Rücknahme und Widerruf von Verwaltungsakten - Aufhebung und Änderung von Steuerbescheiden: Unterschiede und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung zweier Korrektursysteme [1 ed.] 9783428493821, 9783428093823

Im allgemeinen Verwaltungsrecht gilt das Verwaltungsverfahrensgesetz mit seinen Regeln über Rücknahme und Widerruf von V

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Rücknahme und Widerruf von Verwaltungsakten - Aufhebung und Änderung von Steuerbescheiden: Unterschiede und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung zweier Korrektursysteme [1 ed.]
 9783428493821, 9783428093823

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MARCUS ARNDT

Rücknahme und Widerruf von Verwaltungsakten Aufhebung und Änderung von Steuerbescheiden

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 753

Rücknahme und Widerruf von Verwaltungsakten - Aufhebung und •· Änderung von Steuerbescheiden Unterschiede und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung zweier Korrektursysteme

Von Marcus Arndt

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Arndt, Marcus: Rücknahme und Widerruf von Verwaltungsakten - Aufhebung und Änderung von Steuerbescheiden : Unterschiede und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung zweier Korrektursysteme / von Marcus Arndt. Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 753) Zugl.: Kiel, Univ., Diss., 1997/98 ISBN 3-428-09382-8

Alle Rechte vorbehalten © 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-09382-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Meinen Eltern in Dankbarkeit für ihre Unterstützung

Vorwort Die Arbeit ist in der Zeit von April 1995 bis Juli 1997 während meiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel entstanden. Sie wurde im Wintersemester 1997/98 von der Fakultät als Dissertation angenommen und mit dem Fakultätspreis des Jahres 1997 ausgezeichnet. Rechtsprechung und Literatur sind - soweit sie mir zur Verfügung standen - bis Ende des Jahres 1997 berücksichtigt. Doktorvater ist Herr Prof. Dr. Sonnenschein, der das Thema angeregt und mich während der Arbeit vorbildlich betreut hat. Ich danke ihm für seine Gesprächs» und Hilfsbereitschaft, für seine Wachsamkeit über das Fortschreiten der Arbeit und für seine freundliche, persönliche Art, die er mir entgegengebracht hat. Ebenso gebührt mein Dank Herrn MDgt. a.D. Prof. Dr. Klappstein, der das Zweitgutachten erstellt und mich mit hilfreichen Anregungen zum Thema der Arbeit unterstützt hat. Das Bundesministerium des Innern hat die Veröffentlichung der Arbeit mit einem großzügigen Druckkostenzuschuß aus Bundesmitteln gefordert. Einen herzlichen Dank sage ich allen, die mir beim Erstellen des Manuskripts behilflich waren. Das gilt besonders für meine Mutter, Gisela Arndt, sowie für Frauke Meißler, Björn Sepke, Christoph Nawroth und Holger Möller.

Kiel, im März 1998

Marcus Arndt

Inhaltsverzeichnis

1. Teil Einleitung A. Ausgangssituation I. Verschiedene Verfahrensordnungen Π. Verschiedene Korrekturregeln ΙΠ. Rechtfertigung der uneinheitlichen Rechtslage IV. Folgen der uneinheitlichen Rechtslage B. Ziel der Arbeit C. Gang der Untersuchung D. Terminologie

17 17 19 20 21 25 26 27

2. Teil Historische Entwicklung von Korrekturregeln A. Zeit bis zur Anerkennung der Bestandskraft 29 I. Erste Korrekturregeln im Steuerrecht 30 Π. Erste Korrekturregeln im Verwaltungsrecht 32 B. Zeit nach Anerkennung der Bestandskraft 34 C. Zeit nach Kodifizierung des Steuerverfahrensrechts im Jahr 1919 36 I. Einfluß der Reichsabgabenordnung auf die Entwicklungen im Steuerrecht.. 36 Π. Einfluß der fehlenden Kodifizierung auf die Entwicklung im Verwaltungsrecht 37 D. Kodifizierung des allgemeinen Verwaltungsverfahrensrechts 39 E. Reform der Reichsabgabenordnung 41

10

Inhaltsverzeichnis 3. Teil Überblick über die gegenwärtigen Korrekturregeln

A. Allgemeines B. Die Korrekturvorschriften im allgemeinen Verwaltungsrecht I. Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte, § 48 VwVfG Π. Widerruf rechtmäßiger Verwaltungsakte, § 49 VwVfG ΙΠ. Wiederaufgreifen des Verfahrens 1. Wiederaufgreifen im engeren Sinne gem. § 51 VwVfG 2. Wiederaufgreifen im weiteren Sinne anläßlich einer Korrektur gem. §§ 48,49 VwVfG 3. Verhältnis zwischen dem Wiederaufgreifen im engeren und im weiteren Sinne C. Die Korrekturvorschriften im Steuerrecht I. Enumeratives Korrektursystem Π. Korrekturvoraussetzungen 1. Allgemeine Korrekturvoraussetzungen 2. Besondere Korrekturtatbestände

43 44 44 46 47 47 48 49 49 50 50 51 52

4. Teil Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung A. Allgemeiner Vergleich I. Vergleich der Wirkung von Rücknahme und Widerruf mit der Wirkung von Aufhebung und Änderung 1. Vergleich der Wirkung einer Aufhebung mit der Wirkung von Rücknahme und Widerruf 2. Vergleich der Wirkung einer Änderung mit der Wirkung von Rücknahme und Widerruf a) Zu hohe Steuerfestsetzung b) Zu niedrige Steuerfestsetzung 3. Möglichkeiten zur Vereinheitlichung Π. Vergleich von Rücknahme und Widerruf begünstigender oder nicht begünstigender Verwaltungsakte mit Änderungen des Steuerbescheides zugunsten oder zuungunsten des Betroffenen 1. Zu hohe Festsetzung eines vom Adressaten zu zahlenden Geldbetrages 2. Zu niedrige Festsetzung eines vom Adressaten zu zahlenden Geldbetrages a) Bewertung als Rücknahme eines belastenden Verwaltungsaktes

54 55 56 56 57 57 59

60 ..61 61 62

Inhaltsverzeichnis b) Bewertung als Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsaktes.. 62 3. Zu hohe oder zu niedrige Festsetzung eines an den Adressaten zu zahlenden Geldbetrages 65 4. Vergleichsergebnis zu Π 66 5. Möglichkeiten zur Vereinheitlichung 66 ΙΠ. Vergleich bezüglich der Bedeutung von Rechtmäßigkeit und Rechtswidrigkeit des zu korrigierenden Verwaltungsaktes 68 1. Bedeutung von Rechtmäßigkeit und Rechtswidrigkeit des zu korrigierenden Verwaltungsaktes im allgemeinen Verwaltungsrecht und im Steuerrecht 68 2. Maßgeblicher Zeitpunkt fur die Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines zu korrigierenden Verwaltungsaktes 70 a) Maßgeblicher Zeitpunkt im Verwaltungsrecht 70 b) Maßgeblicher Zeitpunkt im Steuerrecht 74 3. Vergleichsergebnis zu ΠΙ 77 4. Möglichkeiten zur Vereinheitlichung 77 IV. Vergleich der Verfristungen von Korrekturmöglichkeiten 78 1. Unterschiede in der Art der Fristenregelungen 79 2. Unterschiede im Anwendungsbereich der Fristenregelungen 82 a) Rücknahme belastender Verwaltungsakte 82 b) Rücknahme in den Fällen des § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 VwVfG 82 3. Unterschiede beim Beginn der Frist 83 a) Fristbeginn im Verlauf und am Ende eines Kalendeijahres 83 b) Fristbeginn auslösendes Ereignis 85 4. Unterschiede bei der Fristendauer 86 5. Unterschiede bei der Hemmung des Fristablaufs 86 6. Möglichkeiten zur Vereinheitlichung 87 a) Verwendbarkeit eines der Fristenkonzepte für beide Verfahrensordnungen 87 b) Kombination beider Fristenkonzepte 90 V. Vergleich bezüglich des Korrekturermessens der Behörde 95 1. Unterschiede und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung beim Entschließungsermessen 96 a) Unterschiede 96 b) Möglichkeiten zur Vereinheitlichung 97 2. Unterschiede und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung beim Auswahlermessen 100 a) Auswahlermessen bezüglich der zeitlichen Wirkung der Korrektur... 100 aa) Gestaltungsmöglichkeiten der Behörde bei der zeitlichen Wirkung von Korrekturen nach allgemeinem Verwaltungsrecht 100

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Inhaltsverzeichnis

bb) Gestaltungsmöglichkeiten der Behörde bei der zeitlichen Wirkung von Korrekturen im Steuerrecht 102 cc) Vergleichsergebnis zu a) 106 dd) Möglichkeiten zur Vereinheitlichung 106 b) Auswahlermessen bezüglich vollständiger oder teilweiser Korrektur. 109 aa) Rechtslage im allgemeinen Verwaltungsrecht 109 bb) Rechtslage im Steuerrecht 110 VI. Vergleich bezüglich der Ermächtigungssystematik - Einzelermächtigungen durch Benennen bestimmter Korrekturfälle (sog. Enumerationsprinzip) oder Pauschalermächtigung mit Einschränkungsregeln? 111 1. Vergleich 111 2. Möglichkeiten zur Vereinheitlichung 112 B. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände 114 I. Erwirken eines Verwaltungsaktes durch unlautere Mittel 114 Π. Verwaltungsakt einer sachlich unzuständigen Behörde 117 ΙΠ. Zustimmung oder Antrag des Adressaten 119 1. Rechtslage im Steuerrecht 119 2. Rechtslage im allgemeinen Verwaltungsrecht 120 3. Möglichkeiten zur Vereinheitlichung 122 IV. Mangelnde Berücksichtigung von Tatsachen 126 1. Korrekturen zu Lasten des Betroffenen 127 a) Vergleich 127 aa) Dem Bürger zuzurechnender Mangel 128 bb) Der Behörde zuzurechnender Mangel 130 b) Möglichkeiten zur Vereinheitlichung 134 2. Korrekturen zugunsten des Betroffenen 137 a) Grobes Verschulden des Betroffenen am verspäteten Bekanntwerden der günstigen Tatsachen 138 b) Unbeachtlichkeit des Verschuldens bei gleichzeitig nachteiligen Tatsachen 139 aa) Unterschiede 139 bb) Möglichkeiten zur Vereinheitlichung 139 c) Ausschluß der Korrektur nach Außenprüfung 140 d) Besondere zeitliche Korrekturgrenzen 141 V. Widerstreitende Verwaltungsakte 144 1. Allgemeines 144 2. Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung 145 a) Fälle des § 174 Abs. 1 AO 147 b) Fälle des § 174 Abs. 2 AO 149 c) Fälle des § 174 Abs. 3 AO 151 aa) Korrekturen zugunsten des Steuerpflichtigen 151

Inhaltsverzeichnis bb) Korrekturen zuungunsten des Steuerpflichtigen 154 (1) Differenzen beim Ausschluß von Vertrauensschutz durch Tatbestandsmerkmale? 155 (2) Differenzen beim Vertrauensschutz im Sonderfall „Vertrauen auf günstigeren Steuersatz bei verschiedenen Steuerarten"? 158 (3) Differenzen beim Vertrauensschutz im Sonderfall „Kenntnis der Rechtswidrigkeit trotz fehlender Erkennbarkeit der Nichtberücksichtigung"? 160 d) Fälle des § 174 Abs. 4 und 5 AO 161 aa) Korrekturen zugunsten des Steuerpflichtigen oder eines Dritten... 162 bb) Korrekturen zuungunsten des Steuerpflichtigen 164 (1) Korrektur gegenüber dem die vorangegangene Korrektur veranlassenden Steuerpflichtigen 164 (2) Korrekturen gegenüber Dritten 167 VI. Folgekorrekturen nach Erlaß, Aufhebung oder Änderung sogenannter Grundlagenbescheide 169 1. Korrektur des Folgebescheides zugunsten des Betroffenen 171 2. Korrektur des Folgebescheides zuungunsten des Betroffenen 174 a) Allgemeines 174 b) Vergleich 175 aa) Anpassung des Folgebescheides aufgrund einer Aufhebung oder Änderung des Grundlagenbescheides 176 bb) Korrektur des Folgebescheides nach Erlaß eines Grundlagenbescheides 178 cc) Korrektur des Folgebescheides nach fehlender oder fehlerhafter Auswertung eines Grundlagenbescheides 180 VII. Rückwirkende Ereignisse 183 1. Korrekturen zugunsten des Betroffenen 184 2. Korrekturen zuungunsten des Betroffenen 187 VIH. Korrektur sonstiger, unbenannter Fehler und Kompensation bei mehreren, gegenläufigen Fehlern 191 1. Korrekturmöglichkeiten bei Rechtswidrigkeit des Steuerbescheides aufgrund eines unbenannten Fehlers 193 a) Unbenannter Fehler zum Nachteil des Steuerpflichtigen 193 b) Unbenannter Fehler zum Vorteil des Steuerpflichtigen 194 c) Möglichkeiten zur Vereinheitlichung 194 2. Korrekturmöglichkeiten bei Rechtswidrigkeit des Steuerbescheides aufgrund eines benannten und eines gegenläufigen unbenannten Fehlers 195 a) Auswirkung des unbenannten Fehlers übersteigt Auswirkung des benannten Fehlers 195

14

Inhaltsverzeichnis aa) Korrekturmöglichkeiten nach Steuerrecht 196 bb) Korrekturmöglichkeiten nach allgemeinem Verwaltungsrecht 196 b) Auswirkung des benannten Fehlers übersteigt Auswirkung des unbenannten Fehlers 197 c) Möglichkeiten zur Vereinheitlichung 198 IX. Korrektur zuungunsten des Betroffenen wegen Rechtswidrigkeit von Gesetzen und Verwaltungsvorschriften sowie wegen Änderung der Rechtsprechung 200 1. Vergleich 202 a) Feststellung der Nichtigkeit eines Gesetzes durch das Bundesverfassungsgericht 202 b) Nichtanwendung einer Norm durch einen obersten Gerichtshof des Bundes wegen vermuteter Rechtswidrigkeit 203 c) Änderung der Rechtsprechung eines der obersten Gerichtshöfe 205 d) Von einem obersten Gerichtshof des Bundes für rechtswidrig gehaltene Verwaltungsvorschriften 206 e) Vergleichsergebnis zu 1 208 2. Möglichkeiten zur Vereinheitlichung 209 5. Teil Schlußbemerkungen

A. Zusammenfassung der Ergebnisse I. Zum allgemeinen Vergleich Π. Zum Vergleich einzelner Korrekturtatbestände B. Abschließende Wertung

211 211 213 217

Anhang Wortlaut der im 3. Teil zitierten älteren Gesetze I. Edikt über die Einführung einer allgemeinen Gewerbe-Steuer vom 28.10.1810 (Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1810, S. 79) 221 Π. Zoll- und Verbrauchs-Steuer-Ordnung (Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1818, S. 102) 222 ΙΠ. Ordnung zum Gesetz wegen Versteuerung des inländischen Branntweins, Braumalzes, Weinmostes und der Tabaksblätter (Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1819, S. 102) 222

Inhaltsverzeichnis IV. Gesetz über die Verjährungsfristen bei öffentlichen Abgaben (GesetzSammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1840, S. 140) 223 V. Vollzugsordnung zum Gesetze über die Organisation der inneren Verwaltung; insbesondere die Einrichtung und Zuständigkeit der Behörden und das Verfahren betreffend (Großherzoglich Badisches Regierungsblatt 1864 S. 333 ff., abgedruckt bei Ipsen, S. 184) 223 VI. Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund (Bundes-Gesetzblatt des Norddeutschen Bundes 1869, S. 245) 224 VE. Gesetz, betreffend die Besteuerung des Gewerbebetriebes im Umherziehen und einige Abänderungen des Gesetzes wegen Entrichtung der Gewerbesteuer vom 30. Mai 1820 (Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1876, S. 247) 225 Vm. Zuwachssteuergesetz (Reichs-Gesetzblatt 1911, S. 33) 226 IX. Reichsabgabenordnung vom 13.12.1919 (RGBl. IS. 1993) 226 X. Landesverwaltungsordnung für Thüringen vom 10. Juni 1926 in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. Juli 1930 (Gesetzsammlung fur Thüringen 1926, S. 177 und 1930, S. 123; zit. nach Ipsen S. 188 f.) 228 XI. Polizeiverwaltungsgesetz vom 1. Juni 1931 (Preußische Gesetzsammlung 1931, S. 77) 231 Literaturverzeichnis

232

Sachwortverzeichnis

245

7. Teil Einleitung Entschließt sich der Gesetzgeber, ein Rechtsgebiet zu kodifizieren, so muß er sich zahlreichen Fragen stellen. Zum einen muß er bestimmen, was inhaltlich rechtens sein soll, wie also das Rechtsgebiet in materieller Hinsicht auszugestalten ist.1 Zum anderen muß er vielfaltige gesetzestechnische Probleme lösen. Hierzu gehört auch die Entscheidung darüber, wie konkret oder abstrakt die Regeln für ein Rechtsgebiet abzufassen sind. Je konkreter der Gesetzgeber die Vorschriften eines Rechtsgebietes ausgestaltet, desto genauer kann er seine materiellen Wertungen auf den Einzelfall abstimmen. Außerdem bereiten konkretere Normen dem Rechtsanwender geringere Schwierigkeiten bei der Subsumtion. Der Nachteil konkreter Vorschriften besteht allerdings darin, daß sie weniger geeignet sind, eine Vielzahl von Lebenssachverhalten zu erfassen. Der mögliche Anwendungsbereich einer Norm verringert sich mit zunehmender Konkretheit, so daß die Anzahl der zur Regelung des Rechtsgebietes erforderlichen Rechtssätze zunimmt. Dabei kann schnell eine unübersichtliche Rechtslage entstehen. Der Gesetzgeber muß deshalb mit dem richtigen Maß an Konkretheit einen angemessenen Kompromiß zwischen Rechtsgenauigkeit und Rechtseinheitlichkeit suchen.

A. Ausgangssituation L Verschiedene Verfahrensordnungen Die öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit der Behörden ist im Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes und den damit weitgehend übereinstimmenden Verwaltungsverfahrensgesetzen der Länder geregelt. Zuvor war das Verwaltungsverfahren nicht einheitlich, sondern jeweils in den einzelnen sonderrechtlichen Verwaltungsgesetzen als Annexmaterie geregelt. Daneben galten verschiedene ungeschriebene Verfahrensgrundsätze, die im Laufe der

1

Wahl S. 19.

2 Arndt

1. Teil: Einleitung

18

Zeit von Rechtsprechung und Wissenschaft entwickelt worden waren.2 Mit der Einführung des Verwaltungsverfahrensgesetzes im Jahre 19763 beabsichtigte man, allgemeingültige Regeln über das Verwaltungsverfahren in einem einheitlichen Mantelgesetz zusammenzufassen.4 Hierdurch konnten das verwaltungsrechtliche Sonderrecht weitgehend von spezifischen Verfahrensvorschriften befreit 5 und diese Regeln in einem „vor die Klammer" gezogenen Gesetzeswerk zusammengefaßt werden.6 Außerdem wurden die bis dahin entwickelten ungeschriebenen Regeln erstmals kodifiziert. Dem Verwaltungsverfahrensgesetz kommt damit die Funktion eines allgemeinen Teils für das Verwaltungsrecht zu.7 Dennoch ist es den Gesetzesverfassern nicht gelungen, den Anwendungsbereich des Verwaltungsverfahrensgesetzes auf alle Sachgebiete der öffentlichen Verwaltung auszudehnen.8 § 2 VwVfG enthält eine Reihe von Rechtsgebieten, deren Besonderheiten man für so bedeutend hielt, daß sie vom Anwendungsbereich des Verwaltungsverfahrensgesetzes ausgenommen wurden.9 Zu dieser sogenannten „Verlustliste der Rechtseinheit"10 gehört insbesondere auch das Steuerverfahrensrecht (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG). Das Steuerverfahrensrecht war bereits seit 1919 in der Reichsabgabenordnung kodifiziert. 11 Ein völliges Abrücken von diesen Regeln erschien untunlich. Das geltende Steuerverfahrensrecht hatte sich bei den Finanzbehörden seit Jahrzehnten eingespielt.12 Zudem schien den Gesetzesverfassern das Besteuerungsverfahren zu sehr von steuergesetzlichen Besonderheiten geprägt zu sein, als daß es den allgemeinen

2

Begr. zum RegE eines VwVfG, BT-Drucks. 7/910 S. 1 und S. 28. BGBl. 1 1976 S. 1253. 4 Begr. zum RegE eines VwVfG, BT-Drucks. 7/910 S. 1 f. 5 Vgl. Übersicht bei Klappstein, Anhang DI i.V.m. Anhang Π zu noch verbliebenen sonderrechtlichen Regeln über die Korrektur von Verwaltungsakten. 6 Bonk DVB1. 1986,485 (485). 7 Vgl. Begr. zum RegE eines VwVfG, BT-Drucks. 7/910 S. 28; Ule/Laubinger § 5 Rz. 1; Kopp Vor § 1 Rz. 3; vgl. auch Hufnagel DVB1. 1950, 559 sowie v. Rosen-v. Hoewel DÖV 1952, 101 ff., mit frühen Forderungen nach einer Kodifizierung eines allgemeinen Teils des Verwaltungsrechts. 8 Vgl. allg. Begr. Nr. 5.32 zum Musterentwurf (EVwVerfG 1963), S. 67. 9 Begr. zum RegE eines VwVfG, BT-Drucks. 7/910 S. 33 ff.; allg. Begr. Nr. 5.32 zum Musterentwurf (EVwVerfG 1963), S. 67. 10 Allg. Begr. Nr. 5.32 zum Musterentwurf (EVwVerfG 1963), S. 67; Bonk, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 2 Rz. 1; ders. DVB1. 1986, 485 (487); Kopp § 2 Rz. 1. 11 Reichsabgabenordnung 1919 v. 13.12.1919, RGBl. I S. 1993; später Reichsabgabenordnung 1931 v. 22.5.1931, RGBl. I S. 161. 12 Begr. zu § 2 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG des RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 33. 3

. Ausgagssituation

19

Regeln des Verwaltungsverfahrensgesetzes unterstellt werden könne.13 Das Steuerverfahrensrecht sollte deshalb auch künftig in einer eigenständigen Verfahrensordnung geregelt sein. Die dadurch entstehende Rechtsuneinheitlichkeit wurde zwar bedauert, aber als notwendig hingenommen.14 Zeitgleich mit den Beratungen zum Verwaltungsverfahrensgesetz wurde aber eine Reform der Reichsabgabenordnung vorbereitet. Dabei wurde geprüft, inwieweit Regeln des Verwaltungsverfahrensgesetzes in die neue Abgabenordnung übernommen werden können, um Steuerverfahrensrecht und allgemeines Verwaltungsverfahrensrecht wenigstens einander anzunähern.15 In der heute geltenden Abgabenordnung16 stimmen deshalb viele Vorschriften mit den Regeln des Verwaltungsverfahrensgesetzes teils vollkommen, teils weitgehend überein (vgl. etwa die §§ 118 ff. AO mit den §§ 35 ff. VwVfG). 17 Andere Regeln der Abgabenordnung weichen dagegen erheblich vom Verwaltungsverfahrensgesetz ab (vgl. etwa die §§ 172 ff. AO mit den §§ 48 ff. VwVfG). Die Gesetzesverfasser forderten, die zunächst noch hinzunehmenden Unterschiede zwischen Steuerverfahrensrecht und allgemeinem Verwaltungsverfahrensrecht in Zukunft weiter abzubauen.18

DL Verschiedene Korrekturregeln Ein auffalliges Beispiel für Abweichungen der Abgabenordnung vom Verwaltungsverfahrensgesetz sind die Regeln über die Korrektur von Steuerbescheiden (§§ 172 ff. AO). Nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz werden Verwaltungsakte mit Hilfe von Rücknahme und Widerruf korrigiert (§§ 48, 49 VwVfG). Daneben kann die Verwaltungsbehörde auf Antrag des Bürgers zu einem Wiederaufgreifen des Verfahrens verpflichtet sein (§ 51 VwVfG) und in der Folge einen zuvor erlassenen Verwaltungsakt durch eine neue Sachentscheidung ersetzen. Die Abgabenordnung hat zwar in ihren §§ 130, 131 die Regeln über Rücknahme und Widerruf fast wortgleich aus dem Verwaltungs-

13

Begr. zu § 2 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG des RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 33. Bericht der Abgeordneten Gerlach (Obernau), Bühling und Dr. Wending BTDrucks. 7/4494 S. 3 f. 15 Bericht und Antrag des Finanzausschusses BT-Drucks. 7/4292 S. 1; Begr. zum RegE zu § 2 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG BT-Drucks. 7/910 S. 33. 16 Abgabenordnung 1977 vom 16.3.1976, BGBl. I S. 613. 17 Vgl. Bericht der Abgeordneten Bockelberg und Meinike (Oberhausen) BTDrucks. 7/4292 S. 4 f. 18 Bericht der Abgeordneten Gerlach (Obernau), Bühling und Dr. Wendig BTDrucks. 7/4494 S. 4; Schaefer S. 67 ff. 14

1. Teil: Einleitung

20

verfahrensgesetz in das Steuerrecht übernommen.19 Diese Regeln sind aber auf die wichtigsten Verwaltungsakte im Steuerrecht, nämlich auf Steuerbescheide und einige, den Steuerbescheiden gleichgestellte Verwaltungsakte,20 nicht anwendbar (vgl. § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 d) AO). Die Rücknahme- und Widerrufsregeln der §§ 130 ff. AO gelten nur für sonstige Verwaltungsakte der Finanzbehörden, wie etwa für Bescheide über die Stundung oder den Erlaß von Steuern.21 Für die Korrektur von Steuerbescheiden enthält die Abgabenordnung in den §§ 172 ff. AO besondere Aufhebungs- und Änderungsregeln. 22 Diese Vorschriften haben mit den verwaltungsrechtlichen Rücknahme- und Widerrufsregeln keine Ähnlichkeit. Das wird bereits durch die unterschiedliche Terminologie deutlich.23 Während die §§ 48, 49 VwVfG sowie die §§ 130, 131 AO von Rücknahme und Widerruf begünstigender oder nicht begünstigender Verwaltungsakte sprechen, ist in den §§ 172 ff. AO von Aufhebung oder Änderung zugunsten oder zuungunsten des Steuerpflichtigen die Rede.24 Neben diesen sprachlichen Verschiedenheiten gibt es auch zahlreiche konzeptionelle Unterschiede beider Korrektursysteme. Weitere Abweichungen ergeben sich aus den materiellen Voraussetzungen, nach denen die Korrektur eines Verwaltungsaktes zulässig ist.25

HL Rechtfertigung der uneinheitlichen Rechtslage Wegen der Besonderheiten des Steuerrechts gegenüber dem übrigen Verwaltungsrecht werden die speziellen Korrekturregeln für Steuerbescheide zum Teil für dringend erforderlich gehalten.26 Dabei bleibt zweierlei unklar. Zum einen ist bislang nicht befriedigend geklärt, welches die „Besonderheiten des Steuerrechts" sind, die ein eigenständiges Korrektursystem für Steuerbescheide rechtfertigen sollen. Zum anderen ist noch immer ungewiß, welches die

19

Antrag des Finanzausschusses zu § 130 und § 131 AO, BT-Drucks. 7/4292 S. 29. v. Wedelstädt, in: Beermann Vor § 172 Rz. 20; Szymczak, in: Koch/Scholtz Vor § 172 Rz. 3; Tipke/Kruse Vor § 172 Rz. 4, jeweils mit Übersichten zu gleichgestellten Verwaltungsakten. 21 Spanner, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler Vor § 130 Rz. 7; Förster, in: Koch/Scholtz § 130 Rz. 2. 22 Birk § 14 Rz. 1 ff, insbes. die Obersicht S. 175. 23 Krit. Tipke/Kruse Vor § 130 Rz. 4. 24 Vgl. hierzu Tipke/Kruse Vor § 130 Rz. 2 bis 4 sowie unten 4. Teil Α. I. und Π. 25 S.u. 4. Teil. 26 Rasenack § 12 VI, S. 217. 20

A. Ausgaiigssituation

21

genauen Unterschiede des steuerrechtlichen Korrektursystems gegenüber den verwaltungsrechtlichen Rücknahme- und Widerrufsregeln sind. Teilweise wird das steuerrechtliche Massenverfahren als Besonderheit gegenüber dem allgemeinen Verwaltungsrecht angeführt. 27 Die Finanzverwaltung sei bei den zahlreichen Steuerbescheiden28 nicht in der Lage, jeden Steuerfall ausführlich zu prüfen. Aus diesem Grunde sei es erforderlich, Erleichterungen bei der Korrektur von Steuerbescheiden zu schaffen. Die §§ 172 ff. AO würden Korrekturen daher unter weniger strengen Voraussetzungen zulassen als die §§ 48 ff. VwVfG. Demgegenüber wird das besondere Korrektursystem in den §§ 172 ff. AO mit genau der gegenteiligen Begründung für erforderlich gehalten. Steuerbescheide ergingen gem. § 157 AO in „qualifizierter Form" nach Durchführung eines ausführlichen Prüfungsverfahrens. 29 Ein solches Verfahren biete die Gewähr dafür, daß die daraufhin zustande gekommene Entscheidung grundsätzlich nicht mehr abgeändert wird. Das Korrektursystem in den §§ 172 ff. AO sei deshalb notwendig, weil es mit seinen engeren Voraussetzungen für eine Korrektur einen erhöhten Schutz der Bestandskraft bewirke.30 Diese Versuche, das Korrektursystem in den §§ 172 ff. AO mit Besonderheiten des Steuerrechts zu rechtfertigen, sind in zweierlei Hinsicht widersprüchlich. Die Besonderheit des Steuerrechts wird einmal in der Fehleranfalligkeit, ein anderes Mal in der Verläßlichkeit des Festsetzungsverfahrens gesehen. Entsprechend werden die §§ 172 ff. AO teils als Erleichterung, teils als Erschwerung von Korrekturmöglichkeiten betrachtet.

IV. Folgen der uneinheitlichen Rechtslage Aus dem Nebeneinander verschiedener Korrektursysteme ergeben sich zahlreiche nachteilige Folgen: 1. Die Rechtslage innerhalb des Steuerrechts ist unbefriedigend. 31 Die Finanzverwaltung muß mit zwei unterschiedlichen Korrektursystemen umgehen.32 Die Korrektur von Steuerbescheiden und einigen anderen, den Steuer27 28

Arndt, Allgemeines Steuerrecht S. 136 f. Arndt, Allgemeines Steuerrecht S. 137: etwa 180 Millionen Steuerbescheide im

Jahr. 29 30 31 32

Lauer S. 21. Lauer S. 22. So auch Tipke/Kruse Vor § 130 Rz. 4. Tipke/Kruse Vor § 130 Rz. 4.

1. Teil: Einleitung

22

bescheiden gleichgestellten Verwaltungsakten33, z.B. Feststellungsbescheide (§ 181 Abs. 1 S. 1 AO) oder Steuermeßbescheide (§ 184 Abs. 1 S. 3 AO), richtet sich nach den §§ 172 ff. AO. Sie erfolgt also mit Hilfe einer Aufhebung oder Änderung. Sonstige Steuerverwaltungsakte müssen dagegen nach den §§130, 131 AO korrigiert werden. Sie werden also zurückgenommen oder widerrufen. Sowohl bei der Korrektur von Steuerbescheiden als auch bei der Korrektur sonstiger Verwaltungsakte geht es um den Widerstreit zwischen Rechtssicherheit und Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns.34 Aufgabe von Korrekturvorschriften ist es, zwischen beiden Interessen einen schonenden Kompromiß zu finden. Es ist nicht einzusehen, warum dieser Kompromiß innerhalb derselben Verfahrensordnung derart unterschiedlich geregelt wird. Das Nebeneinander verschiedener Korrekturkonzepte kann zu Ungleichbehandlungen führen. So wird etwa ein Steuerbescheid gegenüber dem Steuerschuldner nach den Aufhebungs- und Änderungsregeln der §§ 172 ff. AO, ein Haftungsbescheid gegenüber dem Haftungsschuldner dagegen nach den Rücknahme- und Widerrufsregeln der §§ 130 ff. AO korrigiert. 35 Die Folge kann sein, daß die Korrektur des einen Bescheides möglich, die Korrektur des anderen Bescheides dagegen ausgeschlossen ist, obwohl beiden Bescheiden derselbe Fehler zugrunde liegt. 2. Betrachtet man die Rechtslage innerhalb des gesamten Verwaltungsrechts, so ergeben sich aus dem Nebeneinander von Abgabenordnung und Verwaltungsverfahrensgesetz mit ihren unterschiedlichen Korrekturregeln ebenfalls unbefriedigende Folgen. Das zeigt sich besonders bei der Tätigkeit der Gemeindeverwaltungen, die neben ihren allgemeinen Verwaltungsaufgaben auch für die Verwaltung bestimmter Steuerarten sowie für die Erhebung von Gebühren und Beiträgen zuständig sind.36 Will eine Gemeinde einen Straßenbaubeitragsbescheid wegen falscher Berechnungen korrigieren, so richtet sich die Korrektur in den meisten Bundesländern nach den verwaltungsrechtlichen Regeln über Rücknahme und Widerruf. Diese sind anwendbar, weil in den Kommunalabgabengesetzen dieser Länder hierauf verwiesen wird (vgl. für Schleswig-Holstein § 11 KAG). Die Interessenlage bei der Korrektur eines Beitragsbescheides ähnelt der bei der Korrektur eines Steuerbescheides. Es erscheint fragwürdig, ob hierfür derart unterschiedliche Regeln 33

V. Wedelstädt, in: Beermann Vor § 172 Rz. 20; Szymczak, in: Koch/Scholtz Vor § 172 Rz. 3; Tipke/Kruse Vor § 172 Rz. 4, jeweils mit Übersichten zu gleichgestellten Verwaltungsakten. 34 v. Wedelstädt, in: Beermann Vor § 130 Rz. 2 und Vor § 172 Rz. 1; Tipke/Kruse Vor § 130 Rz. 1 und Vor § 172 Rz. 2; Vgl. hierzu auch 3. Teil A. 35 Tipke/Kruse Vor § 130 Rz. 4. 36 Vgl. allgemein zur Anwendung der AO bei kommunalen Steuern, Gebühren und Beiträgen Zimmermann, Der Gemeindehaushalt 1977, 127.

A. Ausgagssituation

23

maßgebend sein müssen. Zwar handelt es sich bei Gebühren und Beiträgen um Abgaben, für die eine bestimmte Gegenleistung gewährt wird (vgl. § 4 Abs. 1 und § 8 Abs. 1 S. 1 und 2 KAG-SH), während das Aufkommen einzelner Steuern keinem bestimmen Zweck vorbehalten ist (vgl. § 3 Abs. 1 S. 3 KAGSH).37 Dieser Unterschied mag es rechtfertigen, bei der Korrektur eines zu niedrigen Gebühren- oder Beitragsbescheides geringere Anforderungen an die Durchbrechung der Bestandskraft zu stellen als bei der Korrektur eines Steuerbescheides.38 Es verbleiben aber zumindest Zweifel, ob bei der Korrektur von Steuerbescheiden deshalb schon ein ganz anderes Konzept mit abweichender Terminologie verwendet werden muß als bei der Korrektur von Gebühren- und Beitragsbescheiden.39 3. Noch unbefriedigender ist die Rechtslage bei der Korrektur von kommunalen Steuerbescheiden. Hierfür sind in unübersichtlicher Weise teils die Aufhebungs- und Änderungsregeln der Abgabenordnung, teils die Rücknahmeund Widerrufsregeln des allgemeinen Verwaltungsrechts anwendbar.40 Will die Gemeindeverwaltung einen von ihr erlassenen Grund- oder Gewerbesteuerbescheid korrigieren, so gelten hierfür die Aufhebungs- und Änderungsvorschriften dpr Abgabenordnung (§§ 172 ff. AO) 4 1 Das liegt daran, daß sich der Anwendungsbereich der Abgabenordnung gem. § 1 Abs. 2 AO auch auf die von den Gemeinden verwalteten Realsteuern, also die Grund- und Gewerbesteuer, erstreckt. 42 Will die Gemeindeverwaltung dagegen sonstige Gemeindesteuerbescheide, wie etwa einen Hunde-, Vergnügung-, Jagd-, Getränke-, Zweitwohnung- oder Schankerlaubnissteuerbescheid korrigieren, so hängt es von den jeweiligen Kommunalabgabengesetzen der Länder ab, welche Korrekturvorschriften anzuwenden sind.43 Dabei wird in den meisten Ländern auf die Rücknahme- und Widerrufsregeln verwiesen, wobei in einigen Ländern die Rücknahme- und Widerrufsregeln des jeweiligen Landesverwaltungsgesetzes, in anderen die entsprechend lautenden Regeln der Abgabenordnung (§§ 130,

37

Dahmen/Driehans/Küffmann/Wiese § 1 Rz. 38. Thiem, Allgemeines kommunales Abgabenrecht S. 220. 39 So schon Vogel, Verhandlungen des 46. DJT, Bd. I Teil 5 S. 80; Schröcker NJW 1968,2035 ff 40 Krit. Kinzel, S. 170. 41 Kinzel S. 70 und S. 160; Zimmermann, Der Gemeindehaushalt 1977, 127. 42 Kinzel S. 70; Zimmermann, Der Gemeindehaushalt 1977, 127. 43 Thiem, Allgemeines kommunales Abgabenrecht S. 2; vgl. hierzu auch Tipke/Kruse § 1 Rz. 1 und BT-Drucks. 6/1982 S. 98: Die Länder hatten sich gegen eine Ausdehnung der §§ 172 ff. AO auf die örtlichen Kommunalsteuern ausgesprochen. 38

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1. Teil: Einleitung

131 AO) für anwendbar erklärt werden.44 Es ist nicht einzusehen, warum sich die Korrektur von Steuerbescheiden desselben Verwaltungsträgers nach derart unterschiedlichen Regeln richten soll. Auch mag die Erklärung nicht überzeugen, die §§ 172 ff. AO würden den Bürger wegen ihrer stärkeren Bestandskraftwirkung günstiger stellen als die Rücknahme- und Widerrufsregeln. Sie seien deshalb für die Korrektur der „großen Steuern" angemessen, für Bagatellsteuern aber aus rechtsstaatlichen Gründen nicht mehr erforderlich. 45 Die Korrektur eines Steuerbescheides kann sich sowohl günstig als auch ungünstig für den Bürger auswirken, denn die Steuer kann zuvor zu hoch oder zu niedrig festgesetzt worden sein. Die behauptete hohe Bestandskraftwirkung der §§ 172 ff. AO muß deshalb für den Bürger nicht unbedingt günstig, sondern kann auch ungünstig sein. Außerdem ist es fragwürdig, warum andere rechtsstaatliche Grundsätze für Steuern mit einem geringeren Aufkommen gelten sollen als für Steuern mit einem hohen Aufkommen. Die Belastung des einzelnen Bürgers kann bei der fehlerhaften Festsetzung einer Steuer mit geringem Aufkommen genauso groß sein wie bei einer Steuer mit hohem Aufkommen. Der unterschiedliche Stellenwert von Gemeindesteuern ist deshalb ein zweifelhafter Rechtfertigungsgrund für unterschiedliche Korrektusysteme. 46 4. Eine unharmonische Rechtslage ergibt sich auch dann, wenn sogenannte außersteuerliche Verwaltungsakte auf den Inhalt eines Steuerbescheides Einfluß haben, wenn also ein Verwaltungsakt als Besteuerungsgrundlage dient, obwohl er einem anderen Rechtsgebiet als dem Steuerrecht zuzurechnen ist. Das gilt etwa für den Bescheid über die Anerkennung von steuerbegünstigtem Wohnraum nach den §§ 92a, 82 II. WoBauG. Dieser Bescheid ist Grundlage für den Inhalt des Grundsteuermeßbescheides, denn in Fällen der Anerkennung bemißt sich der Steuermeßbetrag der Grundsteuer für die Dauer von zehn Jahren nur nach dem sogenannten Bodenwertanteil (§ 92a Abs. 1 S. 1 II. WoBauG), also nach dem Grundstückswert ohne Berücksichtigung der Gebäude.47 Auf die Korrektur eines rechtswidrig erteilten Anerkennungsbescheides nach §§ 92a, 82 II. WoBauG sind gem. § 1 Abs. 1 AO nicht die Vorschriften der Abgabenordnung, sondern die Rücknahme- und Widerrufsregeln des allgemeinen Verwaltungsrechts anwendbar (§ 1 Abs. 3 VwVfG i.V.m. den jeweiligen Landesverfahrensgesetzen). Handelt es sich bei dem zu korrigierenden Grundlagenbescheid dagegen um einen Bewertungsbescheid zur Fest-

44 Vgl. Kinzel S. 170 ff. mit Darstellung der unterschiedlichen Rechtslagen in den jeweiligen Ländern. 45 Zimmermann, Der Gemeindehaushalt 1977, 127 (131); a.A.: Kinzel S. 173. 46 Kinzel S. 173. 47 Vgl. BFH BStBl. Π 1980, 682, noch auf Grundlage des gestrichenen § 92 Π. WoBauG; vgl. auch unten 4. Teil Α. V. 2. a. dd.

Β. Ziel der Arbeit

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Stellung des Einheitswertes eines Grundstücks (§ 180 Abs. 1 Nr. 1 AO), so sind für dessen Korrektur die steuerrechtlichen Änderungsvorschriften aus den §§ 172 ff. AO maßgebend. Dieses Beispiel zeigt, daß außersteuerliche Verwaltungsakte erhebliche Sachnähe zu Steuerbescheiden haben können. Trotz dieser Sachnähe richtet sich die Korrektur beider Bescheide nach verschiedenen Regeln.

B. Ziel der Arbeit Mit dieser Arbeit werden folgende Ziele verfolgt: 1. Es soll untersucht werden, welches die genauen Unterschiede zwischen den verwaltungsrechtlichen Rücknahme- und Widerrufsregeln einerseits (§§ 48 ff. VwVfG) und den Änderungsvorschriften für Steuerbescheide andererseits (§§ 172 ff. AO) sind. Dabei wird insbesondere der uneinheitlich beantworteten Frage48 nachgegangen, ob das steuerrechtliche Korrektursystem erschwerende oder erleichternde Voraussetzungen für Korrekturen schafft. 2. Außerdem wird ermittelt, ob etwaige Unterschiede zwischen beiden Korrektursystemen notwendig sind. Soweit bestehende Wertungsunterschiede nicht durch Besonderheiten des einen oder des anderen Rechtsgebietes gerechtfertigt scheinen, sollen Möglichkeiten zur Vereinheitlichung beider Korrektursysteme gesucht werden. Auf diese Weise sollen ungerechtfertigte Wertungsunterschiede abgebaut werden. Dabei steht nicht nur in Frage, ob man die steuerrechtlichen Korrekturregeln an die verwaltungsrechtlichen Rücknahme· und Widerrufsvorschriften angleichen kann.49 Es wird genauso zu prüfen sein, inwieweit sich Rechtsgedanken aus den §§ 172 ff. AO für das allgemeine Verwaltungsrecht nutzen lassen. 3. Mit diesen Untersuchungen verbindet sich das weitergehende Ziel, Grundlagen für ein einheitliches Korrektursystem zu erarbeiten, das sowohl für Steuerbescheide als auch für sonstige Verwaltungsakte aller verwaltungsrechtlichen Rechtsgebiete gelten kann. Als Fernziel wird damit gleichzeitig verfolgt, das Nebeneinander von Verwaltungsverfahrensgesetz und Abgabenordnung insgesamt zu harmonisieren und möglicherweise zu beseitigen. Je stärker sich die beiden Verfahrensordnungen künftig vereinheitlichen lassen, desto weniger wird es gerechtfertigt sein, das Steuerrecht gem. § 2 Abs. 1

48

Hierzu die Darstellung oben unter DL Vgl. zu dieser Frage Vogel, Gutachten anläßlich der Verh. des 46. DJT, Bd. I Teil 5 sowie die Sitzungsberichte, Bd. Π, Teil H mit ersten Überlegungen, aber ohne konkrete Ergebnisse zur Vereinheitlichung der Korrekturregeln. 49

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1. Teil: Einleitung

Nr. 1 VwVfG vom Anwendungsbereich des Verwaltungsverfahrensgesetzes völlig auszuschließen. Man könnte in einem ersten Schritt daran denken, Abgabenordnung und Verwaltungsverfahrensgesetz gleichzeitig im Steuerrecht anzuwenden, wobei die Regeln des Verwaltungsverfahrensgesetzes im Verhältnis zur Abgabenordnung subsidiär gelten würden. Die Abgabenordnung könnte dann von zahlreichen, schon heute wörtlich mit dem Verwaltungsverfahrensgesetz übereinstimmenden Vorschriften befreit werden (vgl. beispielhaft die §§ 78 ff. AO mit den §§ 11 ff. VwVfG, die §§ 108 ff. AO mit den §§ 31 ff. VwVfG oder die §§ 118 ff. AO mit den §§ 35 ff. VwVfG). Sollte es schließlich gelingen, alle Bedürfnisse des Steuerrechts in den allgemeinen Regeln des Verwaltungsverfahrensgesetzes hinreichend zu berücksichtigen, so könnte in einem zweiten Schritt ganz auf die Abgabenordnung verzichtet werden. Die ungeliebte „Verlustliste der Rechtseinheit" in § 2 VwVfG wäre um einen gewichtigen Punkt kürzer, und das Verwaltungsverfahrensgesetz würde der ihm eigentlich zugedachten Rolle eines allgemeinen Teils für das gesamte Verwaltungsrecht ein erhebliches Stück näher kommen.

C. Gang der Untersuchung Die Untersuchung beginnt mit einem Überblick über die Entwicklung der geltenden Korrekturregeln im Steuerrecht und im allgemeinen Verwaltungsrecht. Dieser geschichtliche Überblick dient dazu, die historischen Ursachen für die gegenwärtig uneinheitliche Rechtslage aufzuzeigen. Die Kenntnis von allein historisch entstandenen Differenzen beider Korrektursysteme wird die Akzeptanz gegenüber Vereinheitlichungsvorschlägen erhöhen. Anschließend werden die geltenden Korrekturregeln der Abgabenordnung und des Verwaltungsverfahrensgesetzes kurz dargestellt. Dieser Teil soll dem Leser die für die späteren Vereinheitlichungserwägungen erforderlichen Grundkenntnisse über die Rücknahme- und Widerrufsregeln des Verwaltungsverfahrensgesetzes einerseits und die Aufhebungs- und Änderungsregeln der Abgabenordnung andererseits vermitteln. In einem weiteren Arbeitsschritt werden die bestehenden Unterschiede zwischen den steuerrechtlichen und den allgemeinen verwaltungsrechtlichen Korrekturregeln ermittelt. Das geschieht durch einen spezifischen Vergleich beider Regelungskonzepte. Dieser Teil stellt den Schwerpunkt der Arbeit dar. Die wissenschaftliche Leistung dieser Untersuchung soll vor allem darin bestehen, die Wertungsunterschiede beider Korrektursysteme sichtbar zu machen. Diese Wertungsunterschiede sind bei bloßer Lektüre der Gesetzestexte von Abgabenordnung und Verwaltungsverfahrensgesetz nicht ohne weiteres zu erkennen. Auch in der rechtswissenschaftlichen Literatur fehlt bislang eine

D. Terminologie

27

solche Darstellung. Statt dessen ist in der Vergangenheit über Vereinheitlichungsmöglichkeiten nachgedacht worden, ohne zuvor die Differenzen beider Korrektursysteme klarzustellen.50 Diese Versuche mußten ohne konkrete Ergebnisse bleiben. Erst wenn die Unterschiede beider Korrekturkonzepte herausgefunden sind, kann man über Möglichkeiten der Vereinheitlichung nachdenken. Die Differenzen der beiden Korrektursysteme werden mit Hilfe eingehender Vergleiche im 4. Teil der Arbeit herausgearbeitet. Sofern dabei Unterschiede festgestellt werden, schließen sich Vereinheitlichungserwägungen daran an. Dabei wird jeweils untersucht, ob die ermittelten Abweichungen der Abgabenordnung vom Verwaltungsverfahrensgesetz durch Besonderheiten des Steuerrechts gerechtfertigt sind oder ob die verwaltungsrechtlichen Korrekturregeln den steuerrechtlichen Bedürfnissen genügen würden. Es wird aber auch erwogen, Unzulänglichkeiten der verwaltungsrechtlichen Regeln mit Hilfe der steuerrechtlichen Vorschriften zu beseitigen. Die Vorschläge zur Vereinheitlichung werden also nicht darauf beschränkt sein, das Steuerrecht einseitig dem Verwaltungsrecht anzupassen. Es wird genauso hinterfragt, ob das Verwaltungsverfahrensgesetz an die Abgabenordnung angeglichen oder ein für beide Rechtsgebiete akzeptabler Kompromiß gefunden werden kann.

D. Terminologie Die in den Untersuchungen verwendeten Begriffe sollen folgendermaßen verstanden werden: Der Begriff „Korrektur" wird als Oberbegriff für jede Form des nachträglichen Einwirkens auf die Wirksamkeit eines Verwaltungsaktes verwendet. Er umfaßt also insbesondere die Begriffe „Rücknahme und Widerruf' im Sinne der §§ 48 ff. VwVfG und §§ 130 ff. AO sowie die Begriffe „Aufhebung und Änderung" im Sinne von §§ 172 ff. AO. Das Begriffspaar „Verwaltungsrecht" und „Steuerrecht" wird oft im Zusammenhang mit Korrekturen im Wege der Rücknahme und des Widerrufs oder der Aufhebung und Änderung benutzt. Eine Korrektur nach den Regeln des Verwaltungsrechts meint Rücknahme oder Widerruf von Verwaltungsakten, wobei aber die §§ 130 ff. AO nicht ausgeschlossen sind, denn diese sind den §§ 48 ff. VwVfG nachgebildet. Eine Korrektur nach den Regeln des Steuerrechts meint die Aufhebung oder Änderung von Steuerbescheiden nach den §§ 172 ff. AO. 50

Vogel, Gutachten anläßlich der Verh. des 46. DJT, Bd. I, Teil 5 sowie die Sitzungsberichte, Bd. Π, Teil H mit ersten Überlegungen aber ohne konkrete Ergebnisse zur Vereinheitlichung der Korrekturregeln.

28

1. Teil: Einleitung

Im Zusammenhang mit Korrekturen wird das Begriffspaar „Verwaltungsbehörde" und „Finanzbehörde" gebraucht. Dabei meint der Begriff „Finanzbehörde" eine Behörde, die bei der Korrektur von Verwaltungsakten die §§ 172 ff. AO, also die steuerrechtlichen Korrekturregeln anwendet. Der Begriff „Verwaltungsbehörde" meint dagegen eine Behörde, die bei der Korrektur von Verwaltungsakten mit den verwaltungsrechtlichen Korrekturregeln über Rücknahme und Widerruf arbeitet. Es kann damit also auch das Finanzamt bei Anwendung der §§ 130 ff. AO gemeint sein. Im Zusammenhang mit den Vereinheitlichungserwägungen werden vielfach die Begriffe „annähern", „angleichen" und „vereinheitlichen" verwendet. Es ist davon auszugehen, daß mit „annähern" das Herstellen einer größeren, aber keiner völligen Übereinstimmung der beiden Korrekturkonzepte in Abgabenordnung und Verwaltungsverfahrensgesetz gemeint ist. „Angleichen" und „vereinheitlichen" bedeuten dagegen das Herstellen einer vollständigen Übereinstimmung. Allerdings ist darauf hinzuweisen, daß die Erwägungen zur Vereinheitlichung der beiden Korrekturkonzepte meistens auf einen isolierten Aspekt beschränkt sind. Das führt dazu, daß trotz einer Vereinheitlichungsmöglichkeit bezüglich eines einzelnen Aspekts von der „Annäherung" beider Korrekturkonzepte die Rede ist, denn auch wenn sich die beiden Korrekturkonzepte in einem einzelnen Punkt vereinheitlichen lassen, liegt insgesamt nur eine Annäherung vor.

2. Teil Historische Entwicklung von Korrekturregeln A. Zeit bis zur Anerkennung der Bestandskraft Die Unterschiede der Korrekturregeln im Verwaltungsrecht und im Steuerrecht sind weitgehend historisch begründet. Die Entwicklung von Regeln über die Korrektur von Verwaltungsakten hängt eng mit der Entwicklung des Verwaltungsaktes selbst zusammen. Der Begriff des Verwaltungsaktes ist in der Zeit nach der französischen Revolution entstanden. Als Folge der Gewaltenteilung begann man, staatliches Handeln zu erkennen, das allein der Verwaltung zuzurechnen war und darin bestand, Gesetze auszuführen oder Kompetenzen wahrzunehmen.1 In Frankreich wurde hierfür der Begriff des „acte administratif' geprägt, der erstmals 1812 in den Repertoiren des Rechts auftaucht. 2 In Deutschland wurde dieser Begriff als „Verwaltungsakt" übernommen,3 und man begann damit, ihn in Art und Wirkung näher zu bestimmen. G. Meyer4 (1883) und v. Stengel5 (1886) versuchten, unterschiedliche Arten von Verwaltungsakten voneinander abzugrenzen. Allerdings zeigen diese Darstellungen noch starke begriffliche und inhaltliche Differenzen. Teils verstand man unter Verwaltungsakt auch innerbehördliches Handeln,6 teils wurde sogar der Abschluß privatrechtlicher Verträge durch eine Behörde als „Verfügung" angesehen.7 Insbesondere lassen die Abhandlungen dieser Zeit erkennen, daß in der Rechtswissenschaft noch kaum Bewußtsein dafür vorhanden war, daß ein Verwaltungsakt Bestandskraft für sich beanspruchen kann, und daß von ihm eine Bindungswirkung ausgeht. Vermutlich wird deshalb in diesen Veröffentlichungen noch nicht die Frage erörtert, inwieweit ein Verwaltungsakt durch die Behörde selbst nachträglich korrigiert werden kann.

1 2 3 4 5 6 7

O. Mayer 3. Aufl. S. 62. O. Mayer 3. Aufl. S. 60, dort Fußn. 10. O. Mayer 3. Aufl. S. 62, dort Fußn. 15. G. Meyer 1. Aufl. S. 23 ff. v. Stengel 1. Aufl. S. 182. G.Meyer 1. Aufl. S. 23. v. Stengel 1. Aufl. S. 182; G. Meyer 1. Aufl. S. 26.

2. Teil: Historische Entwicklung von Korrekturregeln

30

L Erste Korrekturregeln im Steuerrecht Für das Steuerrecht sind aus der Zeit vor der Preußischen Steuerreform (1810-1820)8 keine gesetzlichen Korrekturregeln bekannt.9 Daraus wird geschlossen, daß Nachforderungen und Erstattungen von Steuern innerhalb der allgemeinen Verjährungsfristen ohne weiteres möglich waren.10 Diese Fristen richteten sich nach den §§ 500 ff. I, 9 ALR 11 und betrugen für Nachforderungsansprüche des Fiskus gegenüber dem Steuerpflichtigen 30 Jahre (§ 546 I, 9 ALR), für Ansprüche des Steuerpflichtigen gegen den Fiskus sogar 44 Jahre (§ 629 1,9 ALR). 12

Im Zuge der Preußischen Steuerreform deuten sich in einzelnen Steuergesetzen erste Korrekturregeln an. Erstmals wurde vom Gesetzgeber die Möglichkeit geregelt, nach fehlerhaften Steuerfestsetzungen Steuern „nachzufordern" oder zu „erstatten". Ein Beispiel hierfür ist § 108 Abs. 2 der Zoll- und Verbrauchsteuerordnung vom 26. Mai 1818.13 Nach Satz 1 der Vorschrift war die Nachforderung „ der bei gehöriger Anmeldung zoll- oder verbrauchsteuerpflichtiger Waare durch die Schuld der Hebungsbehörde gar nicht, oder unzureichend erhobenen Gefalle " ausgeschlossen. Umgekehrt regelte Satz 2 der Vorschrift, daß „zu viel erhobene Gefalle aus der Staatskasse zurückgezahlt werden, wenn binnen Jahresfrist, vom Tage der Versteuerung an gerec net, der Anspruch auf den Ersatz angemeldet und bescheinigt wird. " Man darf allerdings vermuten, daß der damalige Gesetzgeber noch gar nicht daran gedacht hatte, mit der Vorschrift des § 108 Abs. 2 der Zoll- und Verbrauchsteuerordnung die Bestandskraft eines Verwaltungsaktes zu durchkreuzen. Der Wortlaut der Vorschrift läßt erahnen, daß der Staat es nicht für nötig hielt, den rechtswidrigen Steuerbescheid zu korrigieren. Er begnügte sich offenbar damit, etwa im Fall einer zu niedrigen Steuerfestsetzung, die Steuer vom Bürger schlicht nachzufordern. Umgekehrt wurde dem Bürger die Steuer im Fall einer zu hohen Steuerfestsetzung erstattet. Nach heutigem Verständnis wären wegen der Bindungswirkung eines bestandskräftigen Verwaltungsaktes derartige Nachforderungen oder Erstattungen nur zulässig, wenn die Behörde zuvor den

8

Vgl. hierzu Dieterici. Kühn S. 72. 10 Kühn S. 72. 11 Allgemeines Landrecht fur die Preußischen Staaten, abgedr. bei Hattenhauer. 12 Kühn S. 73. 13 Gesetz-Sammlung fur die Königlich Preußischen Staaten 1818 S. 102 (131), hier abgedr. im Anhang. 9

Α. Zeit bis zur Anerkennung der Bestandskraft

31

ursprünglichen Steuerbescheid entsprechend aufgehoben oder geändert hätte. Deshalb ist auch der Wortlaut in den heutigen Korrekturvorschriften (§§ 172 ff. AO) ausdrücklich auf die Korrektur des Steuerbescheides und nicht auf die Nachforderung oder Erstattung von Steuern gerichtet. Da sich die damalige Rechtswissenschaft noch nicht hinreichend über Bestandskraft und Bindungswirkung von Verwaltungsakten im klaren war, 14 regelte der Gesetzgeber Nachforderungen oder Erstattungen von Steuern, ohne dabei das Schicksal des ursprünglichen Steuerbescheides zu erwähnen. Genaugenommen handelt es sich bei § 108 Abs. 2 S. 1 und 2 der Zoll- und Verbrauchsteuerordnung deshalb auch nicht um echte Korrekturregeln, denn ihre Rechtsfolgen sind nicht auf die Aufhebung oder Änderung eines Verwaltungsaktes gerichtet. Vielmehr regeln sie, inwieweit die Verwaltung von den Festsetzungen in ihrem Verwaltungsakt abweichen darf. Gleichwohl kann § 108 Abs. 2 der Zoll- und Verbrauchsteuerordnung als ein Vorläufer für spätere Korrekturregeln angesehen werden. Das gleiche Verständnis wie dem § 108 Abs. 2 der Zoll- und Verbrauchsteuerordnung liegt auch weiteren Steuergesetzen der nächsten Jahre zugrunde. Beispiele hierfür sind § 58 der Ordnung zum Gesetz wegen Versteuerung des inländischen Branntweins, Braumalzes, Weinmostes und der Tabaksblätter vom 8. Februar 1819,15 oder die §§ 5 bis 7 des Gesetzes über die Veijährungsfristen bei öffentlichen Abgaben vom 18. Juni 1840.16 Auch diese Vorschriften regeln nicht, inwieweit die Behörde einen fehlerhaften Steuerbescheid korrigieren darf, sondern inwieweit vom Bürger die Zahlung einer von der ursprünglichen Festsetzung abweichenden Geldsumme verlangt werden kann. Als eine erste echte steuerrechtliche Korrekturregel könnte § 7 Abs. 2 des Gesetzes betreffend die Besteuerung des Gewerbebetriebes im Umherziehen und einige Abänderungen des Gesetzes wegen Entrichtung der Gewerbesteuer 17 aus dem Jahr 1876 angesehen werden. Nach § 7 Abs. 1 dieses Gesetzes waren Gewerbetreibende zur Anzeige verpflichtet, wenn sich Umfang oder Art ihres angemeldeten Gewerbes änderten. Sofern die beabsichtigte Änderung des Gewerbebetriebes eine Erhöhung der Steuer oder die Entziehung der Steuerfreiheit mit sich brachte, hatte nach Absatz 2 der Vorschrift „ die Regierung 14

S.o. A. Gesetz-Sammlung für die Königlich Preußischen Staaten 1819 S. 102 (111), hier abgedr. im Anhang. 16 Gesetz-Sammlung für die Königlich Preußischen Staaten 1840 S. 140 (140 f.), hier abgedr. im Anhang. 17 Vom 3. Juli 1876, Gesetz-Sammlung für die Königlich Preußischen Staaten 1876 S. 247 (250), hier abgedr. im Anhang. 15

32

2. Teil: Historische Entwicklung von Korrekturregeln

zugleich den zu entrichtenden Steuersatz, auf welchen jedoch der für das be treffende Jahr bereits entrichtete Steuerbetrag in Anrechnung gebracht wird, anderweit festzusetzen... Der Wortlaut dieser Vorschrift ist erstmals auf die Korrektur der ursprünglichen Steuerfestsetzung und nicht lediglich auf die Nachforderung der Steuer gerichtet. Allerdings könnte es sich hierbei auch nur um einen redaktionellen Zufall handeln. Diesen Eindruck gewinnt man jedenfalls aufgrund des § 15 des Gesetzes.18 Diese Vorschrift regelt schlicht die Erstattung der Gewerbesteuer in Fällen, in denen das Gewerbe gar nicht oder in geringerem Umfang als angemeldet ausgeübt wurde. Die Korrektur des ursprünglichen Steuerbescheides zugunsten des Steuerpflichtigen wird dagegen nicht erwähnt.

Π. Erste Korrekturregeln im Verwaltungsrecht Auch im allgemeinen Verwaltungsrecht finden sich während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine Korrekturvorschriften, die ausdrücklich auf die Beseitigung oder Abänderung eines wirksamen Verwaltungsaktes gerichtet sind. Ähnlich wie im Steuerrecht lassen sich allenfalls Vorläufer von Korrekturregeln finden. Ein Beispiel hierfür bietet das frühe preußische Gewerberecht. Aus den §§ 1 und 2 des Ediktes über die Einführung einer allgemeinen Gewerbe-Steuer19 ergab sich, daß jede Aufnahme oder Fortführung eines Gewerbes der Erlaubnis bedurfte. Die Erlaubnis wurde unter bestimmten Voraussetzungen20 gegen Zahlung der Gewerbesteuer in Form eines Gewerbescheines erteilt. Nach § 18 des Ediktes21 konnte aber die Ausübung des Gewerbes jederzeit aus polizeilichen Gründen wieder versagt oder eingeschränkt werden, und zwar ohne Rücksicht auf die zuvor erteilte Gewerbeerlaubnis. Auch hierin kommt das noch fehlende Verständnis von Bestandskraft und Bindungswirkung von Verwaltungsakten zum Ausdruck. Eine erste echte Korrekturvorschrifi findet sich für das Verwaltungsrecht in § 88 der Vollzugsordnung zum Gesetze über die Organisation der inneren Verwaltung des Großherzogthums Baden aus dem Jahr 1864.22 Die Vorschrift ermächtigte die Behörde dazu, auch außerhalb eines Rechtsschutzverfahrens 18

Hier abgedr. im Anhang. Vom 28. Oktober 1810, Gesetz-Sammlung für die Königlich Preußischen Staaten 1810 S. 79, hier abgedr. im Anhang. 20 Vgl. näher Zeller S. 105 ff. 21 Hier abgedr. im Anhang. 22 Großherzoglich Badisches Regierungsblatt 1864 S. 333 ff, hier abgedr. im Anhang. 19

Α. Zeit bis zur Anerkennung der Bestandskraft

33

eine Verfügung oder Entscheidung in Verwaltungs- und Polizeisachen abzuändern oder ganz aufzuheben. Mit dieser Regelung kommt erstmals zum Ausdruck, daß der damalige Gesetzgeber einem Verwaltungsakt bindende Wirkung beigemessen hat. Wollte die Verwaltung von der Regelung eines zuvor erlassenen Verwaltungsaktes abweichen, mußte sie ihn zunächst aufheben und war dabei an Voraussetzungen gebunden. Voraussetzung von § 88 Ziff. 1 der Verordnung war etwa eine geänderte Ansicht der Behörde, sofern nicht eine Partei einen gesetzmäßigen Anspruch durch die Verfügung erworben hatte. Hier zeichnet sich bereits eine gewisse Zurückhaltung bei der Korrektur begünstigender Verwaltungsakte ab, die bis heute in den erhöhten Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 S. 2 i. V.m. Abs. 2 bis 4 VwVfG und § 49 Abs. 2 und 3 VwVfG zum Ausdruck kommt. Daneben war nach § 88 Ziff. 2 der Badischen Verordnung die Abänderung oder Aufhebung auch eines begünstigenden Verwaltungsaktes stets zulässig, „wenn durch spätere Verhandlungen das tatsächliche Verhältnis in wesentlicher Beziehung sich abweichend gestaltet. Dieser Rechtsgedanke ist auch in modernen Korrekturvorschriften noch zu finden. Auch heute rechtfertigt oft das nachträgliche Bekanntwerden anderer oder neuer Tatsachen die Korrektur von Verwaltungsakten (vgl. § 173 AO, § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 VwVfG, § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG). Bei Korrekturen zuungunsten des Bürgers gilt das heute im Unterschied zur Badischen Verordnung aber meist nur dann, wenn das nachträgliche Bekanntwerden vom Bürger veranlaßt worden ist und nicht auf einer Verletzung behördlicher Aufklärungspflichten beruht.23

Eine weitere Korrekturvorschrift findet sich in § 53 der 1867 erlassenen Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund (GewO-NB).24 Nach § 53 Abs. 1 GewO-NB konnten bestimmte „Approbationen " von der Verwaltungsbehörde nur dann zurückgenommen werden, wenn die „Unrichtigkeit der Nachweise dargethan wird\ auf deren Grund solche ertheilt worden sind. Dieser Rechtsgedanke liegt heute § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 und 2 VwVfG zugrunde. Nach Absatz 2 Satz 1 der damaligen Vorschrift konnten bestimmte „ Genehmigungen und Bestallungen in gleicher Weise zurückgenommen werden, wenn aus Handlungen oder Unterlassungen des Inhabers der Mangel derjenigen Eigenschaften, welche bei der Ertheilung der Genehmigung ode Bestallung nach der Vorschrift dieses Gesetzes vorausgesetzt werden mußt klar erhellt. " Dieser Rechtsgedanke findet sich heute in § 49 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG. Die Vorschrift des § 53 GewO-NB ist - von manchen Modifizierun-

23

Eingehend unten 4. Teil Β. IV. 1. a. Vom 21. Juni 1869, Bundes-Gesetzblatt 1869 S. 245 (257 f.), hier abgedr. im Anhang. 24

3 Arndt

34

2. Teil: Historische Entwicklung von Korrekturregeln

gen abgesehen - über 117 Jahre in Kraft geblieben25 und dann in den §§ 48, 49 VwVfG aufgegangen. 26 Auch in § 53 GewO-NB kommt zum Ausdruck, daß der Gesetzgeber dem Verwaltungsakt bindende Wirkung beigemessen hat. Wollte die Verwaltung nun ein zuvor genehmigtes Gewerbe unterbinden, mußte sie die Genehmigung aufheben, anstatt schlicht die Versagung der gewerblichen Tätigkeit auszusprechen. Das wachsende Verständnis in der Rechtswissenschaft für die Bestandskraft und Bindungswirkung von Verwaltungsakten wird von O. Mayer in seinem Lehrbuch aus dem Jahr 1895 erstmals deutlich ausgesprochen.27 Ähnlich wie ein zivilrechtliches Urteil bliebe auch ein „ungültiger" (lies: rechtswidriger) Verwaltungsakt so lange wirksam, bis er durch einen gesonderten Akt wieder aufgehoben wird. 28 Behörde und „Unterthan" seien daran gebunden.29 Nachdem die Bindungswirkung von Verwaltungsakten erkannt war, stellte sich zwangsläufig die Frage, inwieweit die Behörde befugt ist, ihren Verwaltungsakt nachträglich zu korrigieren. Erst in ganz anderem Zusammenhang, nämlich im Kapitel über „Rechtsschutz in Verwaltungssachen",30 erklärt Mayer, daß „Beschlüsse" einer Verwaltungsbehörde auch ohne Beschwerde des Bürgers abänderbar seien.31 Die Behörde könne sie selbst zurücknehmen. Darin sei sie nur soweit beschränkt, als das Gesetz die Zurücknahme ausschließe oder durch den zurückzunehmenden Beschluß ein Recht begründet werde. Dieser Gedanke Mayers findet sich heute in § 48 Abs. 1 S. 2 VwVfG. Weiterhin führt Mayer aus, eine Abänderung könne sowohl von Rechts wegen als auch nach richtiger Erwägung der Umstände erfolgen. 32 Dabei deutet sich bereits die heute im Verwaltungsrecht übliche Unterscheidung zwischen der Rücknahme rechtswidriger und dem Widerruf rechtmäßiger Verwaltungsakte an.

B. Zeit nach Anerkennung der Bestandskraft Man sollte erwarten, daß sich auch die Terminologie in den Steuergesetzen änderte, nachdem die Bestandskraft und Bindungswirkung von Verwaltungs25 26 27 28 29 30 31 32

§ 53 GewO aufgehoben durch Gesetz v. 25.7.1984, BGBl. I S. 1008. Arndt, in: Steiner VD Rz. 271. O. Mayer 1. Aufl. S. 94 ff. O.Mayer 1. Aufl. S. 99 f. Vgl. O. Mayer 1. Aufl. S. 99. O. Mayer 1. Aufl. S. 148 ff. O.Mayer 1. Aufl. S. 150. O. Mayer 1. Aufl. S. 150.

. Zeit

Anerkennung der Bestandskraft

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akten in der Rechtswissenschaft anerkannt waren. Nach dem Erscheinen von 0. Mayers Lehrbuch hätte der Gesetzgeber Anlaß gehabt, den Wortlaut in neu erlassenen steuerrechtlichen Korrekturregeln auf die Aufhebung oder Änderung des ursprünglichen Steuerbescheides zu richten. Statt dessen blieb er zunächst bei der bis dahin üblichen Regelung bloßer Nachforderungs- oder Erstattungsansprüche, ohne das Schicksal des ursprünglichen Steuerbescheides zu erwähnen. Ein Beispiel hierfür ist § 34 des Zuwachssteuergesetzes33 aus dem Jahr 1911. Nach Satz 3 der Vorschrift 34 war die Zuwachssteuer schlicht „zurückzuzahlen", wenn der Grundstückskaufpreis nachträglich nach §§ 459, 460 BGB gemindert wurde. Diese Wortfassung der Steuergesetze hat aber zu Anfang des 20. Jahrhunderts wohl nur noch traditionelle Gründe. Die Rechtswissenschaft war sich zu dieser Zeit auch im Steuerrecht sehr wohl der Bestandskraft und Bindungswirkung des ursprünglichen, fehlerhaften Steuerbescheides bewußt. Deshalb wurde sowohl in der Literatur 35 als auch in der Rechtsprechung36 klargestellt, daß bei der Nachforderung von Steuern der Bescheid über die Nachforderung an die Stelle des alten Bescheides und der alte Bescheid ipso iure außer Kraft trete. Gleichwohl ging auch der Steuergesetzgeber immer mehr dazu über, die Gesetzestexte entsprechend diesem Verständnis zu formulieren. Der Wortlaut künftiger Korrekturregeln richtete sich immer häufiger ausdrücklich auf die Aufhebung oder Abänderung der ursprünglichen Steuerfestsetzung und weniger auf die Nachforderung oder Erstattung von Steuern. Ein deutliches Beispiel hierfür ist die 1919 erlassene Reichsabgabenordnung37 (RAO 1919). In den §§ 74 bis 78 und § 212 RAO 1919 findet sich erstmals eine Reihe allgemeiner, d.h. für alle Steuerarten gleichermaßen geltender Korrekturvorschriften. Die §§74 bis 78 RAO 1919 richteten sich ausdrücklich auf die Korrektur des ursprünglichen Bescheides. Geregelt wurde das „Zurücknehmen", „Einschränken", „Ändern", „Ersetzen" oder „Berichtigen" des Verwaltungsaktes. Allein in § 76 Abs. 2 RAO 1919 ist erneut von der „Nachforderung" von Steuern die Rede. Das läßt sich noch damit erklären, daß die Vorschrift keine eigenständige Korrekturermächtigung darstellt, sondern lediglich auf ältere Korrekturregeln verweist. In § 212 Abs. 1 RAO 1919 taucht jedoch abermals

33

Vom 14. Februar 1911, Reichs-Gesetzblatt S. 33, hier abgedr. im Anhang. Hier abgedruckt im Anhang. 35 Loening S. 73. 36 Entsch. des Preußischen OVG v. 6. März 1896, PrVBl. Bd. 18 S. 44 (45) im Zusammenhang mit einer Nachforderung gem. § 80 des Einkommensteuergesetzes vom 24. Juni 1891, Gesetz-Sammlung für die Königlich Preußischen Staaten 1891, S. 175, hier abgedr. im Anhang. 37 Vom 13. Dezember 1919, RGBl. S. 1993. 34

36

2. Teil: Historische Entwicklung von Korrekturregeln

eine Regelung über die „Nachforderung" von Steuern auf. Diese Vorschrift knüpft offenbar noch an den alten Sprachgebrauch an und paßt insofern nicht recht zum moderneren Wortlaut der §§ 74 bis 78 RAO 1919. Erst mit Neufassung der Abgabenordnung im Jahr 1977 (AO) ist der Wortlaut der steuerrechtlichen Korrekturvorschriften konsequent auf die Korrektur des ursprünglichen Bescheides gerichtet (vgl. §§ 172 ff. AO). Bezeichnenderweise sind diese Vorschriften mit dem Titel „Bestandskraft" überschrieben.

