen.
2.2.2 Risiko- und Krisenkommunikation Die Risikokommunikation beginnt lange vor dem akuten Ereignis. Der Bevölkerung muss klar gemacht werden, dass es Risiken in der Gegenwart gibt, die dazu führen können, dass Feuerwehr und Rettungsdienst nicht in der gewohnten Weise agieren können. Dieses Wissen soll die Selbsthilfefähigkeit der Bevölkerung stärken. In der akuten Situation muss schnell und umfassend kommuniziert werden. Jedoch ist das umso schwieriger, je weniger von den ausgebrachten Agenzien bekannt ist. Dass Kommunikation nicht immer gelingt, ist nicht neu. Umso wichtiger ist es, diese Krisenkommunikation aufseiten des Senders und des Empfängers gut vorzubereiten. Benutzte Begriffe und ausgesprochene Anweisungen dürfen keinen Interpretationsspielraum offenlassen. Weiterhin kommt erschwerend hinzu, dass es sich bei einem Anschlag um eine klassische Polizeilage handelt, in der auch die Polizei die Informationshoheit innehat. Damit die Bevölkerung dennoch rechtzeitig gewarnt werden kann, muss auf der Ebene der Einsatzplanung eine Absprache mit der Polizei auch zum Thema Kommunikation getroffen werden.
2.2.3 Selbsthilfefähigkeit der Bevölkerung Gefahrenabwehr und medizinische Notfallversorgung durch Feuerwehr und Rettungsdienst sind in der Bundesrepublik flächendeckend vorhanden, gut organisiert und treffen nach kurzen Hilfsfristen an der Einsatzstelle ein. Je besser die organisierte Rettung, desto geringer ist der Antrieb der Bevölkerung die Fähigkeit zur Selbsthilfe zu besitzen. Gelingende Risikokommunikation führt dazu, dass die Notwendigkeit der Selbsthilfe in der Bevölkerung akzeptiert wird. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe hat einen Ratgeber für Notfallvorsorge und richtiges Handeln in Notsituationen herausgegeben
(https://www.bbk.bund.de/DE/Warnung-Vorsorge/Vorsorge/RatgeberCheckliste/ratgeber-checkliste_node.html). In der dazugehörigen Checkliste wird auch von einer Kübelspritze, von Schutzkleidung und behelfsmäßigem Atemschutz gesprochen. Die Durchdringung der Bevölkerung mit diesen Gedanken wird als außerordentlich gering eingeschätzt. Aber nur wenn es gelingt, den Selbsthilfewillen und die Selbsthilfebereitschaft in der Gesellschaft zu stärken, können CBRN-Lagen größeren Ausmaßes bewältigt werden (BBK 2014).
2.2.4 Verfügbarkeit notwendiger Ressourcen Die Situation des Rettungsdienstes und der Krankenhäuser ist saisonal durch einen Mangel an Ressourcen gekennzeichnet. Akuter oder chronischer Personalmangel kann zur Nichtbesetzung von Rettungswagen und Notarzteinsatzfahrzeugen oder zur Sperrung von faktisch vorhandenen Intensivbetten führen. Änderungen in Produktionsprozessen oder die Abhängigkeit von langen Lieferketten haben die Verfügbarkeit von Medikamenten und Medizinprodukten in bedrohlichem Maße eingeschränkt. Uns allen muss bewusst sein, dass die sehr komplexen Szenarien eines CBRN-Einsatzes die Gefahrenabwehr, das Gesundheitssystem und die kritische Infrastruktur in großem Umfang fordern werden. Insbesondere die große Anzahl an Personen, die dekontaminiert werden muss, erfordern sofort einen hohen Personal- und Technikansatz. Aber auch Antidote, Antibiotika und Dekontaminationsmittel werden schnell und in ausreichender Anzahl benötigt. Deren Bevorratung muss an die beplanten Szenarien angepasst werden. Fehlende materielle oder personelle Ressourcen stellen den Einsatzerfolg infrage!
2.2.5 Einsatzgrundsätze Die Einsatzgrundsätze in der Feuerwehr-Dienstvorschrift 500 (FwDV500) beziehen sich auf Schadenslagen durch ABC-Gefahrstoffe. ABC steht für
atomare, biologische oder chemische Gefahren. Inhaltlich ist der Begriff gleichbedeutend mit dem hier benutzten Begriff CBRN. N steht dabei für alle Gefahren durch Kernbrennstoffe und nukleare Kettenreaktionen. R steht für Gefahren durch alle anderen radioaktiven Stoffe. Die Einsatzszenarien der Feuerwehr gehen zu Recht davon aus, dass der Gefahrstoff bekannt ist, weil er in einem bekannten Objekt, z. B. einer Produktionsanlage oder einem Labor freigesetzt wurde oder während des Transportes aus einem gekennzeichneten Behälter austritt. Damit besteht die Möglichkeit, die Einsatzstelle entsprechend zu strukturieren. In den Szenarien eines CBRN-Anschlags wird die Erkenntnis der besonderen Bedrohung in vielen Fällen zu spät gewonnen werden, sodass die ersteintreffenden Kräfte die unten genannten Regeln nicht in jedem Fall befolgen werden. Anfahrt Die Anfahrt erfolgt mit dem Wind. Die alarmierende Leitstelle kann in Kenntnis der Lage die Einsatzkräfte informieren und somit verhindern, dass Fahrzeuge einer Kontamination ausgesetzt werden. Fahrzeugaufstellung Die Fahrzeugaufstellung erfolgt in einem Mindestabstand von 50 m in Windrichtung vor dem Ereignis. Bei dynamischen Lagen muss die Fahrzeugaufstellung eine kurzfristige Verlegung der Fahrzeuge ermöglichen. Schutzausrüstung Einsatzkräfte dürfen nur mit geeigneter Schutzausrüstung den Gefahrenbereich betreten. In der FwDV500 wird in jeder Schutzstufe Schutzkleidung mit Atemschutz getragen. Ein Einsatz von Rettungsdienstmitarbeitern ist deshalb in aller Regel nur außerhalb des festgelegten Gefahrenbereichs möglich. In diesem Zusammenhang kommt der Festlegung des Gefahrenbereichs besondere Bedeutung zu. Zu großzügig bemessene Gefahrenbereiche überfordern die Einsatzkräfte Feuerwehr, weil zu viele Verletzte oder Betroffene von zu wenigen
Feuerwehrleuten versorgt werden müssen. Zu klein bemessene Gefahrenbereiche gefährden Mitarbeiter des Rettungsdienstes, weil deren Schutzausrüstung für den Einsatz im Gefahrenbereich unter Umständen nicht geeignet ist. Dekontamination Die Dekontamination wird am Übergang zwischen Gefahrenbereich und Absperrbereich durchgeführt. Für diesen Bereich wird der Begriff Übergangsbereich benutzt. Für die Dekontamination von Verletzten (DekonV) und von unverletzten Personen (DekonP) werden Duschen bereitgestellt. Diese Vorkehrungen erfordern Platz und Zeit. Sobald eine Kontamination vermutet wird, ist die sogenannte Not-Dekontamination durchzuführen. Dabei wird die Kleidung entfernt, idealerweise aufgeschnitten, um weitere Kontamination der Haut durch den Vorgang des Entkleidens zu verhindern. Nach dem Entkleiden folgt das Abwaschen der Haut mit Wasser. Zu warmes Wasser und zu starkes Reiben der Haut kann die Durchblutung der Haut fördern und die Resorption des Giftes steigern. Je weniger therapeutische Optionen es gibt, umso dringender ist die Unterbrechung der Giftaufnahme durch eine konsequente Dekontamination!
Detektion Der Nachweis von Strahlung gelingt mit den entsprechenden Geräten sehr präzise, sodass eine Einschätzung des Risikos sehr genau möglich ist. Der Nachweis von biologischen Kampfstoffen ist sehr aufwendig. Die Schwierigkeiten bei der Probennahme und Verunreinigungen machen den Nachweis von Krankheitserregern sehr schwierig bis unmöglich. Immunologische Nachweisverfahren und spezielle massenspektrometrische Verfahren (MALDI) stehen zur Verfügung und können sehr schnell Ergebnisse liefern. Für den Nachweis von C-Kampfstoffen stehen bei den Feuerwehren Mehrgaswarngeräte, Prüfröhrchen und Photoionisationsdetektoren zur
Verfügung. Darüber hinaus verfügen alle Landkreise oder kreisfreien Städte über Fahrzeuge zur Erkundung von ABC-Lagen. Diese ABC-Erkunder werden vom Bund beschafft. Über 500 dieser Fahrzeuge sind in der Bundesrepublik im Einsatz. Folgende chemische Kampfstoffe können damit nachgewiesen werden: Blausäure Chlor Chlorcyan Lewisit Sarin Schwefel-Lost Soman Stickstoff-Lost Tabun VX/VXR Weitergehende Bestimmungen können von der Analytischen Task Force des Bundes durchgeführt werden. An acht Standorten sind diese Spezialeinheiten stationiert. 4-A-Regel 1. 2. 3. 4.
Abstand halten Aufenthaltsdauer begrenzen Abschirmung nutzen Abschalten
Während die ersten drei Begriffe selbsterklärend sind, soll der vierte Begriff erläutert werden. Die Szenarien, die der FwDV500 zugrunde liegen, sind Unfälle und Störungen in den entsprechenden Anlagen. Deshalb passt der Begriff nur eingeschränkt in das Anschlagsszenario (FwDV 500 2022). Lüftungsanlagen müssen abgeschaltet werden, um eine weitere Verteilung der Kampfstoffe zu verhindern.
2.3
Chemische Waffen
Das Chemiewaffenübereinkommen vom 13. Januar 1993 ist ein völkerrechtlicher Abrüstungs- und Rüstungskontrollvertrag, dessen Ziele ein weltweites Verbot chemischer Waffen sowie die Vernichtung vorhandener Chemiewaffenbestände sind. Mit Stand vom 12. Oktober 2015 haben 192 Staaten diesen Vertrag unterzeichnet. Die Einhaltung des Abkommens wird durch die Organisation für das Verbot Chemischer Waffen (OPCW), mit Sitz in Den Haag, überwacht.
2.3.1 Hautkampfstoffe Senfgas (Bis[2-chlorethyl]sulfid) Erstmalig wurde Senfgas im Ersten Weltkrieg eingesetzt. Zuletzt wurde sein Einsatz in Syrien im Zeitraum von 2013 bis 2015 nachgewiesen. Der Kontakt führt zu sofortiger Reizung der Augen. Erforderlich ist eine sofortige Spülung der Augen mit Wasser über einen Zeitraum von mindestens zehn Minuten. Eine Spülung der Augen ist auch mit einer 3%igen Natriumhygrogencarbonat-Lösung möglich. Sind Hautpartien betroffen, ist auch dort eine sofortige Dekontamination erforderlich. Eingesetzt werden sollen Oxidationsmittel wie Kaliumpermanganat oder Wasserstoffperoxid. Bei großflächiger Kontamination kann ein Vollbad in 5%iger Kaliumpermanganat-Lösung durchgeführt werden (GESTISStoffdatenbank 2022). Eine Alternative ist die Dekontamination mit Reactive Skin Decontamination Lotion (RSDL). Die Substanz hat eine Zulassung seit 2012 der FDA als Dekontaminationslösung und ein CE-Kennzeichen. Bei nicht rechtzeitiger Dekontamination der Haut entstehen großflächige Blasen mit einer Beteiligung tiefer Gewebeschichten. Die Versorgung sollte durch plastische Chirurgen erfolgen. Lewisite (2-Chlorvinyldichlorarsin) Lewisite enthält Arsen. Deshalb ist die lokale und systemische Therapie mit Dimercaptopropansulfonsäure (DMPS), Handelsname Dimaval® indiziert. DMPS ist ein Chelatbildner. Die Spülung der Augen und die lokale
Behandlung der betroffenen Hautpartien soll mit einer 30%igen Lösung durchgeführt werden. Bei Nichtverfügbarkeit des speziellen Antidots wird die Spülung der Haut mit den Oxidationsmitteln Kaliumpermanganat oder Wasserstoffperoxid empfohlen. Die Spülung des Auges soll bei fehlender DMPS-Lösung mit Natriumhydrogencarbonat 3% erfolgen. Wenn auch das nicht verfügbar ist, erfolgt die Dekontamination der Augen und der Haut mit Wasser (GESTIS-Stoffdatenbank 2022). Bei nicht rechtzeitiger Dekontamination der Haut entstehen großflächige Blasen mit einer Beteiligung tiefer Gewebeschichten. Die Versorgung sollte durch plastische Chirurgen erfolgen.
2.3.2 Nervenkampfstoffe Allen Nervenkampfstoffen gemeinsam ist die Blockade der Acetylcholinesterase. Dadurch kommt es zu Tränenfluss, Hypersalivation und starkem Schwitzen. Diese Zeichen sind wegweisend und sollen die rechtzeitige Therapie veranlassen. Im weiteren Verlauf kommt es zu abdominellen Symptomen, Luftnot. Krampfanfällen und Bewusstlosigkeit. Maßnahmen sind die sofortige Dekontamination mit RSDL oder Polyethylenglykol 400. Bei Nichtverfügbarkeit der Dekontaminationsmittel muss die Reinigung der Haut mit Wasser und Seife erfolgen. Bei ausgeprägter Symptomatik ist die Gabe von Obidoxim und Atropin notwendig. Obidoxim reaktiviert die Acethylcholinesterase und Atropin antagonisiert die Wirkung des Acethylcholins. Beide Substanzen sind in dem ComboPen®-Autoinjektor enthalten. Der ComboPen® enthält 0,167 mg Atropin und 220 mg Obidoximchlorid. Bei anhaltenden Beschwerden soll Atropin wiederholt verabreicht werden. Sarin (Methylfluorophosphonsäureisopropylester) Im März 1995 wird in der U-Bahn von Tokyo ein Anschlag mit Sarin ausgeübt. Mehr als zehn Menschen starben. Wegen fehlender Dekontamination vor der Krankenhausaufnahme kam es zu Vergiftungen von Krankenhausmitarbeitern. Tabun (Dimethylphosphoramidocyansäureethylester)
Tabun wurde im Iran-Irak-Krieg zwischen 1980 und 1988 neben anderen chemischen Waffen eingesetzt. Soman (Methanfluorphosphonsäure[1,2,2-trimethylpropy]lester) Kenntnisse über den Einsatz von Soman liegen nicht vor. VX (Phosphonothioic acid, P-methyl-, S-[2-[bis[1methylethyl]amino]ethyl] Oethyl ester) Auch über den Einsatz von VX liegen keine Erkenntnisse vor. Bemerkenswert ist aber, dass VX im Gegensatz zu Sarin, Tabun und Soman weniger flüchtig ist. Der Stoff ist dementsprechend länger in der Umgebung und an Oberflächen nachweisbar. Nowitschok Die Summenformel ist nicht bekannt. Der Agent Skripal und der russische Oppositionelle Nawalny wurden mit Nowitschok vergiftet.
2.3.3 Lungenkampfstoffe Zu den Lungenkampfstoffen zählen Chlorgas und Phosgen. Beide Substanzen können nach der Inhalation zu toxischen Lungenödemen führen. Diese Situation ist akut lebensbedrohlich. Als frühes Zeichen treten Reizungen an den Augen auf sowie Übelkeit, Erbrechen und Kurzatmigkeit. Die Reizung der oberen Atemwege ist bei Chlorgas deutlich ausgeprägter, weil Chlorgas im Gegensatz zu Phosgen wasserlöslich ist (GESTISStoffdatenbank 2022). Die Versorgung beginnt auch hier mit der raschen Dekontamination der betroffenen Hautpartien. Wegen der ausgeprägten Gefahr eines Lungenödems wird die frühzeitige topische und systemische Therapie mit Cortison dringend empfohlen. Die Latenz zwischen Exposition und Lungenödem beträgt bei Chlorgas mehrere Stunden, bei Phosgen werden als Latenzzeit 72 Stunden angegeben (GESTIS-Stoffdatenbank 2022).
2.3.4 Cyanide Cyanide blockieren in den Zellen den Stoffwechsel, weil der Sauerstoff durch Blockade der Cytochromoxidase nicht verbrannt werden kann. In
Abhängigkeit von der aufgenommenen Dosis, kann es innerhalb weniger Minuten zum Tod des Patienten kommen. Das Einatmen niedrigerer Konzentrationen führt zu Luftnot und Zyanose. Grundsätzlich muss auch bei Vorliegen einer Blausäurefreisetzung der Patient mit Wasser dekontaminiert werden. Bewusstlose und Patienten mit Atemnot werden mit 4-DMAP und Natrium-Thiosulfat behandelt. Das 4-DMAP bildet Methämoglobin. An das dreiwertige Eisen im Häm bindet sich die Blausäure und gibt somit Cytochromoxidase frei, die dann wiederum den Zellstoffwechsel durch Verbrennung von Sauerstoff ermöglicht. Das Natrium-Thiosulfat fördert die Ausscheidung der Blausäure.
2.4
Biologische Waffen
Die Generalversammlung der Vereinten Nationen nahm am 16. Dezember 1971 die sogenannte „Biowaffenkonvention“ an. Diese Konvention regelt das Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung bakteriologischer (biologischer) Waffen und von Toxinwaffen. Diese Konvention sieht ebenfalls die Vernichtung solcher Waffen vor. Das Ausbringen von biologischen Kampfstoffen kann unbemerkt erfolgen. Symptome treten erst nach der Inkubationszeit auf, im Fall von Toxinen allerdings auch erst Stunden später. Sofern kein Bekennerschreiben vorliegt und auf die Ausbringung des Erregers hinweist, werden die gleichzeitig entstehenden Erkrankungen nicht sofort in einen Zusammenhang gesetzt. Hier sind nur einzelne Beispiele genannt. Bakterien und Sporen Bacillus anthracis: Zuletzt wurden Milzbrandsporen bei Terroranschlägen nach dem 11. September 2001 in den USA verwendet. Dabei starben fünf Menschen. Viren Im Kalten Krieg haben sowohl die Vereinigten Staaten von Amerika als auch die Sowjetunion das Venezuelan equine encephalitis virus (VEE) beforscht. Ein Einsatz von Viren als biologische Waffe ist nicht beschrieben. Toxine
Ricin: Das Toxin kann aus den Castorbohnen, den Bohnen der Rizinuspflanze gewonnen werden. Geringste Mengen sind tödlich. Der Mechanismus ist die Hemmung der Proteinsynthese. Bei Ingestion kommt es zu einer ausgeprägten Gastroenteritis, die häufig hämorrhagisch verläuft. Im Verlauf kommt es zum Nierenversagen, Krampfanfällen und zum Schock. Prophylaxe und spezifische Therapie sind nicht möglich. Im Juni 2018 wurde in einer Kölner Wohnung Ricin in großer Menge gefunden, welches bei einem Anschlag freigesetzt werden sollte.
2.5
Radiologische und nukleare Waffen
Im Gegensatz zu chemischen und biologischen Waffen sind radiologische und nukleare Waffen nicht verboten. Der Vertrag über die Nichtverbreitung von Atomwaffen verbietet den Staaten, die nicht zu den Atommächten zählen, den Erwerb bzw. die Herstellung von Atomwaffen. Zu den Atommächten zählen die USA, Russland, China, Großbritannien und Frankreich. Nicht unterzeichnet haben diesen „Atomwaffensperrvertrag“ Indien, Pakistan, Israel und der Südsudan. Die Unterzeichnung zurückgezogen hat Nordkorea. Bisher wurden zwei Atombomben als Waffen eingesetzt. Die USA bombardierten im Zweiten Weltkrieg die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki. Der Einsatz der Bomben fand am 6. August 1945 und am 9. August 1945 statt. Über 150.000 Menschen starben. Eine Vielzahl von Atombomben wurden zu Testzwecken gezündet.
2.5.1 Unterschiedliche Arten ionisierender Strahlung Alpha-Strahlung Beim Kernzerfall bestimmter Radionuklide werden positiv geladene Teilchen ausgesendet. Sie bestehen aus zwei Neutronen und zwei Protonen und sind mit dem Kern des Heliumatoms identisch. Alphateilchen werden durch wenige Zentimeter Luft bereits absorbiert und können weder ein Blatt
Papier noch die Haut des Menschen durchdringen. Alphateilchen können auf den Organismus nur dann einwirken, wenn die Alphastrahlung aussendende Substanz in den Köper gelangt, also Inkorporation stattfindet (Bundesamt für Strahlenschutz 2023). Beta-Strahlung Bei Beta-Strahlung handelt es sich um Strahlung durch Elektronen oder Positronen. Beta-Strahlen schädigen den Organismus, wenn sie von außen auf den Körper treffen. Deutlich schwerwiegender ist die Wirkung bei Inkorporation (Bundesamt für Strahlenschutz 2023). Neutronenstrahlung Neutronen sind elektrisch neutrale Teilchen. Sie werden bei der Kernspaltung freigesetzt. Die Neutronenstrahlung besitzt wie die Gammastrahlung ein hohes Durchdringungsvermögen (Bundesamt für Strahlenschutz 2023). Gamma-Strahlung Bei Gamma-Strahlung handelt es sich um elektromagnetische Wellen, die die Energie transportieren. Diese Strahlung dringt auch von außen tief in das Gewebe ein und schädigt es. Dabei wird aber weniger Energie abgegeben als durch Alpha-Strahlung, das heißt, das Gewebe wird weniger geschädigt (Bundesamt für Strahlenschutz 2023). Röntgenstrahlung Röntgenstrahlung ist ebenfalls eine elektromagnetische Strahlung. Sie wird durch das Abbremsen eines Elektrons in der Röntgenröhre erzeugt (Bundesamt für Strahlenschutz 2023).
2.5.2 Akute Strahlenkrankheit Um die Wirkung der Strahlung auf den menschlichen Körper zu beschreiben, werden die Begriffe Strahlenenergiedosis und Strahlenäquivalentdosis benutzt. Ein Gray (Gy) ist die abgeleitete SI-
Einheit der Energiedosis und spezifischen Energie (Energie pro Masseneinheit). Solche Energien werden in der Regel mit ionisierender Strahlung wie Gamma-Teilchen oder Röntgenstrahlen verbunden. Es wird als die Absorption von einem Joule Energie in Form ionisierender Strahlung durch ein Kilogramm Gewebe definiert. Ein Sievert (Sv) ist die abgeleitete SI-Einheit für die Äquivalentdosis, effektive Dosis und Folgedosis. Ein Sievert ist die Menge Strahlung, die erforderlich ist, um die gleiche Wirkung auf lebendes Gewebe zu erzielen, wie ein Gray hochdurchdringender Röntgenstrahlen. In Abhängigkeit von der Dosis sowie der betroffenen Organe/Organsysteme und Leitsymptome unterscheidet man folgende Erscheinungsformen der akuten Strahlenkrankheit: Im Dosisbereich von einem bis sechs Gray (Gy) treten charakteristische Veränderungen im Blutbild auf. Die manifeste hämatopoetische Form der Strahlenkrankheit äußert sich in Fieber, Schwäche, Infektionen und einer Blutungsneigung. Ab drei Gray treten Haarausfall, Radiodermatitis und Schleimhautgeschwüre auf. Im Dosisbereich von fünf bis 20 Gy entwickelt sich die gastrointestinale Form, welche auf Strahleneffekten an der MagenDarm-Schleimhaut beruht. Die Symptome sind massiver ggf. blutiger Durchfall, Schock, Infektionen und Blutungen. Bei Strahlenexpositionen ab 20 Gy tritt die zerebrovaskuläre Form der Strahlenkrankheit auf, die durch Versagen der zentralnervösen Regulationsmechanismen entsteht. Die Strahlenschäden an der Haut und an Schleimhäuten werden als kutane bzw. mukokutane Form bezeichnet und treten ab ca. drei Gy lokaler Dosis auf.
2.5.3 Wirkung einer Atombombe Durch die Detonation einer Atombombe entstehen unmittelbar folgende Effekte: thermische Strahlung Druckwelle
radioaktive Strahlung radioaktiver Niederschlag Je nach der Sprengkraft der Bombe wird in einem Umkreis von über 1.000 m durch Temperaturen von mehreren tausend Grad Celsius jedes Leben vernichtet. In dem sich daran anschließenden Areal mit einem Radius von mehreren tausend Metern entstehen durch die thermische Strahlung großflächige Brände. Durch die Druckwelle kommt es zum Einsturz vieler Gebäude. Thermische Strahlung und Druckwelle führen zu einer Vielzahl von Schwer- und Schwerstverletzten. Radioaktivität zeigt sich am Ort der Explosion und in Form des radioaktiven Niederschlags auch in Entfernungen von vielen hundert Kilometern. Je nach Bauart der Atombombe wird nur ein kleiner Teil der freiwerdenden Energie als Strahlung freigesetzt.