C. Zeit nach Kodifizierung des Steuerverfahrensrechts im Jahr 1919 Die Unterschiede der beiden Korrektursysteme im Verwaltungsrecht und im Steuerrecht mögen mit den materiellen Besonderheiten des jeweiligen Rechtsgebietes zusammenhängen.38 Mancher Unterschied könnte aber auch allein geschichtlich begründet sein. Als ein wesentlicher historischer Grund für die unterschiedliche Entwicklung kann die Kodifizierung des Steuerverfahrensrechts in der Reichsabgabenordnung von 1919 angesehen werden.39

L Einfluß der Reichsabgabenordnung auf die Entwicklungen im Steuerrecht Im Jahr 1919 hatte sich die Rechtswissenschaft erst seit kurzem mit der Frage beschäftigt, inwieweit Verwaltungsakte durch die Behörde korrigiert werden dürfen. 40 Korrekturregeln gab es nur in verschiedenen Spezialgesetzen als Annex zum materiellen Recht des jeweiligen Sachgebietes. Allgemeingültige Aussagen über Voraussetzungen und Rechtsfolgen der Korrektur von Verwaltungsakten waren selten und unvollkommen.41 Die Reichsabgabenordnung 1919 enthielt erstmals den Versuch,42 für das Steuerrecht allgemeine, d.h. auf eine Vielzahl von Steuerarten anwendbare Korrekturregeln für Steuerverwaltungsakte aufzustellen. Diese Regeln fanden sich in den §§74 bis 78 sowie § 212 RAO 1919. Sie basierten auf dem damals noch unvollkommenen

38

Insoweit siehe Untersuchungen im 4. Teil. Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler Einf. AO Rz. 35. 40 S.o. unter A. und B. 41 Vgl. § 88 der Badischen Vollzugsordnung zum Gesetze über die Organisation der inneren Verwaltung; insbesondere die Einrichtung und Zuständigkeit der Behörden und das Verfahren betreffend von 1864, hier abgedr. im Anhang. ^Becker 1. Aufl. § 75 Anm. 1. 39

C. Zeit nach Kodifizierung des Steuerverfahrensrechts im Jahr 1919

37

Erkenntnisstand der Rechtswissenschaft.43 Während sich die Diskussion über die Korrigierbarkeit von Verwaltungsakten im Verwaltungsrecht frei von allgemeinen gesetzlichen Vorgaben fortsetzen konnte,44 waren die Korrekturregeln im Steuerrecht durch die Reichsabgabenordnung auf dem Stand von 1919 eingefroren. Die frühe gesetzliche Normierung des allgemeinen Steuerrechts in der Reichsabgabenordnung mag zu ihrer Zeit manche Vorzüge mit sich gebracht haben.45 Gleichwohl hatte die Rechtswissenschaft nun keinen Anlaß mehr, die Bedürfnisse des Steuerrechts bei einer Weiterentwicklung von Korrekturregeln für Verwaltungsakte zu berücksichtigen.46 Spätestens von diesem Zeitpunkt an nahm die Entwicklung der verwaltungsrechtlichen Korrekturregeln einen von den steuerrechtlichen Korrekturregeln getrennten Verlauf. 47 Die Neufassung der Reichsabgabenordnung im Jahr 1931 (RAO 1931) führte zu keiner wesentlichen Veränderung der vorhandenen Korrekturregeln im Steuerrecht. Die Regeln der §§ 74 bis 78 und 212 RAO 1919 fanden sich nun in den §§ 92 bis 96 und 222 bis 224 RAO 1931 wieder. Inhaltlich zeigte die Neufassung einige Ergänzungen und geringfügige Modifizierungen, die aber nur durch Veränderungen der besonderen Steuergesetze bedingt waren.48 Die Wertungen der alten Regeln und der Gesamtcharakter ihrer Fassung blieben unverändert.

IL Einfluß der fehlenden Kodifizierung auf die Entwicklung im Verwaltungsrecht Inzwischen entwickelten sich die Vorstellungen über die Korrektur von Verwaltungsakten im Verwaltungsrecht ohne den Zwang49 einer reichseinheitlichen Kodifizierung fort. Nur in einigen Ländern entstanden erste Gesetze, Gesetzentwürfe oder Verordnungen mit allgemeinen Korrekturregeln. 43

Vgl. Becker 1. Aufl. § 75 Anm. 1. Vgl. hierzu Kritik an allzu früher Kodifizierung des Verwaltungsverfahrensrechts bei Forsthoff 9. Aufl. S. 156 f. - ab 10. Aufl. S. 163 f. relativierend; Weber, AöR Bd. 73 (1944), 60 (83 ff.); W. Jellinek AöR Bd. 60 (1932), 1 (9 f.). 45 Vgl. Erläuterungen Beckers zur Entstehungsgeschichte der RAO, Becker/Riewald/ Koch, Einleitung S. 1 f.; krit. Nawiasky S. 8. 46 Tipke S. 36 f. 47 Zur Auseinanderentwicklung von Verwaltungsrecht und Steuerrecht Rittler S. 268 ff.; Wacke StbJb. 1966/1967, 75 (82-85). 48 Vgl. Becker!Riewald/Koch Einleitung S. 3. 49 W. Jellinek AöR Bd. 60 (1932), 1 (10). 44

38

2. Teil: Historische Entwicklung von Korrekturregeln

Hierzu gehörte etwa das preußische Polizeiverwaltungsgesetz vom 1. Juni 1931,50 dessen § 42 51 die Zurücknahme oder nachträgliche Einschränkung polizeilicher Erlaubnisse oder Bescheinigungen regelte. Die Vorschrift kann als Vorläufer der heutigen Regeln über die Rücknahme oder den Widerruf von begünstigenden Verwaltungsakten (§ 48 Abs. 3 und § 49 Abs. 2 VwVfG) angesehen werden. Noch ausführlicher waren die §§ 141 bis 146 der Landesverwaltungsordnung für Thüringen vom 10. Juni 1926.52 Auch in diesen Vorschriften zeichnen sich deutlich Rechtsgedanken der heutigen §§ 48, 49 VwVfG ab. Das gleiche gilt für die Art. 82 bis 94 des Entwurfes einer württembergischen Verwaltungsrechtsordnung von 1931.53 Diese Vorschriften sind zwar nie Gesetz geworden, können aber als gelungener54 Ausdruck damaliger Erkenntnisse über die Korrigierbarkeit von Verwaltungsakten angesehen werden.55 Neben diesen vereinzelten Gesetzesinitiativen auf Länderebene wurde die reichseinheitliche Entwicklung und Konkretisierung von Korrekturregeln frei von gesetzlichen Vorgaben durch die rechtswissenschaftliche Literatur 56 und die Rechtsprechung57 vorangetrieben. Ein entscheidender Durchbruch bei der Fortentwicklung der Korrekturregeln im Verwaltungsrecht gelang Haueisen mit einem Aufsatz im Jahr 1954.58 In diesem Beitrag wurde erstmals die Korrektur rechtswidriger und rechtmäßiger Verwaltungsakte mit Hilfe der Begriffe „Rücknahme" und „Widerruf' unterschieden. Die dabei aufgestellten Korrekturvoraussetzungen wurden von Haueisen in weiteren Abhandlungen

50

Gesetz-Sammlung fur die Königlich Preußischen Staaten 1931 S. 77 ff. Hier abgedr. im Anhang. 52 In der Fassung der Bekanntmachung vom 22. Juli 1930, Gesetzessammlung für Thüringen 1926 S. 177 ff. und 1930 S. 123 ff., hier abgedr. im Anhang. 53 Abgedr. bei Hegelmaier. 54 Drews JW 1932, 3246. 55 Vgl. insbes. die eingehende Begründung des Entwurfes, abgedr. bei Hegelmaier, S. 281 ff. 56 Vgl. fur die Zeit von 1930 bis 1940 etwa die Arbeiten von v. Hippel, H. Ipsen oder Naumann; w.Nw. bei Weber AöR Bd. 73 (1944), 60, dort Fußn. 1. 57 Für die Zeit bis 1925 vgl. die zahlr. Nw. zur Rspr. des PrOVG bei Schoen, in: Festschr. zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens des Preußischen Oberverwaltungsgerichts, S. 118 ff; Seit 1925 etwa PrOVGE 84, 445 (450 ff); nach 1945 etwa: VGH Kassel DVB1. 1950, 681: Aufhebung der Beschlagnahme von Wohnraum; BezVG f. den amerik. Sekt. v. Berlin VerwRspr. Bd. 3 (1951), 510: Widerruf einer Erlaubnis zur Tätigkeit als Heilpraktiker; Württ.-Bad. VGH VerwRspr. Bd. 3 (1951), 304: Zur Rückwirkung einer Rücknahme; Bayr. VGH VerwRspr Bd. 4 (1952), 144; OVG Berlin DVB1. 1954, 129: Widerruf des Verzichts auf Entfernung aus dem Vorbereitungsdienst. 51

58

Haueisen NJW 1954, 1425 ff.

D. Kodifizierung des allgemeinen Verwaltungsverfahrensrechts

39

der nächsten Jahre noch konkretisiert. 59 Die von ihm vorgeschlagene Korrekturterminologie und im wesentlichen auch die von ihm geforderten Korrekturvoraussetzungen wurden in der Folgezeit von Literatur und Rechtsprechung übernommen und schließlich vom Gesetzgeber im Jahr 1977 ausdrücklich zur Grundlage der heutigen §§ 48, 49 VwVfG gemacht.60

D. Kodifizierung des allgemeinen Verwaltungsverfahrensrechts Zu Beginn der sechziger Jahre hatte sich die Vorstellung über die Korrigierbarkeit von Verwaltungsakten sowie die dabei zu verwendende Terminologie in der verwaltungsrechtlichen Literatur und Rechtsprechung gefestigt. 61 Das galt nicht nur für die Korrekturregeln, sondern auch für andere allgemeine Regeln des Verwaltungsverfahrens. Hinzu kam, daß die Zahl der Fachgesetze zunahm, in denen als verfahrensrechtlicher Annex zum materiellen Recht spezielle Regeln über die Rücknahme oder den Widerruf von Verwaltungsakten enthalten waren.62 In dieser Zeit wurde vermehrt die Frage gestellt, ob es sich empfehlen würde, den allgemeinen Teil des Verwaltungsrechts zu kodifizieren. 63 1960 waren diese Überlegungen Thema des 43. Deutschen Juristentages.64 Noch im selben Jahr nahm ein gemeinsamer Ausschuß des Bundes und der Länder die Arbeiten zu einem Entwurf eines Verwaltungsverfahrensgesetzes auf. 65 Der Anwendungsbereich des zu kodifizierenden allgemeinen Verfahrensgesetzes sollte möglichst umfassend sein.66 Es fiel den Gesetzesverfassern aber schwer, den Anwendungsbereich dieses Gesetzes auch auf das Gebiet des Steuerrechts auszudehnen, wo seit 1919 die Reichsabgabenordnung maßgebend war. Das war am Beispiel der Korrekturregeln besonders deutlich zu erkennen. Die viel älteren Änderungsvorschriften der Reichs-

59

Haueisen NJW 1955, 1457 ff.; ders. NJW 1956, 201; ders. DVB1. 1957, 506; ders. NJW 1958, 642. 60 Begr. zu §§ 44,45 VwVfG des RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 67. 61 Allg. Begr. Nr. 5.1 zum Musterentwurf (EVwVerfG 1963), S. 65. 62 Vgl. Begr. zum RegE eines VwVfG, BT-Drucks. 6/1173 S. 23; vgl. die Übersicht bei Klappstein Anhang ΠΙ, S. 183 ff. zu den heute noch im Sonderrecht enthalten Regeln. 63 Vgl. Merkl VVDStRL Bd. 17, S. 226 f.; Düng VVDStRL Bd. 17, S. 228; Baring JR 1960, 241 ff.; Külz DÖV 1961, 103 ff.; mit Blick auf das in Österreich seit 1925 geregelte VerwaltungsverfahrenMelichar VVDStRL Bd. 17, S. 183 (190). 64 Vgl. Gutachten von Spanner, Verh. des 43. DJT, Bd. I, 2. Teil A. 65 Vgl. Allg. Begr. Nr. 1.1 zum Musterentwurf (EVwVerfG 1963), S. 53. 66 Bonk, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 2 Rz. 1.

2. Teil: Historische Entwicklung von Korrekturregeln

40

abgabenordnung hatten mit den für das übrige Verwaltungsrecht entstandenen Korrekturregeln kaum etwas gemeinsam.67 Das mag teilweise sachlich begründet gewesen sein. Geldbescheide stellen andere Anforderungen an Korrekturregeln als etwa Gewerbeerlaubnisse oder polizeiliche Verbote. Es lassen sich auch sonstige Eigenarten des Steuerrechts finden, die abweichende Korrekturregeln rechtfertigen können.68 Zu diesen Eigenarten kann man etwa die Festsetzungsveijährung, unterschiedliche Verjährungsfristen, Außenprüfungen, Abhängigkeit von Grundlagen- und Folgebescheiden oder die Periodizität der Veranlagung zählen.69 Diese Besonderheiten des Steuerrechts können aber nicht als der einzige Grund für die scheinbare Unvereinbarkeit mit dem allgemeinen Verwaltungsrecht angesehen werden. Auch andere Spezialgebiete des Verwaltungsrechts weisen Besonderheiten auf. Wichtigste historische Ursache für die Eigenständigkeit des Steuerrecht ist vielmehr dessen frühzeitige Kodifizierung im Jahr 1919. Die verwaltungsrechtlichen Korrekturvorschriften sowie die übrigen Verfahrensregeln wurden bis zuletzt durch Rechtsprechung und Wissenschaft ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse des schon kodifizierten Steuerverfahrensrechts fortentwickelt. 70 Hätte man nun auch das Steuerrecht in den Anwendungsbereich des Verwaltungsverfahrensgesetzes einbezogen, wäre dies ein Bruch mit den seit Jahrzehnten bewährten und in der Steuerverwaltung eingespielten Vorschriften der Reichsabgabenordnung gewesen. Bezüglich der Korrekturregeln hätte sich allein schon wegen der unterschiedlichen Terminologie nicht ohne weiteres feststellen lassen, inwieweit man mit dem einen oder anderen Korrektursystem überhaupt zu identischen oder abweichenden Ergebnissen gelangt wäre. Es war deshalb auch nicht recht vorauszusehen, wie stark der Bruch in der Rechtskontinuität im Steuerverfahrensrecht gewesen wäre, wenn man fortan die für das Verwaltungsrecht vorgesehenen Rücknahme- und Widerrufsregeln im Steuerrecht angewandt hätte. Es erschien dem Bund-Länder-Ausschuß deshalb angezeigt, das Steuerrecht vom Anwendungsbereich des Entwurfes auszunehmen (vgl. § 85 Abs. 2 Nr. 1 Bundesfassung Musterentwurf EVwVerfG 1963).71 Die verwaltungsrechtlichen Korrekturregeln über die Rücknahme und den Widerruf von Verwaltungsakten fanden sich in den §§ 37 ff. EVwVerfG. Sie wurden

67

Vgl. auch Begr. zum späteren RegE der AO, BT-Drucks. 6/1982 S. 142. Vgl. für das österreichische Verwaltungsverfahrensgesetz Melichar VVDStRL Bd. 17, S. 183 (194 f.). 69 Rasenack § 12 VI, S. 217. 70 Vgl. schon oben C. I. und C. Π. 71 Allg. Begr. Nr. 5.32 zum Musterentwurf (EVwVerfG 1963), S. 67. 68

E. Reform der Reichsabgabenordnung

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nach weiteren vorbereitenden Entwürfen 72 in den §§ 44 ff. des späteren Regierungsentwurfes 73 übernommen und sind schließlich als §§ 48 ff. VwVfG am 1. Januar 1977 in Kraft getreten.74 Das Steuerrecht blieb vom Anwendungsbereich dieser Regeln ausgeschlossen (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG).

E. Reform der Reichsabgabenordnung Während der Arbeiten zur Kodifizierung des allgemeinen Verwaltungsverfahrensrechts wurde auch eine Reform der Abgabenordnung vorbereitet. 75 Die alte Reichsabgabenordnung hatte im Laufe der Jahre wegen zahlreicher Nebengesetze76 ihre Funktion als Mantelgesetz für das allgemeine Steuerrecht verloren 77 und zudem systematische Schwächen offenbart. 78 Die geplante Reform war gleichzeitig eine Gelegenheit, das Steuerverfahrensrecht stärker an die Regeln des geplanten Verwaltungsverfahrensgesetzes anzupassen.79 Wenn es schon nicht gelingen konnte, den Anwendungsbereich des Verwaltungsverfahrensgesetzes auf das Steuerrecht auszudehnen, dann sollten beide Verfahrensordnungen zumindest möglichst einheitlich ausgestaltet werden.80 Abweichungen der Abgabenordnung vom Verwaltungsverfahrensgesetz wollte man nur dort hinnehmen, wo sie wegen der Besonderheiten im Steuerrecht zwingend geboten erschienen.81 Damit tauchte auch die Frage auf, inwieweit 72

Referentenentwurf vom Dezember 1965, sog. „Münchener Fassung" des EVwVerfG, zit. nach Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs Einleitung Rz. 34; RegE 1970, BT-Drucks. 6/1173. 73 BT-Drucks. 7/910. 74 Gesetz vom 25. Mai 1976, BGBl. I S. 1253. 75 Entschließung des Bundestages vom 13. März 1963, Stenogr. Ber., 4. Wahlperiode, 64. Sitzung, S. 2973 unter C; vgl. näher zur Entstehungsgeschichte Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler Einf. AO Rz. 36 ff ; Koch/Scholtz, S. XLIX ff. 76 Z.B. Steueranpassungsgesetz vom 16. Oktober 1934, RGBl. I S. 235; Steuersäumnisgesetz vom 13. Juli 1961, BGBl. I S. 981. 77 Begr. zum RegE, BT-Drucks. 6/1982 S. 1; Bericht und Antrag des Finanzausschusses, BT-Drucks. 7/4292 S. 1. 78 Bericht des Arbeitskreises für die AO-Reform, S. 13 f.; Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler Einf. Rz. 36; Koch/Scholtz S. XLIX. 79 Begr. zu § 134 des RegE zur AO, BT-Drucks. 6/1982; Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler Einl. AO Rz. 35. 80 Çericht des Arbeitskreises für die AO-Reform, S. 14. 81 Stellungnahme des Bundesrates zum RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 107; Bericht der Abgeordneten Gerlach (Obernau), Bühling und Dr. Wendig (Innenausschuß), BTDrucks. 7/4494 S. 3 f.

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2. Teil: Historische Entwicklung von Korrekturregeln

die Abgabenordnung zur Korrektur von Steuerverwaltungsakten die Rücknahme- und Widerrufsregeln des Verwaltungsverfahrensgesetzes verwenden könnte. Der Gesetzgeber der Abgabenordnung hat hierauf letztlich eine differenzierte Antwort gegeben. Er übernahm die Rücknahme- und Widerrufsregeln nach dem Beispiel des Verwaltungsrechts in den §§ 130 ff. AO. 82 Diese Vorschriften weichen nur unwesentlich von den heutigen §§ 48 ff. VwVfG ab.83 Für die Korrektur von Steuerbescheiden und einigen den Steuerbescheiden gleichgestellten Verwaltungsakten sollten allerdings besondere, an die alten Korrekturregeln der Reichsabgabenordnung angelehnte Vorschriften gelten. Die Regeln über Rücknahme und Widerruf von Verwaltungsakten seien für die Korrektur von Geldbescheiden ungeeignet.84 Diese besonderen Korrekturregeln für Steuerbescheide finden sich heute in den §§ 172 ff. AO. Das Ergebnis dieser Entwicklung sind zwei verschiedene Korrektursysteme innerhalb des öffentlichen Verfahrensrechts. Der Maßstab für die Korrektur von Verwaltungsakten ist damit gespalten, und zwar sowohl innerhalb des Steuerrechts als auch im Verhältnis zwischen Steuerrecht und allgemeinem Verwaltungsrecht. 85

82

Begr. zum Bericht und Antrag des Finanzausschusses zu §§ 130 bis 132 AO, BTDrucks. 7/4292 S. 29. 83 Begr. zum Bericht und Antrag des Finanzausschusses zu § 130 AO, BT-Drucks. 7/4292 S. 29. 84 Vogel, Verh. des 46. DJT, Bd. I Teil 5 S. 80 ff. 85 Krit. Tipke/Kruse Vor § 130 Rz. 4.

3. Teil

Überblick über die gegenwärtigen Korrekturregeln A. Allgemeines Korrekturregeln für Verwaltungsakte stehen in einem Spannungsverhältnis zweier verschiedener Interessen. Zum einen müssen sie dem Gebot der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes gerecht werden.1 Rechtssicherheit und Vertrauensschutz sind Erfordernisse, die aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) abgeleitet werden.2 Als Geltungsgrund für das Vertrauensschutzprinzip wurden teilweise auch unterschiedliche Grundrechte,3 sowie der Grundsatz von Treu und Glauben4 angeführt. Den Bedürfnissen nach Vertrauensschutz und Rechtssicherheit würde man am ehesten gerecht, wenn ein wirksam erlassener Verwaltungsakt unabänderbar wäre, auch wenn er sich nach seinem Erlaß als rechts- oder zweckwidrig erweisen sollte. Andererseits müssen Korrekturregeln dem Interesse am rechtmäßigen Verwaltungshandeln gerecht werden. Die Bindung der Verwaltung an Gesetz und Recht ergibt sich ebenfalls aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG). Zur Verwirklichung dieses Interesses müßte ein rechtswidrig ergangener oder ein aufgrund späterer tatsächlicher Veränderungen rechtswidrig gewordener Verwaltungsakt stets korrigiert werden. Will der Gesetzgeber die Korrektur von Verwaltungsakten regeln, so muß er einen Kompromiß finden, um diese gegenläufigen Interessen möglichst schonend abzugleichen.

1

Tipke/Kruse Vor § 130 Rz. 1. BVerwGE 13, 28 (32); BVerwG NJW 1961, 1130 (1131); BVerwG NJW 1964, 1288 (1289X Haueisen DVB1. 1964, 710 (714 f.). 3 Schmidt, JuS 1973, 529 (532 f.): Art. 14 GG; Grabitz DVB1. 1973, 675 (681 f.): Art. 2 Abs. 1 GG; Achterberg § 23 Rz. 59: Art. 3 Abs. 1 GG. 4 BVerwGE 8, 261 (269 f.); 10, 308 (309); 19, 188 (190); 27, 215 (217 f.); ausdr. abl. Achterberg § 23 Rz. 56. 2

44

3. Teil: Überblick über die gegenwärtigen Korrekturregeln

B. Die Korrekturvorschriften im allgemeinen Verwaltungsrecht Im Verwaltungsrecht heißt die Korrektur rechtswidrig ergangener Verwaltungsakte „Rücknahme" (§ 48 VwVfG). Ist der Verwaltungsakt dagegen ursprünglich rechtmäßig, wird seine Korrektur als „Widerruf 4 bezeichnet (§ 49 VwVfG). 5

L Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte, § 48 VwVfG Bei der Korrektur rechtswidriger Verwaltungsakte gilt im Verwaltungsrecht der sogenannte Grundsatz der freien Rücknehmbarkeit.6 Nach § 48 Abs. 1 VwVfG steht die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde und ist an keine weiteren Voraussetzungen gebunden.7 Ein rechtswidriger Verwaltungsakt kann also grundsätzlich jederzeit ganz oder teilweise, sowohl mit Wirkung für die Zukunft als auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Dieser Grundsatz wird durch die vertrauenschützenden Regeln des § 48 Abs. 2 bis 4 VwVfG eingeschränkt, wenn der zu korrigierende Verwaltungsakt begünstigenden Charakter hat (§ 48 Abs. 1 S. 2 VwVfG). 8 Greifen die Einschränkungen in § 48 Abs. 2 bis 4 VwVfG nicht ein, so bleibt die Behörde nach § 48 Abs. 1 VwVfG im Rahmen ihres Ermessens uneingeschränkt zur Korrektur ermächtigt. Die Korrektureinschränkungen in § 48 Abs. 2 VwVfG gelten nur für begünstigende Verwaltungsakte, die eine einmalige oder laufende Geldleistung oder teilbare Sachleistung gewähren oder hierfür Voraussetzimg sind. Sie schließen eine Korrektur aus, wenn ein etwaiges Bestandsvertrauen des betroffenen Bürgers schutzwürdig ist, d.h. wenn sein Vertrauen im Einzelfall schwerer wiegt als das öffentliche Interesse an der Rücknahme (§ 48 Abs. 2 S. 1). Dabei hat der Gesetzgeber in Satz 2 und 3 der Vorschrift nähere Abwägungskriterien aufgestellt. 9 Die Beschränkungen in § 48 Abs. 3 VwVfG gelten für Verwaltungsakte, die keine Geld- oder Sachleistungen gewähren oder hierfür Voraussetzung 5

Grundlegend zu dieser Terminologie Haueisen NJW 1954, 1425; hieran anknüpfend Begr. zu §§ 44, 45 VwVfG des RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 67. 6 Begr. zu §44 VwVfG des RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 68; krit. WolfflBachoflStober § 51 Rz. 2. 7 Maurer § l l R z . 48. 8 Begr. zu § 44 Abs. 2 VwVfG des RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 69. 9 Begr. zu § 44 Abs. 2 VwVfG des RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 69.

Β. Die Korrekturvorschriften im allgemeinen Verwaltungsrecht

45

sind,10 wie etwa Erlaubnisse oder Versagungen.11 Die Vorschrift beschränkt nicht die Möglichkeit zur Rücknahme als solche. Sie begründet aber einen Entschädigungsanspruch, wenn der Betroffene in schutzwürdiger Weise auf den Fortbestand des Verwaltungsaktes vertraut hatte. § 48 Abs. 3 VwVfG bewirkt also keinen „Bestands-" sondern nur einen „Vermögensschutz". Der Entschädigungsanspruch ist als Äquivalent für die uneingeschränkte Rücknahmemöglichkeit nach Absatz 1 Satz 1 erforderlich, denn eine entschädigungslose Rücknahme wäre bei schutzwürdigem Vertrauen des Betroffenen unverhältnismäßig.12 Der Gesetzgeber hat zwischen Geld- und Sachleistungsverwaltungsakten einerseits (§ 48 Abs. 2 VwVfG) und sonstigen Verwaltungsakten andererseits (§ 48 Abs. 3 VwVfG) unterschieden, weil er jeweils unterschiedliche Interessen im Vordergrund sah. Rechtswidrige Geld- oder Sachleistungsverwaltungsakte würden eher fiskalische Interessen berühren. 13 Die Verwaltungsakte i.S.v. § 48 Abs. 3 VwVfG seien dagegen überwiegend staatsbezogen. Bei ihnen wäre es schwerer erträglich, den rechtswidrigen Zustand aufrechtzuerhalten. 14 Die Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte wird in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich durch die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG begrenzt. Nach Ablauf dieser Frist wiegt das Bestandsinteresse des Bürgers regelmäßig schwerer als das öffentliche Korrekturinteresse. Ausnahmsweise ist die Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsaktes auch nach Ablauf der Frist zulässig, wenn der Begünstigte den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat (§ 48 Abs. 4 S. 2 VwVfG). In diesem Fall wäre es nicht gerechtfertigt, Vertrauensschutz zu gewähren.15 Die vertrauenschützenden Beschränkungen für die Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte (§ 48 Abs. 2 bis 4 VwVfG) gelten nicht, wenn die Rücknahme dazu dient, dem Widerspruch oder der Anfechtungsklage eines Dritten abzuhelfen. Das ergibt sich aus § 50 VwVfG. Der Adressat eines begünstigenden Verwaltungsaktes muß stets damit rechnen, daß der Verwal-

10

Näher zum Unterschied zu den Geld- und Sachleistungsbescheiden nach § 48 Abs. 2 VwVfG Begr. zu § 44 Abs. 3 VwVfG des RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 71. 11 Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 133. 12 Begr. zu § 44 Abs. 3 VwVfG des RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 71; Einzelbegründung zu § 37 des Musterentwurfes (EVwVerfG 1963) S. 173. 13 Begr. zu § 44 Abs. 3 VwVfG des RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 71. 14 Begr. zu § 44 Abs. 3 VwVfG des RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 71. 15 Begr. zu § 44 Abs. 4 VwVfG des RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 71.

46

3. Teil: Überblick über die gegenwärtigen Korrekturregeln

tungsakt durch einen mittelbar belasteten Dritten angefochten wird. 16 Der Adressat genießt insoweit keinen Vertrauensschutz.17

Π. Widerruf rechtmäßiger Verwaltungsakte, § 49 VwVfG Der Widerruf eines rechtmäßigen Verwaltungsaktes nach § 49 VwVfG ist nur in eingeschränkterem Maße möglich als die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes.18 Zum einen ist der Widerruf belastender Verwaltungsakte nach § 49 Abs. 1 VwVfG unzulässig, wenn ein Verwaltungsakt gleichen Inhalts erneut erlassen werden müßte oder der Widerruf aus sonstigen Gründen unzulässig ist. Außerdem kann der Verwaltungsakt mit Hilfe eines Widerrufs, abgesehen vom Fall des § 49 Abs. 3 VwVfG 19 , nicht mit Wirkung für die Vergangenheit, sondern nur mit Wirkung für die Zukunft beseitigt werden. Anders als bei der Rücknahme kann man also nicht von einem Grundsatz der „freien Widerrufbarkeit" von Verwaltungsakten sprechen.20 Der Widerruf eines begünstigenden Verwaltungsaktes ist nach § 49 Abs. 2 VwVfG an bestimmte Widerrufsgründe geknüpft. Während der Gesetzgeber in § 48 Abs. 2 VwVfG in negativer Weise umschrieben hat, wann die Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsaktes ausgeschlossen ist, nennt er in § 49 Abs. 2 VwVfG positiv bestimmte Fälle, in denen ein Widerruf erlaubt ist.21 Bei einem Widerruf wegen der in § 49 Abs. 2 Nr. 3 bis 5 VwVfG genannten Gründe kann sich ein Anspruch des Betroffenen auf Ersatz eines etwaigen Vertrauensschadens ergeben (§ 49 Abs. 6 VwVfG). Wurde durch den zu widerrufenden Verwaltungsakt eine einmalige oder laufende Geldleistung oder teilbare Sachleistung zur Erfüllung eines bestimmten Zwecks gewährt oder ist der Verwaltungsakt hierfür Voraussetzung, dann treten zu den Widerrufsgründen des § 49 Abs. 2 VwVfG die Gründe des § 49 Abs. 3 VwVfG hinzu. In diesen Fällen ist der Widerruf auch mit Wirkung für die Vergangenheit möglich. Die Regelung ist erst 1996 durch ein Änderungs-

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Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 50 Rz. 1. Begr. zu § 46 VwVfG des RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 74. 18 Vgl. WolfflBachoflStober § 51 Rz. 5. 19 Eingefügt durch Art. 1 Nr. 1 a) des Gesetzes zur Änderung verwaltungsverfahrensrechtlicher Vorschriften vom 2. Mai 1996, BGBl. I S. 656. 20 So aber Begr. zu § 45 Abs. 1 VwVfG des RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 72, allerdings mit Einschränkungen. 21 WolfflBachofl Stober § 51 Rz. 40. 17

Β. Die Korrekturvorschriften im allgemeinen Verwaltungsrecht

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gesetz22 in § 49 VwVfG aufgenommen worden. Sie betrifft vor allem Subventionsbescheide und tritt an die Stelle von § 44a BHO, der nach Art. 2 des Änderungsgesetzes aufgehoben wurde. Genauso wie die Rücknahme kann auch der Widerruf eines begünstigenden Verwaltungsaktes nur innerhalb der Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG erfolgen. Das ergibt sich aus § 48 Abs. 2 S. 2 und Abs. 3 S. 2 VwVfG. Ein Vertrauensschutz wird nicht berücksichtigt, wenn durch den Widerruf einem Widerspruch oder einer Anfechtungsklage eines Dritten abgeholfen wird (§ 50 VwVfG). Der Adressat eines begünstigenden Verwaltungsaktes muß stets mit der Anfechtung durch einen Dritten rechnen. Das gilt nicht nur, wenn der Verwaltungsakt ursprünglich rechtswidrig war, sondern auch, wenn er rechtmäßig ergangen ist.

HL Wiederaufgreifen des Verfahrens Wiederaufgreifen des Verfahrens bedeutet, daß die Behörde ein Verwaltungsverfahren nach seinem unanfechtbaren Abschluß wieder eröffnet, um eine erneute Prüfung in der Sache zu beginnen und gegebenenfalls unter Aufhebung oder Änderung des bestandskräftigen Verwaltungsaktes abweichend zu entscheiden.23

7. Wiederaufgreifen

im engeren Sinne gern. § 51 VwVfG

In § 51 VwVfG hat der Gesetzgeber unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch des Bürgers auf Wiederaufgreifen des Verfahrens geregelt (sog. Wiederaufgreifen im engeren Sinne24). Hierin kann eine weitere Korrekturregel des Verwaltungsrechts erblickt werden, die neben die Vorschriften über die Rücknahme und den Widerruf von Verwaltungsakten tritt. Der Anspruch des Bürgers auf Wiederaufgreifen des Verfahrens ist allerdings nicht unmittelbar auf die Korrektur des Verwaltungsaktes gerichtet. Die Behörde wird durch §51 VwVfG nur dazu verpflichtet, sich erneut mit einem abgeschlossenen Verwaltungsverfahren in der Sache auseinanderzusetzen.25 §51 VwVfG ist 22

Gesetz zur Änderung verwaltungsverfahrensrechtlicher Vorschriften vom 2. Mai 1996, BGBl. IS. 656. 23 Ule/Laubinger § 65 Rz. 7; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 51 Rz. 5. 24 Vgl. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 51 Rz. 16 ff. 25 Begr. zu § 47 Abs. 1 VwVfG des RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 75.

48

3. Teil: Überblick über die gegenwärtigen Korrekturregeln

daher eine reine Verfahrensregelung. Selbst wenn die Behörde das Verfahren nach § 51 VwVfG wiederaufgreift, kann die dann folgende Sachentscheidung zu einem Festhalten am ursprünglichen Verwaltungsakt fuhren. 26 Ob die erneute Sachprüfung zu einer Korrektur des Verwaltungsaktes führt oder nicht, richtet sich nicht mehr nach § 51 VwVfG. Maßgebend für die erneute Sachentscheidung sind, wie auch schon beim erstmaligen Erlaß des Verwaltungsaktes, die Vorschriften des jeweiligen materiellen Rechtsgebietes.27 Als Gründe für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens gelten gem. § 51 Abs. 1 VwVfG die nachträgliche Änderung der Sach- oder Rechtslage zugunsten des Betroffenen (§51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG), das Vorliegen neuer Beweismittel, die eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG) sowie die Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 ZPO (§ 51 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG).

2. Wiederaufgreifen im weiteren Sinne anläßlich einer Korrektur gem. §§ 48, 49 VwVfG Korrigiert die Behörde einen Verwaltungsakt im Wege der §§ 48, 49 VwVfG durch Rücknahme oder Widerruf, so geht mit dieser Korrektur ebenfalls eine Entscheidung über das Wiederaufgreifen des Verfahrens einher (sog. Wiederaufgreifen im weiteren Sinne28). Die Behörde muß sich vor einer Rücknahme- oder Widerrufsentscheidung notwendigerweise mit dem abgeschlossenen Verfahren erneut in der Sache befassen, um die Voraussetzungen der §§ 48, 49 VwVfG prüfen zu können. Es stellt sich daher die Frage, in welchem Verhältnis § 51 VwVfG zu den §§ 48, 49 VwVfG steht. Gem. § 51 Abs. 5 VwVfG bleiben die Möglichkeiten der Behörde zur Rücknahme und zum Widerruf belastender Verwaltungsakte nach den §§ 48 Abs. 1 S. 1 und 49 Abs. 1 VwVfG unberührt. Damit wird klargestellt, daß das Verfahren nach §51 VwVfG selbständig neben die Rücknahme- und Widerrufsregeln tritt. 29 Das Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 VwVfG (Wiederaufgreifen im engeren Sinne) ist also von dem Wiederaufgreifen zu unterscheiden, das mit

26

Maurer § 11 Rz. 56. BVerwG NJW 1982, 2204 (2205); BVerwG NJW 1985, 280 f.; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 51 Rz. 105; ders. JuS 1982, 264 (267); Schenke DÖV 1983, 320 (330 f.); Klappstein, in: Knack § 51 Rz. 4.3 und § 48 Rz. 5.1 sowie 5.6.4; Erichsen, in: Erichsen § 20 Rz. 15; Kopp § 51 Rz. 10; a.A.: Meyer, in: Meyer/Borgs § 51 Rz. 21; Maurer § 11 Rz. 61; Wendt JA 1980, 85 (87); Richter JuS 1990, 719 (723). 28 Vgl. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 51 Rz. 9 ff. 29 Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 51 Rz. 104; Kopp § 51 Rz. 5. 27

. Die Korrekturvorschriften im

eerrecht

49

einer Rücknahme oder einem Widerruf zwangsläufig inzident einher geht (Wiederaufgreifen im weiteren Sinne).

3. Verhältnis zwischen dem Wiederaufgreifen im engeren und im weiteren Sinne Greift die Behörde ein Verwaltungsverfahren von Amts wegen wieder auf, so erfolgt dies stets im Rahmen der §§ 48, 49 VwVfG (Wiederaufgreifen im weiteren Sinne). Abgrenzungsschwierigkeiten zu §51 VwVfG (Wiederaufgreifen im engeren Sinne) ergeben sich nur, wenn die Behörde auf Antrag des Bürgers über das Wiederaufgreifen entscheidet. Aus dem Antrag des Bürgers ergibt sich regelmäßig nicht, ob eine Entscheidung der Behörde nach § 51 oder nach §§ 48, 49 VwVfG begehrt wird. Solche Anträge sind dahin gehend auszulegen, daß der Bürger vorrangig ein Wiederaufgreifen nach § 51 VwVfG wünscht, da sich aus dieser Vorschrift ein Anspruch auf eine erneute Sachentscheidung nach den Regeln des materiellen Rechts ergeben kann. Liegen die Voraussetzungen des § 51 VwVfG dagegen nicht vor, so ist dem Antrag des Bürgers hilfsweise das Begehren zu entnehmen, den Verwaltungsakt nach §§ 48, 49 VwVfG zurückzunehmen bzw. zu widerrufen. Aus §§ 48, 49 VwVfG ergibt sich allerdings kein Anspruch auf Wiederaufgreifen, sondern nur ein Anspruch auf fehlerfreie Ermessensentscheidung der Behörde.30 Dabei ist es nach Unanfechtbarkeit des Verwaltungsaktes grundsätzlich als ermessensfehlerfrei anzusehen, wenn die Behörde die Korrektur des Verwaltungsaktes ablehnt.31 Anderenfalls wären die Rechtsbehelfsfristen bedeutungslos. Es ist aber nicht ausgeschlossen, daß die Behörde gleichwohl aus Zweckmäßigkeitserwägungen von der Korrekturmöglichkeit nach §§ 48, 49 VwVfG Gebrauch macht.

C. Die Korrekturvorschriften im Steuerrecht Die Korrekturvorschriften im Steuerrecht sind zweigeteilt.32 Für die Korrektur allgemeiner Steuerverwaltungsakte gelten die Rücknahme- und Widerrufsregeln der §§ 130 ff. AO. Diese Vorschriften sind in Anlehnung an das

30

Kopp § 51 Rz. 9.

31

Begr. zu § 44 Abs. 1 VwVfG des RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 69; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 61; WolfflBachoflStober § 51 Rz. 121. 32

Krit. Tipke/Kruse

4 Arndt

Vor § 130 Rz. 4.

50

3. Teil: Überblick über die gegenwärtigen Korrekturregeln

Verwaltungsverfahrensgesetz entstanden33 und weichen nur zum Teil und geringfügig von diesen ab.34 Für die Korrektur von Steuerbescheiden gelten dagegen nicht die Rücknahme- und Widerrufsregeln der §§ 130 ff. AO, sondern die besonderen Korrekturvorschriften in den §§ 172 ff. AO (vgl. § 172 Abs. 1 Nr. 2 d 2. Halbs. AO). Die §§ 172 ff. AO knüpfen an die hergebrachten Korrekturregeln der Reichsabgabenordnung (§§91 bis 96 und §§ 222 bis 224 RAO 1931) an.35 Im folgenden soll ein grober Überblick über das Korrektursystem in den §§ 172 ff. AO gegeben werden.

L Enumeratives Korrektursystem Die §§ 172 ff. AO erlauben die „Aufhebung und Änderung" von Steuerbescheiden und einigen anderen, den Steuerbescheiden gleichgestellten Verwaltungsakten.36 In diesem Korrektursystem werden abschließend nur bestimmte Situationen aufgezählt, in denen die Finanzbehörde zu einer Korrektur von Steuerbescheiden berechtigt sein soll. Anders als bei der Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte kann bei der Korrektur von Steuerbescheiden daher nicht von einem allgemeinen Grundsatz der Korrigierbarkeit gesprochen werden.

Π. Korrekturvoraussetzungen Die §§ 172 ff. AO regeln spezielle Tatbestandsvoraussetzungen für einzelne Korrektursituationen (2.). Daneben lassen sich allgemeine Voraussetzungen nennen, die bei allen Korrekturen gleichermaßen erfüllt sein müssen (1.).

33

Begr. zum Bericht und Antrag des Finanzausschusses zu § 130 und zu § 131 AO, BT-Drucks. 7/4292 S. 29; vgl. auch die zurückhaltendere Begr. zu § 134 AO des RegE, BT-Drucks. 6/1982. 34 Gröpl VerwArch Bd. 88 (1997), 23 (48 ff.) zur in der AO fehlenden Möglichkeit eines Widerrufs mit Wirkung für die Vergangenheit. 35 Tipke/Kruse Vor § 130 Rz. 3. 36 Näher zum Anwendungsbereich Tipke/Kruse Vor § 172 Rz. 5; Szymczak, in: Koch/Scholtz Vor § 172 Rz. 3.

. Die Korrekturvorschriften im

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51

1. Allgemeine Korrekturvoraussetzungen a) Allgemeine Voraussetzung für eine Korrektur nach den §§ 172 ff. AO ist die Einhaltung der in den §§ 169 ff. AO geregelten Festsetzungsfrist. Dieses Erfordernis ergibt sich nicht aus dem Wortlaut der §§ 172 ff. AO, sondern aus § 169 Abs. 1 S. 1 AO. Nach dieser Vorschrift sind eine Steuerfestsetzung sowie ihre Aufhebung oder Änderung unzulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist. 37 b) Eine Korrektur nach den §§ 172 ff. AO ist außerdem nur möglich, wenn der Steuerbescheid rechtswidrig ist.38 Die Rechtswidrigkeit des Steuerbescheides ist als Korrekturvoraussetzung nicht ausdrücklich in den §§ 172 ff. AO erwähnt. Es handelt sich um ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal.39 Aus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung (§ 85 AO) 40 ergibt sich, daß ein rechtmäßiger Steuerbescheid einer Korrektur nicht zugänglich ist. Da die Finanzbehörde bei der Festsetzung von Steuern kein Ermessen hat, würde die Aufhebung oder Änderung eines rechtmäßigen Steuerbescheides stets zu einem rechtswidrigen Ergebnis führen. c) Für eine Korrektur nach den §§ 172 ff. AO müssen die Kleinbetragsgrenzen nach der Kleinbetragsverordnung (KBV) 41 überschritten sein. Die Kleinbetragsgrenze liegt bei Änderungen zum Nachteil des Steuerpflichtigen für die meisten Steuerbescheide bei derzeit mindestens 20 DM. d) Schließlich sind Korrekturen nach den §§ 172 ff. AO ausgeschlossen, wenn die vertrauenschützende Regelung des § 176 AO eingreift. Nach dieser Vorschrift wird das Vertrauen des Bürgers in die Verfassungsgemäßheit von Gesetzen, in die Beständigkeit der Rechtsprechung und in die Rechtmäßigkeit von Verwaltungsvorschriften unter bestimmten Voraussetzungen geschützt.

37

S.u. unter 4. Teil Α. IV. Tipke/Kruse Vor § 172 Rz. 7; Szymczak, in: Koch/Scholtz § 172 Rz. 2; v. Wedelstädt, in: Beermann Vor §§ 172 ff. Übersicht „Korrektur von Verwaltungsakten" in Rz. 13 sowie Rz. 22; Becker/Riewald/Koch § 94 Anm. 3a. 39 Vgl. Tipke/Kruse § 172 Rz. 1; vgl. Szymczak, in: Koch/Scholtz § 172 Rz. 2; BekkerlRiewald!Koch § 94 Anm. 3a (1). 40 Allgemein hierzu Tipke/Kruse § 85 Rz. 3 f.; Hübschmann/Hepp/Spitaler § 85 Rz. 7 ff. 41 Vom 10. Dezember 1980 (BGBl. I S. 2255), zuletzt geändert durch Art. 28 des Mißbrauchsbekämpfungs- und Steuerbereinigungsgesetz v. 21. 12. 1993 (BGBl. I S. 2310). 38

52

3. Teil: Überblick über die gegenwärtigen Korrekturregeln

2. Besondere Korrekturtatbestände Sind die allgemeinen Korrekturvoraussetzungen erfüllt, so kommt es darauf an, ob einer der in den §§ 172 ff. AO genannten Korrekturtatbestände einschlägig ist. a) Vorläufige Steuerfestsetzungen sowie Steuerfestsetzungen, die unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehen (vgl. §§ 164, 165 AO) können gem. § 172 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 164 Abs. 2 bzw. § 165 Abs. 2 AO ohne besondere Voraussetzungen korrigiert werden.42 Ebenso sind Steuerbescheide gem. § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO ohne weiteres korrigierbar, wenn sie Zölle und Verbrauchsteuern betreffen. b) Zur Korrektur von Bescheiden über Besitz- und Verkehrsteuern ist die Behörde nach § 172 Abs. 1 Nr. 2 AO befügt, wenn der Steuerpflichtige zustimmt oder seinem Antrag der Sache nach entsprochen wird. Das gilt bei Korrekturen zu seinen Gunsten aber nur, wenn der Steuerbescheid noch nicht unanfechtbar ist (§ 172 Abs. 1 Nr. 2 a 2. Halbs. AO). Ferner können Steuerbescheide nach § 172 Abs. 1 Nr. 2 AO korrigiert werden, wenn sie von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen oder durch unlautere Mittel vom Steuerpflichtigen erwirkt worden sind. c) Werden nach Erlaß des Steuerbescheides Tatsachen oder Beweismittel bekannt, die dem Bescheid hätten zugrunde gelegt werden müssen, so ist die Behörde nach Maßgabe des § 173 AO zur Korrektur verpflichtet. Damit kommt zum Ausdruck, daß die Bestandskraft eines Steuerbescheides vor allem wegen eines Fehlers im Tatsachenbereich durchbrochen werden darf. 43 Ist der Steuerbescheid dagegen wegen eines Rechtsanwendungsfehlers rechtswidrig, sind die Korrekturmöglichkeiten nach der Abgabenordnung stark eingeschränkt.44 d) Existieren mehrere Steuerbescheide, die sich denkgesetzlich ausschließen,45 so ist die Behörde unter den Voraussetzungen des § 174 AO zur Korrektur ermächtigt. § 174 Abs. 1 und 2 AO erfassen Fälle eines sogenannten positiven Widerstreits, d.h. Fälle, in denen ein Sachverhalt in mehreren Bescheiden berücksichtigt wurde, obwohl er nur einmal hätte berücksichtigt werden dürfen. § 174 Abs. 3 bis 5 AO erfaßt dagegen Fälle eines sogenannten negativen Widerstreits. Dabei handelt es sich um Situationen, in denen ein Sachver-

42

v. Wallis, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler Vor § 172 Rz. 6. Martens Rz. 458. 44 Martens Rz. 458. 45 Begr. zu § 155 AO des RegE, BT-Drucks. 6/1982 S. 153. 43

. Die Korrekturvorschriften im

eerrecht

53

halt in mehreren Bescheiden nicht berücksichtigt wurde, obwohl er zumindest einmal hätte berücksichtigt werden müssen. e) Auch § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO enthält einen Fall, in dem die Korrektur eines Steuerbescheides angeordnet wird, weil dieser zu einem anderen Bescheid in einer bestimmten Beziehung steht. Nach dieser Vorschrift ist ein Steuerbescheid zu korrigieren, soweit ein Grundlagenbescheid erlassen, aufgehoben oder geändert wird. Als Grundlagenbescheide bezeichnet man Verwaltungsakte, die für andere Bescheide Bindungswirkung entfalten. Folgebescheide müssen also stets an Grundlagenbescheide angepaßt werden.46 f) Nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO muß die Behörde einen Steuerbescheid korrigieren, wenn ein rückwirkendes Ereignis eintritt. Rückwirkende Ereignisse sind Umstände, die erst nach der Steuerfestsetzung eintreten,47 denen aber steuerliche Wirkung für die Vergangenheit zukommt. Die Folge rückwirkender Ereignisse ist, daß der ursprünglich rechtmäßig ergangene Steuerbescheid rückblickend als von Anfang an rechtswidrig zu beurteilen ist. g) Bloße Rechtsanwendungsfehler werden von den §§ 172 ff. AO nur zurückhaltend als Korrekturgrund anerkannt. Ein Rechtsanwendungsfehler kann etwa korrigiert werden, wenn dieser ausnahmsweise gleichzeitig zu einem Fall widerstreitender Steuerfestsetzungen führt (§ 174 AO). Im übrigen können bloße Rechtsanwendungsfehler nur im Rahmen von § 177 AO berücksichtigt werden. Die Vorschrift enthält keine eigenständige Korrekturermächtigung. Sie schreibt nur eine kompensierende Mitberücksichtigung von Rechtsanwendungsfehlern vor, soweit die Behörde einen Steuerbescheid aus anderem Anlaß korrigiert.

46 47

Begr. zu § 156 AO des RegE, BT-Drucks. 6/1982 S. 154 f. Tipke/Kruse § 175 Rz. 7.

4. Teil Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung Möglichkeiten zur Vereinheitlichung der Korrekturregeln im Steuerrecht und im allgemeinen Verwaltungsrecht lassen sich nur dann aufzeigen, wenn zuvor die Unterschiede der beiden Korrektursysteme feststehen. Die Unterschiede zwischen den §§ 48 ff. VwVfG und §§ 172 ff. AO lassen sich jedoch nicht ohne weiteres erkennen. Bislang existieren nur wenige vergleichende Darstellungen.1 Über die genauen Unterschiede beider Korrekturkonzepte gibt es noch keinen hinreichenden Aufschluß. Es wird deshalb im folgenden Teil versucht, durch spezifische Vergleiche Unterschiede und Übereinstimmungen beider Korrektursysteme festzustellen. Dabei werden erst allgemeine Merkmale verglichen, die für alle Korrekturtatbestände gleichermaßen gelten (Α.). In weiteren Vergleichen sollen dann einzelne Korrekturtatbestände beider Verfahrensordnungen gegenübergestellt werden (B). Sofern festgestellte Unterschiede beider Korrekturkonzepte nicht durch Besonderheiten des einen oder des anderen Rechtsgebietes gerechtfertigt sind, werden jeweils Vereinheitlichungsmöglichkeiten vorgeschlagen.

A. Allgemeiner Vergleich Die Korrekturregeln des Verwaltungsverfahrensgesetzes und der Abgabenordnung weichen erheblich voneinander ab. Die Unterschiede bestehen nicht nur darin, daß abweichende Voraussetzungen an die Korrigierbarkeit eines Verwaltungsaktes gestellt werden. Viele Unterschiede ergeben sich bereits aus der Grundsystematik beider Korrekturkonzepte. Hierzu gehört zum einen die abweichende Terminologie in beiden Verfahrensordnungen. 2 Das Verwaltungsverfahrensgesetz spricht von Rücknahme und Widerruf des Verwal-

1

Vergleichende Darstellungen bei v. Einem S. 1 ff.; Martens § 11 Rz. 425 bis 528; ders. NVwZ 1985, 158; Wendt JA 1980, 85; ferner vor Inkrafttreten von AO 1977 und VwVfG Schröcker NJW 1968, 2035; Vogel, Verh. des 46. DJT, Bd. I, Teil 5 sowie Sitzungsberichte Bd. Π, Teil H; Martens StuW 1965, 570 (570). 2 Vogel, Verh. des 46. DJT, Bd. I Teil 5 S. 80.

Α. Allgemeiner Vergleich

55

tungsaktes. In der Abgabenordnung heißen die damit vergleichbaren Korrekturen von Steuerbescheiden „Aufhebung und Änderung" (I). Das Verwaltungsverfahrensgesetz unterscheidet zwischen der Korrektur begünstigender und belastender Verwaltungsakte, während die Abgabenordnung in ihren Änderungstatbeständen zwischen Korrekturen zugunsten und zuungunsten des Betroffenen differenziert (II). Das Verwaltungsverfahrensgesetz unterscheidet Korrekturen rechtswidriger und rechtmäßiger Verwaltungsakte. In den §§ 172 ff. AO wird dagegen das Merkmal der Rechtmäßigkeit bei den Korrekturregeln für Steuerbescheide nicht erwähnt (III). Neben den terminologischen Differenzen gibt es weitere konzeptionelle Unterschiede, die sich in allen Korrekturtatbeständen widerspiegeln. So sind etwa die zeitlichen Beschränkungen für Korrekturen in beiden Verfahrensordnungen an völlig verschieden ausgestaltete Fristenregeln geknüpft (IV). Weiterhin eröffnet das behördliche Ermessen der Verwaltung bei Korrekturen nach allgemeinem Verwaltungsrecht andere Gestaltungsmöglichkeiten als bei Korrekturen nach der Abgabenordnung. Insbesondere für die zeitliche Wirkung und für den Umfang der Korrektur können sich dabei Unterschiede ergeben (V). Um in einem späteren Arbeitsschritt (B) einzelne Korrekturtatbestände beider Rechtsgebiete besser miteinander vergleichen zu können, müssen zunächst diese allgemeinen, für alle Korrekturtatbestände gleichermaßen geltenden Merkmale gegenübergestellt werden. Die Aufgabe dieses ersten Arbeitsschrittes besteht nicht nur darin, allgemeine Unterschiede beider Korrektursysteme zu ermitteln, sondern auch, die einzelnen Korrekturtatbestände überhaupt erst miteinander vergleichbar zu machen.

L Vergleich der Wirkung von Rücknahme und Widerruf mit der Wirkung von Aufhebung und Änderung Die §§48 bis 50 VwVfG ermöglichen die Rücknahme oder den Widerruf eines Verwaltungsaktes. Im Steuerrecht kann dagegen ein Verwaltungsakt unter den Voraussetzungen der §§ 172 ff. AO aufgehoben oder geändert werden. Fraglich ist, ob es sich hierbei nur um einen sprachlichen Unterschied handelt oder ob die Rücknahme bzw. der Widerruf eine andere materielle Wirkung hat als die Aufhebung oder Änderung eines Verwaltungsaktes.3

3

Vgl. Tipke/Kruse

Vor § 130 Rz. 2.

56

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

1. Vergleich der Wirkung einer Aufhebung mit der Wirkung von Rücknahme und Widerruf Wird ein Steuerbescheid nach den §§ 172 ff. AO aufgehoben, so wird er vollständig beseitigt.4 Der ursprüngliche Bescheid wird durch die Aufhebung nach der Abgabenordnung unwirksam.5 Die gleiche Wirkung wird auch mit den Mitteln der §§ 48, 49 VwVfG erzielt. Wird ein Verwaltungsakt zurückgenommen oder widerrufen, so wird er ebenfalls unwirksam.6 Insoweit handelt es sich bei der steuerrechtlichen Aufhebung verglichen mit der Rücknahme oder dem Widerruf nur um eine sprachliche Abweichung. Rücknahme und Widerruf sind lediglich Unterfalle einer Aufhebung. 7 Diese Terminologie korrespondiert mit der Formulierung in § 43 Abs. 2 VwVfG und § 124 Abs. 2 AO, wo von Rücknahme, Widerruf und anderweitigen Aufhebungen die Rede ist.

2. Vergleich der Wirkung einer Änderung mit der Wirkung von Rücknahme und Widerruf Die §§ 172 ff. AO ermöglichen nicht nur die Aufhebung, sondern auch die Änderung eines Steuerbescheides. Während die Aufhebung den Verwaltungsakt vollständig beseitigt, betrifft die Änderung den Verwaltungsakt inhaltlich nur zu einem Teil.8 Der Steuergesetzgeber hat den Begriff der Änderung offenbar nur aus traditionellen Gründen verwendet. Schon in den §§92 bis 94, 222 RAO 1919 und §§ 40 Abs. 1, 100 FGO 1966 war dieser Begriff enthalten. Der Gesetzgeber wollte hierauf wegen des langjährigen Gebrauchs nicht zugunsten einer Anpassung an das allgemeine Verwaltungsrecht verzichten.9 Das Verwaltungsverfahrensgesetz spricht dagegen nicht von „Änderung", sondern erlaubt allenfalls eine teilweise Rücknahme des Verwaltungsaktes 4

Kühn/Hofinann § 124 Anm. 4 a) aa); Tipke/Kruse § 172 Rz. 21. v. Wedelstädt, in: Beermann Vor §§ 172 ff. Rz. 26; Kühn/Hofinann Vor §§ 172 mit 177 Anm. 8 a). 6 Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 13; Maurer § 11 Rz. 11; Ule/Laubinger § 61 Rz. 31; WolfflBachofl Stober § 51 Rz. 36; Forsthoff 10. Aufl. S. 260. 7 Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 13; Maurer § 11 Rz. 11; Ule/Laubinger § 61 Rz. 1; WolfflBachofl Stober § 51 Rz. 36; Forsthoff 10. Aufl. S. 260; Begr. zu §§ 44,45 VwVfG des RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 67. 8 v. Wedelstädt, in: Beermann Vor §§ 172 ff. Rz. 27 ff.; Kühn/Hofinann § 124 Anm. 4 a) aa). 9 Begr. zu § 134 AO des RegE, BT-Drucks. 6/1982 S. 143 sowie die insoweit nur redaktionellen Änderungen des Finanzausschusses zu § 130, BT-Drucks. 7/4292 S. 29. 5

Α. Allgemeiner Vergleich

57

(§ 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG). Entsprechendes gilt gem. § 49 Abs. 1 VwVfG für den Widerruf. Es stellt sich erneut die Frage, ob es sich insoweit nur um begriffliche Unterschiede zwischen Steuerrecht und Verwaltungsrecht handelt oder ob ein steuerrechtlicher Änderungsbescheid eine andere materielle Wirkung hat als etwa eine verwaltungsrechtliche Rück- bzw. Teilrücknahme.10 Die materiellen Wirkungen beider Korrekturmittel sollen anhand von zwei Fallkonstellationen miteinander verglichen werden:

a) Zu hohe Steuerfestsetzung Hat die Finanzbehörde die Steuer aus einem nach §§ 172 ff. AO beachtlichen Grunde zu hoch festgesetzt, so kann sie mit Hilfe der Änderung den ursprünglichen Betrag niedriger festsetzen. Wurde die Steuer z.B. ursprünglich um 200 DM zu hoch auf 1.000 DM festgesetzt, so kann die Finanzbehörde den Betrag durch eine Änderung auf 800 DM reduzieren. 11 Die gleiche Möglichkeit hat auch die Verwaltungsbehörde bei einer Korrektur mit Hilfe des Verwaltungsverfahrensgesetzes. Hat die Verwaltungsbehörde eine Abgabe zu hoch festgesetzt, so kann sie diese durch eine Teilrücknahme gem. § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG vermindern. Ist z.B. ein Gebührenbescheid über 1.000 DM aufgrund falscher Berechnung um 200 DM zu hoch ausgefallen, so kann die Behörde den ursprünglichen Bescheid teilweise, also um 200 DM, zurücknehmen, so daß die festgesetzte Gebühr 800 DM beträgt.12 Insoweit läßt sich mit der teilweisen Rücknahme im Verwaltungsrecht das gleiche Ergebnis erzielen wie mit Hilfe einer steuerrechtlichen Änderung.13

b) Zu niedrige Steuerfestsetzung Hat die Finanzbehörde die Steuer zu niedrig festgesetzt, so kann sie den ursprünglichen Betrag durch einen Änderungsbescheid unter den Voraussetzun-

10

Wolff/BachoflStober § 51 Rz. 27 sprechen ohne Bezug auf die AO bei Teilbeseitigung von ,Änderung"; Meyer, in: Meyer/Borgs § 48 Rz. 37: „Abänderung" als Synonym fur Teilrücknahme; zu § 130 AO: Förster, in: Koch/Scholtz § 130 Rz. 7 sowie Tipke/Kruse Vor § 130 Rz. 2 bezeichnen teilweise Rücknahme als „einschränkende Änderung". 11 Tipke/Kruse Vor § 130 Rz. 2. n Maurer § 11 Rz. 12 f. 13 Schröcker NJW 1968, 2035 (2039).

58

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

gen der §§ 172 ff. AO erhöhen.14 Das Korrekturmittel der Änderung läßt also gleichermaßen eine Einengung als auch eine Ausweitung des ursprünglichen Bescheides zu. Schwieriger ist die Situation dagegen für die Verwaltungsbehörde bei Korrekturen nach allgemeinem Verwaltungsrecht. Ist etwa ein Gebühren- oder Beitragsbescheid in Höhe von 1.000 DM um 200 DM zu niedrig ausgefallen, so fordert eine Korrektur nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz im Unterschied zur Abgabenordnung ein Vorgehen in zwei Schritten: Die Behörde muß zunächst den zu niedrigen Abgabenbescheid vollständig zurücknehmen und dann einen neuen, sogenannten Ersetzungsbescheid über 1.200 DM erlassen.15 Es bedarf also zweier verschiedener Verwaltungsakte, um die Abgabe in voller Höhe festzusetzen. 16 Die Finanzbehörde kann dagegen mit Hilfe der §§ 172 ff. AO auch eine Erhöhung der festgesetzten Steuer mit nur einem einzigen Verwaltungsakt erreichen, indem sie den ursprünglich festgesetzten Betrag von 1.000 DM auf 1.200 DM ändert.17 Hierin liegt der Unterschied zwischen dem steuerrechtlichen Instrument der Änderung und dem verwaltungsrechtlichen Mittel der Rücknahme oder des Widerrufs, zu dem eine Neufestsetzung hinzutreten muß.18 Dieser Unterschied hat allerdings kaum praktische Bedeutung. Die Verwaltungsbehörde kann die Rücknahme des zu niedrigen Bescheides und die anschließende Neufestsetzung des erhöhten Geldbetrages in einem Schriftstück zusammenfassen.19 Die Rücknahme des ursprünglichen Bescheides muß auch nicht ausdrücklich erfolgen, sondern kann konkludent in der Neufestsetzung des höheren Geldbetrages liegen.20 So enthält etwa eine Räumungsanordnung für eine Obdachlosenunterkunft konkludent die Rücknahme ihrer Zuteilung21 oder die Rückforderung einer Subvention konkludent die Rücknahme ihrer Bewilligung.22 Insoweit kann mit einer kombinierten Rücknahme und Neube14

Tipke/Kruse Vor § 130 Rz. 2. BVerwGE 67, 129; HessVGH NJW 1981, 596; Schröder JuS 1970, 615ff.; Stelkens JuS 1984, 930 ff. 16 Stelkens JuS 1984, 930 (931); zu § 130 AO: Klein/Orlopp § 130 Anm. 5. 17 Schröcker NJW 1968,2035 (2039 f.). 18 Birk § 14 Rz. 2; Haas S. 156. 19 Wolff/Bachofl Stober § 51 Rz. 27; Meyer, in: Meyer/Borgs § 48 Rz. 37. 20 BVerwGE 62,1 (5); 67, 305 (313); 71, 261 (262); BVerwG NVwZ 1985, 488 (489); OVG Münster OVGE 31, 126 (130); BFH NJW 1982, 1416; Schröder JuS 1970, 615 (616); Stelkens JuS 1984, 930 (931); Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 65 und 170. 21 OVG Berlin NVwZ 1990, 195. 22 BVerwG NVwZ 1984, 518; BVerwG DVB1. 1981, 639. 15

Α. Allgemeiner Vergleich

59

Scheidung ohne Mehraufwand der Behörde das gleiche Ergebnis erzielt werden wie mit einer Änderung nach den §§ 172 ff. AO. 23 Dennoch sind wegen der Zweistufigkeit der Korrektur im Verwaltungsrecht Nachteile für den Adressaten gegenüber der steuerrechtlichen Änderung denkbar. Erhebt etwa der Abgabenschuldner Widerspruch nur gegen den Rücknahmebescheid, so ist die Wirkung der Rücknahme gem. § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO suspendiert, denn die Rücknahme eines Abgabenbescheides fallt nicht in den Anwendungsbereich von § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Die Behörde darf aber einen Ersetzungsbescheid nicht erlassen, solange die Wirkung der Rücknahme aufgeschoben ist, denn sonst würde wegen des noch wirksamen Erstbescheides die Abgabe doppelt festgesetzt werden.24 Hat die Behörde Rücknahme und Ersetzungsbescheid in einem Bescheid zusammengefaßt, so wird der Ersetzungsbescheid durch die Suspendierung der Rücknahme rechtswidrig. Diese Probleme gibt es bei der einaktigen Änderung im Steuerrecht nicht. Erhebt der Abgabenschuldner gegen eine steuerrechtliche Änderung Einspruch gem. § 347 Abs. 1 Nr. 1 AO, so bleibt die Steuererhöhung in ihrer Rechtmäßigkeit unberührt. Sie kann zudem trotz des Einspruchs sofort vollzogen werden (§ 361 Abs. 1 AO). Dieser Vergleich macht deutlich, daß die verwaltungsrechtlichen Korrekturmittel „Rücknahme und Widerruf' für die Heraufsetzung einer zu niedrig festgesetzten Abgabe weniger gut geeignet sind als das steuerrechtliche Instrument der Änderung.

3. Möglichkeiten zur Vereinheitlichung Es fragt sich, ob insoweit eine Vereinheitlichung von Steuerrecht und allgemeinem Verwaltungsrecht zu empfehlen ist. Es wäre grundsätzlich denkbar, das Mittel der Änderung anstelle der teilweisen Rücknahme und des teilweisen Widerrufs nebst einer Neufestsetzung in das Verwaltungsverfahrensgesetz aufzunehmen. Der Verwaltungsbehörde würden dabei keine Gestaltungsmöglichkeiten verlorengehen, denn sie könnte alle Korrekturen, die mittels Rücknahme und Widerruf zu erzielen sind, auch mit Hilfe einer Änderung bewirken. Das Korrekturverfahren würde sich sogar vereinfachen, denn eine zu niedrig festgesetzte Abgabe könnte unmittelbar mit nur einem Korrekturakt

23

Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 65; Maurer § 11 Rz. 13; Schröder JuS 1970,615(616). 24 Stelkens JuS 1984, 930 (932); Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 43 Rz. 143; vergleichbar auch BVerwG BauR 1983,251 und BVerwG BauR 1986 315 (317).

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4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

heraufgesetzt werden.25 Die beiden Verfahrensordnungen wären dann insoweit einheitlich ausgestaltet.26

EL Vergleich von Rücknahme und Widerruf begünstigender oder nicht begünstigender Verwaltungsakte mit Änderungen des Steuerbescheides zugunsten oder zuungunsten des Betroffenen Im Korrektursystem des Verwaltungsverfahrensgesetzes werden unterschiedliche Voraussetzungen für Rücknahme und Widerruf davon abhängig gemacht, ob der aufzuhebende Verwaltungsakt begünstigenden oder belastenden Charakter hat.27 Das Steuerrecht unterscheidet dagegen in den §§ 172 fif. AO danach, ob die Änderung des Steuerbescheides zugunsten oder zuungunsten des Steuerpflichtigen erfolgt (§ 172 Abs. 1 Nr. 2a 2. Hs., § 173 Abs. 1 Nr. 1 und 2, § 174 Abs. 1 und 2 sowie Abs. 4, § 176 Abs. 1 und 2, § 177 Abs. 1 und 2 AO). Es fragt sich, ob eine Änderung zugunsten des Betroffenen im Steuerrecht gleichbedeutend mit der verwaltungsrechtlichen Rücknahme eines belastenden Verwaltungsaktes ist und ob umgekehrt eine Änderung zuungunsten des Betroffenen mit der Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsaktes gleichgesetzt werden kann: Nach der Legaldefinition des § 48 Abs. 1 S. 2 VwVfG hat ein Verwaltungsakt begünstigenden Charakter, wenn er ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt. Der Begriff des belastenden Verwaltungsaktes ist nicht im Gesetz definiert. 28 Als belastend werden nach verbreitetem Sprachgebrauch solche Verwaltungsakte bezeichnet, die nicht begünstigend sind, die also weder ein Recht noch einen rechtlich erheblichen Vorteil begründen oder bestätigen.29 Wann dagegen im Steuerrecht eine Änderung zugunsten oder zuungunsten des Steuerpflichtigen vorliegt, hängt davon ab, ob 25

Vgl. auch zu § 130 AO: Tipke/Kruse Vor § 130 Rz. 2. Vogel, Verh. des 46. DJT, Bd. I Teil 5 S. 80 fordert bereits eine Angleichung der Begriffe in beiden Korrektursystemen; zust. Schröcker NJW 1968, 2035 ff. 27 Erichsen, in: Erichsen § 16 Rz. 4; Wolff/BachoflStober § 51 Rz. 28; Ule/Laubinger § 61 Rz. 24 ff. 28 Vgl. hierzu Einzelbegr. zu § 38 Abs. 1 zum Musterentwurf (EVwVerfG 1963), S. 175. 29 Klappstein, in: Knack § 48 Rz. 6; Lange Jura 1980, 460; Stelkens JuS 1984, 930 (931); Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 49 Rz. 11; Ule/Laubinger § 61 Rz. 26; Kopp § 48 Rz. 42; Wendt JA 1980, 85 (86 f.); vgl. auch den Sprachgebrauch in der Begr. zum RegE BT-Drucks. 7/910 S. 68; a.A.: Knoke S. 55, Meyer, in: Meyer/Borgs § 48 Rz. 45, die wegen der Existenz „neutraler" Verwaltungsakte (z.B. Umbenennung einer Straße, Änderung von Hausnummern) die Bezeichnung „belastend" für verfehlt halten. 26

Α. Allgemeiner Vergleich

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sich die festgesetzte Steuer ermäßigt oder erhöht. Im Steuerrecht kommt es also darauf an, ob die Auswirkung der Korrektur günstig oder ungünstig ist, während das verwaltungsrechtliche Korrektursystem darauf abstellt, ob der Gegenstand der Korrektur günstig oder ungünstig ist. Es soll untersucht werden, ob dies im Ergebnis einen Unterschied macht.