2.6
Fazit Einbindung der Bevölkerung in die Vorbereitung einer CBRN-Lage Einsatzplanung unter besonderer Berücksichtigung der Risiko- und Krisenkommunikation gemeinsame Übungen von Feuerwehr, Rettungsdienst und Krankenhäusern in Szenarien des CBRN-Anschlags
Literatur Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (2014) Rahmenkonzeption für den CBRN-Schutz (ABC-Schutz) im Bevölkerungsschutz, Stand März 2014. URL: https://www.bbk.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Mediathek/Publikationen/CBRN/ra hmenkonzeption-cbrn-schutz.pdf?__blob=publicationFile&v=6 (abgerufen am 22.02.2023) Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (2007) Biologische Gefahren I, Bonn. URL: https://www.bbk.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Mediathek/Publikationen/CBRN/h andbuch-bevschutz-biologische-gefahren-3auflage.pdf? __blob=publicationFile&v=3#:~:text=%20Biologische%20Gefahren%20%28BBK%29%2 0errichtet%2C%20das%20als%20zentrales,der%20zivilen%20Sicherheitsvorsorge%20u nd%20verkn%C3%BCpft%20sie%20zu%20einem (abgerufen am 22.02.2023) Bundesamt für Strahlenschutz (2023) Folgen eines Strahlenunfalls. URL: https://www.bfs.de/DE/themen/ion/wirkung/strahlenunfall-folge/strahlenunfall-folge.html (abgerufen am 22.02.2023)
Feuerwehr-Dienstvorschrift 500 (2022) Einheiten im ABC-Einsatz, Stand: Januar 2022. URL: https://www.base.bund.de/SharedDocs/Downloads/BASE/DE/rsh/4-relevantevorschriften/4-5-fwdv5002012.pdf;jsessionid=4E2291A74514F0037EDD27E2807D7154.internet961? __blob=publicationFile&v=1 (abgerufen am 25.07.2023) Gestis-Stoffdatenbank (2022) GESTIS-Stoffdatenbank. URL: https://gestis.dguv.de/search (abgerufen am 22.02.2023) Organisation for the Prohibition of Chemical Weapons (2019) Practical Guide for Medical Management of Chemical Warfare Casualties, Den Haag. URL: https://www.opcw.org/sites/default/files/documents/2019/05/Full%20version%202019_M edical%20Guide_WEB.pdf (abgerufen am 22.02.2023) World Health Organization (2004) Public health response to biological and chemical weapons. WHO guidance. 2nd ed., Genf. URL: Public health response to biological and chemical weapons (abgerufen am 22.02.2023)
3
Radioaktiver Fallout im Verteidigungsfall – Strahlenschutz für die Helfer
Manuel Döhla
3.1
Einführung
Mit dem Weißbuch 2016 rückten die Landes- und NATOBündnisverteidigung als gleichrangige Aufgaben neben den Auslandseinsätzen in den Fokus der deutschen Verteidigungspolitik. Ursache hierfür war die Annexion der Krim durch Russland 2014. Seit dem russisch-ukrainischen Krieg 2022 wird auch mit dem Einsatz von (taktischen) Atomwaffen gedroht. Der nukleare Verteidigungsfall (A-Fall) ist daher – leider – nicht mehr auszuschließen, sodass in diesem Kapitel ein Überblick über die dadurch entstehende A-Lage und die Grundsätze des Strahlenschutzes in diesem Fall gegeben werden soll. Die genaue Wirkung einer A-Waffe ist abhängig von ihrer Konstruktion, Art und Menge des Spreng- und Spaltmaterials, ihrer Zündhöhe, Luftdruck, Wind und Niederschlag (Autorenkollektiv 1994, S. 101–111). Sie besteht jedoch immer anteilig aus Druck, Hitze, direkter Kernstrahlung und radioaktivem Niederschlag (Fallout) (Richardt et al. 2013, S. 133–148). Beim Eintreffen erster Einsatzkräfte innerhalb der Hilfsfrist ist nur noch der Fallout relevant. Der radioaktive Niederschlag ist ein Gemisch verschiedener Radionuklide. Daher kann kein einfaches Zeitgesetz für seinen Zerfall angegeben werden (Autorenkollektiv 1984, S. 110). Als Faustregel gilt nach bisheriger Erfahrung:
Nach sieben Stunden beträgt die die Dosisleistung noch 10% des Ausgangswertes. Nach zwei Tagen beträgt die Dosisleistung noch 1% des Ausgangswertes. Nach 14 Tagen beträgt die Dosisleistung noch 0,1% des Ausgangswertes.
3.2
Messung
Da der Zerfall des Fallouts schwer vorhergesagt werden kann, sind kontinuierliche Messungen notwendig. Diese können deutschlandweit, im Einsatzraum oder personengebunden erfolgen.
3.2.1 Ortsdosisleistung Die Messung der Ortsdosisleistung (ODL) erfolgt in Deutschland kontinuierlich an 1.700 Messstellen. Die natürliche Hintergrundstrahlung beträgt lokal zwischen 0,05 und 0,18 μSv pro Stunde (1 Sievert [SV] = 1 J/kg). Im A-Fall kann die ODL deutlich liegen; eine sichtbare Staubschicht kann, vor allem im Zentrum bei bodennahen Explosionen, in kurzer Zeit zu deterministischen Strahlenschäden („Strahlenkrankheit“) führen. Hierzu sind ODL erforderlich, die in kurzer Zeit eine kumulierte Strahlenlast von mindestens 1 Sv generieren (1 Sv pro Stunde entspricht etwa der 10.000.000-fachen natürlichen ODL).
3.2.2 RN-Erkundung im Einsatzraum ODL eignet sich als Frühwarnsystem und zur Abschätzung der großräumig betroffenen Gebiete mit erhöhter Strahlenlast. Auf dieser Datenbasis können die notwendigen Maßnahmen des Bevölkerungsschutzes, vor allem Evakuierung und operative Schwerpunktbildung von Einheiten des Zivilund Katastrophenschutzes, geplant werden. Für die taktische Einsatzführung vor Ort ist die räumliche Auflösung von ODL jedoch viel zu gering, sodass hier auf Einheiten des CBRN-Schutzes (synonym: ABC-Schutz) zurückgegriffen wird, um ein A-Lagebild zu
erhalten. Die Messung im Einsatzraum erfolgt durch CBRNErkundungswagen (CBRN-ErkW), die eine Dosisleistung zwischen 10 nSv und 1 Sv pro Stunde messen können. Die Fahrzeuge sind allradfähig und können, je nach gewähltem Erkundungsverfahren, Grenzmessungen durchführen, um den Gefahrenbereich festzulegen. Das Eintauchen oder Kreuzen führt zu einer genauen, z.B. straßenweisen, Kartierung von Ortsdosisleistung für das A-Lagebild; insbesondere Veränderungen der ODL, die zu einer Gefährdung der Einsatzkräfte führen können, können so frühzeitig erkannt und kommuniziert werden.
3.2.3 Persönliche Dosisleistungsmess- und -warngeräte Dosisleistungsmessgeräte bestimmen die individuelle ODL für die jeweilige Einsatzkraft. Diese Information kann u.a. dafür verwendet werden, die maximale Aufenthaltsdauer einer Einsatzkraft an einem bestimmten Ort zu berechnen, indem man den Referenzwert für den jeweiligen Einsatz durch die aktuelle ODL teilt (s. Tab. 1). Tab. 1
Referenzwerte für verschiedene Einsatzanlässe (nach DV 500 2022, S. 42)
Einsatzanlass
Referenzwert (effektive Dosis)
Einsatz zum Schutz der Umwelt oder von Sachgütern
20 mSv je Einsatz und Kalenderjahr
Einsatz zum Schutz von Menschenleben oder der Gesundheit
100 mSv je Einsatz und Kalenderjahr
Einsatz zur Rettung von Menschenleben, zur Vermeidung schwerer strahlungsbedingter Gesundheitsschäden oder zur Vermeidung oder Bekämpfung einer Katastrophe
250 mSv je Einsatz und Leben
Dosisleistungswarngeräte können auf einen Grenzwert eingestellt werden und geben einen Alarmton bei dessen Überschreitung. Üblicherweise werden sie außerhalb des Gefahrenbereichs auf 25 μSv pro Stunde eingestellt, um einen Anstieg der ODL festzustellen, der zu einer Gefährdung von Einsatzkräften im Absperrbereich führen könnte.
3.3
Präklinischer Strahlenschutz
Der präklinische Einsatz des Rettungs-, Sanitäts- und Betreuungsdienstes in einem Fallout-Szenario erfolgt, wie alle CBRN-Einsätze, nach der (SKK-)DV 500, die die FwDV 500 in der jeweils aktuellen Fassung einschließt. Strahlenschutz wird über die Raumordnung, persönliche Schutzmaßnahmen sowie Dekontamination umgesetzt.
3.3.1 Raumordnung nach DV 500 Die Raumordnung der DV 500 orientiert sich streng an der Dosisleistung (s. Abb. 1). Der Gefahrenbereich wird so eingerichtet, dass die ODL außerhalb 25 μSv/h nicht überschreitet. An den Gefahrenbereich (rot) schließt sich der Absperrbereich (grün) an. Die Übergangszone (gelb) ist ein besonderer Teil des Absperrbereiches, in dem die Kräfte des Rettungs-, Sanitäts- und Betreuungsdienstes unter PSA für medizinische und psychosoziale Erstmaßnahmen sowie zur Dekon-Sichtung und Durchführung der DekonV-Maßnahmen tätig werden (SKK-DV 500 2014, S. 14). Durch Wind und Regen kann sich die räumliche Verteilung des Fallouts verändern, sodass man die ODL dauerhaft, z.B. durch Dosisleistungswarngeräte, überwachen muss.
Abb. 1
Raumordnung beim Fallout (mod. nach DV 500)
3.3.2 Persönliche Schutzmaßnahmen Die notwendigen Schutzmaßnahmen für die Einsatzkräfte orientieren sich an der Raumordnung. Strahlen können von außen auf die Einsatzkräfte einwirken (Bestrahlung, Radiation) oder können sich auf die Kleidung und in der Folge auf die Haut ablagern (Kontamination) bzw. eingeatmet oder verschluckt werden (Inkorporation). Die wichtigsten persönlichen Verhaltensweisen im Strahlenschutz sind die 3A-Regel (Abstand halten, Abschirmung nutzen, Aufenthaltsdauer begrenzen) zum Schutz vor Bestrahlung, die Nutzung persönlicher Schutzausstattung (PSA) zum Schutz vor Kontamination sowie die Maßnahmen der Einsatzstellenhygiene zum Schutz von Inkorporation.
Im Gefahrenbereich werden vorrangig Einsatzkräfte des ABC-Schutzes (i.d.R. Feuerwehr) tätig, um Menschen zu suchen und zu retten, sowie ggf.
die Brandbekämpfung sicherzustellen. Bei Fallout muss gemäß DV 500 mindestens initial von einem Einsatz der Gefahrengruppe III A ausgegangen werden, damit sind atemluftunabhängige Isoliergeräte („Pressluftatmer“) sowie Körperschutz Form 3 die geeignete PSA. Praktisch werden bei der Größe des Einsatzraumes und der damit einhergehenden Menge an Einsatzkräften nicht ausreichend Körperschutz Form 3 und im Verlauf ggf. nicht genug Atemschutzgeräteträger und/oder Pressluftflaschen zur Verfügung stehen, sodass – nach Gefährdungsanalyse und unter Berücksichtigung der Messergebnisse – auf Atemschutzfilter (ABEK-P3) und Körperschutz Form 1 ausgewichen werden muss. Hierdurch steigt das Gesundheitsrisiko für die Einsatzkräfte, was bei der Planung von Dekon-V-Kapazität sowie der ärztlichen Überwachung und Nachsorge zu beachten ist. Zum Schutz vor Inkorporation ist im Gefahrenbereich Essen, Trinken und Rauchen streng untersagt. In der Übergangszone werden Kräfte des Rettungs-, Sanitäts- und Betreuungsdienstes sowie des ABC-Schutzes zur medizinischen Rettung, Betreuung, Vorbereitung sowie Durchführung von Dekon-Maßnahmen tätig. Das Risiko durch Bestrahlung ist deutlich geringer als in der Gefahrenzone, jedoch bleibt das Risiko durch Kontamination und Inkorporation bestehen (z.B. über Patienten, deren Kleidung, andere Gegenstände aus dem Gefahrenbereich, Einsatzkräfte, Fahrzeuge, sonstige Einsatzmittel). Die geforderte PSA nach DV 500 umfasst mindestens Atemschutzfilter (ABEK-P3) und Körperschutz Form 1. Da Kräfte des Rettungs-, Sanitäts- und Betreuungsdienstes üblicherweise nicht mit Atemschutzgeräten ausgestattet und geübt sind, kann hier auf die sog. „Infektionsschutzsets“ zurückgegriffen werden, die einen Schutzoverall und eine FFP3-Maske beinhalten (s. Abb. 2). Darüber hinaus stehen teilweise spezialisierte CBRN-Einheiten des Sanitätsdienstes zur Verfügung (z.B. SEG CBRN[E] des Bayerischen Roten Kreuzes), die mit Gebläseanzügen und Filtersystemen ausgestattet sind (s. Abb. 3).
Abb. 2
RTW-Besatzung in Infektionsschutzset (Foto: Manuel Döhla)
Abb. 3
Personal der Schnelleinsatzgruppe CBRN(E) des Bayerischen Roten Kreuzes in persönlicher Schutzausstattung (mit freundlicher Genehmigung des BRK Landesfachdienst CBRN[E])
Insbesondere bei großer Ausdehnung des Fallouts kann der Gefahrenbereich ebenso wie der Absperrbereich mehrere Kilometer Umfang haben, sodass abweichend von der DV 500 die Dekontamination Verletzter nicht im Einsatzraum erfolgt. Stattdessen können die Patienten unter Kontaminationsbedingungen aus dem Einsatzraum transportiert und krankenhausnah dekontaminiert werden. In diesem Fall gilt das Innere des RTW bzw. KTW als Übergangszone im Sinne der Raumordnung (s. Abb. 1).
3.3.3 Dekon Dekon-P dient der Verhinderung von Verschleppung von Kontamination von der PSA auf die Haut von Einsatzkräften mit durchgehend korrekt getragener und intakter PSA (s. Abb. 3). Dekon-V verhindert die weitere Schädigung durch bereits stattgefundene Kontamination der Haut. Bei Fallout ist eine Dekontamination durch
vollständiges Entkleiden sowie das Waschen mit Wasser und Seife bereits sehr effektiv (Reduktion der Strahlenlast um > 90%). Dekon-G spielt im Falloutszenario vor allem eine Rolle in Hinblick auf die Transportmittel für kontaminierte A-Verletzte bzw. dekontaminierte APatienten. Wird die Dekon-V krankenhausfern durchgeführt, müssen auch die genutzten Transportmittel innen und außen dekontaminiert sein, um eine Rekontamination der Patienten zu vermeiden und negative Strahlenwirkung auf Rettungsdienstpersonal und Patienten zu minimieren. Bei krankenhausnaher Dekontamination ist an der Einsatzstelle eine Dekontamination von außen sinnvoll, während die Dekontamination des Innenraumes nach Ausladen des Patienten am Krankenhaus stattfinden muss. Der Dekontaminationserfolg wird anhand einer Freimessung nachgewiesen: eine Dosisleistung oberhalb des Dreifachen der sog. Nullrate (ODL am Dekon-Platz) gilt als nicht erfolgreiche Dekontamination; eine erneute Dekontamination wird notwendig.
3.4
Klinischer Strahlenschutz
Kliniken sollten RTW/KTW sowie Selbsteinweiser aus dem Einsatzraum vor Betreten des Geländes bzw. Gebäudes auf Kontamination überprüfen. Überschreitet die Dosisleistung das Dreifache der Nullrate, muss eine Dekontamination durchgeführt werden, wenn der medizinische Zustand des Patienten dies zulässt. Hierbei sind vor allem Wunden und Körperöffnungen zu berücksichtigen, die in der präklinischen Dekontamination übersehen worden sein könnten. Eine separate Zufahrt mit getrenntem Eingang erleichtert dies organisatorisch. Inkorporation oder nicht dekontaminierbare Wunden dürfen die medizinische Behandlung niemals beeinträchtigen. Die Therapie konventioneller Verletzungen hat stets Vorrang.
Personal sollte bei der Dekontamination oder beim sonstigen Umgang mit (potenziell) kontaminierten Patienten mindestens PSA analog dem
Infektionsschutzset tragen (z.B. OP-Kittel, OP-Haube, Schutzbrille, Handschuhe, FFP3-Maske). Des Weiteren sind zur Überwachung der individuell aufgenommenen Strahlendosis Personendosimeter empfohlen. Nachweislich dekontaminierte Patienten (Freimessung!) können anschließend ohne weitere Schutzmaßnahmen in die Notaufnahme gebracht werden. Besitzt die Klinik eine strahlentherapeutische Abteilung, besteht ggf. die Möglichkeit, mittels Ganzkörperscanner (s. Abb. 4) inkorporierte radioaktive Stoffe zu identifizieren und eine entsprechende Dekorporationstherapie einzuleiten. Parallel dazu bzw. unabhängig davon kann die notwendige (intensiv-)medizinische Therapie eingeleitet werden (s. Abb. 5).
Abb. 4
Ganzkörperscanner der Abteilung Nuklearmedizin des Bundeswehr Zentralkrankenhauses Koblenz (Foto: Manuel Döhla)
Abb. 5
A2BCDE-Schema für die Versorgung von A-Patienten (mod. nach Walter u. Schauben 2014, S. 449)
Das Hygienekonzept auf Station und in den Funktionsbereichen entspricht krankenhaushygienischem Standard; bei Patienten mit Inkorporation in die Lunge oder kontaminierten Wunden sollte bei der Behandlung eine Einzelzimmerisolierung und Barrieremaßnahmen (Kittel, Haube, MundNasen-Schutz, Schutzbrille, Handschuhe) analog z.B. MRSA angewandt werden. Entsprechende Patientenzimmer unterliegen als Überwachungsoder Kontrollbereich den Vorgaben der Strahlenschutzverordnung, insbesondere in Hinblick auf die Zutrittsregelung (Grupen 2008, S. 77f., 96f.).
Literatur Autorenkollektiv (1984) Militärtoxikologie und Militärradiologie. Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik Berlin FwDV 500 (2022) Einheiten im ABC-Einsatz Grupen C (2008) Grundkurs Strahlenschutz. 4. Auflage. Springer Berlin Heidelberg Richardt A, Hülseweh B, Niemeyer B, Sabath F (2012) CBRN Protection. Managing the Threat of Chemical, Biological, Radioactive and Nuclear Weapons. Wiley-VCH Weinheim
SKK-Dienstvorschrift 500 (2008) Einheiten im CBRN-Einsatz. Köln Walter FG, Schauben JL (2014) AHLS Provider Manual. 4. Auflage. AHLS Arizona
4
Notfallmedizin in militärischen Konflikten
Yannick Beres, Sebastian Weber und Florent Josse
4.1
Einleitung
Einsatzmedizin, taktische Medizin oder auch die taktische Verwundetenversorgung bezeichnen im Ursprung die Versorgung von Verwundeten oder Erkrankten im Rahmen eines militärischen Einsatzes oder Konfliktes (Butler 2017). Heute werden die Prinzipien der taktischen Verwundetenversorgung in vielen Bereichen eingesetzt, in denen die medizinische Versorgung unter taktischen Bedingungen erfolgen muss. Durch Kampfhandlungen und Unfälle zeigen sich schwere traumatologische Verletzungen sogenannte „combat related injuries“ mit dem Fokus auf penetrierendes Trauma, Explosionsverletzungen und Verbrennungen sowie deren Kombination (Holcomb et al. 2007). Klassisch internistische notfallmedizinische Krankheitsbilder finden sich eher selten, sind aber auch Teil des truppenärztlichen Spektrums im Einsatz. Je nach Einsatzland müssen zusätzlich tropen-/höhenmedizinische, taucher- und fliegerärztliche Krankheitsbilder und Hitze- oder Kälteerkrankungen abgedeckt werden. Dazu ist das interdisziplinäre Zusammenspiel von unterschiedlich qualifiziertem medizinischem Personal notwendig. Das in diesen Situationen verfügbare Material und die beeinflussenden Umgebungsfaktoren erfordern ein spezielles Training, Mut und das richtige Mindset zur Improvisation.
Ebenso die weiterführende Versorgung erfordert ein hohes Maß an notfallmedizinischer, anästhesiologischer und chirurgischer Kompetenz. Dieses Kapitel soll den Fokus auf die Prinzipien und Fertigkeiten der notfallmedizinischen Versorgung der Einsatzmedizin rücken. Im Rahmen von kriegerischen Auseinandersetzungen ist das notfallmedizinische
Arbeiten davon geprägt, dass eine große Bedrohung für Behandelnde und Patienten besteht. Entsprechend können die Erfahrungen der Militärmedizin auch Anwendungen bei bedrohlichen Einsatzlagen, wie Amok oder Terrorismus, im Zivilen finden – hier spricht man von taktischer Notfallmedizin.
4.2
Woran sterben Traumapatienten im Einsatz?
In der Einsatzmedizin begegnen den Behandelnden häufig traumatologisch geprägte schwere Verwundungsmuster. Dabei sind massive Blutverluste die häufigste Ursache für vermeidbare Tode auf dem Gefechtsfeld. Während bei kriegerischen Auseinandersetzungen vor dem 21. Jahrhundert vor allem penetrierende Schusswunden führend waren, dominieren im 21. Jahrhundert Explosionsverletzungen als häufigste Verwundungsmechanik (Belmont et al. 2010). Gründe hierfür sind Schutz vor penetrierenden Verletzungen durch Einführung von ballistischen Schutzwesten für jeden Soldaten, die Weiterentwicklung von Explosionswaffen und Munition, sowie der Einsatz von Artilleriefeuer (z.B. Ukrainekrieg) und „improvised explosive devices“ (IED) in den modernen Einsatzszenarien. Bei den IED werden nicht kommerziell hergestellte explosive Stoffe mit handelsüblichen Zündmechanismen versehen und gegen Fahrzeuge und Personen eingesetzt. IEDs waren beispielsweise für 63% Prozent der Tode westlicher Soldaten im Irakkrieg und für über 66% der Verwundungen internationaler Soldaten im Afghanistaneinsatz (2001–2021) verantwortlich (Smith u. Garner 2018; Combs 2017). Durch die Einführung von ballistischen Schutzwesten konnte die Anzahl der lebensbedrohlichen Thoraxverletzungen deutlich reduziert werden. Häufigster Ort der Verwundung sind die Extremitäten, gefolgt von Verletzungen am Kopf und Hals, die trotz Schutzhelmen im Rahmen von Explosionsverletzungen häufig auftreten (Belmont et al. 2010). Bottom Line Die besonderen Verwundungsmuster und die Problematik, dass höherwertige medizinische Versorgungseinrichtungen nicht immer in den vorgegebenen Zeiten erreichbar sind oder die Mitnahme von medizinischem Material begrenzt ist, verlangt von Notfallmedizinern auf dem Gefechtsfeld eine breite Ausbildung in notfallmedizinischen Fähigkeiten und Fertigkeiten
sowie Improvisationstalent. Dabei müssen vor allem die drei häufigsten vermeidbaren Todesursachen Hämorrhagie, Spannungspneumothorax und Atemwegsverlegung konsequent adressiert werden. Gleichzeitig ergeben sich hohe Anforderungen an Material und dessen vorausschauende Auswahl. Material sollte wenn möglich nicht nur einen Zweck erfüllen, sondern im Rahmen der begrenzten Kapazität mehrere Anwendungen ermöglichen, wie zum Beispiel Endotrachealtubus als Thoraxdrainage, Chest Seal als Okklusionspflaster oder Klebeverband.
4.3
Einsatztaktik
4.3.1 Grundzüge TCCC Tactical Combat Casualty Care (TCCC), zu Deutsch „taktische Verwundetenversorgung“ ist das Grundkonzept der Versorgung von Verletzten in taktischer Medizin und Einsatzmedizin. Initial wurde es in den 1996er-Jahren für das medizinische Personal der Spezialkräfte des USMilitärs beschrieben und hat sich dann im weiteren Verlauf als Leitlinie durch das Committee on Tactical Combat Casualty Care (CoTCCC) als feste Basis für die medizinischen Versorgungskonzepte im Einsatz vieler Nationen entwickelt (Butler 2017). Grundlegende Idee des Konzeptes des TCCC ist eine lageabhängige fokussierte phasenweise Versorgung der Verwundeten mit dem ständigen Blick auf die Auftragserfüllung. Das CoTCCC analysiert über das Joint Trauma System kontinuierlich Daten aus den Einsätzen und entwickelt mit verschiedenen Expertenboards diese Leitlinien kontinuierlich weiter (Montgomery et al. 2021). Taktische Notfallmedizin wird in drei Phasen unterteilt (Anonymous et al. 2022): 1. Care under Fire (unsicherer Bereich, rote Zone, hot zone) 2. Tactical field Care (teilsicherer Bereich, gelbe Zone, warm zone) 3. Tactical Evacuation Care (sicherer Bereich, grüne Zone, cold zone) Die Phase Care under Fire ist die Versorgung unter direkter Bedrohung und Gefahr. Dies kann der direkte Feinddruck, der Bereich eines Anschlages
oder der unsichere Bereich in einer Polizeilage sein. Hier heißt es Herr der Lage zu werden, also den Feind kontrollieren und Feuerüberlegenheit gewinnen, sich weiterer Bedrohung klar werden und den Verwundeten aus dem Gefahrenbereich bringen. Einzige medizinische Maßnahme, wenn es die Lage erlaubt, ist die Anlage eines Tourniquets an stark blutenden Extremitätenverletzungen. Wenn die erste Sicherung erreicht wurde, man sich zwar noch im näheren Gefahrenbereich befindet aber außerhalb der direkten Gefahreneinwirkung, spricht man von der Phase Tactical field Care (s. Abb. 1).
Abb. 1
Tactical field Care (Foto: Florent Josse)
Hier werden die Verwundeten fokussiert und immer lageabhängig (da sich die Bedrohungslage jederzeit ändern kann und man mit dem Verwundeten aus dem Bereich ausweichen muss) untersucht und behandelt. Dazu werden der MARCH oder C-ABCDE Algorithmus angewendet (s. Tab. 1). Tab. 1
MARCH und C-ABCDE, angewandte Versorgungsalgorithmen in der taktischen Medizin
MARCHSchema
c/x-ABCDE
Maßnahmen
Massive bleeding
Critical bleeding/Exsanguination
Tourniquet
Airway
Airway
Freimachen der Atemwege, Nasopharyngealtuben, endotracheale
Intubation oder supraglottische Atemwegsmittel, Koniotomie Respiration
Breathing
Chest-Seal, Entlastungspunktion, Thoraxdrainage
Circulation
Circulation
Suche nach weiteren Blutungsquellen, Blutstillung mittels „packing“ und Hämostyptika und Druckverband, Gefäßzugänge, Volumentherapie
Head Disability injuries and Hypothermia Environment
neurolog. Untersuchung (+ Wärmeerhalt bei MARCH), Analgesie Versorgung von weiteren Verletzungen und Wärmeerhalt
Bei Massive Bleeding (MARCH) bzw. Critical Bleeding (C-ABCDE) werden alle bisher in der Phase Care under Fire noch nicht gestillten, starken Blutungen adressiert und gestoppt. Im Anschluss wird der Atemweg unter Airway (MARCH und C-ABCDE) frei gemacht oder gesichert. Unter Respiration (MARCH) bzw. Breathing (C-ABCDE) wird der Thorax untersucht und Thoraxverletzungen mit einem luftdichten Verband versorgt, Spannungspneumothoraces entlastet und die Oxygenierung überprüft. Unter Circulation (MARCH und C-ABCDE) werden Vitalparameter erhoben und alle noch nicht oder insuffizient versorgten Blutungen mittels Packing, Hämostyptika und Druckverband versorgt. Je nach Lage kann hier auch ein intravenöser Zugang etabliert und eine Flüssigkeitstherapie begonnen werden. Bei Head and Hypothermia (MARCH) bzw. Disability und Environment (C-ABCDE) werden Anzeichen auf ein Schädel-Hirn-Trauma erhoben, die Schmerztherapie mittels mukosomalen Fentanyl, Morphin Autoinjektoren, nasalem Esketamin oder inhalativem Methoxyfluran initiiert sowie der Wärmeerhalt verbessert und durchgeführt. In die Phase Tactical Evacuation Care kommt man, sobald der Patient transportfertig gemacht wird und boden- oder luftgebunden transportiert oder evakuiert wird. Dabei ist es wichtig die Dokumentation zu vervollständigen und eine Übergabe an das übernehmende medizinische Team vorzubereiten.
4.3.2 Rettungskette und Zeiten im Einsatz Damage Control Resuscitation ist eine Strategie, Patienten im hämorrhagischen Schock schnellstmöglich in die physiologische Homöostase zurückzuführen. Kernelemente sind die frühe Gabe von Blutprodukten und Tranexamsäure, die Prävention von Azidose, Hypothermie, Koagulopathie und Hypocalciämie („lethal diamond“) sowie der restriktive Einsatz von Kristalloiden, um Dilutionskoagulopathien und weitere Blutungen zu vermeiden.
Die Versorgung des Verwundeten beginnt am Ort der Verwundung mit der Selbst- und Kameradenhilfe durch Soldaten in unmittelbarer Nähe. Diese wird durch Soldaten mit erweiterter notfallmedizinischer Ausbildung (Ersthelfer Bravo oder Combat First Responder) ergänzt. Gemäß NATOStandard sollen innerhalb der ersten zehn Minuten, in denen ein Großteil der Verwundeten auf dem Schlachtfeld verstirbt, den sogenannten „platinum ten minutes“ lebensbedrohliche Blutungen gestoppt werden (Ministry of Defence 2015). Innerhalb einer Stunde, der sogenannten „golden hour“ soll eine erste notfallmedizinische Versorgung (Damage Control Resuscitation, DCS) und ebenso in maximal zwei Stunden nach Verwundung eine chirurgische Versorgung (Damage Control Surgery, DCR) erfolgen. Dies steigert die Überlebensrate von Traumapatienten (Kotwal et al. 2016). Die Damage Control Surgery beinhaltet die initiale Versorgung lebensbedrohlicher Verletzungen, um im Rahmen eines Stufenverfahrens erst nach intensivmedizinischer Rekompensation die definitive chirurgische Versorgung durchzuführen.
Um diese Zeitlinien einzuhalten werden verschiedene Stufen der Versorgung vorgehalten. Selbst- und Kameradenhilfe, Ersthelfer Bravo, Einsatzsanitäter, Notfallsanitäter, Notärzte (BAT – beweglicher Arzttrupp) und chirurgische Versorgung in kleinen operativen Einheiten (Forwad Surgical Element, FSE) werden vorgehalten und geplant (Bundeswehr 2023).
10 – 1 – 2 rule Erweiterte erste Hilfe innerhalb der platinum ten minutes, Damage Control Resuscitation innerhalb der golden hour, Damage Control Surgery innerhalb der golden hour, maximal zwei Stunden (silver hour).
Literatur Anonymous A (2022) Tactical Combat Casualty Care (TCCC) Guidelines for Medical Personnel 15 December 2021. Journal of special operations medicine 22, 11–17. URL: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/35278312/ (abgerufen am 19.05.2023) Belmont PJ, Schoenfeld AJ, Goodman G (2010) Epidemiology of combat wounds in Operation Iraqi Freedom and Operation Enduring Freedom: orthopaedic burden of disease. Journal of surgical orthopaedic advances 19, 2–7. URL: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/20370999/ (abgerufen am 19.05.2023) Bundeswehr (2023) Sanitätsdienstliche Einsatzgrundsätze. Stand: 05/16/2023. URL: https://www.bundeswehr.de/de/sanitaetsdienstliche-einsatzgrundsaetze--119360 (abgerufen am 19.05.2023) Butler FK Jr. (2017) Tactical combat casualty care: Beginnings. Wilderness Environmental Medicine 28, S12-S17. URL: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/28284483/ (abgerufen am 19.05.2023) Combs CC (2017) Terrorism in the Twenty-First Century. Taylor & Francis. URL: https://www.taylorfrancis.com/books/mono/10.4324/9781315617053/terrorism-twentyfirst-century-cynthia-combs (abgerufen am 19.05.2023) Holcomb J, Caruso J, McMullin N, Wade CE, Pearse L, Oetjen-Gerdes L, Champion HR, Lawnick M, Farr W, Rodriguez S, Butler F (2007) Causes of death in US Special Operations Forces in the global war on terrorism: 2001–2004. U.S. Army Medical Department Journal, 24–37. URL: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/20084703/ (abgerufen am 08.06.2023) Kotwal RS, Howard JT, Orman JA, Tarpey BW, Bailey JA, Champion HR, Mabry RL, Holcomb JB, Gross KR (2016) The Effect of a Golden Hour Policy on the Morbidity and Mortality of Combat Casualties. JAMA Surgery 151, 15–24. URL: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/26422778/ (abgerufen am 19.05.2023) Ministry of Defence (2015) Allied Joint Doctrine for Medical Support (AJP-4.10). GOVUK 2015. URL: https://www.gov.uk/government/publications/allied-joint-medical-supportdoctrine-ajp-410 (abgerufen am 19.05.2023) Montgomery HR, Drew B, Torrisi J, Adams MG, Remley MA, Rich TA, Greydanus DJ, Shaw TA (2021) TCCC Guidelines Comprehensive Review and Edits 2020: TCCC Guidelines Change 20–05 01 November 2020. Journal of special operations medicine 21, 122–127. URL: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/34105138/ (abgerufen am 19.05.2023) Smith JE, Garner J (2018) Pathophysiology of primary blast injury. Journal of the Royal Army Medical Corps 165, 57–62. URL: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/30317218/ (abgerufen am 19.05.2023)
5
Von der Naturgefahr zur Naturkatastrophe
Martin Schiffarth und Gerold Zeilinger
„Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt; die Natur kennt keine Katastrophen.“ (Max Frisch, 1979) Nur wenn ein Ereignis durch räumliche und zeitliche Nähe dem Mensch und seinem Interaktionsraum Schaden zufügen kann wird von einer Naturgefahr gesprochen – das Maß der Auswirkung und die Fähigkeit zur Kompensation der Folgen einer betroffenen Gesellschaft definieren die Katastrophe, welche einem Naturereignis zugrunde liegt.
5.1
Prolog – Lebenszyklus einer Katastrophe
Um die Komplexität einer Katastrophe auf ein verständliches Maß zu reduzieren, aber auch die eigene Rolle im zeitlichen Ablauf einzuordnen, ist es hilfreich den Lebenszyklus einer Katastrophe (s. Abb. 1) zu kennen. Die Phasen der Vermeidung (Mitigation) von und Vorbereitung (Preparedness) auf Katastrophen können als Normal- oder Dauerzustand begriffen werden – diese Phasen dienen der Risikominimierung nur unterbrochen von einer Katastrophe, deren Folgen und Auswirkungen auf den Menschen und die Infrastruktur in Abhängigkeit von effektiven Vermeidungs- und Vorbereitungsstrategien zu sehen sind. Vorhersage, Frühwarnung und die schnelle, möglichst umfassende Verfügbarkeit von Informationen der zu erwartenden Gefahr sind elementar wichtige Bausteine der Disaster Risk Reduction (DRR).
Abb. 1
Lebenszyklus einer Katastrophe mit und ohne dauerhafte Anstrengungen zur Disaster Risk Reduction (Martin Schiffarth)
Auf die Katastrophe folgt die Phase der Reaktion (Response) der Einsatzkräfte, sowie die Phase der Wiederherstellung (Recovery) – der Lebenszyklus einer Katastrophe beginnt von vorne. Lebenszyklus einer Katastrophe:
Mitigation (Vermeidung): Umfasst alle Maßnahmen, Handlungen und Ziele, die der Vorbeugung einer Katastrophen dienen. Preparedness (Vorbereitung): Umfasst alle Maßnahmen, Handlungen und Ziele, die der Vorbereitung auf eine Katastrophe dienen. Response (Reaktion): Umfasst alle Maßnahmen, Handlungen und Ziele, die einer Katastrophe unmittelbar folgen, um auf diese zu reagieren. Recovery (Wiederherstellung): Umfasst alle nachsorgenden Maßnahmen, Handlungen und Ziele, die die Wiedereingliederung eines Alltags fördern.
Die eigene Handlungsfähigkeit und angemessene Reaktion auf eine Katastrophe hängt maßgeblich von der korrekten, persönlichen Einordnung in den Ereignisablauf ab. Dies erfordert eine hohes Prozessverständnis der zugrundeliegenden Wirkketten – von der Naturgefahr zur Naturkatastrophe.
5.2
Von der Naturgefahr zur Naturkatastrophe
Charakteristika von Gefahren In der Typologie von Katastrophen wird zunehmend vom all-hazards approach als Gesamtmenge der zu erwartenden Gefährdungen in einem geografischen Bereich gesprochen – in Abgrenzung zu Einteilung in menschgemachte oder naturbedingte Katastrophen. Aus der Perspektive der Einsatzkräfte bleiben besonders die spezifischen Charakteristika von (Natur)Gefahren und deren Eigenschaften (Varianz) weiterhin bedeutsam: Varianz von Gefahren (Karutz et al. 2017): Magnitude als Maß für die Stärke, Intensität und Größe eines Ereignis steht in direktem Zusammenhang mit dem zu erwartenden Schaden oder der Konsequenz (Impact). Beispiele: Abfluss (m3/s) bei Sturzfluten oder Windgeschwindigkeit (km/h) bei Stürmen. Frequenz beschreibt das Wiederkehrintervall eines Ereignis und ist unter Berücksichtigung der Seltenheit katastrophaler Ereignisse (sog. „black swans“ mit geringer Eintrittswahrscheinlichkeit bei hohem Impact) hierzulande nur im Kontext historischer Katastrophen sinnvoll zu betrachten.
Prozessgeschwindigkeit und -dauer, Bandbreite von „plötzlich einsetzend, kurz andauernd“ (z.B. Sturzflut) bis hin zu „langsam beginnend, über Tage anhaltend“ (z.B. Hochwasser) haben maßgeblichen Einfluss auf Frühwarnsysteme. Zeitliches Auftreten, Bandbreite von „Zufall“ bis hin zu „regelmäßigem Auftreten“; seltenes Auftreten kann zum Vergessen einer Gefahr führen („Katastrophen-Demenz“), zukünftig potenziell aggraviert durch den Klimawandel. Räumliche Ausdehnung reicht von geografisch begrenzter Ausdehnung bis hin zu Flächenlagen.
Naturgefahren können erst in der Betrachtung der gesamten Wirkungskette (s. Abb. 2), vom auslösenden Ereignis, dessen Varianz, bis hin zum Impact, verstanden werden.
Abb. 2
Einordnung der Einsatzkraft in den Ereignisablauf der Wirkkette: vom Starkregen, über die Sturzflut zum Impact (Martin Schiffarth)
5.3
Wirkkette der Naturgefahr Sturzflut am Beispiel der Ahr
„Sie brachten ungeheure Wassermengen, die mit elementarer Gewalt zu Tale stürzten.“ (Bericht zur Ahr-Katastrophe 1910) (Scherer, Königlicher Landrat 1911) Exemplarisch beschrieben werden soll die Wirkkette der Naturgefahr Sturzflut in Bezug auf die Ahrtal-Katastrophe 2021 auch unter Berücksichtigung historischer Ereignisse (s. CASE REPORT: Die AhrtalKatastrophe am 14. Juli 2021), der Varianz und der Naturgefahr Sturzflut, sowie weitere damit verbundene Teilprozesse der Gefährdung (s. Abb. 3).
Abb. 3
„Hintergrundinfo“ – Teilprozesse der Gefährdung (Fotos: Martin Schiffarth)
Starkregen
Starkregen über einen Zeitraum von 1–2 Tagen, bei bestehender Vorfeuchte des Bodens vor dem Ereignis 2021 und regionale hydrologische Faktoren führten zur sturzflutartigen, katastrophalen Ahr-Flut. Zeitliches Auftreten Katastrophale sturzflutartige Hochwasser der Ahr sind ausnahmslos für die Sommermonate beschrieben. In historischer Betrachtung und im Jahr 2021 wurden Spitzenabflüsse (höchste Magnitude) teilweise erst nachts und in der Dunkelheit erreicht, was die Menschenrettung komplexer gestaltet. Reaktionszeit (Catchment respond time) „[…] und Ahr schwollen so plötzlich zu reißenden Strömen an […]“ (Bericht zur Ahr-Katastrophe 1910) (Scherer, Königlicher Landrat 1911) Die Reaktionszeit kann als Zeitspanne von Beginn des Niederschlagereignisses bis zum Einsetzen des Hochwasserabflusses verstanden werden. Einflussfaktoren auf die Reaktionszeit sind u.a. die Art des Niederschlagereignisses, eine bestehende Vorfeuchte des Bodens und die besonderen Eigenschaften des Fluss-Einzugsgebiets: Der Bereich des mittleren und oberen Ahrtales ist aufgrund der Mittelgebirgs-Topografie, der besonderen Geologie, sowie des steilen, V-förmig eingeschnittenen Flusstals anfällig für eine hohe und schnelle hydrologische Reaktionsfähigkeit. Anhand gegenwärtiger und historischer AhrKatastrophenberichte rekonstruierte Reaktionszeiten variieren zwischen ~ 3,5–7 Stunden (Schiffarth 2022). Sturzflut (flash flood) Sturzfluten zählen zu den gefährlichsten Naturphänomene weltweit (Sene 2013). Diese lassen sich im Allgemeinen durch eine kurze Dauer, hohe Prozessgeschwindigkeit und vergleichsweise kurze Vorwarnzeit charakterisieren. Eine Gebirgssturzflut ist gekennzeichnet durch einen schnellen Oberflächenabfluss, hohe Fließgeschwindigkeiten und einen
hohen Sediment- und Feststofftransport – dies erhöht das Schadenspotenzial (Impact). Magnitude Die Pegelhöhe (m) und der Abfluss (m3/s) stehen als physikalische Komponenten im Zusammenhang mit dem zerstörerischen Potenzial von Sturzfluten und umschreiben die Magnitude des Ereignisses. Räumliche Ausdehnung Der Bereich des mittleren und oberen Ahrtales war aufgrund der Topografie über eine Länge von ca. 50 km im besonderen Maße betroffen. Hunderte Häuser wurden vollständig zerstört, tausende Häuser schwer beschädigt. Große Teile der Infrastruktur und kritischen Infrastruktur wurden zerstört, Ortschaften waren teilweise über Tage von der Außenwelt abgeschnitten und nur mit Hubschraubern erreichbar. Impact „Die antürmenden Flutwellen wirkten verheerend.“ (Bericht zur AhrKatastrophe 1910) (Scherer, Königlicher Landrat 1911) Der Impact kann als direkte Konsequenz für den Mensch, für Gebäude, Infrastruktur und den Lebensraum begriffen werden und steht im Zusammenhang mit der Magnitude sowie der räumlichen und zeitlichen Exposition und Verwundbarkeit (Vulnerabilität) gegenüber der Gefahr. Das Katastrophenpotenzial (disaster risk) kann als Schnittmenge von Exposition, Vulnerabilität und Gefahr verstanden werden (Siedschlag u. Stangl 2020) (s. Abb. 4).
Abb. 4
Erläuterung der Beziehung von Naturgefahr, Exposition und Vulnerabilität (Grafik orientiert an Siedschlag u. Stangl 2020)
Eine Reduktion der Schnittmenge führt zu einer Reduktion der Konsequenz (Impact) und wird als Disaster Risk Reduction (DRR) umschrieben. Die Folgen des Klimawandel lassen eine Intensitätssteigerung und Zunahme von Naturgefahren erwarten, sodass Climate Change Adaption (CCA) und Disaster Risk Reduction im Sinne der Erhöhung der Widerstandsfähigkeit (Resilienz) nur als integrierter Ansatz zu verstehen sind. Vulnerabilität und Exposition Vulnerabilität oder Verwundbarkeit umschreibt die Merkmale und Umstände einer Gemeinschaft, eines Systems oder Vermögenswertes, welche sie für die schädlichen Auswirkungen einer Gefahr anfällig macht Exposition umschreibt die physikalische Nähe im Bezug zur Gefahr
Frequenz Die Ahr-Katastrophe im Jahr 2021 war in historischer Betrachtung kein Einzelereignis: 75 Hochwasser der Ahr und ihrer Nebenbäche wurden seit dem 14. Jahrhundert erfasst. 63 Tote im Jahr 1804, 52 Tote im Jahr 1910 und 134
Tote im Jahr 2021. Erfahrungsbasiertes Lernen in Bezug auf Hochwasser oder Sturzfluten ist erschwert, da in Abhängigkeit vom Wiederkehrintervall eines Ereignisses teilweise Jahrzehnte oder Jahrhunderte vergehen können. Risiken müssen weitgehend antizipiert werden.
5.4
Der Faktor Mensch in der Katastrophe (Verhaltens-/Verhältnissicherheit)
Für die Interaktion von Mensch – Umwelt – Naturgefahr – Medizin in der Einsatzphase Reaktion ist die Verhaltenssicherheit von maßgeblicher Bedeutung, was ein Grundverständnis beschriebener Wirkketten voraussetzt. Eine Verhältnissicherheit ist bei Naturgefahren nur bedingt oder gar nicht gegeben. Einordnung in den Ereignisablauf Der bekannte Führungsvorgang, bestehend aus Lagefeststellung, Planung und Befehlsgebung, wird maßgeblich von der Fähigkeit zur persönlichen Einordnung in den Ereignisablauf (Beyer 2016), dem Verständnis geschilderter Wirkketten, den individuellen kognitiven Fertigkeiten und der notfallmedizinischen Kompetenz bestimmt. Zu den zentralen Fragen die mit dem Einsatzbeginn zu beantworten sind, welche jedoch von einem hohen Maß an Unsicherheit, Komplexität, zeitlicher Dynamik und mit einem hohem Handlungsdruck verbunden sind, zählen: Wo befinde ich mich im Ereignisablauf? Mit welcher Magnitude ist zu rechnen? Welcher Impact ist zu erwarten? Welche damit verbundenen Teilprozesse sind zu erwarten? Je nach Zeitpunkt des Einsatzbeginns, Verfügbarkeit und Verständnis erforderlicher Informationen bedeutet eine zeitliche Einordnung noch vor Magnitudenanstieg (z.B. „sprunghafter“ Anstieg eines Flusses nach Starkregen), über mögliche Handlungsoptionen wie beispielsweise (Früh)-
Warnung und Evakuierung flussabwärts zu verfügen – den „Tod verhindern“ als Handlungsmaxime. Wohingegen die persönliche zeitliche Einordnung bei bereits abnehmender Magnitude (z.B. Scheitelpunkt einer Sturzflut ist bereits erreicht, Abflussmenge nimmt wieder ab) der Impact bereits eingetreten ist – im Kontext einer Katastrophe nun die Phase „Leid mindern“ als Wirkungsfeld des Bevölkerungsschutzes in den Vordergrund rückt. Hilfen zur Identifikation und Einordnung regionaler Gefahren vor und im Ereignisfall Die Konfrontation mit seltenen und unbekannten Fragestellungen erfordert eine möglichst analytische Herangehensweise und Kenntnis regionaler Gefahren – bestenfalls in den Phasen von Vorbereitung und Vermeidung, im Sinne der Disaster Risk Reduction als strukturiertes Risk Assessment zu erfassen. Aus der Perspektive der Notfallmedizin und im Zusammenhang mit Naturgefahren als hilfreich erwiesen hat sich die Anwendung der CRMKriterien in Bezug auf antizipierte regionale Gefahren (Schiffarth et al. 2019). Bei unmittelbar bevorstehenden, bereits im Gange befindlichen oder eingetretenen Naturgefahren bieten sich Akronyme zu schnellen Entscheidungsfindung, wie FOR-DEC oder im Kontext von Naturgefahren in SOR-DEC umformuliert, an (Hählen et al. 2019). Diese müssen jedoch trainiert sein und stoßen aufgrund des Leitsymptoms einer Katastrophe, dem Ressourcenmangel in Bezug auf den Informationsgewinn, an katastrophenimmanente Anwendungsgrenzen. Darüber hinaus unterliegt der Prozess des decision-making in dieser Phase den Einflüssen von Extremsituation auf die Human Factors.