1. Zu hohe Festsetzung eines vom Adressaten zu zahlenden Geldbetrages Hat das Finanzamt die Steuer aus einem gem. §§ 172 ff. AO beachtlichen Grunde zu hoch festgesetzt, richtet sich eine Korrektur des Steuerbescheides nach den Regeln über Änderungen zugunsten des Steuerpflichtigen. Die Änderung kann also etwa nur unter den Voraussetzungen von § 173 Abs. 1 Nr. 2, nicht aber nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO erfolgen. Würde man auf diesen Fall die Regeln des Verwaltungsverfahrensgesetzes anwenden, so wäre der Steuerbescheid als belastender Verwaltungsakt zu qualifizieren, da er weder ein Recht noch einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt. Der Steuerbescheid könnte also nach der für belastende Verwaltungsakte geltenden Regel des § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG teilweise, nämlich in Höhe des überschießenden Betrages, zurückgenommen werden. Bei dieser Fallkonstellation ist eine Änderung zugunsten des Steuerpflichtigen gleichbedeutend mit der Rücknahme eines belastenden Verwaltungsaktes.

2. Zu niedrige Festsetzung eines vom Adressaten zu zahlenden Geldbetrages Hat das Finanzamt die Steuer zu niedrig festgesetzt und will es den Betrag gem. §§ 172 ff. AO nachträglich erhöhen, so richtet sich die Korrektur des Steuerbescheides nach den Regeln über Änderungen zuungunsten des Steuerpflichtigen. Es kommt also etwa eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO in Betracht, nicht aber nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO. Würde man einen derartigen Steuerbescheid nach den Regeln des Verwaltungsverfahrensgesetzes korrigieren, so müßte die Behörde den ursprünglichen Bescheid vollständig zurücknehmen und anschließend in einem Ersetzungsbescheid den höheren Geldbetrag festsetzen. Die Gründe für diese Zweistufigkeit wurden zuvor dargelegt.30 Fraglich ist, ob sich diese Korrektur nach den Regeln über die Rücknahme begünstigender oder belastender Verwaltungsakte richtet.

30

S.o. Seite 57 unter b).

62

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

a) Bewertung als Rücknahme eines belastenden Verwaltungsaktes Nach dem Wortlaut von § 48 Abs. 1 S. 2 VwVfG handelt es sich bei dem zurückzunehmenden Erstbescheid um einen belastenden Verwaltungsakt, denn die Festsetzung eines an die Behörde zu zahlenden Geldbetrages begründet kein Recht, sondern eine Pflicht des Adressaten.31 Bei dieser Betrachtungsweise müßte man nicht nur bei der Verringerung der Steuer, also bei einer Änderung zugunsten, sondern auch bei ihrer Erhöhung, das heißt bei einer Änderung zuungunsten des Steuerpflichtigen, § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG als Regel über die Rücknahme belastender Verwaltungsakte anwenden. Die steuerrechtlichen Änderungstatbestände zuungunsten des Steuerpflichtigen entsprächen also nicht den verwaltungsrechtlichen Regeln über die Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte.

b) Bewertung als Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsaktes Es spricht jedoch vieles dafür, die Rücknahme eines belastenden Verwaltungsaktes zum Zwecke der Ersetzung durch einen noch stärker belastenden Bescheid so zu behandeln, als ginge es um die Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsaktes. Wenn es Zweck der Rücknahme ist, die ursprüngliche Festsetzung zu erhöhen, so kann man in dem Erstbescheid den Vorteil erblikken, nicht noch mehr zahlen zu müssen. Insofern besteht ein Interesse des Adressaten am Fortbestand der ursprünglichen Festsetzung. In der verwaltungsrechtlichen Literatur wird daher mit Recht überwiegend gefordert, das Vertrauen des Bürgers in den Bestand der behördlichen Entscheidung auch in derartigen Fällen so zu schützen wie bei der Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte.32 Die Legaldefinition des § 48 Abs. 1 S. 2 VwVfG ist insoweit als zu eng anzusehen. Der Grund hierfür ist, daß die Instrumente „Rücknahme

31

BVerwGE 30, 132 (133 f.) = NJW 1968, 2075 f.; insoweit zust. Schröder JuS 1970, 615 ff.; ferner Schröcker NJW 1968, 2035 (2037); BVerwGE 67, 129 (133 f.) = NVwZ 1983, 612 (613); krit. Stelkens JuS 1984, 930 ff.; BVerwG NVwZ 1988, 938 (940); HessVGH NJW 1981, 596 (597); Meyer., in: Meyer/Borgs § 48 Rz. 38; Zimmermann, Der Gemeindehaushalt 1977, 127 (131 f.) nimmt Widerruf eines belastenden Verwaltungsaktes an; zu § 130 Abs. 1 AO: VG Köln KStZ 1979, 36; Bauernfeind/Zimmermann S. 449.

Α. Allgemeiner Vergleich

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und Widerruf 4 in erster Linie anhand des Gewerbe- und Polizeirechts sowie des öffentlichen Sachenrechts entwickelt wurden.33 In diesen Rechtsgebieten werden am häufigsten Erlaubnisse, Versagungen oder Gebotsverfügungen erlassen. Derartige Verwaltungsakte werden typischerweise kassatorisch, das heißt durch Aufhebung oder Einschränkung korrigiert. 34 Für die Erhöhung eines Geldbetrages ist die Systematik der §§ 48, 49 VwVfG dagegen nicht ausgelegt.35 Der hierfür erforderliche Umweg über Rücknahme und Ersetzungsbescheid zielt auf eine im Verwaltungsrecht nicht vorgesehene Ausweitung der ursprünglichen Regelung.36 Die Differenzierung danach, ob der zu korrigierende Verwaltungsakt begünstigend oder belastend ist, erweist sich aber nur dann als tauglich, wenn die Behörde kassatorisch korrigiert. 37 Wenn das Ergebnis der Korrektur dagegen wie eine Ausweitung des ursprünglichen Bescheides wirkt, kann es für den Vertrauensschutz dahinstehen, ob der ursprüngliche Verwaltungsakt begünstigend oder belastend ist. Maßgebend ist dann allein, ob sich die Ausweitung begünstigend oder belastend auswirkt.38 Wirkt sie sich belastend aus, so muß das Vertrauen des Adressaten in den Bestand des ursprünglichen Bescheides berücksichtigt werden. Dies geschieht am besten in der Weise, daß man den Begriff des begünstigenden Verwaltungsaktes in § 48 Abs. 1 S. 2 VwVfG in einem erweiterten Sinne versteht.39 Neben den Fällen, in denen schon nach der Legaldefinition des § 48 Abs. 1

32

BVerwG NVwZ 1988, 938 (940); Lange Jura 1980, 456 (461); ders. WiVerw 1979, 15 (18 f.); Krause NJW 1979, 1007 (1013); Woljf/Bachof 9. Aufl. 1974, S. 453; mit anderer Begründung dann Wolff/BachoflStober 10. Aufl. 1994, § 51 Rz. 29; wohl auch Merten, NJW 1983, 1993 (1997); Maurer § 11 Rz. 15; Achterberg § 21 Rz. 89; Kopp § 48 Rz. 48; Ule/Laubinger § 61 Rz. 28; jedenfalls für gebundene Verwaltungsakte auch: Knoke S. 59 f.; Erichsen, in: Erichsen § 16 Rz. 6; ders. Jura 1981, 534 (538 f.); zu § 130 AO: EinfErl. des BdF zur AO 1977, BStBl. I 1976, 576 (599), zu § 130 Anm. Nr. 4; Birk § 14 Rz. 13; Spanner, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler § 130 Rz. 17 bis 22c; Klein/Orlopp § 130 Anm. 5; Förster, in: Koch/Scholtz, § 130 Rz. 17; Tipke/Kruse § 130 Rz. 3 und Vor § 130 Rz. 4. 33 Vogel, Verh. des 46. DJT Bd. I Teil 5 S. 81; Tipke JZ 1976, 703 (705). 34 Maurer § 11 Rz. 15. 35 Schröder JuS 1970, 615 (618). 36 Tipke/Kruse Vor § 130 Rz. 2. 37 Schröder JuS 1970, 615 (618). 38 Maurer § 11 Rz. 15.

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4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

S. 2 VwVfG ein begünstigender Verwaltungsakt vorliegt, muß man dies auch dann annehmen, wenn der zurückzunehmende Verwaltungsakt im Vergleich zu einem etwaigen Ersetzungsbescheid „relativ günstig" ist. Dieses Verständnis harmoniert auch mit dem Steuerrecht. Die Regeln der Abgabenordnung differenzieren mit ihren Merkmalen „Änderung zugunsten" und „Änderung zuungunsten" ebenfalls nach der Auswirkung einer Korrektur. Diese Betrachtungsweise ist nur deshalb problematisch, weil sie mit dem Wortlaut der Legaldefinition in § 48 Abs. 1 S. 2 VwVfG nicht mehr vereinbar ist 40 und somit auch nicht mehr durch Auslegung des Tatbestandsmerkmals „begünstigender Verwaltungsakt" gedeckt werden kann. Es können aber die Regeln über begünstigende Verwaltungsakte über die Wortlautgrenze des § 48 Abs. 1 S. 2 VwVfG hinaus analog angewendet werden, wenn es um die Rücknahme eines belastenden Verwaltungsaktes zum Zwecke der Ersetzung durch einen noch stärker belastenden Bescheid geht. Die gesetzliche Regelung des § 48 VwVfG ist lückenhaft, denn sie berücksichtigt nicht die Möglichkeit der Ausweitung eines Bescheides. Diese Lücke ist auch planwidrig, denn es besteht die Notwendigkeit, Verwaltungsakte in ihrem Regelungsgehalt nachträglich auszuweiten. Analogien im öffentlichen Recht können als Verstoß gegen den Gesetzesvorbehalt unzulässig sein, wenn sie zur Rechtfertigung eines belastenden staatlichen Eingriffes in Freiheitsrechte des Bürgers dienen sollen.41 Es würde sich aber zugunsten des Bürgers auswirken, wenn bei der Ersetzung eines belastenden Verwaltungsaktes durch einen noch stärker belastenden Bescheid die Regeln über den Vertrauensschutz aus den §§48 Abs. 2 bis 4 VwVfG berücksichtigt werden. Eine Analogie wäre also zulässig. Die Rücknahme eines belastenden Bescheides zum Zwecke der Ersetzung durch einen noch stärker belastenden Bescheid muß im Verwaltungsrecht nach den Regeln der §§48 Abs. 2 bis 4 VwVfG erfolgen.

39

Ebenso Hengstschläger, Die Verwaltung Bd. 12 (1979), 337 (350 f.); Krause NJW 1979, 1007 (1013); WolfflBachof noch bis zur 9. Aufl. S. 453 (ab 10. Aufl. mit anderer Begründung WolfflBachofl Stober § 51 Rz. 29); wohl auch Merten, NJW 1983, 1993 (1997); Maurer § 11 Rz. 15; Achterberg § 21 Rz. 89; vgl. auch Dokumentation zum 7. Dt. Verwaltungsrichtertag, 1983 S. 101; zu § 130 AO: Spanner, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler § 130 Rz. 17 bis 22c; Förster, in: Koch/Scholtz § 130 Rz. 17; Tipke/Kruse § 130 Rz. 3 und Vor § 130 Rz. 4. 40 A.A.: Tipke/Kruse § 130 Rz. 3 und Vor § 130 Rz. 4. 41 Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 44 Rz. 26.

Α. Allgemeiner Vergleich

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3. Zu hohe oder zu niedrige Festsetzung eines an den Adressaten zu zahlenden Geldbetrages Die steuerrechtlichen Korrekturvorschriften der §§ 172 ff. AO dienen nicht nur zur Berichtigung von Bescheiden, in denen ein vom Steuerpflichtigen zu zahlender Geldbetrag festgesetzt wird. Denkbar sind auch Korrekturen solcher Bescheide, die einen an den Steuerpflichtigen zu zahlenden Betrag festsetzen. Hierzu gehören etwa Steuervergütungsbescheide (z.B. gem. § 36b EStG oder § 15 UStG), deren Änderung sich gem. § 155 Abs. 6 AO ebenfalls nach den §§ 172 ff. AO richtet.42 Hat das Finanzamt eine Steuervergütung in falscher Höhe festgesetzt, so gelten die oben angestellten Vergleiche zwischen Abgabenordnung und Verwaltungsverfahrensgesetz entsprechend. Die Korrektur einer zu hoch festgesetzten Steuervergütung ist eine Änderung zuungunsten des Steuerpflichtigen und wäre im Verwaltungsrecht als Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsaktes anzusehen. Das ergibt sich ohne weiteres aus dem Wortlaut der Legaldefinition des § 48 Abs. 1 S. 2 VwVfG. Die Korrektur einer zu niedrig festgesetzten Steuervergütung ist eine Änderung zugunsten des Steuerpflichtigen. Im Verwaltungsrecht wäre nach dem Wortlaut von § 48 Abs. 1 S. 2 VwVfG eine solche Korrektur eigentlich erneut als Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsaktes zu behandeln, da der ursprüngliche Vergütungsbescheid einen Anspruch auf Auszahlung eines bestimmten Geldbetrages bestätigt. Es ist aber sinnlos, den Adressaten mit den Mitteln des § 48 Abs. 2 bis 4 VwVfG davor zu schützen, vom Staat günstiger gestellt zu werden. Deshalb müssen diese Fälle im Verwaltungsrecht wie die Rücknahme eines belastenden Verwaltungsaktes behandelt werden.43 Wenn eine Begünstigung des Bürgers ausgeweitet wird, ist der ursprüngliche Bescheid „relativ belastend". Diese Lösung ist allerdings mit dem Wortlaut der Legaldefinition von § 48 Abs. 1 S. 2 VwVfG nicht vereinbar, denn eigentlich wäre der Vergütungsbescheid danach als begünstigend anzusehen. Es kommt hier keine analoge Anwendung, sondern eine teleologische Reduktion der für begünstigende Verwaltungsakte geltenden Regeln in Betracht. Diese ist aus den entsprechenden Gründen zulässig und geboten wie die analoge Anwendung des § 48 Abs. 1 S. 2 VwVfG in Fällen der Erhöhung eines vom Adressaten zu zahlenden Geldbetrages.44 42

Birk § 11 Rz. 92. BVerwGE 71, 220, (226) für eine zu niedrige Festsetzung aus dem Bereich des Sozialrechts; Hengstschläger, Die Verwaltung 12. Bd. (1979), 337 (349); Kopp § 48 Rz. 48; Maurer §11 Rz. 15; WolfflBachofl Stober §51 Rz. 29; zu §130 AO: Klein/Orlopp § 130 Anm. 5; Förster, in: Koch/Scholtz § 130 Rz. 18; Tipke/Kruse § 130 Rz. 3. 44 S.o. 2. b). 43

5 Arndt

66

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

4. Vergleichsergebnis

zu IL

Zusammenfassend läßt sich folgendes Vergleichsergebnis feststellen: Hat die Behörde einen vom Adressaten zu zahlenden Geldbetrag zu hoch festgesetzt, so sind bei einer Korrektur im Steuerrecht die Regeln über Änderungen zugunsten des Steuerpflichtigen und im Verwaltungsrecht die Regeln über die Rücknahme belastender Verwaltungsakte anzuwenden.45 Hat die Behörde den Geldbetrag dagegen zu niedrig festgesetzt, so werden im Steuerrecht die Regeln über Änderungen zuungunsten des Steuerpflichtigen angewendet, während im Verwaltungsrecht die Regeln über die Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte herangezogen werden müssen.46 Entsprechendes gilt umgekehrt für die Fälle, in denen der zu korrigierende Bescheid eine an den Adressaten zu zahlende Summe festsetzt. 47 Es kann also bei der weiteren Untersuchung, insbesondere beim späteren Vergleich einzelner Korrekturtatbestände, davon ausgegangen werden, daß eine Änderung zugunsten des Steuerpflichtigen mit der verwaltungsrechtlichen Rücknahme eines belastenden Verwaltungsaktes und eine Änderung zuungunsten des Steuerpflichtigen mit der verwaltungsrechtlichen Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsaktes gleichbedeutend ist.

5. Möglichkeiten zur Vereinheitlichung Es fragt sich, ob bezüglich der Differenzierung zwischen Änderungen zugunsten und zuungunsten des Steuerpflichtigen im Steuerrecht und zwischen Rücknahmen begünstigender und belastender Verwaltungsakte im Verwaltungsrecht eine Vereinheitlichung zu empfehlen ist. Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, daß die verwaltungsrechtliche Differenzierung zwischen begünstigendem und belastendem Charakter des aufzuhebenden Verwaltungsaktes für die Korrektur von Abgabenbescheiden wenig geeignet ist. Es kann deshalb nicht empfohlen werden, die §§ 172 ff. AO insoweit an das allgemeine Verwaltungsrecht anzupassen.

45 46 47

S.o.Seite 61 unter 1. S.o.Seite 62 unter b). S.o.Seite 65 unter 3.

Α. Allgemeiner Vergleich

67

Fraglich ist aber, ob das allgemeine Verwaltungsrecht, das ebenfalls die Korrektur von Abgabenbescheiden bewältigen muß, insoweit an das Steuerrecht angepaßt werden könnte. Das würde voraussetzen, daß die steuerrechtliche Differenzierung zwischen Korrekturen zugunsten und zuungunsten des Adressaten nicht zur Bewältigung von Geldbescheiden, sondern auch bei der Korrektur sonstiger Verwaltungsakte geeignet wäre. Insoweit ergeben sich aber keine Bedenken. Will die Verwaltungsbehörde etwa eine Genehmigung zurücknehmen oder widerrufen, so würde es sich um eine Korrektur zuungunsten des Adressaten handeln, denn die Auswirkung dieser Korrektur besteht in einer Verringerung seiner Rechte. Rücknahme oder Widerruf eines Ver- oder Gebotes wären dagegen als Korrektur zugunsten des Adressaten einzuordnen, denn sie bewirken eine Ausweitung seiner Rechte. Bei der Vielzahl verschiedenartiger Verwaltungsakte im allgemeinen Verwaltungsrecht sind aber auch Fälle denkbar, in denen die Einordnung in Korrekturen zugunsten oder zuungunsten des Adressaten schwerer fallt. Hierzu gehören etwa bestimmte Organisationsakte, wie die Umbenennung einer Straße oder die Änderung von Hausnummern durch die Gemeinde.48 Derartige, in ihren Auswirkungen neutrale Korrekturen sollten ebenfalls ohne Berücksichtigung eines Vertrauensschutzes möglich sein, denn Zweck des Vertrauensschutzes kann es nur sein, den Bürger vor einer Verschlechterung seiner Rechtsposition zu schützen. Wollte man die steuerrechtliche Differenzierung nach Korrekturen zugunsten oder zuungunsten des Adressaten ins Verwaltungsrecht übernehmen, sollte man sie deshalb modifizieren, um eine eindeutige Einordnung neutraler Korrekturen zu ermöglichen. Hierzu müßte zwischen belastenden und nicht belastenden Korrekturen unterschieden werden. Die Umbenennung einer Straße wäre dann als nicht belastende Korrektur anzusehen. Dieselbe Unterscheidung könnte auch im Steuerrecht für die §§ 172 ff. AO gelten, denn mit ihr würde man zu denselben Ergebnissen gelangen wie bisher. Eine Änderung zugunsten wäre als nicht belastende Änderung und eine Änderung zuungunsten als belastende Änderung einzustufen. Es kann also festgehalten werden, daß insoweit eine Vereinheitlichung von Steuerrecht und allgemeinem Verwaltungsrecht möglich und zweckmäßig erscheint.

48

Vgl. VGH München NVwZ 1983, 352; VGH Mannheim NJW 1979, 1670 (1671X Ehlers, DVB1. 1970,492 (494 f.).

68

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

HL Vergleich bezüglich der Bedeutung von Rechtmäßigkeit und Rechtswidrigkeit des zu korrigierenden Verwaltungsaktes Ein Verwaltungsakt ist rechtmäßig, wenn er alle von der Rechtsordnung an ihn gestellten Anforderungen erfüllt. 49 Umgekehrt ist er rechtswidrig, wenn er nicht allen Anforderungen der objektiven Rechtsordnung genügt.50 Dies gilt sowohl im Verwaltungs- als auch im Steuerrecht. Im Verwaltungsrecht ist die Korrektur sowohl rechtswidriger als auch rechtmäßiger Verwaltungsakte möglich. An diese Differenzierung ist die üblich gewordene Unterscheidung geknüpft, nach der die Aufhebung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes als Rücknahme und die eines rechtmäßigen Verwaltungsaktes als Widerruf bezeichnet wird. 51 Fraglich ist, ob auch die steuerrechtlichen Änderungsregeln eine derartige Unterscheidung kennen und welche Bedeutung dieser Differenzierung in beiden Rechtsgebieten zukommt (1). Außerdem stellt sich die Frage, ob die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes bei Korrekturen im Verwaltungsrecht und im Steuerrecht im selben Zeitpunkt bestimmt wird (2).

1. Bedeutung von Rechtmäßigkeit und Rechtswidrigkeit Verwaltungsaktes im allgemeinen Verwaltungsrecht

des zu korrigierenden und im Steuerrecht

Im Verwaltungsrecht ist der Widerruf eines rechtmäßigen Verwaltungsaktes gem. § 49 VwVfG größeren Beschränkungen unterworfen als die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes gem. § 48 VwVfG, denn das öffentliche Interesse an der Beseitigung rechtmäßig ergangener Entscheidungen ist regelmäßig nur gering. 52 So sind die Voraussetzungen für einen Widerruf insgesamt enger gefaßt als bei einer Rücknahme. Außerdem kann ein Widerruf gem. § 49 VwVfG in den Fällen des Abs. 1 und 2 nicht für die Vergangenheit, sondern nur für die Zukunft erfolgen, während die Rücknahme grundsätzlich auch ex tunc möglich ist (§ 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG). Die Unter49

Vgl. Begr. zu § 44 VwVfG des RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 68; Achterberg § 21 Rz. 178; Kopp § 48 Rz. 23; zu § 130 AO: Klein/Orlopp § 130 Anm. 2; Spanner, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler § 130 Rz. 3; EinfErl. des BdF zur AO 1977 BStBl. I 1976, 576 (598), zu § 130 Anm. Nr. 1; vgl. auch AEAO zu § 130 Nr. 1 AO, BStBl. I 1987, 691. 50 Eingehend Kopp § 48 Rz. 23 ff. 51 Grundlegend Haueisen NJW 1954, 1425 ff; ders. NJW 1958, 642; ders. DVB1. 1957, 506; ausdrücklich an diese Terminologie anknüpfend Begr. zu §§ 44, 45 VwVfG des RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 67. 52 WolfflBachofl Stober § 51 Rz. 5.

Α. Allgemeiner Vergleich

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Scheidung zwischen Rechtmäßigkeit und Rechtswidrigkeit des zu korrigierenden Verwaltungsaktes ist im Verwaltungsrecht also für die Voraussetzungen und die zeitliche Wirkung einer Korrektur bedeutsam. Im Korrektursystem der §§ 172 ff. AO hat die Unterscheidung zwischen Rechtmäßigkeit und Rechtswidrigkeit des Steuerbescheides eine noch größere Bedeutung. Der Steuerbescheid muß rechtswidrig sein, damit überhaupt eine Korrektur stattfinden kann. Rechtmäßige Steuerbescheide können nach den §§ 172 ff. AO dagegen nicht korrigiert werden.53 Dies ergibt sich zwar nicht unmittelbar aus dem Wortlaut dieser Vorschriften, denn das Merkmal „Rechtswidrigkeit des Steuerbescheides" wird an keiner Stelle ausdrücklich als Voraussetzung für eine Korrektur genannt.54 Die meisten Korrekturgründe der §§ 172 ff. AO sind jedoch so angelegt, daß ihr Vorliegen automatisch die Rechtswidrigkeit des Steuerbescheides mit sich bringt. Werden etwa gem. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO nachträglich Tatsachen bekannt, die zu einer höheren Steuer führen, so ist der ursprüngliche Steuerbescheid zwangsläufig zu niedrig und damit rechtswidrig. Die Abgabenordnung kennt aber auch Korrekturgründe, die die Rechtswidrigkeit des Steuerbescheides nicht indizieren. Ein Antrag des Steuerpflichtigen auf schlichte Änderung des Steuerbescheides nach § 172 Abs. 1 Nr. 2 a) AO bedeutet noch nicht, daß der Steuerbescheid auch wirklich fehlerhaft ist. In derartigen Fällen ergibt es sich aus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung (§ 85 AO), 55 daß der Steuerbescheid nur geändert werden darf, wenn er rechtswidrig ist. Die Finanzbehörde hat bei der Festsetzung der Steuer keinen Ermessensspielraum, ob und in welcher Höhe sie Steuern erhebt.56 Die Änderung eines rechtmäßigen Steuerbescheides würde deshalb zwangsläufig zu einem gesetzwidrigen Ergebnis führen. 57 Der Korrektur liegt auch dann ein rechtswidriger Steuerbescheid zugrunde, wenn die Finanzbehörde den Bescheid zunächst rechtmäßig festgesetzt hat und eine Korrektur erst deshalb erforderlich wird, weil der Steuerpflichtige 53

Becker/Riewald!Koch § 94 Anm. 3a; Tipke/Kruse Vor § 172 Rz. 7; Szymczak, in: Koch/Scholtz § 172 Rz. 2; v. Wedelstädt, in: Beermann Vor §§ 172 ff. Übersicht „Korrektur von Verwaltungsakten" in Rz. 13 sowie Rz. 22. 54 Vgl. Tipke/Kruse § 172 Rz. 1; vgl. Szymczak, in: Koch/Scholtz § 172 Rz. 2; Bekker/Riewald/Koch § 94 Anm. 3a (1). 55 Allgemein hierzu Tipke/Kruse § 85 Rz. 3 f.; Hübschmann/ Ηepp/Spitaler § 85 Rz. 7 ff. 56 Tipke/Kruse § 3 Rz. 28. 57 v. Wedelstädt, in: Beermann Vor §§ 172 ff. Rz. 22; ohne nähere Begr. bei § 172 AO Tipke/Kruse § 172 Rz. 1: Rechtswidrigkeit ist ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal.

70

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

bestimmte Wahlrechte oder Gestaltungsmöglichkeiten nachträglich anders ausübt.58 So ist es etwa, wenn der Steuerpflichtige, eine zunächst linear abgeschriebene Maschine nach einem Teil der Laufzeit doch degressiv abzuschreiben beabsichtigt und er die Bilanzen der zurückliegenden Zeiträume entsprechend ändert. Die für diese Zeiträume bereits ergangenen Steuerbescheide waren zwar zunächst rechtmäßig. Sie sind aber durch die andere Ausübung des Wahlrechtes nachträglich mit Wirkung ex tunc rechtswidrig geworden.59

2. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines zu korrigierenden Verwaltungsaktes a) Maßgeblicher Zeitpunkt im Verwaltungsrecht Bei Korrekturen im Verwaltungsrecht kann es darauf ankommen, ob man für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes den Zeitpunkt seines Erlasses oder den Zeitpunkt seiner Korrektur zugrunde legt. Das gilt besonders für sogenannte Verwaltungsakte mit Dauerwirkung, 60 d.h. für Verwaltungsakte, die sich nicht in einem einmaligen Geoder Verbot oder in einer einmaligen Gestaltung der Rechtslage erschöpfen, sondern die ein auf Dauer berechnetes oder in seinem Bestand vom Verwaltungsakt abhängiges Rechtsverhältnis begründen.61 Hierzu gehören zum Beispiel Gewerbeerlaubnisse und -untersagungen,62 Fahrtenbuchauflagen, 63 Ratenrückzahlungsbescheide64 oder Verkehrszeichen.65 Die Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen für einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung müssen während seiner gesamten Geltungsdauer vorliegen.66 Sobald etwa aufgrund veränderter Sachumstände nachträglich einzelne seiner Voraussetzungen entfallen, wird er ex nunc rechtswidrig. 67 Nach anderer Ansicht bleibt der Verwaltungsakt zwar 58

Vgl. Tipke/Kruse § 175 Rz. 16. Siehe auch unten 2. b). 60 Zum Begriff BVerwGE 28, 202 (205 f.); 59, 148 (160 f.); Frohn Jura 1993, 393 (397); vgl. auch §§ 45 Abs. 3 und 48 Abs. 1 SGB X. 61 Begr. zu § 43 Abs. 3 SGB X des RegE, BT-Drucks. 8/2034 S. 34. 62 BVerwG NVwZ 1991, 372. 63 BVerwG NJW 1979, 1054 f. 64 BVerwG DVB1. 1993,781. 65 BVerwG DÖV 1980, 308. 66 Frohn Jura 1993, 393 (393). 67 Frohn Jura 1993, 393 (393); WolfflBachofl Stober § 46 Rz. 19 f.; zu § 118 AO: Tipke/Kruse § 118Rz. 21. 59

Α. Allgemeiner Vergleich

71

rechtmäßig, jedoch sei seine Aufrechterhaltung für die Zukunft rechtswidrig. 68 Diese Unterscheidung hat aber nur theoretische Bedeutung.69 Erweist sich zum Beispiel der Inhaber einer ursprünglich gem. § 2 GaststättenG rechtmäßig erteilten Gaststättenerlaubnis nach gewisser Zeit nicht mehr als zuverlässig, so entfallt die Genehmigungsvoraussetzung nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 GaststättenG. Die Gaststättenerlaubnis bzw. ihre Aufrechterhaltung ist von diesem Zeitpunkt an mit Wirkung für die Zukunft rechtswidrig. Fraglich ist, ob die Korrektur eines solchen Verwaltungsaktes nach Rücknahme- oder Widerrufsregeln zu erfolgen hat. Beurteilt man die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes im Zeitpunkt seiner Korrektur, so kommt eine Rücknahme unter den Voraussetzungen von § 48 VwVfG in Betracht, denn der Verwaltungsakt bzw. seine Aufrechterhaltung könnte als nachträglich mit Wirkung ex nunc rechtswidrig geworden beurteilt werden. Diese vereinzelt vertretene Auffassung 70 ist jedoch abzulehnen. Maßgebend für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes ist allein der Zeitpunkt seines Erlasses und nicht der Zeitpunkt seiner Korrektur. 71 Ein ex nunc rechtswidrig gewordener Verwaltungsakt kann also nicht zurückgenommen, sondern nur widerrufen werden. Dieses Verständnis entspricht der ursprünglichen Betrachtungsweise von Haueisen,72 der die Begriffe „Rücknahme" und „Widerruf' maßgebend geprägt und dessen Terminologie sich der Gesetzgeber ausdrücklich angeschlossen hat.73 Außerdem sprechen hierfür die Widerrufsgründe des § 49 Abs. 2 Nr. 3 und 4 VwVfG. Diese Vorschriften ermächtigen zum Widerruf eines rechtmäßigen begünstigenden Verwaltungsaktes, wenn die Behörde aufgrund einer Änderung der Sach- oder Rechtslage berechtigt wäre, den Verwaltungsakt nicht zu erlassen. Geht man davon aus, daß es gerade Änderungen der Sach- oder Rechtslage sind, die einen Verwaltungsakt nachträglich rechtswidrig machen, und wollte man nachträglich rechtswidrig gewordene Verwaltungsakte nur nach § 48 VwVfG korrigieren,

68

Erichsen, in: Erichsen § 15 Rz. 2. Schenke/Baumeister JuS 1991, 547 (548). 70 BayVGH NVwZ 1989, 378 f. 71 BVerwGE 31, 222 (223); 45, 235 (243); Erichsen, in: Erichsen § 17 Rz. 5; Klappstein, in: Knack Vor § 43 Rz. 5.2.4; Knoke S. 27 f.; Kopp § 48 Rz. 23a; ders. BayVBl. 1989, 652 ff.; ders. BayVBl. 1990, 524 f.; Maurer § 11 Rz. 11; Pieroth NVwZ 1984, 681 (683); Richter JuS 1990, 719 (720); Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 36; WolfflBachofl Stober § 51 Rz. 21; zu § 131 AO: Tipke/Kruse § 131 Rz. 2. 72 Haueisen NJW 1955, 1457 (1460); anders aber ders. NJW 1956, 201 (202) dort Fußn. 4 und DVB1. 1957, 506. 73 Begr. zu §§ 44,45 VwVfG des RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 67. 69

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4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

dann verbliebe für § 49 Abs. 2 Nr. 3 und 4 VwVfG kaum noch Raum.74 Ein Widerruf nach diesen Vorschriften könnte dann nur noch in Fällen erfolgen, in denen der Verwaltungsakt auch nach Änderung der Sach- oder Rechtslage noch rechtmäßig ist, der Behörde aber im Rahmen ihrer Ermessensausübung nunmehr auch eine Versagung des Verwaltungsaktes erlaubt wäre.75 Diese Fälle wären aber derart ungewöhnlich, daß sie kaum vom Gesetzgeber als Anwendungsbereich von § 49 Abs. 2 Nr. 3 und 4 VwVfG gemeint gewesen sein können.76 Auch die Systematik in spezialgesetzlichen Widerrufstatbeständen bestätigt, daß die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes im Zeitpunkt seines Erlasses beurteilt werden muß. § 33d Abs. 4 S. 2 GewO sowie § 15 Abs. 2 GaststättenG erlauben gerade nicht die Rücknahme, sondern den Widerruf solcher Verwaltungsakte, die ursprünglich rechtmäßig ergangen, später aber ex nunc rechtswidrig geworden sind.77 Die Anwendbarkeit der Widerrufsoder der Rücknahmeregeln hängt also davon ab, ob der zu korrigierende Verwaltungsakt im Zeitpunkt seines Erlasses rechtmäßig oder rechtswidrig war. Es wäre aber noch zu ungenau, bliebe man bei der Erkenntnis stehen, für die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes sei der Zeitpunkt seines Erlasses maßgebend. Es kann nämlich sein, daß die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes im Erlaßzeitpunkt von einem späteren Zeitpunkt aus rückblickend betrachtet anders zu beurteilen ist, als es ursprünglich der Fall war. Das kann vorkommen, wenn nachträglich Ereignisse eintreten, die so in die Vergangenheit wirken, daß ein früherer Verwaltungsakt rückwirkend von Anfang an rechtswidrig wird. So kann es etwa bei einem zunächst rechtmäßig ergangenen Beihilfebescheid sein, wenn dem Beamten später rückwirkend eine Rente bewilligt wird. 78 In diesem Fall ist der Beihilfebescheid vom Erlaßzeitpunkt aus betrachtet anfanglich rechtmäßig. Nach Erteilung des rückwirkenden Rentenbescheides ist der Beihilfebescheid rückblickend im Erlaßzeitpunkt

74

Vgl. Begr. zu § 45 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG des RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 73; Erichsen, in: Erichsen § 17 Rz. 5. 75 Erichsen, in: Erichsen § 17 Rz. 5. 76 Α. Α.: Lange Jura 1980,456 (459), ders. WiVerw 1979, 15 (16). 77 Vgl. Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Mittelstandsfragen zu § 15 GaststättenG des RegE (BT-Drucks. 5/205), BT-Drucks. 5/1652 S. 6; Seitter § 15 Rz. 1 \Metzner% 15 Rz. 1. 78 BVerwGE 84, 111.

Α. Allgemeiner Vergleich

73

rechtswidrig. 79 In diesen Fällen kommt es darauf an, ob der zu korrigierende Verwaltungsakt vom Zeitpunkt des Korrekturaktes aus betrachtet als von Anfang an rechtswidrig anzusehen ist oder nicht. Wirkt die Änderung der Sachoder Rechtslage derart in die Vergangenheit wie bei einer rückwirkenden Rentenbewilligung, so ist der Beihilfebescheid als ex tunc rechtswidrig geworden anzusehen. Der Verwaltungsakt ist dann - ex post betrachtet - im Erlaßzeitpunkt rechtswidrig. Derartige Verwaltungsakte sind im Wege der Rücknahme und nicht mittels Widerrufs zu korrigieren. 80 Anderenfalls würde man in der Rechtsordnung vorkommende Rückwirkungsfiktionen ignorieren. Das wird auch in folgendem Beispiel deutlich: Κ erwirbt ein Grundstück von V und vermietet es an M. Weil M nicht erreichbar ist, wird Κ von der Ordnungsbehörde zur Beseitigung einer vom Grundstück ausgehenden Gefahr herangezogen. Die Heranziehung ist gem. §§ 174, 176 i.V.m. § 219 Abs. 1 LVwG-SH rechtmäßig, weil Κ als Eigentümer Zustandsstörer ist. Noch vor Beseitigung der Gefahr ficht V die Auflassung gem. § 142 Abs. 1 BGB wirksam an. Die Auflassung ist nach der Fiktion des § 142 Abs. 1 BGB als von Anfang an nichtig anzusehen. Damit ist Κ rückblickend nie Störer gewesen - auch nicht im Zeitpunkt des Erlasses der Ordnungsverfügung. Die Ordnungsverfügung ist wegen der Rückwirkungsfiktion des § 142 Abs. 1 BGB als im Erlaßzeitpunkt rechtswidrig anzusehen. Als Ergebnis kann festgehalten werden, daß für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes stets der Erlaßzeitpunkt maßgebend ist. Der Erlaßzeitpunkt muß aber vom Korrekturzeitpunkt aus gesehen ex post betrachtet werden. Wird ein Verwaltungsakt nachträglich ex nunc rechtswidrig, so ist er rückblickend im Erlaßzeitpunkt rechtmäßig gewesen, so daß bei seiner Korrektur die Widerrufsregeln anwendbar sind. Wird ein Verwaltungsakt nachträglich ex tunc rechtswidrig, so ist er rückblickend im Erlaßzeitpunkt rechtswidrig gewesen, so daß bei seiner Korrektur die Rücknahmeregeln gelten. 79

BVerwGE 84, 111 (113 f.); Lange WiVerw 1979, 15 (16); ders. Jura 1980, 456 (459); Schenke DVB1. 1989, 433, (434 ff.); ders. BayVBl. 1990, 107 (107 ff); Schenke/Baumeister JuS 1991, 547 (547 ff); Kleinlein VerwArch 1990, 149 (149 ff); bedingt zust. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 36; vgl. auch für Steuerbescheide bei rückwirkenden Ereignissen v. Wedelstädt, in: Beermann § 175 Rz. 41; Frotscher, in: Schwarz § 175 Rz. 13; Kühn/Hofmann § 175 Anm. 3; a.A.: Kopp §48 Rz. 24.; Klappstein, in: Knack § 48 Rz. 2.1 und Vor § 43 Rz. 5.2.4.2.; Erichsen, in: Erichsen § 15 Rz. 2. 80 BVerwGE 66, 65 (68); OVG Münster NVwZ-RR 1988, 1 (2); OVG Münster NVwZ 1988, 71, (72); Kleinlein VerwArch Bd. 81 (1990), 149 ff, siehe dort Ergebnis S. 192 Ziff. 6; Lange Jura 1980, 456 (459 f.); ders. WiVerw 1979, 15 (16); Schenke DVB1. 1989, 433 ff ; ders. BayVBl. 1990, 107 ff.

74

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

b) Maßgeblicher Zeitpunkt im Steuerrecht Bei einer steuerrechtlichen Korrektur nach den §§ 172 ff. AO kommt es dagegen nicht darauf an, welchen Zeitpunkt man für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit zugrunde legt, denn Steuerbescheide sind im Zeitpunkt ihres Erlasses und im Zeitpunkt ihrer Korrektur stets gleichermaßen rechtmäßig oder rechtswidrig. Das liegt daran, daß es sich nicht um Verwaltungsakte mit Dauerwirkung handelt81, ihre Voraussetzungen also nicht dauerhaft vorliegen müssen.82 Dem Einkommensteuerbescheid etwa liegen die Verhältnisse in einem bestimmten Veranlagungszeitraum zugrunde (§ 2 Abs. 7 S. 2 und § 25 Abs. 1 EStG). Hier ist nur maßgebend, daß die Tatsachen während dieses Zeitraumes im Bescheid berücksichtigt wurden. Ändern sich nach Erlaß des Einkommensteuerbescheides Tatsachen, die nicht mehr dem Veranlagungszeitraum zuzurechnen sind, hat dies keine Auswirkungen mehr auf dessen Rechtmäßigkeit. Ändern sich dagegen Tatsachen, die noch rückwirkend Auswirkung auf einen Teil des Veranlagungszeitraumes haben, so wird der Bescheid zwar nachträglich rechtswidrig, jedoch wirkt dies auf den Zeitpunkt seines Erlasses zurück. Die nachträgliche Rechtswidrigkeit tritt also, anders als bei Verwaltungsakten mit Dauerwirkung, ex tunc ein. Rückblickend vom Korrekturzeitpunkt aus gesehen ist der Steuerbescheid dann von Anfang an rechtswidrig. So ist es auch, wenn der Steuerpflichtige zu einem degressiven Abschreibungsmodus wechselt, nachdem er für zurückliegende Zeiträume schon begonnen hatte, linear abzuschreiben. Ändert er daraufhin die Bilanzen der Zeiträume, für die die Steuer schon festgesetzt worden ist, so sind die für diese Zeiträume zunächst rechtmäßig ergangenen Steuerbescheide rückblickend als von Anfang an rechtswidrig zu beurteilen.83 Entsprechendes gilt für die Steuerbescheide aller laufend veranlagten Steuern, wie der Körperschaft-, Umsatz-, Grund- oder Gewerbesteuer. Steuerbescheide zur Festsetzung nicht laufend veranlagter Steuern, wie der Erbschaftoder Grunderwerbsteuer, knüpfen die Steuerpflicht an bestimmte abgeschlossene Rechtsvorgänge, zum Beispiel an den Erwerb von Todes wegen (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG) oder an den Abschluß eines Grundstückskaufvertrages (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG). Fallen diese Vorgänge nach Erlaß des Steuerbescheides weg, so etwa bei Anfechtung des Grundstückskaufvertrages nach

81 Spanner, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler § 118 Rz. 34; vgl. auch Tipke/Kruse § 118 Rz. 21. 82 Frohn Jura 1993, 393 (393). 83 Hierzu schon oben unter 1.

Α. Allgemeiner Vergleich

75

§ 142 Abs. 1 BGB, wird der Steuerbescheid nachträglich ex tunc rechtswidrig.84 Eine Eigentümlichkeit weisen Bescheide über die gesonderte Feststellung des Einheitswertes nach dem Bewertungsgesetz gem. § 180 Abs. 1 Nr. 1 AO auf. Sie sind den Steuerbescheiden gem. § 181 Abs. 1 S. 1 AO gleichgestellt und fallen deshalb in den Anwendungsbereich der Korrekturregeln der §§ 172 ff. AO. Ihre Funktion ist es, den Wert von Vermögen verbindlich festzustellen, um so eine Bemessungsgrundlage für spätere Steuerfestsetzungen zu schaffen. Dabei kann der für einen Vermögensgegenstand festgestellte Wert einheitlich für die spätere Berechnung mehrerer verschiedener Steuerarten gelten, wie etwa der Vermögen-, Grund-, Gewerbe-, Erbschaft- oder Grunderwerbsteuer. Die Feststellung des Einheitswertes ist deshalb ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, denn der Bescheid gilt nach seinem Wirksamwerden immer wieder von neuem als verbindliche Grundlage für die Berechnung von Steuern.85 Gleichwohl kann die Feststellung des Einheitswertes - anders als es für Verwaltungsakte mit Dauerwirkung typisch ist - nicht nachträglich ex nunc, sondern nur ex tunc rechtswidrig werden. Das liegt daran, daß der Bewertungsbescheid nach dem sog. Stichtagsprinzip86 aufgrund der Verhältnisse in einem bestimmten Zeitpunkt ergeht, dem Hauptfeststellungszeitpunkt gem. § 21 Abs. 2 S. 1. BewG.87 Entsprechendes gilt bei der Fortschreibung des Einheitswertes (§ 22 Abs. 4 S. 2 BewG) und bei dessen Nachfeststellung (§ 23 Abs. 2 S. 1 BewG). Ändern sich nach Erlaß des Bewertungsbescheides die tatsächlichen Verhältnisse, so wirkt sich dies nicht mehr auf den Bescheid aus, sondern wird erst bei der nächsten Bewertung oder bei der Fortschreibung des Einheitswertes berücksichtigt.88 Die ursprüngliche Feststellung bleibt in ihrer Rechtmäßigkeit unberührt. Zwar ergehen auch sonstige Verwaltungsakte mit Dauerwirkung, wie etwa die Gewerbeerlaubnis, aufgrund der Verhältnisse im Zeitpunkt ihres Erlasses. Die Gewerbeerlaubnis setzt aber voraus, daß diese Verhältnisse fortdauern und nicht später einzelne Genehmigungsvoraussetzungen entfallen. Der Bewertungsbescheid ist dagegen ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, der nicht in der Erwartung ergeht, die Vermögensverhältnisse würden nach Feststellung des Einheitswertes unverändert bleiben. Vielmehr soll er nur eine Momentaufnahme aus der Entwicklung von Wert, Art und

84

Für diesen Fall enthält § 16 GrEStG allerdings eine spezielle, den §§ 172 ff. AO vorgehende Änderungsvorschrift. 85 Rössler/Troll § 22 Rz. 44; BFH BStBl. Π 1988, 760 (761). 86 Rössler/Troll § 19 Rz. 17. 87 Rössler/Troll § 19 Rz. 16 und § 21 Rz. 21. 88 Vgl. Rössler/Troll § 19 Rz. 18 f.; dies. § 21 Rz. 22.

76

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

Zurechnung des Vermögens wiedergeben.89 Deshalb berühren nachträgliche Veränderungen der Vermögensverhältnisse nicht seine Rechtmäßigkeit. Ändern sich dagegen Umstände mit rückwirkender Bedeutung für den Feststellungszeitpunkt, so etwa bei einer veränderten Zurechnung des Grundstücks wegen Anfechtung der vor dem Feststellungszeitpunkt erfolgten Auflassung, so wird der Bewertungsbescheid ex tunc rechtswidrig. Eine nachträgliche Rechtswidrigkeit ex nunc ist also beim Bewertungsbescheid nicht denkbar. Entsprechendes gilt für den auf der Grundlage des Einheitsweites ergehenden Grundsteuermeßbescheid gem. § 16 GrdStG, denn auch dieser legt die jeweiligen Verhältnisse - hier den aktuellen Einheitswert des Grundstücks - in einem bestimmten Zeitpunkt zugrunde (vgl. §§ 16 Abs. 1, 17 Abs. 1, 18 Abs. 1 GrundStG). Der einheitliche Gewerbesteuermeßbescheid gem. § 14 GewStG ergeht dagegen aufgrund der Verhältnisse während eines Kalenderjahres (vgl. § 14 Abs. 2 GewStG). Für ihn gilt insoweit das gleiche wie für den Einkommensteuerbescheid. Soweit ersichtlich, existiert nur eine einzige Steuerart, bei der Steuerbescheide vorkommen, die ex nunc rechtswidrig werden können. Es handelt sich dabei um Kraftfahrzeugsteuerbescheide. Nach § 12 Abs. 1 S. 1 KraftStG kann die Kraftfahrzeugsteuer unbefristet festgesetzt werden. Es ergeht dann nicht für jeden Entrichtungszeitraum (§ 11 KraftStG) ein neuer Steuerbescheid. Grundlage für die Entrichtung der Steuer ist für jeden neuen Entrichtungszeitraum stets der ursprüngliche Kraftfahrzeugsteuerbescheid. Deshalb entfaltet der Kraftfahrzeugsteuerbescheid eine Dauerwirkung. Ändert sich nachträglich die Bemessungsgrundlage oder der Steuersatz, treten nachträglich Voraussetzungen für eine Steuerbefreiung ein oder fallen diese weg, so wird der ursprünglich rechtmäßig ergangene Kraftfahrzeugsteuerbescheid ex nunc rechtswidrig. Zwar stimmen die in der Vergangenheit auf seiner Grundlage entrichteten Steuerbeträge mit dem gesetzlichen Tatbestand überein, für die Zukunft ist das jedoch nicht mehr der Fall. Der Kraftfahrzeugsteuerbescheid ist also der einzige Steuerbescheid, der mit Wirkung ex nunc rechtswidrig werden kann. Dieser Umstand kann aber bei dem Vergleich zwischen den §§ 172 ff. AO und den §§ 48 ff. VwVfG außer Betracht bleiben. Das Kraftfahrzeugsteuergesetz enthält in § 12 Abs. 2 eine spezielle Korrekturregelung. Diese erfaßt genau die Fälle, in denen der Kraftfahrzeugsteuerbescheid mit Wirkung ex nunc rechtswidrig wird. Die §§ 172 ff AO sind insoweit nicht anwendbar. Es kann also festgehalten werden, daß die Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Steuerbescheiden, soweit sie vom Anwendungsbereich der §§ 172 ff. AO erfaßt werden, im Zeitpunkt ihres Erlasses und im Zeitpunkt einer späteren 89

Vgl. Rössler/Troll

§ 22 Rz. 55.

Α. Allgemeiner Vergleich

77

Korrektur stets identisch ist. Eine nachträgliche Rechtswidrigkeit wirkt sich bei ihnen nicht ex nunc, sondern nur ex tunc aus. Es kommt daher nicht darauf an, ob man bei einer Korrektur nach den §§ 172 ff. AO die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes im Zeitpunkt seines Erlasses oder seiner Korrektur beurteilt. Voraussetzung für eine Korrektur ist hier nur, daß der Verwaltungsakt überhaupt rechtswidrig ist.

3. Vergleichsergebnis

zu III.

Die vorstehenden Ausführungen zeigen, daß bei einer späteren Gegenüberstellung einzelner Korrekturtatbestände die §§ 172 ff. AO vor allem mit den verwaltungsrechtlichen Rücknahmeregeln des § 48 VwVfG und weniger mit den Widerrufsregeln des § 49 VwVfG zu vergleichen sein werden, da das Steuerrecht nur die Korrektur rechtswidrig ergangener oder ex tunc rechtswidrig gewordener Steuerbescheide kennt. Eine Korrektur rechtmäßiger Verwaltungsakte, wie sie § 49 VwVfG erlaubt, ist nach den §§ 172 ff. AO dagegen nicht möglich.90 Die ebenfalls in den Anwendungsbereich von § 49 VwVfG fallenden ex nunc rechtswidrig gewordenen Verwaltungsakte kommen bei den von den §§ 172 ff. AO erfaßten Steuerverwaltungsakten nicht vor. Dennoch können die Regeln über den Widerruf bei einem Vergleich mit den §§ 172 ff. AO nicht ganz außer Betracht bleiben. Die in § 49 Abs. 2 VwVfG genannten Widerrufsgründe gelten nach allgemeiner Ansicht für rechtswidrige Verwaltungsakte analog, denn wenn ein rechtmäßiger Verwaltungsakt unter den Voraussetzungen von § 49 Abs. 2 VwVfG widerrufen werden kann, dann muß dies erst recht für einen rechtswidrigen Verwaltungsakt gelten.91 Insoweit werden bei einem späteren Vergleich einzelner Korrekturtatbestände auch die Voraussetzungen des § 49 VwVfG zu berücksichtigen sein.92

4. Möglichkeiten zur Vereinheitlichung Fraglich ist, ob es einer Vereinheitlichung beider Verfahrensordnungen entgegensteht, daß nach den §§ 172 ff. AO die Korrektur rechtmäßiger Ver90

Vgl. Kinzel S. 173. BVerwG NJW 1987, 1964 = NVwZ 1987, 498; BVerwG NJW 1985, 281 (282); BVerwG NVwZ 1986, 583; Ibler NVwZ 1993, 451 (453); Klappstein, in: Knack § 49 Rz. 2.3; Kopp § 49 Rz. 7; Maurer § 11 Rz. 19; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 49 Rz. 4. 92 Insoweit zu eng Kinzel S. 173. 91

78

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

waltungsakte ausgeschlossen, nach § 49 VwVfG aber unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt ist. Es handelt sich hierbei nur vordergründig um einen Unterschied zwischen allgemeinem Verwaltungsrecht und Steuerrecht. Die §§ 172 ff. AO erfassen nur deshalb rechtswidrige und keine rechtmäßigen Bescheide, weil die Finanzbehörde beim Erlaß von Steuerbescheiden und diesen gleichgestellten Verwaltungsakten keinen Ermessensspielraum hat. Bei gebundenen Verwaltungsakten ist nur eine einzige Entscheidung der Behörde rechtmäßig. Bei Ermessensakten können dagegen mehrere verschiedene Entscheidungen rechtmäßig sein. Ein rechtmäßiger gebundener Verwaltungsakt kann auch im allgemeinen Verwaltungsrecht nicht beseitigt oder abgeändert werden, da das Ergebnis einer solchen Maßnahme zwangsläufig rechtswidrig und damit ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung aus Art. 20 Abs. 3 GG wäre.93 Aus diesem Grunde ist gem. § 49 Abs. 1 S. 1 VwVfG der Widerruf eines belastenden Verwaltungsaktes ausdrücklich ausgeschlossen, wenn ein Verwaltungsakt gleichen Inhalts erneut erlassen werden müßte.94 Nichts anderes gilt für den Widerruf eines begünstigenden Verwaltungsaktes gem. § 49 Abs. 2 VwVfG, auch wenn hier eine derartige Beschränkung nicht ausdrücklich vom Gesetz genannt wird. 95 § 49 VwVfG muß aber - anders als die §§ 172 ff. AO - auch der Ermessensverwaltung gerecht werden, bei der mehrere unterschiedliche Entscheidungen der Behörde rechtmäßig sein können. Die Regeln der §§ 172 ff. AO stehen also insoweit nicht im Widerspruch zum Verwaltungsrecht. Es bedarf in dieser Hinsicht daher auch keiner Vereinheitlichung der beiden Verfahrensordnungen.

IV. Vergleich der Verfristungen von Korrekturmöglichkeiten Die Möglichkeit zur Korrektur von Verwaltungsakten ist sowohl im allgemeinen Verwaltungsrecht als auch im Steuerrecht durch Fristen beschränkt. Gem. § 48 Abs. 4 S. 1 VwVfG ist die Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsaktes nur innerhalb eines Jahres zulässig, seit die Behörde von den zur Rücknahme berechtigenden Tatsachen Kenntnis erhalten hat. Für den Widerruf eines begünstigenden Verwaltungsaktes gilt diese Frist wegen der Verweisung in § 49 Abs. 2 S. 2 VwVfG entsprechend.96

93

Zur Anwendbarkeit von § 117 LVwG-SH auf Kommunalabgabenbescheide Thiem, Allgemeines kommunales Abgabenrecht, S. 221. 94 Erichsen, in: Erichsen § 20 Rz. 1; Kopp § 49 Rz. 16. 95 Kopp § 49 Rz. 3. 96 Kopp § 49 Rz. 23; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 49 Rz. 46.

Α. Allgemeiner Vergleich

79

Die zeitliche Beschränkung für die Korrektur von Steuerbescheiden ist ganz anders ausgestaltet. Die zentrale Bestimmung findet sich nicht in den Korrekturregeln der §§ 172 ff. AO, sondern in den Vorschriften über die Festsetzungsveijährung. Nach § 169 Abs. 1 S. 1 AO ist die Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheides nicht mehr zulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist. Mit Ablauf der Festsetzungsfrist veijähren die Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis. Die Verjährung hat im Steuerrecht gem. § 47 AO rechtsvernichtende Wirkung, das heißt, mit ihrer Vollendung erlöschen die sich aus dem Steuerschuldverhältnis ergebenden Ansprüche zwischen Staat und Bürger. 97 Die Verjährung im Steuerrecht unterscheidet sich insoweit von der zivilrechtlichen Verjährung, die gem. § 222 Abs. 1 BGB zu einem Leistungsverweigerungsrecht des Schuldners führt, also nur rechtshemmende Wirkung hat.98 Die Abgabenordnung knüpft die zeitliche Beschränkung für eine Korrektur von Steuerbescheiden also an dieselbe Frist, die für das Erlöschen des dem Steuerbescheid zugrunde liegenden Steueranspruchs maßgebend ist. Wenn nach Ablauf einer bestimmten Frist die beiderseitigen Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis erlöschen und damit keine vom Bürger zu zahlende oder von der Behörde zu erstattende oder vergütende Steuer mehr festgesetzt werden kann, soll auch die Korrektur einer Festsetzung zugunsten oder zuungunsten des Steuerpflichtigen nicht mehr möglich sein. Das leuchtet ein, wenn man bedenkt, daß etwa die Änderung eines Steuerbescheides zuungunsten des Steuerpflichtigen einer erstmaligen Festsetzung der Steuer gleichkommt, soweit die neue Steuersumme den ursprünglich festgesetzten Betrag übersteigt. Da sich die steuerrechtlichen Korrekturfristen insoweit erheblich von denen des allgemeinen Verwaltungsrechts unterscheiden, soll der weitere Vergleich beider Fristenkonzepte anhand verschiedener Einzelaspekte erfolgen. Am Ende soll dann untersucht werden, inwieweit sich die Regeln über die Korrekturfristen vereinheitlichen lassen.

1. Unterschiede in der Art der Fristenregelungen Während die Zulässigkeit der Korrektur von Steuerbescheiden gem. §§ 169 ff. AO durch eine Verjährungsfrist begrenzt wird, handelt es sich bei der für Rücknahme und Widerruf geltenden zeitlichen Beschränkung in § 48 Abs. 4 S. 1 VwVfG um eine Ausschlußfrist. 99 In der Rechtswissenschaft wird 97 98 99

Tipke/Kruse Vor § 169 Rz. 2. Hoffmann, in: Koch/Scholtz § 47 Rz. 4. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 151; Wolff/BachoflStober

§ 51 Rz. 79.

80

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

mit gewisser Selbstverständlichkeit zwischen Veijährungs- und Ausschlußfristen differenziert. Ob es einen sachlichen Unterschied zwischen beiden Fristenarten gibt und welche praktische Bedeutung dieser Unterscheidung zukommt, scheint noch nicht befriedigend geklärt zu sein. Es soll untersucht werden, ob es einen materiellen Unterschied für die Korrekturmöglichkeiten bedeutet, wenn diese einmal durch eine Verjährungsfrist, ein anderes Mal durch eine Ausschlußfrist begrenzt werden. Betrachtet man die Versuche in der rechtswissenschaftlichen Literatur, Unterscheidungskriterien für beide Fristenarten zu entwickeln,100 so erscheint es fragwürdig, ob eine Unterscheidung beider Fristenarten überhaupt möglich ist 101 und ob sich daraus Unterschiede für die Korrekturmöglichkeiten im Steuerrecht und im allgemeinen Verwaltungsrecht ergeben können. a) Teilweise wird der Unterschied zwischen Veijährungs- und Ausschlußfrist in der Wirkung des Fristablaufs gesehen.102 Die Veijährung führe zu einer rechtshemmenden Einrede, die Ausschlußfrist dagegen zu einer rechtsvernichtenden Einwendung. Diese Unterscheidung kann aber nur für das Zivilrecht gelten, denn im öffentlichen Recht hat die Veijährung oft auch rechtsvernichtende Wirkung. Beispiele hierfür findet man neben § 47 AO in § 15 ZSEG sowie in einigen Landesausführungsgesetzen zum BGB, die teilweise die zivilrechtlichen Veijährungsregeln mit der Maßgabe ins öffentliche Recht übertragen, daß die Vollendung der Veijährung zum Erlöschen von Ansprüchen führt (vgl. etwa Art. 71 Abs. 1 BayAGBGB).103 Die rechtshemmende Wirkung ist daher kein Wesensmerkmal, sondern allenfalls eine mögliche Spielart der Veijährung. Da auch die Festsetzungsveijährung im Steuerrecht genau wie die Ausschlußfrist des § 48 Abs. 4 S. 1 VwVfG rechtsvernichtende Wirkung hat, besteht insoweit kein Unterschied zwischen beiden Fristenarten. b) Denkbar ist auch, den Unterschied zwischen Veijährungs- und Ausschlußfristen in deren Gegenstand zu erblicken. Gegenstand von Ausschlußfristen könnten Gestaltungsrechte sein, während die Veijährung sich nur auf Ansprüche bezieht (§ 194 Abs. 1 BGB). 104 Ausschlußfristen können sich aber ebenso auf Ansprüche beziehen, wie etwa an den §§ 382, 801 Abs. 1 S. 1, 864 100

W. Jellinek, Verwaltungsrecht § 10 14 b; Forsthoff \0. Aufl. S.194; Lange S. 22 f.; Maas S. 27 ff; Ronellenfitsch VerwArch Bd. 74 (1983), 369 (370); Schack BB 1954, 1037(1038). 101 Abi. die älteren Angaben bei Maas S. 30 dort Fußnote 13. 102 W. Jellinek, Verwaltungsrecht § 10 I 4 b; Enneccerus/Nipperdey S. 995; vgl. auch Oetker S. 60. 103 Vgl Dörr DÖV 1984, 12 ff. mit einer Zusammenstellung von Veijährungsregeln im öffentlichen Recht. 104 Enneccerus/Nipperdey S. 995.

Α. Allgemeiner Vergleich

81

Abs. 1, 977 S. 2, 1002 Abs. 1 BGB zu erkennen ist. Umgekehrt können auch Gestaltungsrechte veqähren, wie gerade § 169 Abs. 1 S. 1 AO zeigt. Die Ermächtigung der Behörde, den Steueranspruch durch Festsetzungsbescheid zu konkretisieren oder den Festsetzungsbescheid zu ändern bzw. aufzuheben, ist ein Gestaltungsrecht des Staates, das mit Vollendung der Festsetzungsveijährung erlischt. Es besteht also auch bezüglich ihres Gegenstandes kein Wesensunterschied zwischen Veijährungs- und Ausschlußfrist. c) Teilweise wird ein Unterschied zwischen Veijährungs- und Ausschlußfrist darin gesehen, daß der Lauf einer Verjährungsfrist gehemmt werden kann, wie etwa in den Fällen der §§ 202 bis 217 BGB. Der Lauf einer Ausschlußfrist könne dagegen nicht gehemmt werden. 105 Es finden sich aber ebenso Ausschlußfristen, für die besondere Hemmungsgründe gelten, so etwa § 802 S. 1 BGB. Genauso gibt es Ausschlußfristen, auf die die Hemmungsgründe der Verjährungsregeln entsprechend anwendbar sind, z.B. § 1002 Abs. 2 BGB. Auch die Ausschlußfrist des § 48 Abs. 4 S. 1 VwVfG kann gehemmt werden. Dies ist zwar nicht ausdrücklich geregelt, jedoch für bestimmte Situationen anerkannt. Wird etwa ein innerhalb der Ausschlußfrist des § 48 Abs. 4 S. 1 VwVfG ergangener Rücknahmebescheid nach einjähriger Prozeßdauer vom Verwaltungsgericht wegen formeller Fehler aufgehoben, so muß die Behörde die Möglichkeit haben, die materiell gerechtfertigte Rücknahme unter Beachtung der Formalien erneut zu verfügen. Für die Dauer des Anfechtungsprozesses ist die Jahresfrist aus § 48 Abs. 4 S. 1 VwVfG daher gehemmt.106 Die Möglichkeit der Hemmung ist also kein Unterschied zwischen Verjährungsund Ausschlußfrist. d) Ein Unterschied zwischen Veijährungs- und Ausschlußfrist scheint letztlich die bei der Veijährung mögliche Unterbrechung der Frist zu sein.107 Die Unterbrechung bewirkt, daß nach ihrer Beendigung die Frist erneut zu laufen beginnt, während die bis zur Unterbrechung verstrichene Zeit außer Betracht bleibt (§ 217 BGB). Ausschlußfristen können dagegen nicht unterbrochen werden. Dieser wohl einzige Wesensunterschied zwischen Veijährungs· und Ausschlußfristen kommt aber ausgerechnet bei einem Vergleich der §§ 169 ff. AO mit § 48 Abs. 4 S. 1 VwVfG nicht zum Tragen, denn die Möglichkeit einer Unterbrechung ist gerade bei der Festsetzungsveijährung im Steuerrecht ausnahmsweise nicht vorgesehen.

105

Enneccerus/Nipperdey S. 995. OVG Lüneburg NVwZ 1985, 120 (122); Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 151 ; hierzu erneut unten 5. 107 Ebenso MaasS. 30. 106

6 Arndt

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4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

e) Dieser Vergleich zeigt, daß die im Steuerrecht und im allgemeinen Verwaltungsrecht verwendeten Korrekturfristen in ihrem Wesen identisch sind. 108 Allein aus der begrifflichen Artverschiedenheit der Fristen ergeben sich keine materiellen Unterschiede für die zeitliche Beschränkung von Korrekturmöglichkeiten im Steuerrecht und im Verwaltungsrecht.

2. Unterschiede im Anwendungsbereich der Fristenregelungen Weiterhin ist zu fragen, ob die im Steuerrecht und im allgemeinen Verwaltungsrecht geltenden Korrekturfristen den gleichen Anwendungsbereich haben oder ob es Fälle gibt, in denen nach einer der beiden Verfahrensordnungen Korrekturen ohne zeitliche Beschränkung möglich sind.

a) Rücknahme belastender Verwaltungsakte Der Anwendungsbereich der Ausschlußfrist des § 48 Abs. 4 S. 1 VwVfG erstreckt sich nur auf die Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte. Das ergibt sich aus der Regelung des § 48 Abs. 1 S. 2 VwVfG. Die Rücknahme eines belastenden Verwaltungsaktes ist nach allgemeinem Verwaltungsrecht also ohne zeitliche Begrenzung möglich.109 Die steuerrechtlichen Festsetzungsfristen nach § 169 ff. AO gelten dagegen auch dann als zeitliche Begrenzung für eine Korrektur, wenn der belastende Steuerbescheid aufgehoben oder zugunsten des Steuerpflichtigen geändert werden soll. 110 Der Anwendungsbereich der steuerrechtlichen Korrekturfristen weicht also vom allgemeinen Verwaltungsrecht ab, denn die Aufhebung eines Steuerbescheides oder dessen Änderung zugunsten des Steuerpflichtigen ist - wie oben festgestellt mit der Rücknahme eines belastenden Verwaltungsaktes vergleichbar. 111

b) Rücknahme in den Fällen des § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 VwVfG Nach § 48 Abs. 4 S. 2 VwVfG ist die Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsaktes unbefristet möglich, wenn der Betroffene den Verwaltungs-

108

Ebenso Thiem, Allgemeines kommunales Abgabenrecht S. 156. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 148; WolfflBachofl Stober § 51 Rz. 92. U0 Baum, in: Koch/Scholtz § 169 Rz. 2. 111 S.o. Π. 109

Α. Allgemeiner Vergleich

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akt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat. 112 Nach der Abgabenordnung sind die Korrekturmöglichkeiten dagegen in derartigen Fällen befristet, denn der zugrunde liegende Steueranspruch unterliegt auch hier der Festsetzungsveijährung. Nur sofern es sich bei dem Verhalten des Begünstigten um eine Steuerhinterziehung gem. § 370 AO handelt, verlängert sich die Festsetzungsfrist gem. § 169 Abs. 2 S. 2 AO von grundsätzlich vier Jahren auf zehn Jahre. Außerdem wird der Ablauf dieser Zehnjahresfrist durch § 171 Abs. 7 AO gehemmt, solange die strafrechtliche Verfolgung der Steuerhinterziehung nicht veijährt ist. Hieraus können sich zwar sehr lange Zeiträume ergeben, in denen eine Korrektur des Steuerbescheides noch möglich ist. Dennoch verbleibt in Fällen der Steuerhinterziehung eine zeitliche Korrekturbegrenzung. Auch wenn es für die Steuerhinterziehung nicht begriffsnotwendig ist, 113 enthält sie doch typischerweise eine arglistige Täuschung. Nach allgemeinem Verwaltungsrecht wäre die Korrektur in diesen Fällen wegen § 48 Abs. 4 S. 2 i.V.m. Abs. 2 S. 3 Nr. 1 VwVfG zeitlich unbeschränkt möglich.

3. Unterschiede beim Beginn der Frist Der Beginn der Korrekturfristen nach allgemeinem Verwaltungsrecht und nach Steuerrecht ist unterschiedlich geregelt. Für das Steuerrecht ist hierfür die Vorschrift des § 170 AO maßgebend. Der Fristbeginn im allgemeinen Verwaltungsrecht ergibt sich aus § 48 Abs. 4 S. 1 VwVfG. Unterschiede beider Verfahrensordnungen bestehen in zweierlei Hinsicht. Zum einen fallt der Fristbeginn im Steuerrecht stets auf das Ende eines Kalenderjahres, während nach allgemeinem Verwaltungsrecht die Frist im Verlauf des Kalenderjahres beginnt (a)). Zum anderen ergeben sich Unterschiede bezüglich des den Fristbeginn auslösenden Ereignisses (b)).

a) Fristbeginn im Verlauf und am Ende eines Kalenderjahres Die steuerrechtliche Festsetzungsfrist beginnt stets mit Ablauf eines Kalendeijahres, und zwar nach der Grundregel des § 170 Abs. 1 AO mit Ablauf des Jahres, in dem die Steuer entstanden ist oder eine bedingt entstandene Steuer unbedingt geworden ist. Nach den Absätzen 2 bis 6 der Vorschrift werden 112

Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 148. Scheurmann-Kettner, in: Koch/Scholtz § 370 Rz. 13 f.; Klein/Orlopp Anm. 8. 113

§370

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4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

hiervon abweichende Sonderfalle genannt, in denen der Beginn der Festsetzungsfrist an einen späteren Zeitpunkt anknüpft (sog. Anlaufhemmung 114). Dabei wird etwa auf den Ablauf des Kalendeijahres abgestellt, in dem eine Steuererklärung oder Steueranmeldung eingereicht wurde (§ 170 Abs. 2 Nr. 1 AO) oder in dem der für die Steuerfestsetzung erforderliche Antrag gestellt wurde (§ 170 Abs. 3 AO). Auch in diesen Fällen beginnt die steuerrechtliche Festsetzungsfrist mit Ablauf des jeweils bestimmten Kalenderjahres. Aus diesem Grunde wird die Verjährung nach der Abgabenordnung auch als Kalenderverjährung bezeichnet.115 Die verwaltungsrechtliche Ausschlußfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG beginnt dagegen in dem Zeitpunkt, in dem die Behörde von den die Rücknahme rechtfertigenden Tatsachen Kenntnis erhalten hat. Die Frist beginnt also regelmäßig nicht am Ende, sondern im Verlauf eines Kalenderjahres. Ein Unterschied zwischen beiden Regelungen liegt also darin, daß im Steuerrecht die Zeitspanne vom Erlaß des Steuerbescheides bis zu dem Zeitpunkt, in dem dieser nicht mehr korrigiert werden kann, von dem Zufall abhängt, ob das für die Bemessung der Steuer maßgebliche Ereignis zu Beginn oder gegen Ende eines Kalenderjahres liegt. Denn zu der eigentlichen Fristendauer, kommt bei der Kalenderverjährung die Zeit von dem maßgeblichen Ereignis bis zum Fristbeginn am Ende des Kalenderjahres hinzu. Im Verwaltungsrecht ist dagegen die Zeit bis zum Ausschluß einer Rücknahme nicht davon abhängig, ob die Behörde von den erforderlichen Tatsachen zu Beginn oder Ende des Kalenderjahres Kenntnis genommen hat, denn die Frist beginnt sofort mit Kenntnisnahme. Der sich daraus ergebende praktische Unterschied besteht darin, daß nach allgemeinem Verwaltungsrecht die im Verlauf des Kalenderjahres beginnende Frist auch während eines Kalenderjahres endet. Die Verwaltungsbehörde muß daher die Fristen der bei ihr anhängigen Verwaltungsverfahren jeden Tag überwachen. Die steuerrechtliche Kalenderverjährung hat dagegen zur Folge, daß die am Ende eines Kalenderjahres beginnende Frist auch am Ende eines Kalenderjahres endet, sofern der Fristablauf nicht nach § 171 AO gehemmt wird. 116 Auf diese Weise wird der Fristablauf für eine Mehrzahl von Verfahren gebündelt und läßt sich für die Behörde einfacher

114

Ruban, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler Vor § 169 Rz. 11; Rasenack § 12 IV, S. 200; Tipke/Kruse § 170 Rz. 2; Frotscher, in: Schwarz § 170 Rz. 2; Baum, in: Koch/Scholtz § 170 Rz. 4 ff. 115 Tipke/Kruse § 170 Rz. 1; Ruban, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler § 170 Rz. 7; Frotscher, in: Schwarz § 170 Rz. 1. 116 Ruban, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler § 171 Rz. 3; Baum, in: Koch/Scholtz § 171 Rz. 2.