5.5
Auf den Punkt gebracht
Ein erster Schritt zum Verständnis potenzieller Naturgefahren im eigenen Lebens- und Arbeitsumfeld sowie entsprechender Wirkketten, ist deren Identifikation – noch vor Eintritt einer Katastrophe.
Historische und gegenwärtige regionale Katastrophenberichte können hilfreich sein eine mögliche Ereignismagnitude, als auch den zu erwartenden Impact zu antizipieren und die gewonnenen Erkenntnisse in die Phasen der Vorbereitung und Vermeidung von Katastrophen dauerhaft zu integrieren. Ganz im Sinne des Lebenszyklus einer Katastrophe. Die persönliche Einordnung in den Ereignisablauf hat kurz vor oder bereits in der Phase der Reaktion auf eine Naturgefahr oder Katastrophe oberste Priorität. Dies dient der persönlichen Verhaltenssicherheit, ist jedoch maßgeblich vom Informationsgewinn und dem Verständnis der Wirkketten abhängig.
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6
Katastrophenmedizinische Versorgung bei zerstörter Infrastruktur nach Katastrophen
Hanjo Lorenz
6.1
Einführung
Die katastrophenmedizinische Versorgung bei zerstörter Infrastruktur nach Katastrophen stellt alle Beteiligten vor sehr große Herausforderungen. Schlimm genug, dass es im Rahmen von Katastrophen regelhaft um die Bewältigung eines Massenanfalls von Verletzten (MANV) geht, sind bei zerstörter Infrastruktur auch die sekundären und tertiären Anlaufstellen stark in Mitleidenschaft gezogen, nicht mehr erreichbar oder im schlimmsten Fall ebenfalls zerstört. Unter dem Begriff der Katastrophenmedizin werden alle medizinischen Maßnahmen subsumiert, welche sich an Patienten und Betroffene im Rahmen einer Katastrophe richten.
Die Katastrophe wiederum kann als ein Geschehen sehr unterschiedlich definiert werden, zum Beispiel abhängig von Ausmaß und Örtlichkeit, als Gefährdung oder Schädigung von Gesundheit oder Leben einer Vielzahl von Menschen oder Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen oder von bedeutenden Sachwerten. Im Speziellen, bei der Zerstörung der Infrastruktur, ist das Ausmaß dabei so ungewöhnlich, dass vorrübergehend oder auch langfristig die bestehenden Ressourcen und CopingMechanismen residenter Strukturen überlastet werden. Nach behördlicher Feststellung einer Katastrophe, in Deutschland durch einen Landrat oder Oberbürgermeister, können die im Katastrophenschutz mitwirkenden Behörden, Organisationen und Einrichtungen unter Leitung der Katastrophenschutzbehörde zur Gefahrenabwehr tätig werden. In
anderen Ländern wiederum gibt es teilweise sehr unterschiedliche Mechanismen, wie die offizielle Feststellung einer Katastrophe auszusehen und abzulaufen hat. Allen gleich ist jedoch, dass es für die internationale Hilfe einer Anforderung des betroffenen Landes bedarf, um dort unterstützend tätig werden zu können. Nach dem (temporären) Ausfall der in jedem Land unterschiedlichen individual-medizinischen Versorgung folgt als Konsequenz zwangsläufig eine medizinische Basisbehandlung. Im Rahmen der sogenannten Triage greift dann das Prinzip, dass möglichst viele Personen das Ereignis mit möglichst wenig Schaden überstehen sollen.
Ziel ist dabei, das bestmögliche Ergebnis für das Kollektiv der Geschädigten zu erzielen, wobei das Interesse des Einzelnen zurückstehen muss, was gemäß dem utilitaristischen Prinzip im Englischen als „do the best for the most“ formuliert wird.
6.2
Mögliche Katastrophen und Auswirkungen auf die Infrastruktur
Aufgrund der menschlichen Zivilisation und der rasanten Industrialisierung erfährt unser Ökosystem noch nie dagewesene Veränderungen, was zu einer Bedrohung für die Gesundheit der Menschheit geworden ist. Auch die stetig wachsende Bevölkerung mit immer häufigerer Urbanisierung von Regionen mit teilweise hoher bis sehr hoher Gefährdung (unter anderem in ausgewiesenen Erdbebengebieten oder der wachsende Siedlungsdruck in fluss- und küstennahen Gebieten, welche traditionell als exponierte Gefahrenlage gemieden wurden) tragen dazu bei, dass die Naturereignisse immer mehr bevölkerte Regionen treffen und so Katastrophen mit Schädigung von Menschen und deren Infrastruktur zur Folge haben (s. Abb. 1).
Abb. 1
Zertrümmertes Gebäude nach einem Erdbeben in Haiti (mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Instituts für Katastrophenmedizin)
Je nachdem, wie vulnerabel die jeweilige Bevölkerungsstruktur bereits abseits von Katastrophen aufgestellt ist mit zum Beispiel einem bereits bestehenden limitierten Zugang zu einer basismedizinischen Versorgung, umso größeres Ausmaß können bereits „kleinere Katastrophen“ haben. In Regionen mit limitiertem Zugang zu Trinkwasser kann bereits der Ausfall des zentralen Brunnens katastrophale Auswirkungen auf genau diese Bevölkerungsgruppe haben. Noch schlimmer etwa, wenn die nächste Zivilisation mit der nächsten Trinkwasserversorgung mehrere TagesFußmärsche entfernt ist und es keine anderweitigen schnelleren Transportmöglichkeiten gibt. Im westlichen Europa, welches hochtechnisiert ist und nahezu alle Bereiche redundant verfügbar und abgesichert sind, ist der Ausfall eines einzigen Wasserspeichers regelhaft keine Katastrophe. In unseren Breitengraden liegt die Vulnerabilität jedoch genau auf dieser inzwischen entstandenen Abhängigkeit von der Technologie. Alles ist darauf ausgelegt, dass es überall und jederzeit verfügbar ist. Lager werden „just-in-time“ aufgefüllt, die Ware ist größtenteils unterwegs, sei es in LKWs auf Straßen, in Zügen auf Schienen, in Frachtflugzeugen in der Luft oder in riesengroßen
Containerschiffen auf dem Wasser. Eine ausreichende Vorhaltung ist in den seltensten Fällen noch gegeben. Und auch das produzierende Gewerbe hat mittlerweile die komplette Produktion ins Ausland verlagert, sodass Lieferengpässe und mangelnde Transportkapazitäten sehr schnell ein katastrophales Ausmaß annehmen können mit der entsprechenden Auswirkung auf die Bevölkerung. Mit dem Klimawandel nehmen die weltweit vorkommenden Naturereignisse zu, treten an neuen Orten auf und haben dadurch auch größere Auswirkungen auf die Bevölkerung. In Gebieten, in denen es seit Jahren, Jahrzehnten oder sogar Jahrhunderten Erdbeben, Vulkanausbrüche, Überschwemmungen oder Hurricanes gibt, hat man über die Zeit gelernt, damit umzugehen und die bestmöglichen Vorkehrungen zu treffen (s. Abb. 2). Wenn es nun jedoch auch Gebiete trifft, in denen diese Vorbereitungen bisher nicht getroffen wurden, sind die Auswirkungen auf Mensch und Infrastruktur umso verheerender. So häufen sich sogenannte meteorologische Jahrhundertereignisse in immer kürzeren Abständen auch in bisher gemäßigten Regionen. Regional kann es so zu einem oft monatelangen Ausfall der medizinischen und kritischen Infrastruktur kommen. Beispielsweise kann eine Taifun-Lage in entsprechenden Gebieten dann nur noch mit überregionaler, nationaler oder sogar internationaler Hilfe bewältigt werden.
Abb. 2
Blockierte Verkehrswege (Foto: Matthias Ruppert)
Die indirekten Folgen hängen wiederum davon ab, wie örtliche Begebenheiten und Strukturen mit Katastrophensituationen zurechtkommen, welche Ressourcen und Kompensationsmechanismen bestehen und aufgebaut werden können, inwiefern Vorbereitungen getroffen worden sind und ob Hilfe überhaupt zeitnah vor Ort gebracht werden kann. Die infrastrukturellen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Bewältigung dieser Ereignisse sind jedoch oft nicht gegeben. Viele Erfahrungen wurden in den letzten Jahren zusammengetragen, die Management-Schwachstellen sind erkannt worden und Handlungsempfehlungen wurden erarbeitet. Leider ist die Umsetzung nicht in dem Maße erfolgt, wie es sinnvoll und notwendig gewesen wäre. Insofern traf die COVID-19-Pandemie trotz der hinlänglich bekannten Probleme auf eine unzureichend vorbereitete staatliche und private Organisationsstruktur. Auch im Hinblick auf Sicherungssysteme wie Notstrom-Aggregate, welche nur für Krankenhäuser und nicht zum Beispiel für Pflegeeinrichtungen vorgeschrieben sind, gibt es bei einem flächenhaften Stromausfall daher nur ein kleines Zeitfenster zur Rettung von beatmeten Menschen in ebendiesen Einrichtungen. Das heißt trotz bekannter Handlungsempfehlungen fand letztlich keine mit überschaubarem technischem Aufwand mögliche Anpassung statt.
6.3
Katastrophenmedizinische Versorgung
Im schlimmsten Fall ist mit einer hohen Zahl an Opfern und Verletzten und einer langfristig zerstörten Region zu rechnen, in der auf absehbare Zeit kein zivilgesellschaftliches Leben mehr möglich ist. Je nach Land, Entwicklung, Kultur bis hin zur politischen Führung ist eine Redundanz der Sicherungssysteme wie etwa Strom-Erzeugungs-Optionen oder die Nahrungs- und Wassersicherheit vorhanden und Störungen in diesen Systemen können über einen kürzeren oder längeren Zeitraum kompensiert werden. Allerdings wird selbst bei einer drohenden Dekompensation oder gar dem Kollaps des jeweiligen Systems nicht von jedem Land oder jeder Regierung fremde Hilfe angefordert oder gar
angenommen. Denn das staatliche Eingeständnis, dass der Schutz und die Versorgung der eigenen Bürger nicht mehr zu gewährleisten ist, kann das souveräne Selbstverständnis erheblich kompromittieren. Die Wahrnehmung aber auch Stärke der Katastrophenmedizin ist global äußert unterschiedlich: In den asiatischen Ländern, etwa entlang des Pazifischen Feuerringes aber auch in den panamerikanischen Ländern, hat diese Profession durch die starken Naturexpositionen eine beachtliche fachliche Eigenständigkeit. Für die gemäßigten Breiten Kontinentaleuropas trifft das kaum zu und die Fachdisziplin wird daher kaum gelehrt oder in universitären Curricula systematisch geschult. Das Wichtigste im Rahmen der katastrophenmedizinischen Versorgung ist es, diese auf die jeweilige Katastrophe in Abhängigkeit der Örtlichkeit abzustimmen, um im Idealfall zielgerichtete Hilfe anbieten zu können.
Das Gießkannenprinzip ist hierbei keine Lösung. Auch die immer gutgemeinte Hilfsbereitschaft der Bevölkerung mit Sachspenden und teilweise selbstorganisierte Hilfsaktionen ist bemerkenswert, oft aber nicht zielführend. Hier bedarf es einer überörtlich geführten offiziellen Organisation mit Kanalisation der zeitlich und örtlich benötigten Dinge. Oftmals sind es aber schlichtweg die Geldspenden, welche eine zügige Hilfe ermöglichen. Im Hinblick auf die medizinische Versorgung ist nach der eingehenden Sichtung (z.B. nach mSTaRT) nach dem Schema cABCDE sowie dem Leitspruch „treat first, what kills first“ zu arbeiten. Zwei Faktoren geben dabei vor, was medizinisch gemacht werden kann bzw. gemacht werden sollte. Der Zeitpunkt nach der Katastrophe, das heißt befinden wir uns Minuten, Stunden, Tage oder gar Wochen nach dem katastrophalen Ereignis und die (noch) vorhandenen örtlichen Strukturen. Dies bedeutet, bin ich noch gebunden, durch verschüttete und eingeklemmte Personen, die einer medizinischen Versorgung zugänglich sind oder gibt es keine Transportmöglichkeit mehr (Wege nicht mehr befahrbar, Luftraum wetterbedingt nicht nutzbar, abgeschnitten von jeglicher Infrastruktur) oder können die Patienten in eine Einrichtung mit besserer medizinischer
Versorgung, als aktuell vor Ort möglich, verbracht werden. Und vor allem darf der Eigenschutz nie außer Acht gelassen werden, denn man kann nur adäquat helfen, wenn man nicht verletzt und am Leben ist (s. Abb. 3).
Abb. 3
Transport einer verletzten Person nach einem Erdbeben in Haiti (mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Instituts für Katastrophenmedizin)
Dabei ist die erste Phase in der Regel immer eine Mangelphase. Es gibt zu viele Verletzte auf zu wenig Helfer und zu wenig Material. Das heißt, es kann zu diesem Zeitpunkt nur auf die vorhandene Ressource zurückgegriffen werden, bis hoffentlich zeitnah weitere Unterstützung mit weiterem Material eintrifft. Letztendlich hilft in dieser Situation nur ein ruhiges und besonnenes Vorgehen mit hoher Improvisationsfähigkeit.
Gerade dieses Verhältnis, Patienten zu Helfer & Ressource, bestimmt während der ganzen Zeit unser Vorgehen und hat den größten Einfluss auf das Outcome. Lebensgefährlich verletzte Patienten können regelhaft vor Ort
nicht endgültig versorgt werden und benötigen eine weitere Behandlung in einer höherwertigen medizinischen Einrichtung. In unserem westlichen Denken ist dies regelhaft ein Krankenhaus, dies muss aber in anderen Ländern und unter anderen Begebenheiten nicht immer so sein. Es kann eventuell der dortige, nennen wir ihn mal „Hausarzt“, die höherwertige medizinische Versorgung darstellen, wenn dies dort außerhalb von Katastrophen so üblich ist und erfolgreich praktiziert wurde. Der Faktor Zeit spielt ebenfalls eine große Rolle. Sind es am Anfang die Verletzungen, welche in der Regel durch Verbluten den imitierenden Faktor darstellen, werden es im weiteren zeitlichen Verlauf die medizinischen Komplikationen, wie Infektionen oder sekundäre Organfehlfunktionen, welche das Outcome bestimmen. Externe Faktoren sind zudem die Versorgung mit Trinkwasser und Lebensmitteln sowie die örtlichen Begebenheiten, wie zum Beispiel die Entwicklung von Seuchen. Im weiteren zeitlichen Verlauf wird immer mehr Hilfe eintreffen und auch die Möglichkeit von mobilen Einrichtungen wird sich erhöhen. Dies reicht vom Rettungswagen über Berge- und Sanitätspanzer, bis hin zu mobilen Sanitätscontainern und kompletten medizinischen Einrichtungen auf Zeltoder Containerbasis, inklusive mobiler Stromerzeugung und Möglichkeiten der Wasseraufbereitung. Damit werden die Möglichkeiten geschaffen, die notwendigste Infrastruktur wiederherzustellen. Es darf nicht vergessen werden, dass eine solche Situation für die Helfer eine Extremsituation mit hoher physischer und psychischer Belastung darstellt und eine Nachbesprechung zwingend notwendig ist. Oftmals ist auch psychologische Betreuung und Aufarbeitung des Erlebten sinnvoll. Mittlerweile gibt es im Hinblick auf die psychische Belastung in solchen Einsätzen mehrere Ansätze, bereits in der jeweiligen Situation, das Erlebte besser verarbeiten zu können, um einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) bereits im Vorfeld entgegenzuwirken (zum Beispiel „Psychische Erste Hilfe“ im Sinne des „Six C’s model“).
6.4
Zusammenfassung
Die katastrophenmedizinische Versorgung bei zerstörter Infrastruktur nach Katastrophen stellt uns vor eine nahezu unlösbare Aufgabe. Gemäß Sichtung, cABCDE und „treat first, what kills first“ kann gemäß dem utilitaristischen Prinzip („do the best for the most“) das bestmögliche Ergebnis für das Gesamtkollektiv der Geschädigten erreicht werden. Wesentliche Einflussfaktoren sind das Ausmaß der Katastrophe, die Örtlichkeit, bisherige Strukturen in diesem Land/Gebiet und nach infrastruktureller Zerstörung noch bestehende Strukturen wie Transportmöglichkeiten und das Vorhandensein höherwertiger medizinischer Einrichtungen. Im zeitlichen Verlauf sind es initial das Ausmaß der Verletzung, dann sekundäre Organfehlfunktionen, Infektion, die weitere Versorgung mit Trinkwasser und Lebensmitteln sowie die Entwicklung von Seuchen, welche das Outcome bestimmen. Eine hohe Improvisationsfähigkeit ist notwendig, um mit den vorhandenen Ressourcen bestmöglich den Zeitraum bis zur weiteren medizinischen Versorgung zu überbrücken. Dabei muss die Planung des weiteren Vorgehens immer auf die in dem jeweiligen Land bisher vorhandenen Strukturen und medizinischen Versorgungsmöglichkeiten angepasst sein. Im weiteren zeitlichen Verlauf wird mittels mobiler Lösungen (auf zum Beispiel Zelt- oder Containerbasis) die notwendigste Infrastruktur zur medizinischen Versorgung, Energieversorgung und Trinkwassergewinnung aufgebaut. Es darf nicht vergessen werden, dass die physische und psychische Belastung der Helfer in einem solchen Szenario extrem ist, die Geschädigten nicht alle gerettet werden können, eine Nachbesprechung zwingend notwendig ist und auch eine psychologische Betreuung und Aufarbeitung des Erlebten im Nachgang sinnvoll sein kann.
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CASE REPORT: Die Ahrtal-Katastrophe am 14. Juli 2021
Martin Schiffarth
Erfahrungsbasiertes Wissen vor der Katastrophe Das Ahr-Hochwasser 2016, die Ahr-Katastrophen 1910 und 1804 Großflächiger Starkregen im Ahr-Einzugsgebiet bei bereits bestehender hoher Bodenfeuchte führte zu schnellem Pegelanstieg beim Hochwasser 2016 (Abfluss 236 m3/s). Vorerfahrungen der Einsatzkräfte zu vergleichbaren Dimensionen fehlten zu diesem Zeitpunkt, was mich als Leitender Notarzt seinerzeit dazu veranlasste auch in historischen Quellen nach vergleichbaren oder extremeren Ereignissen zu suchen (Schiffarth et al. 2019). Im Jahr 2016 lag der Schwerpunkt der Menschenrettung im Bereich von Campingplätzen (geringe Resilienz der Unterkünfte) im mittleren Ahrverlauf, bei bestehender überwiegend terrestrischer Erreichbarkeit mit Einsatzfahrzeugen (s. Abb. 2) sowie mit einer mehrstündigen Vorlaufzeit für die Abschnittsleitung Gesundheit, was ein ausreichendes Zeitfenster für den Einflug von Winden-Hubschraubern unter Sichtflug-Bedingungen am Folgetag des Ereignisses ermöglichte. Es wurden insgesamt 36 WindenOperationen (n = 42 Menschenrettungen) durchgeführt. Niemand kam zu Tode.
Abb. 1
Magnituden gegenwärtiger und historischer Ahr-Hochwasser und AhrKatastrophen im Vergleich (Martin Schiffarth)
Abb. 2
Rettung von zwei Personen aus umspülter LKW-Kabine mittels Frontlader beim Ahr-Hochwasser 2016; Ortslage Müsch (Foto: Martin Schiffarth)
Der Impact eines Sturzflut-Ereignisses steht in Zusammenhang mit der Magnitude. Evidenz für die besondere Gefährdung von Unterkünften mit geringem Widerstand (geringe Resilienz) gegenüber Flutgefahren findet sich auch im Jahr 1910.
Nach wochenlangem Regen sowie einem Wolkenbruch im AhrEinzugsgebiet stieg der Ahrpegel „in kurzer Zeit“ und „wie eine Springflut“ (Scherer 1911) an. Im Jahr 1910 (Abfluss 500 m3/s) starben 52 Menschen, welche sich in Kantinen in Ahrufernähe befanden (Exposition). Die Opfer fanden sich fast ausschließlich unter am Vortag angereisten Bahnarbeitern aus dem Ausland (Vulnerabilität). In retrospektiver Betrachtung überstieg die Magnitude des extremen Hochwassers 2021 (Abfluss ca. 1.120 m3/s) (Roggenkamp u. Herget 2022) das erlebte Ereignis von 2016 um den Faktor 5 (s. Abb. 1.), das Ereignis von 1910 um den Faktor 2 und findet am ehesten Entsprechung in der AhrKatastrophe des Jahres 1804 (Abfluss 1.210 m3/s) (Roggenkamp u. Herget 2014), in der die Abflussdimension rekonstruiert wurde und der Impact in einem historischen Katastrophenbericht (Frick 1955) niedergeschrieben ist. Wir können Fehler machen, wenn wir aktuelles Erleben mit Erlebtem verbgleichen. Wir nehmen an, das Problem ist gleich, jedoch wird dieses übertroffen (Hearns 2019). Die Magnitude und der Impact des erlebten Hochwassers 2016 wurde um ein vielfaches übertroffen.
Die Ahrtal-Katastrophe am 14. Juli 2021 – Fallbericht mit Handlungsempfehlungen Fünf Jahre lagen zwischen der erlebten „Jahrhundertflut 2016“ und den Erfahrungen der Ahr-Katastrophe im Jahr 2021. Am 14. und 15. Juli 2021 wurde das Ahrtal im Landkreis Ahrweiler (Rheinland-Pfalz, Deutschland) von einer Sturzflut katastrophalen Ausmaßes betroffen. 134 Menschen wurden getötet, zwei Personen gelten weiterhin als vermisst und mehr als 750 Menschen wurden verletzt. Zu den Spitzenzeiten der akuten Katastrophenbewältigung waren mehr als 5.000 Einsatzkräfte im Katastrophengebiet tätig (s. Abb. 3).
Abb. 3
Improvisierter Transport einer evakuierten Person (Foto: Florian Weidenbach)
Abschnittsleitung Gesundheit im Kreis Ahrweiler Die Leitende Notarztgruppe des Landkreises Ahrweiler setzt sich im Rahmen einer Zufallsbereitschaft aus insgesamt sechs Leitenden Notärzt:innen (LNA) zusammen. Durch die Katastrophe waren drei der sechs LNA durch direkte (Überflutung Wohnhaus) oder indirekte Betroffenheit (Verlust Praxis, Überflutung Klinik) zunächst nicht einsatzfähig. Ein LNA befand sich im Auslandsurlaub. Zwei Leitende Notärzte übernahmen in zunächst zwei Einsatzabschnitten (obere bis mittlere Ahr/mittlere bis untere Ahr) in jeweils zwei autark agierenden Abschnittsleitungen Gesundheit die medizinische Leitung am Abend des 14. Juli 2021.
Reaktion erste Phase: „Tod verhindern“ Mein Einsatz als LNA erfolgte am 14. Juli 2021 um 19:15 Uhr auf Anforderung der Feuerwehr Adenau – ohne mehrstündige Vorlaufzeit, in weiten Teilen ohne terrestrische Erreichbarkeit zur Lagebilderstellung. Auf Anfahrt zur Feuerwehreinsatzzentrale (FEZ) waren einzelne Straßen
überflutet, einige Fahrzeuge standen bereits funktionsunfähig am Straßenrand. Wie sich rückblickend herausstellte waren Messpegel zu diesem Zeitpunkt bereits überschritten oder zerstört. Die Feuerwehreinsatzkräfte der Verbandsgemeinde waren zum Zeitpunkt der ersten Lagebesprechung gegen 19:50 Uhr seit einigen Stunden im Einsatz und mit der Rettung zahlreicher Personen auf Campingplätzen im Bereich der oberen Ahr befasst. Über ein Ahr-Hochwasser bestand kein Zweifel mehr, unklar blieb die zu erwartende Magnitude. Die Notwendigkeit der Einbindung der Luftrettung mit Rettungswinde wurde antizipiert: um 20:19 Uhr war ein erster Bereitstellungsraum in Adenau eingerichtet. Eine Führungsunterstützung und Einsatzleitwagen (ELW) stand nicht zur Verfügung, sodass zunächst auf einen Gruppenführer einer nahegelegenen SEG, als Unterstützung für den OrgL und LNA zurückgegriffen wurde. Informations- und Ressourcenmangel sind Leitsymptom einer Katastrophe.
Situation in der Nacht des 14. Juli und Morgen des 15. Juli 2021 Versuch einer terrestrischen Erkundung/Einordnung in den Ereignisablauf Erste Hinweise auf einen fallenden Abfluss erlaubten eine Einordnung in den Ereignisablauf und konnten um 01:35 Uhr in der Ortslage Schuld anhand einer Hochwassermarke und bereits darunter liegendem Wasserstand an einer Hauswand in Ortsmitte wahrgenommen werden (s. Abb. 4).
Abb. 4
Einordnung als LNA in den Ereignisablauf (Fotos: Martin Schiffarth)
Der Versuch einer terrestrischen Lageerkundung gegen 02:00 Uhr in weiter Ahr-abwärts gelegene Ortslagen wurde durch weitere Teilprozesse der Gefährdung deutlich erschwert: Mehrere Erdrutsche auf einer Bundesstraße mit teils starkem, querverlaufendem Hangabfluss konnten überquert werden, in der Ortslage Dümpelfeld befand sich ein LKW mit durch einen entwurzelten Baum zertrümmerter Kabine und ein sich darüber ergießender Hangabfluss ohne Person im Fahrzeug. Cognitive overload bedeutet, dass die Kapazität unseres Arbeitsgedächtnis überschritten ist. Cognitive refraiming umschreibt eine Methode zur „Kalibrierung“ unserer Einschätzung einer Situation. Ziel der Methode ist es, zu einer möglichst rationalen Bewertung der Situation zu kommen.
In extremen Situationen können wir in einen Zustand des cognitive overload kommen, bestenfalls wird die Situation bewusst reflektiert, um im Ergebnis eine möglichst rationale Bewertung der Situation vorzunehmen, sodass ein cognitive refraiming möglich ist (Hearns 2019). Im Ergebnis führten diese Impressionen zum Abbruch der Lageerkundung aufgrund der nunmehr erkannten fehlenden Verhältnissicherheit. Die richtigen Mittel zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind Merkmale des Führungsvorganges und zur Gefahrenabwehr notwendig. Die Notwendigkeit der Sichtung und Menschenrettung mittels Winde wurde als höchste Priorität eingestuft, wenngleich die Anforderung nachts ohne Erfolg blieb, was in den Morgenstunden zunächst durch eine Vielzahl von
Hubschraubern autark durchgeführt wurde bevor ein erstes eigenes Lagebild, nach Aufnahme durch einen SAR-Hubschrauber der Bundeswehr, erstellt werden konnte (s. Abb. 5).
Abb. 5
Erfassung eines orientierenden Lagebildes, zerstörte Häuser als Beispiel für den Impact einer Sturzflut (Foto: Martin Schiffarth)
Abschätzung der Magnitude und des Impacts Gegen 10:08 Uhr erfolgte ein erster Erkundungsflug über Teile des Einsatzabschnittes obere bis mittlere Ahr. Im Ergebnis wurde zunächst eine prozentuale Einschätzung der Zerstörung verschiedener Ortsgemeinden vorgenommen sowie die Zerstörung der Infrastruktur, in Teilen der kritischen Infrastruktur, Brücken und der Verkehrswege registriert. Hilfreich war der persönliche Soll-Ist-Vergleich durch die regionalen Kenntnisse und meine zurückliegende Tätigkeit in der regionalen Energie- und Wasserversorgung. Erste Fernsehbilder der Zerstörung am Morgen des 15. Juli und ein erstes eigenes Lagebild aus der Luft ließen vermuten, dass die Dimension eher einen Vergleich in historischen Ahrfluten findet. Aus persönlicher Kenntnis historischer Katastrophenberichte entstand nun ein erstes Bild der zu erwartenden Herausforderungen und ein erstes Bild der zurückliegenden Magnitude und des Impacts.
Analytical processing Unbekannte, ungewohnte oder komplexe Herausforderungen beeinflussen unsere Fähigkeit zur analytischen Aufgabenlösung (Hearns 2019). Hilfreich zur Entscheidungsfindung ist das Zusammentragen der Informationen anhand des Akronyms FOR-DEC (Facts, Options, Risk & Benefits – Decision, Execution, Check).
Auf den Punkt gebracht Zu den zentralen Aufgaben und Herausforderungen der ersten Minuten und Stunden nach Einsatzbeginn gehörte der Versuch der persönlichen Einordnung in den Ereignisablauf – was erst in den frühen Morgenstunden des 15. Juli ansatzweise gelang. Eine Abschätzung der zu erwartenden Magnitude war nicht möglich. Eine situation awareness war nur bedingt zu entwickeln, die Notwendigkeit von Luftrettungsmitteln mit Rettungswinde erkannt und angefordert. Die notfallmedizinischen Herausforderungen der ersten Stunden lassen sich unter Rettungs- und Notfallmedizin sowie Search & Rescue subsumieren. In die Phase von überwiegend bewusster, analytischer Entscheidungsfindung konnte erst nach Erfassung eines ersten Lagebildes auf Sicht eingetreten werden, die historische Magnitude danach rasch antizipiert werden. Die zu erwartenden Aufgaben nach einem rapidonset disaster bestimmten das Aufgabenfeld der nächsten Tage und Wochen: „Leid mindern“ wurde als Aufgabe der nachfolgenden Tage erkannt.
Reaktion zweite Phase: „Leid mindern“ Situation 15. bis 26. Juli 2022 Zu den zentralen Aufgaben und Herausforderungen der ersten Tage nach der Katastrophe gehörte die initiale und dann kontinuierliche Lagebilderfassung verbunden mit einer ersten Schadens- und Bedarfsprognose (damage & needs assessment), die Identifikation von besonders vulnerablen Gruppen und die Etablierung einer durchhaltefähigen Führungsstruktur und Hilfsgüter-Logistik. Weitere Herausforderungen waren die Einsatzkräfteabsicherung, Sicherstellung des
Regelrettungsdienstes und das Antizipieren drohender weiterer Gefahren. Die medizinischen Herausforderungen ließen sich unter Katastrophen-, Notfall- und Allgemeinmedizin als herausforderndes „breites Spektrum“ subsumieren. Schadens- und Bedarfsprognose Durch die Zerstörung von Versorgungsleitungen für Energie, Trink- und Abwasser, sowie zahlreicher Klärwerke, in der luftgebundenen Lageerkundung erkennbar freigespülter Friedhöfe und in der Ahr treibender Särge neben Tierkadavern, sowie einer nicht zu bestimmenden Anzahl von möglichen Toten im Fluss, musste aus infektiologischer Sicht zunächst von einem „Worst Case Szenario“ ausgegangen werden. Kliniken im Umfeld wurden aufgefordert die Bevorratung an Antibiotika und Infusionen zu erhöhen, Einsatzkräfte hinsichtlich persönlicher Verhaltensregeln informiert. Mobile Toiletten und die Trinkwasserversorgung wurden zunächst über den benachbarten Nürburgring organisiert – die erprobte Veranstaltungslogistik erwies sich als sehr hilfreich. Aufgrund der Pandemie wurden kurzfristig aus benachbarten Landkreisen Impfbusse für die eigenen Einsatzkräfte angefordert. Infektionsprävention:
Mit dem Verlust des eigenen Hauses, der Zerstörung von Arztpraxen und Apotheken entstand ein weiterer Engpass: Die Beschaffung und Zuordnung von Medikamenten. Diese wurde zu Beginn über ortsansässige, funktionsfähige Apotheken sichergestellt, am 15. Juli ein Apotheken-Rufdienst eingerichtet, Ortslagen nach Zusammenstellung der Medikamente per Hubschrauber beliefert, die ortsnahe Klinik um Herausgabe und Vorhalteerhöhung bemüht, später ein Apotheker in die örtlichen Stabstrukturen integriert. Medikamentenversorgung:
Medikamente waren Mangelware/Erhöhung der Vorhaltung in Kliniken Als sehr schwierig stellte sich die Vorhalteerhöhung eines breiten medikamentösen Spektrums einer Klinikambulanz dar: In der Regel werden nur einzelne Gebinde nachbestellt – die Vorhalteerhöhung im Sinne einer Verdreifachung oder eines vielfachen der vorgehaltenen
Menge ist üblicherweise nicht vorgesehen. Werden nicht frühzeitig erforderliche Medikamente bereitgestellt, stellt sich innerhalb weniger Tage und Stunden sekundär ein breites Portfolio an medizinischen Problemen ein, von Hypertonus über Hyperglykämie bis hin zum Delir.
Schwangere, pflegebedürftige Personen und Kleinkinder kleiner zwei Jahren wurden als besonders vulnerable Gruppe identifiziert. Durch die funktionsfähige Struktur des Einwohnermeldeamtes und die unmittelbare Integration von Mitarbeitern der lokalen Verbandsgemeindeverwaltung in den Verwaltungsstab konnten 54 Kinder kleiner zwei Jahre identifiziert und mit alterstypischem Bedarf an Nahrung und Hygieneartikeln versorgt werden (s. Abb. 6). In den ersten Tagen nach der Katastrophe war im erreichbaren Umfeld keine pädiatrische Fachpraxis verfügbar, sodass kurzerhand Räumlichkeiten der lokalen Klinik in eine pädiatrische Praxis umfunktioniert wurden. Identifikation vulnerabler Gruppen:
Abb. 6
Nutzung eines Bergesacks zum Transport von Nahrung für Kleinkinder (Foto: Martin Schiffarth)
Beim Identifizieren von Schwangeren in verschiedenen Ortslagen konnte eine ansässige, funktionsfähige gynäkologische Praxis unterstützen. So wurden ca. 100 Schwangere im letzten Trimenon ausgemacht. Eine SectioInstrumentarium durch die Praxis für Notfälle vorbereitet.
Äußerst schwierig gestaltete sich die Identifikation von pflegebedürftigen Personen. Ambulante Pflegedienste waren selbst von den Folgen der Flut betroffen. Ein großer Teil dieser Personengruppe wurde in nahegelegen Hotels am Nürburgring untergebracht sowohl pflegerisch als auch ärztlich betreut, dem steigenden Bedarf an PSNV-Kräften Rechnung getragen. Ein zwölftägiger Einsatz als LNA war nur möglich, da sich nach wenigen Tagen abzeichnete, dass ein Großteil der Aufgaben tagsüber zu erledigen war und nachts sowohl bei Helfern als auch Betroffenen Erschöpfung und wahrnehmbare Ruhe eintrat. Zur Sicherstellung der Durchhaltefähigkeit unserer ALG wurde zunächst nach einem für notwendig erachteten Anforderungsprofil weitere Ärzt:innen gesucht, welche nach eintägiger Begleitung des im Dienst befindlichen LNA und Lageerkundung mittels Hubschrauber am Tag des Dienstbeginns für zwei bis drei Tage durchgängig die Funktion wahrnehmen konnten. Führung und Logistik etablieren:
Anforderungsprofil nachrückender kommissarischer Leitender Notärzt:innen und führungsunterstützende Ärzt:innen mehrjährige Luftrettungstätigkeit/versiert im Umgang mit Hubschraubern gute regionale Ortskenntnis (boden- und luftgebunden) Qualifikation als LNA persönliche Bekanntheit
Weitere Herausforderungen Einsatzkräfteabsicherung (Unfälle wie Abstürze, Verschüttung, Stromschläge, Knochenbrüche, Verkehrsunfälle, Infektionsschutz, PSNV) Sicherstellung des Regelrettungsdienstes (erfolgte überwiegend durch Luftrettung) antizipieren drohender weiterer Gefahren (zahlreiche Sprengmittelfunde im Ahrbett, potenzielle Infektionslage, Notwendigkeit der Landeplatzerkundung bei Meldung über erneuten Starkregen)
Die Rolle der Luftrettung mit Rettungswinde Rapid-onset disaster nach Sturzfluten und damit verbundene Teilgefährdungsprozesse sind durch eine kurze Vorwarnzeit, eine hohe Prozessgeschwindigkeit und kurze Prozessdauer gekennzeichnet. Die Zeitfenster (Minuten bis Stunden) zur Personenrettung aus dem unmittelbaren Gefahrenbereich sind damit limitiert und zusätzlich durch Unwetterlagen erschwert. Der Einsatz der Luftrettung begann in den Abendstunden des 14. Juli. Zu diesem Zeitpunkt konnten keine Menschenrettungen durchgeführt werden auch mangels der Verfügbarkeit einer Rettungswinde und der wetterbedingten Einschränkungen. Dennoch waren das erste Lagebild, die Einordnung in den Ereignisablauf, die damit verbundene Handlungsoption, die dezidierte Nachforderung und der Aufbau der Logistikketten für Rettungshubschrauber mit Winde essenziell – vergleichbar den Aufgaben eines ersteintreffenden Rettungsmittels beim MANV. Aus der Perspektive der Luftrettung standen in der ersten Phase (Stunden) die Personenrettung aus dem Gefahrenbereich im Fokus (von Hausdächern, aus Bäumen, aus Zwangslagen), Sichtung und Primärversorgung definierten die zweiten Phase (Tage) und in der dritten Phase (Wochen) erfolgte die Sicherstellung des Regelrettungsdienstes aus der Luft. Wesentliche Crew-Faktoren zur Einsatzbewältigung eingespielte persönlich bekannte Teams/Vermeidung von adhocTeam-Konstellationen möglichst hoher case load mit komplexen Situationen im Routinebetrieb cross professional competence hohe Kompetenz in non-technical skills (CRM skills)
Zusammenarbeit mit der Abschnittsleitung Gesundheit Aus der Perspektive der ALG hat die kontinuierliche Lagebilderfassung und Rückmeldung in Zusammenarbeit mit der Luftrettung für eine anhaltende situation awareness der ALG gesorgt. Konkrete Fragestellungen zum
medizinischen Versorgungsbedarf oder der Bedarfsprognose für vulnerable Bevölkerungsgruppen konnte durch die medizinischen Crews dezidiert ermittelt und übermittelt werden, darüber hinaus konnten Aufträge zu Primär- und Versorgungseinsätzen u.a. mit der Rettungswinde absolviert werden. Das luftrettungstypische Anforderungsprofil der nachrückenden bodengebundenen LNA war der Zusammenarbeit in Bezug auf das Einsatzkonzept und das gemeinsames Bild der Lage dienlich. Auf den Punkt gebracht Für Crews von Luftrettungsmitteln ist der Interaktionsraum Mensch – Maschine – Umwelt ergänzt um die Medizin zunächst einmal ein vertrautes Arbeitsumfeld. Im Kontext großflächiger Katastrophen erfährt dieser Interaktionsraum jedoch für alle Einsatzkräfte weitere Limitationen: die Interaktion mit der Umwelt wird zur direkten Interaktion mit Naturgefahren, Medizin wird um das breite Spektrum der Katastrophenmedizin erweitert, die physischen und psychischen Extremsituationen stellen die Einsatzkraft vor komplexe und unbekannte Entscheidungssituationen, sodass der persönlichen Verhaltenssicherheit vor, in und nach einer Katastrophe zentrale Bedeutung zukommt. Besonders dann, wenn Verhaltenssicherheit nur bedingt gegeben sein kann.
Literatur Frick H (1955) Das Hochwasser von 1804 im Kreise Ahrweiler. Heimatjahrbuch des Kreises Ahrweiler 1955. 43–51 Hearns S (2019) Peak performance under pressure. Class professional publishing Roggenkamp T, Herget J (2022) Projektbericht: Hochwasser der Ahr im Juli 2021 – Abflussabschätzung und Einordnung. Hydrologische Notizen Projektberichte – Workshops – Konferenzen, HW 66. H.1 Roggenkamp T, Herget J (2014) Reconstructing peak discharges of historic floods of the river Ahr, Germany. Erdkunde 68, 49–59. URL: https://www.erdkunde.unibonn.de/archive/2014/reconstructing-peak-discharges-of-historic-floods-of-the-river-ahrgermany (abgerufen am 22.02.2023) Scherer (1911) Bericht über die Hochwasserkatastrophe im Kreise Adenau vom 12./13. Juni 1910, Beilage zum Verwaltungsbericht des Kreises Adenau für das Jahr 1910 Schiffarth M, Link A, Lepping T, Backes L (2019) Starkregen, Überschwemmung, Sturzflut & Erdrutsch: Nutze Historische Informationen! CRM-Basierte Einsatzanalyse des Jahrhunderthochwasser im Ahrtal 2016. Anästhesiologie & Intensivmedizin, Aktiv Druck & Verlag GmbH, Supplement (DINK 2019)
7
Herausforderungen bei der akutmedizinischen Erstversorgung im Erdbebengebiet
Michael Winter
7.1
Einführung
Pro Jahr werden global über eine Millionen Erdbeben gemessen. Der Großteil verläuft für den Menschen unbemerkt. Ab 6,0 Magnituden auf der Richter Skala spricht man von einem schweren Erdbeben. Liegt das Epizentrum eines solch schweren Bebens in der Nähe einer bevölkerungsreichen Region, dann gehört es zu den verheerendsten Naturkatastrophen. Auch schwere Erdbeben treten in der Regel ohne Vorwarnung auf. Viele der bevölkerungsreichsten Städte der Welt liegen an den Bruchlinien von Erdplatten. Durch die voranschreitende globale Urbanisierung sind dadurch zunehmend immer mehr Menschen der Gefahr von schweren Erdbeben ausgesetzt. Ein Beispiel ist der sog. „ring of fire“ mit den Megacities Tokyo, Mexiko-City, Jakarta, Los Angeles etc. (s. Abb. 1).
Abb. 1
„Ring of fire“ mit den Mega-Metropolen: u.a. Tokyo, Jakarta, Los Angeles, Mexiko City (Wissensplattform eskp.de, CC BY 4.0, https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/)
Ganz besonders in Low- und Middle-Income countries haben diese bevölkerungsreichen städtischen Gebiete oft schlechte InfrastrukturStandards. Aus Mangel an staatlicher Kontrolle sind viele Gebäude nicht erdbebensicher gebaut. Erdbeben führen deshalb dort oft zu hohen Todesraten und zu einer hohen Anzahl an Verletzten. Während es bei Überschwemmungen und Tsunamis zu vielen Toten durch Ertrinken kommt, haben Erdbeben durch ein- und umstürzende Gebäude viele Verletze zur Folge (Ratio Tote zu Verletzten ca. 1:3). Schon allein durch die Menge der zu versorgenden Verletzten, die innerhalb eines Bebens plötzlich anfallen, wäre jedes intakte Gesundheitssystem völlig überfordert. So gab es beispielsweise beim Erdbeben in Haiti 2010 mit dem Epizentrum nahe der Hauptstadt Port-au-Prince ca. 220.000 Verletzte, die einer medizinischen Behandlung bedurften. Durch die Zerstörung der medizinischen Einrichtungen, wie z.B. den Krankenhäusern, aber auch von Straßen und Brücken sowie der Unterbrechung medizinischer Versorgungsketten wird die medizinische Versorgung der Bevölkerung zusätzlich massiv erschwert.
7.1.1 Golden hour of shock Baker et al. beschrieben 1980 eine Dreigipfeligkeit der Todesfolge nach Trauma (s. Tab. 1), wobei diese Einteilung nicht gänzlich unstrittig ist. Aber gerade in Ländern mit limitierten medizinischen Ressourcen ließ sich diese Verteilung nochmals bestätigen. Tab. 1
Dreigipfelige Todesfolge nach Trauma (nach Baker et al. 1980)
Todeszeitpunkt Todesursache unmittelbar
Tod innerhalb von Sekunden und Minuten nach dem Unfall. Z.B. durch Verletzung der Aorta, Herz, Hirnstamm/Rückenmark oder akuter Atemnot.
früh
Tod innerhalb von Stunden. Z.B. durch Blutung, Hämato-/Pneumothorax, Epi-/Subduralblutung.
spät
Tod nach Tagen oder Wochen. Z.B. durch Sepsis oder Multi-OrganVersagen.
Es gibt die unmittelbaren Todesfälle durch schwere Schädelhirntraumata, Herz- oder Aortaverletzungen. Diese sind auch außerhalb eines Erdbebenszenarios in der Regel nicht rechtzeitig behandelbar. Dann gibt es Verletzte, die innerhalb der ersten Stunde bis zu mehreren Stunden nach dem Trauma (Erdbeben) sterben. Beispiele für solche Verletzungen sind Subduralblutungen, Hämato- und Pneumothoraces, Abdominalblutungen und Beckenfrakturen. Die Erfahrung hat gezeigt, dass die Sterblichkeit für diese Patientengruppe stark reduziert werden kann, wenn diese rechtzeitig behandelt werden. Deshalb spricht man hier von der golden hour of shock. Bei einem Massenanfall von Verletzten (MANV) mit vielen tausend Verletzten und den schon beschriebenen eingeschränkten Versorgungsmöglichkeiten ist diese golden hour of shock nur bei wenigen einzelnen Verletzen einzuhalten. Der Großteil dieser Verletzten kann nicht rechtzeitig und nicht adäquat behandelt werden und verstirbt an diesen sonst zu therapierenden Verletzungen. Erfahrungsgemäß erhält die Mehrzahl der Verletzten in der
Regel erst nach drei bis fünf Tagen nach dem Erdbeben eine erste adäquate medizinische Versorgung. Und schließlich gibt es einen dritten Todesgipfel, der Tage bis Wochen nach dem Trauma (Erdbeben) auftritt und unter anderem Sepsis, Multiorganversagen und disseminierte intravaskuläre Gerinnung (DIC) umfasst. Dieser Todesgipfel ist durch schnelle medizinische Hilfe und der damit verbundenen Vermeidung von posttraumatischen Komplikationen am meisten zu beeinflussen. Darüber hinaus können auch viele Tage nach einem Erdbeben nicht- bzw. geringverletzte Verschüttete durch spezialisierte Bergungstrupps, z.B. mit der Hilfe von Suchhunden, befreit werden. Der menschliche Körper kann ohne Nahrung mehr als drei Wochen überleben, ohne Wasser jedoch nur drei bis sieben Tage, je nach Klima und anderen Bedingungen.
Die Überlebenden präsentieren überwiegend Verletzungen der Extremitäten mit offenen oder geschlossenen Frakturen sowie großen Weichteilschäden. Da es in der Regel zu einer zeitverzögerten Behandlung kommt, ist ein Großteil der kontaminierten Wunden bereits infiziert. In Ländern des globalen Südens mit einer Bevölkerungsstruktur im Sinne einer klassischen Alterspyramide stellten Kinder einen Großteil der Patienten dar. Diese Gruppe bedarf einer zügigen medizinischen Versorgung, um Folgekomplikationen, wie beispielsweise einer Sepsis aber auch einer schweren Invalidität vorzubeugen. Ein weiteres Ziel des schnellen medizinischen Einsatzes ist die Wiederherstellung bzw. Fortführung der medizinischen Grundversorgung der Bevölkerung, unabhängig von den Erdbeben bedingten Verletzungsfolgen. Da wäre beispielsweise die Geburtsmedizin mit ihren akuten Behandlungsbedarfen, insbesondre in den Ländern mit einer hohen Geburtenrate, aber auch die Versorgung chronischer Erkrankungen wie Diabetes und Asthma zu erwähnen.
7.1.2 Logistik
Um schnellstmöglich im Katastrophengebiet zu sein, haben medizinische Nothilfeorganisationen, wie beispielsweise „Ärzte ohne Grenzen“ für verschiedene Katastrophen speziell zusammengestellte KITS bereitgestellt. Diese Notfall-Kits lagern in strategisch ausgewählten, global verteilten Logistikzentren, sind fertig abgepackt und vom Zoll bereits abgefertigt. Dadurch können diese innerhalb kürzester Zeit überall auf der Welt zum Einsatz gebracht werden. In einem Erdbebenszenario werden u.a. chirurgische KITS eingesetzt. Diese beinhalten beispielsweise Zelte, Krankenbetten, einen OP-Tisch, die wesentlichen chirurgischen Instrumente, eine Kesselsterilisation, Verbandsmaterialien, Schmerz- und Narkosemedikamente, Pulsoxymeter usw. Zusätzlich werden abhängig von der Situation vor Ort KITS zur Wasseraufbereitung, Zelte, Nahrungsmittel usw. verschickt. Diese werden dann nach den ersten Evaluationen nachbestellt und konkretisiert.