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überwachen.117 Der Gesetzgeber hat mit dieser unterschiedlichen Ausgestaltung der Korrekturfristen versucht, die besonderen Bedürfnisse der Finanzverwaltung zu berücksichtigen. Die Finanzverwaltung hat überwiegend Massenverfahren zu bewältigen.118 Eine Fristenüberwachung für jedes einzelne dieser Verfahren wäre sehr aufwendig. Die allgemeine Verwaltungsbehörde befaßt sich dagegen öfter mit Einzelverfahren, so daß ihr die Überwachung unterschiedlicher Fristverläufe eher zugemutet werden kann.

b) Fristbeginn auslösendes Ereignis Ein weiterer Unterschied beider Regelungen liegt darin, daß das Gesetz den Beginn der Frist an verschiedene Ereignisse knüpft. Gem. § 48 Abs. 4 S. 1 VwVfG ist die Kenntnis der Behörde von den die Rücknahme rechtfertigenden Tatsachen entscheidend.119 Der Fristbeginn wird hier zu einem Zeitpunkt ausgelöst, an dem der Verwaltungsbehörde die Korrektur erstmals möglich ist. Im Steuerrecht wird der Beginn der Korrekturfrist in § 170 AO geregelt. Die Vorschrift nennt für den Fristbeginn Ereignisse, die nicht berücksichtigen, ob der Behörde eine Korrektur möglich ist. Statt dessen berücksichtigen die in § 170 AO genannten Ereignisse, wann der Behörde die erstmalige Festsetzung der Steuer möglich ist. Als maßgebende Ereignisse werden hier etwa das Entstehen des Steueranspruches (§ 170 Abs. 1) oder die Einreichung der erforderlichen Steuererklärung durch den Steuerpflichtigen ( § 170 Abs. 2 Nr. 1 AO) genannt, die der Behörde die für die Festsetzung notwendigen Informationen liefert. 120 Auch im übrigen nennt § 170 AO Ereignisse, die der Behörde erstmals die Festsetzung der Steuer ermöglichen. Hier wirkt es sich aus, daß der Korrekturfrist im Steuerrecht gleichzeitig eine Funktion als Festsetzungsfrist zukommt.

U 1 u%

Ruban, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler § 170 Rz. 7; Tipke/Kruse § 170 Rz. 1. Arndt, Allgemeines Steuerrecht S. 137: etwa 180 Millionen Steuerbescheide im

Jahr. 119

Zu den Anwendungsproblemen eingehend BVerwGE 70, 356 (Entscheidung des Großen Senats); Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 152 u. 154 ff.; Weides DÖV 1985, 91; Schoch NVwZ 1985, 880 ff.; Stadie DÖV 1992, 247 ff.; Kopp DVB1. 1990, 663 ff. 120 Krabbe, in: Koch/Scholtz § 149 Rz. 2.

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4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

4. Unterschiede bei der Fristendauer Die Dauer der verwaltungsrechtlichen Ausschlußfrist beträgt gem. § 48 Abs. 4 S. 1 VwVfG ein Jahr. Diese Fristendauer gilt einheitlich für alle Verwaltungsakte, die nach den Rücknahme- oder Widerrufsregeln korrigiert werden sollen. Die Dauer der steuerrechtlichen Festsetzungsfrist richtet sich grundsätzlich nach § 169 Abs. 2 AO. Danach existiert im Unterschied zum Verwaltungsverfahrensgesetz keine einheitliche Frist, sondern die Fristendauer hängt von der Steuerart sowie davon ab, ob der Steuerpflichtige die Steuer hinterzogen oder leichtfertig verkürzt hat. Für Zölle und Verbrauchsteuern sowie deren Vergütung beträgt die Festsetzungsfrist gem. § 169 Abs. 2 Nr. 1 AO ein Jahr. Für die Festsetzung von Zöllen wird diese Jahresfrist allerdings durch Art. 221 Abs. 3 S. 1 ZK 1 2 1 verdrängt, wonach die Mitteilung über den Abgabenbetrag an den Zollschuldner nach Ablauf einer Frist von drei Jahren seit dem Entstehen der Zollschuld nicht mehr erfolgen darf. Für andere als die in § 169 Abs. 2 Nr. 1 AO genannten Steuern, das heißt für Besitz- und Verkehrsteuern, gilt eine Festsetzungsfrist von vier Jahren. Unabhängig von der Steuerart beträgt die Festsetzungsfrist gem. § 169 Abs. 2 S. 2 AO zehn Jahre, soweit die Steuer hinterzogen, und fünf Jahre, soweit sie leichtfertig verkürzt worden ist.

5. Unterschiede bei der Hemmung des Fristablaufs Die Abgabenordnung regelt in § 171 Fälle, in denen der Ablauf der Festsetzungsfrist gehemmt, das Ende der Frist also auf einen späteren Zeitpunkt hinausgeschoben wird. 122 Eine Unterbrechung der Frist mit der Folge, daß die Frist von neuem zu laufen beginnt, ist für die Festsetzungsveijährung nicht vorgesehen. Das Verwaltungsverfahrensgesetz enthält keine ausdrückliche Regelung über die Hemmung der Ausschlußfrist nach § 48 Abs. 4. Gleichwohl wird in bestimmten Situationen eine Fristenhemmung auch ohne gesetzliche Regelung anerkannt.123 Wird etwa ein innerhalb der Ausschlußfrist des § 48 Abs. 4 S. 1 VwVfG ergangener Rücknahmebescheid nach einjähriger Prozeßdauer vom Verwaltungsgericht wegen formeller Fehler aufgehoben, so muß die Behörde 121

Zollkodex, VO (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12.10.92 AblEG Nr. L 302 S.

Iff. 122

Ruban, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler § 171 Rz. 1; Baum, in: Koch/Scholtz § 171 Rz. 2. 123 Vgl. oben 1. c).

Α. Allgemeiner Vergleich

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die Möglichkeit haben, die materiell gerechtfertigte Rücknahme unter Beachtung der Formalien erneut zu verfugen. Für die Dauer des Anfechtungsprozesses ist die Jahresfrist aus § 48 Abs. 4 S. 1 VwVfG daher gehemmt.124 Dieser im allgemeinen Verwaltungsrecht ohne gesetzliche Bestimmung geltende Hemmungsgrund korrespondiert mit der im Steuerrecht geltenden Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 3 S. 2 AO. Danach ist die Vollendung der Festsetzungsveijährung gehemmt, solange ein gegen den Steuerbescheid gerichtetes Rechtsbehelfsverfahren schwebt.125 Darüber hinaus greifen zur Hemmung der Ausschlußfrist aus § 48 Abs. 4 VwVfG keine mit § 171 Abs. 1 bis 14 AO vergleichbaren Gründe ein.

6. Möglichkeiten zur Vereinheitlichung Bei dieser sehr unterschiedlichen Ausgestaltung von Korrekturfristen im Steuerrecht und im allgemeinen Verwaltungsrecht sind zwei verschiedene Methoden der Vereinheitlichung denkbar. Man könnte erwägen, ob eines der beiden Fristenkonzepte für beide Verfahrensordnungen verwendbar ist oder zumindest das eine Fristenkonzept dem anderen angeglichen oder angenähert werden kann (a)). Denkbar wäre auch, beide Fristenkonzepte in beiden Verfahrensordnungen miteinander zu kombinieren (b)).

a) Verwendbarkeit eines der Fristenkonzepte für beide Verfahrensordnungen Zunächst soll untersucht werden, ob eines der beiden Fristenkonzepte für beide Verfahrensordnungen verwendet werden kann. Man könnte etwa das allgemeine Verwaltungsrecht dem Steuerrecht in der Weise anpassen, daß Rücknahme und Widerruf von Verwaltungsakten statt durch die Ausschlußfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG durch die Veijährung des Anspruchs beschränkt werden, der dem zu korrigierenden Verwaltungsakt zugrunde liegt. 126 Diese Lösung hätte für das Verwaltungsrecht aber Nachteile. Die verwaltungsrechtlichen Regeln über Rücknahme und Widerruf müssen auch Korrekturen von solchen Verwaltungsakten bewältigen, denen kein veijährbarer Anspruch zugrunde liegt. Keiner Veijährung unterliegen die meisten nichtvermögens124

OVG Lüneburg NVwZ 1985, 120 (122); Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 151. 125 Tipke/Kruse § 171 Rz. 10 und 10b. 126 Wendt JA 1980, 85 (91) hält die zeitliche Korrekturbeschränkung im Steuerrecht gegenüber der Ausschlußfrist im allgemeinen Verwaltungsrecht für vorzugswürdig.

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4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

rechtlichen Ansprüche, wie etwa der Anspruch eines Grundstückseigentümers auf Erteilung einer Baugenehmigung oder eines Beamten auf Entlassung aus dem Beamtenverhältnis.127 Verjährungsfristen als zeitliche Beschränkung für Korrekturen von Verwaltungsakten wären in derartigen Fällen ein untaugliches Mittel. Außerdem ist die Verjährung im öffentlichen Recht bislang nicht allgemein, sondern nur lückenhaft in einigen Spezialgesetzen geregelt.128 Es ist daher oft unklar, ob ein öffentliches Recht der Verjährung unterliegt und welche Fristen hierfür gelten.129 Die Verjährung wäre deshalb für die meisten Bereiche dieses Rechtsgebietes ein sehr unbestimmtes Kriterium, um Widerruf und Rücknahme zeitlich zu begrenzen. Man könnte aber daran denken, die verwaltungsrechtliche Ausschlußfrist im Steuerrecht anstelle der Festsetzungsfrist zu verwenden. Die Abgabenordnung begrenzt mit Hilfe derselben Fristenregelung sowohl die Zulässigkeit der erstmaligen Steuerfestsetzung als auch die Möglichkeit ihrer späteren Korrektur (§ 169 Abs. 1 S. 1 AO). Die Korrekturfrist ist also mit der Festsetzungsfrist identisch. Es würde sich anbieten, die steuerrechtlichen Aufhebungs- und Änderungsregeln der §§ 172 ff. AO von der Festsetzungsverjährung nach §§ 169 ff. AO unabhängig zu machen. § 169 Abs. 1 S. 1 AO dürfte dann nur noch lauten: „Eine Steuerfestsetzung abgelaufen ist "

ist nicht mehr zulässig, wenn die Festsetzungsfrist

§ 169 Abs. 1 S. 2 AO könnte ganz entfallen. Ferner müßten die §§ 170, 171 AO insoweit geändert werden, wie sie sich auf die Korrektur von Steuerbescheiden beziehen. Ähnlich wie schon nach der früheren Rechtslage aufgrund der Reichsabgabenordnung 1919130, würde die Festsetzungsverjährung dann nur noch als zeitliche Beschränkung für die erstmalige Festsetzung der Steuer dienen, nicht aber für deren spätere Korrektur. Statt dessen wäre den §§ 172 ff. AO eine Vorschrift nach dem Vorbild des § 48 Abs. 4 VwVfG hin-

127

Eingehend Maas S. 61; ferner W. Jellinek, Verwaltungsrecht § 10 I. 4. b a. E.; Kopp § 53 Rz. 24; Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 53 Rz. 5; einschr. Schack BB 1954, 1037 (1037); Obermayer § 53 Rz. 12. 128 Vgl. Überblick bei Dörr DÖV 1984, 12 (12 ff.). 129 Dörr 1984, 12 (14 ff.); Schack BB 1954, 1037 ff.; Maas S. 40 ff.; Lange S. 46 ff.; BVerwGE 28, 336 (338); OVG Münster NJW 1971, 1330; VGH München BayVBl. 1989, 596 (597). 130 Vgl. Klein/Orlopp § 169 Rz. 3.

Α. Allgemeiner Vergleich

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zuzufügen, die eine Ausschlußfrist für die Korrektur von Steuerbescheiden festlegt. Eine derartige Modifizierung des Steuerrechts erscheint aus Sicht seines besonderenfiskalischen Zwecks als unbedenklich. Es macht keinen Unterschied, ob die Korrigierbarkeit von Steuerbescheiden statt durch die Festsetzungsverjährung durch eine Ausschlußfrist beschränkt wird, denn beide Fristenarten bewirken im Ergebnis gleichermaßen, daß die Korrektur des Bescheides nicht mehr möglich ist. 131 Man könnte auch etwaigen steuerrechtlichen Bedürfnissen gerecht werden, den Fristablauf in bestimmten Situationen hinauszuschieben, denn auch für Ausschlußfristen lassen sich Hemmungsgründe regeln. 132 Sofern die Besonderheiten des Steuerrechts einen von der Regelung des § 48 Abs. 4 S. 1 VwVfG abweichenden Fristenbeginn oder eine abweichende Fristendauer erforderten, wäre dies für eine Ausschlußfrist genauso möglich, wie es derzeit für die Festsetzungsverjährung geregelt ist. Dennoch gibt es gewichtige Gründe, die gegen eine derartige Modifizierung der steuerrechtlichen Regeln sprechen. Gegenstand des zwischen Bürger und Staat bestehenden Steuerschuldverhältnisses sind vermögensrechtliche Ansprüche (§ 37 AO). 133 Es ist Aufgabe des Steuerbescheides, bestehende Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis durch Festsetzung zu konkretisieren. 134 Ist ein Steueranspruch verjährt und damit erloschen, darf er nicht mehr festgesetzt werden. Dann darf aber auch nach Vollendung der Verjährung eine Korrektur der Steuerfestsetzung nicht mehr möglich sein. Ändert die Finanzbehörde einen Steuerbescheid etwa zuungunsten des Steuerpflichtigen, indem sie den von ihm zu zahlenden Betrag erhöht, so kommt diese Korrektur einer erstmaligen Festsetzung der Steuer insoweit gleich, wie der neue Betrag den bisherigen übersteigt. Wären die Korrekturmöglichkeiten nicht an die Festsetzungsfrist geknüpft, könnte die Finanzbehörde die Verjährung der Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis umgehen. Sie bräuchte zur Wahrung der Verjährungsfrist nur einen Abschlag auf die Steuersumme festzusetzen und könnte dann auch nach Vollendung der Verjährung eine Zahlungspflicht über den vollen Betrag durch Änderung des Erstbescheides erreichen. Das ließe sich auch mit Hilfe einer Ausschlußfrist nach dem Vorbild des § 48 Abs. 4 VwVfG nicht verhindern. Hat die Finanzbehörde die Steuer kurz vor Ablauf

131

S.o. 1. S.o. 1. 133 Birk § 10 Rz. 10; Kruse § 5 Π. 134 v. Wallis, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler § 155 Rz. 3; Kruse § 14 I; AEAO zu §218 Nr. 3. 132

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4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

der Festsetzungsveijährung festgesetzt, wird die Vollendung der Veijährung regelmäßig vor Ende einer erst nach der Festsetzung beginnenden Ausschlußfrist eintreten. Aus diesem Grunde ist es nicht zu empfehlen, die im Steuerrecht geltenden Korrekturfristen durch eine Ausschlußfrist nach dem Vorbild des § 48 Abs. 4 VwVfG zu ersetzen. Die in § 169 Abs. 1 S. 1 AO manifestierte Koppelung von Verjährungs- und Korrekturfristen ist wegen der Besonderheiten des Steuerschuldverhältnisses geboten.

b) Kombination beider Fristenkonzepte Wenn es nicht sinnvoll erscheint, eines der Fristenkonzepte in beiden Verfahrensordnungen zu verwenden, so könnte man daran denken, beide Fristenkonzepte miteinander zu kombinieren. Es soll erwogen werden, ob die Befristung von Korrekturmöglichkeiten in beiden Verfahrensordnungen durch Veijährungsregeln wie im Steuerrecht und zusätzlich durch eine Ausschlußfrist wie im allgemeinen Verwaltungsrecht erfolgen könnte. Für die Abgabenordnung würde das bedeuten, daß § 169 Abs. 1 S. 1 in seiner bisherigen Fassung fortgelten könnte. In die §§ 172 ff. AO wäre aber eine zusätzliche Regelung nach dem Vorbild von § 48 Abs. 4 VwVfG aufzunehmen:

„Aufhebungen und Änderungen nach den §§172 ff sowie nach §164 Abs. 2 und § 165 Abs. 2 sind nur innerhalb eines Jahres zulässig, seit die Finanzbehörde von der Korrigierbarkeit des Steuerbescheides Kenntnis erha ten hat. Dies gilt nicht für Korrekturen zugunsten des Steuerpflichtigen sowie zuungunsten eines Steuerpflichtigen, der eine Besserstellung durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat. § 169 Abs. 1 bleibt unberührt. " Folge einer solchen Gesetzesänderung wäre, daß die Finanzbehörde bei der Korrektur von Steuerbescheiden zwei Fristen zu wahren hätte. Sie müßte die Korrektur innerhalb der Festsetzungsfrist vornehmen und gleichzeitig darauf achten, daß sie nach Kenntnis der Korrigierbarkeit die einjährige Ausschlußfrist wahrt. Eine solche Ergänzung der gegenwärtig im Steuerrecht geltenden Korrekturfristen erscheint überaus sinnvoll. Die §§ 172 ff. AO stehen genau wie die §§ 48, 49 VwVfG im Spannungsfeld zwischen dem Interesse am rechtmäßigen Verwaltungshandeln einerseits und dem Interesse an Rechtssicherheit, d.h. dem Schutz des Vertrauens in die Beständigkeit behördlicher

Α. Allgemeiner Vergleich

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Verwaltungsakte, andererseits. 135 Es ist Aufgabe der Korrekturvorschriften, beide Interessen angemessen abzugleichen. Dabei ist auch die Zeit ein zu beachtender Faktor. 136 Erlangt die Behörde von der Korrigierbarkeit eines Verwaltungsaktes Kenntnis, bleibt sie aber dennoch längere Zeit untätig, so steigt das Vertrauen in den Bestand der Regelung, und das Interesse an deren Aufrechterhaltung zur Vermeidung von Rechtsunsicherheit gewinnt an Gewicht. 137 Diesem Umstand werden die bislang im Steuerrecht geltenden Korrekturfristen nicht gerecht.138 Die Festsetzungsverjährung dient der Rechtssicherheit nur unter dem Aspekt, daß Ansprüche nach Ablauf längerer Zeiträume immer schwerer nachweisbar werden, da die anspruchsbegründenden Vorgänge mit der Zeit in Vergessenheit geraten und die sie belegenden Dokumente nicht unbegrenzt lange aufbewahrt werden können.139 Die Festsetzungsverjährung soll also bewirken, daß die Ungewißheit über das Bestehen von Ansprüchen endgültig entfallt. Bei der Änderung eines Steuerbescheides muß die Rechtssicherheit aber auch unter einem anderen Aspekt geschützt werden. Hier geht es darum, das Vertrauen in die Beständigkeit einer vom Staat getroffenen Regelung zu schützen. Dieses Vertrauen würde die Behörde unnötig strapazieren, wenn sie lange untätig ist, obwohl sie von der Möglichkeit der Rücknahme Kenntnis hat. Um dem entgegenzuwirken, ist die Festsetzungsverjährung kein geeignetes Mittel, da sich ihr Ablauf nicht am behördlichen Kenntnisstand von der Rücknehmbarkeit orientiert. Die Einfügung einer Ausschlußfrist nach dem Vorbild des § 48 Abs. 4 VwVfG hätte den Vorteil, daß die Finanzbehörde gehalten wäre, einen fehlerhaften Steuerbescheid auch dann zügig zu berichtigen, wenn der Steueranspruch noch lange nicht verjährt ist. Würde sie dies unterlassen, erscheint es nach Ablauf eines Jahres angemessen, die Korrektur auszuschließen, weil der Schutz des Vertrauens in den Bestand einer Steuerfestsetzung dann schwerer wiegt als das Interesse an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns. Das gilt auch, wenn man das besondere fiskalische Interesse des Staates an der Ausschöpfung des vollen Steueranspruchs berücksichtigt. Ein Jahr seit Kenntnis der Korrigierbarkeit ist genügend Zeit, um diesen Anspruch durch Korrektur der fehlerhaften Festsetzung geltend zu machen. Die Ergänzung der im Steuerrecht geltenden Korrekturfristen um

135

v. Wedelstädt, in: Beermann Vor § 172 ff. Rz. 1; Tipke/Kruse Vor § 172 Rz. 2. Zur Funktion der Veijährung in diesem Zusammenhang Berger StbJb 1961/62 S. 261 (269 ff). U7 KnokeS. 241. 138 Ebenso krit. Tipke/Kruse Vor § 172 Rz. 2. 139 Ruban, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler Vor § 169 Rz. 4. 136

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4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

eine Ausschlußfrist nach dem Vorbild des § 48 Abs. 4 VwVfG kann also empfohlen werden. 140 Für die Rechtslage nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz würde die vorgeschlagene Vereinheitlichung bedeuten, daß in die Vorschrift des § 48 etwa ein Absatz 4a einzufügen wäre, der eine Rücknahme für die Fälle ausschließt, in denen dem zu korrigierenden Verwaltungsakt ein verjährter vermögensrechtlicher Anspruch zugrunde liegt. Schon bei der gegenwärtigen Fassung des § 48 VwVfG wäre es nicht zu beanstanden, wenn die Behörde sich in einer derartigen Situation im Rahmen ihres Ermessens gegen eine Rücknahme entscheidet. Begehrt etwa ein Beamter im Ruhestand die Rücknahme der zu niedrigen Ruhegehaltsfestsetzung zum Zwecke einer höheren Neufestsetzung, so ist es ermessensfehlerfrei, wenn die Behörde die Rücknahme nur mit Wirkung für die letzten vier Jahre ausspricht.141 Die Ruhegehaltsansprüche des Beamten aus der Zeit davor sind nämlich gem. § 197 BGB verjährt. 142 Bedenklich ist eine solche Modifizierung der Rücknahmevorschriften allenfalls unter dem Aspekt, daß die Verjährung im öffentlichen Recht nicht allgemein, sondern nur sehr vereinzelt in wenigen Spezialgesetzen geregelt ist. Es herrscht deshalb oft Unklarheit, ob und nach welcher Zeit Ansprüche im öffentlichen Recht verjähren. Das ist jedoch ein Problem des Verjährungsrechts. Es kann nichts daran ändern, daß es als angemessen zu beurteilen ist, die Rücknahme eines Verwaltungsaktes auszuschließen, sofern auf die Verjährung des zugrundeliegenden Anspruchs zu erkennen ist. 143 Diese Kombination von Verjährungs- und Ausschlußfrist ist den verwaltungsrechtlichen Rücknahmeregeln auch im übrigen nicht völlig fremd. Sie ist schon geltendes Recht bei den Regeln über die Korrektur von Kommunalabgabenbescheiden. Nach den Kommunalabgabengesetzen einiger Länder ist bei der Rücknahme eines Abgabenbescheides nicht nur die Ausschlußfrist des § 48 Abs. 4 S. 1 VwVfG zu beachten, sondern ergänzend auch die für Abgabenfestsetzungen maßgebende Verjährungsfrist. Das kann dazu führen, daß die Rücknahmemöglichkeit zwar nicht durch die Ausschlußfrist des § 48 Abs. 4 S. 1 VwVfG begrenzt wird, weil es sich etwa um die Rücknahme eines belastenden Verwaltungsaktes handelt, daß aber statt dessen die Festsetzungs-

140

Vgl. auch Klappstein, in: Knack § 48 Rz. 5.3.1., der wegen der Funktion der Ausschlußfrist deren Anwendung auch bei sonderrechtlichen Rücknahmen fordert, selbst wenn das Sonderrecht die Ausschlußfrist nicht vorsieht. 141 VGH München ZBR 1991, 380 (381). 142 BVerwGE 23, 166 (167); 42, 353 (356); 66, 251 (252); BVerwG BayVBl. 1987, 23, 55. 143

Zust. Wendt JA 1980, 85 (91).

Α. Allgemeiner Vergleich

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veijährung der Rücknahme entgegensteht. Dies soll an folgendem Beispiel verdeutlicht werden: Eine Gemeinde des Landes Schleswig-Holstein setzt in einem Beitragsbescheid den vom Grundstückseigentümer A zu zahlenden Beitrag für den Ausbau der Abwasserkanalisation irrtümlich zu hoch fest, weil sie von einer zu großen Grundstücksfläche ausgeht. A zahlt die festgesetzte Summe und bemerkt den Fehler erst nach vier Jahren. Daraufhin stellt er bei der Gemeinde einen Antrag auf Korrektur des Beitragsbescheides. Gem. § 11 S. 1 KAG-SH findet auf die Festsetzung und Erhebung von kommunalen Abgaben das LVwG-SH Anwendung. Im übrigen sind nach § 11 S. 2 KAG-SH die Vorschriften der Abgabenordnung sinngemäß heranzuziehen. Die Abgabenordnung gilt also nur, soweit das Landesverwaltungsgesetz Lücken enthält.144 Rechtsgrundlage für die Korrektur des Beitragsbescheides sind danach die allgemeinen verwaltungsrechtlichen Regeln über Rücknahme und Widerruf gem. §§ 116 ff. LVwG-SH.145 Diese stimmen - soweit es hier darauf ankommt - mit den §§ 48, 49 VwVfG überein. Die Aufhebungs- und Änderungsregeln der §§ 172 ff. AO sind dagegen auf Beitragsbescheide nicht anwendbar, denn diese Vorschriften werden gem. § 11 KAG-SH von den Bestandskraftregeln des LVwG-SH verdrängt. 146 Da der Beitragsbescheid ein rechtswidriger belastender Verwaltungsakt ist, kommt eine Rücknahme gem. §116 Abs. 1 S. 1 LVwG-SH in Betracht. Die einjährige Ausschlußfrist des §116 Abs. 4 S. 1 LVwG-SH greift nicht ein, da sie nur die Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte zeitlich begrenzt (§ 116 Abs. 1 S. 2 LVwGSH). Die Möglichkeit zur Rücknahme ist aber wegen Verstreichens der für die Festsetzung des Beitrages maßgebenden Veijährungsfirist ausgeschlossen, denn die Regeln über die Festsetzungsveijährung gem. §§ 169 ff. AO gelten aufgrund der Verweisung in § 11 S. 2 KAG-SH auch für die Festsetzung kommunaler Abgaben.147 Bei entsprechender Anwendung von § 169 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 2 AO ist also die Rücknahme des Beitragsbescheides nach Ablauf der vieijährigen Festsetzungsfrist nicht mehr zulässig.

144

Hempel/Hempel § 11 Rz. 11. Im einzelnen sind die Folgen der Verweisung des § 11 KAG-SH allerdings str., vgl. Darstellung bei Thiem, Kommunalabgabenrecht SH, S. 74. 145 Hempel/Hempel § 11 Rz. 11 u. 66; Thiem, Allgemeines kommunales Abgabenrecht S. 219 f. 146 Hempel/Hempel § 11 Rz. 11 u. 66; Thiem, Allgemeines kommunales Abgabenrecht S. 219 f. 147 Hempel/Hempel § 11 Rz. 11 u. 65, Ruban, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler § 169 Rz. 15; Thiem, Allgemeines kommunales Abgabenrecht S. 158.

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

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Entsprechendes gilt, wenn der Beitrag ursprünglich zu niedrig festgesetzt worden ist. Hat A einen zu niedrigen Beitragsbescheid etwa durch arglistige Täuschung der Gemeindefinanzbehörde erwirkt, so ist die spätere Rücknahme zum Zwecke der Festsetzung des vollen Beitrags nicht durch die Ausschlußfrist aus § 116 Abs. 4 LVwG-SH beschränkt, denn es liegt ein Fall des § 116 Abs. 4 S. 2 i.V.m. Abs. 2 S. 3 Nr. 1 LVwG-SH vor. Statt dessen wird die Rücknahme nach Ablauf von vier Jahren wegen Vollendung der Festsetzungsveijährung gem. § 11 KAG-SH i.V.m. §§ 169 ff. AO ausgeschlossen. Eine ähnliche Rechtslage ergibt sich für das Kommunalabgabenrecht des Landes Nordrhein-Westfalen. In § 12 KAG-NW werden die auf Kommunalabgaben entsprechend anwendbaren Vorschriften der Abgabenordnung abschließend aufgezählt. 148 Nach § 12 Abs. 1 Nr. 3 b KAG-NW sind als Rechtsgrundlage für die Korrektur eines Abgabenbescheides zwar nicht die Regeln über Rücknahme und Widerruf des nordrhein-westfalischen Landesverwaltungsverfahrensgesetzes, dafür aber die Rücknahme- und Widerrufsregeln der §§130, 131 AO heranzuziehen.149 Die §§130 ff. AO sind den §§48 ff. VwVfG nachgebildet und enthalten lediglich einige Vereinfachungen, auf die es an dieser Stelle der Untersuchung nicht ankommt. Die §§ 172 ff. AO über die Aufhebung und Änderung von Steuerbescheiden gelten dagegen nicht für Kommunalabgabenbescheide. Auch in Nordrhein-Westfalen kann die Rücknahme eines kommunalen Abgabenbescheides unabhängig von der Ausschlußfrist in § 130 Abs. 3 AO mit Vollendung der Festsetzungsveijährung nicht mehr erfolgen, denn gem. § 12 Abs. 1 Nr. 4 b) KAG-NW sind die §§ 169 ff. AO auf Kommunalabgaben entsprechend anwendbar. Diese Beispiele zeigen, daß im Kommunalabgabenrecht neben der Ausschlußfrist des § 48 Abs. 4 S. 1 VwVfG auch die Veijährung des festgesetzten öffentlich-rechtlichen Anspruchs einer Rücknahme oder einem Widerruf des Verwaltungsaktes entgegenstehen kann. Dies sollte nicht nur im Kommunalabgabenrecht, sondern auch in anderen Rechtsgebieten gelten, in denen öffentlich-rechtliche Ansprüche der Veijährung unterliegen.150

148

Entsprechende Verweisungen enthalten auch Kommunalabgabengesetze anderer Bundesländer, etwa Art. 13 Abs. 1 Nr. 3 b) KAG-Bay; § 3 Abs. 1 Nr. 3 b) KAGSachsen. 149 Bauernfeind/Zimmermann, Anm. zu § 131 AO S. 449. 150 Vgl. auch Wendt JA 1980, 85 (91).

Α. Allgemeiner Vergleich

95

V. Vergleich bezüglich des Korrekturermessens der Behörde Im öffentlichen Recht räumt der Gesetzgeber der Verwaltung oftmals Ermessen ein, ob und wie eine bestimmte Maßnahme getroffen werden soll (vgl. § 5 AO, § 40 VwVfG). Das liegt daran, daß es bei der Vielgestaltigkeit von Lebenssachverhalten unmöglich ist, für jede Situation eine bestimmte Maßnahme gesetzlich vorzuschreiben. 151 Der Behörde wird dann ein Entscheidungsspielraum eingeräumt, eine im Einzelfall gebotene Maßnahme zu ergreifen. 152 Das Ermessen steht auf der Rechtsfolgenseite einer Norm. 153 Es eröffnet sich der Verwaltung also nur dann, wenn die im Tatbestand genannten Voraussetzungen vorliegen. Ermessen bedeutet aber nicht, daß die Verwaltung in ihrer Entscheidung völlig ungebunden ist. Zum einen muß sie die Grenzen des Ermessens wahren, d.h. sie darf den Rahmen des ihr zustehenden Entscheidungsspielraumes nicht überschreiten. Zum anderen muß sie ihre Entscheidung entsprechend dem Zweck der Ermächtigung unter Abwägung aller betroffenen öffentlichen und privaten Interessen treffen, d.h. sie darf innerhalb des ihr eingeräumten Spielraumes keine willkürlichen Maßnahmen ergreifen. Es soll untersucht werden, inwieweit der Behörde bei Korrekturen nach den §§ 48 ff. VwVfG und den §§ 172 ff. AO Ermessensspielräume zustehen. Dabei ist zwischen Entschließungs- und Auswahlermessen zu unterscheiden. Entschließungsermessen bedeutet, daß die Behörde entscheiden kann, ob sie überhaupt eine Maßnahme ergreifen, den Verwaltungsakt also korrigieren, oder ob sie untätig bleiben, den Verwaltungsakt also in seiner ursprünglichen Form bestehenlassen soll. Das Entschließungsermessen betrifft also die Entscheidung über das „Ob" einer Korrektur. 154 Beim Auswahlermessen geht es dagegen um die Frage, welche von verschiedenen, innerhalb des Entscheidungsspielraumes der Behörde liegenden Maßnahmen getroffen werden soll. 155 Bei einer Korrektur von Verwaltungsakten stellt sich beim Auswahlermessen besonders die Frage, ob die Korrektur ganz oder teilweise156 und ob sie mit Wirkung für die Vergangenheit oder nur für die Zukunft erfolgen soll. 157 Das Auswahlermessen betrifft also die Entscheidung über das „Wie" der behördlichen Maßnahme. 151

Spanner, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler § 5 Rz. 10. BVerfGE 9 137, (147 ff.) zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung von Ermessensspielräumen. 153 Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 40 Rz. 17. 154 Knoke S. 121 ff. 155 Knoke S. 138 f. ]5 6 Knoke S. 139 f. 157 KnokeS. 140 ff 152

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4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

1. Unterschiede und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung beim Entschließungsermessen a) Unterschiede Nach den für das allgemeine Verwaltungsrecht maßgebenden Korrekturvorschriften der §§ 48, 49 VwVfG wird der Verwaltungsbehörde stets Entschließungsermessen eingeräumt. Die Behörde kann sich bei Vorliegen sowohl der Rücknahme- als auch der Widerrufsvoraussetzungen entscheiden, ob sie die Korrektur ausspricht oder den ursprünglichen Verwaltungsakt fortbestehen läßt. Der Gesetzgeber mußte der Verwaltung diesen Spielraum gewähren, da die §§ 48, 49 VwVfG als allgemeine Regeln den Bedürfnissen vieler besonderer Verwaltungsrechtsgebiete gerecht werden müssen. Es ist deshalb nicht vorhersehbar, wann die Rücknahme eines rechtswidrigen belastenden Verwaltungsaktes zwingend geboten ist oder wann im Einzelfall das Interesse an Rechtssicherheit den Fortbestand des Verwaltungsaktes trotz seiner Rechtswidrigkeit gebietet.158 Allerdings stehen auch nicht alle Korrekturentscheidungen im Ermessen der Verwaltungsbehörde. Bei Korrekturen in den Fällen des § 51 VwVfG ist die Behörde zunächst zum Wiederaufgreifen des Verfahrens verpflichtet. Als Folge des Wiederaufgreifens ist sie dann auch zu einer korrigierenden Sachentscheidung verpflichtet, sofern das jeweilige materielle Sonderrecht bindend ist. 159 Die §§ 172 ff. AO räumen der Finanzverwaltung nur in einzelnen Vorschriften Entschließungsermessen ein (§ 172 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 164 Abs. 2, § 172 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 165 Abs. 2 S. 1 AO sowie §§ 172 Abs. I 1 6 0 , 174

158

Vgl. Begr. zu § 44 VwVfG des RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 69 f. Danach hält der Verzicht auf den Rücknahmezwang im Verwaltungsverfahrensgesetz die Verwaltung „in dem erforderlichen Maße elastisch". 159 Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 51 Rz. 25. 160 Ermessen bei § 172 Abs. 1 jedenfalls nach überwiegender Ansicht: BFH BStBl. Π 1991, 496 (497); ν. Wedelstädt, in: Beermann § 172 Rz. 52; Frotscher, in: Schwarz § 172 Anm. 10; Szymczak, in: Koch/Scholtz § 172 Rz. 26/1; Mihatsch StBp 1988, 149 (150); krit. aber zust.: Tipke/Kruse § 172 Rz. 7; grds. Ermessen, bei § 172 Abs. 1 Nr. 2 a) allerdings Sollvorschrift: Schick StuW 1992, 197 (219); a.A.: Heinke DStZ 1986, 187 (190); Unvericht DStR 1987, 279 (282): § 172 Abs. 1 Nr. 2 a) begründet Korrekturpflicht.

Α. Allgemeiner Vergleich

97

Abs. 3 1 6 1 und 4 AO). Die übrigen Korrekturregeln enthalten eine bindende Rechtsfolge, d.h., sie schreiben bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen das „Ob" der Korrektur zwingend vor (§ 172 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 165 Abs. 2 S. 2 AO sowie §§ 173 Abs. 1 und 2, 174 Abs. 1 und 2, 175 Abs. 1 S. 1, 177 Abs. 1 und 2 AO). Im Korrektursystem der Abgabenordnung hat der Gesetzgeber also für einige Tatbestände die Entscheidung über das „Ob" der Korrektur selbst getroffen. Anders als nach den §§ 48, 49 VwVfG muß die Finanzverwaltung in diesen Fällen den Verwaltungsakt korrigieren. Für einige andere Tatbestände hat der Gesetzgeber dagegen, wie in den Regeln des allgemeinen Verwaltungsrechts, der Finanzbehörde Entschließungsermessen eingeräumt.

b) Möglichkeiten zur Vereinheitlichung Wollte man eine Vereinheitlichung der beiden Korrektursysteme bezüglich des Entschließungsermessens erreichen, so wäre es kaum möglich, die Rücknahme- und Widerrufsregeln des allgemeinen Verwaltungsrechts an die §§ 172 ff. AO anzupassen. Eine solche Anpassung würde nämlich bedeuten, daß man im allgemeinen Verwaltungsrecht in Fällen, die mit den bindenden Korrekturtatbeständen der Abgabenordnung vergleichbar sind, eine Korrektur zwingend vorschreibt. Das ist aber aus zwei Gründen unzweckmäßig. Zum einen sind die Tatbestandsvoraussetzungen der Abgabenordnung nur auf steuerrechtliche Bedürfnisse zugeschnitten. Es lassen sich deshalb für das Verwaltungsrecht kaum Fälle bilden, die mit den in den steuerrechtlichen Tatbeständen beschriebenen Situationen vergleichbar wären. § 173 Abs. 2 AO etwa knüpft an eine Außenprüfüng an. Dies wäre auf das Verwaltungsrecht nicht übertragbar, da es hier kein mit einer steuerrechtlichen Außenprüfüng vergleichbares Institut gibt. Zum anderen ist es bei der Vielschichtigkeit der im Verwaltungsrecht denkbaren Korrektursituationen nicht sinnvoll, bindende Rechtsfolgen in allgemeinen Korrekturregeln zu normieren, da der Verwaltung sonst die nötige Flexibilität im Einzelfall genommen wäre. 162

161

Bei § 174 Abs. 3 wird allerdings vom BFH und einem Teil der Lit. stets eine Ermessensreduzierung auf Null angenommen: BFH BStBl. Π 1986, 241 (243); 1990, 458; Szymczak, in: Koch/Scholtz § 174 Rz. 15/1; Kühn/Hofmann § 174 Anm. 4; Klein/Orlopp § 174 Anm. 8; Brüning S. 70 f.; ähnlich Frotscher, in: Schwarz § 174 Rz. 59: in der Regel Ermessensreduzierung; a.A.: Tipke/Kruse § 174 Rz. 13; v. Wallis, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler § 174 Rz. 16 ff.; Woerner/Grube S. 113. 162 7 Arndt

Vgl. Begr. zu § 44 VwVfG des RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 69 f.

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

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Es käme als Vereinheitlichung daher nur in Betracht, das Steuerrecht dem allgemeinen Verwaltungsrecht anzunähern. Man könnte daran denken, der Steuerbehörde in den §§ 172 ff. AO grundsätzlich Ermessen einzuräumen, ob der Steuerbescheid korrigiert werden soll. Hiervon sollten nur die Fälle ausgenommen sein, die den Wiederaufhahmegründen des § 51 VwVfG entsprechen. Der Steuerpflichtige müßte also weiterhin etwa einen Anspruch auf Korrektur zu seinen Gunsten im Fall des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO haben. Diese Vorschrift korrespondiert mit der Wertung des § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG. In beiden Fällen erweist sich der Verwaltungsakt nachträglich wegen eines Fehlers im Tatsachenbereich als rechtswidrig. Im übrigen könnte man erwägen, aus den §§ 172 ff. Ermessensvorschriften zu machen. aa) Gegen eine solche Änderung der steuerrechtlichen Regeln könnte allerdings sprechen, daß der Gesetzgeber dann eine bislang selbst getroffene Entscheidung aus der Hand geben und der Verwaltung überlassen würde. Vor dem Hintergrund des Demokratieprinzips ist es aber erstrebenswert, daß der Gesetzgeber das Verwaltungshandeln weitgehend selbst vorschreibt und in seinen gesetzlichen Regelungen keine unnötigen Entscheidungsspielräume beläßt.163 Unter diesem Aspekt wäre es nicht zu empfehlen, die §§ 172 ff. AO an die §§ 48 VwVfG anzupassen. bb) Allerdings lassen sich diese Bedenken zum Teil entkräften. Eröffnet eine Korrekturermächtigung auf ihrer Rechtsfolgenseite Ermessen, so ist die Behörde bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen immerhin verpflichtet, eine Entscheidung über das „Ob" der Korrektur zu treffen. Dabei hat sie pflichtgemäß, d.h. dem Zweck der Ermächtigung entsprechend zu entscheiden (vgl. § 40 VwVfG). Die Behörde dürfte also nicht willkürlich von ihrer Ermächtigung keinen Gebrauch machen. Es besteht daher nicht die Gefahr, daß die Behörde in ihr Ermessen gestellte Korrekturmöglichkeiten in unangemessenem Maße ausläßt. cc) In der steuerrechtlichen Literatur werden die überwiegend gebundenen Rechtsfolgen in den §§ 172 ff. AO für erforderlich gehalten, weil auch die ursprüngliche Steuerfestsetzung keine Ermessensentscheidung sei. 164 Die Verwaltung sei verpflichtet, den Steueranspruch des Staates auszuschöpfen und den Steuerbetrag gegenüber jedem Steuerschuldner in der gesetzlich vorgeschriebenen Höhe im Steuerbescheid festzusetzen. Mithin dürfe sie auch bei der Korrektur von Steuerbescheiden keine Ermessensspielräume haben.165 Aus verwaltungsrechtlicher Sicht ist diese Betrachtungsweise nicht zwingend. In 163

Vgl. Knoke S. 125 ff., mit Kritik an der pauschalen Ermessensermächtigung des § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG. 164 Lauer S.21. 165 Lauer S. 21.

Α. Allgemeiner Vergleich

99

manchen verwaltungsrechtlichen Rechtsgebieten ist die Behörde beim Erlaß von Verwaltungsakten ebenfalls gebunden. Stellt der Bürger etwa einen Bauantrag, und verstößt sein Vorhaben nicht gegen öffentlich-rechtliche Vorschriften, so ist die Behörde zur Erteilung der Baugenehmigung verpflichtet (§ 78 Abs. 1 S. 1 SH-LBauO166). Das kann aber nicht dazu fuhren, daß im Falle der Rechts- oder Teilrechtswidrigkeit auch die Korrektur dieser Baugenehmigung zwingend wäre. Es besteht eben ein Unterschied zwischen dem erstmaligen Erlaß eines Bescheides und dessen späterer Korrektur. Nur weil der ursprüngliche Bescheid zwingend ist, muß das nicht für dessen Korrektur gelten. Sonst könnte sich der Bürger auf den Fortbestand eines Verwaltungsaktes, der im Ermessen der Behörde steht, weniger verlassen als auf den Fortbestand eines Verwaltungsaktes, bei dessen Erlaß die Behörde gebunden war. dd) Letztlich ist zweifelhaft, ob die vom Gesetzgeber in den §§ 172 ff. AO getroffene Unterscheidung zwischen gebundenen Rechtsfolgen und Ermessensregelungen zwingend ist. Ein Vergleich der verschiedenen Normen läßt keine durchgehend verwendeten Abgrenzungskriterien erkennen, nach denen der Gesetzgeber zwischen Ermessens- und Pflichtkorrektur unterschieden hätte.167 So ist z.B. nicht einsichtig, warum er in Fällen der unzulässigen Mehrfachberücksichtigung eines Sachverhaltes zugunsten oder zuungunsten des Steuerpflichtigen die Korrektur gem. § 174 Abs. 1 und 2 AO zwingend vorschreibt, während er der Finanzbehörde in Fällen der fälschlichen Nichtberücksichtigung eines Sachverhaltes gem. § 174 Abs. 3 AO Entschließungsermessen einräumt. 168 ee) Nach alledem erscheint es grundsätzlich möglich, der Finanzbehörde im stärkeren Umfang als bisher ein Entschließungsermessen einzuräumen und das steuerrechtliche Korrektursystem auf diese Weise den allgemeinen verwaltungsrechtlichen Regeln anzunähern. Es wird auf die Unterschiede beim Entschließungsermessen und auf konkretere Möglichkeiten zur Vereinheitlichung noch beim Vergleich der einzelnen Korrekturtatbestände eingegangen werden.169

166

In der Bekanntmachung der Neufassung vom 11. Juli 1994, SH-GVOB1. S. 321. Begr. zum RegE, BT-Drucks. 6/1982 gibt hierüber keinen Aufschluß. 168 N.A.v. BFH BStBl. Π 1986, 241 (243); 1990, 458; Szymczak, in: Koch/Scholtz § 174 Rz. 15/1; Kühn/Hofinann § 174 Anm. 4; Klein/Orlopp § 174 Anm. 8; Brüning S. 70 f. enthält § 174 Abs. 3 AO entgegen dem Wortlaut bindende Rechtsfolge. 169 S. u. Β. I. e); Β. m.; Β. V. 2. a); Β. V. 2. c) aa); Β. V. 2. c) bb) (2); Β. V. d) bb) (1); Β. V. d) bb) (2). 167

100

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

2. Unterschiede und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung beim Auswahlermessen Entscheidet sich die Behörde im Rahmen ihres Entschließungsermessens dazu, tätig zu werden, so kommen oft mehrere unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten in Betracht. Die Behörde hat in diesen Fällen Auswahlermessen und muß sich entscheiden, welche Maßnahme sie ergreift. Dabei hat sie insbesondere das sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebende Gebot der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen.170 Die ausgewählte Maßnahme muß geeignet sein, das mit ihr verfolgte Ziel zumindest zu fördern, wobei von mehreren gleich geeigneten Maßnahmen die mildeste ausgewählt werden muß.171 Zudem darf kein Mißverhältnis zwischen der Beeinträchtigung des einzelnen und dem öffentlichen Interesse an der behördlichen Entscheidung bestehen.172 Bei der Korrektur von Verwaltungsakten ist ein Auswahlermessen der Behörde in zweierlei Hinsicht denkbar. Zum einen kann es ihr zustehen, die zeitliche Wirkung der Korrektur zu bestimmen, die Korrektur also entweder mit Wirkung für die Vergangenheit oder die Zukunft auszusprechen. Zum anderen kann sich der Behörde die Möglichkeit bieten, den Verwaltungsakt ganz oder teilweise zu korrigieren. Es sollen die Unterschiede und Vereinheitlichungsmöglichkeiten der beiden Korrektursysteme bezüglich dieser beiden Komponenten des Auswahlermessens untersucht werden.

a) Auswahlermessen bezüglich der zeitlichen Wirkung der Korrektur aa) Gestaltungsmöglichkeiten der Behörde bei der zeitlichen Wirkung von Korrekturen nach allgemeinem Verwaltungsrecht Im allgemeinen Verwaltungsrecht ist die Rücknahme eines Verwaltungsaktes mit Wirkung für die Vergangenheit und für die Zukunft möglich. § 48 VwVfG stellt es in das Auswahlermessen der Behörde, welche zeitliche Wirkung sie dem Rücknahmebescheid beimißt.173 Erfolgt die Rücknahme mit 170

Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 40 Rz. 48; vgl. auch § 73 Abs. 2 und 3 LVwG-

SH. 171

Vgl. § 73 Abs. 3 LVwG-SH. Vgl. § 73 Abs. 2 LVwG-SH. 173 Knoke S. 140 ff.; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 68 ff; Becker DÖV 1973, 379 (384 ff.); Obermayer § 48 Rz. 26 ff\\Meyer, in: Meyer/Borgs § 48 Rz. 31 ff.; Wolff/Bachofl Stober § 51 Rz. 101 ff.; Klappstein, in: Knack § 48 Rz. 5.7.2.; zu § 130 AO: Tipke/Kruse § 130 Rz. 11. 172

Α. Allgemeiner Vergleich

101

Wirkung für die Vergangenheit, so ist die Rechtslage fortan so zu beurteilen, als habe der ursprüngliche Verwaltungsakt nie existiert 174 oder - sofern es sich um eine teilweise Rücknahme handelt - als wäre der ursprüngliche Verwaltungsakt von Anfang an in der korrigierten Form ergangen. Erfolgt die Rücknahme dagegen mit Wirkung nur für die Zukunft, so ist dies für die Rechtslage während der Vergangenheit ohne Bedeutung. Nur künftig kann der ursprüngliche Verwaltungsakt keine Wirkungen mehr entfalten. 175 Eine Korrektur mit Wirkung für die Zukunft ist deshalb auch nur dann denkbar, wenn dem ursprünglichen Verwaltungsakt eine Dauerwirkung zukommt, wenn er sich also nicht in einer einmaligen Gestaltung der Rechtslage erschöpft, sondern fortdauernd neue, aktuelle Rechtsfolgen schafft. 176 Ansonsten würde eine Rücknahme mit Wirkung nur für die Zukunft ins Leere gehen, denn die Wirkung eines Verwaltungsaktes ohne Dauerwirkung hat sich stets in der Vergangenheit erledigt. 177 Die Behörde ist bei einer Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit aber nicht darauf beschränkt, an den Zeitpunkt anzuknüpfen, in dem der ursprüngliche Verwaltungsakt erlassen wurde. Sie kann auch eine Rückwirkung auf einen anderen Zeitpunkt bestimmen, der zwischen dem Erlaß des ursprünglichen Verwaltungsaktes und der Rücknahmeentscheidung liegt. 178 Ebenso muß eine Wirkung für die Zukunft nicht sofort mit Bekanntgabe des Rücknahmebescheides einsetzen, sondern kann zu einem im Rücknahmebescheid bestimmten späteren Zeitpunkt beginnen.179 Hierbei fallen die sogenannte äußere und innere Wirksamkeit des Rücknahmebescheides auseinander. 180 Mit seiner Bekanntgabe erlangt der Rücknahmebescheid gem. § 43 Abs. 1 S. 1 VwVfG äußere Wirksamkeit mit der Folge, daß er etwa schon angefochten werden kann. Erst mit Eintritt des in ihm bestimmten Termins entfaltet er dagegen auch innere Wirksamkeit, so daß nun auch die materielle Rechtswirkung der Rücknahme einsetzt.181 Das Auswahlermessen der Verwaltungsbehörde wird vom Gesetzgeber allerdings in Fällen eingeengt, in denen es vorhersehbar ist, daß das Vertrauen 174

Obermayer § 48 Rz. 31. Obermayer § 48 Rz. 27. 176 Knoke S. 141 f.; Maurer § 11 Rz. 14; Bode S. 162 f.; Ossenbühl S. 120 f.; ähnlich Obermayer § 48 Rz. 29; zu § 130 AO: Tipke/Kruse § 130 Rz. 11; Kinzel S. 136 a.E. 177 Vgl. ähnliche Begründungen bei Bode S. 162 f.; Ossenbühl S. 120 f.; Knoke S. 141 f. 178 Achterberg § 23 Rz. 67; Knoke S. 141; Meyer, in: Meyer/Borgs § 48 Rz. 32. 179 Achterberg § 23 Rz. 67; Knoke S. 141 \ Meyer, in: Meyer/Borgs § 48 Rz. 31. 180 Eingehend Seibert S. 206 ff. 181 Vgl. auch Meyer, in: Meyer/Borgs § 48 Rz. 31. 175

102

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

des Bürgers am Fortbestand der behördlichen Entscheidung gegenüber dem Interesse an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns zurücktreten muß. Nach § 48 Abs. 2 S. 4 VwVfG soll deshalb die Rücknahme in Fällen des Satzes 3 Nr. 1 bis 3 in der Regel mit Wirkung für die Vergangenheit erfolgen. Die in § 48 Abs. 2 S. 3 VwVfG genannten Situationen lassen vermuten, daß es an einer Schutzwürdigkeit des Vertrauens beim Bürger fehlt und damit eine Korrektur für die Vergangenheit regelmäßig angemessen sein wird. Es besteht dann kein Grund, der Behörde ein Auswahlermessen für die zeitliche Korrekturwirkung zu belassen. Während § 48 VwVfG die Behörde bei der Rücknahme grundsätzlich zu ex tunc als auch ex nunc wirkenden Korrekturen ermächtigt, erlauben § 49 Abs. 1 und 2 VwVfG nur Korrekturen mit Wirkung für die Zukunft. 182 Für den Vergleich mit dem Steuerrecht wird es aber weniger auf die Situation beim Widerruf ankommen. Ein Widerruf ist nur bei Verwaltungsakten möglich, die rechtmäßig ergangen und nicht nachträglich ex tunc rechtswidrig geworden sind.183 Die steuerrechtlichen Korrekturregeln erfassen dagegen nur Verwaltungsakte, die von Anfang an rechtswidrig ergangen oder nachträglich ex tunc rechtswidrig geworden sind. 184 Es wird deshalb im folgenden vor allem die Situation bei der Rücknahme nach § 48 VwVfG zu berücksichtigen sein.

bb) Gestaltungsmöglichkeiten der Behörde bei der zeitlichen Wirkung von Korrekturen im Steuerrecht Die Korrekturvorschriften der Abgabenordnung ermächtigen zu Aufhebungen und Änderungen von Steuerbescheiden, ohne dabei die zeitliche Wirkung der Korrektur ausdrücklich zu erwähnen. In der steuerrechtlichen Literatur und Rechtsprechung werden die §§ 172 ff. AO aber widerspruchslos so verstanden, daß die Korrektur nur mit Rückwirkung auf den Zeitpunkt des ursprünglichen Bescheides, nicht aber mit Wirkung nur für die Zukunft möglich ist. 185 Diese zeitliche Wirkungsweise der §§ 172 ff. AO wird dabei offenbar als 182

Krit. Frohn Jura 1993, 393 (397). S.o. ΙΠ. 2. a). 184 S.o. ΙΠ. 2. a). 185 Zu § 222 RAO: BFH BStBl. Π 1975, 678; Becker!Riewald/Koch Vor § 222 Abs. 2 und 3; zu § 172 fT. AO: Falterbaum!Barthel 8.4.16; Gürsching!Stenger § 22 Rz. 34; Hofmann, DStR 1990, 331 (332) unter Ziff. 3. a.E.; Moench, in: Moench/Glier/Kobel/ Viskorf § 22 Rz. 3 und Rz. 22; Schick StuW 1992, 197 (220, 221, 223); Rössler/Troll § 22 Rz. 11 und § 19 Rz. 103; vgl. auch Martens Rz. 479. 183

Α. Allgemeiner Vergleich

103

so selbstverständlich angesehen, daß sie kaum näher begründet wird. 186 Es soll daher untersucht werden, ob diese übliche Betrachtungsweise zutreffend ist oder ob nach den §§ 172 ff. AO - ähnlich wie nach den §§ 48, 49 VwVfG auch Korrekturen mit Wirkung nur für die Zukunft möglich sind: Wie oben schon dargelegt wurde, wird der Finanzbehörde nach der Mehrzahl der in den §§ 172 ff. AO genannten Korrekturregeln kein Ermessen eingeräumt, ob und in welchem Umfang sie korrigieren soll, sondern die Korrektur wird zwingend vorgeschrieben (§ 172 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 165 Abs. 2 S. 2 AO sowie §§ 173 Abs. 1, 174 Abs. 1 und 2, 175 Abs. 1 S. 1, 177 Abs. 1 und 2 AO). Wenn das Gesetz in diesen Fällen keine Aussage über die zeitliche Wirkung der vorgeschriebenen Korrektur macht, muß davon ausgegangen werden, daß damit eine umfassende Richtigstellung des ursprünglichen Bescheides gemeint ist. Das heißt, daß der ursprüngliche Bescheid nicht etwa für die Vergangenheit in seiner Fehlerhaftigkeit fortbestehen, sondern rückwirkend auf den Zeitpunkt seines Erlasses korrigiert werden muß. Insoweit ist der allgemein üblichen Betrachtungsweise zuzustimmen, daß Korrekturen nach den §§ 172 ff. AO nur mit Wirkung für die Vergangenheit erfolgen können. Dieser Betrachtungsweise kann aber nicht ohne weiteres gefolgt werden, wenn die Finanzbehörde bei einer Korrektur Entschließungsermessen hat. Entschließungsermessen hat die Finanzbehörde in Fällen des § 172 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 164 Abs. 2, § 172 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 165 Abs. 2 S. 1 AO sowie der §§ 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und 2, 174 Abs. 3 1 8 7 und 4 AO. Es ist dem Wortlaut dieser Vorschriften zwar nicht ausdrücklich zu entnehmen, daß ein Auswahlermessen bezüglich der zeitlichen Korrekturwirkung besteht. Sicher ist nur, daß die Behörde in den genannten Fällen Entschließungsermessen hat. Wenn sie aber Entschließungsermessen hat, eine Korrektur vorzunehmen oder ganz zu unterlassen, dann muß es ihr im Rahmen dieses Entscheidungsspielraumes auch erlaubt sein, die Korrektur zwar auszusprechen, dies aber nur mit Wirkung für die Zukunft anzuordnen. Es kann der Auffassung daher nicht gefolgt werden, Korrekturen nach den §§ 172 ff. AO seien nur mit Wirkung für die Vergangenheit möglich. Soweit die §§ 172 ff AO der Finanzbehörde Entschließungsermessen einräumen, muß nach diesen Vorschriften auch eine Korrektur mit Wirkung nur für die Zukunft möglich sein. Allerdings kommt

186

In Ansätzen Martens Rz. 479. Bei § 174 Abs. 3 wird allerdings vom BFH und einem Teil der Lit. stets eine Ermessensreduzierung auf Null angenommen: BFH BStBl. Π 1986, 241 (243); 1990, 458; Szymczak, in: Koch/Scholtz § 174 Rz. 15/1; Kühn/Hofmann § 174 Anm. 4; Klein/Orlopp § 174 Anm. 8; Brüning S. 70 f.; in der Regel Ermessensreduzierung: Frotscher, in: Schwarz § 174 Rz. 59; a.A.: Tipke/Kruse § 174 Rz. 13; v. Wallis, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler § 174 Rz. 16 ff ; Woerner/Grube S. 113. 187

104

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

eine Korrektur mit Wirkung für die Zukunft nur bei Verwaltungsakten mit Dauerwirkung in Betracht. Bei einem Verwaltungsakt ohne Dauerwirkung würde eine Korrektur mit Wirkung für die Zukunft ins Leere gehen, denn hier hat sich die Wirkung des Verwaltungsaktes in der Vergangenheit bereits erledigt. Wie bereits gezeigt wurde, handelt es sich bei den meisten der vom Anwendungsbereich der §§ 172 ff. AO erfaßten Bescheide um Verwaltungsakte ohne Dauerwirkung. 188 In den überwiegenden Korrekturfallen ist also ohnehin nur eine Rückwirkung auf den Zeitpunkt möglich, in dem der ursprüngliche Bescheid erlassen wurde. Anders ist es aber, wenn etwa die Festsetzung eines nach dem Bewertungsgesetz festgestellten Einheitswertes korrigiert werden soll. Bei der Feststellung des Einheitswertes gem. § 21 BewG sowie bei einer Fortschreibung gem. § 22 BewG oder Nachfeststellung gem. § 23 BewG handelt es sich um Verwaltungsakte mit Dauerwirkung, weil sie für eine Mehrzahl späterer Steuer- oder Steuermeßbetragsfestsetzungen die verbindliche Bemessungsgrundlage bilden.189 Bei derartigen Bescheiden kommt auch eine Korrektur mit Wirkung nur für die Zukunft in Betracht. Diese ist auch nach gegenwärtiger Rechtslage gem. §§ 172 ff. AO schon möglich, sofern sich die Behörde bei der Korrektur auf eine Ermessensnorm stützt. Nach hier vertretener Ansicht wäre es sogar ermessensfehlerhaft, wenn die Finanzbehörde bei ihrer Korrekturentscheidung etwa nach § 174 Abs. 3 1 9 0 oder Abs. 4 AO die Möglichkeit einer nur ex nunc wirkenden Änderung des Verwaltungsaktes nicht in Betracht zieht. Nach § 5 AO ist sie unter anderem verpflichtet, ihr Ermessen vollständig auszuüben, d.h. bei ihrer Entscheidung alle Alternativen innerhalb des ihr zustehenden Spielraumes zu berücksichtigen. Die dabei denkbaren zeitlichen Gestaltungsmöglichkeiten lassen sich an folgendem Beispiel verdeutlichen: Im Wege der Hauptfeststellung ist der Einheitswert des Gewerbebetriebes A auf 500.000 DM bestandskräftig festgestellt worden. Dabei wurde der Wert eines Betriebsgrundstücks (100.000 DM) nicht berücksichtigt. Die Behörde begründet dies damit, das Grundstück sei dem Betrieb Β zuzurechnen. Bei der

188

S.o. m. 2. b). Rössler/Troll § 22 Rz. 44; vgl. auch die graphische Darstellung bei Bereswill/Wittenmayer Rz. 81; eingehender auch oben ΙΠ. 2. 190 N.A.V. BFH BStBl. Π 1986, 241 (243); 1990, 458; Szymczak, in: Koch/Scholtz § 174 Rz. 15/1; Kühn/Hofinann § 174 Anm. 4; Klein/Orlopp § 174 Anm. 8; Brüning S. 70 f. enthält § 174 Abs. 3 AO entgegen dem Wortlaut bindende Rechtsfolge; a.A.: Tipke/Kruse § 174 Rz. 13; v. Wallis, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler § 174 Rz. 16 ff; Woerner/Grube S. 113. 189

Α. Allgemeiner Vergleich

105

Vermögensteuer 191 wurde der zu niedrige Einheitswert übernommen. Bei Bewertung des Betriebes Β wird der Fehler bemerkt, mit der Folge, daß das Grundstück auch hier nicht berücksichtigt wird. Die Behörde will nun den Einheitswertbescheid für den Betrieb A gem. § 174 Abs. 3 AO korrigieren. Außerdem will sie für dasselbe Jahr noch einen Gewerbesteuermeßbescheid gem. § 14 GewStG auf der Grundlage des Einheitswertes festsetzen. Korrekturen von Einheitswertbescheiden nach den §§ 172 ff. AO erfolgen bislang ganz selbstverständlich nur mit voller Rückwirkung, also mit Wirkung auf den Zeitpunkt des ursprünglichen Bescheides, und zwar auch dann, wenn die Finanzbehörde sich auf Korrekturtatbestände stützt, die ihr Ermessen einräumen. 192 Im Beispielsfall hätte eine rückwirkende Korrektur des Bewertungsbescheides zur Folge, daß auch der Vermögensteuerbescheid gem. § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO korrigiert werden müßte. Auch für den noch zu erlassenden Gewerbesteuermeßbescheid wäre der neue, korrigierte Einheitswert maßgebend. Eine solche Entscheidung ist nach hier vertretener Auffassung aber nicht zwingend. Denkbar wäre es auch, den Einheitswertbescheid nach § 174 Abs. 3 AO nur mit Wirkung für die Zukunft zu korrigieren. Die Folge wäre, daß der Vermögensteuerbescheid rechtmäßig bliebe und nicht geändert werden müßte. Erst bei dem noch zu erlassenden Gewerbesteuermeßbescheid wäre die Korrektur des Einheitswertes zu berücksichtigen. Hätte die Behörde dagegen auf der Grundlage des ursprünglich zu niedrigen Einheitswertes neben dem Vermögensteuerbescheid auch schon den Gewerbesteuermeßbescheid erlassen, so könnte man daran denken, die Korrektur des Einheitswertbescheides mit Rückwirkung auf einen Zeitpunkt zwischen dem Erlaß des Vermögensteuerund des Gewerbesteuermeßbescheides vorzunehmen. Die Folge wäre, daß durch diese Korrektur nur der Gewerbesteuermeßbescheid rechtswidrig würde und seinerseits gem. § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO korrigiert werden müßte. Der Vermögensteuerbescheid bliebe dagegen in seiner Rechtmäßigkeit unberührt. Die Behörde sollte immer dann von einer vollständig rückwirkenden Korrektur absehen, wenn der Fehler beim Grundlagenbescheid und die damit verbundenen Fehler der Folgebescheide allein in ihren Verantwortungsbereich fallen, und der Steuerpflichtige diesen Fehler nicht ohne weiteres erkennen mußte.193 Umgekehrt sollte die Korrektur insoweit Rückwirkung aufweisen, wie das 191

BVerfG NJW 1995, 2615 (2620): Vermögensteuergesetz darf seit 1.1.1997 nicht mehr angewendet werden; Korrekturen älterer Vermögensteuerbescheide sind gleichwohl noch denkbar. 192 Vgl. etwa FalterbaumIBarthel 8.4.16. S. 215 oder Moench, in: Moench/Glier/Kobel/Viskorf § 19 Rz. 38. 193 Zum Verschulden der Rechtswidrigkeit als Ermessensdeterminante Mihatsch, StBp 1988, 149 (150); Tipke/Kruse § 172 Rz. 2; abl. v. Wedelstädt, in: Beermann § 172 Rz. 52.

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4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

Interesse an der Herstellung rechtmäßiger Verhältnisse das Vertrauensinteresse des Steuerpflichtigen übersteigt.

cc) Vergleichsergebnis

zu a)

Hat die Finanzbehörde bei der Korrektur eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung nach den §§ 172 ff AO Entschließungsermessen, so muß ihr auch Auswahlermessen zuerkannt werden, ob die Korrektur mit Wirkung für die Vergangenheit oder für die Zukunft erfolgen soll. 194 Die Finanzbehörde hat in diesen Fällen dieselben zeitlichen Gestaltungsmöglichkeiten wie die Verwaltungsbehörde bei einer Rücknahme gem. § 48 VwVfG, denn auch bei der Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes gem. § 48 VwVfG kann die Korrektur mit Wirkung für die Vergangenheit oder für die Zukunft erfolgen. Es besteht insoweit kein Unterschied zwischen Steuerrecht und allgemeinem Verwaltungsrecht. Hat die Finanzbehörde bei der Korrektur eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes nach den §§ 172 ff AO kein Ermessen, so muß die Korrektur stets mit Wirkung für die Vergangenheit erfolgen. In diesen Fällen hat die Finanzbehörde also nicht dieselbe zeitliche Gestaltungsmöglichkeit wie die Verwaltungsbehörde bei einer Rücknahme nach § 48 VwVfG.

dd) Möglichkeiten zur Vereinheitlichung Fraglich ist, ob sich bezüglich der unterschiedlichen zeitlichen Gestaltungsspielräume der Behörde eine Vereinheitlichung beider Regelungssysteme empfiehlt. Es kommt dabei in Betracht, der Finanzbehörde ein Auswahlermessen bezüglich der zeitlichen Korrekturwirkung auch in den Fällen einzuräumen, die gegenwärtig eine Korrektur zwingend mit Wirkung für die Vergangenheit vorschreiben. Wollte man dem zuvor 195 gemachten Vereinheitlichungsvorschlag folgen, und der Finanzbehörde nach allen Korrekturtatbeständen Entschließungsermessen einräumen, wäre nach hier vertretener Auffassung automatisch auch ein Auswahlermessen bezüglich der zeitlichen Wirkung anzunehmen, so daß die zeitlichen Gestaltungsmöglichkeiten bei einer Korrektur nach allgemeinem Verwaltungsrecht und Steuerrecht identisch wären. Für die Vorhersehbarkeit des finanzbehördlichen Verwaltungshandelns wäre dies kein großer Einschnitt. Die meisten der von den §§ 172 ff. AO er194 195

S.o. bb). S.o. unter 1. b).

Α. Allgemeiner Vergleich

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faßten Bescheide sind keine Verwaltungsakte mit Dauerwirkung, so daß ohnehin nur Korrekturen mit Wirkung für die Vergangenheit in Betracht kommen. Zum anderen kann die Finanzbehörde schon nach gegenwärtiger Rechtslage bei einem Teil der in den §§ 172 ff. AO genannten Tatbestände die zeitliche Wirkung von Korrekturen selbst bestimmen, nämlich dann, wenn sie bei der Korrektur Ermessen hat. Mehr Entscheidungsspielraum für die Behörde würde sich also nur bei den Korrekturregeln mit bisher gebundener Rechtsfolge ergeben, sofern der zu korrigierenden Bescheid ausnahmsweise ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung wäre. Dies hätte gleichzeitig den Vorteil, daß die Finanzverwaltung die Besonderheiten des Einzelfalles besser berücksichtigen könnte, denn es wäre ihr möglich, einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung auch nur mit Wirkung für die Zukunft zu korrigieren. Wie unbefriedigend die unterschiedliche zeitliche Wirkung von Korrekturen nach allgemeinem Verwaltungsrecht und Steuerrecht ist, zeigt sich auch, wenn ein sogenannter außersteuerlicher Verwaltungsakt als Grundlagenbescheid im Sinne von §§ 175 Abs. 1 Nr. 1, 171 Abs. 10 AO dient, wenn also ein Verwaltungsakt, der nicht dem Steuerrecht zuzurechnen ist, Bindungswirkung für den Erlaß von Steuerbescheiden entfaltet. Bei dem Anerkennungsbescheid nach §§ 92a, 82 II. WoBauG handelt es sich um einen Verwaltungsakt, der für den Grundsteuermeßbescheid nach §§ 16 ff. GrundStG Bindungswirkung entfaltet. 196 Auf die Korrektur eines rechtswidrig erteilten Anerkennungsbescheides nach §§ 92a, 82 II. WoBauG sind gem. § 1 Abs. 1 AO nicht die Vorschriften der Abgabenordnung, sondern gem. § 1 Abs. 3 VwVfG i.V.m. den jeweiligen Landesverwaltungsgesetzen die Regeln des allgemeinen Verwaltungsrechts anwendbar. Es wäre der Verwaltungsbehörde deshalb gem. § 48 VwVfG möglich, den Anerkennungsbescheid nur mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Sie wird dies tun, wenn der Betroffene für die Vergangenheit ein schutzwürdiges Vertrauen auf den Fortbestand des Anerkennungsbescheides hat (§ 48 Abs. 2 S. 1 VwVfG). Dieses Vertrauen würde die Verwaltungsbehörde bei der zeitlichen Wirkung einer Korrektur des Anerkennungsbescheides berücksichtigen. Entschließt sie sich dazu, die Rücknahme nur mit Wirkung für die Zukunft auszusprechen, würden die in der Vergangenheit liegenden, günstigen Grundsteuermeßbescheide sowie die auf ihrer Grundlage ergangenen Grundsteuerbescheide, rechtmäßig bleiben und nicht gem. § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO zuungunsten des Steuerpflichtigen geändert werden. Handelt es sich bei dem fehlerhaften Grundlagenbescheid dagegen um einen zu niedrigen Bewertungsbescheid, richtet sich dessen Korrektur nach den §§ 172 ff AO. Die Behörde ist dann nach den meisten Tatbeständen ge-

196

BFH BStBl. Π 1980, 682, noch auf Grundlage des gestrichenen § 92 Π. WoBauG.

108

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

zwungen, die Korrektur mit Wirkung für die Vergangenheit auszusprechen. Eine Korrektur nur mit Wirkung für die Zukunft käme dagegen nicht in Betracht. Dann müßten aber auch die in der Vergangenheit liegenden Grundsteuermeßbescheide und die daran anknüpfenden Grundsteuerbescheide gem. § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO zuungunsten des Steuerpflichtigen korrigiert werden. Dieser Unterschied erscheint nicht gerechtfertigt. Es ist nicht einzusehen, warum die Verwaltungsbehörde bei der Korrektur eines Anerkennungsbescheides gem. §§ 92a, 82 II. WoBauG andere zeitliche Gestaltungsmöglichkeiten haben soll als das Finanzamt bei der Korrektur eines Bewertungsbescheides.197 Das Beispiel spricht für eine einheitliche Ausgestaltung der Korrekturregeln beider Verfahrensordnungen in der Weise, daß die Finanzbehörde nach allen Korrekturtatbeständen Auswahlermessen bezüglich der zeitlichen Korrekturwirkung haben sollte. Es könnten auch spezialgesetzliche Änderungstatbestände wie etwa § 22 Abs. 3 GewStG entbehrlich werden, wenn sich mittels der §§ 172 ff. AO stets auch Korrekturen mit Wirkung nur für die Zukunft durchführen ließen. § 22 Abs. 3 GewStG ist nur deshalb erforderlich, weil ein Bedürfnis daran besteht, einen Bewertungsbescheid wegen seiner Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft an sich ändernde Verhältnisse anzupassen. Das gleiche gilt für § 12 Abs. 2 KraftStG. Die Vorschrift ordnet eine Neufestsetzung der Kraftfahrzeugsteuer an, wenn ein zuvor unbefristet erlassener Kraftfahrzeugsteuerbescheid wegen nachträglicher Veränderungen unrichtig wird. Diese bereichspezifischen Anpassungsvorschriften ließen sich aus den besonderen Steuergesetzen herausnehmen und durch allgemeine Korrekturregeln ersetzen. Dazu müßten nach §§ 172 ff. AO Korrekturen mit Wirkung für die Zukunft möglich sein, wenn sich nachträglich tatsächliche Umstände einstellen oder verändern, die dazu führen, daß ein Bescheid mit Dauerwirkung nicht mehr in rechtmäßiger Weise fortgelten kann. Es handelt sich hierbei um einen ähnlichen Rechtsgedanken wie den des § 49 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG. Auch diese Vorschrift regelt die Korrektur eines ursprünglich rechtmäßigen Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung, dessen Fortbestand nachträglich aufgrund veränderter Umstände rechtswidrig geworden ist.

197

Vergleichbar auch die Bedenken der beklagten Finanzbehörde in dem Verfahren BFH BStBl. Π 1980, 682 (683).

Α. Allgemeiner Vergleich

109

b) Auswahlermessen bezüglich vollständiger oder teilweiser Korrektur aa) Rechtslage im allgemeinen Verwaltungsrecht Bei der Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes hat die Verwaltungsbehörde gem. § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG grundsätzlich Auswahlermessen, den Verwaltungsakt ganz oder teilweise zu korrigieren. Dabei kann man danach unterscheiden, ob der zurückzunehmende Verwaltungsakt insgesamt oder nur teilweise rechtswidrig ist. Ist der gesamte Verwaltungsakt rechtswidrig, kann die Behörde ihn im Wege der Rücknahme ganz oder teilweise aufheben. 198 Entschließt sie sich im Rahmen ihres Auswahlermessens zu einer Teilrücknahme, dann handelt es sich bei dem verbleibenden Teil der Regelung immer noch um einen rechtswidrigen Verwaltungsakt. Das teilweise Bestehenlassen des Verwaltungsaktes kann aber trotz dessen Rechtswidrigkeit angemessen sein, wenn bezüglich des verbleibenden Teils das Interesse an Rechtssicherheit dem Interesse an der Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns vorgeht. So muß etwa ein rechtswidrig erteilter Vertriebenenausweis teilweise fortbestehen, wenn der Betroffene auf den Bestand einzelner Teile vertrauen durfte und dieses Vertrauen, gemessen am öffentlichen Interesse an der Herstellung rechtmäßiger Zustände, schutzwürdig ist. 199 Voraussetzung für die teilweise Rücknahme ist außerdem, daß der Verwaltungsakt teilbar ist. Das ist dann der Fall, wenn der verbleibende Regelungsrest als eigenständiger Verwaltungsakt sinnvoll fortbestehen kann. 200 Ist der zu korrigierende Verwaltungsakt teilbar, dann kann es vorkommen, daß er auch nur teilweise rechtswidrig ist. 201 In Fällen der Teilrechtswidrigkeit kann die Behörde im Wege der Rücknahme von vornherein nur eine Teilaufhebung in Betracht ziehen, denn sie darf nicht den rechtmäßigen Teil des Verwaltungsaktes zurücknehmen.202 Möglich ist dabei aber eine Rücknahme, die den rechtswidrigen Teil des Verwaltungsaktes wiederum nur teilweise 198

Zur Wirkung einer teilweisen Rücknahme verglichen mit einer Änderung nach der AO s.o. I. 199 Vgl. BVerwGE 68, 159 (164 f.). In diesem Verfahren ging es nicht um eine Rücknahme gem. § 48 VwVfG, sondern um eine Entziehung des Ausweises gem. § 18 BVFG. Diese Vorschrift eröffnet zwar kein Ermessen, enthält aber ein vertrauensschützendes Tatbestandsmerkmal, fur dessen Subsumierung die gleiche Abwägung anzustellen ist wie bei einer Ermessensentscheidung nach § 48 VwVfG. 200 Erichsen, in: Erichsen § 15 Rz. 30. 201 Zum Begriff der Teilrechtswidrigkeit Erichsen, in: Erichsen § 15 Rz. 29 ff. 202 Knoke S. 139 f.

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4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

beseitigt. Einen entsprechenden Ermessensspielraum hat die Verwaltungsbehörde beim Widerruf gem. § 49 VwVfG.

bb) Rechtslage im Steuerrecht Nach dem Wortlaut der §§ 172 ff. AO wird die Möglichkeit einer vollständigen oder teilweisen Korrektur nicht ausdrücklich erwähnt. Für die Gestaltungsmöglichkeiten der Behörde bezüglich des Umfangs einer Korrektur gelten aber ähnliche Überlegungen, wie sie schon oben bei der zeitlichen Korrekturwirkung angestellt wurden. Sofern ein Korrekturtatbestand erfüllt ist, der die Korrektur zwingend vorschreibt, bleibt der Finanzbehörde kein Ermessensspielraum bezüglich des Umfangs der Korrektur. Das Gesetz selbst schreibt in diesen Fällen den Umfang der Korrektur genau vor. Die Finanzbehörde muß den Steuerbescheid grundsätzlich in dem Umfang korrigieren, wie er gerade durch den im Tatbestand der einschlägigen Korrekturvorschrift beschriebenen Fehler verfälscht wurde. Abweichungen von diesem Korrekturumfang sind nur noch aufgrund von § 177 AO möglich. Nach dieser Vorschrift werden materielle Fehler, die nicht Anlaß für die Korrektur sind, insoweit mitberichtigt, wie die Änderung reicht. 203 Ein Auswahlermessen der Finanzbehörde bezüglich des Umfangs der Korrektur ist in diesen Fällen nicht gegeben. Wenn sich die Finanzbehörde dagegen auf einen Korrekturtatbestand stützt, der ihr Ermessen einräumt, muß ihr auch bezüglich des Umfangs der Korrektur ein Spielraum zustehen. Das ergibt sich aus der gleichen Überlegung, wie sie schon oben bei der zeitlichen Wirkung angestellt wurde. Hat die Finanzbehörde Ermessen, die Korrektur vorzunehmen oder zu unterlassen, so muß es ihr im Rahmen dieses Ermessensspielraumes auch erlaubt sein, den Steuerbescheid nur zum Teil zu berichtigen.

203

Siehe genauer unten Β. VIII. sowie oben 3. Teil Π. 2. g).

Α. Allgemeiner Vergleich

111

VL Vergleich bezüglich der Ermächtigungssystematik Einzelermächtigungen durch Benennen bestimmter Korrekturfälle (sog. Enumerationsprinzip) oder Pauschalermächtigung mit Einschränkungsregeln? L Vergleich Die steuerrechtlichen Korrekturtatbestände der §§ 172 ff. AO beschreiben abschließend bestimmte Fehlerarten, in denen die Finanzbehörde zu einer Korrektur des Steuerbescheides ermächtigt sein soll. Hierzu gehören etwa neue Tatsachen, geänderte Grundlagenbescheide oder rückwirkende Ereignisse. Der Gesetzgeber hat aus der Vielzahl möglicher Fehler in Steuerbescheiden bestimmte Fälle benannt, in denen er eine Korrektur für geboten erachtet, in denen er also das Interesse an der Rechtmäßigkeit höher bewertet als das Bestandsinteresse des Bürgers. Enthält ein Steuerbescheid einen unbenannten Fehler, ist eine Korrektur des Bescheides aus Anlaß dieses Fehlers nicht möglich. Das Korrektursystem der §§ 172 ff. AO hat daher einen enumerativen Charakter. Allerdings macht das Steuerrecht eine Ausnahme von diesem Enumerationsprinzip. Fehler eines Steuerbescheides, die nicht ausdrücklich in einem der Korrekturtatbestände erwähnt sind, können aus Anlaß einer anderen Korrektur in gewissem Umfang mitkorrigiert werden. Das ergibt sich aus § 177 AO. 2 0 4 Die Systematik der verwaltungsrechtlichen Rücknahmeregeln ist genau umgekehrt angelegt. In § 48 VwVfG werden nicht abschließend die Fälle benannt, in denen die Korrektur eines Verwaltungsaktes zulässig ist. Die Vorschrift des § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG normiert vielmehr den allgemeinen Grundsatz,205 daß rechtswidrige Verwaltungsakte immer korrigiert werden dürfen, gleich welche Art von Fehler zur Rechtswidrigkeit geführt hat. 206 Im Anschluß an diesen Grundsatz werden in den Absätzen 2 bis 4 der Vorschrift Beschränkungen und Ausnahmen formuliert. Das Verwaltungsrecht kennt also, anders als das Steuerrecht, keine Einzelermächtigungen für bestimmte Fehlerarten, sondern enthält eine Pauschalermächtigung mit Ausnahmen und Beschränkungen. Dies ist ein wesentlicher systematischer Unterschied zwischen den verwaltungsrechtlichen und den steuerrechtlichen Korrekturregeln. Dieser Unter204

Hierzu eingehend unten B. VDL Begr. zu § 44 Abs. 1 VwVfG des RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 68; Kopp § 48 Rz. 31; Klappstein, in: Knack § 48 Rz. 5.3; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 18; Häberle, in: Festschr. f. Boorberg Verlag S. 47 (85). 206 Krit. WolfflBachofl Stober § 51 Rz. 2 f.; Knoke S. 121 f. 205

112

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

schied bedeutet nicht zwangsläufig schon, daß die beiden Korrektursysteme auch materiell voneinander abweichen müssen. Es handelt sich nur um eine systematische, gesetzestechnische Differenz. Diese unterschiedliche Ermächtigungssystematik ist der wichtigste Grund dafür, daß sich die einzelnen Korrekturtatbestände im Verwaltungsrecht und im Steuerrecht nur schwer miteinander vergleichen lassen.207 Sie lassen sich zur Feststellung von Übereinstimmungen nicht einfach übereinander legen und gegen das Licht betrachten, denn sie sind invers zueinander dargestellt. Eine Ausnahme bildet in gewisser Weise die Vorschrift des § 48 Abs. 2 S. 3 VwVfG. Sie regelt in den Nummern 1 bis 3 Fälle, in denen ein Ausschluß der Korrektur aus Vertrauensschutzgründen nicht in Betracht kommt. In § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 bis 3 VwVfG hat der Gesetzgeber deshalb - wie auch in den §§ 172 ff. AO - positiv umschrieben, in welchen Fällen er das Interesse an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns höher bewertet als das Bestandsinteresse des Bürgers. Deshalb fallen in § 48 Abs. 2 S. 3 VwVfG auch Parallelen zu den Vorschriften der §§ 172 ff. AO auf. So korrespondiert etwa § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 VwVfG mit § 172 Abs. 1 Nr. 2 c) AO. 208 Eine weitere Ausnahme vom Prinzip der Pauschalermächtigung stellt die Vorschrift des § 51 VwVfG dar. In ihr beschreibt der Gesetzgeber positiv bestimmte Fälle, in denen die Verwaltung darüber entscheiden muß, ob sie einen unanfechtbaren Verwaltungsakt aufheben, ändern oder fortbestehen lassen will. Erwartungsgemäß fallen auch bei dieser Vorschrift Parallelen zu den §§ 172 ff. AO auf. So erinnert etwa § 51 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 2 VwVfG an § 173 Abs. 1 Nr. 2 S. 1 AO. 209 Im übrigen ist aber ein Vergleich der einzelnen Korrekturtatbestände nur möglich, indem man durch ihre Anwendung im Einzelfall ermittelt, ob sie im Ergebnis übereinstimmend zur Korrektur ermächtigen oder nicht. 210

2. Möglichkeiten zur Vereinheitlichung Die unterschiedliche Ermächtigungssystematik - das Enumerationsprinzip im Steuerrecht einerseits und die Pauschalermächtigung im allgemeinen Verwaltungsrecht andererseits - erschwert Vereinheitlichungen der beiden Korrektursysteme erheblich. Es wäre nicht ohne weiteres möglich, eine bestimmte

207 208 209 210

Vgl. unten B. Siehe hierzu eingehend unten Β. I. Siehe hierzu eingehend unten Β. IV. 2. Siehe hierzu eingehend die Untersuchungen unter B.

Α. Allgemeiner Vergleich

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Vorschrift etwa aus den §§ 172 ff. AO in das Verwaltungsverfahrensgesetz zu übernehmen. Neben der Pauschalermächtigung des § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG und den dann folgenden Beschränkungen, würde eine der positiv formulierten Einzelermächtigungen der §§ 172 ff. AO keinen Sinn ergeben. Ein völlig einheitliches Korrektursystem für beide Rechtsgebiete ließe sich nur dann erstellen, wenn man entweder im Steuerrecht auf das Enumerationsprinzip oder im allgemeinen Verwaltungsrecht auf die Pauschalermächtigung verzichten würde. Jedes der beiden Ermächtigungssysteme hat seine Vor- und Nachteile. Die Einzelermächtigungen des Steuerrechts bringen es mit sich, daß die Fälle, in denen eine Korrektur erfolgen soll, vom Gesetz sehr genau umschrieben werden. Damit verringert sich das Risiko, daß die Verwaltung Korrekturen vornimmt, die vom Gesetzgeber nicht gewollt sind. Gleichzeitig besteht aber eine erhöhte Gefahr, daß der Gesetzgeber Fälle übersieht, in denen eine Korrektur angemessen wäre. Ein System von Einzelermächtigungen hinterläßt dann Ermächtigungslücken. Die Verwaltung wäre zur Untätigkeit gezwungen, und der rechtswidrige Zustand müßte ungewollt fortdauern. Die Pauschalermächtigung im allgemeinen Verwaltungsrecht minimiert dagegen das Risiko von Ermächtigungslücken, denn es werden ausnahmslos alle rechtswidrigen Verwaltungsakte von ihr erfaßt. Es wird also nicht die Situation eintreten, daß die Verwaltung einen rechtswidrigen Zustand aufgrund einer Regelungslücke fortdauern lassen muß. Dafür besteht bei einer Pauschalermächtigung die Gefahr, daß der Gesetzgeber bei ihrer Einschränkung Fälle übersieht, in denen eine Korrektur ausgeschlossen sein müßte. Es kann dann leichter passieren, daß die Verwaltung mit Hilfe der weiten Pauschalermächtigung Korrekturen vornimmt, die vom Gesetzgeber eigentlich nicht gewollt sind. Wollte man zum Zwecke der Vereinheitlichung entweder das Enumerationsprinzip im Steuerrecht zugunsten einer Pauschalermächtigung im Verwaltungsrecht aufgeben oder umgekehrt, so wäre dies ein erheblicher Eingriff in die bisherige Systematik der jeweiligen Verfahrensordnung. Er würde dazu führen, das betroffene Korrektursystem sprichwörtlich umzukrempeln, denn die bisherigen Ermächtigungen müßten invers formuliert werden. Zudem würde eine solche Umstellung zwangsläufig auch gewisse materielle Veränderungen mit sich bringen, selbst wenn man dies vermeiden wollte. Denn es dürfte für das Steuerrecht kaum gelingen, anstatt der positiven Benennung von Korrekturfallen alle diejenigen Fälle zu umschreiben, die nach bisheriger Rechtslage nicht zur Korrektur berechtigen, um sie als Einschränkung für eine Pauschalermächtigung einzusetzen. Genauso wäre es für das Verwaltungsrecht kaum möglich, alle Fälle positiv zu umschreiben, in denen die Korrektur eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes erfolgen soll, die also nach bisheriger Rechtslage nicht von den Beschränkungen des § 48 Abs. 2 bis 4 VwVfG erfaßt 8 Arndt

114

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

sind. Es ist letztlich eine rechtspolitische Frage, ob eine derartige Umstellung eines der Korrektursysteme zugunsten einer Vereinheitlichung zu befürworten oder als zu großes Opfer für die Rechtskontinuität abzulehnen ist.

B. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände Im vorangegangenen Abschnitt (A) wurden terminologische und konzeptionelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten der beiden Korrektursysteme dargestellt. Zu diesen allgemeinen Unterschieden wurden bereits Möglichkeiten einer Vereinheitlichung aufgezeigt. Es soll nun untersucht werden, inwieweit einzelne Korrekturtatbestände der einen Verfahrensordnung materiell mit entsprechenden Tatbeständen der anderen Verfahrensordnung übereinstimmen. Dabei wird zu prüfen sein, ob es Sachlagen gibt, in denen nach beiden Verfahrensordnungen die Korrektur eines Verwaltungsaktes erfolgen könnte oder der Verwaltungsakt nach der einen Verfahrensordnung korrigiert werden darf, während nach der anderen eine Korrektur unzulässig wäre.

L Erwirken eines Verwaltungsaktes durch unlautere Mittel Zunächst sollen die Korrekturmöglichkeiten ermittelt werden, wenn der Bürger den Erlaß eines Verwaltungsaktes durch unlautere Mittel erwirkt hat. In derartigen Fällen ist der erlassene Verwaltungsakt regelmäßig rechtswidrig, und zwar in einer Weise, die den Bürger unangemessen begünstigt. Es entsteht dann ein Bedürfnis an einer Korrektur zuungunsten des Bürgers. Die Abgabenordnung regelt derartige Fälle in § 172 Abs. 1 Nr. 2 c). Danach darf ein Steuerbescheid aufgehoben oder geändert werden, wenn er durch unlautere Mittel wie arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt worden ist. Nach der Abgabenordnung kann ein durch unlautere Mittel erwirkter Steuerbescheid also ohne weiteres korrigiert werden. Das Verwaltungsverfahrensgesetz erwähnt die unlauteren Mittel wortgleich in § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 1. Diese Regelung gilt für die Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte über Geld- oder teilbare Sachleistungen. Hierdurch kann sich ein Begünstigter nicht auf Vertrauen berufen, wenn er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat. Die Folge ist, daß die Rücknahmebeschränkung nach § 48 Abs. 2 S. 1 VwVfG nicht eingreift und der Verwaltungsakt nach § 48 Abs. 1 VwVfG jederzeit durch die Behörde zurückgenommen werden kann. Aus den Voraussetzungen

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

115

und Rechtsfolgen ergibt sich, daß die Korrekturregeln im Steuerrecht und im Verwaltungsrecht insoweit wertungsgleich sind:211 a) Die Vorschrift des § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 VwVfG betrifft Verwaltungsakte über Geld- oder teilbare Sachleistungen. Sie ist insoweit mit § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 c) AO vergleichbar, der auf Steuerbescheide angewendet wird. b) Nach beiden Vorschriften muß der zu korrigierende Verwaltungsakt rechtswidrig sein.212 c) Die Korrektur im Fall des § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 VwVfG setzt voraus, daß der Verwaltungsakt begünstigenden Charakter hat. 213 In den Fällen des § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 c) AO kommt automatisch nur eine Korrektur zuungunsten des Steuerpflichtigen in Betracht, da dieser zuvor durch das unlautere Mittel einen für sich zu günstigen Bescheid erwirkt hat. Es wurde bereits dargelegt, daß die Korrektur zuungunsten des Steuerpflichtigen mit der Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsaktes gleichgesetzt werden kann. 214 d) Letztlich setzt § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 VwVfG voraus, daß der Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt worden ist. 215 Nach § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 c) AO muß dagegen ein unlauteres Mittel eingesetzt worden sein. Die Vorschrift zählt dann beispielhaft hierfür die Fälle der arglistigen Täuschung sowie der Drohung und Bestechung auf. 216 Hierdurch ergeben sich aber keine Unterschiede zum Verwaltungsverfahrensgesetz, denn es kommen keine unlauteren Mittel in Betracht, die nicht unter die Fälle der arglistigen Täuschung, Drohung oder Bestechung subsumiert werden könnten.217 e) Als Rechtsfolge ergibt sich nach allgemeinem Verwaltungsrecht ein Rücknahmeermessen der Behörde (§ 48 Abs. 1 VwVfG). 218 Auch die Vorschrift des § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 c) AO eröffnet mit der Formulierung „...darf..." ihrem Wortlaut nach ein Korrekturermessen. 219 Allerdings wird teilweise angenommen, daß die Finanzverwaltung trotz dieses Wortlautes in

211 212 213 214 215 216 217 218

Tipke/Kruse § 172 Rz. 16. S.o. Α. m. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 74 ff. S.o. Α. Π. 4. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 106 ff. v. Wedelstädt, in: Beermann § 172 Rz. 70 ff. Vgl. v. Wedelstädt, in: Beermann § 172 Rz. 70. S.o. Α. V.

116

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

Fällen des § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO stets zur Korrektur verpflichtet sei, die Vorschrift also keinen Ermessenspielraum einräume.220 Dem kann nicht gefolgt werden. Es ist zwar einzuräumen, daß der durch § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO eröffnete Ermessensspielraum häufig auf Null reduziert sein wird. 221 Das ergibt sich aus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung (§ 85 AO). Die Finanzbehörde hat auch bei der ursprünglichen Steuerfestsetzung kein Ermessen. Es darf aber nicht übersehen werden, daß mit dem Erlaß des ursprünglichen Steuerbescheides die darin festgestellten Steueransprüche als verbindlich gelten sollen. Die nachträgliche Korrektur eines solchen Verwaltungsaktes ist stets ein Einschnitt in die Rechtssicherheit. Das darf neben dem gegenläufigen Interesse an der Rechtmäßigkeit des Steuerbescheides nicht unberücksichtigt bleiben. Nur dort, wo das Interesse an Rechtmäßigkeit dasjenige an Rechtssicherheit überwiegt, ist eine nachträgliche Korrektur angebracht. Das muß aber in den Fällen des § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO nicht immer der Fall sein. Trifft etwa die Finanzbehörde trotz der Täuschung durch den Steuerpflichtigen ein überwiegendes Verschulden an der Rechtswidrigkeit des Steuerbescheides, so mag es im Einzelfall angemessen sein, den Steuerbescheid trotz seiner Rechtswidrigkeit fortbestehen zu lassen.222 Letztlich ist dies auch mit Blick auf das allgemeine Verwaltungsrecht die harmonischere Betrachtungsweise. Hat der Adressat eines begünstigenden Verwaltungsaktes den Bescheid durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt, so besteht auch im allgemeinen Verwaltungsrecht keine Pflicht zur Rücknahme des Verwaltungsaktes, sondern nur die Pflicht der Behörde zur ordnungsgemäßen Ausübung ihres Ermessens. Zwar gibt es nach allgemeinem Verwaltungsrecht häufig Fälle, in denen der ursprüngliche Bescheid im Ermessen der Behörde steht. Daher könnte auch bei der späteren Korrektur ein Ermessen eher angebracht sein als im Steuerrecht, wo die Behörde beim Erlaß des ursprünglichen Steuerbescheides keinen Ermessensspielraum hat. Es gibt aber im allgemeinen Verwaltungsrecht keine anerkannte Regel, nach der das Rücknahmeermessen stets auf Null reduziert wäre, wenn

219

BFH BStBl. Π 1991, 496 (497); 1993, 13; Szymczak, in: Koch/Scholtz § 172 Rz. 26/1; Tipke/Kruse § 172 Rz. 7 und Rz. 13a; v. Wedelstädt, in: Beermann § 172 Rz. 19; Guth DStZ 1987, 90 (90); Mihatsch StBp 1988, 149 (150); Schick StuW 1992, 197 (219). 220 UnverichU DStR 1987, 279 (282); ders., StBp 1988, 230 (231); Krumsiek DStZ 1988, 85 (89); Heinke, DStZ 1988, 406 (409). 221 Vgl. v. Wedelstädt, in: Beermann § 172 Rz. 3 und 19. 222 Vgl. Tipke/Kruse § 172 Rz. 7 und 13a; v. Wallis, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler § 172 Rz. 26.

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

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die Verwaltungsbehörde beim Erlaß des ursprünglichen Bescheides kein Ermessen hatte. Die Vorschrift des § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 c) AO ist daher als Ermessensregelung anzusehen.223 f) Nach dieser Gegenüberstellung von Voraussetzungen und Rechtsfolge kann festgehalten werden, daß sich der Korrekturtatbestand des § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 c) AO und der des § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 VwVfG entsprechen.224

IL Verwaltungsakt einer sachlich unzuständigen Behörde Die fehlende sachliche Zuständigkeit einer Behörde birgt die Vermutung ihrer Inkompetenz.225 Wird ein Verwaltungsakt von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen, besteht deshalb erhöhte Gefahr, daß er materiell rechtswidrig ergeht. Gleichzeitig ist das für den Fortbestand eines solchen Verwaltungsaktes sprechende Interesse an Rechtssicherheit und Vertrauensschutz gemindert, da der Fehler oft deutlich erkennbar ist. 226 Für Steuerbescheide regelt die Abgabenordnung diesen Fall in § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 b). Danach steht die Korrektur eines durch eine sachlich unzuständige Behörde erlassenen rechtswidrigen Steuerbescheides im Ermessen der zuständigen Behörde.227 Es macht keinen Unterschied, ob die Korrektur zugunsten oder zuungunsten des Steuerpflichtigen erfolgt. In beiden Fällen ist die Finanzbehörde gleichermaßen zur Korrektur im Rahmen ihres Ermessens ermächtigt. Die Rücknahme und Widerrufsvorschriften des Verwaltungsverfahrensgesetzes erwähnen den Fall der sachlichen Unzuständigkeit nicht ausdrücklich als Korrekturgrund. Gleichwohl weichen die Korrekturmöglichkeiten für diesen Fall im Ergebnis nicht von der Abgabenordnung ab. Wurde etwa ein Beitrag durch die sachlich unzuständige Behörde zu hoch festgesetzt, so käme nach allgemeinem Verwaltungsrecht die teilweise Rücknahme eines belastenden Verwaltungsaktes gem. § 48 Abs. 1 VwVfG in Betracht. Danach ist die

223 Gl. Α.: BFH BStBl. Π 1991, 496 (497); 1993, 13; Szymczak., in: Koch/Scholtz § 172 Rz. 26/1; Tipke/Kruse § 172 Rz. 7 und Rz. 13a; v. Wedelstädt, in: Beermann § 172 Rz. 19; Guth DStZ 1987, 90 (90); Mihatsch StBp 1988, 149 (150); Schick StuW 1992, 197 (219). 224 Tipke/Kruse § 172 Rz. 16; Wörner/Grube S. 80, bzgl. § 130 Abs. 2 Nr. 2 AO jeweils ohne weitere Begründung. 225 Tipke/Kruse § 130 Rz. 5. 226 Tipke/Kruse § 130 Rz. 5. 227 Vgl. zur Frage des Ermessens in § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO oben I.

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4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

Rücknahme eines belastenden Verwaltungsaktes ohne weitere Voraussetzungen nach pflichtgemäßem Ermessen der zuständigen Behörde möglich. Für diese Korrektur zugunsten des Adressaten ergeben sich also keine Unterschiede zwischen § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 b) AO und § 48 Abs. 1 VwVfG. Anders ist die Situation, wenn die Steuer in dem rechtswidrigen Bescheid zu niedrig festgesetzt wurde. Im Steuerrecht könnte der Bescheid nach § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 b) AO ebenso korrigiert werden wie in den Fällen der zu hohen Steuerfestsetzung. Im Verwaltungsrecht würde es sich aber um die Rücknahme eines belastenden Verwaltungsaktes zum Zwecke der Ersetzung eines noch stärker belastenden Bescheides handeln.228 Diese Rücknahme müßte nach den Regeln über begünstigende Verwaltungsakte erfolgen. 229 Es greifen also die Beschränkungen des § 48 Abs. 2 VwVfG ein. Nach § 48 Abs. 2 S. 1 VwVfG ist die Korrektur unzulässig, wenn der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und dieses Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Wegen dieser Beschränkung scheint im allgemeinen Verwaltungsrecht die Korrektur eines von einer unzuständigen Behörde erlassenen begünstigenden Verwaltungsaktes schwerer möglich zu sein als eine steuerrechtliche Korrektur zuungunsten des Steuerpflichtigen nach § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 c) AO. Es ist aber zu berücksichtigen, daß diese Regelung nur auf Steuerbescheide anwendbar ist. Wird ein Steuerbescheid nicht vom Finanzamt, sondern von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen, so ist dies derart auffallig, daß das Vertrauen des Steuerpflichtigen auf den Bestand des Bescheides nicht schutzwürdig ist. Das muß aber nicht für das allgemeine Verwaltungsrecht gelten. Bei der außerhalb des Steuerrechts existierenden Behördenvielfalt kann es dem Bürger und manchmal auch den Behörden schwer fallen, die fehlende sachliche Zuständigkeit einer Behörde zu erkennen. Da § 48 VwVfG auch diesen Fällen gerecht werden muß, ist es angemessen, daß die Vorschrift das Handeln einer sachlich unzuständigen Behörde in Absatz 2 Satz 3 nicht als absoluten Vertrauensausschlußgrund bewertet. Vielmehr muß im allgemeinen Verwaltungsrecht für jeden Einzelfall beurteilt werden, ob die sachliche Unzuständigkeit derart auffällig ist, daß ein schutzwürdiges Vertrauen des Adressaten auf den Fortbestand des Verwaltungsaktes ausgeschlossen wird. Würde man auf die bei Steuerbescheiden vorkommenden Fälle der sachlichen Unzuständigkeit die Norm des § 48 VwVfG anwenden, so könnte man stets ein schutzwürdiges Vertrauen verneinen und damit zum gleichen Ergebnis gelangen wie mit § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 a) AO. Das zeigt auch die nur im Steuerrecht anwendbare Rücknahmevorschrift des § 130 AO, die dem § 48 VwVfG

228 229

S.o. Α. Π. 2. b). S.o. Α. Π. 2. b).

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

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nachgebildet ist. In § 130 Abs. 2 Nr. 1 AO ist das Handeln einer sachlich unzuständigen Behörde ebenfalls als Fall bewertet worden, in dem der Adressat im Steuerrecht nicht schutzwürdig ist. Es kann festgehalten werden, daß § 48 VwVfG und § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 a) AO keine widersprechenden Wertungen enthalten, wenn ein zu korrigierender Verwaltungsakt von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen wurde.

ΙΠ. Zustimmung oder Antrag des Adressaten Gegen die nachträgliche Änderung eines Verwaltungsaktes spricht grundsätzlich das sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebende Interesse, das Vertrauen an der Beständigkeit behördlicher Entscheidungen zu schützen. Begehrt der Adressat eines Verwaltungsaktes selbst die nachträgliche Änderung der Verfügung oder ist er mit einer von der Behörde geplanten Änderung einverstanden, so verringert sich die Notwendigkeit des Vertrauensschutzes. Man kann niemanden in seinem Vertrauen auf Beständigkeit enttäuschen, wenn die Veränderung seinem Willen entspricht. Es soll untersucht werden, inwieweit sich dieser Umstand in den Korrekturvorschriften niedergeschlagen hat und ob etwaige Unterschiede zwischen den Verfahrensordnungen gerechtfertigt sind.

7. Rechtslage im Steuerrecht Die Abgabenordnung enthält in § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 a) einen Korrekturtatbestand, der zur Aufhebung oder Änderung von Steuerbescheiden ermächtigt, soweit der Steuerpflichtige zustimmt oder seinem Antrag der Sache nach entsprochen wird. Korrekturen zugunsten des Steuerpflichtigen sind hiernach aber nur möglich, soweit der Steuerpflichtige vor Ablauf der Einspruchsfrist zugestimmt oder den Antrag gestellt hat (2. Halbs.). Korrekturen nach dieser Vorschrift werden allgemein als „schlichte Änderungen" bezeichnet.230 Das hat seinen Grund wohl darin, daß die Korrektur des Steuerbescheides nach § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 a) AO unkomplizierter ist als das Einspruchsverfahren nach den §§ 347 ff. AO. So sind der Antrag und die Zustimmung des Steuerpflichtigen an keine Form gebunden. Sie können auch fernmündlich oder nur 230

Becker!Riewald/Koch § 94 Anm. 3a (1); Krumsiek DStZ 1988, 85; Mihatsch StBp 1988, 149; v. Wallis, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler § 172 Rz. 13; Woerner/Grube S. 73; v. Wedelstädt, in: Beermann § 172 Rz. 22.

120

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

konkludent erfolgen. 231 Der Einspruch muß dagegen schriftlich oder zur Niederschrift erklärt werden (§ 357 Abs. 1 S. 1 AO). Die Behandlung des Antrags auf schlichte Änderung durch die Behörde ist ebenfalls an keine besonderen Verfahrensregeln geknüpft. Das Einspruchsverfahren ist dagegen in den §§ 358 bis 367 AO stark reglementiert. Der Steuerpflichtige hat somit die Wahl, entweder eine schlichte Änderung zu beantragen oder im Wege des Einspruchsverfahrens gegen einen Steuerbescheid vorzugehen.232 Der Gesetzgeber hat sich von der Vorschrift des § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 a) AO unter anderem versprochen, die Zahl der förmlichen Einsprüche zu verringern und so eine geschäftliche Erleichterung zu erreichen. 233

2. Rechtslage im allgemeinen Verwaltungsrecht In den Rücknahme- und Widerrufsregeln des Verwaltungsverfahrensgesetzes wird die Zustimmung oder der Antrag des Adressaten nicht ausdrücklich als materieller Grund für eine Korrektur erwähnt. Gleichwohl kann es auch im allgemeinen Verwaltungsrecht vorkommen, daß der Adressat eines Verwaltungsaktes die Korrektur der behördlichen Maßnahme begehrt. Wenn der Adressat die Korrektur vor Eintritt der Unanfechtbarkeit begehrt, kann er Widerspruch einlegen (§§ 68 ff. VwGO). Begehrt er die Korrektur nach Ablauf der Widerspruchsfrist, muß er zunächst einen Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens stellen (vgl. insbes. § 51 VwVfG). 234 Der Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens ist nur darauf gerichtet, die Behörde zu einer erneuten Sachprüfung der bereits abgeschlossenen Angelegenheit zu bewegen.235 Ob diese erneute Prüfung auch mit der Korrektur des Verwaltungsaktes endet, ist erst eine Folgefrage. Das Wiederaufgreifen des Verfahrens auf Antrag des Bürgers richtet sich primär nach § 51 VwVfG. Diese Vorschrift enthält selbst keine Korrekturregeln. Sie regelt nur die Frage, ob die Behörde ein abgeschlossenes Verfahren erneut aufgreifen muß, sich also mit der Angelegenheit erneut in der Sache zu befassen hat. 236 Liegen die Voraussetzungen des § 51 VwVfG vor, hat der Bürger einen Anspruch auf erneute Sachprüfung. Ob dieses erneute Verfahren zu einer Korrektur des Verwaltungsaktes führt,

231

v. Wedelstädt, in: Beermann § 172 Rz. 36. Ludiche BB 1986, 1266 (1266). 233 2. Bericht des Finanzausschusses, BT-Drucks. ker/Riewald/Koch § 94 Anm. 3a (3). 234 Erichsen, in: Erichsen § 20 Rz. 6. 235 Maurer § 11 Rz. 55. 236 Maurer ξ 11 Rz. 55. 232

10/4513 S. 16; Bek-

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

121

richtet sich nicht nach dieser Vorschrift. Hierfür sind erneut die Rücknahmeund Widerrufsregeln der §§ 48, 49 VwVfG 237 oder - diese Frage ist umstritten - die dem ursprünglichen Verwaltungsakt zugrundeliegenden materiellen Vorschriften maßgebend.238 Liegen die Voraussetzungen von §51 VwVfG nicht vor, hat der Bürger keinen Anspruch auf Wiederaufgreifen. 239 Die Behörde hat aber gleichwohl Ermessen, das Verfahren außerhalb des § 51 VwVfG wiederaufzugreifen. 240 Das ergibt sich aus § 51 Abs. 5 VwVfG. Denn wenn die Behörde von sich aus eine Rücknahme- oder Widerrufsentscheidung nach den §§ 48, 49 VwVfG herbeiführen kann, so muß sie als notwendiges Durchgangsstadium auch das Verfahren außerhalb des §51 VwVfG nach ihrem Ermessen wieder aufgreifen können.241 Ein Antrag des Bürgers auf Wiederaufgreifen enthält daher nicht nur das Begehren, die Behörde möge das Verfahren nach § 51 VwVfG wieder aufgreifen. Er enthält hilfsweise auch das Begehren, eine Entscheidung über das Wiederaufgreifen nach den §§ 48, 49 VwVfG für den Fall herbeizuführen, daß die Voraussetzungen des § 51 VwVfG nicht vorliegen. Es genügt also nicht, daß die Behörde den Antrag des Bürgers mit der Begründung abweist, die Voraussetzungen nach § 51 VwVfG seien nicht erfüllt. Sie muß zudem begründen, daß sie auch von der in ihrem Ermessen stehenden Möglichkeit eines Wiederaufgreifens nach §§ 48, 49 VwVfG keinen Gebrauch macht.242 Es wird jedoch selten ermessensfehlerhaft sein, wenn die Behörde eine Korrektur nach den §§ 48, 49 VwVfG ablehnt, sofern die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen nach § 51 VwVfG nicht vorliegen. 243 Es bleibt festzuhalten, daß ein Korrekturantrag oder eine Zustimmung zur Korrektur im allgemeinen Verwaltungsrecht nicht schon als materieller Grund für eine Korrektur gewertet wird. Einem Antrag auf Korrektur kann allenfalls die verfahrensrechtliche Bedeutung zukommen, daß eine Entscheidung über 237 Meyer, in: Meyer/Borgs § 51 Rz. 21; Maurer § 11 Rz. 61; Wendt JA 1980, 85 (87); Richter JuS 1990, 719 (723). 238 BVerwG NJW 1982, 2204 (2205); BVerwG NJW 1985, 280 f.; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 51 Rz. 25; ders. JuS 1982, 264 (267); Schenke DÖV 1983, 320 (330 f.); Klappstein, in: Knack § 51 Rz. 4.3 und § 48 Rz. 5.1 sowie 5.6.4; Erichsen, in: Erichsen § 20 Rz. 15; Kopp § 51 Rz. 10. 239 BVerfGE 27, 297; BVerwGE 48, 271 (278 f.); BVerwGE 60, 316 ff.; BVerwG NVwZ 1989, 882 (884); vgl. auch BFH NVwZ 1990, 700 f.; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 51 Rz. 9. 240 Erichsen, in: Erichsen § 20 Rz. 18; Maurer § 11 Rz. 61. 241 Vgl. Erichsen, in: Erichsen § 20 Rz. 16; Maurer § 11 Rz. 61. 242 Vgl. WolfflBachofl Stober § 51 Rz. 120; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 51 Rz. 11. 243 WolffIBachoflStober § 51 Rz. 121.

122

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

das Wiederaufgreifen des Verfahrens gem. § 51 VwVfG oder im Rahmen der §§ 48, 49 VwVfG auslöst.

3. Möglichkeiten zur Vereinheitlichung Die Abgabenordnung erkennt es in § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 a) als eigenständigen, materiellen Korrekturgrund an, daß der Adressat die Korrektur beantragt oder ihr zustimmt. Das Steuerrecht weicht insoweit von den Regeln des allgemeinen Verwaltungsrechts ab. Zum Zwecke der Vereinheitlichung von Abgabenordnung und Verwaltungsverfahrensgesetz könnte man daran denken, auf die Vorschrift des § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 a) AO zu verzichten. Ein solcher Verzicht wäre kein besonderer Verlust für das Steuerrecht, denn bei näherer Betrachtung erweist sich die Regelung des § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 a) AO als überflüssig. 244 Zum einen hat die Vorschrift keine Bedeutung für den Schutz des Steuerpflichtigen. Begehrt er die Korrektur nach Eintritt der Unanfechtbarkeit, ist eine Korrektur zu seinen Gunsten nicht mehr möglich (§ 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 a) 2. Halbs. AO). Begehrt der Steuerpflichtige die Korrektur des Steuerbescheides vor Eintritt der Unanfechtbarkeit, so tut er gut daran, Einspruch einzulegen, statt einen Antrag auf schlichte Änderung zu stellen. Das Einspruchsverfahren hat gegenüber dem Verfahren nach § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 a) AO fast nur Vorteile. 245 Zum einen verhindert der Einspruch, daß der Steuerbescheid unanfechtbar wird, so daß nach Zurückweisung des Einspruchs der Weg vor die Finanzgerichte offen steht. Ein Antrag auf schlichte Änderung hindert den Eintritt der Unanfechtbarkeit dagegen nicht. Wird der Antrag abgelehnt, so ist die Einspruchsfrist von einem Monat (§ 355 AO) meist schon verstrichen, so daß der Steuerbescheid einer gerichtlichen Kontrolle entzogen ist. 246 Ein weiterer Nachteil des schlichten Änderungsantrags ist, daß die Entscheidung hierüber im Ermessen der Behörde steht.247 Im Einspruchsverfahren ist die Behörde im Falle der Begründetheit dagegen zur Abhilfe verpflichtet.

244

Gl. A. v. Wedelstädt, in: Beermann § 172 Rz. 22; Tipke/Kruse § 172 Rz. 9; Unvericht DStR 1987, 279 (280). 245 Lüdicke BB 1986, 1266 ff.; Tipke/Kruse § 172 Rz. 9. 246 Tipke/Kruse § 172 Rz. 9. 247 S.o. 1.; BFH BStBl. Π 1991, 496 (497); 1993, 13; Szymczak, in: Koch/Scholtz § 172 Rz. 26/1; Tipke/Kruse § 172 Rz. 7 und Rz. 13a; v. Wedelstädt, in: Beermann § 172 Rz. 19; Guth DStZ 1987, 90 (90)\Mihatsch StBp 1988, 149 (150); Schick StuW 1992, 197 (219); a.A.: Unvericht, DStR 1987, 279 (282); ders. StBp 1988, 230 (231); Krumsiek DStZ 1988, 85 (89); Heinke, DStZ 1988, 406 (409).

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

123

Weiterhin ist eine Aussetzung der Vollziehung nach § 361 Abs. 2 AO nur nach Einlegung des Einspruchs, nicht aber nach einem Antrag auf schlichte Änderung zulässig.248 Bei einem Einspruch wird die Rechtmäßigkeit des Steuerbescheides umfassend geprüft. Bei einem schlichten Antrag prüft die Finanzbehörde dagegen nur, ob die im Antrag vorgebrachten Einwände durchgreifen. 249 Der einzige Nachteil des Einspruchsverfahrens ist die Möglichkeit der Verböserung. Diese ist bei einem Antrag auf schlichte Änderung nicht gegeben. Dieser Nachteil fallt jedoch kaum ins Gewicht, denn die Finanzbehörde muß den Steuerpflichtigen unter Angabe von Gründen auf die Möglichkeit der Verböserung hinweisen (§ 367 Abs. 2 S. 2 AO). Der Steuerpflichtige kann dann die Verböserung durch Rücknahme des Einspruchs verhindern (§ 362 AO). 250 Aus der Sicht des Rechtsschutzes könnte also auf den Korrekturtatbestand des § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 a) AO verzichtet werden. Die Steuerpflichtigen haben deshalb von dieser Vorschrift auch in der Praxis bisher kaum Gebrauch gemacht.251 Die Vorschrift des § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 a) AO ist auch nicht als Mittel zur Herbeiführung rechtmäßiger Verhältnisse durch die Behörde tauglich. Will die Behörde einen Steuerbescheid zuungunsten des Steuerpflichtigen korrigieren, so ist nach § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 a) AO dessen Zustimmung erforderlich. Diese wird er regelmäßig verweigern. Es besteht keine Pflicht des Steuerpflichtigen zur Zustimmung.252 Genausowenig ist es anstößig, die Zustimmung abzulehnen.253 Etwaige Initiativen des Finanzamtes, den Steuerpflichtigen zu beeinflussen und zur Zustimmung zu bewegen, müssen als unzulässig angesehen werden. Es erscheint zwielichtig, wenn sich die Verwaltung vom Bürger eine Zustimmung einholt, die sie berechtigen soll, Maßnahmen zu ergreifen, zu denen sie von Amts wegen nicht mehr befugt ist. 254 Allerdings hat der BFH die Verweigerung der Zustimmung ausnahmsweise als Verstoß gegen Treu und Glauben angesehen, wenn der Steuerpflichtige entsprechend seinem Begehren eine ihn begünstigende Regelung durch Aufhebung oder Änderung einer Steuerfestsetzung erreicht hat, der folgerichtigen Änderung einer anderen Steuerfestsetzung aber nicht zustimmt.255 Man könnte in derartigen Fällen auch daran denken, die Zustimmung als nach Treu und 248 249 250 251 252 253 254 255

Tipke/Kruse § 172 Rz. 9. Tipke/Kruse § 172 Rz. 9. Tipke/Kruse § 172 Rz. 9. Tipke/Kruse § 172 Rz. 9. v. Wedelstädt, in: Beermann § 172 Rz. 30. Tipke/Kruse § 172 Rz. 8; vgl. Hörstmann StbJb 1980/1981, 13 (24 f.). Vgl. Hörstmann StbJb 1980/1981, 13 (24 f.). BFH BStBl, m 1963, 162; 1966,613.

124

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

Glauben erteilt anzusehen.256 Als Rechtsgrundlage für eine Korrektur kann dann aber genauso § 174 Abs. 4 AO dienen.257 Die Vorschrift des § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 a) AO hat bislang nur im Einspruchsverfahren gegen Steuerbescheide praktische Bedeutung erlangt. 258 Gem. § 367 Abs. 2 S. 3 AO bedarf es einer förmlichen Einspruchsentscheidung nach § 366 AO nur insoweit, als die Finanzbehörde dem Einspruch nicht abhilft. Als Rechtsgrundlage für einen den angefochtenen Steuerbescheid ändernden oder aufhebenden Abhilfebescheid wird regelmäßig § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 a) AO herangezogen.259 Die Vorschrift ist während des Einspruchsverfahrens anwendbar (§ 132 S. 1 AO). 260 Ihre Voraussetzungen liegen vor, denn in dem Einspruch des Steuerpflichtigen kann gleichzeitig die Zustimmung zur Korrektur gem. § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 a) AO erblickt werden. 261 Ein Rückgriff auf § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 a) AO ist jedoch für die Abhilfe eines Einspruches gar nicht erforderlich. Schon aus § 367 Abs. 2 AO ergibt sich, daß die Finanzbehörde dem Einspruch abzuhelfen hat, soweit sie ihn für begründet hält. 262 Klarstellend könnte man in § 367 Abs. 2 AO auch einen Satz la einfügen: „Soweit die Finanzbehörde den Einspruch für begründet hält, hilft sie ihm ab. " Eine entsprechende Formulierung enthält § 72 VwGO für das außergerichtliche Vorverfahren im allgemeinen Verwaltungsrecht. Dabei wird § 72 VwGO überwiegend als ausreichende Rechtsgrundlage für den Abhilfebescheid angesehen und hierfür nicht etwa auf die verwaltungsrechtlichen Kor-

256

Szymczak,, in: Koch/Scholtz § 172 Rz. 18/8. v. Wedelstädt, in: Beermann § 172 Rz. 30. 258 v. Wedelstädt, in: Beermann § 172 Rz. 55. 259 BFHE 140, 420 f. = BFH BStBl. Π 1984, 414 (415) = BB 1984, 1220 f.; Woerner/Grube S. 164; Kühn/Hofmann § 172 Anm. 3 a dd; Tipke/Kruse § 376 Rz. 8b; v. Wallis, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler § 172 Rz. 13 und 16; a.A.: Lüdicke BB 1986, 1266 (1268 f.). 260 BFH BStBl. Π 1984,414 f. 261 v. Wedelstädt, in: Beermann § 172 Rz. 55; Tipke/Kruse § 376 Rz. 8b. 262 Lüdicke BB 1986, 1266 (1269). 257

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

125

rekturvorschriften der §§ 48 ff. VwVfG zurückgegriffen. 263 Zwar gelten auch während des Widerspruchsverfahrens im allgemeinen Verwaltungsrecht die Regeln über Rücknahme und Widerruf (§ 50 VwVfG). Rücknahme oder Widerruf während des schwebenden Widerspruchsverfahrens sind aber Teil eines eigenständigen Verfahrens. 264 Genauso ist im allgemeinen Verwaltungsrecht ein Rücknahmebescheid während eines Widerspruchsverfahrens nach §§ 48, 50 VwVfG von einem Abhilfebescheid nach § 72 VwGO zu unterscheiden.265 Nichts anderes kann für das Steuerrecht gelten. Rechtsgrundlage für einen Abhilfebescheid im Rahmen des Einspruchsverfahrens ist deshalb allein § 367 Abs. 2 AO. Ein Rückgriff auf § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 a) AO ist nicht erforderlich und dogmatisch sogar verfehlt, da die Vorschrift nicht dem Einspruchsverfahren zuzuordnen ist. Man könnte allerdings daran denken, daß die Vorschrift des § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 a) AO i.V.m. § 132 S.l AO als Rechtsgrundlage für eine Abhilfe während des finanzgerichtlichen Verfahrens sinnvoll ist. Während des außergerichtlichen Vorverfahrens ist die Behörde noch Herrin des Verfahrens. Mit Erhebung der Klage vor dem Finanzgericht hält die Finanzbehörde das Rechtsschutzverfahren nicht mehr in ihren Händen. Eine Abhilfe nach § 367 Abs. 2 AO und die damit einhergehende Erledigung des Rechtsstreites wäre nun nicht mehr möglich. Die Vorschrift des § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 a) AO i.V.m. § 132 S. 2 AO ermöglicht es der Finanzbehörde in jeder Phase des gerichtlichen Verfahrens, den angegriffenen Verwaltungsakt von sich aus aufzuheben und die geltend gemachte Beschwer auf diese Weise zu beseitigen. Ohne die Vorschrift des § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 a) AO könnte die Finanzbehörde dies nur, wenn einer der anderen Korrekturtabestände in den §§ 172 ff. AO einschlägig wäre. Im übrigen wäre die Behörde gezwungen, untätig die Entscheidung des Gerichts abzuwarten, auch wenn sie zwischenzeitlich von sich aus zu einer Abhilfe bereit ist. Insoweit kommt der Vorschrift des § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 a) AO eine verfahrensökonomische Bedeutung zu. Allein dieser verfahrensökonomische Aspekt rechtfertigt aber noch keine Abweichung der steuerrechtlichen Korrekturregeln vom verwaltungsrechtli-

263

Vgl. Redeker/v. Oertzen § 72 Rz. 5; Kopp § 50 Rz. 6; ders. VwGO § 72 Rz. 8; Knoke S. 291; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 50 Rz. 42 und 71; Allesch S. 215 ff; a.A.: Meyer, in: Meyer/Borgs § 48 Rz. 28 und § 50 Rz. 16; Lange Jura 1980, 456 (465). 264 Allesch S. 215 ff; Knoke S. 297; Redeker/v. Oertzen § 172 Rz. 5 wollen sogar den Rücknahmebescheid während des Widerspruchverfahrens „formell" auf § 72 VwGO und nicht auf die §§ 48, 50 VwVfG stützen; a.A.: Meyer, in: Meyer/Borgs § 48 Rz. 28 und § 50 Rz. 16; Lange Jura 1980,456 (465). 265 Vgl. Hufen § 8 Rz. 14; Kopp § 50 Rz. 6.

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4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

chen Korrektursystem. Zum einen kann es nicht die Aufgabe der im Verwaltungsverfahren geltenden Korrekturregeln sein, allein die Ökonomie des gerichtlichen Verfahrens zu steigern. Dies ist Aufgabe der Gerichtsordnungen. Wenn eine vorzeitige Erledigung des gerichtlichen Verfahrens immer dadurch möglich sein soll, daß der beklagte Verwaltungsträger dem Begehren des Klägers doch noch von sich aus nachkommt, dann wäre dies im Prozeßrecht zu regeln. 266 Da die Korrekturvorschrift des § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 a) AO aber für das außergerichtliche Steuerverfahren keine Bedeutung hat, ist sie hier entbehrlich. 267 Mit der Streichung des § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 a) AO käme man den verwaltungsrechtlichen Korrekturregeln ein Stück näher, denen ein vergleichbarer Korrekturtatbestand fremd ist.

IV. Mangelnde Berücksichtigung von Tatsachen Eine Ursache für das Zustandekommen rechtswidriger Verwaltungsakte kann sein, daß die Behörde von einem falschen Sachverhalt ausgeht, ihrer Entscheidung also Umstände zugrunde legt, die nicht der Wirklichkeit entsprechen. Das kann daran liegen, daß die Behörde den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt hat, daß der betroffene Bürger es versäumt hat, notwendige Informationen ofifenzulegen oder daß es nicht möglich war, das Vorliegen bestimmter Umstände festzustellen oder zu beweisen. Stellen sich zu einem späteren Zeitpunkt die wirklichen Umstände heraus und hätte die Behörde bei anfänglicher Kenntnis den Verwaltungsakt nicht oder mit einem anderen Inhalt erlassen, so entsteht ein Interesse an der Korrektur des Verwaltungsaktes. Dieser Fehlertyp ist von Rechtsfehlern zu unterscheiden, bei denen die Behörde zutreffende Tatsachen zugrunde legt, die Rechtsvorschriften jedoch falsch anwendet. Er ist auch von dem Fall zu unterscheiden, daß die Behörde von zutreffenden tatsächlichen Umständen ausgegangen ist, sich diese aber nach Erlaß des Verwaltungsaktes in einer Weise ändern, die ein Aufrechterhalten der zuvor getroffenen Entscheidung nicht mehr angemessen erscheinen lassen. Hier soll untersucht werden, welche Korrekturmöglichkeiten im allgemeinen Verwaltungsrecht und im Steuerrecht bestehen, wenn die Behörde ihrer Entscheidung Tatsachen zugrunde gelegt hat, die von Anfang an mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmten.268 Dabei muß man zwischen Korrekturen zu Lasten und zugunsten des Betroffenen unterscheiden. 266 Ygj Knoke g 286 f. zur im allgemeinen Verwaltungsrecht vergleichbaren Frage der Funktion des § 50 VwVfG. 267 Zust. v. Wedelstädt, in: Beermann § 172 Rz. 22; Tipke/Kruse § 172 Rz. 9; Unvericht DStR 1987,279 (280). 268 Vgl. Martens § 11 Rz. 436 ff.

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

L Korrekturen

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zu Lasten des Betroffenen

a) Vergleich Nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ist die Finanzbehörde ermächtigt, den Steuerbescheid zu Lasten des Steuerpflichtigen zu korrigieren, soweit Tatsachen oder Beweismittel269 nachträglich bekanntwerden, die zu einer höheren Steuer führen. Es kann zunächst klargestellt werden, daß das nachträgliche Bekanntwerden neuer Beweismittel nichts anderes ist als das nachträgliche Bekanntwerden von Tatsachen. Neue Beweismittel dokumentieren, daß bei Erlaß des Verwaltungsaktes bestimmte Tatsachen vorlagen, die nicht berücksichtigt wurden. 270 Umgekehrt können Tatsachen nur dann als nachträglich bekanntgeworden gelten, wenn sie auch beweisbar sind. Die Korrekturermächtigung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ist nach § 173 Abs. 2 AO grundsätzlich ausgeschlossen, wenn der Bescheid aufgrund einer Außenprüfung (§ 193 ff. AO) ergangen ist. Nach allgemeinem Verwaltungsrecht kann ein Verwaltungsakt, der wegen mangelnder Erkenntnisse im Tatsachenbereich rechtswidrig ist, grundsätzlich nach § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG korrigiert werden. Korrekturen zu Lasten des Betroffenen können aber nach § 48 Abs. 2 VwVfG aus Gründen des Vertrauensschutzes eingeschränkt sein.271 Bei genauerem Vergleich dieser beiden Vorschriften ist es zweckmäßig, danach zu unterscheiden, ob die mangelnde Berücksichtigung von Tatsachen überwiegend dem Bürger oder überwiegend der Behörde zuzurechnen ist. 272 Das Merkmal der Zurechnung ist zwar nicht ausdrücklich in den Vorschriften der §§ 48 ff. VwVfG oder des § 173 AO enthalten, die Zurechnung spielte aber vor Inkrafttreten des Verwaltungsverfahrensgesetzes in der Rechtsprechung als Wertungskriterium eine Rolle.273 Auch die viel ältere Vorschrift des § 582 ZPO 274 macht deutlich, daß die Bewertung des Verhaltens der Verfah-

269

Tipke/Kruse § 173 Rz. 3 ff. zur näheren Begriffsbestimmung der Tatsache und des Beweismittels. 270 Vgl. Tipke/Kruse § 173 Rz. 12. 271 S.o. 3. Teil Β. I.; Knoke S. 148 ff.; Kopp § 48 Rz. 55 ff. 272 Vgl. Klappstein, in: Knack § 48 Rz. 8.3.1 \ Maurer, in: Isensee/Kirchhof § 60 Rz. 68. 273 Vgl. etwa BVerwGE 10, 12 (15); BSozG DVB1. 1963, 249 (250); Maurer § 11 Rz. 31. 274 Bis 1900 § 545 CPO, seitdem keine Änderungen.

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4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

rensbeteiligten als allgemeines Kriterium für das erneute Aufgreifen abgeschlossener Verfahren angesehen werden kann.275

aa) Dem Bürger zuzurechnender Mangel In den Fällen des § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 und 2 VwVfG hat der Gesetzgeber Situationen umschrieben, in denen die mangelnde Berücksichtigung von Tatsachen überwiegend dem Verhalten des betroffenen Bürgers zuzurechnen ist. 276 Wenn der Betroffene die Behörde täuscht (Nr. 1), d.h. Tatsachen vorspiegelt oder verschleiert, so setzt er mit seinem Verhalten die maßgebende Ursache für den Mangel des Verwaltungsaktes.277 Das gleiche gilt, wenn der Begünstigte den Verwaltungsakt durch in wesentlicher Beziehung unrichtige oder unvollständige Angaben erwirkt (Nr. 2). 278 Zwar ist für ein „Erwirken" im Sinne dieser Vorschrift kein Verschulden des Betroffenen erforderlich, 279 jedoch liegt auch in diesen Fällen die Ursache für die mangelnde Berücksichtigung von Tatsachen nicht im Verantwortungsbereich der Verwaltung, sondern in der Sphäre des Bürgers, 280 so daß ihm die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes zugerechnet werden kann.281 Die Folge der in § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 und 2 VwVfG genannten Fälle ist, daß der Vertrauensschutz des Bürgers hinter das Interesse an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns zurücktreten muß.282 Wer eine ungerechtfertigte Begünstigung erhält, kann nicht mit deren Aufrechterhaltung rechnen, wenn er den Mangel des Verwaltungsaktes überwiegend selbst verursacht hat. 283 Mithin gilt für das allgemeine Verwaltungsrecht die Wertung, daß ein Verwaltungsakt, der wegen mangelnder Berücksichtigung von Tatsachen rechtswidrig ist, jedenfalls dann zu La-

275

Martens § 11 Rz. 437, dort Fußn. 40. Erichsen, in: Erichsen § 17 Rz. 9; vgl. Begr. zu § 44 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 VwVfG des RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 70. 277 Erichsen, in: Erichsen § 17 Rz. 9; Kopp § 48 Rz. 65. 278 Erichsen, in: Erichsen § 17 Rz. 9; Vgl. Begr. zu § 44 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 VwVfG des RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 70. 279 Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 111; Kopp § 48 Rz. 69. 280 Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 110; Kopp § 48 Rz. 68. 281 Begr. zu § 44 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 VwVfG des RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 70. 282 Vgl. WolßlBachoflStober § 51 Rz. 77. 283 Erichsen, in: Erichsen § 17 Rz. 9. 276

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

12

sten des Betroffenen korrigiert werden kann, wenn der Mangel überwiegend dessen Verhalten zuzurechnen ist. 284 Die gleiche Wertung liegt § 173 AO zugrunde. Nach dem Wortlaut in Absatz 2 ist die Korrektur des Steuerbescheides wegen eines Mangels im Tatsachenbereich ausgeschlossen, soweit der Steuerbescheid aufgrund einer Außenprüfung (§§ 193 ff. AO) ergeht. Die Korrektur bleibt aber trotz Außenprüfung möglich, wenn eine Steuerhinterziehung oder eine leichtfertige Steuerverkürzung vorliegt (§ 173 Abs. 2 S. 1 AO). In Fällen der Steuerhinterziehung und der leichtfertigen Steuerverkürzung ist die mangelnde Berücksichtigung von Tatsachen im Steuerbescheid dem Steuerpflichtigen in ähnlicher Weise zuzurechnen wie in den Fällen des § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 bis 3 VwVfG. Wer arglistig über Tatsachen täuscht (vgl. § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 VwVfG), der erfüllt regelmäßig auch die Voraussetzungen einer Steuerhinterziehung. 285 Wer dagegen leichtfertig Steuern verkürzt, der erwirkt den Verwaltungsakt typischerweise durch Angaben, die in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig sind (vgl. § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 VwVfG). 286 Zwar setzen „Steuerhinterziehung" und „leichtfertige Steuerverkürzung" ein Verschulden des Betroffenen voraus 287 und stellen damit höhere Anforderungen an dessen Fehlverhalten als etwa das schuldunabhängige „Erwirken" eines günstigen Bescheides durch falsche Angaben nach § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 VwVfG. 288 Es muß dabei aber berücksichtigt werden, daß in § 173 Abs. 2 S. 1 AO die Steuerhinterziehung und die leichtfertige Steuerverkürzung dem Fall einer finanzbehördlichen Außenprüfung gegenüberstehen. Enthält ein Steuerbescheid trotz vorangegangener Außenprüfung Mängel im Tatsachenbereich, so spricht vieles dafür, den Mangel nicht dem Bürger, sondern der Behörde zuzurechnen. Sie hatte während der Außenprüfüng die Pflicht, die für die Besteuerung maßgeblichen tatsächlichen Verhältnisse zu prüfen (vgl. § 199 Abs. 1 AO). Erst wenn die Voraussetzungen einer Steuerhinterziehung oder einer leichtfertigen Steuerverkürzung vorliegen, überwiegt trotz der Außenprüfüng durch die Finanzbehörde das Fehlverhalten des Steuerpflichtigen. Der Vorschrift des § 173 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 2 AO liegt insoweit eine gleichartige Wertung zugrunde wie der Rücknahmeregel in § 48 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 VwVfG. Be284

WolfflBachofiStober § 51 Rz. 77; vgl. auch Klappstein, in: Knack §48 Rz. 8.3.1.; Maurer, in: Isensee/Kirchhof § 60 Rz. 68. 285 Vgl. obenA. IV. 2. b). 286 Kühn/Hofinann § 378 Anm. 2 a; Wannemacher/Meyer, in: Beermann § 378 Rz. 6. 287 Kühn/Hofinann § 370 Anm. 7 und § 378 Anm. 3; Wannemacher/Meyer, in: Beermann § 370 Rz. 59 und § 378 Rz. 12. 288 BVerwGE 74, 357 (364); vgl. auch BVerwGE 78, 139 (142 f.); Kopp § 48 Rz. 69; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 111. 9 Arndt

1

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

scheide sind wegen mangelnder Berücksichtigung von Tatsachen korrigierbar, wenn dieser Mangel überwiegend dem Bürger zuzurechnen ist. 289

bb) Der Behörde zuzurechnender Mangel Denkbar ist aber auch, daß die mangelnde Berücksichtigung tatsächlicher Umstände ausschließlich dem Verhalten der Behörde zuzurechnen ist. Das wäre etwa dann anzunehmen, wenn der Adressat des Verwaltungsaktes alle von ihm verlangten Angaben wahrheitsgemäß und vollständig gemacht hat, die Behörde aber zur abschließenden Beurteilung des Falles weitere Informationen benötigt hätte, ohne daß der Adressat dies erkennen konnte. Stellen sich später die von der Behörde nicht erforschten Tatsachen heraus und ist der Verwaltungsakt deshalb als ursprünglich rechtswidrig anzusehen, so ist dies allein dem Verhalten der Behörde zuzurechnen. Ebenso ist es, wenn falsche Angaben des Bürgers von der Behörde durch irreführende Antragsformulare veranlaßt wurden. 290 Im Steuerrecht wäre die mangelnde Berücksichtigung von Tatsachen etwa dann der Finanzbehörde zuzurechnen, wenn der Steuerbescheid aufgrund einer Außenprüfung (§§ 193 ff. AO) ergeht und der Steuerpflichtige dabei allen Aufklärungs- und Nachweispflichten nachgekommen ist, also insbesondere keine Steuerhinterziehung und keine leichtfertige Steuerverkürzung vorliegt. Für diesen Fall schließt § 173 Abs. 2 S. 1 AO eine Korrektur nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO aus. Es ist aber auch außerhalb einer Außenprüfung denkbar, daß die mangelnde Berücksichtigung von Tatsachen im Steuerbescheid der Behörde zuzurechnen ist. Gem. § 88 AO gilt im Steuerverfahrensrecht der Untersuchungsgrundsatz, wonach die Finanzbehörde verpflichtet ist, den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln. 291 Es ist daher der Behörde zuzurechnen, wenn der Steuerbescheid zu niedrig ausfallt, weil ein Fehler im Tatsachenbereich auf der Verletzung der Ermittlungspflicht nach § 88 AO beruht. Zwar ist nach dem Wortlaut des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO die Finanzbehörde in diesen Fällen zu einer Korrektur des Steuerbescheides verpflichtet. 292 Es ist aber in Rechtsprechung und Literatur anerkannt, daß eine Korrektur bei Verletzimg der Ermittlungspflicht durch die Behörde ausgeschlossen sein

289

WolfflBachoflStober § 51 Rz. 77; vgl. auch Klappstein, in: Knack §48 Rz. 8.3.1.; Maurer, in: Isensee/Kirchhof § 60 Rz. 68. 290 Vgl. BVerwGE 10, 12(15). 291 Hartmann, in: Beermann § 88 Rz. 3; Kühn/Hofmann § 88 Anm. 1. 292 Vgl. Friedl DStR 1988, 98 (98 f.).

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

1

muß.293 Dies wird zum Teil auf den Grundsatz von Treu und Glauben gestützt.294 Teilweise wird auch das Merkmal des nachträglichen Bekanntwerdens in § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO verneint, wenn die Finanzbehörde die Tatsachen von Anfang an hätte kennen müssen.295 Jedenfalls soll nach dem Grundgedanken der Vorschrift der Steuerpflichtige nicht darunter leiden, daß die Finanzbehörde ihrer Pflicht zur Ermittlung des Sachverhalts nicht vollständig nachgekommen ist. 296 Die Finanzbehörde soll sich nicht auf ihre eigenen Ermittlungsfehler und Organisationsmängel berufen dürfen. 297 Die Vorschrift des § 173 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 2 S. 1 AO enthält mithin die Wertung, daß eine Korrektur ausgeschlossen sein soll, wenn die mangelnde Berücksichtigung von Tatsachen überwiegend der Finanzbehörde zuzurechnen ist. Im allgemeinen Verwaltungsrecht gilt diese Wertung nicht im selben Maße. Zwar existiert auch hier nach § 24 VwVfG der Untersuchungsgrundsatz. Wenn aber die mangelnde Berücksichtigung von Tatsachen der Behörde wegen Verletzung ihrer Ermittlungspflichten zuzurechnen ist, ist eine Rücknahme des Verwaltungsaktes nach § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG zu Lasten des Bürgers dennoch möglich. Das gilt zum einen dann, wenn der Bürger die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte (§ 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 VwVfG). Da für diesen Fall ein Vertrauensschutz des Bürgers ausgeschlossen wird, bleibt der Verwaltungsakt nach § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG korrigierbar, auch wenn die mangelnde Berücksichtigung der Tatsachen auf einer unzureichenden Ermittlungsarbeit der Behörde beruht. Wer die Rechtswidrigkeit des Bescheides kannte oder sie infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte, kann bzw. darf nicht mit dessen Fortbestand rechnen.298 Das Interesse an der Herstellung rechtmäßiger Verwaltungsentscheidungen überwiegt, da ein Bedürfnis an Vertrauensschutz entfällt. Zum anderen kann nach allgemeinem Verwaltungsrecht die Korrektur trotz behördlicher Ermittlungsfehler möglich bleiben, wenn der begünstigte Bürger den unge-

293

BFH BStBl Π 1993, 806 (808); 1993, 166; 1992, 454 (456); 1992 324; 1990, 249 (251); 1989, 259 (261); 1988, 174; Günther FR 1983, 36; v. Wallis, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler § 173 Rz. 31; Kühn/Hofmann § 173 Anm. 4 b; Szymczak, in: Koch/Scholtz § 173 Rz. 12; Martens StuW 1989, 365 (370); Tipke/Kruse § 173 Rz. 28 bis 28c; krit. Arndt StRK-Anm. § 173 Abs. 1 Nr. 1 R. 25 S. 3; Friedl DStR 1988, 98 ff. 294 Tipke/Kruse § 173 Rz. 28 bis 28c; Günther FR 1983, 36. 295 Szymczak, in: Koch/Scholtz § 173 Rz. 12. 296 Tipke/Kruse § 173 Rz. 28. 297 FG Kiel EFG 1984, 381; FG Köln EFG 1986, 406; Tipke/Kruse § 173 Rz. 28. 298 Knoke S. 155 f.; Kopp § 48 Rz. 71.

12

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

rechtfertigt erlangten Vermögensvorteil noch nicht ausgegeben hat. Diese Wertung kann der Vorschrift des § 48 Abs. 2 S. 2 VwVfG entnommen werden. Danach ist die Korrektur ausgeschlossen, wenn der Bürger den erlangten Vermögensvorteil im Vertrauen auf den Bestand des Verwaltungsaktes ausgegeben hat. Das bedeutet im Umkehrschluß, daß die Korrektur des Verwaltungsaktes regelmäßig möglich bleibt, wenn sich der erlangte Vorteil noch im Vermögen des Bürgers befindet. Die Regelvermutung des § 48 Abs. 2 S. 2 VwVfG greift nämlich nicht ein, und die typischen Fälle, in denen der Betroffene kein schutzwürdiges Vertrauen hat, sind schon von § 48 Abs. 2 S. 3 VwVfG erfaßt. Nach allgemeinem Verwaltungsrecht ist die Rücknahme des Verwaltungsaktes also nicht zwingend ausgeschlossen, wenn die mangelnde Berücksichtigung tatsächlicher Umstände überwiegend der Behörde zuzurechnen ist. Vielmehr kommt es zusätzlich darauf an, daß dem Betroffenen die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes schuldlos unbekannt war (§ 48 Abs. 2 S. 2 S. 3 Nr. 3 VwVfG) und er den erlangten Vermögensvorteil ausgegeben hat (§ 48 Abs. 2 S. 2 VwVfG). Dieser Gedanke ist der steuerrechtlichen Vorschrift des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO fremd. Eine Korrektur des Steuerbescheides zuungunsten des Steuerpflichtigen ist hiernach stets ausgeschlossen, wenn der Steuerbescheid aufgrund einer Außenprüfung ergangen war (§ 173 Abs. 2 AO) oder die Behörde ihre Ermittlungspflicht aus § 88 AO unzureichend wahrgenommen hat, wenn also die mangelnde Berücksichtigung von Tatsachen überwiegend der Finanzbehörde zuzurechnen ist. Die Abgabenordnung nimmt dagegen keine Rücksicht darauf, ob der Steuerpflichtige einen aufgrund der Steuerfestsetzung erlangten Vorteil noch in seinem Vermögen hat oder nicht. Es kommt auch nicht darauf an, ob der Steuerpflichtige von der mangelnden Berücksichtigung der Tatsachen wußte oder wissen mußte. Es besteht insoweit ein Wertungsunterschied zwischen beiden Korrektursystemen. Der vorstehende Vergleich läßt sich in folgendem Schaubild darstellen:

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

1

Schaubild

Korrigierbarkeit von Verwaltungsakten zuungunsten des Betroffenen wegen mangelnder Berücksichtigung von Tatsachen

1

4

.

Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

b) Möglichkeiten zur Vereinheitlichung Für den Fall, daß ein Mangel im Tatsachenbereich überwiegend der Behörde zuzurechnen ist, bestehen Wertungsunterschiede zwischen beiden Verfahrensordnungen. Im Unterschied zum Steuerrecht bleibt der Verwaltungsakt nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz regelmäßig korrigierbar, wenn sich ein durch den rechtswidrigen Verwaltungsakt erlangter Vermögensvorteil noch im Vermögen des Betroffenen befindet oder wenn der Betroffene die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte.299 Es muß bezweifelt werden, ob dieser Wertungsunterschied zwischen beiden Rechtsgebieten gerechtfertigt ist. Es sind keine Besonderheiten des Steuerrechts gegenüber dem allgemeinen Verwaltungsrecht ersichtlich, die eine derartige Abweichung zwingend erforderlich erscheinen lassen. Vielmehr scheint der strenge Korrekturausschluß in § 173 Abs. 2 AO den Besteuerungsgrundsätzen zuwiderzulaufen. Das gleiche gilt für die im Steuerrecht geltende Auffassung, eine Verletzung der Ermittlungspflicht durch die Finanzbehörde müsse stets zu einem Ausschluß der Korrektur nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO fuhren. Diese undifferenzierte Wertung des steuerrechtlichen Korrektursystems erscheint nicht gerechtfertigt. Ausgehend vom Grundsatz der Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung (§ 85 AO) besteht im Steuerrecht kein geringeres Bedürfnis daran, rechtswidrige Bescheide zu korrigieren, als im allgemeinen Verwaltungsrecht. Die Korrigierbarkeit eines rechtswidrigen, für den Steuerpflichtigen zu günstig ausgefallenen Steuerbescheides sollte deshalb nur dann ausgeschlossen sein, wenn das Interesse am Vertrauensschutz überwiegt. Es ist nicht einzusehen, daß der Steuerpflichtige eine noch in seinem Vermögen befindliche ungerechtfertigte Begünstigung behalten soll, nur weil die Behörde zunächst ihrer Ermittlungspflicht nicht nachgekommen ist. Die Durchführung einer Außenprüfüng mag zwar zu einem erhöhten Vertrauen des Steuerpflichtigen in die Rechtsbeständigkeit des folgenden Steuerbescheides führen. 300 Das bedeutet aber nicht automatisch, daß dieses Vertrauen schutzwürdig ist. 301 Die Schutzwürdigkeit des Vertrauens kann sich erst daraus ergeben, daß man das öffentliche Interesse an der Korrektur mit der sich daraus ergebenden Beeinträchtigung des Steuerpflichtigen abwägt.302 Hat der Steuerpflichtige die Möglichkeit, den ungerechtfertig-

299 300

301 202

S.o. a). Begr. zu § 154 AO des RegE, BT-Drucks. 6/1982 S. 153; Tipke/Kruse Vgl. Maurer § 11 Rz. 29 ff. Kopp § 48 Rz. 57.

§ 173 Rz.

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

15

ten Vermögensvorteil zurückzugeben, ohne daß ihm darüber hinausgehende wirtschaftliche Nachteile entstehen, so ist seine Beeinträchtigung geringer zu bewerten als das öffentliche Interesse an der Korrektur des Verwaltungsaktes. Das gleiche gilt für den Fall, daß der Steuerpflichtige die Rechtswidrigkeit des Steuerbescheides kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Ist der Steuerpflichtige sich der Rechtswidrigkeit seiner Begünstigung bewußt, schließt dies ein schutzwürdiges Vertrauen auf den Fortbestand des Verwaltungsaktes aus.303 Das muß auch dann gelten, wenn die mangelnde Berücksichtigung tatsächlicher Umstände der Finanzbehörde zuzurechnen ist, weil diese einen Ermittlungsfehler begangen hat. Diese im allgemeinen Verwaltungsrecht anerkannte Wertung 304 sollte auch für das Steuerrecht gelten. Es ist allerdings zu berücksichtigen, daß der im Anschluß an eine Außenprüfung geltende Korrekturausschluß gem. § 173 Abs. 2 AO nach dem Willen des Gesetzgebers nicht dem Vertrauensschutz des Steuerpflichtigen dienen soll. 305 Zweck der Vorschrift ist vielmehr, Rechtsfrieden zu schaffen im Anschluß an die umfangreichen Nachforschungen anläßlich einer Außenprüfüng. 306 Rechtsfrieden ist ein Ziel, daß sich über die Abwägung zwischen Vertrauensschutz und Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns hinwegsetzt.307 Rechtsfrieden verlangt stets, daß eine einmal getroffene Regelung künftig unabänderbar ist, gleichgültig ob das Interesse an Vertrauensschutz oder dasjenige an Rechtmäßigkeit überwiegt. Die Vorschrift des § 173 Abs. 2 AO ist deshalb mit den Korrekturregeln der §§ 48 ff. VwVfG nicht vergleichbar, denn das Anliegen der §§ 48 ff. VwVfG dient nicht dem Rechtsfrieden, sondern ausschließlich der Lösung des Konfliktes zwischen Vertrauensschutz und Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns. Genaugenommen handelt es sich bei der Vorschrift des § 173 Abs. 2 AO auch nicht um eine Korrekturvorschrift. Systematisch wäre sie besser bei den besonderen Regeln über die Außenprüfüng aufgehoben (§§ 193 ff. AO). Gemeinsamer Zweck der Korrekturvorschriften in den §§ 172 ff. AO und §§ 48 ff. VwVfG ist der Ausgleich zwischen Vertrauensschutz und Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns. Will 303

Knoke S. 155 f.; Kopp § 48 Rz. 71. WolfflBachofl Stober § 51 Rz. 77; vgl. auch Klappstein, in: Knack §48 Rz. 8.3.1.; Maurer, in: Isensee/Kirchhof § 60 Rz. 68. 305 Szymczak, in: Koch/Scholtz § 173 Rz. 30; v. Wedelstädt, in: Beermann § 173 Rz. 118; Woerner/Grube S. 104; Tipke/Kruse § 173 Rz. 34; a.A. wohl: Klein/Orlopp § 173 Anm. 18; Heilmaier DB 1979, 1251 f.; Mennacher DB 1979, 2202 f.; Kühnel DB 1980, 2010 (2011 f.), die jeweils § 173 Abs. 2 AO als Schutzvorschrift für den Steuerpflichtigen ansehen. 306 Begr. zu § 154 AO des RegE, BT-Drucks. 6/1982 S. 153. 307 Vgl. Tipke/Kruse § 173 Rz. 34. 304

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4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

man aber im Anschluß an Außenprüfungen Rechtsfrieden erzielen, so ist dies ein besonderes Anliegen des Außenprüfungsrechts und kein Problem allgemeiner Korrekturregeln. Auch im allgemeinen Verwaltungsrecht gibt es besonders ausgestaltete Verfahrensarten, in deren Anschluß einzelne Korrekturregeln ausgenommen sind. Gem. § 72 Abs. 1 S. 1 2. Halbs. VwVfG kann etwa das Planfeststellungsverfahren nicht nach § 51 VwVfG wieder aufgegriffen werden. Auch diese Korrekturbeschränkung ist nicht in den §§ 48 ff. VwVfG, sondern als besonderes Anliegen des Planfeststellungsverfahrens in den §§ 72 ff. VwVfG geregelt. Die Wertung des § 173 Abs. 2 AO sollte deshalb nicht als eine Wertung des steuerrechtlichen Korrektursystems, sondern als besondere Wertung der Regeln über die Außenprüfung verstanden werden. So betrachtet lassen sich die im Zusammenhang mit § 173 Abs. 2 AO aufgezeigten Wertungsunterschiede der beiden Korrektursysteme entschärfen. Es verbleibt aber der Unterschied, daß im Steuerrecht die Korrektur nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO dann als ausgeschlossen angesehen wird, wenn der Mangel der Behörde wegen einer Verletzung von Ermittlungspflichten zuzurechnen ist, ohne daß eine Außenprüfung stattgefunden hat. Es kann deshalb empfohlen werden, das Steuerrecht in folgender Hinsicht an das allgemeine Verwaltungsrecht anzupassen. Die Vorschrift des § 173 Abs. 2 AO sollte aus den §§ 172 ff. AO herausgenommen und in die §§ 193 ff. AO eingefügt werden. Statt dessen sollte § 173 Abs. 2 lauten:

„Abweichend von Absatz 1 Nr. 1 können Steuerbescheide, soweit sie auf Grund der Verletzung einer Ermittlungspflicht der Finanzbehörde ergangen sind\ nur aufgehoben oder geändert werden, wenn der Steuerpflichtige 1. Mitwirkungspflichten bei der Aufklärung gendem Maße verletzt hat oder

des Sachverhaltes

in überwie-

2. die Rechtswidrigkeit des Steuerbescheides kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte oder 3. eine aufgrund des Steuerbescheides erlangte Leistung noch nicht verbraucht oder noch keine Vermögensdisposition getroffen hat, die nicht mehr ohne unzumutbare Nachteile rückgängig gemacht werden kann. " Würde man diesem Vorschlag folgen, bestünde insoweit Wertungsgleichheit zwischen beiden Korrektursystemen. Alternativ zu diesem Vorschlag könnte man die Rechtsgedanken aus § 48 Abs. 2 S. 2 und § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 VwVfG auch als eigenständige Korrekturtatbestände in § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO aufnehmen. Dort könnten hinter Buchstabe c) die folgenden Buchstaben d) und e) eingefügt werden:

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

1

d) soweit er durch den Bescheid eine rechtswidrige Leistung erlangt hat; das gilt nur, wenn der Steuerpflichtige die Leistung nicht im Vertrauen auf den Bestand des Bescheides verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. e) soweit er die Rechtswidrigkeit Fahrlässigkeit nicht kannte. "

2. Korrekturen

des Bescheides kannte oder infolge grobe

zugunsten des Betroffenen

Die Nichtberücksichtigung von Tatsachen zugunsten des Betroffenen muß bei einem Vergleich der Korrekturregeln von der Nichtberücksichtigung von Tatsachen zuungunsten des Betroffenen unterschieden werden. Wurden Tatsachen zuungunsten des Bürgers nicht berücksichtigt, geht es um eine für den Bürger günstige Korrektur des ursprünglichen Verwaltungsaktes. Dabei wird das Korrekturverfahren in den meisten Fällen auf Betreiben des benachteiligten Bürgers durch Antrag in Gang gesetzt werden. Die verkannten Tatsachen stammen regelmäßig aus der Sphäre des Bürgers und werden deshalb zuerst von ihm bemerkt, zumal er bei Berücksichtigung dieser Tatsachen günstiger stehen würde. 308 Korrekturen nach Steuerrecht richten sich in diesen Fällen nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 S. 1 AO. Danach ist ein Steuerbescheid aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekanntwerden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, daß die Tatsachen und Beweismittel nachträglich bekanntwerden. Welche Vorschriften nach allgemeinem Verwaltungsrecht hierfür maßgebend sind, hängt davon ab, ob die Korrektur auf Betreiben des Betroffenen oder der Behörde erfolgt. Da es um eine Korrektur zugunsten des Betroffenen geht, wird die Initiative zur Korrektur regelmäßig vom Bürger ausgehen. In diesem Fall ist insbesondere die Wiederaufhahmevorschrift des §51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG maßgebend. Danach hat die Behörde auf Antrag des Betroffenen über die Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsaktes zu entscheiden, wenn neue Beweismittel vorliegen, die eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden. Dabei bedeutet das Vorliegen neuer Beweismittel nichts anderes, als daß die mangelnde Berücksichtigung von Tatsachen geltend gemacht wird, denn neue Beweismittel dokumentieren Tatsachen, die ursprünglich nicht berücksichtigt wurden. Liegen die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen nach §51

308

Vgl. Begr. zu § 154 AO des RegE, BT Drucks. 6/1982 S. 153 sowie Tipke/Kruse § 173 Rz. 31.

1

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

VwVfG vor, ergibt sich ein Anspruch des Betroffenen auf erneute Sachprüfung. 309 Maßgebend für die Frage, ob die erneute Sachprüfüng auch zu einer Korrektur des rechtswidrigen Verwaltungsaktes führt, sind die Vorschriften des jeweils einschlägigen materiellen Rechts.310 Handelt es sich bei den Vorschriften des materiellen Rechts nicht um Ermessensregeln, sondern - wie auch im materiellen Steuerrecht - um bindende Vorschriften ohne Ermessensspielraum und hätte danach eine für den Betroffenen günstigere Entscheidung ergehen müssen, so ergibt sich ein Anspruch des Betroffenen auf Korrektur zu seinen Gunsten.311 Bei einem genaueren Vergleich dieser Korrekturmöglichkeiten stellt man Übereinstimmungen, aber auch Wertungsunterschiede zwischen Steuerrecht und allgemeinem Verwaltungsrecht fest:

a) Grobes Verschulden des Betroffenen am verspäteten Bekanntwerden der günstigen Tatsachen Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 S. 1 AO ist die Korrektur zugunsten des Steuerpflichtigen grundsätzlich ausgeschlossen, wenn den Steuerpflichtigen ein grobes Verschulden daran trifft, daß die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden. Auch der Anspruch des Bürgers auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 VwVfG ist nach Absatz 2 der Vorschrift ausgeschlossen, wenn den Betroffenen ein grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden der Tatsachen trifft. Insoweit besteht Wertungsgleichheit zwischen Steuerrecht und allgemeinem Verwaltungsrecht. In beiden Verfahrensordnungen wird die Durchbrechung der Bestandskraft des Verwaltungsaktes wegen neuer Tatsachen zugunsten des Bürgers an die Wertung seines Verhaltens geknüpft. 312 Dies ist ein allgemeiner Grundsatz im Wiederaufnahmerecht, wie auch § 582 ZPO zeigt.313

309

S.o. 3. Teil Β. ΠΙ. BVerwG NJW 1982, 2204 (2205); BVerwG NJW 1985, 280 f.; Erichsen, Verwaltungsrecht und Verwaltungsgerichtsbarkeit I, S. 167; Sachs, in: Stelkens/Bonk/ Sachs § 51 Rz. 25; Schaarschmidt S. 126; Knoke S. 134; Ule/Laubinger § 65 Rz. 30; Klappstein, in: Knack § 51 Rz. 4.3; a.A.: Maurer § 11 Rz. 61; Meyer, in: Meyer/Borgs § 51 Rz. 3 ff. und 21: Die nach dem Wiederaufgreifen des Verfahrens zu treffende Entscheidung in der Sache richtet sich nicht nach dem jeweiligen materiellen Recht sondern nach den §§ 48,49 VwVfG. 310

311 312 313

Knoke S. 134; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 51 Rz. 25. Martens Rz. 437. Martens Rz. 437, dort Fußn. 40.

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

1

b) Unbeachtlichkeit des Verschuldens bei gleichzeitig nachteiligen Tatsachen aa) Unterschiede Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 S. 2 AO ist das Verschulden des Steuerpflichtigen unbeachtlich, wenn die Tatsachen oder Beweismittel in einem Zusammenhang mit Tatsachen oder Beweismitteln im Sinne der Nummer 1 stehen. Die Korrektur zugunsten des Steuerpflichtigen bleibt also trotz seines Verschuldens möglich, wenn der steuermindernde Vorgang nicht ohne einen steuererhöhenden denkbar ist. 314 Das ist immer dann der Fall, wenn dieselbe Tatsache sowohl für die niedrigere als auch für die höhere Steuer ursächlich ist. 315 Eine solche Wertung ist dem Wortlaut des § 51 VwVfG nicht zu entnehmen. Das hat seinen Grund wohl darin, daß das materielle Steuerrecht von einer oft sehr differenzierten Berücksichtigung tatsächlicher Umstände gekennzeichnet ist. Zusätzliche Einkünfte wirken steuererhöhend, bergen aber oft die Möglichkeit, steuermindernde Abzüge zu berücksichtigen. Die Vorschrift des § 173 Abs. 1 Nr. 2 S. 2 AO trägt dem Umstand Rechnung, daß der Steuerpflichtige etwa aus Furcht vor Entdeckung zusätzlicher Einkünfte, bestimmte Werbungskosten oder Sonderausgaben nicht geltend macht.316 Für das allgemeine Verwaltungsrecht sind derartige Konstellationen untypisch. Soweit ersichtlich ist aus der Rechtsprechung kein Fall bekannt, in dem sich der Betroffene darauf beruft, er habe die für ihn günstige Tatsache nicht geltend gemacht, weil sie neben der Vergünstigung gleichzeitig eine Verböserung des Bescheides zur Folge hätte. Der Gesetzgeber des Verwaltungsverfahrensgesetzes hatte also keinen Anlaß, derartige Situationen zu regeln.

bb) Möglichkeiten zur Vereinheitlichung Es fragt sich, ob die allein auf das Steuerrecht zugeschnittene Vorschrift des § 173 Abs. 2 Nr. 2 S. 2 AO verzichtbar wäre, ob also die Besonderheiten des Steuerrechts eine derartige Sondervorschrift erfordern, die den allgemeinen verwaltungsrechtlichen Korrekturregeln fremd ist.

314

BFH BStBl. Π 1991, 496 (498); Tipke/Kruse

§ 173 Rz. 33; Woerner/Grube

102. 315 316

BFH BStBl. Π 1992, 12 (14); Tipke/Kruse Vgl. Tipke/Kruse § 173 Rz. 33.

§ 173 Rz. 33.

S.

1

4

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Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

Man könnte es durchaus für zumutbar erachten, daß der Steuerpflichtige von Anfang an auch solche Vorteile geltend machen muß, die ihm gleichzeitig schaden.317 Den Steuerpflichtigen treffen im Steuerverwaltungsverfahren nach § 90 Abs. 1 AO umfangreiche Mitwirkungspflichten. 318 Nach Satz 2 der Vorschrift ist er verpflichtet, die für die Besteuerung erheblichen Tatsachen vollständig und wahrheitsgemäß offenzulegen und die ihm bekannten Beweismittel anzugeben. Daneben treffen den Steuerpflichtigen regelmäßig Erklärungspflichten gem. §§ 149 ff. AO, wonach er Steuererklärungen wahrheitsgemäß nach bestem Wissen und Gewissen abzugeben (§ 150 Abs. 2 S. 1 AO) und gegebenenfalls auch zu berichtigen hat (§ 153 AO). 319 Diese Erklärungsund Mitwirkungspflichten bestehen auch dann, wenn sich hieraus für den Steuerpflichtigen nachteilige Folgen ergeben.320 Es ist deshalb nicht ersichtlich, warum es für den Steuerpflichtigen unzumutbar sein soll, steuersenkende Tatsachen von Anfang an geltend zu machen, auch wenn diese gleichzeitig zu einer Steuererhöhung führen. Es wäre deshalb nicht unbillig, auf die dem Verwaltungsrecht unbekannte Korrekturbestimmung in § 173 Abs. 1 Nr. 2 S. 2 AO im Steuerrecht zu verzichten. Dies ist aber letztlich eine rechtspolitische Wertung. Aus rechtswissenschaftlicher Sicht wäre jedenfalls zu fordern, daß insoweit einheitliche Wertungen im Steuerrecht und im allgemeinen Verwaltungsrecht gelten.

c) Ausschluß der Korrektur nach Außenprüfung Gem. § 173 Abs. 2 AO können Steuerbescheide grundsätzlich nicht nach § 173 Abs. 1 AO korrigiert werden, soweit sie aufgrund einer Außenprüfung ergangen sind. Eine vergleichbare Regelung ist in den §§ 48 ff. VwVfG nicht enthalten. Dies wurde für die Fälle der Korrekturen zuungunsten des Steuerpflichtigen schon dargelegt. Der Korrekturausschluß nach einer Außenprüfung gem. § 173 Abs. 2 AO gilt nach dem Wortlaut der Vorschrift aber auch dann, wenn eine Korrektur zugunsten des Steuerpflichtigen nach § 173 Abs. 1 Nr. 2

317

Tipke/Kruse § 90 Rz. 1. Vgl. Tipke/Kruse § 90 Rz. 3; Hartmann, in: Beermann § 90 Rz. 8 ff. 319 v. Wedelstädt, in: Beermann § 173 Rz. 83. 320 Tipke/Kruse § 90 Rz. 1; a.A.: Ule/Becker S. 34 f. zu § 18 Abs. 2 zum Musterentwurf (EVwVerfG 1963), der dem heutigen § 26 Abs. 2 VwVfG entspricht; vgl. auch Einzelbegr. zu § 18 Abs. 2 zum Musterentwurf (EVwVerfG 1963). 318

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

1

AO in Betracht kommt.321 Bei der Korrektursperre des § 173 Abs. 2 AO handelt es sich nicht um eine dem Steuerpflichtigen dienende Schutzvorschrift zur Wahrung seines Bestandsinteresses.322 Die Vorschrift dient vielmehr dem Rechtsfrieden. 323 Es wurde bereits dargelegt, daß § 173 Abs. 2 AO aus diesem Grunde systematisch nicht den Korrekturregeln der §§ 172 ff. AO zuzurechnen ist, sondern eigentlich eine in das Außenprüfungsrecht gehörende Vorschrift ist. Folgt man den oben zu § 173 Abs. 2 AO dargelegten Reformvorschlägen,324 besteht auch insoweit für Korrekturen zugunsten des Betroffenen zwischen den Korrekturregeln der Abgabenordnung und denen des Verwaltungsverfahrensgesetzes kein Unterschied mehr.

d) Besondere zeitliche Korrekturgrenzen Eine Korrektur zugunsten des beteiligten Bürgers wegen nicht berücksichtigter Tatsachen wird in den meisten Fällen auf Betreiben des Bürgers stattfinden. Dem Bürger fallt bei der Wahrnehmung seiner Interessen regelmäßig zuerst auf, daß in einem Verwaltungsakt bestimmte Tatsachen zu seinen Lasten nicht berücksichtigt wurden, denn die Tatsachen stammen aus seiner Sphäre.325 Es dient der endgültigen Klärung des Rechtsverhältnisses zwischen Bürger und Staat, wenn nach Bekanntwerden fehlerhafter Entscheidungsgrundlagen die Entscheidung über die Korrektur zügig herbeigeführt wird. Deshalb besteht ein Bedürfnis daran, daß der Bürger seine Kenntnisse von nicht berücksichtigten Tatsachen alsbald anzeigt, sein Korrekturbegehren also in überschaubarer Zeit geltend macht. Für eine gewisse zeitliche Anforderung spricht auch die dem Bürger nach beiden Verfahrensordnungen obliegende Mitwirkungspflicht zur Aufklärung des Sachverhaltes im Verwaltungsverfahren (vgl. § 90 Abs. 1 AO und § 26 Abs. 2 VwVfG). 326 Eine besondere zeitliche 321

BFH BStBl. Π 1988, 307 (unter ausdr. Aufgabe der noch in BFH BStBl. Π 1985, 146 vertretenen gegenteiligen Auffassung); BFH BStBl. Π 1988, 932 (934); Szymczak, in: Koch/Scholtz § 173 Rz. 30; v. Wedelstädt, in: Beermann § 173 Rz. 118; Woerner/Grube S. 104; Tipke/Kruse § 173 Rz. 34; a.A.: Klein/Orlopp § 173 Anm. 18; Heilmaier DB 1979, 1251 f.; Mennacher DB 1979, 2202 f.; Kühnel DB 1980, 2010 (2011 f.). 322 So aber Klein/Orlopp § 173 Anm. 18; Heilmaier DB 1979, 1251 f.; Mennacher DB 1979, 2202 f.; Kühnel DB 1980,2010 (2011 f.). 323 Begr. zu § 154 AO des RegE, BT-Drucks. 6/1982 S. 153. 324 S.o. l.b). 325 Vgl. Begr. zu § 154 AO des RegE, BT Drucks. 6/1982 S. 153 sowie Tipke/Kruse § 173 Rz. 31. 326 Vgl. v. Wedelstädt, in: Beermann § 173 Rz. 82.

12

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

Begrenzung von Korrekturen wegen nachträglicher Tatsachen ist von den allgemeinen Fristen zu unterscheiden, die bei Korrekturen zu beachten sind. Die allgemeinen Fristenregeln ergeben sich für das Verwaltungsrecht aus § 48 Abs. 4 VwVfG und für das Steuerrecht aus § 169 Abs. 1 S. 1 AO. 327 Hier soll untersucht werden, inwieweit die beiden Korrektursysteme eine besondere zeitliche Beschränkung gerade für den Fall vorsehen, daß Tatsachen zuungunsten des Bürgers nicht berücksichtigt wurden und der Bürger hiervon nachträglich Kenntnis erlangt. Nach § 51 Abs. 3 VwVfG ist der Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nur zulässig, wenn er binnen drei Monaten gestellt wird, seit der Betroffene von dem Grund für das Wiederaufgreifen Kenntnis erhalten hat. Versäumt er diese Frist, ist der Anspruch aus § 51 Abs. 1 VwVfG wegen Unzulässigkeit des Antrags ausgeschlossen.328 Es verbleibt dem Betroffenen dann nur noch ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung329 über ein Wiederaufgreifen nach den §§ 48 ff. VwVfG (vgl. § 51 Abs. 5 VwVfG). Es ist aber regelmäßig ermessensfehlerfirei, wenn die Behörde ein Wiederaufgreifen nach §§ 48 ff. VwVfG ablehnt,330 denn sonst wären die Rechtsmittelfristen und ggf. auch die Frist in § 51 Abs. 3 VwVfG bedeutungslos.331 Eine mit § 51 Abs. 3 VwVfG vergleichbare zeitliche Begrenzung ist in § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO nicht enthalten. Erfahrt der Steuerpflichtige nachträglich von Tatsachen, die zu seinen Lasten im Steuerbescheid nicht berücksichtigt wurden, kann er diese auch nach längerer Zeit seit der Kenntnisnahme noch geltend machen. Das gilt jedenfalls bis zum Eintritt der Festsetzungsverjährung. 332 Dieser Unterschied zwischen verwaltungsrechtlichem und steuerrechtlichem Korrektursystem erscheint nicht zwingend notwendig zu sein. Materielles Verwaltungsrecht und Steuerrecht weichen nicht in einer Weise voneinander ab, die es erfordern würde, einen Korrekturanspruch des Bürgers nur in einem der Rechtsgebiete durch eine besondere Frist auszuschließen. Vielmehr

327

S.o. 4. Teil Α. IV. WolfflBachofl Stober § 51 Rz. 124. 329 Vgl. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 54; Kopp § 48 Rz. 36. 330 Begr. zu § 44 Abs. 1 VwVfG des RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 69; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 61; WolfflBachofl Stober § 51 Rz. 121; a.A.: UlelBecker S. 57: Verpflichtung der Behörde zur Rücknahme rechtswidriger belastender Verwaltungsakte. 331 Begr. zu § 44 Abs. 1 VwVfG des RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 69. 332 S.o. 4. Teil Α. IV. 328

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

1

kann es sein, daß durch diesen Unterschied der beiden Korrektursysteme sehr ähnliche Interessenlagen unterschiedlich behandelt werden. Das zeigt sich besonders dann, wenn dieselbe Tatsache in einem Steuerbescheid und gleichzeitig in einem Beitragsbescheid nicht berücksichtigt wurde. Bemerkt der Bürger etwa nachträglich, daß die in einem Straßenbaubeitragsbescheid und in einem steuerrechtlichen Bewertungsbescheid jeweils zugrundegelegte Grundstücksgröße die wirkliche Größe des Grundstücks übersteigt und versäumt er, die Korrektur der beiden Bescheide innerhalb von drei Monaten seit Kenntnisnahme zu beantragen, so ergeben sich unterschiedliche Folgen. Die für den Beitragsbescheid zuständige Verwaltungsbehörde ist zur Ablehnung des Antrags berechtigt, da die Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG verstrichen ist. Gegenüber dem für den Bewertungsbescheid zuständigen Finanzamt bestünde dagegen ein Anspruch aus § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO auf Korrektur des Steuerbescheides. Diese Differenzierung ist sachlich nicht zu rechtfertigen. Zum Zwecke der Vereinheitlichung beider Korrektursysteme könnte man daran denken, die Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG in die Vorschrift des § 173 AO aufzunehmen. Es könnte etwa in § 173 Abs. 2 AO ein zusätzlicher Satz 3 angefügt werden:

„Eine Korrektur zugunsten des Steuerpflichtigen nach Absatz 1 Nr. 2 ist unzulässig, wenn er die Tatsachen nicht innerhalb von drei Monaten angezeig hat, nachdem er von ihnen Kenntnis erhalten hat. " Eine solche Korrekturbegrenzung hätte auch im Steuerrecht ihren Sinn. Der Steuerpflichtige hat grundsätzlich die Möglichkeit, innerhalb eines Monats seit der Bekanntgabe des Steuerbescheides Einspruch einzulegen, wenn er den Bescheid für rechtswidrig hält. Innerhalb dieser Frist überwiegt das Interesse an Rechtsschutz und Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns. Mit zunehmender Zeitdauer gewinnt aber das Interesse an Rechtssicherheit an Gewicht, da behördliche Entscheidungen nicht unüberschaubar lange anfechtbar sein sollen. Nach Ablauf der einmonatigen Einspruchsfrist erlangt das Bedürfnis an Rechtssicherheit schließlich Übergewicht. Ein Einspruch ist nicht mehr zulässig, auch wenn der Bescheid rechtswidrig sein sollte. Werden dem Steuerpflichtigen erst nach Ablauf der Einspruchsfrist Tatsachen bekannt, die im Steuerbescheid nicht berücksichtigt wurden, so erscheint ein Korrekturanspruch wie in § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO grundsätzlich angemessen, denn der Steuerpflichtige konnte die Einspruchsfrist mangels Kenntnis der unberücksichtigten Tatsachen nicht einhalten. Dieser Korrekturanspruch des Steuerpflichtigen sollte aber - genauso wie sein Einspruchsrecht - einer zeitlichen Grenze unterliegen, mit der das zunehmende Bedürfnis an Rechtssicherheit berücksichtigt wird. Damit können bezüglich der Fristenregelung in § 51

1

4

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Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

Abs. 3 VwVfG im steuerrechtlichen Korrektursystem gleiche Wertungen gelten.

V· Widerstreitende Verwaltungsakte Erläßt die Behörde zwei oder mehrere Verwaltungsakte, in denen Rechtsnormen auf denselben Sachverhalt in einer sich gegenseitig ausschließenden Art und Weise angewendet werden, dann ist einer der Verwaltungsakte zwangsläufig fehlerhaft. Das ist etwa der Fall, wenn ein Steuerpflichtiger aufgrund desselben Sachverhaltes sowohl zur Einkommen- als auch zur Schenkungsteuer herangezogen wird. Es soll untersucht werden, inwieweit solche widerstreitenden Verwaltungsakte im Steuerrecht und im allgemeinen Verwaltungsrecht als Korrekturgrund angesehen werden.

7. Allgemeines Erläßt die Behörde zwei widerstreitende Verwaltungsakte, liegt der Mangel des Verwaltungshandelns nicht im Tatsachenbereich. Die Behörde ist vielmehr von einem zutreffenden Sachverhalt ausgegangen und hat bei ihrer Entscheidung alle tatsächlichen Umstände berücksichtigt. Statt dessen liegt bei einem der Verwaltungsakte ein Rechtsanwendungsfehler vor, weil die Behörde Rechtsnormen falsch ausgelegt hat. Bei der Korrektur von Rechtsanwendungsfehlern ist im allgemeinen größere Zurückhaltung geboten als beim nachträglichen Bekanntwerden unberücksichtigter Tatsachen.333 Der Grund hierfür liegt in der Abwägung zwischen Rechtmäßigkeit einerseits und Rechtssicherheit sowie Vertrauensschutz andererseits. Stellt sich nachträglich ein anderer Sachverhalt heraus, als er der Entscheidung zugrunde gelegt wurde, ist für alle Beteiligten deutlich sichtbar, daß dem Verwaltungsakt die Grundlage fehlt. Korrigiert die Behörde daraufhin den Verwaltungsakt, beeinträchtigt dies die Rechtssicherheit nur mäßig. Eine geänderte Interpretation von Rechtsnormen ist dagegen weniger einsichtig und mag oft streitig sein.334 Es ist gerade auch die Funktion eines abgeschlossenen Verwaltungsverfahrens, nie ganz auszuschließende Meinungsverschiedenheiten über die richtige Norminterpretation durch eine verbindliche Entscheidung zu beenden.335 Korrigiert die Behörde den Verwaltungsakt aufgrund einer geänderten Norminterpretation, entsteht 333 334 335

Martens Rz. 458. Martens Rz. 458. Martens Rz. 458.

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

15

der Eindruck, der Staat sei unentschlossen und bei Anwendung seiner eigenen Vorschriften unsicher. Die Rechtssicherheit wird hierbei stark beeinträchtigt. Aus diesem Grunde wird die Durchbrechung der Bestandskraft eines Verwaltungsaktes im Falle von Rechtsanwendungsfehlern nur in hinreichend deutlichen, offenkundigen Fällen angemessen erscheinen. Dies wird im Verwaltungsverfahrensgesetz und in der Abgabenordnung bereits in den Regeln über die Nichtigkeit von Verwaltungsakten deutlich. Ist die fehlerhafte Rechtsanwendung besonders schwerwiegend und zudem offenkundig, so ist der Verwaltungsakt nichtig und damit schon kraft Gesetzes unwirksam (§ 44 i.V.m. § 43 Abs. 3 VwVfG und § 125 i.V.m. § 124 Abs. 3 AO). Außerdem ermächtigen beide Verfahrensordnungen in Fällen offenbarer Unrichtigkeiten zur jederzeitigen Korrektur des Verwaltungsaktes (§ 42 VwVfG und § 129 AO). Ähnlich offenkundig kann die fehlerhafte Rechtsanwendung im Fall widerstreitender Verwaltungsakte sein. Wenn die Verwaltung materielle Rechtsnormen auf denselben Sachverhalt in sich gegenseitig ausschließender Art und Weise anwendet, steht zweifellos fest, daß einer der Verwaltungsakte fehlerhaft ist. Der Bürger kann in diesen Fällen nicht darauf vertrauen, daß die Rechtsanwendung durch die Behörde richtig war. Das Interesse an der Herstellung rechtmäßiger Umstände überwiegt dann gegenüber dem Interesse an Vertrauensschutz und Rechtssicherheit.

2. Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung Das Steuerrecht enthält in § 174 AO verschiedene Rechtsgrundlagen zur Korrektur widerstreitender Steuerbescheide. Vor Einführung des § 174 AO waren Finanzverwaltung und Finanzrechtsprechung immer wieder mit widerstreitenden Steuerbescheiden konfrontiert worden. Mangels ausdrücklicher Reglung in der Reichsabgabenordnung336 war es erforderlich gewesen, zur Lösung dieser Fälle auf generalklauselartige Grundsätze wie Treu und Glauben 337 , auf Analogien zu anderen Vorschriften 338 oder auf sonstige Hilfskon-

336

Einzige Ausnahme § 78 RAO 1931 : Entscheidungsbefugnis der nächsthöheren Behörde für den Fall der Heranziehung eines Steuerpflichtigen aufgrund desselben Vorgangs zu derselben Steuer durch verschiedene Finanzämter. 337

RFH RStBl. 1932, 623 (623); 1943, 501 (501); RFHE 33, 290 (298); BFH BStBl. ΠΙ 1953, 97 (98); 1956, 85 (85). 338 Vgl. Becker!RiewaldlKoch § 152 Anm. 5. 10 Arndt

16

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

struktionen 339 zurückzugreifen. Die Vorschrift ist der erste gesetzgeberische Versuch, das Problem widerstreitender Verwaltungsakte zu lösen.340 In Absatz 1 und 2 der Vorschrift ist der sogenannte positive Widerstreit geregelt. Ein positiver Widerstreit liegt vor, wenn derselbe Sachverhalt mehrfach zuungunsten (§ 174 Abs. 1 AO) oder zugunsten (§ 174 Abs. 2 AO) des Steuerpflichtigen berücksichtigt wird, obwohl er nur einmal hätte berücksichtigt werden dürfen. Bei der Mehrfachberücksichtigung zuungunsten erfolgt die Korrektur nur auf Antrag des Steuerpflichtigen. Handelt es sich um eine Mehlfachberücksichtigung zugunsten, erfolgt die Korrektur von Amts wegen, jedoch nur dann, wenn die Berücksichtigung des Sachverhaltes auf einen Antrag oder eine Erklärung des Steuerpflichtigen zurückzufuhren ist (§ 174 Abs. 2 S. 2 AO). In § 174 Absatz 3 bis 5 AO ist der sogenannte negative Widerstreit geregelt. Danach ist die Finanzbehörde zur Korrektur ermächtigt, wenn sie einen Sachverhalt in zwei Steuerbescheiden nicht berücksichtigt hat, obwohl sie ihn einmal hätte berücksichtigen müssen (§ 174 Abs. 3 AO) oder wenn in einem Steuerbescheid Folgerungen nicht berücksichtigt sind, die sich aus einer durch den Steuerpflichtigen veranlaßten Korrektur eines anderen Steuerbescheides ergeben (§ 174 Abs. 4 und 5 AO). In den Fällen des negativen Widerstreits ist die Korrektur nach dem Gesetzeswortlaut in das Ermessen der Finanzbehörde gestellt. Allerdings soll dieser Ermessensspielraum nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes sowie nach überwiegender Auffassung in der steuerrechtlichen Literatur stets auf Null reduziert sein.341 Die jeweiligen Tatbestandsvoraussetzungen würden den Vertrauensschutz des Steuerpflichtigen bereits hinreichend berücksichtigen, so daß für eine Ermessensentscheidung der Finanzbehörde kein Raum mehr verbliebe. Hierzu wird noch Stellung zu nehmen sein.342 Im Verwaltungsverfahrensgesetz werden widerstreitende Verwaltungsakte nicht gesondert als Anknüpfungspunkt für eine Korrektur erwähnt. Eine mit § 174 AO vergleichbare Regelung ist nicht vorhanden.343 Würde man Fälle 339

Tipke/Kruse, Reichsabgabenordnung § 93 Rz. 4. Begr. zu § 155 AO des RegE BT-Drucks. 6/1982 S. 153. 341 BFH BStBl. Π 1986, 241 (243); 1990, 458; ν. Wedelstädt, in: Beermann § 174 Rz. 85 und 114; Szymczak, in: Koch/Scholtz § 174 Rz. 15/1 und 23/2; a.A.: Tipke/Kruse § 174 Rz. 13 für Korrekturen zuungunsten des Steuerpflichtigen. 342 S.u. d) bb) (1.) und d) bb) (2.). 343 Ansätze für vergleichbare Regelungen im Prozeßrecht enthielt § 184 des Entwurfes einer Verwaltungsprozeßordnung und als Sonderregeln für das sozialgerichtliche Verfahren die §§182 bis 184 des Entwurfes eines Verwaltungsgerichtsgesetztes („Speyerer Entwurf 4). 340

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

1

von widerstreitenden Steuerbescheiden nach den Vorschriften des Verwaltungsverfahrensgesetzes korrigieren wollen, müßte man die allgemeine Regelung des § 48 VwVfG heranziehen.344 Es soll untersucht werden, ob sich dabei von § 174 AO abweichende Ergebnisse ergeben würden. Soweit sich Unterschiede zwischen beiden Korrektursystemen ergeben und diese als nicht gerechtfertigt erscheinen, werden Möglichkeiten zur Vereinheitlichung aufgezeigt.

a) Fälle des § 174 Abs. 1 AO Ist ein bestimmter Sachverhalt in mehreren Steuerbescheiden zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt worden, obwohl er nur einmal hätte berücksichtigt werden dürfen, so muß das Finanzamt den Fehler gem. § 174 Abs. 1 AO korrigieren. Hätte das Finanzamt in dieser Situation nicht die Vorschrift des § 174 Abs. 1, sondern die des § 48 Abs. 1 VwVfG zur Verfügung, so wäre sie zu einer vollständigen oder teilweisen Rücknahme des betroffenen Steuerbescheides ermächtigt und könnte so zu dem gleichen Ergebnis gelangen wie mit Hilfe des § 174 Abs. 1 AO. Ein Unterschied ergibt sich dabei nur aus der Sicht des Bürgers. Während der Steuerpflichtige nach § 174 Abs. 1 AO auf Antrag einen Anspruch auf Korrektur hat, ergibt sich für ihn aus § 48 Abs. 1 VwVfG nur ein Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung. Damit besteht aber noch kein Wertungsunterschied zwischen beiden Vorschriften. Es wurde schon erwähnt, daß § 48 VwVfG als allgemeine Verfahrensregel zu viele Rechtsgebiete erfassen muß, um die Fälle zu benennen, in denen die Verwaltung zur Korrektur verpflichtet sein soll. 345 Man könnte aber daran denken, daß das Rücknahmeermessen aus § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG in den von § 174 Abs. 1 AO umschriebenen Fällen stets auf Null reduziert wäre. Grundsätzlich muß man eine Verpflichtung der Behörde zur Korrektur eines rechtswidrigen belastenden Verwaltungsaktes nach dessen Unanfechtbarkeit verneinen, sofern nicht Gründe vorliegen, das Verfahren nach § 51 VwVfG wieder aufzugreifen. 346 Wäre die Behörde stets verpflichtet, rechtswidrige belastende Verwaltungsakte nach § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG zu korrigieren, würden die Rechtsbehelfsfristen bedeutungslos werden. Eine Reduzierung des in § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG enthaltenen Ermessens in Richtung einer behördlichen Korrekturpflicht darf deshalb nur in Ausnah344 V g l Martens Rz. 466, sowie dort Fußn. 137. 345 S.o. unter A.V.l.b). 346 S.o. IV. 2. d); Begr. zu § 44 Abs. 1 VwVfG des RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 69; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 61; WolJJlBachoflStober § 51 Rz. 121.

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Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

mefallen angenommen werden. Für solche Ausnahmen müssen zu der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes zusätzliche Besonderheiten hinzukommen, die in ihrer Bedeutung den Wiederaufnahmegründen in § 51 VwVfG entsprechen.347 Eine solche Ausnahme kann in den in § 174 Abs. 1 AO umschriebenen Fällen erblickt werden. Zum einen drängt sich in Fällen widerstreitender Verwaltungsakte die Rechtswidrigkeit des Verwaltungshandelns in besonderem Maße auf. Je mehr sich der Fehler eines Verwaltungsaktes aufdrängt, desto weniger wird die Behörde an dessen Bestand festhalten dürfen. 348 Außerdem soll die nach Unanfechtbarkeit eines belastenden Verwaltungsaktes eintretende Bestandskraft bewirken, daß ein Rechtsverhältnis zwischen Bürger und Staat nicht ständig im Streit, sondern nach Ablauf einer gewissen Zeit endgültig geklärt ist. Die Behörden sollen irgendwann „zur Ruhe kommen".349 Greift aber die Exekutive einen vormals schon durch Verwaltungsakt beurteilten Sachverhalt erneut auf und zieht sie in einem zweiten belastenden Verwaltungsakt andere rechtliche Schlüsse als zuvor, so begibt sie sich selbst ihrer „Ruhe". Dann verlangt es aber die Billigkeit, daß dem Bürger hieraus nicht nur die nachteiligen, sondern auch die günstigen Folgen erwachsen. Deshalb muß auf seinen Antrag hin der ihn doppelt belastende Widerstreit durch Korrektur des fehlerhaften Verwaltungsaktes aufgelöst werden. Dasselbe gilt, wenn zwei widerstreitende belastende Verwaltungsakte gleichzeitig zugehen. Hier kann man vom Bürger zwar verlangen, daß er innerhalb eines Monats einen Rechtsbehelf einlegt. Der Bürger wird sich aber fragen, welcher der beiden Bescheide der rechtswidrige ist. Sicher wäre er gut beraten, gegen beide Bescheide vorzugehen. Allerdings darf ihm auch kein Nachteil erwachsen, wenn er - durch den Widerstreit in die Irre gefuhrt - allein gegen den rechtmäßigen Bescheid Widerspruch einlegt. Nach dem erfolglosen Vorverfahren wäre der rechtswidrige Bescheid längst unanfechtbar. Beantragt der Bürger nun die Korrektur des rechtswidrigen Bescheides nach § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG, muß die Behörde seinem Begehren nachkommen. Im übrigen wird überwiegend befürwortet, bei Anwendung der §§ 48 ff. VwVfG die steuerrechtlichen Korrekturregeln der §§ 172 ff AO als Auslegungs- und Wertungshilfen heranzuziehen.350 Die §§ 172 ff. AO eignen sich insbesondere dann als Wertungshilfen im Verwaltungsrecht, wenn sie bestimmte Korrektursituationen ausdrücklich aufgreifen und genauer regeln, als es in den §§ 48 ff. VwVfG geschehen ist. Widerstreitende Steuerfestsetzungen sind in 347

Vgl. Martens NJW 1963, 1856 (1857 ff). Vgl. BVerwGE 39, 231 (233). 349 Vgl. Begr. zu § 44 Abs. 1 VwVfG des RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 69. 350 Steiner VerwArch Bd. 83 (1992), 479 (480), dort Fußn. 2; vgl. auch Hill S. 8 sowie Klappstein/v. Unruh S. 161 f.; einschr. Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs Einl. Rz. 57. 348

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

1

der Abgabenordnung als gesonderte Korrektursituation ausdrücklich geregelt. Wenn das Verwaltungsverfahrensgesetz widerstreitende Verwaltungsakte nicht gesondert regelt, sondern mit Hilfe der sehr allgemeinen Ermessensvorschrift des § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG zu bewältigen versucht, dann sollte § 174 Abs. 1 AO als Orientierungshilfe bei der Ermessensausübung herangezogen werden. Man käme also in den Fällen des § 174 Abs. 1 AO zu den gleichen Korrekturergebnissen, wie wenn man die verwaltungsrechtlichen Rücknahmeregeln anwenden würde.

b) Fälle des § 174 Abs. 2 AO Fraglich ist, ob auch einheitliche Korrekturergebnisse erzielt werden, wenn man § 48 VwVfG auf die Fälle des § 174 Abs. 2 AO anwenden würde. § 174 Abs. 2 AO ordnet eine Korrektur an, wenn ein Sachverhalt irrigerweise in zwei Steuerbescheiden zugunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt wurde. Das gilt nach Satz 2 der Vorschrift aber nur dann, wenn die doppelte Berücksichtigung auf einen Antrag oder eine Erklärung des Steuerpflichtigen zurückzuführen ist. Diese Einschränkung dient dem Vertrauensschutz, denn es handelt sich um eine Korrektur zuungunsten des Bürgers. Würde man § 48 VwVfG auf diese Fälle anwenden, könnte die belastende Korrektur nur unter den vertrauenschützenden Einschränkungen des Absatzes 2 der Vorschrift erfolgen, denn es ginge um die Rücknahme eines belastenden Verwaltungsaktes zum Zwecke der Ersetzung durch einen noch stärker belastenden Bescheid.351 Nach der Wertung, die den vertrauenschützenden Regeln des § 48 Abs. 2 VwVfG zugrunde liegt, 352 entfällt ein Vertrauensschutz, wenn die Fehlerhaftigkeit des Verwaltungsaktes überwiegend dem Betroffenen zuzurechnen ist (vgl. § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 und 2 VwVfG 353 ). Diese Wertung entspricht deqenigen des § 174 Abs. 2 S. 2 AO, denn wenn die doppelte Berücksichtigung eines steuermindernden Sachverhaltes auf eine Erklärung oder einen Antrag des Steuerpflichtigen zurückzuführen ist, ist ihm die Fehlerhaftigkeit des Verwaltungsaktes zuzurechnen. Allerdings ist eine Korrektur nach § 174 Abs. 2 AO völlig ausgeschlossen, wenn die doppelte Berücksichtigung des Sachverhaltes nicht auf eine Erklärung oder einen Antrag des Steuerpflichtigen zurückzuführen ist, ihm der Fehler also nicht zugerechnet werden kann. Nach den Rücknahmeregeln des allgemeinen Verwaltungsrechts wäre die Korrektur aber dennoch möglich, 351 352 353

S.o. Α. Π. 2. b). S.o. IV. l.a). S.o. Schaubild zu IV. 1. a) bb).

1

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

wenn der Betroffene die Fehlerhaftigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte (§ 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 VwVfG). Daneben wäre die Korrektur auch dann regelmäßig möglich, wenn der Betroffene über einen aus der doppelten Begünstigung erlangten Vorteil noch verfügen könnte (vgl. § 48 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 S. 2 VwVfG). Insoweit würde § 48 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 VwVfG in Fällen widerstreitender Bescheide weitergehendere Korrekturmöglichkeiten eröffnen, als § 174 Abs. 2 AO. Es ist aber zu berücksichtigen, daß § 174 Abs. 2 AO nicht der einzige Korrekturtatbestand im System der §§ 172 ff. AO ist. Es wird daher Fälle geben, in denen die Korrektur widerstreitender Verwaltungsakte nach § 174 Abs. 2 wegen Satz 2 der Vorschrift ausgeschlossen ist, die Korrektur aber dennoch aufgrund einer anderen Vorschrift möglich bleibt. 354 Im übrigen verbleibt jedoch ein Wertungsunterschied zwischen beiden Korrektursystemen, der sich nicht mehr durch eine Ermessensreduzierung beseitigen läßt. Dieser Wertungsunterschied entspricht der Differenz, die bereits beim Vergleich zwischen § 48 Abs. 2 VwVfG und § 173 AO Abs. 1 Nr. 1 AO aufgezeigt wurde. 355 Das Verwaltungsverfahrensgesetz erlaubt ungünstige Korrekturen, wenn der Betroffene die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte und regelmäßig dann, wenn er über den durch die Begünstigung erlangten Vorteil noch verfügen kann. Nach § 174 Abs. 2 AO ist die Korrektur in diesen Fällen ausgeschlossen, sofern der Fehler nicht gleichzeitig auf einen Antrag oder eine Erklärung des Steuerpflichtigen zurückzuführen ist. Fraglich ist, ob sich insoweit eine Anpassung der beiden Korrektursysteme empfiehlt. Dabei könnte man daran denken, den vertrauensausschließenden Rechtsgedanken des § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 VwVfG in die Vorschrift des § 174 Abs. 2 AO einzubeziehen. Der Rechtsgedanke des § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 VwVfG besteht darin, daß ein Betroffener mit der Korrektur eines Verwaltungsaktes rechnet oder rechnen muß, wenn ihm die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes bekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit unbekannt ist. Die Abwägung zwischen Vertrauensschutz und Rechtsrichtigkeit fällt dann stets zugunsten der Rechtsrichtigkeit aus. Dieser Gedanke ist überall im allgemeinen Verwaltungsrecht anerkannt. Es ist nicht ersichtlich, warum er bei Korrekturen eines Steuerbescheides zu Lasten eines Steuerpflichtigen wegen mangelnder Berücksichtigung von Tatsachen nicht gelten soll. Es würde sich deshalb empfehlen, die Einschränkung des § 174 Abs. 2 S. 2 AO um den Gedanken des § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 VwVfG zu erweitern, so daß die Vorschrift dann lauten würde:

354 355

Vgl. Brüning S. 126 f. sowie Frotscher, in: Schwaiz § 173 Rz. 7. S.o. Schaubild zu IV. 1. a) bb).

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

„Der fehlerhafte wenn

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Steuerbescheid darf jedoch nur dann geändert werden,

1. die Berücksichtigung des Sachverhaltes auf einem Antrag oder einer Erklärung des Steuerpflichtigen beruht oder 2. der Steuerpflichtige die Rechtswidrigkeit der Berücksichtigung oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte oder

kannte

3. wenn der Steuerpflichtige einen durch die doppelte Begünstigung erlang ten Vorteil noch nicht ausgegeben oder noch keine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. " Mit diesem Zusatz würde § 174 Abs. 2 AO den Wertungen der verwaltungsrechtlichen Rücknahmeregeln entsprechen. Alternativ zu diesem Zusatz wäre es auch möglich, den Rechtsgedanken des § 48 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 VwVfG als eigenständigen Korrekturtatbestand in § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO aufzunehmen.

c) Fälle des § 174 Abs. 3 AO § 174 Abs. 3 AO ermächtigt zur Korrektur in Fällen eines negativen Widerstreits. Voraussetzung dafür ist, daß ein bestimmter Sachverhalt in einem Steuerbescheid erkennbar in der Annahme nicht berücksichtigt worden ist, daß er in einem anderen Steuerbescheid zu berücksichtigen sei, und diese Annahme sich als unrichtig herausstellt. Die Behörde ist dann zur Korrektur des rechtswidrigen Steuerbescheides ermächtigt. § 174 Abs. 3 AO ermächtigt gleichermaßen zu Korrekturen zugunsten wie zuungunsten des Steuerpflichtigen.356 Für den Vergleich mit dem Verwaltungsrecht müssen diese beiden Möglichkeiten getrennt betrachtet werden.

aa) Korrekturen

zugunsten des Steuerpflichtigen

Würde man das Verwaltungsverfahrensgesetz auf die steuerrechtlichen Fälle anwenden, in denen ein bestimmter Sachverhalt nicht berücksichtigt

356

S. 113.

Begr. zu § 155 Abs. 3 AO des RegE, BT-Drucks. 6/1982 S. 154; Woerner/Grube

12

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

wurde, der zu einer niedrigeren Steuer geführt hätte, käme eine Korrektur nach § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG in Betracht, denn es ginge hierbei um die Rücknahme eines rechtswidrigen belastenden Verwaltungsaktes. Während nach § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG die Rücknahme eines rechtswidrigen belastenden Verwaltungsaktes ohne weitere Voraussetzungen möglich ist, setzt § 174 Abs. 3 AO seinem Wortlaut nach einschränkend voraus, daß die Nichtberücksichtigung des Sachverhaltes „erkennbar" gewesen ist. Das Merkmal der Erkennbarkeit in § 174 Abs. 3 AO wird aber in der steuerrechtlichen Literatur zum Teil als entbehrlich angesehen, wenn die Korrektur zugunsten des Steuerpflichtigen erfolgen soll. 357 Dem ist zuzustimmen. Das Merkmal der Erkennbarkeit soll dem Vertrauensschutz des Steuerpflichtigen dienen.358 Vertrauensschutz ist aber nicht erforderlich, wenn der Bürger vom Staat benachteiligt wurde. Die Korrektur nach § 174 Abs. 3 AO muß daher zugunsten des Steuerpflichtigen auch möglich sein, wenn die Nichtberücksichtigung des Sachverhaltes nicht erkennbar gewesen ist. Man wird § 174 Abs. 3 AO in diesen Fällen analog anzuwenden haben.359 Gegen die Zulässigkeit einer solchen Analogie bestehen keine Bedenken, da sie sich weder steuerbegründend noch steuerverschärfend auswirken würde. 360 Dies ist auch mit Blick auf die verwaltungsrechtlichen Rücknahmeregeln eine harmonisierende Betrachtungsweise. Im Verwaltungsrecht wird die Rücknehmbarkeit von Verwaltungsakten nur bei Korrekturen zuungunsten des Betroffenen durch die vertrauensschützenden Regeln des § 48 Abs. 2 VwVfG begrenzt (§ 48 Abs. 1 S. 2 VwVfG). Die Rücknahme rechtswidriger belastender Verwaltungsakte ist dagegen ohne weitere Voraussetzungen möglich (§ 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG). Genauso wie § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG eröffnet die Rechtsfolge des § 174 Abs. 3 AO der Finanzbehörde dem Wortlaut nach ein Korrekturermessen. Für Korrekturen zugunsten des Steuerpflichtigen wird in der steuerrechtlichen Literatur überwiegend allerdings vertreten, daß das Ermessen in § 174 Abs. 3 AO stets auf Null reduziert sei, so daß die Behörde die Korrektur vornehmen müsse.361 Begründet wird diese Betrachtungsweise damit, daß die Behörde 357

V. Wedelstädt DB 1981, 2574 (2575); Macher DStR 1979, 548 (552); Tipke/Kruse § 174 Rz. 1 le; Woerner/Gruhe S. 114; a.A.: Frotscher, in: Schwarz § 174 Rz. 56; Weber-Grellet StBp. 1982, 29 (34); Brüning S. 64 ff. 358 Tipke/Kruse § 174 Rz. 11; v. Wedelstädt DB 1981, 2574 (2575); Macher DStR 1979, 548 (552); Woemer/Grube S. 114. 359 Gl. Α.: Woerner/Grube S. 114; v. Wedelstädt DB 1981, 2574 (2575); Macher DStR 1979, 548 (552). 360 v. Wedelstädt DB 1981,2574(2575). 361 v. Wedelstädt DB 1981, 2574 (2575); Macher DStR 1979, 548 (552); Tipke/Kruse § 174 Rz. 11c; mißverständlich, aber wohl zust. die Begr. zu § 155 Abs. 3 AO des RegE, BT-Drucks. 6/1982 S. 154.

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

15

gegen die Grundsätze der Gleichmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit der Steuerfestsetzung verstoße, wenn sie ihr Ermessen nicht zur Korrektur nutze.362 Außerdem würde die Verwaltung sich in Widerspruch zu ihrem eigenen Verhalten setzen.363 Sie könne nicht einerseits einen günstigen Sachverhalt unberücksichtigt lassen, um ihn später zu berücksichtigen und andererseits von der später möglichen Berücksichtigung des Sachverhaltes im Wege einer Korrektur des ersten Bescheides keinen Gebrauch machen. Dieser Betrachtungsweise kann nur zugestimmt werden, soweit die widerstreitende Nichtberücksichtigung erkennbar war. War die widerstreitende Nichtberücksichtigung dagegen nicht erkennbar, muß der Finanzbehörde Korrekturermessen verbleiben. Wie oben schon dargelegt wurde, ist die Durchbrechung der Bestandskraft von Verwaltungsakten zur Korrektur von Rechtsanwendungsfehlern nur in hinreichend offenkundigen Fällen geboten.364 Bei der widerstreitenden Berücksichtigung eines Sachverhaltes, also in den Fällen des § 174 Abs. 1 und 2 AO, ist der Fehler stets offenkundig, denn es stehen zwei sich ausschließende, „aktive" Entscheidungen der Behörde nebeneinaner. Bei einer Nichtberücksichtigung tritt dagegen der Widerstreit zweier Bescheide nicht ohne weiteres zutage, denn ein „passives" Nichtberücksichtigen fallt nicht unbedingt auf. Die Widersprüchlichkeit ergibt sich erst dann, wenn die Nichtberücksichtigung zum Zwecke der Berücksichtigung in einem anderen Bescheid erkennbar war. Deshalb kann von einer Ermessensreduzierung des § 174 Abs. 3 AO in Richtung einer Korrektur zugunsten des Steuerpflichtigen erst dann ausgegangen werden, wenn der Widerstreit erkennbar war. Ist die widerstreitende Nichtberücksichtigung dagegen nicht erkennbar, muß das in § 174 Abs. 3 AO eingeräumte Ermessen bestehenbleiben. Der zu korrigierende Rechtsanwendungsfehler ist dann nicht derart offenkundig, daß eine Korrektur zwingend geboten wäre. Gleichwohl bleibt die Behörde ermächtigt, die Korrektur im Rahmen einer Ermessensentscheidung vorzunehmen. Aus Sicht des Steuerpflichtigen ergibt sich bei einem nicht erkennbaren Widerstreit also kein Anspruch auf Korrektur, sondern nur ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung. Die „Erkennbarkeit" ist bei Korrekturen zugunsten des Steuerpflichtigen somit keine einschränkende Tatbestandsvoraussetzung, sondern wirkt sich allenfalls auf der Rechtsfolgenseite ermessensreduzierend zu seinen Gunsten aus. Diese Betrachtungsweise entspricht auch den Wertungsgrundsätzen im allgemeinen Verwaltungsrecht. Die Rücknahme eines rechtswidrigen belasten-

362

V. Wedelstädt, in: Beermann § 174 Rz. 85. v. Wallis, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler § 174 Rz. 16a; v. Wedelstädt, Beermann § 174 Rz. 85; in diesem Sinne wohl auch die Begr. zu § 155 Abs. 3 AO des RegE BT-Drucks. 6/1982 S. 154. 364 S.o. Martens Rz. 458. 363

in:

1

4

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Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

den Verwaltungsaktes ist an keine einschränkenden Voraussetzungen gebunden (§ 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG). Auf der Rechtsfolgenseite des § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG hat die Behörde aber Ermessen. Es ist inzwischen allgemein anerkannt, daß sich das Ermessen in § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG nur in besonders qualifizierten Ausnahmefallen auf Null reduziert. 365 Eine allgemeine Pflicht zur Rücknahme rechtswidriger belastender Verwaltungsakte würde zu einer Aushöhlung der Rechtsbehelfsfristen führen. Würde man § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG auf die Fälle des § 174 Abs. 3 AO anwenden, so wäre die Behörde ebenfalls nur berechtigt, nicht aber verpflichtet, den Steuerbescheid zu korrigieren. Wäre es dagegen erkennbar gewesen, daß ein Sachverhalt in einem Bescheid nicht berücksichtigt wurde, weil er in einem anderen Bescheid berücksichtigt werden sollte, so würde man auch bei § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG ausnahmsweise eine Ermessensreduzierung in Richtung auf eine Korrekturpfliclii abnehmen. So betrachtet bestünde in Fällen der Korrektur zugunsten des Betroffenen kein Wertungsunterschied zwischen § 174 Abs. 3 AO und § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG. Es wäre aber eine klarstellende Änderung des § 174 Abs. 3 AO wünschenswert, in der man zwischen Korrekturen zugunsten und zuungunsten des Steuerpflichtigen unterscheiden müßte. Die Vorschrift könnte etwa in ihren ersten beiden Sätzen lauten:

„Ist ein bestimmter Sachverhalt, der zu einer niedrigeren Steuer führt, in einem Steuerbescheid in der Annahme nicht berücksichtigt worden, daß er in einem anderen Steuerbescheid zu berücksichtigen sei, und stellt sich diese Annahme als unrichtig heraus, so kann die Steuerfestsetzung, bei der die Berücksichtigung des Sachverhaltes unterblieben ist, insoweit nachgeholt, auf gehoben oder geändert werden. Die Steuerfestsetzung ist nachzuholen, aufzu heben oder zu ändern, wenn die Nichtberücksichtigung und die Annahme der Berücksichtigung in einem anderen Bescheid erkennbar waren

bb) Korrekturen

zuungunsten des Steuerpflichtigen

Würde man das Verwaltungsverfahrensgesetz auf die Fälle des § 174 Abs. 3 AO anwenden, in denen ein Sachverhalt nicht berücksichtigt wurde, der zu einer höheren Steuer führt, käme § 48 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 48 Abs. 2 VwVfG als Rechtsgrundlage für die Korrektur in Betracht. Zwar ginge es

365

S.o. IV. 2. d); Begr. zu § 44 Abs. 1 VwVfG des RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 69; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 61; WolfflBachoflStober § 51 Rz. 121.

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

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eigentlich um die Rücknahme eines belastenden Verwaltungsaktes, so daß allein § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG anwendbar wäre. Dennoch müssen auch die Voraussetzungen des § 48 Abs. 2 VwVfG erfüllt sein, da die Rücknahme zum Zwecke der Ersetzung durch einen noch stärker belastenden Verwaltungsakt erfolgen soll. 366 Es soll verglichen werden, inwieweit nach beiden Verfahrensordnungen Korrekturen möglich oder ausgeschlossen sind.

(1) Differenzen beim Ausschluß von Vertrauensschutz durch Tatbestandsmerkmale? Eine Korrektur nach § 174 Abs. 3 AO setzt voraus, daß die Nichtberücksichtigung des Sachverhaltes erkennbar war. Es wurde schon dargelegt, daß das Merkmal der Erkennbarkeit dem Vertrauensschutz dient. 367 Anders als bei den Korrekturen zugunsten des Steuerpflichtigen, 368 kann bei den hier zu untersuchenden ungünstigen Korrekturen auf das Merkmal der Erkennbarkeit in § 174 Abs. 3 AO nicht verzichtet werden. Anderenfalls würde die Norm der erforderlichen Abwägung zwischen Rechtsrichtigkeit und Vertrauensschutz nicht gerecht werden, sondern die Finanzbehörde einseitig zugunsten der Rechtsrichtigkeit ermächtigen. Erkennbarkeit liegt vor, wenn im Zeitpunkt der Bekanntgabe des fehlerhaften Bescheides369 der Steuerpflichtige die Zusammenhänge bei verständiger Würdigung erkennen konnte, die Zusammenhänge sonst offenbar waren und der Steuerpflichtige folglich damit rechnen mußte, daß der Sachverhalt noch in einem anderen Bescheid berücksichtigt werde. 370 Lag eine derartige Erkennbarkeit vor, ist nach der Wertung des § 174 Abs. 3 AO ein Vertrauensschutz zwingend ausgeschlossen. Würde man die verwaltungsrechtlichen Rücknahmeregeln anwenden, ergeben sich bei erster Betrachtung scheinbar Abweichungen von § 174 Abs. 3 AO. Die Fälle, in denen nach den verwaltungsrechtlichen Rücknahmeregeln ein Vertrauensschutz zwingend ausgeschlossen ist, sind in § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 bis 3 VwVfG aufgeführt. Die „Erkennbarkeit" in § 174 Abs. 3 AO kann als vertrauensausschließendes Kriterium mit keinem der in § 48 Abs. 2 S. 3 VwVfG genannten Fälle gleichgesetzt werden. Insbesondere greift § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 VwVfG, wonach ein Vertrauen bei Kenntnis der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes ausgeschlossen wird, in Fällen der erkennbaren Nicht366 367 368 369 370

Hierzu eingehend oben Α. Π. 2. b). S.o. aa). S.o. aa). Tipke/Kruse § 174 Rz. 1 la. Tipke/Kruse § 174 Rz. 1 lb.

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4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

berücksichtigung eines Sachverhaltes regelmäßig nicht ein. Die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis i.S.v. § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 VwVfG bezieht sich auf die Rechtswidrigkeit des Bescheides,371 die Erkennbarkeit in § 174 Abs. 3 AO bezieht sich dagegen darauf, daß die Behörde einen Sachverhalt in dem einen Steuerbescheid nicht berücksichtigt, weil sie glaubt, der Sachverhalt sei in einem anderen Steuerbescheid zu berücksichtigen. War es für den Steuerpflichtigen erkennbar, daß die Finanzbehörde einen ihn belastenden Sachverhalt in der Annahme nicht berücksichtigt, der Sachverhalt sei in einem anderen Bescheid zu berücksichtigen, so ist nicht gleichzeitig auch die Rechtswidrigkeit dieser Entscheidung erkennbar. Selbst die Finanzbehörde geht davon aus, daß der bestimmte Sachverhalt bei richtiger Anwendung des materiellen Steuerrechts erst in einem anderen Bescheid zu berücksichtigen sei. Folglich weicht die Erkennbarkeit als vertrauensausschließendes Merkmal in § 174 Abs. 3 AO von den vertrauensausschließenden Merkmalen in § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 bis 3 VwVfG ab. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, daß sich die Berücksichtigung des Vertrauensschutzes in § 174 Abs. 3 AO und § 48 Abs. 2 VwVfG dennoch weitgehend miteinander vereinbaren läßt. Die in § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 bis 3 VwVfG genannten Ausschlußtatbestände sind nämlich nicht als abschließende Aufzählung, sondern nur als typische Beispiele für einen Vertrauensausschluß anzusehen.372 Ein Vertrauensausschluß kann sich außerhalb der Fälle des § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 bis 3 VwVfG, aber auch aufgrund der Abwägung nach § 48 Abs. 2 S. 1 VwVfG ergeben. Das ist dann der Fall, wenn das öffentliche Interesse an der Rücknahme des Verwaltungsaktes im Einzelfall schwerer wiegt, als ein etwaiges Vertrauen des Betroffenen in den Bestand des Verwaltungsaktes. Ein Steuerpflichtiger mag darauf vertrauen, daß ein Steuerbescheid Bestand hat, in dem ein steuererhöhender Sachverhalt nicht berücksichtigt wurde. Dieses Vertrauen des Steuerpflichtigen wiegt aber nur sehr wenig, wenn er erkennen konnte, daß ihn der steuererhöhende Sachverhalt statt dessen in einem anderen Steuerbescheid belasten wird. Der Steuerpflichtige mußte also davon ausgehen, daß ihn die durch die ungünstige Korrektur des ersten Bescheides entstehende Belastung ohnehin getroffen hätte. Dann spielt es aber für den Steuerpflichtigen keine Rolle, ob sich diese Belastung in einem späteren Bescheid oder durch nachträgliche Korrektur des ersten Bescheides auswirkt. Das Bestandsinteresse des Steuerpflichtigen wiegt deshalb nur wenig. Dem steht das öffentliche Interesse gegenüber, daß die Behörde rechtmäßige Verhältnisse schafft, alle Bürger gleichmäßig besteuert und ihren Steueran-

371

Kopp § 48 Rz. 72.

372

Begr. zu § 44 Abs. 2 VwVfG des RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 70; BVerwGE 92,

81 (85); Kopp § 48 Rz. 63; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 105.

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

15

spruch zur Finanzierung des staatlichen Finanzbedarfs vollständig ausschöpft. 373 Deshalb entfällt in den Fällen, in denen der Vertrauensschutz durch das Merkmal der Erkennbarkeit in § 174 Abs. 3 AO ausgeschlossen wird, auch nach den Rücknahmeregeln des allgemeinen Verwaltungsrechts der Vertrauensschutz. Das gilt auch dann, wenn die Regelvermutung des § 48 Abs. 2 S. 2 VwVfG eingreifen sollte. Es ist möglich, daß der Steuerpflichtige aufgrund der Nichtberücksichtigung eines steuererhöhenden Sachverhaltes in einem Steuerbescheid eine Steuererstattung erhalten hat. Hat er dieses Geld ausgegeben, so wäre sein Vertrauen nach der Vorschrift des § 48 Abs. 2 S. 2 VwVfG in der Regel als schutzwürdig anzusehen und eine Korrektur des Bescheides mithin ausgeschlossen. Nach § 48 Abs. 2 S. 2 VwVfG ist das Vertrauen bei Entreicherung aber eben nur „in der Regel schutzwürdig". Durch den Zusatz „in der Regel" macht die Vorschrift deutlich, daß es auch Ausnahmefalle geben kann, in denen das Vertrauen des Betroffenen trotz Entreicherung nicht schutzwürdig ist. 374 Eine solche Ausnahme wird etwa angenommen, wenn der Betroffene unvernünftige oder übermäßige Dispositionen getroffen hat. 375 Es müßte aber stets als unvernünftig angesehen werden, wenn ein Steuerpflichtiger aufgrund eines günstig ausgefallenen Steuerbescheides Dispositionen trifft, obwohl es für ihn erkennbar war, daß ein nicht berücksichtigter steuererhöhender Sachverhalt in einem anderen Steuerbescheid noch berücksichtigt werden soll. Es kann dem Steuerpflichtigen gleichgültig sein, ob ihn die spätere Belastung in Gestalt des anderen Bescheides oder im Wege der Korrektur des ersten Bescheides trifft. Mithin läge, würde man § 48 VwVfG auf die Fälle des § 174 Abs. 3 AO anwenden, ein schutzwürdiges Vertrauen i.S.v. § 48 Abs. 2 S. 1 VwVfG selbst dann nicht vor, wenn der Steuerpflichtige eine rechtswidrige Steuerrückzahlung bereits ausgegeben hat. Die Korrekturvorschrift des § 174 Abs. 3 AO stimmt insoweit mit den Wertungen der verwaltungsrechtlichen Korrekturregeln überein.

373

Vgl. Klappstein, in: Knack § 48 Rz. 8.2.2.; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48

Rz. 98. 374

Klappstein, in: Knack § 48 Rz. 8.3.5; Meyer, in: Meyer/Borgs § 48 Rz. 58; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 103. 375 Vgl. Klappstein, in: Knack § 48 Rz. 8.3.5\ Meyer, in: Meyer/Borgs § 48 Rz. 58.