7.2
Medizinische und chirurgische Komplikationen von Erdbeben
7.2.1 Bewegungsapparat Wie bereits erwähnt präsentiert der Großteil der überlebenden Patienten muskuloskelettale Verletzungen. Der Großteil sind Wunden, Frakturen und Quetschungen/Verstauchungen. Ca. 70% betreffen dabei die unteren Extremitäten. Es ist nur zu vermuten, dass Patienten mit Verletzungen der oberen Extremitäten häufig auch kombinierte Verletzungen des Thorax oder des Schädels aufweisen und somit frühzeitig versterben. Ein Großteil der (Extremitäten-)Wunden sind bei Erstbehandlung bereits infiziert. Die Prävalenzen offener Frakturen schwanken zwischen ca. 10% und 54%. Mehrfachfrakturen werden bei 36% der Frakturpatienten beschrieben und 6% der Frakturen werden durch neurovaskuläre Verletzungen kompliziert. Bei einem Massenanfall von Verletzten (MANV) mit vielen tausend Verletzten und limitierten Ressourcen ändert sich das Ziel der Triage. Die Individualmedizin mit ihrem Anspruch, für jeden einzelnen Patienten das beste Ergebnis zu erzielen, muss der Ratio zum Wohl der Masse weichen.
Es gilt das Überleben möglichst vieler mit möglichst geringen Folgeschäden zu erreichen („do the best for the most“) (s. Abb. 2).
Abb. 2
„Do the best for the most“. Der Großteil der Überlebenden präsentiert Extremitätenverletzungen mit häufig bereits schwer infizierten Wunden. Die erste adäquate Behandlung findet oft erst 3–5 Tage nach dem Beben statt. (Foto: Michael Winter)
Daraus ergibt sich ein ethisches Dilemma. Unter Umständen muss man einzelnen schwerverletzten Patienten mit vermeintlich geringen Überlebenschancen, die notwendige Behandlung vorenthalten, um in der Zwischenzeit andere Patienten, mit besserer Prognose behandeln zu können. In der Praxis sind das belastende Entscheidungen. Die Bedingungen unter denen die Behandlungen während der ersten Tage durchgeführt werden, haben mit der modernen Medizin nur marginale Gemeinsamkeiten (s. Abb. 3). Folglich muss eine erfolgreiche Medizin den Bedingungen vor Ort angepasst werden. Schwer verletzte Gliedmaßen (crushed limbs), mit der Gefahr von unkontrollierbaren Infekten, müssen rechtzeitig amputiert werden. Patientenleben sollte man durch zu ehrgeizige Ziele des Gliedmassenerhalts bei eingeschränkten Überwachungsmöglichkeiten nicht gefährden.
Abb. 3
OP unter freiem Himmel bei zerstörten Krankenhäusern, regelmäßigen Nachbeben und initial noch fehlenden OP-Zelten. (Foto: Michael Winter)
Im Zweifel gilt dann der Grundsatz: „life before limb“. Diese Entscheidung fällt insbesondere bei Kindern in jedem Einzelfall schwer. Laut der WHO wurden nach dem Erdbeben in Haiti insgesamt über 4000 Major Amputationen durchgeführt. Das entspricht in etwa 1,3% aller Verletzten. Durch die über Tage verzögerte Erstbehandlung von kontaminierten Wunden, entwickeln sich große Weichteilinfektionen. Die notwendigen
Debridements haben in der Regel große Defekte zur Folge und machen im Verlauf Folgeeingriffe notwendig. Verbandswechsel, Nachresektionen, Deckungen mit Lappenplastiken und autologen Hautransplantationen machten einen großen Teil der chirurgischen Eingriffe aus. Second-LookFenster werden, wenn möglich, aufgrund der Menge der Patienten auf bis zu sieben Tage ausgedehnt. Frakturen müssen unter Umständen aufgrund des Mangels an Röntgengeräten in den ersten Tagen klinisch diagnostiziert, reponiert und im Gips immobilisiert werden. Bei in der Regel eingeschränkten hygienischen Bedingungen muss strikt auf interne Fixierungen verzichtet werden (primum non nocere). Ggf. können bei zweibis dreigradig offenen Frakturen externe Fixateure angelegt werden. Geschlossene Femurfrakturen wurden im Becken-Bein-Gips immobilisiert und nach Transfer in die Einrichtungen mit Krankenbetten durch PerkinsTraktionen ersetzt (s. Abb. 4). Im Grundsatz gilt eine iatrogene Osteomyelitis in jedem Fall zu vermeiden, auch in Betracht des Risikos einer möglichen Heilung in Fehlstellung oder resultierender Pseudarthrose.
Abb. 4
Geschlossene Frakturen werden primär konservativ behandelt. Femurschaft und hüftgelenksnahe Frakturen wurden im Becken-Bein-Gips oder in der PerkinsTraktion ruhiggestellt. (Foto: Michael Winter)
Wenn die medizinischen Versorgungsstrukturen wieder hergestellt sind, dann kann die komplexe rekonstruktive Versorgung der Erdbebenopfer erfolgen. Dazu gehören die Sanierung von Knocheninfekten, die Korrektur von Pseudarthrosen und grotesken Fehlstellungen, sowie die Prothesenversorgung von Amputierten.
7.2.2 Crush-Syndrom Durch das Einklemmen von Körperteilen unter Gebäude kommt es zu Quetschverletzungen (crush injury) und Kompartmentsyndromen (3–20%). Patienten mit Quetschverletzungen haben eine höhere Inzidenz von Nierenversagen (Crush Niere), Sepsis, DIC, ARDS und Tod. Zum akuten Nierenversagen tragen unzureichende Nierenperfusion und intratubuläre
Obstruktion durch Myoglobin und Harnsäure bei. Die daraus resultierende Hyperkaliämie, Azidose und hypovolämischer Schock sind die Haupttodesursachen für Patienten mit Quetschverletzungen in den ersten fünf Tagen nach dem Erdbeben. Deshalb wird die Verwendung von Urinteststreifen zur Überprüfung auf Myoglobin und subklinische Rhabdomyolyse bei der Triage von Erdbebenopfern empfohlen. Die frühzeitige und ausreichende Verabreichung von intravenösen Flüssigkeiten ist von entscheidender Bedeutung bei der Prävention und Behandlung der Crush-Niere, selbst wenn die Vitalfunktionen anfänglich noch normal sind. Eine Rehydrierung sollte eingeleitet werden, noch bevor der Patient aus den Trümmern befreit wird. Erfahrungsgemäß gibt es einen hohen Bedarf einer Hämodialyse-Behandlung. Diese sind üblicherweise nicht ausreichend vorhanden. Verschiedene Organisationen haben mobile Dialyse-Einsatz-Teams, um auf diesen Bedarf reagieren zu können. Erdbeben werden auch mit erhöhten Raten von Herzinfarkten, Schlaganfällen und Herzrhythmusstörungen in Verbindung gebracht. Entsprechende Symptome sollten in einem solchen Katastrophenszenario beachtet und mit den vorhandenen Mitteln möglichst adäquate Therapien eingeleitet werden.
7.2.3 Infektionskrankheit Die Erdbeben bedingte Unterbrechungen der Wasser- und Sanitärversorgung und die Überfüllung provisorischer Notunterkünfte mit der Konzentration von vielen Menschen auf engstem Raum haben das Potenzial für Epidemien von Atemwegs- und wasserbedingten Krankheiten, wie beispielsweise Cholera. Deshalb ist die Wiederher- und Bereitstellung von Wasser- und Sanitäreinrichtungen eine der wichtigsten Säulen der akuten Nothilfe im Einsatzgebiet. Abhängig von der Durchimpfung der Bevölkerung erhöhen die vielen zu spät behandelten kontaminierten Wunden das Risiko einer Tetanusinfektion. Deshalb ist es wichtig, Massenimpfkampagnen gegen Tetanus zu initiieren, wobei diejenigen mit Wunden priorisiert werden sollten. Kontaminierte Wunden sollen so schnell wie möglich chirurgisch saniert werden, um die Vermehrung von Clostridium tetani und die Bildung des Toxins in der Wunde zu vermeiden.
Insgesamt zeigen die Erfahrungen nach Erdbeben, dass Tetanus trotzdem eine eher seltene Komplikation ist, die jedoch unter den erschwerten Bedingungen schwer zu behandeln ist und dann häufig zum Tode führt. Die drohende Sepsis bei exazerbierten Infektionen der zum Teil großen unbehandelten Wunden kann in der Regel nur durch eine radikale chirurgische Therapie (Debridements, bis hin zur Amputation) verhindert werden. Abhängig von den Wunden, der systemischen Symptomatik, aber auch den Ressourcen und den Überwachungsmöglichkeiten ist selbstverständlich eine antibiotische Begleit-Therapie anzustreben, aber nicht immer möglich. Es gilt der Leitspruch „gute Chirurgie ist die beste Antibiose“.
7.2.4 Psychische Gesundheit Verschiedene Phasen der Katastrophe hängen mit unterschiedlichen psychischen Gesundheitsproblemen zusammen. Die erste Reaktion auf ein Erdbeben ist eine emotionale Erstarrung, Realitätsverlust und ein abnormes Zeitgefühl. Einige Tage nach dem Erdbeben folgen dieser Reaktion Angst, häufig getriggert durch regelmäßige Nachbeben. Viele Überlebende erfüllen die Kriterien für eine akute Belastungsstörung (ABR). Einige Wochen später setzen depressive Symptome, getriggert durch die eigene traumatische Erfahrung, den Verlust von Angehörigen, des häuslichen Umfelds usw., ein. Die Behandlung dieser auftretenden Gesundheitsprobleme sollte rechtzeitig im Rahmen des Katastropheneinsatzes mitgeplant werden.
Literatur Baker CC, Oppenheimer L, Stephens B, Lewis FR, Trunkey DD (1980) Epidemiology of trauma deaths. Am J Surg 140, 144–50. URL: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/7396078/ (abgerufen am 09.05.2023) Denu ZA, Yassin MO, Azale T, Biks GA, Gelaye KA (2021) Do deaths from road traffic injuries follow a classical trimodal pattern in North West Ethiopia? A hospital-based prospective cohort study. BMJ Open 11. URL: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/34930730/ (abgerufen am 19.06.2023)
Gueri M, Guerra ES, Gonzalez LE, Martinez NA, Olivares AV, Rosero E, Degoyet CD (1983) Health implications of the Tomaco earthquake, Colombia 1979. Disasters 7, 174– 179 Sarisözen B, Durak K (2003) Extremity injuries in children resulting from the 1999 Marmara earthquake. J Pediatr Orthop B 12, 288–291 Teeter SD (1996) Illnesses and injuries reported at disaster application centers following the 1994 Northridge earthquake. Milit Med J 161, 526–530 U.S. AID (2010) Haiti Earthquake. Fact Sheet #67. August 2010 Winter M, Osmers I, Krieger S (2011) Unfallchirurgische Katastrophenhilfe nach dem Erdbeben in Haiti 2010 – Ein Erfahrungsbericht: Verletzungsmuster, besondere Herausforderungen, Aussichten. Unfallchirurg 114, 79–84 Yasin M, Malik SA, Nasreen, Safdar CA (2009) Experience with mass casualties in a subcontinent earthquake. Turk J Trauma 15, 487–492
Die Herausgeber Dr. med. Matthias Ruppert Matthias Ruppert ist seit 2020 Geschäftsführer der ADAC HEMS Academy, Sankt Augustin/Oberpfaffenhofen – eine internationale Trainingseinrichtung für das Personal in Luftrettung, Luftfahrt, Akut- und Notfallmedizin. Von 2007–2020 war er Leiter Medizin der ADAC Luftrettung GmbH, München und von 1995–2007 am Klinikum der Universität München in den Bereichen Chirurgie, Anästhesiologie und am Institut für Notfallmedizin und Medizinmanagement (INM) tätig. Matthias Ruppert hat über 20 Jahre Erfahrung in der operativen Luftrettung, insbesondere im alpinen und auch maritimen Umfeld. Schwerpunkte: Training, Einsatz- und Patienten-Simulation, Human Factors und Sicherheitskultur in sog. High Reliability Organisations; notfallmedizinische Strategien für Spezialbereiche/in der Luftrettung.
Univ.-Prof. Dr. med. Jochen Hinkelbein Jochen Hinkelbein ist Direktor der Universitätsklinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin und Notfallmedizin am Johannes-Wesling-Universitätsklinikum in Minden. Seine Forschungsschwerpunkte sind Proteomics, Organversagen, Luftrettung sowie klinische und präklinische Studien mit anästhesiologischen sowie intensiv- und notfallmedizinischen Fragestellungen. Jochen Hinkelbein war von 2010–2015 Chairman des Subcommittee #10 „Resuscitation, Emergency Medicine and Trauma“ der European Society of Anaesthesiology (ESAIC) und ist aktuell Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Luft- und Raumfahrtmedizin (DGLRM) sowie Präsident der Deutschen Gesellschaft für Notfallwissenschaft (DGNOW).
Die Autorinnen und Autoren Dr. med. Michael Bayeff-Filloff
Foto: RoMedKliniken
Michael Bayeff-Filloff absolvierte sein Studium der Humanmedizin an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Danach folgten die Ausbildung zum Facharzt für Chirurgie und die Teilgebietsbezeichnung Unfallchirurgie. Er ist seit 2010 Chefarzt der Zentrale Notaufnahme im RoMed Klinikum Rosenheim und verfolgt seit 1988 eine Notarzttätigkeit. Außerdem erwarb er 1988 die Zusatzbezeichnung Ärztliches Qualitätsmanagement durch die Ausbildung zum Ärztlicher Leiter Rettungsdienst und ist seit 2013 Ärztlicher Landesbeauftragter Rettungsdienst Bayern im Bayerischen Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration. Michael Bayeff-Filloff hat zudem seit 2020 die Zusatzbezeichnung Klinische Akut- und Notfallmedizin inne.
Thorsten Becker Thorsten Becker ist Notfallsanitäter, Praxisanleiter und Ausbilder, Organisatorischer Leiter Rettungsdienst, Zugführer der Feuerwehr, Leitstellendisponent sowie Dozent an mehreren Rettungsdienstschulen und Bildungsakademien. Nach über 12 Jahren hauptberuflicher Tätigkeit im öffentlichen Rettungsdienst (in allen Einsatzbereichen) ist er zum Werkrettungsdienst eines großen Chemieunternehmens gewechselt. Er ist Inhaber der Firma EH Enterprises, Rettungsdienst-Service, Dienstleistung und Consulting für die nicht-polizeiliche Gefahrenabwehr.
Dr. med. Raphael Bender Raphael Bender absolvierte sein Studium der Humanmedizin und seine Promotion in Bonn, worauf eine Ausbildung zum Facharzt für Anästhesiologie am Bundeswehrkrankenhaus Ulm sowie die Zusatzbezeichnungen Notfallmedizin und Spezielle Intensivmedizin folgten. Er sammelte in zahlreichen Auslandseinsätze mit der Bundeswehr in Afghanistan und auf dem Balkan (2005–2015) viel Erfahrung. Raphael Bender ist Oberarzt der Abteilung Anästhesie, Intensivund Schmerzmedizin der BG Unfallklinik Murnau und Ärztlicher Leiter der Luftrettungsstation „Christoph Murnau“ (ADAC Luftrettung). Außerdem ist er aktiver Bergwacht-Notarzt der Bergwacht Bayern, Region Hochland, Bereitschaft Oberammergau.
Dr. Yannick Beres, OSA Yannick Beres, Oberstabsarzt, Medizinstudium Universität Hamburg, Weiterbildungsassistent für Anästhesie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie am Bundeswehrkrankenhaus Ulm. Auslandseinsatz in Mali.
Dr. med. Ralf Blomeyer Studium der Humanmedizin an der Justus Liebig Universität in Gießen. 1990–2000 in der Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin der Universität zu Köln tätig. Seit 2000 stellvertretender Ärztlicher Leiter Rettungsdienst bei der Berufsfeuerwehr Köln. Facharzt für Anästhesie.
Dr. med. Thomas van Boemmel Thomas van Boemmel absolvierte sein Studium der Humanmedizin in Düsseldorf und 1987 die Facharztausbildung an der Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin der Universität Münster. Seit 1994 ist er Ärztlicher Leiter der Station „Christoph Murnau“ an der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Murnau. Seine Schwerpunkte sind Intensivmedizin, Ärztliches Qualitätsmanagement, Medizininformatik.
Medizinaldirektorin Dr. med. Renate Bohnen Renate Bohnen studierte Humanmedizin an der Rheinischen Friedrich Wilhelms Universität in Bonn und ist Fachärztin für Allgemeinmedizin und Arbeitsmedizin. Seit 2004 leitet sie den Polizeiärztlichen Dienst der GSG 9 der Bundespolizei und baute dort den Bereich der operativen Einsatzmedizin auf.
Prof. Dr. med. Stefan Braunecker Stefan Braunecker absolvierte sein Studium der Humanmedizin an der Philipps-Universität Marburg. Danach folgten die Ausbildung zum Facharzt für Anästhesiologie an der Universitätsklinik Köln sowie eine Weiterbildung in KardioAnästhesie und Kardio-Intensivmedizin an der Universitätsklinik St. George’s und dem Royal Brompton Hospital in London. Er ist Oberarzt für Kardio-Anästhesie an der University of Florida mit Interesse in Extreme Environmental Medicine.
Priv.-Doz. Dr. Hermann Brugger Studium der Humanmedizin an der Medizinischen Universität Wien, Österreich; Sekundararzt in Linz und Ried im Innkreis, Österreich; Arzt für Allgemeinmedizin in Bruneck, Italien; Notarzt und Bergrettungsarzt; 1992 Eduard Wallnöfer Preis; 1995 Georg Grabner Preis der Universität Wien; 2012 Research Award Wilderness Medical Society USA; 2001–2009 Präsident der Internationalen Kommission für Alpine Notfallmedizin ICAR MedCom; 2014–2022 Präsident der International Society of Mountain Medicine ISMM; seit 2001 Associate Editor High Altitude Medicine and Biology; 2006 Habilitation zum Privatdozent der Medizinischen Universität Innsbruck, Österreich; 2009–2022 Gründer und Leiter des Instituts für Alpine Notfallmedizin, Eurac Research, Bozen, Italien; Forschungsschwerpunkt alpine Notfallmedizin, Kältetraumen.
Dr. med. Manuel Döhla, MScPH, OFA Manuel Döhla ist Fachwissenschaftler für Toxikologie, Facharzt für Hygiene und Umweltmedizin und Leitender Notarzt. Seit 2021 ist er Leiter Hygiene und Umweltschutzbeauftragter am BundeswehrZentralkrankenhaus Koblenz. Er führt eine ehrenamtliche Tätigkeit in der Landeslehrgruppe CBRN(E) der Bereitschaften des Bayerischen Roten Kreuzes aus. Zudem weist er Lehr- und Autorentätigkeiten u.a. in den Bereichen Einsatztaktik, Krisenmanagement sowie Gesundheits- und Umweltschutz auf.
Prof. Dr. Christoph Fasel Christoph Fasel ist Chefredakteur, Professor, Institutsleiter, Bestsellerautor, Blattentwickler, Berater, Coach und Krisenkommunikator (www.fasel.de.).
Foto: Vogel Communication Group, Würzburg
Dr. med. Jörg Fibranz Jörg Fibranz absolvierte das Studium der Humanmedizin an der Universität zu Köln und ist Facharzt für Innere Medizin und Arbeitsmedizin, Notfallmedizin. Es folgte die Facharztausbildung im städtischen Krankhaus Düren und St. Katharinen Hospital Frechen sowie in der RWE Arbeitsmedizin Bergheim. Seit 2014 ist er als Ärztlicher Leiter Rettungsdienst im Rheinischen Braunkohlerevier und seit 2017 als Leiter der RWE Arbeitsmedizin in der Region Köln tätig.
Dr. med. Michael Gäßler Michael Gäßler absolvierte sein Studium der Humanmedizin in Tübingen und Chicago. Er ist Facharzt für Anästhesiologie und Allgemeinmedizin mit den Zusatzbezeichnungen Notfallmedizin, klinische Akut- und Notfallmedizin und ärztliches Qualitätsmanagement. Er machte in seiner anästhesiologischen Ausbildung und Facharzttätigkeit am Universitätsklinikum Tübingen, den St. Vincentius-Kliniken Karlsruhe sowie dem Klinikum Reutlingen Station. Außerdem arbeitete er in unterschiedlichen Funktionen in der Tropen- und Reisemedizin (u.a. als Ambulanzarzt im Institut für Tropenmedizin der Universität Tübingen). Er war stv. Leiter Medizin der ADAC Luftrettung (2011–2018), Leiter der Notaufnahme Helios-Spital Überlingen (2018–2021) und verfolgt aktuell eine Tätigkeit in der Allgemeinmedizin.
Priv.-Doz. Dr. med. Harald Genzwürker Studium der Humanmedizin in Heidelberg. Ausbildung zum Facharzt für Anästhesiologie am Krankenhaus Sinsheim und am Universitätsklinikum Mannheim, Zusatzbezeichnungen Notfallmedizin, Intensivmedizin, Schmerztherapie, Palliativmedizin. Seit 2008 Chefarzt der Klinik für Anästhesiologie der Neckar-Odenwald-Kliniken Buchen und Mosbach, Lehrkrankenhäuser der Universität Heidelberg, Leitung von 4 Notarztstandorten. Forschungs- und Publikationsschwerpunkt: Atemwegsmanagement. Habilitation 2009, Umhabilitation nach Heidelberg 2013. Leitender Notarzt seit 2002, Sprecher LNA-Gruppe Neckar-Odenwald-Kreis.
Prof. Dr. med. Matthias Helm, OTA a.D. Matthias Helm war bis 2021 Direktor der Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin u. Schmerztherapie am Bundeswehrkrankenhaus Ulm.
Sebastian Hoppe Sebastian Hoppe ist Psychologe und fachliche Leitung beim KIT-München des Arbeiter-Samariter-Bundes Regionalverband München/Oberbayern e.V. An der Ludwig-MaximiliansUniversität München promoviert er zu Fragen der Wirksamkeit von PSNV.
Priv.-Doz. Dr. med. Björn Hossfeld, OFA Björn Hossfeld ist leitender Oberarzt der Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie am Bundeswehrkrankenhaus Ulm, sowie leitender Arzt des Luftrettungszentrums „CHRISTOPH 22“, Ulm.
Johannes Hühn Johannes Hühn ist Leiter der Höhenrettungsgruppe bei der Feuerwehr Ulm und Vorsitzender des Arbeitskreises Höhenrettung in Baden-Württemberg. Hauptberuflich arbeitet er im Einsatzdienst und als Leitstellendisponent bei der Feuerwehr Ulm.
Dr. Christoph Jänig Christoph Jänig ist als Facharzt für Anästhesiologie tätig und verantwortlicher Oberarzt für den Bereich Rettungsmedizin am BundeswehrZentralkrankenhaus Koblenz. Er hat langjährige Erfahrung als Notarzt auf NEF, ITW und dem Rettungshubschrauber „Christoph 23“. Zudem war er in mehreren Auslandseinsätzen als Notfallmediziner und Anästhesist, sowie zahlreichen Einsätzen auf dem MedEvacAirbus der Bundeswehr tätig. Er ist als Leitender Notarzt in der Region Koblenz bestellt.
Dr. Florent Josse, OFA Florent Josse ist Oberarzt der Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie am Bundeswehrkrankenhaus Ulm und 2. Vorsitzender der Tactical Rescue and Emergency Medicine Association (TREMA e.V.).
Andreas Kirchartz Andreas Kircharzt absolvierte 1989 seine Grundausbildung bei der Berufsfeuerwehr Mainz. Danach war er im Brandschutz und Rettungsdienst der Stadt Trier tätig. Es folgte eine Fortbildungsqualifizierung für den gehobenen feuerwehrtechnischen Dienst im Jahr 1999. Anschließend war er als Wachabteilungsleiter und Organisatorischer Leiter des Rettungsdienstes sowie als Abteilungsleiter des vorbeugenden Gefahrenschutzes mit der Funktion A-Dienst in Trier tätig. Des Weiteren folgte eine Fortbildungsqualifizierung für den höheren feuerwehrtechnischen Dienst. Seit 2019 ist er Amtsleiter der Berufsfeuerwehr in Trier.
Dr. med. Jens Kohfahl
Foto: Jens Kohfahl
Studium der Humanmedizin in Köln und Hannover. Ausbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin im Zentralkrankenhaus Reinkenheide in Bremerhaven und im Stadtkrankenhaus Cuxhaven. Zusatzbezeichnungen für Notfallmedizin, Betriebsmedizin, Sportmedizin. Bis 2012 als Notarzt und Leitender Notarzt im Rettungsdienst der Stadt Cuxhaven und in einem Verletztenversorgungsteam des Havariekommandos bei der BF Cuxhaven sowie für die DGzRS tätig. Ärztlicher Fachberater und Mitglied der Expertengruppe Verletztenversorgung beim Havariekommando. Taucherarzt der DLRG Cuxhaven. Mitautor des IMO „Pocket Guide For Cold Water Survival“ und des Buches „Medizin auf See“. Besondere Schwerpunkte: Ertrinken, Unterkühlung, Überleben im Seenotfall.
Prof. Dr. med. habil. Thomas Küpper, FISTM, FRCS (Glasg.) Thomas Küpper ist Facharzt für Arbeitsmedizin mit der Zusatzbezeichnung „Sportmedizin“. Er besitzt das weltweit einheitliche „Diploma for Mountain Medicine“ und ist Fellow der International Society for Travel Medicine. Sechs Jahre regelmäßige Tätigkeit bei der alpinen Luftrettung in Zermatt (Schweiz). Mehrjährige Tätigkeit als Landesarzt der Bergwacht des Deutschen Roten Kreuzes, mehrfach Expeditionsarzt. Diving Physician IIa und Rettungstaucher. Wissenschaftliche Engagements schwerpunktmäßig für präventivmedizinische Fragestellungen, speziell zum Thema „Höhenaufenthalt“ und „körperliche Belastungen bzw. Belastbarkeit in Arbeit und Freizeit“. Als Dozent des Instituts für Arbeits- und Sozialmedizin der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) Aachen lehrt er die Fächer Sportmedizin, Flug- und Reisemedizin und Arbeitsmedizin. Er leitet dort die gleichnamige wissenschaftliche Arbeitsgruppe. Zahlreiche Beratungstätigkeiten, u.a. Vorsitz des Wissenschaftlichen Beirates des Generalarztes der Luftwaffe und Vizepräsident der Deutschen Fachgesellschaft für Reisemedizin. Aktive Ausübung zahlreicher Disziplinen des Bergsports, u.a. alpine Felstouren bis zum VI+. Grad, Eistouren bis 80°C und lange kombinierte Touren. Besteigung von ca. 60 Bergen über 4.000 m Höhe. Als Expeditionsarzt mehrfacher Aufenthalt in der Arktis, im Himalaya und in Afrika. Intensive Vortragstätigkeit an Hochschulen und auf wissenschaftlichen Tagungen. Zahlreiche Veröffentlichungen v.a. zur Berg- und Höhenmedizin.
Anna Lang Anna Lang promoviert am Lehrstuhl für Umweltmedizin in Augsburg zum Thema „Einfluss von extremer Hitze und extremer Kälte auf Mortalität und Morbidität von Patient:innen in der Akutversorgung“. Sie studiert Humanmedizin an der Technischen Universität München und arbeitet als Rettungssanitäterin bei den Maltesern in München. Zudem engagiert sie sich bei Health For Future (Aktionsarm der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit e.V.: KLUG) in München.
Dr. med. Hanjo Lorenz, DESA Hanjo Lorenz ist Facharzt für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Notarzt und Leitender Notarzt. Sein spezieller Fokus liegt im Bereich der Katastrophenmedizin, der taktischen Einsatzmedizin und bei speziellen Einsatzlagen. Neben seinen administrativen Leitungsaufgaben betreut er noch das Resort für nationale und internationale Intensivverlegungen. Ehrenamtlich ist er als Regionalarzt und Bereitschaftsarzt bei unterschiedlichen Hilfsorganisationen tätig. Außerdem ist er Geschäftsführer des Deutschen Instituts für Katastrophenmedizin und der gemeinnützigen Stiftung des Deutschen Instituts für Katastrophenmedizin.
Daria Luschkova Daria Luschkova ist seit 2019 Assistenzärztin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Umweltmedizin der Universität Augsburg. Ihre Arbeit beschäftigt sich mit translationaler Forschung. Zudem forscht sie im Rahmen eines DFG-Projektes zum Einfluss des Klimawandels auf die Gesundheit, Interaktion „Umwelt-Mensch“, mit dem Schwerpunkt „Allergische Erkrankungen“.
Dr. med. Arndt Melzer Arndt Melzer arbeitet als Consultant Anaesthesist am University College Hospital in London und ist dort Leiter des Intensivtransportdienstes. Er ist Flight Doctor für GAMA aviation und weiterhin als Notarzt in Deutschland tätig. Er war Leitender Hubschrauberarzt am „Christoph 28“, ADAC Luftrettung sowie Oberarzt der Anästhesie am Klinikum Fulda gAG.
Dr. med. Veronika Morhart-Bojko Veronika Morhart-Bojko absolvierte ihr Studium der Humanmedizin in München und Brüssel. Sie ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Notfallmedizin, Suchtmedizin und spezielle Schmerztherapie, mittlerweile in eigener Praxis. Sie fungiert als Gerichtsgutachterin und psychiatrischpsychologische Beraterin im Intelligence- und Profiling-Bereich und ist Mitglied sowie Referentin der Combatting Terrorism Working Group von NATO und OSCE am Marshall-Center (Garmisch-Partenkirchen). Seit 30 Jahren ist sie im Rettungsdienst tätig, Leitende Notärztin und Ausbilderin in Fragen der Einsatztaktik in der LNA-Ausbildung der BLÄK. Außerdem ist sie Fachberaterin im Krisenstab eines großen Medienkonzerns sowie einer großen international tätigen Holding. Sie ist in der federführenden Konzeptionserarbeitung und in vorbereitenden Einsatztrainings für Krisenstäbe in der Industrie tätig.
Dr. phil. Andreas Müller-Cyran, M.A. Andreas Müller-Cyran ist Rettungsassistent und studierte Philosophie, Theologie und Psychologie. 1994 gründete er das KIT-München beim ASB, die älteste Einrichtung für die Psychosoziale Akuthilfe in Deutschland. Außerdem engagiert er sich seitdem auch für den Aufbau von Peer-Systemen in der Gefahrenabwehr (PSNV-E), ist Gründungsmitglied von SbEe.V. und dort im Vorstand. Er ist Fachberater bei der Bundespolizei, beim Bundeskriminalamt und beim Havariekommando. Heute als Leiter der Abteilung Krisenpastoral im Bistum München und im Zentralen Psychologischen Dienst der Bayerischen Polizei beschäftigt, ehrenamtlich Sprecher des Landeszentralstellenrats PSNV Bayern und administrativer Leiter PSNV der Landeshauptstadt München.
Priv.-Doz. Dr. med. Christopher Neuhaus, M.Sc., MHBA Christopher Neuhaus studierte Humanmedizin in München und Heidelberg. Es folgte die Ausbildung zum Facharzt für Ansäthesiologie am Universitätsklinikum München, danach folgte 2021 die Habilitation. Seit 2022 ist er geschäftsführender Oberarzt der Klinik für Anästhesiologie am Universitätsklinikum Heidelberg. Von 2017–2019 absolvierte er das Masterstudium „Human Factors & System Safety“ an der Universität in Lund, Schweden.
Prof. Dr. med. Tim Piepho Tim Piepho ist Anästhesist und Chefarzt der Abteilung für Anästhesie und Intensivmedizin am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Trier. Die Abteilung ist verantwortlich für die Stellung der Leitenden Notärzte und die ärztliche Besetzung des Notarztfahrzeugs am Standort Trier. Zuvor war er Leitender Oberarzt der Klinik für Anästhesiologie der Universitätsmedizin Mainz. Zusätzlich dazu weist er eine langjährige Tätigkeit als Leitender Notarzt sowie Leiter des Qualifikationsseminars zum LNA in Rheinland-Pfalz vor.
Dr. med. Roswitha Prohaska Nach dem Medizinstudium in Wien absolvierte sie die Ausbildung zur Ärztin für Allgemeinmedizin mit Schwerpunkt Pulmologie, Unfallchirurgie und Kardiologie, ebenfalls in Wien. Als Tauchärztin war sie in freier Praxis 1995 auf Boracay (Philippinen), 1996 am HBO-Institut Ulm, 1997 an der Bandos Medical Clinic (Malediven) tätig. 1997 begann sie als leitende Ärztin einer Druckkammer in Wien, danach am Druckkammerzentrum Augsburg. 2001–2009 arbeitete sie als Palliativärztin an einer Palliativstation und leitete ein mobiles Palliativteam in Wien. 2009–2010 leitete sie wieder eine Druckkammer in Wien. Seit 2001 ist sie ebenfalls als niedergelassene Allgemeinmedizinerin und Arbeitsmedizinerin tätig, sowie als Druckluftärztin an verschiedenen Druckluftbaustellen. Seit 2001 ist Dr. Prohaska im Vorstand der Österreichischen Gesellschaft für Tauch- und Hyperbarmedizin (ÖGTH) aktiv, seit 2007 als Präsidentin. Mit Dr. Welslau veranstaltet sie seit 2004 international anerkannte tauch- und überdruckmedizinische Kurse (taucherarzt.at). Seit 2010 ist sie National-Coordinator für Österreich im EDTC (European Diving Technology Committee).
Priv.-Doz. Dr. Simon Rauch, PhD, EDIC Simon Rauch ist Facharzt für Innere Medizin sowie für Anästhesie und Intensivmedizin und hat das Europäische Diplom für Intensivmedizin und das Diploma in Mountain Medicine inne. 2019 absolvierte er seinen PhD an der Universität Innsbruck. Er ist als Leitender Oberarzt der Intensivstation in der Abteilung für Anästhesie und Intensivmedizin am Krankenhaus Meran, Italien klinisch tätig. Zudem ist er Flugrettungsnotarzt bei HELI Südtirol und Senior Researcher am Institut für alpine Notfallmedizin, Eurac Research, Bozen, Italien. Forschungsschwerpunkte: Alpines Trauma, Hängesyndrom, kardio-pulmonale Reanimation, Hypothermie, Lawinennotfälle.
Klemens Reindl Klemens Reindl ist seit vielen Jahren Organisatorischer Leiter und Örtlicher Einsatzleiter im Landkreis GarmischPartenkirchen. Der Jurist und Rettungssanitäter leitete bereits eine Vielzahl von großen Einsätzen, u.a. mehrere HochwasserKatastrophen, die Schneekatastrophe und zwei G7-Gipfel, sowie als Einsatzleiter Bergwacht den Höhlenrettungseinsatz in der Riesending-Höhle 2014.
Prof. Dr. med. Michael Reng Michael Reng war von 1979-1982 Pflegehelfer am Klinikum Nürnberg, von 1982–1988 absolvierte er das Studium der Humanmedizin an der FAU Erlangen, von 1988–1992 war er am Klinikum Ingolstadt und von 1992–2004 an der Uniklinik Regensburg tätig. Er ist Facharzt für Innere Medizin, Internistische Intensivmedizin, Gastroenterologie, Notfallmedizin, Klinische Akut- und Notfallmedizin. Von 2004– 2010 war er Chefarzt Innere Medizin und Intensivmedizin am Klinik Bogen. 2006 folgte die Habilitation. Seit 2010 bis heute ist er Chefarzt Innere Medizin und Notaufnahme der GoldbergKlinik/Caritas-Klinik St. Lukas Kelheim. Zudem ist er Projektleiter MedicDAT (Leitprojekt des BmBF zur Erschließung des weltweiten medizinischen Wissens) und MedicMED (virtuelle medizinische Lernplattform) und CEO der MedicDAT GmbH (Klinische Informationstechnologie). Er ist als Koordinator des Studiengangs Medizininformatik von Universität und OTH Regensburg tätig und seit 1990 bis heute aktiver Notarzt. Außerdem hat er eine Vorstandstätigkeit in ESICM, DGIIN und ist agbn. Qualitätsmanagement-Beauftragter des Notarztdiensts der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern. Michael Reng ist Ausbilder und Prüfer in der Notfallmedizin sowie der Klinischen Akut- und Notfallmedizin für die Bayerische Landesärztekammer.
Dr. Katja Rücker Katja Rücker absolvierte ihr Studium der Humanmedizin an der Universität zu Köln. Es folgte die Ausbildung zur Fachärztin für Anästhesiologie am Sana-Klinikum Remscheid und der Universitätsklinik Köln. Seit 2017 arbeitet Katja Rücker in Großbritannien. Zunächst als Fachärztin im Bereich Kardio- und Allgemeine Intensivmedizin an der Universitätsklinik St. George’s in London und seit 2019 als Notärztin bei der Essex & Herts Air Ambulance. Sie hat zudem das Diplom Taucherärztin der GTÜM.
Branddirektor Dipl.-Ing. (FH) Stephan Rudolph Stephan Rudolph ist als Leiter der Direktion Nord bei der Berufsfeuerwehr München für den Einsatzbetrieb von fünf Feuerwachen und neun Rettungswachen mit rund 700 Mitarbeitenden verantwortlich. Im Einsatzdienst übernimmt er die Einsatzführungsfunktion des Direktionsdienstes. In dieser Funktion ist er vor Ort gesamtverantwortlich für die nichtpolizeiliche Gefahrenabwehr der Landeshauptstadt München mit ihren 1,6 Millionen Einwohnern.
Dr. med. Martin Schiffarth Martin Schiffarth ist Arzt für Anästhesiologie und Notfallmedizin. Seit 2022 ist er als Regionalleiter Medizin West der ADAC Luftrettung gGmbH und auch als Ärztlicher Leiter Notarztstandort Adenau am Nürburgring tätig. Er studierte Humanmedizin an der Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn und war in Siegen, Bonn, Wittlich und in Adenau am Nürburgring ärztlich tätig. Martin Schiffarth ist Sprecher der LNA-Gruppe im Landkreis Ahrweiler und hat die Ausbildung zum Rettungsassistent, Industriekaufmann und kaufmännischem Assistent für Datenverarbeitung absolviert.
Falko Schmid, MBA, Dipl. sc. pol. Univ., Dipl.-VwWirt (FH) Falko Schmid absolvierte ein Studium der Staats- und Verwaltungswissenschaften sowie des Projekt- und Prozessmanagements. Zudem machte er eine Ausbildung zum Krankenpfleger und Notfallsanitäter sowie TC HEMS bei der ADAC Luftrettung. Er ist staatl. genehmigter Berufsfachschullehrer für die Notfallsanitäterausbildung. Insgesamt weist er 25 Jahre im gehobenen Kriminaldienst beim Morddezernat München und Landeskriminalamt Bayern sowie eine mehrjährige Tätigkeit in der Operativen Fallanalyse (Täterprofiling) auf. Zuletzt war er 6,5 Jahre zur Branddirektion München als Projektcontroller für Großprojekte im zweistelligen Millionen-Euro-Bereich abgeordnet. Er ist Fellow und Member der Combatting Terrorism Working Group von NATO und OSZE am Marshall-Center in Garmisch-Partenkirchen und derzeit für eine große Holding tätig.
Dr. Willi Schmidbauer Willi Schmidbauer ist Klinischer Direktor der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin am BundeswehrZentralkrankenhaus Koblenz. Er verfügt über langjährige notfallmedizinische Erfahrung in der Boden- und Luftrettung (u.a. Hamburg, Berlin, Senftenberg und Koblenz) und als Leitender Notarzt in Berlin und Koblenz. Seine umfangreiche medizinische Expertise stammt aus zahlreichen Auslandseinsätzen und Patiententransporten mit dem MedEvac-Airbus der Bundeswehr.
Dr. med. Jens Schwietring Jens Schwietring ist Facharzt für Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Palliativmedizin. Bis Ende 2015 war er als Berufssoldat im BwZKrHs Koblenz stationiert und hat dort die Verantwortung als Ärztlicher Leiter für den „Christoph 23“ inne. Außerdem war er in diversen Auslandseinsätzen tätig, nahm an Tc und StratAirMedEvac teil, wechselte zur ADAC Luftrettung, zunächst als Regionalleiter West für die Bundesländer NRW, RLP, Saarland und seit 01.09.2021 als Bereichsleiter Medizin der ADAC Luftrettung in München.
Monika Seemann Monika Seemann hat Management in der Gesundheitswirtschaft studiert. Seit Februar 2022 ist sie Projektkoordinatorin der Hochschulambulanz für Umweltmedizin am Universitätsklinikum Augsburg. Darüber hinaus beschäftigt sich ihre Arbeit mit der Versorgungsforschung.
Priv.-Doz. Dr. med. Michael St. Pierre, M.Sc., DEAA Michael St. Pierre absolvierte das Studium der Humanmedizin in Erlangen. Es folgten die Ausbildung zum Facharzt für Anästhesiologie am Universitätsklinikum Erlangen und eine Habilitation zu Human Factors in der Anästhesiologie sowie ein Masterstudium zu „Human Factors & System Safety“. Er ist Leitender Oberarzt der Anästhesiologischen Klinik der Universität Erlangen, Mitglied des Leitungsteams des Simulations- und Trainingszentrums der Anästhesiologischen Klinik und Notarzt im bodengebundenen Rettungsdienst und am RTH „Christoph 27“, Nürnberg. Zudem ist er Autor mehrerer Bücher zu den Schwerpunkten Human Factors, Patientensicherheit und Simulation in der Medizin.
Dr. med. Markus Stuhr
Foto: BG Klinikum Hamburg
Studium der Humanmedizin in Hamburg. Ausbildung zum Facharzt für Anästhesiologie am BG Klinikum Hamburg und der Asklepios Klinik Barmbek. Zusatzbezeichnungen Notfallmedizin und Intensivmedizin. International Diploma for Mountain Medicine. Oberarzt am BG Klinikum Hamburg, seit 2015 Leitender Oberarzt für die Bereiche Anästhesiologie und Notfallmedizin am BG Klinikum. Mitglied der Leitenden Notarztgruppe und der Spezialeinsatzgruppe Schiffsicherung bei der Feuerwehr Hamburg. Vorsitzender der Expertengruppe Verletztenversorgung beim Havariekommando. 2012–2017 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt „Rettungskette Offshore Wind“. Forschungsschwerpunkte: Notfallmedizin in Extrembereichen, Traumaversorgung.
Dr. med. Wolfgang Tichy Wolfgang Tichy studierte von 1998–2005 Humanmedizin an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Seit 2005 ist er als Anästhesist am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Trier tätig. Seit 2010 trägt er die Zusatzbezeichnung Notfallmedizin und ist auch als Notarzt tätig. 2012 folgte die Facharztanerkennung und seit 2022 ist er Leitender Notarzt für die Stadt Trier.
Dr. med. Josefine Tiedemann Josefine Tiedemann ist Fachärztin für Kinder- und Jugendheilkunde am Klinikum Westbrandenburg-Ernst von Bergmann. Als Schwerpunkt-Weiterbildung behandelt sie Patienten in Extremsituationen neonatologisch. Ihre Promotion „Physiologische Veränderungen des menschlichen Organismus während einer fünfzehnmonatigen Überwinterung in der Antarktis“ absolvierte sie im Zentrum für Weltraummedizin und extreme Umwelten in der Charité Berlin am Institut für Physiologie.
Prof. Dr. med. Claudia Traidl-Hoffmann Claudia Traidl-Hoffmann ist Umweltmedizinerin. Als Professorin für Umweltmedizin an der Medizinischen Fakultät der Universität Augsburg, Direktorin des Instituts für Umweltmedizin bei Helmholtz Munich und Direktorin der Hochschulambulanz für Umweltmedizin am Universitätsklinikum Augsburg erforscht sie durch Umweltfaktoren hervorgerufene und verstärkte Krankheiten, insbesondere Allergien. Der Fokus liegt hierbei auf dem Einfluss des Klimawandels auf die Gesundheit, auf Möglichkeiten der Prävention und Stärkung von Resilienz. Mit ihrem internationalen und interdisziplinären Team arbeitet sie innerhalb nationaler und multinationaler Netzwerke und setzt sich als Expertin in Gesellschaft, Öffentlichkeit und bei Politikern für die Umsetzung klimagerechter Transformationsprozesse und für planetare Gesundheit ein. 2023 wurde sie in die WBGU berufen.
Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Voelckel, M.Sc. Wolfgang Voelckel ist Ärztlicher Leiter der AUVA und Vorstand der Abteilung für Anästhesiologie und Intensivmedizin des Unfallkrankenhauses Salzburg. Außerdem ist er Ärztlicher Leiter der ÖAMTC Flugrettung Wien, Sprecher des Traumanetzwerks Salzburg und Associate Professor Prehospital Critical Care der Universität Stavanger in Norwegen.
Dr. Bernd Wallner, PhD, EDAIC Bernd Wallner ist Facharzt für Anästhesie und Intensivmedizin, Arzt für Allgemeinmedizin und hat das European Diploma in Anaesthesiology and Intensive Care inne. Er ist klinisch an der Universitätsklinik für Anästhesie und Intensivmedizin der Medizinischen Universität Innsbruck, Österreich tätig, Flugrettungsnotarzt im Christophorus Flugrettungsverein, ÖAMTC, Notarzt und Ausbildungsarzt beim Österreichischen Roten Kreuz, Flugarzt bei TAA und Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsjahr des PhD-Studiums am Institut für Alpine Notfallmedizin, Eurac Research, Bozen, Italien. Zudem verfügt er über ein Diploma in Mountain Medicine und ein Diploma in Wilderness and Expedition Medicine. Forschungsschwerpunkte: Alpine Notfallmedizin, Hypothermie, Blutgerinnung unter Hypothermie, Lawinenmedizin.
Dr. med. Karlheinz Waltner Karlheinz Waltner promovierte an der Albert-Ludwig-Universität Freiburg. Anschließend kam die Ausbildung zum Facharzt für Chirurgie mit Schwerpunkt Unfallchirurgie im Evangelischen Waldkrankenhaus Berlin-Spandau und am Klinikum Konstanz. Er ist Oberarzt mit Schwerpunkt Unfallchirurgie an mehreren Kliniken in Deutschland und war als Arzt und Stationsleiter der deutschen Antarktis-Forschungs-Station Neumayer von August 2006 bis Februar 2008 tätig. Seit 2012 ist er Oberarzt in der Abteilung für Unfallchirurgie und Orthopädie im Klinikum Leer/Ostfriesland.
Sebastian Weber, OSA Sebastian Weber, Oberstabsarzt, Medizinstudium Universität zu Köln, Weiterbildungsassistent für Anästhesie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie am Bundeswehrkrankenhaus Ulm. Auslandseinsatz in Mali.
Dr. rer. nat. Nils Weinrich
Foto: BG Klinikum
Nils Weinrich absolvierte das Studium der Physik an der Universität Hamburg sowie die Promotion in den Naturwissenschaften an der Technischen Universität Hamburg. Seit 1999 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Labor für Biomechanik, seit 2015 Leiter der Stabsstelle Forschung und seit 2019 Forschungskoordinator des BG Klinikums Hamburg. Von 2012–2017 war er Projektkoordinator und stellvertretender Projektleiter im Forschungsprojekt „Rettungskette Offshore Wind“. Seit 2022 ist er als administrativer Leiter des Zentrums für Klinische Forschung am BG Klinikum Hamburg tätig.
Hamburg
KOR Michael Weinzierl Michael Weinzierl wurde 1996 bei der Bayerischen Polizei eingestellt. Im Rahmen seiner Masterarbeit „Psychosoziale Notfallversorgung polizeilicher Einsatzkräfte (PSNV-E); Aspekte der Primärprävention bei der Bayerischen Polizei“ beschäftigte er sich 2017 eingehend mit der Umsetzung des Konsensusprozesses bei der Bayerischen Polizei im Bereich PSNV-E. Nach den einschlägigen Taten am Breitscheidplatz und am OEZ in München erarbeitete die Bayerische Polizei eine Rahmenkonzeption zur „Polizeilichen Betreuung von Opfernund Angehörigen“ zur Berücksichtigung der Belange der PSNVB in der polizeilichen Einsatzabarbeitung. Die praktische Umsetzung in Bayern verantwortete er die letzten zwei Jahre. Erfahrungen konnten/mussten seitdem beim Anschlag in Wien (November 2020), der Messerattacke im Woolworth in Würzburg (Juni 2021), dem Messerangriff im ICE bei Seubersdorf (November 2021) und beim Zugunglück von Burgrain bei Garmisch (Juni 2022) gesammelt werden.
Dr. med. Wilhelm Welslau Nach seinem Medizinstudium 1979–1986 in Münster war Wilhelm Welslau 1986–94 als Sanitätsoffizier der Bundeswehr, davon über fünf Jahre am Schifffahrtmedizinischen Institut der Marine in Kronshagen bei Kiel, arbeitsmedizinisch und tauchmedizinisch tätig. 1992–1993 absolvierte er eine anästhesiologisch-intensivmedizinische Weiterbildung am UN Hospital in Phnom Penh, Kambodscha. Seit 1994 war Welslau an verschiedenen Druckkammerzentren in Deutschland und Österreich beschäftigt. Seit 2001 ist er in Wien als FA für Arbeitsmedizin freiberuflich tätig. Seit 1987 war er an verschiedenen Druckluftbaustellen als Druckluftarzt beteiligt. Seit 1993 ist er in diversen Funktionen im Vorstand der Gesellschaft für Tauch- und Überdruckmedizin (GTÜM e.V.) tätig, 2005–2012 als Präsident. Gemeinsam mit Dr. Prohaska veranstaltet Welslau seit 2004 international anerkannte tauch- und überdruckmedizinische Kurse (www.taucherarzt.at).