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

1

(2) Differenzen beim Vertrauensschutz im Sonderfall „Vertrauen auf günstigeren Steuersatz bei verschiedenen Steuerarten"? Differenzen zwischen den beiden Korrekturvorschriften könnten sich aber dennoch in bestimmten Sonderfallen ergeben. Es könnte etwa vorkommen, daß ein steuererhöhender Sachverhalt in einem ersten Steuerbescheid nicht berücksichtigt wurde, weil er erkennbar in einem zweiten Steuerbescheid berücksichtigt werden sollte, sich aber die Festsetzung in dem zweiten Steuerbescheid in geringerer Höhe ausgewirkt hätte, als in dem ersten Bescheid. Das wäre möglich, wenn eine Einnahme im Einkommensteuerbescheid nicht berücksichtigt wurde, weil die Finanzbehörde sie irrig als Schenkung bewertet hatte. Ist der Steuersatz für die Schenkung niedriger als der Steuersatz für das Einkommen, so wird der Steuerpflichtige darauf vertrauen, daß sich der steuererhöhende Sachverhalt nur noch gering auswirkt. Nach § 174 Abs. 3 AO ist die Finanzbehörde in diesen Fällen zur Korrektur des ersten Bescheides in voller Höhe ermächtigt. Würde man dagegen § 48 VwVfG anwenden, so müßte das Vertrauen des Steuerpflichtigen wegen Absatz 2 Satz 2 insoweit als schutzwürdig angesehen werden, wie ihn die Berücksichtigung des Sachverhaltes im zweiten Steuerbescheid gegenüber der Berücksichtigung im ersten Bescheid besser gestellt hätte. Folglich wäre eine Korrektur nach den verwaltungsrechtlichen Rücknahmevorschriften nur in einem geringeren Umfang möglich als nach § 174 Abs. 3 AO. Diese Differenz ließe sich aber dadurch beseitigen, daß man das in der Rechtsfolge des § 174 Abs. 3 AO eingeräumte Ermessen insoweit als reduziert ansieht, wie es der Vertrauensschutz über das Tatbestandsmerkmal der Erkennbarkeit hinaus erfordert. Allerdings wird in der steuerrechtlichen Rechtsprechung und Literatur überwiegend vertreten, es handele sich bei § 174 Abs. 3 AO trotz seines Wortlautes („kann") gerade nicht um eine Ermessensvorschrift, sondern um eine bindende Korrekturanordnung, da der Vertrauensschutz des Steuerpflichtigen mit dem Tatbestandsmerkmal der Erkennbarkeit bereits hinreichend berücksichtigt sei.376 Daneben wird vertreten, § 174 Abs. 3 AO sei zwar eine Ermessensvorschrift, dieses Ermessen sei in Fällen der Erkennbarkeit aber stets in Richtung auf eine Korrekturpflicht reduziert. 377

376

BFH BStBl. Π 1986, 241 (243); 1990, 458 (459); Brüning S. 70 f.; Kühn/Hofmann § 174 Anm. 4; Szymczak, in: Koch/Scholtz § 174 Rz. 15/1; v. Wedelstädt, in: Beermann § 174 Rz. 85; Furmanek S. 170. 377 Tipke/Kruse § 174 Rz. 1 lc.

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

15

Diesen Auffassungen ist entgegenzutreten.378 Das vorstehende Beispiel zeigt, daß das Merkmal der Erkennbarkeit dem erforderlichen Vertrauensschutz des Steuerpflichtigen nicht in allen Fällen hinreichend Rechnung trägt. Hat der Steuerpflichtige darauf vertraut, daß eine steuererhöhende Tatsache nicht mehr in einem ersten Steuerbescheid im Rahmen einer Steuerart mit hohem Steuersatz, sondern in einem späteren Steuerbescheid im Rahmen einer anderen Steuerart mit niedrigem Steuersatz berücksichtigt wird und hat er deshalb den Differenzbetrag ausgegeben, so ist sein Bestandsinteresse schutzwürdig. Da gleichwohl die Tatbestandsvoraussetzungen des § 174 Abs. 3 AO gegeben sind, insbesondere die Nichtberücksichtigung des steuererhöhenden Sachverhaltes erkennbar war, muß das schutzwürdige Vertrauen des Steuerpflichtigen auf der Rechtsfolgenseite der Norm im Rahmen der Ermessensausübung berücksichtigt werden. Es hat deshalb seinen guten Grund, daß der Gesetzgeber in § 174 Abs. 3 AO das Wort „kann" verwendet hat. Die Norm wäre verfassungsrechtlich bedenklich, wenn die Behörde in dem beschriebenen Sonderfall zur vollständigen Korrektur des Steuerbescheides verpflichtet wäre. Eine solche undifferenzierte Korrekturpflicht müßte als Verstoß des Gesetzgebers gegen das sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebende Gebot des Vertrauensschutzes379 bewertet werden. 380 Diese Betrachtungsweise korrespondiert auch mit der verwaltungsrechtlichen Wertung des § 48 Abs. 2 S. 2 VwVfG. Versteht man § 174 Abs. 3 AO als Ermessensvorschrift und erachtet man das Ermessen in den beschriebenen Sonderfällen in Richtung eines Korrekturausschlusses als reduziert, so stimmt die Wertung des § 174 Abs. 3 AO sowohl mit dem verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzgebot aus Art. 20 Abs. 3 GG als auch mit den verwaltungsrechtlichen Rücknahmeregeln überein. Es wäre aber zu empfehlen, schon den Tatbestand des § 174 Abs. 3 AO um eine vertrauensschützende Ergänzung zu erweitern. Man könnte etwa folgenden Satz 2 in die Vorschrift einfügen:

„Eine Nachholung, Aufhebung oder Änderung zuungunsten des Steuerpflichtigen darf jedoch in der Regel nicht erfolgen, soweit die Berücksichtigung in dem anderen Steuerbescheid zu einer niedrigeren Steuer geführt hät als die Berücksichtigung in dem nachzuholenden, aufzuhebenden oder zu

378

Wie hier Frotscher, in: Schwarz § 174 Rz. 59; Woerner/Grube S. 113; wohl auch v. Wallis, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler § 174 Rz. 16. 379 Vgl. zur verfassungsrechtlichen Verankerung des Vertrauensschutzprinzips BVerfGE 63, 312 (328); BVerfGE 69, 272 (309); BVerfG DVB1. 1983, 795 (795 u. 796 f.); J. Beermann S. 12 ff; Fiedler NJW 1988, 1624 (1627); Pieroth JZ 1984, 971 (972). 380 BVerwGE 74, 357 (363).

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4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

ändernden Bescheid und der Steuerpflichtige im Vertrauen darauf eine Ve mögensdisposition getroffen hat, die nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig gemacht werden kann. "

(3) Differenzen beim Vertrauensschutz im Sonderfall „Kenntnis der Rechtswidrigkeit trotz fehlender Erkennbarkeit der Nichtberücksichtigung"? Eine Differenz zwischen beiden Korrekturvorschriften kann sich allerdings ergeben, wenn die Nichtberücksichtigung des steuererhöhenden Sachverhaltes zwar objektiv nicht erkennbar i.S.v. § 174 Abs. 3 AO gewesen ist, der Steuerpflichtige aber gleichwohl subjektiv die damit einhergehende Rechtswidrigkeit des Steuerbescheides kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Das kann geschehen, wenn der Steuerpflichtige besonders rechtskundig ist. Für die Beurteilung der Kenntnis oder grob fahrlässigen Unkenntnis bei § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 VwVfG steigen nämlich die Anforderungen an den Betroffenen mit dessen Vorbildung. 381 Möglich ist auch, daß der Steuerpflichtige einen rechtskundigen Steuerberater als seinen Vertreter eingeschaltet hat. Die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis eines Vertreters muß sich der Betroffene in § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 VwVfG zurechnen lassen.382 So kann es sein, daß der Steuerpflichtige die Rechtswidrigkeit des Bescheides subjektiv kannte, obwohl objektiv nicht erkennbar war, daß die Behörde den Sachverhalt gerade deshalb nicht berücksichtigt, weil sie meint, er sei in einem anderen Bescheid zu berücksichtigen. Dann würde bei einer Korrektur nach den verwaltungsrechtlichen Regeln wegen § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 VwVfG der Vertrauensschutz entfallen, die Rücknahme also möglich sein, während nach § 174 Abs. 3 AO mangels objektiver Erkennbarkeit die Korrektur aus Gründen des Vertrauensschutzes ausgeschlossen wäre. Neben § 174 Abs. 3 AO käme auch kein anderer steuerrechtlicher Korrekturtatbestand in Betracht, der allein aufgrund der Kenntnis oder grob fahrlässigen Unkenntnis der Rechtswidrigkeit zur Korrektur des Steuerbescheides ermächtigen würde. Insoweit besteht eine Differenz zwischen beiden Korrektursystemen.

381

Klappstein, in: Knack § 48 Rz. 8.4.3; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 113; vgl. zu den besonderen Anforderungen an Beamte BVerwGE 40, 212 (218); BVerwG NVwZ 1987, 500; ferner OVG Münster NVwZ 1988, 1037; a.A. wohl: Martens Rz. 475, dort Fußn. 158. 382 BVerwGE 32, 328 (332); Kopp §48 Rz. 71; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 114.

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

1

Es erscheint geboten, den Rechtsgedanken aus § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 VwVfG in § 174 Abs. 3 AO zu berücksichtigen. Dabei kann auf die Gründe verwiesen werden, die schon oben zu der Anpassung des § 173 Abs. 2 und § 174 Abs. 2 AO an den Vertrauensausschluß des § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 VwVfG geführt haben. Es ist nicht ersichtlich, warum dies bei der Korrektur von Steuerbescheiden zuungunsten des Steuerpflichtigen nicht gelten sollte, selbst wenn die widerstreitende Nichtberücksichtigung von Tatsachen i.S.v. § 174 Abs. 3 AO nicht erkennbar war. Der Vorschrift des § 174 Abs. 3 AO sollte daher hinter Satz 1 ein neuer Satz hinzugefügt werden:

„Das gilt auch, wenn der Steuerpflichtige wußte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht wußte, daß der Sachverhalt bei der Steuerfestsetzung, in d die Berücksichtigung unterblieben ist, hätte berücksichtigt werden müssen. " Alternativ zu diesem Vorschlag wäre es möglich, die Kenntnis oder fahrlässige Unkenntnis der Rechtswidrigkeit des Steuerbescheides als eigenständigen Korrekturtatbestand in § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO aufzunehmen. Dieser Vorschlag wurde auch schon im Zusammenhang mit den Reformvorschlägen zu § 173 Abs. 2 3 8 3 und zu § 174 Abs. 2 AO 3 8 4 gemacht. Es zeigt sich, daß der Gedanke des § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 VwVfG in mehreren Korrekturtatbeständen der AO nicht berücksichtigt wird.

d) Fälle des § 174 Abs. 4 und 5 AO Durch § 174 Abs. 4 und 5 AO wird die Finanzbehörde für einen weiteren Fall des negativen Widerstreits zur Korrektur von Steuerbescheiden ermächtigt. Wird auf Betreiben des Steuerpflichtigen zu seinen Gunsten ein Steuerbescheid geändert, in dem zuvor ein bestimmter Sachverhalt irrig beurteilt wurde, so kann die Finanzbehörde nachträglich durch Erlaß, Aufhebung oder Änderung eines anderen Steuerbescheides die richtigen steuerlichen Folgerungen aus dem Sachverhalt ziehen (vgl. § 174 Abs. 4 S. 1 AO). Anders als in den Fällen des § 174 Abs. 3 AO entsteht hier der Widerstreit zweier Steuerbescheide erst dadurch, daß einer der Bescheide auf Grund eines Rechtsbehelfs oder Antrags des Steuerpflichtigen zu dessen Gunsten geändert wurde. § 174 Abs. 4 AO ergänzt insoweit die Fälle des Absatzes 3. 385 Die nach § 174 Abs. 4

383 384 385

S.o. unter IV. l.b). S.o. unter b). Begr. zu § 155 Abs. 4 AO des RegE, BT-Drucks. 6/1982 S. 154.

11 Arndt

16

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

AO möglichen Folgeänderungen sind nicht auf Steuerbescheide desjenigen Steuerpflichtigen beschränkt, der die vorangegangene Änderung bewirkt hat. Als Folgeänderung ist auch die Korrektur des Steuerbescheides eines Dritten möglich.386 Allerdings müssen hierfür die erhöhten Anforderungen des § 174 Abs. 5 AO erfüllt sein.387 Voraussetzung ist danach, daß der Dritte an dem vorangegangenen Änderungsverfahren beteiligt war. § 174 Abs. 4 AO ermächtigt gleichermaßen zu Korrekturen zugunsten wie zuungunsten des Steuerpflichtigen. 388 Für den Vergleich mit den Rücknahmeregeln des allgemeinen Verwaltungsrechts muß erneut zwischen diesen beiden Möglichkeiten unterschieden werden.

aa) Korrekturen

zugunsten des Steuerpflichtigen

oder eines Dritten

Eine Korrektur zugunsten des Steuerpflichtigen nach § 174 Abs. 4 AO kommt etwa in Betracht, wenn die Anschaffüngskosten eines Computers deshalb nicht als Werbungskosten anerkannt werden, weil es sich bei dem Gerät nach Auffassung des Finanzamtes nicht um Arbeitsmittel i.S.v. § 9 Abs. 1 Nr. 6 EStG handelt. Gibt das Finanzgericht der Klage des Steuerpflichtigen statt und läßt es den Abzug als Abschreibung entsprechend der Nutzungsdauer zu, kann das Finanzamt die bestandskräftigen Einkommensteuerbescheide der Folgejahre zur Berücksichtigung der weiteren Abschreibungsbeträge zugunsten des Steuerpflichtigen nach § 174 Abs. 4 AO ändern. 389 Würde man diese Fälle mit den verwaltungsrechtlichen Rücknahmeregeln behandeln, ergäben sich keine abweichenden Ergebnisse. Die Behörde könnte zugunsten des Steuerpflichtigen diejenigen Folgerungen ziehen, die sich aus der vorangegangenen Änderung ergeben, indem sie den belastenden Steuerbescheid gem. § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG teilweise oder vollständig zurücknimmt. Allerdings ergibt sich ein Wertungsunterschied zwischen beiden Korrekturvorschriften, wenn die Folgekorrektur zugunsten eines Dritten erfolgen soll. 390 386

Tipke/Kruse § 174 Rz. 18; v. Wedelstädt, in: Beermann § 174 Rz. 107. Vgl. Tipke/Kruse § 174 Rz. 18; v. Wedelstädt, in: Beermann § 174 Rz. 121 ff.; ders. DB 1990, 1483 ff. 388 v. Wedelstädt, in: Beermann § 174 Rz. 113; ders. DB 1990, 1483 (1484); Szymczak, in: Koch/Scholtz § 174 Rz. 19/1; Frotscher, in: Schwarz § 174 Rz. 75; a.A. für Korrekturen gegenüber Dritten i.V.m. Abs. 5: FG Köln EFG 1989, 493 = DB 1989, 2202. 389 Beispiel bei v. Wedelstädt, in: Beermann § 174 Rz. 113; Szymczak, in: Koch/ Scholtz § 174 Rz. 19/1. 390 Vgl. die Beispielsfälle bei v. Wedelstädt DB 1990, 1484 (1485). 387

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

1

Bei wortgetreuer Anwendung von § 174 AO müßten hierfür die erhöhten Anforderungen des Absatzes 5 erfüllt sein.391 Danach wäre die Folgeänderung zugunsten des Dritten nur dann zulässig, wenn dieser an dem zu der vorangegangenen Korrektur führenden Verfahren beteiligt war. Anderenfalls ist eine Änderung zugunsten des Dritten ausgeschlossen. Würde man auf diese Fälle die verwaltungsrechtlichen Rücknahmeregeln anwenden, könnte man den rechtswidrigen Bescheid zugunsten des Dritten ohne weitere Voraussetzungen nach § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG korrigieren. Es käme hierbei nicht darauf an, ob der Dritte an dem vorangegangenen Verfahren beteiligt war. Die Korrekturmöglichkeiten für diese Fälle sind nach den steuerrechtlichen Regeln also stärker eingeschränkt als nach den verwaltungsrechtlichen Vorschriften. Diese Abweichung des Steuerrechts von den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts ist nicht gerechtfertigt. Es ist nicht einzusehen, daß eine Folgekorrektur zugunsten eines Dritten nach § 174 Abs. 5 AO nur möglich sein soll, wenn der Dritte an dem vorangegangenen Verfahren beteiligt war. Das Beteiligungserfordernis nach § 174 Abs. 5 AO dient allein dem Schutz des Dritten. 392 Der Ausgang eines Korrekturverfahrens, das ein anderer Steuerpflichtiger betreibt, soll nur dann Einfluß auf die Rechtsstellung des Dritten haben können, wenn er die Möglichkeit hatte, seine Interessen in dem Verfahren geltend zu machen. Dieser Schutzzweck würde sich aber in einen Nachteil verkehren, wenn die fehlende Beteiligung des Dritten einer Korrektur entgegenstünde, die sich zu seinen Gunsten auswirken würde. Auch der Vergleich mit dem Verwaltungsrecht zeigt, daß die Korrektur eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes grundsätzlich voraussetzungslos möglich ist. Es sind keine Besonderheiten des materiellen Steuerrechts gegenüber dem allgemeinen Verwaltungsrecht ersichtlich, die eine Abweichung von diesem Grundsatz erforderlich erscheinen lassen. Aus diesem Grunde sollte als Rechtsgrundlage für die Folgekorrektur eines Steuerbescheides zugunsten eines Dritten die Vorschrift des § 174 Abs. 4 AO analog herangezogen werden, wenn der Dritte an dem vorangegangenen Verfahren nicht beteiligt war. 393 Es scheint, daß der Gesetzgeber bei Ausgestaltung des § 174 Abs. 5 AO versehentlich nur die Fälle der Korrektur zuungunsten des Dritten vor Augen hatte,394 so daß für

391

A.A. nur: FG Köln EFG 1989, 493 = DB 1989, 2202, wonach der eindeutige Wortlaut des § 174 Abs. 5 AO Korrekturen zugunsten eines Steuerpflichtigen gänzlich ausschließe. 392 Weber-Grellet StBp 1982, 29 (36); v. Wedelstädt, in: Beermann § 174 Rz. 121; ders. DB 1981, 2574 (2575); ders. DB 1990, 1484 (1485). 393 v. Wedelstädt DB 1990, 1483 (1484). 394 Gl. A. v. Wedelstädt DB 1990, 1483 (1484); unklar insoweit die Begr. zu § 155 Abs. 4 und 5 AO des RegE, BT-Drucks. 6/1982 S. 154.

1

6

4

.

Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

Korrekturen zugunsten des Dritten eine ungewollte Regelungslücke besteht. Im übrigen würde sich eine solche Analogie zugunsten des Bürgers auswirken, so daß auch insoweit keine Bedenken gegen ihre Zulässigkeit bestehen. Statt einer Analogie wäre es zu empfehlen, daß an die Stelle des bisherigen § 174 Abs. 5 S. 1 AO die folgenden beiden Sätze treten würden:

„Absatz 4 gilt auch gegenüber Dritten. Folgerungen zu Lasten Dritter sind jedoch nur zulässig, wenn sie an dem Verfahren beteiligt waren, das zur Auf hebung oder Änderung des fehlerhaften Steuerbescheides geführt hat. " Würde man § 174 Abs. 5 in diesem Sinne ändern, bestünde insoweit Wertungsgleichheit mit dem Korrektursystem des Verwaltungsverfahrensgesetzes.

bb) Korrekturen

zuungunsten des Steuerpflichtigen

Häufiger und naturgemäß streitiger sind die Fälle, in denen ein Steuerbescheid nach § 174 Abs. 4 oder Abs. 5 AO zuungunsten eines Steuerpflichtigen korrigiert wird. Dabei kann die Korrektur gegenüber dem Steuerpflichtigen erfolgen, der die vorangegangene Korrektur zu seinen Gunsten betrieben hat (1). Unter den erhöhten Anforderungen des § 174 Abs. 5 AO ist es aber auch möglich, daß die Korrektur zuungunsten eines Dritten erfolgt, der die vorangehende Korrektur nicht betrieben hat (2).

(1) Korrektur gegenüber dem die vorangegangene Korrektur veranlassenden Steuerpflichtigen Eine Korrektur gegenüber dem Steuerpflichtigen, der die vorangegangene Korrektur veranlaßt hat, kommt etwa dann in Betracht, wenn ein Steuerbescheid für den Veranlagungszeitraum 02 auf Einspruch des Steuerpflichtigen vom Finanzamt abgeändert wird, weil ein darin berücksichtigter Veräußerungsgewinn dem Veranlagungszeitraum 01 zuzurechnen war. Das Finanzamt kann nun den Bescheid für das Jahr 01 nach § 174 Abs. 4 AO entsprechend zuungunsten des Steuerpflichtigen korrigieren. Voraussetzung einer solchen Änderung ist, daß ein bestimmter Sachverhalt in einem Steuerbescheid irrig beurteilt wurde und daß dieser Steuerbescheid auf Grund eines Rechtsbehelfs oder sonstigen Antrags des Steuerpflichtigen zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wurde. Der dabei notwendige Vertrauensschutz soll nach Auf-

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

15

fassung in Rechtsprechung395 und Literatur 396 dadurch gewährleistet sein, daß es der Steuerpflichtige selbst sei, der den negativen Widerstreit verursache. 397 Es wäre treuwidrig, 398 würde sich der Steuerpflichtige bei einer anschließenden Folgeänderung auf die Bestandskraft des zu ändernden Bescheides berufen. Vielmehr müsse sich der Steuerpflichtige an seiner im vorangegangenen Verfahren verfochtenen Rechtsauffassung festhalten lassen.399 Teilweise wird der Umfang des Vertrauensschutzes in § 174 Abs. 4 AO aber auch als zu gering kritisiert und eine einschränkende Auslegungsweise der Korrekturermächtigung gefordert. 400 Würde man in den Fällen des § 174 Abs. 4 AO die verwaltungsrechtlichen Rücknahmeregeln des § 48 VwVfG anwenden, müßten die vertrauensschützenden Beschränkungen des Absatzes 2 beachtet werden. Zwar geht es um die Rücknahme eines belastenden Steuerbescheides, so daß sich die Korrektur eigentlich allein nach § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG richten müßte. Da die Rücknahme aber zum Zwecke der Ersetzung durch einen noch stärker belastenden Bescheid erfolgen soll, müßten dennoch die vertrauensschützenden Voraussetzungen des § 48 Abs. 2 VwVfG vorliegen. 401 Einer der zum Ausschluß des Vertrauensschutzes führenden Gründe des § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 bis 3 VwVfG muß in den Fällen des § 174 Abs. 4 AO nicht zwangsläufig eingreifen. Insbesondere kann man nicht davon ausgehen, daß der Steuerpflichtige stets die Rechtswidrigkeit des nach § 174 Abs. 4 AO zu ändernden Bescheides kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte (§ 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 VwVfG). Mithin käme es nach § 48 Abs. 2 S. 1 VwVfG darauf an, ob der Steuerpflichtige auf den Fortbestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und ob sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an der Rücknahme schutzwürdig ist. Schutzwürdig ist das Vertrauen des Betroffenen nach § 48 Abs. 2 S. 2 VwVfG regelmäßig dann, wenn er über gewährte Leistungen bereits disponiert hat. Darüber hinaus wird ein schutzwürdiges Vertrauen in Anlehnung an den Gedanken des § 48 Abs. 2 S. 2 VwVfG auch dann zu bejahen sein, wenn der Betroffene sein Vertrauen in sonstiger Weise betätigt hat,

395

FG Niedersachsen EFG 1983, 391 (391); FG Hamburg EFG 1979, 392 (393 f.). v. Wedelstädt, in: Beermann § 174 Rz. 91; Brüning S. 73 ff.; Frotscher, in: Schwarz § 174 Rz. 62; ähnlich Tipke/Kruse § 174 Rz. 15. 397 A.A. nur: FG Niedersachsen EFG 1986, 371 (372); Weber-Grellet StBp 1982, 29 (35 f.). 398 Insoweit a.A.: Brüning S. 74 f. 399 Klein/Orlopp § 174 Anm. 9. 400 FG Niedersachsen EFG 1986, 371 (372); Weber-Grellet StBp. 1982, 29 (35 f.); eingehend hierauf unten in diesem Abschnitt. 401 Vgl. hierzu eingehend oben Α. Π. 2. b). 396

16

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

so daß ihm bei einer Korrektur des Bescheides ein Schaden entstehen würde. 402 Hätte also ein Steuerpflichtiger eine aufgrund des Einkommensteuerbescheides für das Jahr Ol erhaltene Steuererstattung ausgegeben, so wäre sein Vertrauen gem. § 48 Abs. 2 S. 2 VwVfG regelmäßig schützenswert. Bemerkt der Steuerpflichtige dann anläßlich des Steuerbescheides für das Jahr 02, daß ein darin berücksichtigter, steuererhöhender Sachverhalt eigentlich im Jahr Ol hätte berücksichtigt werden müssen, und ficht er den Bescheid 02 mit Erfolg an, so ändert dies nach der Regelvermutung des § 48 Abs. 2 S. 2 VwVfG nichts an der Schutzwürdigkeit seines Vertrauens bezüglich des ersten Bescheides. Dies hätte zur Folge, daß der Bescheid Ol nach § 48 VwVfG grundsätzlich nicht zurückgenommen werden könnte. Allerdings ist das Vertrauen des Betroffenen in den Fällen des § 48 Abs. 2 S. 2 VwVfG nur „in der Regel" schutzwürdig. Das Verwaltungsverfahrensgesetz läßt also auch Ausnahmen zu dieser Regelvermutung zu. 403 Man könnte deshalb daran denken, daß eine solche Ausnahme gerade in den Fällen des § 174 Abs. 4 AO angenommen werden muß, zumal § 174 Abs. 4 AO der bis zu seinem Erlaß 404 üblichen steuerrechtlichen Praxis entspricht. 405 Es erscheint aber überaus zweifelhaft, ob auch nach verwaltungsrechtlichen Maßstäben eine Durchbrechung der Regelvermutung des § 48 Abs. 2 S. 2 VwVfG in den Fällen des § 174 Abs. 4 AO als gerechtfertigt angesehen werden kann. Die in § 174 Abs. 4 AO enthaltene Wertung führt dazu, daß jemand, der die aufgrund eines günstigen Bescheides erhaltenen Leistungen ausgegeben hat, von dem ihm zustehenden Rechtsschutz gegen einen anderen Bescheid abgeschreckt wird. Die Vorschrift des § 174 Abs. 4 AO stellt den Betroffenen vor die Wahl, entweder auf seinen Vertrauensschutz bezüglich des ersten oder auf seinen Rechtsschutz bezüglich des zweiten Verwaltungsaktes zu verzichten, selbst wenn ein allein der Behörde zuzurechnender Fehler vorliegt. Ein solcher Eingriff in jeweils verfassungsrechtlich geschützte Rechtspositionen des Steuerpflichtigen kann im Einzelfall unverhältnismäßig sein. Die Vorschrift des § 174 Abs. 4 AO ist verfassungsrechtlich deshalb nur haltbar, wenn man berücksichtigt, daß sie der Finanzbehörde auf der Rechtsfolgenseite ein Ermessen einräumt. 406 Bei der Ausübung dieses Ermessens hat die Finanzbehör-

402

Klappstein, in: Knack §48 Rz. 8.2.1 und 8.3.; ähnlich Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 102. 403 Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 103. 404 Erstmals enthalten in der Abgabenordnung vom 16.3.1976, BGBl. I S. 613; vgl. auch Begr. zu § 155 AO des RegE, BT-Drucks. 6/1982 S. 153. 405 BFH BStBl. DI 1966, 613 f.; BFH BStBl. Π 1976, 253 (255 f.). 406 Vgl. auch die verfassungsrechlichen Bedenken bei Weber-Grellet StBp. 1982, 29, (35).

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

1

de darauf zu achten, daß der Vertrauensschutz des Steuerpflichtigen hinreichend berücksichtigt wird. Eine Korrektur nach § 174 Abs. 4 AO wird oft nur dann ermessensfehlerfrei sein, wenn zu den Tatbestandsvoraussetzungen der Norm weitere Umstände hinzukommen, die das Gewicht des Vertrauensschutzes mindern. Das wäre etwa der Fall, wenn dem Steuerpflichtigen die Rechtswidrigkeit des ersten Bescheides im Zeitpunkt seiner Bekanntgabe bekannt war oder wenn er den Fehler des Bescheides verursacht hat. 407 Umgekehrt muß eine Korrektur jedenfalls dann ausscheiden, wenn der Steuerpflichtige die Rechtswidrigkeit des Bescheides weder kennen konnte noch verursacht hat und sein Bestandsvertrauen so betätigt hat, daß die Korrektur zu einem Vermögensschaden führen würde. 408 Es ist daher auch der in der steuerrechtlichen Literatur teilweise vertretenen Auffassung entgegenzutreten, das Ermessen in § 174 Abs. 4 AO sei stets in Richtung auf eine Korrekturpflicht auf Null reduziert. 409 Vielmehr ist der Ansicht zuzustimmen, der Vertrauensschutz sei im Tatbestand des § 174 Abs. 4 AO nicht umfassend berücksichtigt, so daß die Anwendung der Vorschrift begrenzt werden müsse.410 Das hat in der Weise zu geschehen, daß die Finanzbehörde bei Ausübung ihres Ermessens im Einzelfall darauf achtet, ob eine Korrektur das Bestandsinteresse des Betroffenen nicht unverhältnismäßig treffen würde. Bei Beachtung dieser Grundsätze ermächtigt § 174 Abs. 4 AO im gleichen Umfang zur Korrektur wie § 48 VwVfG. Die Vorschriften könnten insoweit als miteinander vereinbar angesehen werden.

(2) Korrekturen gegenüber Dritten In den Fällen des § 174 Abs. 4 i.V.m. Abs. 5 AO kann die Korrektur auch gegenüber Dritten, also zuungunsten von Personen erfolgen, die die vorangegangene Korrektur nicht selbst veranlaßt haben. Eine Korrektur zuungunsten Dritter ist jedoch nur unter den erschwerenden Voraussetzungen des § 174 Abs. 5 AO zulässig. Danach muß der Dritte an dem Verfahren beteiligt gewesen sein, das zur vorangegangenen Korrektur geführt hat. Dieses Erfordernis soll dem Vertrauensschutz des Dritten dienen.411 Da der Dritte die vorange407

Ähnlich FG Niedersachsen EFG 1986, 371 (372) sowie Weber-Grellet StBp. 1982,29 (35). 408 Vgl. Klappstein, in: Knack § 174 Rz. 8.3. 409 v. Wedelstädt, in: Beermann § 174 Rz. 114; Szymczak, in: Koch/Scholtz § 174 Rz. 23/2.; a.A.: Schick StuW 1992, 197 (222); Frotscher, in: Schwarz § 174 Rz. 63. 410 FG Niedersachsen EFG 1986, 371 (372) sowie Weber-Grellet StBp. 1982, 29 (35). 411 Brüning S. 94 f.; v. Wedelstädt, in: Beermann § 174 Rz. 121.

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4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

gangene Korrektur nicht selbst betrieben hat, kann es im Unterschied zu § 174 Abs. 4 AO nicht als treuwidrig angesehen werden, wenn er gegen die für ihn ungünstige Korrektur die Bestandskraft seines Steuerbescheides einwendet.412 Mit seiner Beteiligung an dem vorangehenden Korrekturverfahren erhält er aber die Möglichkeit, seine Interessen geltend zu machen und so der ihm drohenden, ungünstigen Folgeänderung entgegenzuwirken. Fraglich ist, ob die Behörde auch nach den Rücknahmeregeln des Verwaltungsverfahrensgesetzes in einer derartigen Situation zur Korrektur befügt wäre. Als Ermächtigungsgrundlage käme wiederum § 48 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 VwVfG in Betracht, da es um die Ersetzung eines belastenden Verwaltungsaktes durch einen noch stärker belastenden Bescheid geht.413 Es kommt also auch hier darauf an, ob der Korrektur ein schutzwürdiges Vertrauen des Betroffenen entgegensteht. Ein schutzwürdiges Vertrauen des Betroffenen ist ausgeschlossen, wenn einer der Gründe des § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 bis 3 VwVfG eingreift. Dies muß aber in den Fällen des § 174 Abs. 5 AO nicht unbedingt sein. Insbesondere wird der Dritte die Rechtswidrigkeit des Bescheides im Zeitpunkt seines Erlasses414 meistens nicht gekannt oder nicht infolge grober Fahrlässigkeit verkannt haben (vgl. § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 VwVfG). Folglich ist maßgebend, ob der Dritte auf den Bestand des Steuerbescheides vertraut hat und dieses Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an der Rücknahme schutzwürdig ist (§ 48 Abs. 2 S. 1 VwVfG). Dabei sind in den Fällen des § 174 Abs. 5 AO Situationen vorstellbar, in denen das Bestandsvertrauen des Dritten schwerer wiegt als das öffentliche Rücknahmeinteresse. Hierzu gehört zum einen die in § 48 Abs. 2 S. 2 VwVfG aufgestellte Regelvermutung, wonach das Vertrauen grundsätzlich als schutzwürdig anzusehen ist, wenn der Betroffene schon unumkehrbare Vermögensdispositionen getroffen hat. Allerdings gilt § 48 Abs. 2 S. 2 VwVfG nur „in der Regel". Man könnte deshalb daran denken, gerade in den Fällen des § 174 Abs. 5 AO eine Ausnahme von der „Regel" des § 48 Abs. 2 S. 2 VwVfG zu sehen, so daß das Bestandsvertrauen des Betroffenen trotz seiner Vermögensdisposition hinter das öffentliche Korrekturinteresse zurücktreten muß. Das muß jedoch, gemessen an den im allgemeinen Verwaltungsrecht anerkannten Ausnahmen zu § 48 Abs. 2 S. 2 VwVfG, verneint werden. 415 Eine Ausnahme zur Regelvermutung des § 48 Abs. 2 S. 2 VwVfG wird etwa dann anerkannt, wenn die Vermögensdisposition getroffen wurde, obgleich

412

Frotscher, in: Schwarz § 174 Rz. 78. Hierzu eingehend oben Α. Π. 2. b). 414 Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 112. 415 Vgl. etwa BVerwGE 84, 111 (114); OVG Münster NJW 1981, 2597 (2598); VG Köln FamRZ 1977,496 (497). 413

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

1

der Betroffene die Rechtswidrigkeit infolge einfacher Fahrlässigkeit nicht kannte.416 Hat aber der Dritte eine aufgrund seines Steuerbescheides erhaltene Steuerrückzahlung zu einer Zeit verbraucht, als er von der Rechtswidrigkeit des Steuerbescheides noch nichts ahnen konnte, so kann dies nicht zu einer Ausnahme von § 48 Abs. 2 S. 2 VwVfG führen. In diesem Fall wäre eine Rücknahme nach § 48 VwVfG ausgeschlossen, während der Tatbestand des § 174 Abs. 5 AO zur Korrektur ermächtigt. Allerdings ist erneut zu berücksichtigen, daß die Rechtsfolge des § 174 Abs. 5 AO i.V.m. Abs. 4 AO Ermessen eröffnet. Es gelten hierfür die gleichen Überlegungen, die schon oben zu § 174 Abs. 4 AO angestellt wurden. 417 Auch § 174 Abs. 5 AO würde in vielen Einzelfallen gegen das verfassungsrechtliche Gebot des Vertrauensschutzes verstoßen, würde man seiner Rechtsfolge eine strikte Korrekturpflicht entnehmen wollen.418 Vielmehr muß die Finanzbehörde bei der ihr auf der Rechtsfolgenseite eingeräumten Ermessensentscheidung von einer Korrektur absehen, wenn trotz des Eingreifens aller Tatbestandsmerkmale das Bestandsvertrauen des Betroffenen schwerer wiegt, als das öffentliche Korrekturinteresse. Im Ergebnis dürften sich dabei keine anderen Entscheidungen ergeben, als sie nach § 48 VwVfG möglich wären. Es sind auch keine Besonderheiten des materiellen Steuerrechts ersichtlich, die bei der Korrektur von Steuerbescheiden nach § 174 Abs. 5 AO andere Ergebnisse rechtfertigen, als sie sich bei einer Korrektur nach den Rücknahmeregeln des allgemeinen Verwaltungsrechts ergeben würden. Die Weitungen beider Korrekturvorschriften sind daher insoweit miteinander vereinbar.

VI. Folgekorrekturen nach Erlaß, Aufhebung oder Änderung sogenannter Grundlagenbescheide Bestandskräfitigen Verwaltungsakten kommen unterschiedliche Wirkungen zu, deren einheitliche Benennung, Beschreibung und gegenseitige Abgren-

416

Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 103; ähnlich Klappstein, in: Knack § 48 Rz. 8.4.5.; BVerwGE 84, 111 (114) bei vorhandenem Hinweis im Antragsformular, daß eine Beihilfegewährung davon abhängt, ob eine Rente bewilligt wird; OVG Münster NJW 1981, 2597 (2598) bei vorhandenem Hinweis im Subventionsbescheid, daß dieser im Falle seiner Rechtswidrigkeit aufgehoben werden kann; insoweit a.A.: OVG Münster NJW 1985, 1042 (1042 f.). 417 S.o. (1). 418 So aber v. Wedelstädt, in: Beermann § 174 Rz. 114; Szymczak, in: Koch/Scholtz § 174 Rz. 23/2.; a.A.: Schick StuW 1992, 197 (222); Frotscher, in: Schwarz § 174 Rz. 63.

1

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

zung bislang noch nicht gelungen ist. 419 Hierzu gehört auch die sogenannte Bindungswirkung von Verwaltungsakten.420 Darunter wird der Effekt verstanden, daß der Verwaltungsakt die Beteiligten des Verfahrens an seinen Regelungsgehalt bindet.421 Die Behörde darf sich also mit ihrem späteren Verhalten nicht in Widerspruch zu dem von ihr erlassenen Verwaltungsakt setzen 4 2 2 Noch weiter geht die einem Verwaltungsakt zugeschriebene sogenannte Tatbestandswirkung.423 Danach ist der Verwaltungsakt nicht nur für die erlassende Behörde verbindlich, sondern es müssen auch andere Behörden und alle übrigen Staatsorgane den Verwaltungsakt beachten und als gegebenen „Tatbestand" ihrer Entscheidung zugrunde legen.424 Vorgreifliche Verwaltungsakte können auch für nachfolgende Bescheide innerhalb gestufter Verwaltungsverfahren Bindungs- und Tatbestandswirkungen entfalten. 425 Im Steuerrecht werden Verwaltungsakte, die für die spätere Festsetzung einer Steuer bindend sind, als Grundlagenbescheide bezeichnet (§ 171 Abs. 10 AO). Der spätere, unter Berücksichtigung des Grundlagenbescheides ergehende Verwaltungsakt, wird als Folgebescheid bezeichnet (vgl. § 182 Abs. 1 AO). Wichtigster Anwendungsfall des Grundlagenbescheides ist der Feststellungsbescheid (§§ 179 bis 183 AO), dessen Bindungswirkung für künftige Verfahren sich aus § 182 Abs. 1 AO ergibt. Aber auch andere Verwaltungsakte, die für Steuerbescheide Bindungswirkung entfalten, können Grundlagenbescheide sein, selbst wenn sie nicht dem Steuerrecht zuzurechnen sind. Hierzu gehört etwa der Bescheid über die Anerkennung als steuerbegünstigte Wohnung nach § 82 II. WoBauG, der Bindungswirkung für einen späteren Grundsteuerbescheid entfaltet (vgl. § 92a II. WoBauG).426 Bindungswirkung entfaltet auch der Feststellungsbescheid des Versorgungsamtes gem. § 3 Abs. 1 SchwerbehindertenG für einen späteren Kraftfahrzeugsteuerbescheid (vgl. § 3a KraftStG) oder den Einkommensteuerbescheid (vgl. § 33b EStG).427

419

Tipke/Kruse Vor § 130 Rz. 1; Ipsen, Verw. Bd. 17 (1984), 169 ff.; Randak JuS 1992, 33 ff; Erichsen/Knoke NVwZ 1983, 185 ff. 420 Maurer § 11 Rz. 6; WolfflBachofl Stober § 50 Rz. 19. 421 Maurer § 11 Rz. 6; einschr. Kruse § 15 I. 422 Erichsen, in: Erichsen § 13 Rz. 3. 423 Maurer § 11 Rz. 8; Erichsen, in: Erichsen § 13 Rz. 4. 424 Maurer § 11 Rz. 8; einschr. Kruse § 15 I. 425 Erichsen, in: Erichsen § 13 Rz. 3; ders.lKnoke NVwZ 1983, 185 (190 ff); Ossenbühl, NJW 1980, 1353 (1353 f.); Selmer/Schulze-Osterloh JuS 1981, 393 ff; Braun S. 18 ff. mit Fallbeispielen. 426 BFHE 130, 441 = BStBl. Π 1980, 682. 427 BFH BStBl. Π 1986, 245 = NVwZ 1987, 175.

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

1

Im Verwaltungsrecht gibt es ebenfalls Verwaltungsakte, die für spätere Bescheide bindend sind. Die Höhe der bestandskräftig festgesetzten Besoldung ist etwa bindend für den späteren Erlaß des Versorgungsbescheides.428 Auch wenn die Bezeichnungen Grundlagenbescheid und Folgebescheid nur im Steuerrecht, nicht aber im allgemeinen Verwaltungsrecht üblich sind, sollen diese Begriffe im folgenden der Einfachheit halber für beide Rechtsgebiete verwendet werden. Wird ein Grundlagenbescheid korrigiert, nachdem schon ein Folgebescheid auf seiner Grundlage ergangen war, stellt sich die Frage, inwieweit auch der Folgebescheid korrigiert werden darf oder muß. Die Abgabenordnung hat diese Frage ausdrücklich geregelt. Nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO ist ein Steuerbescheid zu ändern, soweit ein Grundlagenbescheid, dem Bindungswirkung für diesen Steuerbescheid zukommt, erlassen, aufgehoben oder geändert wird. Das Verwaltungsverfahrensgesetz enthält keinen derart speziellen Korrekturtatbestand. Im Verwaltungsrecht müßte die Korrektur also nach den allgemeinen Regeln über Rücknahme und Widerruf erfolgen. 429 Für den Vergleich dieser unterschiedlichen Korrekturmöglichkeiten im Steuerrecht und im Verwaltungsrecht ist erneut danach zu unterscheiden, ob die Korrektur des Folgebescheides zugunsten oder zuungunsten des Betroffenen erfolgen soll.

7. Korrektur

des Folgebescheides zugunsten des Betroffenen

Ändert sich der Grundlagenbescheid in einer Weise, die sich im Folgebescheid begünstigend für den Betroffenen auswirkt, so kommt eine Korrektur des Folgebescheides zugunsten des Betroffenen in Betracht. Im Steuerrecht wäre das etwa dann der Fall, wenn das Wohnortfinanzamt den Steuerpflichtigen unter Berücksichtigung eines gesonderten Gewinnfeststellungsbescheides zur Einkommensteuer veranlagt hat und das Betriebsfinanzamt den gesonderten Gewinnfeststellungsbescheid später gem. § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO ändert. Das Wohnortfinanzamt ist nun gem. § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO ohne weitere Voraussetzungen zur Korrektur des Einkommensteuerbescheides zugunsten des Steuerpflichtigen befugt. Da die Vorschrift eine gebundene Rechtsfolge enthält, ist die Finanzbehörde sogar zur Anpassung des Folgebescheides verpflichtet. 430 Der Steuerpflichtige hätte im Falle eines Antrags einen Anspruch auf Korrektur gegenüber der Behörde. Die Behörde wäre 428

Vgl. BVerwGE 23, 175 (175 f.). Seibert S. 593. 430 BFH BStBl. Π 1988, 711 (712); 1984, 86 (87); 1982, 99 (100); ν. Wedelstädt, Beermann § 175 Rz. 21; Tipke/Kruse § 175 Rz. 3. 429

in:

12

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

aber auch ohne Antrag des Steuerpflichtigen von Amts wegen zur Korrektur verpflichtet, sofern sie von der Änderung des Grundlagenbescheides Kenntnis hat. 431 Würde man auf diesen Fall die verwaltungsrechtlichen Korrekturregeln anwenden, ergäbe sich praktisch kein Unterschied zum Steuerrecht. Zunächst wäre zu fragen, ob es sich bei dieser Korrektur um einen Fall der Rücknahme (§ 48 VwVfG) oder des Widerrufs (§ 49 VwVfG) handeln würde. Die Rücknahmeregeln wären anwendbar, wenn der zu korrigierende Folgebescheid als von Anfang an rechtswidrig zu bewerten ist. 432 Bei dem Einkommensteuerbescheid handelt es sich um einen Verwaltungsakt, der zunächst rechtmäßig ergangen, nachträglich aber ex tunc rechtswidrig geworden ist. Das wurde bereits eingehend behandelt.433 Vom Zeitpunkt der Korrektur rückblickend betrachtet, war der Einkommensteuerbescheid also von Anfang an rechtswidrig, so daß im Verwaltungsrecht nur eine Rücknahme und kein Widerruf in Betracht kommt. 434 Rechtsgrundlage wäre dann § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG, da es sich bei der Herabsetzung des Steuerbetrages um eine teilweise Rücknahme eines belastenden Verwaltungsaktes handeln würde. Nach § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG wäre die Behörde ebenfalls ohne weitere Voraussetzungen zur Korrektur befugt. Insoweit besteht kein Unterschied zu § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO. Allerdings enthält § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG keine bindende Rechtsfolge, sondern räumt der Behörde Ermessen ein, von der Korrekturmöglichkeit Gebrauch zu machen oder den rechtswidrigen Folgebescheid fortbestehen zu lassen. Im Unterschied zum Steuerrecht würde sich für den Steuerpflichtigen also scheinbar kein Anspruch gegenüber der Behörde ergeben, den Folgebescheid zu seinen Gunsten zu korrigieren. Der Steuerpflichtige hätte aus § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG nur einen Anspruch auf fehlerfreie Ermessensbetätigung.435 Ein Anspruch des Steuerpflichtigen auf Rücknahme gem. § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG würde nur dann bestehen, wenn das Ermessen der Behörde auf Null reduziert ist, wenn also das Absehen von der Korrektur als rechtswidrig bewertet werden müßte. Grundsätzlich ist es als rechtmäßig anzusehen, wenn die Behörde die Rücknahme eines rechtswidrigen belastenden Verwaltungsaktes ablehnt.436 Anderenfalls wären die Rechtsmittelfristen bedeutungslos.437 Allerdings kann dann eine Ermessensreduzierung in Richtung auf eine Rücknahmepflicht 431 432 433 434 435 436 437

Tipke/Kruse § 175 Rz. 3; Szymczak, in: Koch/Scholtz § 175 Rz. 4. S.o. Α. m. 2. Hierzu eingehend oben Α. ΙΠ. 2. S.o. Α. m. 2. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 54; Kopp § 48 Rz. 36. A.A. noch: Ule/Becker S. 57. Begr. zu § 44 Abs. 1 VwVfG des RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 69.

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

1

zugunsten des Betroffenen angenommen werden, wenn einer der Gründe für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 VwVfG vorliegt und es sich bei dem für den rechtswidrigen Verwaltungsakt maßgebenden materiellen Recht um zwingende Vorschriften ohne Ermessensspielraum handelt. Diese Voraussetzungen sind in den Fällen des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO stets gegeben. Wenn ein für den Folgebescheid bindender Grundlagenbescheid geändert wird, ist die Behörde von einem Teil der zuvor bestehenden Bindungen befreit. Gleichzeitig wird die Behörde einer neuen Bindung unterworfen. Deshalb entsteht bezüglich des Folgebescheides eine geänderte Sach- oder Rechtslage und damit ein Grund für das Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG. 438 Da es sich auch bei dem für den Verwaltungsakt maßgebenden materiellen Recht, hier also dem materiellen Steuerrecht, um bindende Vorschriften ohne Ermessensspielräume handelt, wäre das Ermessen der Behörde aus § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG in Richtung auf eine Korrekturpflicht reduziert. Zu dem gleichen Ergebnis gelangt man, wenn der Betroffene einen Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 VwVfG stellt. In diesem Fall wäre die Behörde gem. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG zu einer erneuten Sachprüfung verpflichtet. Dieser Anspruch des Betroffenen richtet sich jedoch noch nicht auf die Korrektur des Verwaltungsaktes, sondern eben nur darauf, daß sich die Behörde erneut mit dem abgeschlossenen Verfahren befaßt. Für die etwaige Korrektur des Folgebescheides sind dagegen die Vorschriften des jeweiligen materiellen Rechts maßgebend.439 Da das materielle Steuerrecht bindende Vorschriften ohne Ermessensspielräume enthält, wäre die Behörde in den Fällen des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO also auch auf den Antrag des Bürgers hin zur Korrektur des Steuerbescheides verpflichtet. Es kann festgehalten werden, daß man bei Korrekturen zugunsten des Steuerpflichtigen mit Hilfe des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO keine anderen Korrekturergebnisse erzielt, als sie sich bei Anwendung der verwaltungsrechtlichen Rücknahmeregeln ergeben. Die Wertungen beider Vorschriften sind insoweit miteinander vereinbar.

438

Vgl. für den Fall der Aufhebung eines Grundlagenbescheides OVG Lüneburg et 1982, 949 (951 f.); OVG Lüneburg et 1980, 694 (696); v. Mutius/Schoch DVB1. 1983, 149 (158 f.); Seibert S. 582; vgl. auch BVerwGE 32, 124 (128): Änderung der Sachlage, wenn nachträglich ein Strafurteil aufgehoben wird, das Grundlage einer Beurteilung im nachfolgenden Verwaltungsakt war. 439 BVerwG NJW 1982, 2204 (2205); BVerwG NJW 1985, 280 f.; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 51 Rz. 25; ders. JuS 1982, 264 (267); Schenke DÖV 1983, 320 (330 f.); Klappstein, in: Knack § 51 Rz. 4.3 und § 48 Rz. 5.1 sowie 5.6.4; Erichsen, in: Erichsen § 20 Rz. 15; Kopp § 51 Rz. 10; a.A.: Meyer, in: Meyer/Borgs § 51 Rz. 21; Maurer § 11 Rz. 61; Wendt JA 1980, 85 (87); Richter JuS 1990, 719 (723).

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

1

2. Korrektur

des Folgebescheides zuungunsten des Betroffenen a) Allgemeines

Soll die Korrektur des Folgebescheides nicht zugunsten, sondern zuungunsten des Betroffenen erfolgen, muß grundsätzlich ein etwaiges schutzwürdiges Vertrauen des Betroffenen berücksichtigt werden. Bevor Korrekturmöglichkeiten und Vertrauensschutz nach Steuerrecht und Verwaltungsrecht miteinander verglichen werden, sollen hier zunächst die theoretisch möglichen Methoden aufgezeigt werden, die eine Verfahrensordnung bei einer belastenden Korrektur von Verwaltungsakten innerhalb gestufter Verfahren verwenden kann: aa) Zunächst wäre denkbar, auf die ungünstige Korrektur des Folgebescheides zu verzichten, sofern der Betroffene auf den Bestand des Bescheides vertraut hat und dieses Vertrauen schwerer wiegt als das öffentliche Interesse an der Korrektur. Bei dieser Strategie würde man zugunsten des Vertrauensschutzes in Kauf nehmen, daß eine dauernde Diskrepanz zwischen dem Grundlagenbescheid und dem Folgebescheid verbleibt. bb) Gegen die erste Strategie spricht, daß man der vom Grundlagenbescheid ausgehenden Bindungswirkung nicht zur Geltung verhelfen würde, wenn man eine dauernde Diskrepanz zwischen Folgebescheid und Grundlagenbescheid hinnimmt. Wollte man statt dessen der vom Grundlagenbescheid ausgehenden Bindungswirkung stets Geltung verschaffen, 440 müßte der Folgebescheid ohne Rücksicht auf Vertrauensschutz ausnahmslos an den Grundlagenbescheid angepaßt werden. Um den Vertrauensschutz dabei nicht vollständig außer acht zu lassen, könnte man daran denken, schon auf die vorangehende Veränderung des Grundlagenbescheides zu verzichten, wenn absehbar ist, daß die notwendigen Folgeänderungen das Vertrauen der Betroffenen unzumutbar enttäuschen würden. Diese Strategie hätte den Vorteil, daß keine Diskrepanz zwischen Grundlagen- und Folgebescheid entsteht. Man müßte allerdings in Kauf nehmen, daß dabei ein rechtswidriger Grundlagenbescheid aufrechterhalten wird. cc) Der Nachteil der zweiten Strategie liegt darin, daß Grundlagenbescheide eine Dauerwirkung entfalten können.441 Auf ihrer Grundlage muß nicht nur ein einziger Folgebescheid ergehen. Denkbar ist auch, daß nacheinander mehrere Folgebescheide aufgrund desselben Grundlagenbescheides erlassen werden, so daß der Regelungsgehalt des Grundlagenbescheides über einen längeren Zeitraum immer wieder neu berücksichtigt wird. Nimmt man das Fortbe440 441

Vgl. Tipke/Kruse S.o. Α. m. 2.

§ 175 Rz. 1.

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

15

stehen eines rechtswidrigen Grundlagenbescheides in Kauf, um aus Gründen des Vertrauensschutzes eine Folgekorrektur zu vermeiden, so muß man zusätzlich in Kauf nehmen, daß auch weitere, bislang noch nicht erlassene Folgebescheide an den rechtswidrigen Grundlagenbescheid anknüpfen werden. Aus diesem Grunde ist auch eine dritte Strategie denkbar. Anstatt den Grundlagenbescheid unangetastet zu lassen, könnte man ihn auch nur mit Wirkung für die Zukunft korrigieren. 442 Dann könnten die schon ergangenen Folgebescheide ohne Widerspruch zum Grundlagenbescheid bestehenbleiben. Bei allen künftigen Folgebescheiden müßte die Änderung des Grundlagenbescheides jedoch berücksichtigt werden. 443 Es soll untersucht werden, in welcher Weise die Abgabenordnung und das Verwaltungsverfahrensgesetz die Korrektur von Folgebescheiden zuungunsten des Betroffenen zulassen und dabei ein etwaiges Bestandsvertrauen berücksichtigen.

b) Vergleich Bei dem folgenden Vergleich sollen drei Situationen unterschieden werden, in denen ein Bedürfnis besteht, einen Folgebescheid zuungunsten des Steuerpflichtigen an einen Grundlagenbescheid anzupassen. Zunächst kann es vorkommen, daß Grundlagen- und Folgebescheid nacheinander erlassen werden und der Grundlagenbescheid später aufgehoben oder geändert wird (aa). Dabei können Aufhebung oder Änderung des Grundlagenbescheides durch die Behörde selbst im Rahmen eines Korrekturverfahrens betrieben und auf die einschlägigen Korrekturvorschriften gestützt worden sein. Die Aufhebung oder Änderung des Grundlagenbescheides kann aber auch durch ein Rechtsbehelfsverfahren veranlaßt sein, das etwa ein belasteter Dritter angestrengt hat. In diesem Fall wird die Aufhebung oder Änderung des Grundlagenbescheides entweder von der Widerspruchsbehörde oder von einem Gericht aufgrund der Regeln über das Vorverfahren oder über das gerichtliche Verfahren veranlaßt worden sein.444 Als zweite Korrektursituation kommt in Betracht, daß der Grundlagenbescheid erst nach dem Folgebescheid erlassen wurde und der Folgebescheid nun an den verbindlichen Regelungsgehalt des Grundlagenbescheides angepaßt werden soll (bb).

442 443 444

Vgl. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 62. Seibert S. 582; vgl. auch schon oben Α. V. 2. a) bb). Tipke/Kruse § 175 Rz. 2a.

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4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

Drittens kann es passieren, daß der Grundlagenbescheid zwar vor dem Folgebescheid erlassen wurde, daß die Behörde den Grundlagenbescheid aber bei Erlaß des Folgebescheides nicht oder nicht richtig ausgewertet hat (cc).

aa) Anpassung des Folgebescheides aufgrund einer Aufhebung oder Änderung des Grundlagenbescheides Im Steuerrecht kann nach Aufhebung oder Änderung eines Grundlagenbescheides der Folgebescheid nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO korrigiert werden. Nach dieser Vorschrift kann die Korrektur nicht nur zugunsten, sondern in gleicher Weise auch zuungunsten des Steuerpflichtigen erfolgen. Dabei ist die Korrektur des Folgebescheides zuungunsten des Steuerpflichtigen ohne weitere Voraussetzungen möglich. Die Vorschrift enthält eine bindende Rechtsfolge und keinen Ermessensspielraum, so daß die Behörde nach Änderung oder Aufhebung des Grundlagenbescheides sogar zur Korrektur des Folgebescheides zuungunsten des Steuerpflichtigen verpflichtet ist. Damit verfolgt die Abgabenordnung die Strategie, keine Diskrepanz zwischen Grundlagenbescheid und Folgebescheid entstehen zu lassen.445 Durch die Vorschrift des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO wird der Bindungswirkung des Grundlagenbescheides ohne Rücksicht auf Vertrauensschutz konsequent zur Geltung verholfen. 446 Ein Vertrauensschutz ist bei einer derart zwingenden Folgeänderung nur noch möglich, wenn schon bei der Korrektur des Grundlagenbescheides die etwaigen Folgeänderungen berücksichtigt werden. Dies kann dazu fuhren, daß der Grundlagenbescheid nicht oder nur mit Wirkung für die Zukunft korrigiert werden darf. 447 Fraglich ist, ob man zum gleichen Ergebnis gelangt, wenn man auf die Fälle des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO die verwaltungsrechtlichen Korrekturvorschriften anwenden würde. Bei der Korrektur des Folgebescheides wären die Regeln über die Rücknahme von Verwaltungsakten (§ 48 VwVfG) anwendbar, da der Folgebescheid als von Anfang an rechtswidrig zu bewerten ist. 448 Außerdem müßten die Voraussetzungen für die Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte erfüllt sein (§ 48 Abs. 2 bis 4 VwVfG), denn der Folgebescheid hat zwar belastenden Charakter, soll aber durch einen noch stärker belasten445

So schon BFH BStBl, m 1956, 308 (308) zum Zweck des § 218 Abs. 4 RAO (Vorläufer des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO); vgl. auch BFH BStBl. Π 1986, 245 (286); Seibert S. 597; krit. Boorberg DB 1983, 1170 (1170). 446 Tipke/Kruse § 175 Rz. 1. 447 Jedenfalls nach hier vertretener Ansicht, s.o. Α. V. 2. a) bb). 448 S.o. 1.

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

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den Bescheid ersetzt werden. 449 Nach § 48 Abs. 2 S. 1 VwVfG kommt es darauf an, ob ein etwaiges Bestandsvertrauen des Betroffenen schwerer wiegt als das öffentliche Interesse an der Korrektur des Verwaltungsaktes. In den Fällen des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO, in denen ein Grundlagenbescheid nachträglich geändert wird, ist allerdings das Bestandsinteresse des Betroffenen geringer zu bewerten als das öffentliche Korrekturinteresse. Ein etwaiges Vertrauen des Betroffenen wäre nämlich schon bei der Korrektur des Grundlagenbescheides berücksichtigt worden, da auch die vorangegangene Korrektur des Grundlagenbescheides auf § 48 VwVfG beruhte. Die Korrektur des Grundlagenbescheides nach § 48 VwVfG wäre unterblieben oder nur mit Wirkung für die Zukunft erfolgt (vgl. § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG), wenn ein überwiegendes Vertrauen des Betroffenen gegen die anschließend anstehende Folgeänderung sprechen würde. Ist der Grundlagenbescheid dagegen in einem Rechtsmittelverfahren durch das Gericht aufgehoben oder geändert worden, weil ein Dritter gegen ihn vorgegangen ist, so besteht für einen Vertrauensschutz des von der Folgeänderung Benachteiligten ohnehin kein Anlaß. Das Rechtsmittelverfahren gegen den Grundlagenbescheid ist nämlich nur möglich, wenn der Bescheid noch anfechtbar war. Solange der Grundlagenbescheid anfechtbar ist, darf sich aber noch niemand auf seinen Fortbestand und damit auf den Fortbestand eines daraufhin erlassenen Folgebescheides verlassen. Somit wäre die Korrektur des Folgebescheides nach Aufhebung oder Änderung eines Grundlagenbescheides bei Anwendung der verwaltungsrechtlichen Korrekturregeln ebenso möglich wie bei Anwendung von § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO. Allerdings steht die Korrektur des Folgebescheides nach dem Wortlaut des § 48 VwVfG im Ermessen der Behörde, während die Korrektur nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO zwingend vorgeschrieben ist. Es ist jedoch anzunehmen, daß das Ermessen bei § 48 VwVfG in den Fällen des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO stets auf Null reduziert ist. Hierfür spricht die fehlende Notwendigkeit, ein Bestandsvertrauen zum Schutz des Betroffenen zu berücksichtigen. Außerdem ist das öffentliche Interesse an der Anpassung des Folgebescheides an den Grundlagenbescheid besonders stark. Der Folgebescheid ist nämlich nicht nur rechtswidrig, weil er gegen die materielle Rechtsordnung verstößt, sondern er steht zudem noch im Widerspruch zu einem anderen Bescheid. Es besteht also nicht nur das stets für eine Korrektur sprechende öffentliche Interesse, die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns herzustellen. Es besteht zusätzlich das Interesse, widersprüchliches Verwaltungshandeln zu beseitigen. Mithin wäre die Korrektur eines Folgebescheides nach Aufhebung oder Änderung eines Grundlagenbescheides nach den verwaltungsrechtlichen Korrekturregeln

449

Hierzu eingehend oben Α. Π. 2. b).

12 Arndt

1

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

ebenso zwingend vorgeschrieben wie nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO. Zwischen beiden Korrekturregeln besteht insoweit kein Wertungsunterschied.

bb) Korrektur

des Folgebescheides nach Erlaß eines Grundlagenbescheides

Im Steuerrecht muß der Grundlagenbescheid nicht unbedingt zeitlich vor dem Folgebescheid, sondern kann auch nachträglich ergehen.450 Das ergibt sich ausdrücklich aus § 155 Abs. 2 AO. 451 Die Vorschrift wurde erst 1980 eingeführt. 452 Zwar war in der Praxis schon vorher entsprechend verfahren worden, 453 jedoch kamen in der Rechtsprechung zunehmend Zweifel auf, ob nicht vor Erlaß des Folgebescheides der Grundlagenbescheid abgewartet werden müsse.454 Zweck der daraufhin vom Gesetzgeber in § 155 Abs. 2 AO eingefügten Klarstellung ist es, Verzögerungen im Steuereingang und damit vorübergehende Einnahmeausfälle zu vermeiden.455 Die im Folgebescheid zu berücksichtigenden Besteuerungsgrundlagen können geschätzt werden, solange der Grundlagenbescheid noch nicht vorliegt (§ 162 Abs. 3 AO). Folgerichtig erfaßt die Korrekturvorschrift des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht nur die Fälle, in denen ein Grundlagenbescheid aufgehoben und geändert wurde. Die Norm ermächtigt ausdrücklich auch zur Korrektur des Folgebescheides, wenn nachträglich ein Grundlagenbescheid erlassen wird. Einschränkende Voraussetzungen, die eine Folgekorrektur aus Gründen des Vertrauensschutzes ausschließen, sind in § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht enthalten. Fraglich ist, ob die Behörde genauso zur Korrektur verpflichtet wäre, wenn sie statt des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO die verwaltungsrechtlichen Korrekturregeln anwenden würde. Dabei käme es erneut darauf an, ob eine Rücknahme aus Gründen des Vertrauensschutzes nach § 48 Abs. 2 VwVfG ausgeschlossen

450

Vgl. schon BFH BStBl, m 1956, 308 (308 f.); v. Wedelstädt, in: Beermann § 175 Rz. 9 m.w.Nw. 451 Krit. Roggan BB 1982, 111 (112 ff.). 452 Durch Art. 13 des Änderungsgesetzes vom 20.8.1980, BGBl. I S. 1545 (1555). 453 Vgl. schon BFH BStBl, m 1956, 308 (308 f.); siehe auch die Verwaltungsanweisungen im BMF-Schreiben v. 14.5.1976, BStBl. I S. 320 und v. 2.1.1979, BStBl. I S. 2.; v. Cramer DB 1982, 2209 (2209). 454 Vgl. hierzu BFH BStBl. Π 1978, 579 (581); 1979, 46 (47); siehe auch die Begr. zur vom Bundesrat eingefügten Ergänzung des RegE eines Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes und anderer Gesetze, BT-Drucks. 8/3648 S. 35. 455 Stellungnahme des Bundesrates, BT-Drucks. 8/3648 S. 35.; eingehender zum Verfahren bei Einführung des § 155 Abs. 2 AO Roggan BB 1982, 111 (111 f.); ferner Kohlhaas FR 305 (305 f.); Rößler DStR 1983, 78 (78).

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

1

wäre. 456 Ausgeschlossen ist die Rücknahme, wenn das Bestandsvertrauen des Betroffenen schwerer wiegt als das öffentliche Korrekturinteresse (vgl. § 48 Abs. 2 S. 1 VwVfG). In der Regel ist das insbesondere dann der Fall, wenn der Betroffene eine gewährte Leistung verbraucht oder eine irreversible Vermögensdisposition getroffen hat (vgl. § 48 Abs. 2 S. 2 VwVfG) und keiner der vertrauensausschließenden Gründe des § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 bis 3 VwVfG vorliegt. Ein solcher Korrekturausschluß nach § 48 Abs. 2 VwVfG würde vorliegen, wenn die Finanzbehörde aufgrund eines Steuerbescheides Steuern erstattet, jedoch nicht deutlich macht, daß ein Teil der Besteuerungsgrundlagen geschätzt wurde und hierüber zum späteren Zeitpunkt noch ein verbindlicher Grundlagenbescheid ergehen wird. Konnte der Steuerpflichtige deshalb nicht erkennen, daß der Steuerbescheid nur vorläufigen Charakter hat und gibt er im Vertrauen auf dessen Bestand das erhaltene Geld aus, so wäre im Verwaltungsrecht eine Rücknahme zu seinen Ungunsten wegen § 48 Abs. 2 VwVfG ausgeschlossen, wenn später der Grundlagenbescheid ergeht. Nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO ist dagegen eine Korrektur des Folgebescheides zu Lasten des Steuerpflichtigen zwingend vorgeschrieben. Insoweit besteht eine Differenz zwischen dem steuerrechtlichen und dem verwaltungsrechtlichen Korrektursystem. In der steuerrechtlichen Rechtsprechung und Literatur besteht allerdings Einigkeit darüber, daß der vorläufige Charakter eines vor Erlaß des Grundlagenbescheides erlassenen Folgebescheides für den Steuerpflichtigen erkennbar sein muß.457 Ist für den Steuerpflichtigen erkennbar, daß der Folgebescheid auf Besteuerungsgrundlagen beruht, die zunächst geschätzt worden sind und erst künftig verbindlich festgestellt werden sollen, wäre aber auch nach § 48 Abs. 2 VwVfG ein überwiegendes Vertrauen des Betroffenen ausgeschlossen, da er mit einer Korrektur des Folgebescheides zu seinen Lasten rechnen mußte. Sofern die Finanzbehörden in den Fällen des § 155 Abs. 2 AO stets berücksichtigen, daß die Vorläufigkeit des Folgebescheides für den Steuerpflichtigen erkennbar sein muß, ergäben sich für die Korrektur nach verwaltungsrechtlichen und steuerrechtlichen Regeln keine Unterschiede. Der Wortlaut des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO ermächtigt aber auch dann zur Korrektur, wenn die Finanzbehörde es pflichtwidrig versäumt hat, die Vorläufigkeit des Folgebescheides hinreichend deutlich zu machen.458 Hat der Steuerpflichtige in diesen Fällen sein Bestandsvertrauen in schutzwürdiger Weise betätigt, wäre eine Korrektur zu seinen Lasten unangemessen. Der Wortlaut des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO sollte deshalb eine Korrektur

456

S.o. aa). BFH BStBl. Π 1989, 596 (598); Tipke/Kruse § 155 Rz. 9; Güroffl § 155 Rz. 28; vgl. auch v. Cramer DB 1982, 2209 (2211). 458 Vgl. Roggan BB 1982, 111 (113). 457

in: Beermann

1

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

für den Fall ausschließen, daß die Vorläufigkeit des Folgebescheides für den Steuerpflichtigen nicht erkennbar war. Es ließe sich etwa hinter § 175 Abs. 1 S. 1 AO folgender Satz 2 einfügen:

„In den Fällen des Satzes 1 Nr. 1 ist eine Korrektur zuungunsten des Steuerpflichtigen ausgeschlossen, wenn ein Grundlagenbescheid mit Bindungswirkung für einen zuvor erteilten Steuerbescheid erlassen wird (§ 155 Abs. 2), de Steuerpflichtige aber nicht erkennen konnte, daß der Steuerbescheid nur vor läufigen Charakter hatte und er in schutzwürdiger Weise auf dessen Bestan vertraut hat. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Steuer pflichtige erstattete Steuern verbraucht oder eine Vermögensdisposition ge troffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. " Würde man dem § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO diese Einschränkung hinzufügen, wäre die Vorschrift mit den verwaltungsrechtlichen Rücknahmeregeln vereinbar.

cc) Korrektur des Folgebescheides nach fehlender oder fehlerhafter Auswertung eines Grundlagenbescheides Eine Anpassung des Folgebescheides an einen Grundlagenbescheid kann auch dann in Betracht kommen, wenn der Grundlagenbescheid zwar schon vor Erlaß des Folgebescheides vorlag, die Behörde aber bei Erlaß des Folgebescheides den Grundlagenbescheid nicht oder nicht richtig berücksichtigt hat. Das kann vorkommen, wenn die Behörde den ihr vorliegenden Grundlagenbescheid übersehen oder falsch ausgewertet hat. Im Steuerrecht wird nach ständiger Rechtsprechung des BFH 459 und nach Auffassung in der Literatur 460 auch in derartigen Fällen die Vorschrift des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO als Ermächtigungsgrundlage für eine Anpassung des Folgebescheides herangezogen, selbst wenn dies zuungunsten des Steuerpflichtigen geschieht. Dadurch ist es möglich, daß ein Folgebescheid aufgrund eines Grundlagenbescheides so oft nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO geändert werden kann, bis der Regelungsgehalt

459

BFH BStBl. Π 1984, 86 (87); 1986, 93 (94 f.); 1992, 52 (53 f.); vgl. auch Günther Inf 1989, 32 f. mit einem Überblick über die Rechtsprechung des BFH zu diesen Fragen. 460 Kühn/Hofinann § 175 Anm. 2; v. Wedelstädt, in: Beermann § 175 Rz. 18 u. 19; Szymczak, in: Koch/Scholtz § 175 Rz. 6.

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

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des Grundlagenbescheids vollständig und richtig übernommen worden ist. 461 Dieser Betrachtungsweise liegt das im Steuerrecht vorherrschende Verständnis zugrunde, wonach Grundlagenbescheid und Folgebescheid ausnahmslos korrespondieren müssen, so daß die Bedeutung der Bestandskraft des Folgebescheides stets dahinter zurückzutreten hat. 462 Nach den verwaltungsrechtlichen Korrekturregeln wäre eine so weitgehende Korrekturmöglichkeit nicht gegeben. Hat die Finanzbehörde bei Erlaß des Folgebescheides einen bestehenden Grundlagenbescheid fehlerhaft ausgewertet, hat aber der Steuerpflichtige eine aufgrund des bestandskräftigen Folgebescheides erhaltene Steuererstattung im Vertrauen auf dessen Bestand schon ausgegeben, so wäre eine Korrektur des Folgebescheides zuungunsten des Steuerpflichtigen nach der Vorschrift des § 48 Abs. 2 VwVfG aus Gründen des Vertrauensschutzes regelmäßig ausgeschlossen. Ein den Vertrauensschutz ausschließender Grund nach § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 bis 3 VwVfG wird meistens nicht vorliegen, so daß die Regelvermutung des § 48 Abs. 2 S. 2 für eine Schutzwürdigkeit des Vertrauens spricht. Eine Korrektur nach § 48 VwVfG wird auch dann ausgeschlossen sein, wenn die Behörde bei Erlaß des Folgebescheides den vorhandenen Grundlagenbescheid völlig übersehen hat, sofern sie nicht den Folgebescheid wegen des vermeintlich noch ausstehenden Grundlagenbescheides als vorläufig kennzeichnet.463 Folgt man dem im Steuerrecht vorherrschenden Verständnis, wonach ein Folgebescheid auch bei unterbliebener oder fehlerhafter Auswertung eines vorhandenen Grundlagenbescheides stets angepaßt werden muß, so ergibt sich eine Differenz zu den vertrauensschützenden Korrekturbeschränkungen in § 48 VwVfG. Die im Steuerrecht praktizierte Anwendung des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO auf Fälle, in denen die Behörde bei Erlaß des Folgebescheides einen schon vorhandenen Grundlagenbescheid übersehen oder nicht richtig ausgewertet hat, ist allerdings nicht unumstritten. 464 Gegen dieses Verständnis des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO spricht zum einen der Wortlaut der Norm. § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO erlaubt eine Korrektur des Folgebescheides, wenn ein Grundlagenbescheid „aufgehoben", „geändert" oder „erlassen" wurde. Wird ein vorhandener Grundlagenbescheid bei Erlaß eines Folgebescheides übersehen oder fehlerhaft ausgewertet, so kann nicht davon gesprochen werden, daß der Grundlagenbescheid „aufgehoben" oder „geändert" wurde. Man könnte den Tatbestand des §175 Abs. 1 Nr. 1 AO allenfalls bejahen, wenn man hierin den Fall erblickt, in dem ein Grundlagenbescheid „erlassen" wurde. Dann müßte man § 175 461 462 463 464

v. Wedelstädt, in: Beermann § 175 Rz. 18. Krit. Boorberg DB 1983, 1170 (1170). Hierzu oben bb). Vgl. Boorberg DB 1983, 1170 (1171 f.); Frotscher, in: Schwarz § 175 Rz. 7.