Dr. med. Andreas Werner Andreas Werner ist Facharzt für Physiologie und Allgemeinmedizin und arbeitet bei der Deutschen Luftwaffe im Zentrum für Luft- und Raumfahrtmedizin. Er ist als Dezernatsleiter im Flugphysiologischen Trainingszentrum mit der Aufgabe Diagnostik und Forschung tätig. Als Gastwissenschaftler am Zentrum für Weltraummedizin und extreme Umwelten an der Charité Berlin im Institut für Physiologie beschäftigt er sich wissenschaftlich mit dem Einsatz von Menschen in Extremsituationen.
Dr. med. Daniel Werner Daniel Werner studierte Humanmedizin an der LMU München. Facharzt für Anästhesiologie, Intensivmedizin sowie Alpin- und Höhenmedizin und Leitender Notarzt der Landeshauptstadt München. Aktuell klinische Tätigkeit an der Klinik für Anästhesiologie der Universität München sowie ärztlicher Regionalleiter Süd der ADAC Luftrettung gGmbH. Aktiver Bergund Flugrettungsarzt. Forschungsinteressen liegen in der präklinischen Notfallmedizin und Alpinmedizin.
Dr. med. Michael Winter Michael Winter absolvierte sein Studium der Humanmedizin in Göttingen, Berlin, Barcelona und Kapstadt. Danach folgte die Ausbildung zum Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, spezielle Unfallchirurgie und Fußchirurgie in Berlin. Er ist als Oberarzt in den Abteilungen für Orthopädie und Unfallchirurgie des Evangelischen Krankenhauses Königin Elisabeth Herzberge in Berlin tätig. Seit 2006 absolvierte er mehrfache Einsätze mir der medizinischen Nothilfeorganisation „Ärzte ohne Grenzen“, u.a. in Haiti, Syrien, Yemen und der DR Kongo.
Dr. med. Benno Wolcke Nach der Zivildienst-Tätigkeit als Rettungsassistent und Studium der Humanmedizin in Mainz, Facharztausbildung an der Klinik für Anästhesiologie der Universitätsmedizin Mainz. Seitdem Oberarzt an der Klinik und langjähriger leitender Hubschrauberarzt „Christoph 77“ am Standort Mainz.
Dr. sc. nat. Gerold Zeilinger Gerold Zeilinger absolvierte das Studium der Geologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Eberhard Karls Universität Tübingen. 2002 folgte die Promotion an der ETH Zürich über die Strukturgeologie des NW Himalajas. Er ist Forscher und Dozent an der Universität Potsdam und seit 2010 Leiter des 3D-Labors des Instituts für Geowissenschaften mit Schwerpunkt tektonischer Geomorphologie und GISAnwendungen.
Die Autorinnen und Autoren Dr. med. Michael Bayeff-Filloff
RoMed Klinikum Rosenheim
Ellmaierstr. 23
83022 Rosenheim Thorsten Becker
EH Enterprises, Rettungsdienst-Service
Dienstleistung und Consulting für die nichtpolizeiliche
Gefahrenabwehr
Den Haager Str. 10a
76344 Leopoldshafen Dr. med. Raphael Bender
BG Klinikum Murnau gGmbH
Anästhesiologie, Intensiv- und Schmerzmedizin
Prof.-Küntscher-Straße 8
82418 Murnau Dr. Yannick Beres, OSA
Bundeswehrkrankenhaus Ulm
Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin,
Notfallmedizin und Schmerztherapie
Oberer Eselsberg 40
89081 Ulm Dr. med. Ralf Blomeyer
Berufsfeuerwehr Köln
Scheibenstraße 13
50737 Köln Dr. med. Thomas van Boemmel
BG Klinikum Murnau gGmbH
Prof.-Küntscher-Straße 8
82418 Murnau
Medizinaldirektorin Dr. med. Renate Bohnen
GSG 9 der Bundespolizei
Bundesgrenzschutzstraße 100
53757 Sankt Augustin Prof. Dr. med. Stefan Braunecker
University of Florida
Department of Anesthesia
Campus Jacksonville
FL 32209
USA Priv.-Doz. Dr. Hermann Brugger
Institut für Alpine Notfallmedizin
EURAC Research
Hypatiastraße 2
39100 Bozen
Italien Dr. med. Manuel Döhla, MScPH, OFA
Bundeszentralkrankenhaus Koblenz
Abteilung XXI
Mikrobiologie und Krankenhaushygiene
Rübenacher Str. 170
56072 Koblenz Prof. Dr. Christoph Fasel
Institut für Verbraucherjournalismus und
Verbraucherkommunikation (ifv) GmbH
und
fasel! – Medien-Kommunikation-Beratung
Panoramastraße 71
72116 Mössingen Dr. med. Jörg Fibranz
RWE Power AG
Arbeitssicherheit & Gesundheitsschutz
Auenheimer Str. 27
50129 Bergheim Dr. med. Michael Gäßler
Praxis für Allgemeinmedizin
Zum Hecht 10
88662 Überlingen Priv.-Doz. Dr. med. Harald Genzwürker
Neckar-Odenwald-Kliniken gGmbH
Klinik für Anästhesiologie
Standort Buchen
Dr.-Konrad-Adenauer-Straße 37
74722 Buchen Prof. Dr. med. Matthias Helm, OTA a.D.
Bundeswehrkrankenhaus Ulm
Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin
Sektion Notfallmedizin
Oberer Eselsberg 40
89081 Ulm Univ.-Prof. Dr. med. Jochen Hinkelbein
Johannes Wesling Klinikum Minden
Universitätsklinik für Anästhesiologie,
Intensivmedizin und Notfallmedizin
Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum
Hans-Nolte-Straße 1
32429 Minden Sebastian Hoppe
KIT-München
Arbeiter-Samariter-Bund Regionalverband
München/Oberbayern e.V.
Adi-Maislinger-Str. 6-8
81373 München Priv.-Doz. Dr. med. Björn Hossfeld, OFA
Bundeswehrkrankenhaus Ulm
Klinik für Anästhesiologie & Intensivmedizin
Sektion Notfallmedizin
Oberer Eselsberg 40
89081 Ulm Johannes Hühn
Feuerwehr Ulm
Keplerstraße 38
89073 Ulm Dr. Christoph Jänig
BundeswehrZentralkrankenhaus Koblenz
Klinik für Anästhesiologe, Intensivmedizin,
Notfallmedizin und Schmerztherapie
Rübenacher Str. 170
56072 Koblenz Dr. Florent Josse, OFA
Bundeswehrkrankenhaus Ulm
Klinik für Anästhesiologie & Intensivmedizin
Sektion Notfallmedizin
Oberer Eselsberg 40
89081 Ulm Andreas Kirchartz
Stadtverwaltung Trier
Amt für Brand-, Zivilschutz u. Rettungsdienst
St. Barbara-Ufer 40
54290 Trier Dr. med. Jens Kohfahl
Facharzt für Allgemeinmedizin, Notfallmedizin,
Betriebsmedizin, Sportmedizin
Strichweg 78
27472 Cuxhaven
und
Deutsche Gesellschaft für Maritime Medizin e.V.
Arbeitsgruppe „Maritime Notfallmedizin“
Seewartenstraße 10
20459 Hamburg Prof. Dr. med. habil. Thomas Küpper, FISTM, FRCS (Glasg.)
RWTH Aachen Technical University
Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin
Pauwelsstraße 30
52074 Aachen Anna Lang
Universität Augsburg
Medizinische Fakultät
Lehrstuhl für Umweltmedizin
Stenglinstraße 2
86156 Augsburg Dr. med. Hanjo Lorenz, DESA
Deutsches Institut für Katastrophenmedizin
Unteres Schloss Kilchberg
Bahnhofstraße 1
72072 Tübingen Daria Luschkova
Universität Augsburg
Medizinische Fakultät
Lehrstuhl für Umweltmedizin
Stenglinstraße 2
86156 Augsburg
Dr. med. Arndt Melzer
University College London Hospital
235 Euston Road
NW1 2BU London
UK Dr. med. Veronika Morhart-Bojko
Schulstr. 61
94518 Spiegelau Dr. phil. Andreas Müller-Cyran, M.A.
PSNV der LH-München
Schrammerstrasse 3
80333 München Priv.-Doz. Dr. med. Christopher Neuhaus, M.Sc., MHBA
Universitätsklinikum Heidelberg
Klinik für Anästhesiologie
Im Neuenheimer Feld 420
69120 Heidelberg Prof. Dr. med. Tim Piepho
Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Trier
Abteilung für Anästhesie und Intensivmedizin
Nordallee 1
54292 Trier Dr. med. Roswitha Prohaska
Ärztin für Allgemeinmedizin und Notärztin,
Arbeitsmedizin, Palliativmedizin
Expert in Baromedicine (ECHM)
Dornbacher Straße 17
1170 Wien
Österreich
Priv.-Doz. Dr. Simon Rauch, PhD, EDIC Institut für Alpine Notfallmedizin
EURAC Research
Hypatiastraße 2
39100 Bozen
Italien Klemens Reindl
Bayerisches Rotes Kreuz
Kreisverband Garmisch-Partenkirchen
Falkenstr. 9
82467 Garmisch-Partenkirchen Prof. Dr. med. Michael Reng
Klinikum Landshut
Zentrale Notaufnahme
Robert-Koch-Str. 1
84034 Landshut Dr. Katja Rücker
Essex & Herts Air Ambulance
CO6 2NS Earls Colne
UK Branddirektor Dipl.-Ing. (FH) Stephan Rudolph
Landeshauptstadt München
Kreisverwaltungsreferat IV – Branddirektion
Einsatzbetrieb – Direktion Nord
An der Hauptfeuerwache 8
80331 München Dr. med. Matthias Ruppert
ADAC HEMS Academy GmbH
Richthofenstraße 142
53757 Sankt Augustin
und
ADAC Luftrettung gGmbH
Hansastraße 19
80686 München Dr. med. Martin Schiffarth
ADAC Luftrettung gGmbH
Boulevard 2
53520 Nürburg Falko Schmid, MBA, Dipl. sc. pol. Univ., Dipl.-VwWirt (FH)
16 Eastbourne Terrace
W2 6LG London
UK Dr. Willi Schmidbauer
BundeswehrZentralkrankenhaus Koblenz
Klinik für Anästhesiologe, Intensivmedizin,
Notfallmedizin und Schmerztherapie
Rübenacher Str. 170
56072 Koblenz Dr. med. Jens Schwietring
ADAC Luftrettung gGmbH
Hansastraße 19
80686 München Monika Seemann
Universitätsklinikum Augsburg
Hochschulambulanz für Umweltmedizin
Stenglinstraße 2
86156 Augsburg Priv.-Doz. Dr. med. Michael St. Pierre, M.Sc., DEAA
Universitätsklinikum Erlangen
Anästhesiologische Klinik
Krankenhausstraße 12 91054 Erlangen Dr. med. Markus Stuhr
BG Klinikum Hamburg
Abteilung für Anästhesie, Intensiv-, Rettungs- und
Schmerzmedizin
Labor für Biomechanik
Bergedorfer Straße 10
21033 Hamburg
und
Deutsche Gesellschaft für Maritime Medizin e.V.
Arbeitsgruppe „Maritime Notfallmedizin“
Seewartenstraße 10
20459 Hamburg Dr. med. Wolfgang Tichy
Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Trier
Abteilung für Anästhesie und Intensivmedizin
Nordallee 1
54292 Trier Dr. med. Josefine Tiedemann
Klinikum Westbrandenburg Potsdam
Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Potsdam
Charlottenstraße 72
14467 Potsdam Prof. Dr. med. Claudia Traidl-Hoffmann
Universität Augsburg
Medizinische Fakultät
Lehrstuhl und Hochschulambulanz für
Umweltmedizin
Stenglinstraße 2
86156 Augsburg
Univ.- Prof. Dr. Wolfgang Voelckel, M.Sc.
AUVA-Unfallkrankenhaus Salzburg
Abteilung für Anästhesie und Intensivmedizin
Dr.-Franz-Rehrl-Platz 5
5010 Salzburg
Österreich
und
ÖAMTC Flugrettung
Baumgasse 129
1030 Wien
Österreich Dr. Bernd Wallner, PhD, EDAIC
Medizinische Universität Innsbruck
Universitätsklinik für Anästhesie und
Intensivmedizin
Anichstraße 35
6020 Innsbruck
Österreich Dr. med. Karlheinz Waltner
Klinikum Leer
Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie
Augustenstraße 35–37
26789 Leer Sebastian Weber, OSA
Bundeswehrkrankenhaus Ulm
Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin,
Notfallmedizin und Schmerztherapie
Oberer Eselsberg 40
89081 Ulm Dr. rer. nat. Nils Weinrich
BG Klinikum Hamburg
Labor für Biomechanik
Bergedorfer Straße 10
21033 Hamburg KOR Michael Weinzierl Bayerisches Landeskriminalamt Maillingerstr. 15
80686 München Dr. med. Wilhelm Welslau
Facharzt für Arbeitsmedizin, Sportmedizin
Diving and Hyperbaric Medicine Consultant GTÜM/
EDTC/ECHM
Dornbacher Straße 17
1170 Wien
Österreich Dr. med. Andreas Werner
Charité – Universitätsmedizin Berlin
Institut für Physiologie – ZWMB
Charitéplatz 1
10117 Berlin
und
Zentrum für Luft- und Raumfahrtmedizin der
Luftwaffe
Fachgruppe I 1 – Flugphysiologisches
Trainingszentrum
Flugphysiologische Diagnostik und Forschung
Steinborner Straße 43
01936 Königsbrück Dr. med. Daniel Werner
Klinikum der Universität München
Klinik für Anästhesiologie
Marchioninistr. 15
81377 München
und
ADAC Luftrettung gGmbH
Hansastr. 19
80686 München Dr. med. Michael Winter
Evangelisches Krankenhaus Königin Elisabeth
Herzberge
Herzbergstraße 79
10365 Berlin
und
Ärzte ohne Grenzen e.V.
Schwedenstraße 9
13359 Berlin Dr. med. Benno Wolcke
Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Klinik für Anästhesiologie
Langenbeckstraße 1 55131 Mainz Dr. sc. nat. Gerold Zeilinger
Universität Potsdam
Institut für Geowissenschaften
Karl-Liebknecht-Str. 24/25 14476 Golm
Sachwortverzeichnis A ABCDE-Schema 180, 278, 284, 307 AAAA-C-EEEE-Schema 69 ABCDE-Schema 158, 200, 278 abgelegene Gegend 20 Ablassen 178 Abseilen 178 Absturz 72, 112, 229 adaptierte Versorgungsstrategie 5 Advanced life support 217 Affektheuristik 16 Afterdrop 210 Ahrtal-Katastrophe 371 Akute Höhenkrankheit (AMS) 243 akzidentelle Hyperthermie 24 akzidentelle Hypothermie 23, 231 Alarmierungskette 20 Alarmpläne 74 alpines Umfeld 33, 185, 229 Amok 289 Amputationen 384 Analgosedierung 28, 30 Analytische Task Force 89 Angstreaktion 70, 176, 296 Anilin 92 Antarktis 252 apnoeische Oxygenation 31 Arbeitsunfall 76 Arktis 252 Arterielle Gasembolie (AGE) 214 Atemgift 69 Atemschutznotfall 298 Atemwegsmanagement 28, 239 Atemwegssicherung 28, 185 atomare Strahlung 71 Augenspülung 84 Augenverletzung 84 Ausschleusung 109
B Bahnbetrieb 129
Barotrauma 114 Base-Jumping 184 Basic life support 217 Baustelle 116 bedrohliche Lage 278 Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS) 298 Beinahe-Ertrinken 25 Bergesack 191 Bergrettung 33, 175, 184 Bergsport 175, 184 Bergwerke 103 berufsgenossenschaftliche Hintergründe 76 Berufsschifffahrt 204 Beschleunigung 152 besondere öffentliche Wahrnehmung 269 betriebliche Ersthelfer 75 betriebsinterne Kommunikation 74 Biomonitoring 95 Blausäure 92 Blitzunfall 25, 242 Böschung 102 Brand 103
C Cable Cutter 191 Canyoning 184 CBRN 345 Chemie-Unfall 87 chemische Industrie 87 chemische Stoffe 71 Chlorgas 93 CO2-Intoxikation 114 CO-Intoxikation 115 Containerterminal 80 CPAP 218 crush injury 385
D Dekompressionserkrankung (DCI) 212 Dekompressionskrankheit (DCS) 112, 115, 213 Dekontamination 90, 339 Delayed sequence induction algorithm 32 deprofessionalisierte Information 315 Detektion 334
Druckluftarbeit 109 Druckluftarzt 112 druckluftbedingte Erkrankungen 114
E Einklemmung 34, 158 Einsturz 72, 175 Eisenbahnbetrieb 80 Eisschlag 229 Elektrizität 72, 130, 175 Enge 77, 103, 182 Entwaffnung 283 Erdbeben 380 Erschöpfung 197 Ersticken 112 Ertrinken 112, 209 Evakuierung 304 Explosion 72, 79, 175 Extrembedingungen, physisch 14 Extrembedingungen, psychisch 14
F Faktor Mensch 9, 361 Feuer 100 Flughöhe 150 Flugunfall 241 Flugverfahren 188 Flugzeugbesatzung 148 Flüssigkeitstherapie 218 Forschungsstation 253
G GAMS-Regel 88 Gasgesetze 151 Gasvergiftung 112 Gebirge 185 Gefährdungslage 298 Gefahrenabwehrleitung 310 Gefahrenbereiche bei bedrohlichen Lagen 281 Gefahrenbereiche bei Polizeilage 303, 307 Gefahrgut 88 Gefahrgutexposition 197 Gefahrgutkennzeichnung 73, 90
Geostationary Navigation Overlay Services (EGNOS) 59 Gleitschirmfliegen 242 Gletscherspalte 229 golden hour of shock 381 Großschadensereignis 57 Großveranstaltung 271, 274 Grubenwehrleute 107
H Handelsschiff 203 Hängegleiten 242 Hängesyndrom 243 Hängetrauma 82, 124, 198 Helicopter Underwater Escape Trainer 205 Heurismen 16 Hitze 77, 226 Hitzewellen 325 Hochspannungsleitung 173 Hochwasser 269 Höhe 122, 150, 173, 229 Höhenhirnödem (HACE) 245 Höhenkrankheit 243 Höhenlungenödem (HAPE) 244 Höhenrettung 101 hohe Temperaturen 223 Hubschrauber 178, 183 Human Error 11 Human Factors 9 Human Factors Engineering (HFE) 13 Human Factors, unveränderbar 10 Human Factors, veränderbar 10 Humanfaktor 9 Hypothermie 42, 197, 209, 219, 231
I Immobilisation 25 Industrieanlagen 69 in-flight medical emergencies (IFME) 148 Infrastruktur, zerstört 364 Infusionstherapie 218 Inhalationstrauma 112 Initial Assessment 285 Insolation 197 Internationale Zivilluftfahrtorganisation (ICAO) 148
Intubation 29, 218 Isolation 255
J Journalismus 314
K Kampfstoffe 338 Kapp-Rettung 178, 191 kardiale Erkrankung 149 kardiovaskulärer Notfall 198 Katastrophenalarm 269 Katastrophenmedizin 367 Katastrophenschutz 280 Katastrophensituation 269 klimatische Besonderheiten 252 Klimatisierung 225 kognitive Notfallreaktion 17 Kommunikationsregeln 318 Kompetenzschutz 17 Kreuzfahrtschiff 204 Krisenintervention 62
L Landeplatzauswahl 56 Landtransport 258 Lärm 77 Lawinenunfall 43, 236 lebensbedrohliche Einsatzlagen 61 Leitstelle 53, 56, 306 Licht, künstlich 103 Luftdruck 109, 150 Luftfahrzeug 208 Luftrettung 49, 101, 223, 230 Luftrettungsmittel 54 Luftrettungssack 191 Lufttransport 261 Lungen-Überdruckbarotrauma 115
M maritimes Umfeld 203
Massenanfall von Verletzten (MANV) 140, 209, 269, 277, 278, 286, 289, 307 Massenveranstaltung 274 Medien 314 Militär 283, 287
N Nadelstichverletzung 298 Narkose 28 Naturgefahr 357 Naturkatastrophe 269, 356 niedrige Temperatur 252 Nitrox 217 Notarztkoffer im ICE 132 Notdekontamination 91 Notfalldekontamination 82 Notruf 22
O O2-Intoxikation 114 Oberleitung 130 Öffentlichkeit 293, 314 Öffentlichkeitsarbeit 314 orale Flüssigkeitszufuhr 218
P Panik 296 pathophysiologische Besonderheiten 197 Patientensicherheit 6 Patiententrage 189 Patiententransport 176 Patientenversorgung 9 penetrierendes Trauma 45 Person des öffentlichen Lebens 292 Personenschleuse 109 Personenschutz 292, 293 Phosgen 94 Planetary Health 325 Plattform 205 Polarregion 250 Politiker 292 Polizei 301 Prä-oxygenation 31 Presse 315
Pressemitteilung 320 Produktkontakt 82 Prominente 292 Psychosoziale Akuthilfe 61 psychosoziale Notfallsituation 298 Psychosoziale Notfallversorgung 62
R Reanimation 38, 47 Reizgas-Beaufschlagung 298 Rekapillarisierungszeit 166 Rekompressionstherapie 219 Re-oxygenation 31 Ressourcenknappheit 229 Ressourcenmangel 20 Rettungsdreieck 191 Rettungshubschrauber (RTH) 50, 139 Rettungskollaps 210 Rettungsverfahren 188 Rettungswinde 51, 187, 190 Rettung, technisch 159 Risikomanagement 4 Rohrbrücken 78 Rutschkupplung 191
S Sauerstoffinhalation 217 Sauerstofftherapie 217 Schacht 102 Schachtanlage 78 Schienenfahrzeug 129 Schiff 81 Schifffahrt 22 Schlammlawine 269 Schmerztherapie 26 Schwefelwasserstoff 94 schwieriges Gelände 183 scoop and run 45 Seenotrettung 208 Seetransport 261 Seiltechnik 190 Selbstüberschätzung 229 sicherer Bereich 284 Sicherheitsdatenblätter 73
Sicherungstechnik 176 Skifahren 184 Spaltenunfall 238 Speed-Gliding 184 Spezialeinheit 301 spezielle Notrufnummern 21 Sportschifffahrt 204 Sportveranstaltung 274 Sprengvorrichtung 191 Staatsbesuch 294 Starkregen 100 Steinschlag 229 Stichverletzung 298 Strahlenschutz 344 Stress 15, 17, 296 Stromschienen 130
T Tactical Combat Care Guidelines 33 Tagebau 97 Tankanlage 79 taucherärztliche Telefonberatung 220 Tauchprofil 215 Tauchunfall 212 Taurettung 188 Tactical Combat Casualty Care (TCCC-Konzept) 283 Team Ressource Management 100 technische Rettung 159 Technisches Hilfswerk (THW) 174 Telemedizin 123, 251, 261 Telenotarzt 123 TEMS-Konzept 284 Terrorlage 278, 305 Tiefen 122, 173 Tiefenrausch 114 Tornado 269 Trauma 197 Triage 283 Tropen 223 Tropenexpedition 223 Tunnelbau 109
U Überdruck 109
Überdruckbaustelle 109 Überleben auf See 207 Überschwemmung 269 Unterwasserausstiegstraining 205 Unwetter 269
V Verätzung 82 Verbrennung 81, 112 Verbrühung 81 Verhältnisprävention 13 Verkehrsflugzeug 148 Versorgungssicherheit 6 Videolaryngoskopie 36 visual flight rules 54 Voyeurismus 314
W Wandern 184 Wärmeerhalt 164 Wasserdurchfahrt 100 Wasserfahrzeug 208 wassergestützte Rettung 122 Wassersport 22, 204 Werkfeuerwehr 75 Werkschutz 75 Wetterphänomen 175, 229 Windenergieanlage 118 Windenergieanlage Offshore 205 Windenhaken 190 Windenkonfiguration 189 Windenrettung 183 Windkraftanlage Offshore 118 Windkraftanlage Onshore 118 Wintersport 184
Z Zugunfall 146 Zugverkehr 130