12

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

Abs. 1 Nr. 1 AO aber so verstehen, daß die Vorschrift mit dem Wort „erlassen" nicht nur den Fall meint, in dem der Grundlagenbescheid nach dem Erlaß des Folgebescheides ergeht. Man müßte § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO vielmehr so verstehen, daß es für eine Korrektur stets ausreicht, wenn überhaupt ein Grundlagenbescheid existiert, gleichgültig wann dieser erlassen wurde. 465 Dieses Verständnis des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO ist jedoch abzulehnen.466 Hätte der Gesetzgeber zum Ausdruck bringen wollen, daß ein Folgebescheid stets an einen - wann auch immer erlassenen - Grundlagenbescheid angepaßt werden muß, dann wäre es unnötig gewesen, daneben ausdrücklich den Fall des geänderten Grundlagenbescheides aufzuzählen. Im übrigen spricht auch der Präsens des Wortes „wird" dafür, daß § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO nur die Fälle meint, in denen der Grundlagenbescheid nach Erlaß des Folgebescheides erlassen, aufgehoben oder geändert wird. Anderenfalls hätte es näher gelegen, die Vergangenheitsform „wurde" zu wählen. Für ein solches Verständnis spricht auch die Begründung zum Regierungsentwurf der Vorschrift, 467 in der nur von einer Korrektur für den Fall die Rede ist, daß der Grundlagenbescheid nach Erlaß des Steuerbescheides ergeht. Dafür spricht auch ein an objektiven Verfassungswerten orientiertes Verständnis der Vorschrift. Bei einer für den Steuerpflichtigen ungünstigen Korrektur eines Folgebescheides darf der verfassungsrechtlich erforderliche Vertrauensschutz 468 nicht völlig unbeachtet bleiben. Das wäre aber der Fall, wenn die Finanzbehörde ohne weitere Voraussetzungen zur Korrektur ermächtigt ist, obwohl sie bei Erlaß des Folgebescheides einen Grundlagenbescheid übersehen hat und der Steuerpflichtige diesen Fehler weder veranlaßt hat, noch erkennen mußte. Letztlich ist auch nicht ersichtlich, warum hierbei eine andere Wertung gelten sollte als in den Fällen des nachträglichen Bekanntwerdens von Tatsachen.469 Auch dort ist eine Korrektur ausgeschlossen, wenn das nachträgliche Bekanntwerden einer steuererhöhenden Tatsache der Behörde zuzurechnen ist und der Bürger auf die Richtigkeit der behördlichen Entscheidung in schutzwürdiger Weise vertraut hat. 470 Nach alledem ist der teilweise in der steuerrechtlichen Literatur vertretenen Auffassung zuzustimmen, daß eine Korrektur nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht erfolgen darf, wenn bei Erlaß des Folgebescheides ein schon vorhandener Grundlagenbescheid nicht oder nicht richtig ausgewertet wurde. 471 465 466

Tipke/Kruse § 175 Rz. 2b. I.E. wie hier Boorberg DB 1983, 1170 (1171 f.); Frotscher, in: Schwaiz § 175

Rz. 7. 467 468 469 470 471

Begr. zu § 156 AO des RegE BT-Drucks. 6/1982 S. 154 f. S.o. 3. Teil A. S.o. IV. 1. I.E. ebenso Boorberg DB 1983, 1170 (1171 f.). Boorberg DB 1983, 1170 (1171 f.); Frotscher, in: Schwarz § 175 Rz. 7.

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

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§ 175 Abs. 1 Nr. 1 AO ermächtigt im Fall des Erlasses eines Grundlagenbescheides nur dann zur Korrektur, wenn der Grundlagenbescheid nach Erlaß des Folgebescheides ergangen ist. Bei diesem Verständnis des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO wäre die Norm mit den Grundsätzen des Vertrauensschutzes in § 48 Abs. 2 VwVfG vereinbar.

VIL Rückwirkende Ereignisse Auch in Fällen sogenannter rückwirkender Ereignisse kann ein Bedürfnis bestehen, einen Verwaltungsakt zu korrigieren. Rückwirkende Ereignisse sind rechtliche oder tatsächliche Vorgänge, die sich so auswirken, daß ein in der Vergangenheit erlassener Verwaltungsakt nicht mehr als rechtmäßig472 angesehen werden kann, weil sich die anfanglichen Umstände nachträglich mit Rückwirkung auf den Erlaßzeitpunkt ändern. Damit ist nicht der Fall gemeint, daß ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung wegen geänderter Umstände künftig nicht mehr in rechtmäßiger Weise fortbestehen kann, er also ex nunc rechtswidrig geworden ist. Gemeint sind vielmehr solche Ereignisse, die nachträglich die bei Erlaß des Verwaltungsaktes zugrunde gelegten Umstände verändert erscheinen lassen. Zwar kann eigentlich ein in der Vergangenheit tatsächlich gewesener Umstand naturgesetzlich nicht nachträglich ungeschehen sein.473 Es gibt aber zahlreiche von der Rechtsordnung anerkannte Fiktionen, die rückwirkend andere als die realen Umstände für geschehen erklären. 474 Ein nach § 142 Abs. 1 BGB angefochtenes Rechtsgeschäft gilt vom Zeitpünkt der Anfechtung an als von Anfang an nichtig, obwohl das Rechtsgeschäft in der Zeit vor der Anfechtung wirksam war. Eine im Jahr 02 rückwirkend für das Jahr 01 bewilligte Rente gilt fortan als seit dem Jahr 01 bewilligt, obwohl die Bewilligung erst im Jahr 02 stattfand. 475 Anders als bei neuen Tatsachen oder Beweismitteln (§ 173 AO), hat die Behörde bei rückwirkenden Ereignissen den Sachverhalt ursprünglich vollständig erfaßt. Vom Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsaktes aus betrachtet, ist der Bescheid deshalb rechtmäßig. Vom Zeitpunkt des rückwirkenden Ereignisses an rückblickend

472

Vgl. für das Steuerrecht Frotscher, in: Schwarz § 175 Rz. 13; v. Wallis, Hübschmann/Hepp/Spitaler § 175 Rz. 14. 473 Woerner/Grube S. 127. 474 Rust S. 12; grundlegend Esser S. 171 ff. 475 Vgl. den der Entscheidung BVerwGE 84, 111 zugrunde liegenden Fall.

in:

1

4

.

Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

betrachtet, ist der Verwaltungsakt dagegen als von Anfang an rechtswidrig anzusehen,476 weil nachträglich andere Umstände fingiert werden. Im Steuerrecht ermächtigt § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO die Finanzbehörde ohne weitere Voraussetzungen zur Korrektur eines Steuerbescheides, soweit ein rückwirkendes Ereignis eintritt. Die Norm enthält eine bindende Rechtsfolge. Die Finanzbehörde hat also bei Eintritt rückwirkender Ereignisse kein Korrekturermessen, sondern ist stets zur Korrektur verpflichtet. 477 Das gilt gleichermaßen für Korrekturen zugunsten wie zuungunsten des Steuerpflichtigen. Insbesondere enthält die Vorschrift bei Korrekturen zuungunsten des Steuerpflichtigen keine Beschränkungen, die dem Vertrauensschutz dienen könnten. Es ergeben sich bei einem Vergleich mit dem Verwaltungsrecht deshalb ähnliche Ergebnisse wie im Fall des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO. 478 Würde man auf die Fälle des § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO die Korrekturregeln des Verwaltungsverfahrensgesetzes anwenden, käme eine Rücknahme des Verwaltungsaktes nach § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG in Betracht, denn es geht um die Korrektur eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes. Zwar war der Steuerbescheid in den Fällen des § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO vom Zeitpunkt seines Erlasses aus betrachtet ursprünglich rechtmäßig, so daß man daran denken könnte, die Regeln des § 49 VwVfG anzuwenden. Maßgeblich ist aber, daß der Bescheid vom Korrekturzeitpunkt aus rückblickend betrachtet zur Zeit seines Erlasses rechtswidrig war. Das ist nach Eintritt eines Ereignisses mit steuerlicher Wirkung für die Vergangenheit der Fall. Deshalb käme in den Fällen des § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO nur eine Rücknahme nach § 48 VwVfG in Betracht.

7. Korrekturen

zugunsten des Betroffenen

Soll die in einem Steuerbescheid festgesetzte Steuer wegen eines nachträglich eingetretenen rückwirkenden Ereignisses ermäßigt werden, könnte dies gem. § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG im Wege der Rücknahme eines belastenden Verwaltungsaktes ohne weitere Voraussetzungen erfolgen. Insoweit besteht kein Unterschied zu § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO. Allerdings ist die Behörde bei einer Rücknahme nach § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG nicht zur Korrektur verpflichtet, sondern muß nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden, ob und in welchem Umfang sie den Verwaltungsakt zurücknimmt. § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO schreibt die Korrektur dagegen zwin476

Hierzu eingehend oben Α. ΠΙ. 2.; v. Wedelstädt, in: Beermann § 175 Rz. 41; Frotscher, in: Schwarz § 175 Rz. 13; Kühn/Hofinann § 175 Anm. 3. 477 Frotscher, in: Schwarz § 175 Rz. 13. 478 S.o. VI.

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

15

gend vor. Der Steuerpflichtige hat also bei Anwendung von § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO einen Anspruch auf Korrektur zu seinen Gunsten.479 Würde man § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG anwenden, hätte der Betroffene dagegen nur einen Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung durch die Behörde.480 Ein Anspruch des Betroffenen auf Rücknahme ergibt sich nur dann aus § 48 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG, wenn das Ermessen ausnahmsweise auf Null reduziert ist. Nach Verstreichen der Rechtsmittelfirist ist es aber regelmäßig ermessensfehlerfrei, wenn die Behörde die Rücknahme eines rechtswidrigen belastenden Verwaltungsaktes ablehnt.481 Würde man eine allgemeine Pflicht der Behörde zur Rücknahme rechtswidriger belastender Verwaltungsakte im Wege einer Ermessensreduzierung annehmen,482 wären die Rechtsmittelfristen bedeutungslos. 483 Eine Reduzierung des in § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG enthaltenen Ermessens in Richtung einer behördlichen Korrekturpflicht darf deshalb nur in Ausnahmefallen angenommen werden. 484 Eine solche Ausnahme liegt regelmäßig vor, wenn ein Grund für das Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 VwVfG eingreift 485 und es sich bei dem für den rechtswidrigen Verwaltungsakt maßgebenden materiellen Recht um zwingende Vorschriften ohne Ermessensspielraum handelt. In diesem Fall müßte die Behörde nämlich ohnehin aufgrund von § 51 VwVfG auf Antrag des Betroffenen eine neue Sachentscheidung treffen und wegen der zwingenden materiellen Vorschriften einen korrigierten Bescheid erlassen. Bei Eintritt eines rückwirkenden Ereignisses könnte man - wie schon in den Fällen des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO - daran denken, daß eine nachträgliche Änderung der Sach- oder Rechtslage zugunsten des Betroffenen gem. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG vorliegt. Als Änderung der Sach- oder Rechtslage gem. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG ist jeder Vorgang anzusehen, der den für den Verwaltungsakt entscheidungserheblichen Sachverhalt oder die für den Verwaltungsakt entscheidungserheblichen Voraussetzungen verändert. 486 Die typischen Fälle des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG sind solche, in denen ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung nachträglich ex nunc rechtswidrig wird. 487 Der Verwaltungsakt ist hierbei rückblickend als ursprünglich 479

v. Wedelstädt, in: Beermann § 175 Rz. 72; Kühn/Hofmann Anm. 3 g. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 54; Kopp § 48 Rz. 36. 481 Begr. zu §44 Abs. 1 VwVfG des RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 69; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 61; WolßlBachoflStober § 51 Rz. 121. 482 So noch Ule/Becker S. 57. 483 Begr. zu § 44 Abs. 1 VwVfG des RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 69. 484 Kopp § 48 Rz. 37 mit Beispielen für solche Ausnahmen. 485 Vgl. Begr. zu § 44 Abs. 1 VwVfG des RegE BT-Drucks. 7/910 S. 69. 486 Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 51 Rz. 71 und 72. 487 Kopp §51 Rz. 16; Klappstein, in: Knack §51 Rz. 5.1.3; Bettermann, in: Festschr. Wolff S. 475. 480

16

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

rechtmäßig anzusehen. Deshalb liegt den meisten Fällen des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG eine Situation zugrunde, in der keine Rücknahme des Verwaltungsaktes nach § 48 VwVfG, sondern nur ein Widerruf nach § 49 VwVfG in Betracht kommt.488 Eine solche Situation ist in den Fällen des § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO aber gerade nicht gegeben, da Steuerbescheide im allgemeinen keine Verwaltungsakte mit Dauerwirkung sind. 489 Der Anwendungsbereich von § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG kann aber nicht nur auf Verwaltungsakte mit Dauerwirkung beschränkt sein.490 Eine Änderung der Sach- oder Rechtslage i.S.v. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG muß auch dann angenommen werden, wenn bei einem Verwaltungsakt ohne Dauerwirkung ein rückwirkendes Ereignis i.S.v. § 175 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG eintritt. Die Besonderheit rückwirkender Ereignisse ist gerade, daß sich ein in der Vergangenheit liegender und für den Verwaltungsakt entscheidungserheblicher Umstand nachträglich rückwirkend ändert. Solche rückwirkenden Ereignisse kommen nicht nur im Steuerrecht, sondern auch im allgemeinen Verwaltungsrecht vor. 491 § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG erfaßt deshalb nicht nur Fälle, in denen ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung ex nunc rechtswidrig wird. Die Vorschrift ist auch anwendbar, wenn ein Verwaltungsakt ohne Dauerwirkung wegen eines rückwirkenden Ereignisses ex tunc rechtswidrig wird. 492 Eine solche Situation ist in den Fällen des § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO immer gegeben. Würde man § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG auf die Fälle des § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO anwenden, wäre deshalb das Korrekturermessen der Behörde stets in Richtung auf eine Korrekturpflicht zugunsten des Steuerpflichtigen reduziert. Insoweit besteht kein Unterschied zwischen den Korrekturvorschriften des § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO und des § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG. Die beiden Korrekturvorschriften kämen auch dann zu gleichen Ergebnissen, wenn der Bürger die Korrektur des Steuerbescheides beantragen würde. In diesem Fall hätte er nach den verwaltungsrechtlichen Regeln einen Anspruch aus § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG auf eine neue Entscheidung in der Sache. Geht man davon aus, daß sich diese neue Sachentscheidung nach den Vorschriften des materiellen Rechts richtet,493 so wäre ebenfalls eine Korrektur des Steuerbescheides die zwingende Folge, da die Finanzbehörde bei der Steuerfestset488

Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 51 Rz. 67; Vgl. oben A. m. 2. Eingehend hierzu oben Α. ΙΠ. 2. b). 490 A.A. wohl: Kopp § 51 Rz. 16. 491 Vgl. BVerwGE 84, 111 ff. im Fall einer rückwirkenden Rentenbewilligung; hierzu Schenke!Baumeister JuS 1991, 547 ff. 492 Offen Klappstein, in: Knack §51 Rz. 5.1.3.; unklar Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 51 Rz. 67; wohl abl. Kopp § 51 Rz. 16. 493 Hierzu oben ΙΠ. 2. 489

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

zung keinen Ermessensspielraum hat. Beim Eintritt rückwirkender Ereignisse zugunsten des Betroffenen sind die Korrekturvorschriften des Steuerrechts und des allgemeinen Verwaltungsrechts also miteinander vereinbar.

2. Korrekturen

zuungunsten des Betroffenen

Die Korrekturvorschrift des § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO schreibt im Fall rückwirkender Ereignisse ohne einschränkende Voraussetzungen auch eine Korrektur zuungunsten des Steuerpflichtigen zwingend vor. Die sich daraus ergebenden Wertungsunterschiede zu § 48 VwVfG zeichnen sich nach den voranstehenden Vergleichen bereits ab. Würde man die verwaltungsrechtlichen Rücknahmeregeln auf die Fälle des § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO anwenden, so würde die Korrektur von den vertrauensschützenden Beschränkungen des § 48 Abs. 2 VwVfG abhängen. Während die Korrektur nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO stets zwingend vorgeschrieben ist, wäre die Korrektur nach § 48 Abs. 2 S. 1 VwVfG ausgeschlossen, wenn der Betroffene auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Fraglich ist aber, ob es bei Eintritt rückwirkender Ereignisse überhaupt Fälle gibt, in denen ein Bestandsvertrauen des Betroffenen schutzwürdig ist. Rückwirkende Ereignisse bringen oft einen Vermögensvorteil mit sich. Die damit zusammenhängende ungünstige Korrektur eines bestandskräftigen Steuerbescheides ist dem Betroffenen daher meist ohne weiteres zuzumuten. So ist es etwa, wenn eine Spende, die im Jahr Ol gezahlt worden ist, im Jahr 02 an den Steuerpflichtigen zurückfließt, weil das mit der Spende zu fördernde Vorhaben nicht durchgeführt wird. Der Spendenrückfluß ist als rückwirkendes Ereignis für das Jahr 01 zu bewerten.494 Rückblickend hat im Jahr 01 insoweit keine abzugsfahige Sonderausgabe existiert. Wollte man den Steuerbescheid des Jahres 01 mit Hilfe der verwaltungsrechtlichen Rücknahmeregeln zuungunsten des Steuerpflichtigen korrigieren, so würde § 48 Abs. 2 S. 1 VwVfG nicht entgegenstehen. Der Steuerpflichtige wäre durch den Rückfluß der Spende unerwartet bereichert, so daß die Korrektur des Steuerbescheides für das Jahr 01 eine ihm zumutbare Belastung wäre. Das Vertrauen des Steuerpflichtigen auf den Bestand des Steuerbescheides für das Jahr 01 müßte deshalb hinter das öffentliche Interesse an der Korrektur des Bescheides zurücktreten. Ähnlich ist es bei der nachträglichen Minderung außergewöhnlicher Belastungen, die ebenfalls als rückwirkende Ereignisse Anlaß für Korrekturen 494

BFH BStBl. Π 1976, 338 ff ; vgl. auch BFH BStBl. Π 1981, 52, wo die Korrektur allerdings aufgrund von Treu und Glauben ausgeschlossen war.

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

sein können.495 Die unerwartete Besserstellung des Steuerpflichtigen aufgrund der nachträglichen Minderung außergewöhnlicher Belastungen macht eine Korrektur zumutbar, so daß § 48 Abs. 2 S. 1 VwVfG nicht entgegenstehen würde. Daneben sind aber auch rückwirkende Ereignisse möglich, bei denen eine Korrektur zuungunsten des Steuerpflichtigen in Betracht kommt, der Steuerpflichtige aber aufgrund des Ereignisses keinen Vermögensvorteil erlangt. So ist es etwa, wenn dem Steuerpflichtigen die in bestandskräftigen Steuerbescheiden gewährten Kinderfreibeträge nachträglich wieder versagt werden, weil er sein Vaterschaftsanerkenntnis erfolgreich angefochten hat. 496 Zwar hat der Scheinvater grundsätzlich einen Bereicherungsanspruch aus § 812 BGB gegen das Kind. Der Anspruch wird jedoch wegen Entreicherung nach § 818 Abs. 3 BGB in der Regel entfallen sein. Daneben hat der Scheinvater einen Erstattungsanspruch gegen den wahren Erzeuger, da der Unterhaltsanspruch des Kindes wegen § 1615 d Abs. 2 BGB auf den Scheinvater in Höhe der von ihm gezahlten Leistungen übergegangen ist. Dieser Anspruch ist jedoch u.U. nicht durchsetzbar, etwa weil der wahre Erzeuger nicht feststeht. 497 Der Steuerpflichtige erlangt in diesem Fall also durch das rückwirkende Ereignis keinen Vermögensvorteil, der es ihm ohne weiteres zumutbar machen würde, die nachträgliche Korrektur des Steuerbescheides hinzunehmen. Gleichwohl wäre in diesem Fall die rückwirkende Aberkennung der Kinderfreibeträge durch eine Korrektur der Steuerbescheide für die vergangenen Jahre nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO zwingend vorgeschrieben. § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO nimmt keine Rücksicht darauf, ob die mit dem Vaterschaftsanerkenntnis ursprünglich entstandene wirtschaftliche Belastung rückgängig gemacht wird oder nicht. 498 Würde die Finanzbehörde bei dieser Sachlage statt des § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO die verwaltungsrechtlichen Korrekturregeln anwenden, so wäre eine Korrektur im Wege der Rücknahme gem. § 48 VwVfG nur möglich, wenn die einschränkenden Regeln des § 48 Abs. 2 VwVfG nicht entgegenstehen.499 Danach ist die Rücknahme ausgeschlossen, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Bei der danach erforderlichen Abwägung zwischen öffentlichem und privatem Interesse können auch die persönlichen und sozialen Verhältnisse des Betroffenen

495

FG Münster EFG 1987, 186; FG Köln EFG 1988,422. Nieders. FGEFG 1994, 1006 f. 497 So im Fall Nieders. FG EFG 1994, 1006. 498 Nieders. FG EFG 1994, 1006. 499 S.o. Α. Π. 2. b) zur Anwendbarkeit der Regeln über die Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte. 496

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

189

berücksichtigt werden. 500 Es müßte deshalb berücksichtigt werden, daß der Scheinvater infolge des rückwirkenden Ereignisses wirtschaftlich nicht so steht, wie er gestanden hätte, wenn seine Vaterschaft schon anfanglich nicht festgestellt worden wäre. Gleichwohl würde dies im konkreten Fall auch nach verwaltungsrechtlichen Grundsätzen nicht zu einem Ausschluß der Korrektur führen. Das ergibt sich aus der Wertung des § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 VwVfG. Danach kann sich nicht auf Vertrauen berufen, wer den Verwaltungsakt durch Angaben erwirkt hat, die in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig waren. Zwar hat der Scheinvater gegenüber dem Finanzamt keine unrichtigen Angaben gemacht, als er mitteilte, er sei aufgrund seines Anerkenntnisses als Vater des Kindes festgestellt worden. Nach der Wertung des § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 VwVfG spricht es aber gegen einen Vertrauensschutz, daß der Scheinvater mit seinem Anerkenntnis bereits eine von den wahren Umständen abweichende Feststellung seiner Vaterschaft erwirkt hat. Auf ein Verschulden kommt es dabei nach der Wertung von § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 VwVfG nicht an. 501 Ausreichend ist, daß dem Betroffenen die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes objektiv zuzurechnen ist. Es kann also festgehalten werden, daß auch in Fällen rückwirkender Ereignisse, die dem Steuerpflichtigen keinen Vermögensvorteil erbringen, eine Korrektur nach verwaltungsrechtlichen Grundsätzen möglich sein kann. In einem weiteren, vom BFH entschiedenen Fall 502 entstand für den Steuerpflichtigen ebenfalls kein Vermögensvorteil infolge des rückwirkenden Ereignisses. Im Unterschied zum zuvor erörterten Sachverhalt war dem Steuerpflichtigen hierbei der Eintritt des rückwirkenden Ereignisses und damit die Rechtswidrigkeit des Steuerbescheides aber in keiner Weise zuzurechnen. Die Finanzbehörde hatte den Einkommensteuerbescheid des Steuerpflichtigen zu dessen Ungunsten geändert, weil in dem Bescheid die Spende an einen als steuerbegünstigt anerkannten Sportverein als Sonderausgabe berücksichtigt war. Die Steuerbegünstigung des Sportvereins wurde später anläßlich einer Betriebsprüfung rückwirkend aufgehoben. Die Aberkennung der Steuerbegünstigung ist als rückwirkendes Ereignis i.S.v. § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO zu bewerten.503 Würde man auf diesen Sachverhalt die verwaltungsrechtliche 500

Vgl. BVerwGE 29, 291 (295): Berücksichtigung des hohen Lebensalters; BVerwG VRspr. Bd. 30 (1979), 777: Berücksichtigung der persönlichen Einkommens-, Vermögens- und sonstigen Lebensverhältnisse. 501 Begr. zu § 44 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 VwVfG des RegE BT-Drucks. 7/910 S. 70; BVerwGE 74, 357 (364); BVerwGE 78, 139 (142 f.); Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 111; Klappstein, in: Knack § 48 Rz. 8.4.2. 502 BFH BStBl. Π 1981, 52 fT. 503 v. Wedelstädt, in: Beermann § 175 Rz. 66; im Originalfall noch als Korrekturgrund gem. § 222 Abs. 1 Nr. 1 RAO behandelt.

190

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

Korrekturvorschrift des § 48 VwVfG anwenden, so wäre die Korrektur wegen Absatz 2 ausgeschlossen. Der gespendete Betrag fließt nicht an den Steuerpflichtigen zurück. Er erlangt also infolge des rückwirkenden Ereignisses keinen Vermögensvorteil, der eine Korrektur des Steuerbescheides zumutbar machen würde. Es greift auch keiner der vertrauensausschließenden Gründe des § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 bis 3 VwVfG ein. Insbesondere hat der Steuerpflichtige die Rechtswidrigkeit des Steuerbescheides nicht selbst verursacht (vgl. den Rechtsgedanken aus § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 VwVfG). Vielmehr war es die Finanzbehörde, die zuvor die Gemeinnützigkeit des Vereins anerkannt und dann rückwirkend wieder beseitigt hat. Bei einer solchen Sachlage wäre nach der Abwägung gem. § 48 Abs. 2 S. 1 VwVfG das Bestandsvertrauen des Steuerpflichtigen höher zu bewerten als das öffentliche Interesse an der Korrektur des Steuerbescheides. Nach verwaltungsrechtlichen Grundsätzen wäre eine Korrektur als ausgeschlossen anzusehen. Die Voraussetzungen des § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO liegen dagegen vor, so daß nach dem Wortlaut der Vorschrift eine Korrektur zuungunsten des Steuerpflichtigen die zwingende Folge wäre. Im Ergebnis hat der BFH die Korrektur dennoch aus den gleichen Gründen abgelehnt, die bei der nach § 48 Abs. 2 S. 1 VwVfG erforderlichen Abwägung eine Rolle spielen würden. Mangels vertrauensschützender Einschränkungen im Wortlaut des § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO mußte der BFH den Korrekturausschluß aber auf den Grundsatz von Treu und Glauben stützen.504 Dabei berücksichtigte das Gericht, daß der hingegebene Geldbetrag nicht an den Spender zurückgeflossen ist und der Spender im Zeitpunkt der Hingabe keine Kenntnis vom steuerschädlichen Verhalten des Vereins hatte. Demgegenüber durfte der Spender auf den Bestand der vom Finanzamt ausgesprochenen Steuerbegünstigung des Vereins und damit auf den Bestand seines Steuerbescheides vertrauen. 505 Seit 1990 ist diese Rechtsprechung jedenfalls für das Einkommensteuerrecht auch gesetzlich abgesichert. Gem. § 10 b Abs. 4 EStG 506 darf der Steuerpflichtige auf die Richtigkeit der über die geleisteten Spenden und Mitgliedsbeiträge ausgestellten Bestätigungen vertrauen, es sein denn, daß er die Bestätigung durch unlautere Mittel oder falsche Angaben erwirkt hat oder daß ihm die Unrichtigkeit der Bestätigung bekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht bekannt war. 507 Diese Wertung des § 10 b Abs. 4 EStG entspricht den im allgemeinen Verwaltungsrecht geltenden Ver504

BFH BStBl. Π 1981, 52 (53). BFH a.a.O.; einschr. BFH BStBl. Π 1989, 990 ff.; a.A.: FG Düsseldorf EFG 1994, 10 ff. - Revision eingelegt. Az. des BFH: X R 242/93 - soweit ersichtlich bislang nicht veröffentlicht. 506 Eingefügt durch Art. 3 Nr. 2 Buchst, c des Vereinsförderungsgesetzes v. 18.12.1989, BGBl. 1 1989, 2212. 505

507

Stäuber, in: Blümich § 10 b Rz. 34 a; Schmidt § 10 b Rz. 48.

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

191

trauensschutzgrundsätzen gem. § 48 Abs. 2 VwVfG (vgl. insbes. Absatz 2 Satz 3 der Vorschrift). Damit stimmen die Korrekturmöglichkeiten nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO in Fällen rückwirkender Aberkennung der Gemeinnützigkeit mit den Korrekurmöglichkeiten nach § 48 VwVfG überein. Handelt es sich bei dem rückwirkenden Ereignis um andere Fälle als die Aberkennung der Gemeinnützigkeit, können allerdings Wertungsunterschiede zwischen § 48 VwVfG und § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO verbleiben. Da § 10 b Abs. 4 EStG in anderen Fällen nicht anwendbar ist, fehlt bei einer Korrektur nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO eine vertrauensschützende Einschränkung. Aus diesem Grunde ist teilweise versucht worden, den Anwendungsbereich von § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO durch eine restriktive Auslegung des Tatbestandsmerkmals „Ereignis" zu beschränken.508 Danach soll ein Ereignis nur vorliegen, wenn es dem Einflußbereich des Steuerpflichtigen zugänglich ist und wenn er es also selbst setzen kann oder es ihm zuzurechnen ist. 509 Klarstellend sollte aber der Rechtsgedanke des § 10 b Abs. 4 EStG in die Abgabenordnung aufgenommen und auf alle rückwirkenden Ereignisse ausgedehnt werden. Dies wäre etwa möglich durch die Einfügung eines neuen § 175 Abs. 1 S. 2 AO:

„In den Fällen des Satzes 1 Nr. 2 darf eine Korrektur zuungunsten des Steuerpflichtigen nicht erfolgen, wenn der Eintritt des rückwirkenden Erei nisses auf einem Umstand beruht, der dem behördlichen Handeln zuzurechnen ist, es sei denn, daß der Steuerpflichtige das behördliche Handeln durch u lautere Mittel oder falsche Angaben erwirkt hat oder daß ihm die Möglichkeit des Eintritts des rückwirkenden Ereignisses bekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht bekannt war. "

VUL Korrektur sonstiger, unbenannter Fehler und Kompensation bei mehreren, gegenläufigen Fehlern Die steuerrechtlichen Korrekturtatbestände der §§ 172 ff. AO beschreiben abschließend bestimmte Fehlerarten, die Anlaß für die Korrektur eines Steuerbescheides sein können. Unbenannte Fehler können dagegen nicht Anlaß einer Korrektur sein. Das steuerrechtliche Korrektursystem hat also enumerativen Charakter. 510 Allerdings macht das Steuerrecht eine Ausnahme von diesem

508

Vgl. Gast-De Haan FR 1988, 179 ff. Gast-De Haan FR 1988, 179 (181) zwar auch für die Fälle des Spendenabzugs, aber noch vor Inkrafttreten des § 10 b Abs. 4 EStG. 510 Eingehend hierzu oben Α. VI. 509

192

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

Enumerationsprinzip. Fehler eines Steuerbescheides, die nicht ausdrücklich in einem der Korrekturtatbestände erwähnt werden, können zwar nicht selbständig Anlaß einer Korrektur sein, sie können aber bei der Korrektur eines benannten Fehlers in gewissem Umfang mitkorrigiert werden. Das ergibt sich aus § 177 AO. Nach Absatz 1 der Vorschrift sind, soweit die Korrektur eines Steuerbescheides zuungunsten des Steuerpflichtigen reicht, zu seinen Gunsten und Ungunsten auch solche materiellen Fehler zu berichtigen, die nicht Anlaß der Korrektur sind. Umgekehrt sind auch solche materiellen Fehler zugunsten und zuungunsten des Steuerpflichtigen zu berichtigen, soweit aus einem anderen Anlaß eine Korrektur zugunsten des Steuerpflichtigen erfolgt (§ 177 Abs. 2 AO). Als materielle Fehler sind dabei alle Fehler anzusehen, die zur Festsetzung einer Steuer führen, die von der kraft Gesetzes entstandenen Steuer abweicht (§ 177 Abs. 3 AO). Die Mitberücksichtigung eines materiellen Fehlers aus Anlaß einer Korrektur kann aber nur erfolgen, „soweit" die Korrektur reicht. Der unbenannte Fehler kann nur zu einer Kompensation der eigentlichen Korrektur führen. Er kann dagegen nicht das Ausmaß dieser Korrektur noch erhöhen. Ist etwa die in einem Einkommensteuerbescheid festgesetzte Steuer gem. § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO von 40.000 DM auf 45.000 DM zu erhöhen, so kann die zusätzliche Berücksichtigung unbenannter Fehler nach § 177 AO dazu führen, daß der Steuerbetrag im Ergebnis zwischen 0 und 5.000 DM erhöht wird. § 177 AO kann dagegen nicht bewirken, daß die Mitberücksichtigung eines unbenannten Fehlers zu einer Steuer von mehr als 45.000 DM oder weniger als 40.000 DM führt. Es kann also festgehalten werden, daß im steuerrechtlichen Korrektursystem unbenannte Fehlerarten nicht selbstständig Anlaß einer Korrektur sein können, sondern nur aus Anlaß der Korrektur eines benannten Fehlers im Rahmen des § 177 AO kompensierend mitberücksichtigt werden. Im verwaltungsrechtlichen Korrektursystem ist die Situation dagegen anders. Hier wird zunächst jeder rechtswidrige Verwaltungsakt von der Pauschlermächtigung des § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG erfaßt, gleichgültig welche Art von Fehler zur Rechtswidrigkeit geführt hat. 511 Denkbar ist allenfalls, daß diese Ermächtigung aufgrund der Regeln des § 48 Abs. 2 bis 4 VwVfG eingeschränkt wird, so daß eine Korrektur ausgeschlossen ist. Ist die Korrektur danach ausgeschlossen, so liegt das aber nicht daran, daß der zugrunde liegende Fehler nicht vom Korrektursystem erfaßt wird. Es liegt vielmehr daran, daß aufgrund der einschränkenden Vorschriften in § 48 Abs. 2 bis 4 VwVfG das Bestandsinteresse des Bürgers in der konkreten Situation höher bewertet werden muß als das öffentliche Korrekturinteresse. Die sich daraus ergebenden materiellen Unterschiede zwischen steuerrechtlichem und verwaltungs-

511

Eingehend hierzu oben Α. VI.

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

193

rechtlichem Korrektursystem sollen anhand verschiedener Einzelfalle untersucht werden.

L Korrekturmöglichkeiten bei Rechtswidrigkeit des Steuerbescheides aufgrund eines unbenannten Fehlers a) Unbenannter Fehler zum Nachteil des Steuerpflichtigen Um einen unbenannten Fehler zum Nachteil des Steuerpflichtigen würde es sich etwa in folgendem Beispiel handeln: Aufgrund eines Rechtsirrtums werden vom zuständigen Sachbearbeiter Werbungskosten (§ 9 EStG) nicht als abzugsfahig anerkannt, die der Steuerpflichtigen für das Jahr Ol erklärt hat. Im Falle einer Korrektur dieses Fehlers würde sich die vom Steuerpflichtigen zu zahlende Steuer um 8.000 DM ermäßigen. Nach dem enumerativen Korrektursystem der Abgabenordnung liegt hierin ein unbenannter Fehler, der von keinem der selbständigen Korrekturtatbestände erfaßt wird. Auch eine Berücksichtigung dieses Fehlers nach § 177 AO kommt nicht in Betracht, weil der Steuerbescheid im übrigen rechtmäßig ist. Der Steuerbescheid muß also mit seinem rechtswidrigen Inhalt fortbestehen, sofern nicht der Steuerpflichtige gem. §§ 347 fif. AO innerhalb eines Monats Einspruch einlegt. Würde man die Regeln des allgemeinen Verwaltungsrechts auf diesen Fall anwenden, so käme eine Senkung des Steuerbetrages um 8.000 DM im Wege einer teilweisen Rücknahme nach § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG in Betracht. Die Voraussetzungen hierfür lägen vor, denn bei dem Steuerbescheid handelt es sich um einen rechtswidrigen, belastenden Verwaltungsakt. Auch die Beschränkungen des § 48 Abs. 2 bis 4 VwVfG greifen nicht ein, da es nicht um die Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsaktes geht. Die Verwaltungsbehörde wäre also zu einer Korrektur ermächtigt. Allerdings steht nach der Rechtsfolge des § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG die Korrektur im Ermessen der Behörde. Nach Unanfechtbarkeit des Bescheides ist es grundsätzlich als ermessensfehlerfrei anzusehen, wenn die Behörde die Korrektur rechtswidriger belastender Verwaltungsakte ablehnt.512 Anderenfalls wären die Rechtsmittelfristen bedeutungslos.513 Auch wenn sich keine Pflicht der Verwaltungsbehörde zur Korrektur des Verwaltungsaktes ergibt, so wäre es wegen des Ermessens gleichwohl rechtmäßig, wenn die Verwaltungsbehörde die Korrek512

Begr. zu §44 Abs. 1 VwVfG des RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 69; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs § 48 Rz. 61; WolfflBachoflStober § 51 Rz. 121; a.A.: Ule/Becker S. 57. 513 Begr. zu § 44 Abs. 1 VwVfG des RegE, BT-Drucks. 7/910 S. 69. 13 Arndt

194

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

tur vornimmt. Nach verwaltungsrechtlichen Korrekturregeln könnte der Steuerbetrag also um 8.000 DM verringert werden, während eine Korrektur nach den §§ 172 ff. AO rechtswidrig wäre.

b) Unbenannter Fehler zum Vorteil des Steuerpflichtigen Wurden dagegen aufgrund eines Rechtsirrtums des zuständigen Sachbearbeiters Aufwendungen abgezogen, bei denen es sich in Wahrheit nicht um Werbungskosten handelte, so kommt eine Korrektur des Steuerbescheides zuungunsten des Steuerpflichtigen in Betracht. Nach den steuerrechtlichen Korrekturregeln wäre diese Korrektur ebenfalls nicht möglich, denn bei dem Rechtsirrtum des Sachbearbeiters handelt es sich um einen unbenannten Fehler. Eine Korrektur zuungunsten des Steuerpflichtigen ist also ausgeschlossen. Würde man auf diesen Fall die Regeln des Verwaltungsrechts anwenden, so könnte eine Rücknahme des belastenden Steuerbescheides zum Zwecke der Ersetzung durch einen noch stärker belastenden Bescheid erfolgen, wenn die Voraussetzungen des § 48 Abs. 2 VwVfG erfüllt wären. 514 Dies hängt von den näheren Umständen des Einzelfalls ab. Dabei sind Sachlagen denkbar, in denen eine Korrektur nach Verwaltungsrecht ebenso wie im Steuerrecht ausgeschlossen ist, etwa wenn der Steuerpflichtige das infolge seines Steuerbescheides erstattete Geld bereits ausgegeben hat (vgl. § 48 Abs. 2 S. 2 VwVfG). Genauso wäre aber eine Korrektur zuungunsten des Steuerpflichtigen denkbar, wenn sein Bestandsinteresse nur geringes Gewicht hat. Das wäre regelmäßig anzunehmen, wenn er die erstatteten Steuern noch nicht ausgegeben oder hierüber disponiert hat und ihm auch sonst keine unzumutbaren Nachteile aus der Rück- bzw. Nachzahlung entstehen würden. Die Korrektur nach § 48 Abs. 1 VwVfG wäre zudem stets möglich, wenn der Steuerpflichtige den Rechtsfehler des Finanzamtes erkannt oder grob fahrlässig verkannt hat (vgl. § 48 Abs. 2 S 3 Nr. 3 VwVfG). Während nach den §§ 172 ff AO eine Korrektur hierbei also stets ausgeschlossen ist, wäre eine Korrektur nach den verwaltungsrechtlichen Regeln unter bestimmten Umständen zulässig.

c) Möglichkeiten zur Vereinheitlichung Die Unterschiede bei der Korrektur unbenannter Fehler sind zwangsläufige Folgen der unterschiedlichen Korrektursysteme im Steuerrecht und im Verwaltungsrecht. Während das enumerative Ermächtigungssystem der Abgaben51

Eingehend oben Α. .

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

195

Ordnung naturgemäß manche Fehler in Steuerbescheiden nicht erfaßt, werden von der Pauschalermächtigung des § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG alle rechtswidrigen Verwaltungsakte abgedeckt.515 Es wurde bereits auf die Probleme hingewiesen, die sich bei einer Vereinheitlichung der Ermächtigungssysteme ergeben würden. 516

2. Korrekturmöglichkeiten bei Rechtswidrigkeit des Steuerbescheides aufgrund eines benannten und eines gegenläufigen unbenannten Fehlers Leidet der Steuerbescheid an einem Fehler, der nach den §§ 172 bis 176 AO korrigierbar ist, so kann auch ein gegenläufiger unbenannter Fehler gem. § 177 AO kompensierend mitkorrigiert werden. 517 Für den Vergleich mit dem Verwaltungsrecht ist danach zu unterscheiden, ob sich der unbenannte oder der benannte Fehler stärker auswirkt.

a) Auswirkung des unbenannten Fehlers übersteigt Auswirkung des benannten Fehlers Zunächst sollen die Korrekturmöglichkeiten für den Fall untersucht werden, daß sich der unbenannte Fehler stärker auswirkt als der gegenläufige benannte Fehler. In dem Einkommensteuerbescheid des S wurde die Steuer für das Jahr Ol auf 40.000 DM festgesetzt. Nach Unanfechtbarkeit macht S eine Minderung der Einkünfte geltend, die erst jetzt erkennbar geworden ist. Aufgrund eines rückwirkenden Ereignisses muß die Minderung der Einkünfte dem Jahr 01 zugerechnet werden.518 Der Steuerbetrag für das Jahr 01 ist aus diesem Grunde um 8.000 DM zu hoch festgesetzt worden. Gleichzeitig stellt das Finanzamt fest, daß aufgrund eines Rechtsirrtums des zuständigen Sachbearbeiters für das Jahr 01 irrig Aufwendungen des S als Werbungskosten abgezogen wurden. Aus diesem Grunde hätte die Steuer um 10.000 DM höher festgesetzt werden müssen.

515

S.o. 4. Teil Α. VI. 1. S.o. 4. Teil Α. VI. 2. 517 Eingehender oben unter Vin. 518 Vgl. etwa BFH BStBl. Π 1993, 894: Nachträgliche Inanspruchnahme aus Grundpfandrechten wegen Betriebsschulden eines zuvor veräußerten Betriebes; BFH BStBl. Π 1993, 897: Gestundete Kaufpreisforderung wird in späterem Veranlagungszeitraum uneinbringlich. 516

196

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

aa) Korrekturmöglichkeiten

nach Steuerrecht

Nach dem enumerativen Korrektursystem der Abgabenordnung handelt es sich bei der Minderung der Einkünfte um ein rückwirkendes Ereignis, mithin um einen benannten Fehler, der von § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO erfaßt wird und nach dieser Vorschrift zu korrigieren ist. Bei der rechtswidrigen Berücksichtigung der Steuerbegünstigung nach § 10e EStG handelt es sich dagegen um einen unbenannten Fehler, der nicht von einem selbständigen Korrekturtatbestand erfaßt wird. Er kann daher nicht selbst Anlaß einer Korrektur sein, sondern nur gem. § 177 Abs. 2 AO kompensierend bei der Korrektur wegen des rückwirkenden Ereignisses mitberücksichtigt werden. Die Berücksichtigung nach § 177 Abs. 2 AO erfolgt aber nur so weit, wie die Änderung nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO reicht. Es bleibt daher auch nach einer Korrektur bei dem Steuerbetrag von 40.000 DM, da die Steuerminderung von 8.000 DM in vollem Umfang durch die 10.000 DM kompensiert wird.

bb) Korrekturmöglichkeiten

nach allgemeinem Verwaltungsrecht

Würde man versuchen, einen derartigen, mit zwei gegenläufigen Fehlern versehenen Steuerbescheid mit Hilfe der verwaltungsrechtlichen Korrekturregeln zu korrigieren, so ergäben sich erhebliche Anwendungsprobleme. Es sind zwei verschiedene Betrachtungsweisen denkbar, die zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen. Zum einen könnte man daran denken, die Auswirkungen beider Fehler zu saldieren und den Saldo zur Grundlage der Rücknahme zu machen.519 Ziel einer Korrektur nach § 48 VwVfG ist es, den Verwaltungsakt rechtmäßig zu stellen. Der Steuerbescheid wäre rechtmäßig, wenn die festgesetzte Steuer 42.000 DM betrüge. Es müßte also eine Erhöhung des festgesetzten Steuerbetrages um 2.000 DM vorgenommen werden. Diese Änderung würde sich nach den Regeln über die Korrektur begünstigender Verwaltungsakte richten, denn es geht um die Rücknahme eines belastenden Verwaltungsaktes zum Zwecke der Ersetzung durch einen noch stärker belastenden Bescheid.520 Es müßten also die Beschränkungen des § 48 Abs. 2 bis 4 VwVfG beachtet werden. Besteht kein schutzwürdiges Vertrauen beim Steuerpflichtigen, etwa weil ein Fall des § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 VwVfG vorliegt, so wäre die Verwaltung ermächtigt, den Steuerbescheid vollständig zurückzunehmen und den Steuerbetrag in einem neuen Bescheid auf 42.000 DM festzusetzen. Hat der Steuerpflichtige 519 520

So BVerwG NVwZ 1988, 938 ff. Eingehend hierzu oben Α. Π.

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

197

aber in schutzwürdiger Weise auf die Rechtmäßigkeit des alten Steuerbescheides vertraut, so wäre eine Korrektur nach § 48 Abs. 2 S. 1 VwVfG ausgeschlossen. Der bisherige Steuerbescheid würde fortgelten, obwohl er rechtswidrig ist. Im Ergebnis würde es dann, wie auch nach den §§ 172 ff. AO, bei dem Steuerbetrag von 40.000 DM bleiben. Ein anderes Ergebnis ergäbe sich aber, wenn man die beiden in dem Steuerbescheid enthaltenen Fehler nicht saldieren, sondern isoliert behandeln würde. Wollte man die nach § 10e EStG irrig gewährte Steuerbegünstigung isoliert korrigieren, so würde dies zu einer Erhöhung der festgesetzten Steuer um 10.000 DM auf 50.000 DM führen. Diese Korrektur würde sich nach den Regeln über die Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte richten, da der belastende Steuerbescheid durch einen noch stärker belastenden Bescheid ersetzt werden soll. Hat der Steuerpflichtige in schutzwürdiger Weise auf den Bestand des bisherigen Bescheides vertraut, wäre die Berücksichtigung der zu niedrig festgesetzten 10.000 DM ganz ausgeschlossen. Daneben könnte man aber an eine isolierte Korrektur wegen der geminderten Einkünfte denken. Diese Korrektur könnte im Wege einer teilweisen Rücknahme des Steuerbescheides in Höhe von 8.000 DM nach § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG vollzogen werden, denn es geht um die teilweise Rücknahme eines belastenden Verwaltungsaktes.521 Diese Rücknahme wäre unabhängig davon, ob der Steuerpflichtige auf den Bestand des Steuerbescheides vertraut hat, da sie sich isoliert betrachtet zugunsten des Steuerpflichtigen auswirkt. Bei dieser Betrachtungsweise hätte die Behörde Ermessen, den Steuerbescheid nachträglich um 8.000 DM zu ermäßigen. Auch wenn es grundsätzlich ermessensfehlerfrei wäre, von dieser Korrektur abzusehen,522 so bliebe die Behörde gleichwohl hierzu ermächtigt. Der Steuerbescheid könnte also durch teilweise Rücknahme nachträglich auf 32.000 DM ermäßigt werden. Welche der beiden Vorgehensweisen richtig ist, bleibt nach dem Wortlaut von § 48 VwVfG unklar. Die Behandlung gegenläufiger Fehler wird von der Vorschrift nicht befriedigend bewältigt.

b) Auswirkung des benannten Fehlers übersteigt Auswirkung des unbenannten Fehlers Ähnlich unterschiedliche Ergebnisse ergeben sich, wenn die irrig gewährte Steuerbegünstigung 8.000 DM und die Minderung der Einkünfte 10.000 DM ausmachen würde. 521 522

Eingehend hierzu oben Α. Π. S.o. 3. Teil Β. ΠΙ. a.E.

198

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

Nach dem Korrektursystem des Steuerrechts müßte die Korrektur wegen der geminderten Einkünfte nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO erfolgen. Der Steuerbetrag müßte also auf 30.000 DM gesenkt werden. Die irrig berücksichtigte Steuerbegünstigung nach § 10e EStG kann dagegen als unbenannter Fehler nicht Gegenstand einer selbständigen Korrektur sein, muß aber im Rahmen des § 177 Abs. 2 AO mitberücksichtigt werden. Der Steuerbetrag ist deshalb auf 38.000 DM zu ändern. Würde man auf diesen Fall die verwaltungsrechtlichen Rücknahmeregeln anwenden, ergeben sich erneut die oben beschriebenen Anwendungsprobleme. Saldiert man beide Fehler vor der Korrektur, müßte die Steuer um 2.000 DM gesenkt, der Steuerbescheid also teilweise zurückgenommen werden. Diese Rücknahme würde sich nach § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG richten, denn es geht um die Rücknahme eines belastenden Verwaltungsaktes. Die Ermäßigung des Steueibetrages auf 38.000 DM wäre danach rechtmäßig, auch wenn die Behörde wegen des Ermessens in § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG grundsätzlich keine Pflicht zur Korrektur hätte.523 Betrachtet man dagegen beide Fehler isoliert, so könnte die irrig gewährte Steuerbegünstigung im Falle schutzwürdigen Vertrauens wegen § 48 Abs. 2 S. 1 VwVfG gar nicht korrigiert werden. Die Korrektur wegen der geminderten Einkünfte wäre dagegen gem. § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG zulässig. Die Behörde wäre bei dieser Betrachtungsweise also ermächtigt, die Steuer durch eine teilweise Rücknahme auf 30.000 DM zu ermäßigen.

c) Möglichkeiten zur Vereinheitlichung Die vorstehenden Vergleiche machen deutlich, daß die verwaltungsrechtlichen Korrekturregeln in ihrer bisherigen Form für die Korrektur von Geldbescheiden ungeeignet sind. Sie berücksichtigen nicht die Besonderheit, daß ein Geldbescheid wegen mehrerer gegenläufiger Fehler rechtswidrig sein kann und lassen den Rechtsanwender über die Behandlung solcher Fehler im unklaren. 524 Der bisherige Anwendungsbereich der Rücknahme- und Widerrufsregeln macht die Bewältigung gegenläufiger Fehler allerdings kaum erforderlich. Gegenläufige Fehler sind nur bei Verwaltungsakten mit quantifizierbarem Regelungsgehalt denkbar. Quantifizierbar ist typischerweise der Regelungsgehalt von Geldbescheiden. Polizeiverfugungen, Gewerbeerlaubnisse oder sonstige Verwaltungsakte aus den klassischen Anwendungsbereichen des allgemeinen Verwaltungsverfahrensrechts weisen dagegen im allgemeinen 523

S.o. 3. Teil Β. ΠΙ. a.E.

524

Vgl. Martens Rz. 522 im Zusammenhang mit § 48 Abs. 3 SGB X.

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

199

keinen quantifizierbaren Regelungsgehalt auf. Allerdings erstreckt sich der Anwendungsbereich der §§ 48 ff. VwVfG auch auf Gebühren- und Beitragsbescheide.525 Diese sind zwar wegen des meist einfacheren materiellen Gebühren· oder Beitragsrechts nicht derart fehleranfällig wie Steuerbescheide. Gleichwohl sind auch in einem Gebühren- oder Beitragsbescheid mehrere gegenläufige Fehler denkbar. So kann es etwa sein, daß bei der Festsetzung des Erschließungsbeitrages für den Bau einer Straße wegen eines Vermessungsfehlers von einer zu geringen Grundstücksbreite (vgl. § 131 Abs. 2 Nr. 3 BauGB) ausgegangen und gleichzeitig ein zu hoher Einheitssatz (vgl. § 132 Nr. 2 BauGB) zugrunde gelegt wurde. 526 Es würde also auch dem außersteuerlichen Verfahrensrecht dienen, die Korrektur gegenläufiger Fehler zu regeln. Immerhin gibt es hierfür schon einen ersten Ansatz im Sozialrecht. In § 48 Abs. 3 SGB X ist für gewisse Fälle eine Fehlerkompensation geregelt.527 Die Vorschrift ist allerdings auf die Korrektur von Verwaltungsakten mit Dauerwirkung begrenzt. Außerdem erfaßt sie nur den Fall einer Korrektur zugunsten des Betroffenen. 528 Es ist auch nicht ersichtlich, daß der Gesetzgeber beim Erlaß des § 48 Abs. 3 SGB X überhaupt an die Anwendungsprobleme der Rücknahmeregeln bei gegenläufigen Fehlern gedacht hat. 529 Die Vorschrift hat wohl eher den Zweck, den Folgen des stark ausgeprägten Bestandsschutzes günstiger Verwaltungsakte im Sozialrecht entgegenzuwirken.530 Für das Verwaltungsverfahrensgesetz wäre eine Regelung zu empfehlen, die zur Vermeidung der oben beschriebenen Anwendungsprobleme alle Fälle gegenläufiger Fehler erfaßt. Dabei könnten die Erfahrungen des Steuerrechts mit der Fehlerkompensation genutzt werden. Ob man dabei den materiellen Regelungsgehalt des § 177 AO für richtig hält, ist letztlich eine rechtspolitische Frage. Es ist allerdings kein sachlicher Grund ersichtlich, warum gegenläufige Fehler in einem Steuerbescheid auf andere Weise kompensiert werden sollten als in einem Gebühren- oder Beitragsbescheid. Wollte man eine Kompensationsregelung erzielen, die dem materiellen Gehalt des § 177 AO entspricht, könnte man etwa folgende Sätze hinter § 48 Abs. 2 S. 4 VwVfG einfügen:

„Entschließt sich die Behörde zu einer belastenden Rücknahme 531 aufgrund eines Fehlers in der Leistungshöhe eines Verwaltungsaktes über eine Geld

525 526 527 528 529 530 531

S.o. 1. Teil Α. IV 2). Vgl. auch den ähnlichen Fall in BVerwG NVwZ 1988, 938 ff. Schnapp, in: GK § 48 Rz. 61 f.; vgl. auch Martens Rz. 520 ff. Vgl. auch Kritik bei Krause NJW 1981, 81 (87). Vgl. Martens Rz. 522. Krause NJW 1981, 81 (87). Zu dieser Terminologie oben Α. Π.

200

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

oder teilbare Sachleistung, so sind, soweit die bezweckte Änderung der Leistungshöhe reicht, zugunsten und zuungunsten des Betroffenen auch solche Fehler anzurechnen, deren isolierte Korrektur ausgeschlossen wäre. Entschließt sich die Behörde zu einer nicht belastenden Rücknahme 532 aufgrund eines Fehlers in der Leistungshöhe eines Verwaltungsaktes über eine Geldoder teilbare Sachleistung, so sind, soweit die bezweckte Änderung der Lei stungshöhe reicht, zugunsten und zuungunsten des Betroffenen auch solche Fehler anzurechnen, deren isolierte Korrektur ausgeschlossen wäre. " Mit dieser Regelung würde man in den oben angeführten Beispielsfällen unter 2.a) und 2.b) im allgemeinen Verwaltungsrecht zu den gleichen Korrekturergebnissen kommen wie im Steuerrecht. Die beschriebenen Anwendungsprobleme der Rücknahmeregeln wären ausgeräumt.

DC Korrektur zuungunsten des Betroffenen wegen Rechtswidrigkeit von Gesetzen und Verwaltungsvorschriften sowie wegen Änderung der Rechtsprechung Verfassungswidrige Gesetze werden nach ganz überwiegender Ansicht 533 grundsätzlich 534 als von Anfang an nichtig angesehen, ohne daß es hierzu eines weiteren kassatorischen Aktes bedarf. 535 Erklärt das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz wegen eines Verfassungsverstoßes für nichtig (vgl. § 78 BVerfGG), so hat dies mithin keine rechtsgestaltende, sondern nur deklaratorische Wirkung. 536 Ein auf einem verfassungswidrigen Gesetz beruhender Verwaltungsakt ergeht also von Anfang an ohne Rechtsgrundlage und ist deshalb in der Regel selbst rechtswidrig, auch wenn das Bundesverfassungsgericht die Nichtigkeit des Gesetzes noch nicht festgestellt hat. Ein aufgrund rechtswidriger Verwaltungsvorschriften ergangener Verwaltungsakt ist ebenso regelmäßig selbst rechtswidrig. Die fehlerhafte Verwal-

532

Zu dieser Terminologie oben Α. Π. Vgl. zum Streit Söhn S. 6 ff.; Moench S. 11 ff; Pohle S. 63. 534 Zu Ausnahmen vgl. etwa BVerfGE 31, 47 (53) sowie BVerfGE 34, 9 (25): bei Fehler im Gesetzgebungsverfahren Nichtigkeit nur bei evidentem Mangel; BVerfGE 82, 126 (154 f.): bei gleichheitswidrigen Begünstigungen; BVerfGE 21, 1 (39 ff): bei „rechtlichem Chaos". 535 Eingehend m.w.Nw. Moench S. 11 ff. 536 Stern, in: BK Art. 93 Rz. 271. 533

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

201

tungsvorschrift wird die Behörde nämlich veranlaßt haben, die materiellen Gesetze bei Erlaß des Verwaltungsaktes falsch anzuwenden. Letztlich erweist sich ein Verwaltungsakt auch dann als rechtswidrig, wenn er auf einer Rechtsprechung beruhte, die von den Gerichten zwischenzeitlich wegen besserer Rechtseinsicht aufgegeben worden ist. Diese Fallgruppen rechtswidriger Verwaltungsakte haben eine Gemeinsamkeit. Soll eine derartige Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes zuungunsten des Bürgers korrigiert werden, so wird das Vertrauen in die Beständigkeit staatlichen Handelns besonders stark belastet. Beruht der Verwaltungsakt auf einem verfassungswidrigen Gesetz, so hat nicht nur die Verwaltung einen rechtswidrigen Bescheid, sondern auch die gesetzgebende Gewalt ein verfassungswidriges Gesetz erlassen. Der Bürger sieht sich gleich von zwei Gewalten enttäuscht.537 Genauso wäre es bei der Korrektur eines Verwaltungsaktes zuungunsten des Bürgers wegen einer geänderten Rechtsprechung.538 Bei einer Korrektur zuungunsten des Bürgers wegen rechtswidriger Verwaltungsvorschriften beschränkt sich das rechtswidrige Verhalten zwar auf die Exekutivgewalt. Gleichwohl ist das Bestandsvertrauen des Bürgers auch erhöht, wenn ein Verwaltungsakt mit einer Verwaltungsvorschrift in Einklang steht. Der ihm gegenüber ergangene Bescheid ist dann nicht nur nach dem Dafürhalten des zuständigen Amtswalters rechtmäßig (vgl. § 38 Abs. 1 BRRG, § 56 Abs. 1 BBG, § 68 Abs. 1 LBG-SH), sondern entspricht einer manifestierten, allgemeinen Verwaltungspraxis. Im steuerrechtlichen Korrektursystem werden derartige Fälle in § 176 AO berücksichtigt. Die Vorschrift ist keine eigenständige Änderungsnorm, aus der sich etwa ein Anspruch auf Korrektur zugunsten des Steuerpflichtigen ergibt. 539 Sie greift nur als Beschränkung ein, wenn ein Steuerbescheid aus anderen Gründen korrigiert wird. Sie kann etwa dazu führen, daß bei einer Korrektur nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO eine Kompensation zuungunsten des Steuerpflichtigen nach § 177 Abs. 2 AO ausgeschlossen ist. 540 Es handelt sich dabei um einen der ersten und wenigen Versuche des Gesetzgebers, die Auswirkungen der Rechtsordnung und der Rechtsprechung auf das Vertrauen des 537

A.A. wohl: Frotscher, in: Schwarz § 176 Rz. 4. Vgl. allgemein zum Vertrauensschutz bei geänderter Rechtsprechung BFH GrS BFHE 161, 332 (350); Kirchhof OSiR 1989, 263 ff.; Rüberg S. 145 ff.; Arndt, Probleme rückwirkender Rechtsprechungsänderung; Martens Rz. 475; ferner für das Zivilrecht Olzen JZ 1985, 155 (159 ff.) und Medicus NJW 1995, 2577 ff; einschr. BFH BStBl. Π 1994, 333 (334); Wassermeyer DStR 1989, 561 (565 f.). 539 BFH BStBl. Π 1981, 507 (510); Tipke/Kruse § 176 Rz. 1. 540 BFH BStBl. Π 1988, 180; ν. Wedelstädt, in: Beermann § 176 Rz. 10; Szymczak, in: Koch/Scholtz § 176 Rz. 3; Kühn/Hofmann § 176 Anm. 1; Wörner/Grube S. 151. 538

202

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

Bürgers zu berücksichtigen.541 Das verwaltungsrechtliche Korrektursystem kennt keine vergleichbar ausdrückliche Beschränkung der Rücknahme- und Widerrufsregeln. Es soll untersucht werden, inwieweit die in § 176 AO enthaltenen Rechtsgedanken dennoch bei Anwendung der verwaltungsrechtlichen Korrekturregeln berücksichtigt werden würden.

7. Vergleich a) Feststellung der Nichtigkeit eines Gesetzes durch das Bundesverfassungsgericht Im Steuerrecht darf gem. § 176 Abs. 1 Nr. 1 AO bei der Korrektur eines Steuerbescheides nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden, daß das Bundesverfassungsgericht die Nichtigkeit eines Gesetzes feststellt, auf dem die bisherige Steuerfestsetzung beruht. Zweck der Vorschrift ist der Schutz des erhöhten Vertrauens in die Bestandskraft eines Verwaltungsaktes,542 wenn von der Exekutivgewalt ein Bescheid erlassen wird, der mit dem von der Legislativgewalt erlassenen Gesetz übereinstimmt.543 Das Vertrauen in die Bestandskraft des Verwaltungsaktes wird hierbei durch das Vertrauen in den Bestand der mit dem Bescheid übereinstimmenden Rechtslage verstärkt. Dabei kommt es nicht darauf an, daß der Steuerpflichtige auch subjektiv Vertrauen entwickelt hat. Schon die mit einer Korrektur dieses Fehlers eintretende objektive Rechtsverunsicherung wird von § 176 AO als ausreichend schädlich angesehen, um die Berücksichtigung der Nichtigkeit von Gesetzen zuungunsten des Bürgers anläßlich einer Korrektur zu verbieten.544 Das verwaltungsrechtliche Korrektursystem enthält keine dem § 176 Abs. 1 Nr. 1 AO entsprechende Vorschrift. Gleichwohl ist die Wertung des § 176 Abs. 1 Nr. 1 AO außerhalb des Steuerrechts nicht unbekannt. Die Vorschrift korrespondiert mit § 79 Abs. 2 BVerfGG, wonach nicht mehr anfechtbare Entscheidungen von der Nichtigkeitserklärung des Bundesverfassungsgerich541

Vgl. Tipke/Kruse § 176 Rz. 1; Frotscher, in: Schwarz § 176 Rz. 1 und 4; v. Wedelstädt, in: Beermann § 176 Rz. 1. 542 Vgl. Tipke/Kruse § 176 Rz. 1; a.A.: v. Wedelstädt, in: Beermann § 176 Rz. 2; Frotscher, in: Schwarz § 176 Rz. 2: Schutz des Vertrauens in den Bestand des Gesetzes. 543 A.A. wohl: Frotscher, in: Schwarz § 176 Rz. 4: Schutzwürdiges Vertrauen auch schon vor Erlaß des Bescheides. 544 Tipke/Kruse § 176 Rz. 3; Frotscher, in: Schwarz § 176 Rz. 9; a.A.: Rössler BB 1981,842 (843).

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

203

tes unberührt bleiben.545 Auch in der Literatur wird darauf hingewiesen, daß es allgemein für die Rechtssicherheit von erheblicher Bedeutung ist, sich auf die Rechtsgültigkeit der vom Gesetzgeber verabschiedeten Gesetze verlassen zu dürfen. 546 Es erscheint deshalb unbedenklich, den in § 176 Abs. 1 Nr. 1 AO gesetzlich geregelten Gedanken auch für das allgemeine Verwaltungsrecht als richtig anzusehen. Seine Berücksichtigung ist bei der gegenwärtigen Fassung der §§ 48 ff. VwVfG zwar nicht ausdrücklich vorgeschrieben, aber möglich. Zum einen kann man einen Rücknahmeausschluß nach § 48 Abs. 2 S. 1 VwVfG annehmen, wenn der Betroffene auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat, weil der Verwaltungsakt im Einklang mit dem zugrundeliegenden Gesetz stand. Allerdings wäre nach der bisherigen Fassung des § 48 VwVfG ein Vertrauensschutz wegen Absatz 2 Satz 3 Nr. 3 der Vorschrift ausgeschlossen, wenn der Betroffene subjektiv Zweifel an der Verfassungsgemäßheit des zugrunde liegenden Gesetzes hatte,547 etwa weil über die Verfassungsgemäßheit des Gesetztes zum Zeitpunkt des Verwaltungsaktes in der Öffentlichkeit bereits gestritten wurde. Die Korrektursperre des § 48 Abs. 2 S. 1 VwVfG würde dann entfallen, da sie subjektives Vertrauen beim Begünstigten voraussetzt. § 176 Abs. 1 Nr. 1 AO würde den Steuerpflichtigen dagegen auch dann schützen, wenn er subjektiv gar nicht auf den Bestand der Regelung vertraut hat. 548 Wendet man die verwaltungsrechtlichen Rücknahmeregeln in einem solchen Fall an, bestünde allenfalls die Möglichkeit, bei der Ausübung des in § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG enthaltenen Ermessens aus Gründen der objektiven Rechtssicherheit von einer Korrektur abzusehen.

b) Nichtanwendung einer Norm durch einen obersten Gerichtshof des Bundes wegen vermuteter Rechtswidrigkeit Diese Wertung muß erst recht gelten, wenn nur ein oberster Gerichtshof ein Parlamentsgesetz nicht anwendet, weil er es für verfassungswidrig und damit für nichtig hält. Die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes ist dann noch nicht abschließend und mit Sicherheit549 festgestellt. Zuständig für die Verwerfung von Gesetzen ist allein das Bundesverfassungsgericht (vgl. insbes. Art. 93

545

Birk § 14 Rz. 45. Moench S. 128. 547 Α. A. wohl Martens Rz. 475, dort Fußn. 158. 548 Tipke/Kruse § 176 Rz. 3; Frotscher, in: Schwarz § 176 Rz. 9; a.A.: Rössler BB 1981,842 (843). 549 Vgl. Martens Rz. 467 zum Problem der sicheren Feststellbarkeit einer Rechtswidrigkeit. 546

204

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

Abs. 1 Nr. 2 und Art. 100 GG). 550 Die Rechtsunsicherheit wäre erheblich, wenn ein Verwaltungsakt zuungunsten des Betroffenen korrigiert werden würde, weil er auf einem Gesetz beruht, das nur von einem obersten Bundesgericht für verfassungswidrig gehalten wird. Es könnte nicht ausgeschlossen werden, daß das Bundesverfassungsgericht in einem sich anschließenden Normenkontrollverfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG die gegenteilige Rechtsansicht vertritt und das Gesetz für verfassungskonform erklärt. Folgerichtig darf nach § 176 Abs. 1 Nr. 2 AO bei der Korrektur eines Steuerbescheides nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden, daß ein oberster Gerichtshof des Bundes eine Norm, auf der die bisherige Steuerfestsetzung beruht, nicht anwendet, weil er sie für verfassungswidrig hält. Das verwaltungsrechtliche Korrektursystem enthält keine ausdrückliche Korrekturbeschränkung, die mit § 176 Abs. 1 Nr. 2 AO vergleichbar wäre. Aus den unter 1. genannten Gründen muß die Wertung des § 176 Abs. 1 Nr. 2 AO aber auch im allgemeinen Verwaltungsrecht gelten. Die Rücknahme eines Geldbescheides ist in diesen Fällen entweder nach § 48 Abs. 2 S. 1 VwVfG als unzulässig anzusehen oder im Rahmen der Ermessensausübung auszuschließen.551 Allerdings greift die Korrekturbeschränkung des § 176 Abs. 1 Nr. 2 AO nicht nur ein, wenn ein Parlamentsgesetz von einem obersten Gerichtshof für verfassungswidrig gehalten wird. Die Norm erfaßt auch die Fälle, in denen etwa das Bundesverwaltungsgericht eine Rechtsverordnung oder Satzung für rechtswidrig hält. 552 Zur Verwerfung von Rechtsverordnungen und Satzungen sind auch die Instanzgerichte im Rahmen der konkreten Normenkontrolle befügt, ohne daß sie das Verfahren aussetzen und die Rechtsnorm dem Bundesverfassungsgericht vorlegen müssen.553 Der Vertrauensschutz zugunsten des Adressaten eines begünstigenden Verwaltungsaktes wiegt hierbei gleichwohl genauso schwer wie in den Fällen der Nichtigkeitserklärung eines Gesetzes durch das Bundesverfassungsgericht. Die Verwerfung einer Rechtsverordnung durch ein Instanzgericht wirkt nur inter partes und entfaltet keine Allgemeinverbindlichkeit.554 Die Nichtigkeitserklärung durch das Bundesverfassungsgericht ist dagegen allgemeinverbindlich und entfaltet sogar Gesetzeskraft (vgl. § 31 Abs. 2 i.V.m. § 13 Nr. 6 und Nr. 11 BVerfGG). Wenn sich aber schon die allgemeinverbindliche Nichtigkeitserklärung durch das Bundesverfassungsgericht nicht zuungunsten des Bürgers auswirken darf, dann gilt dies erst recht für die nur inter partes wirkende Verwerfung einer Verord550 551 552 553 554

Stuth, in: Umbach/Clemens Vor. §§ 76 ff. Rz. 9. S.o. 1. v. Wedelstädt, in: Beermann § 176 Rz. 25. Rinken, in: AK Art. 100 Rz. 4; Tipke/Kruse § 176 Rz. 4b. Rinken, in: AK Art. 100 Rz. 4.

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

205

nung oder Satzung durch eines der obersten Bundesgerichte. Im Steuerrecht haben diese Erwägungen in § 176 Abs. 1 Nr. 2 AO Niederschlag gefunden. Sie gelten jedoch gleichermaßen auch für das allgemeine Verwaltungsrecht, denn die Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips können sich hier insoweit nicht anders auswirken als im Steuerrecht.

c) Änderung der Rechtsprechung eines der obersten Gerichtshöfe Nach § 176 Abs. 1 Nr. 3 AO darf es sich bei der Korrektur eines Steuerbescheides nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen auswirken, daß sich die Rechtsprechung eines obersten Gerichtshofes des Bundes geändert hat, die bei der bisherigen Steuerfestsetzung von der Finanzbehörde angewandt worden ist. Diese Vorschrift trägt dem Umstand Rechnung, daß auch dann ein erhöhtes Vertrauen in den Bestand eines Verwaltungsaktes555 entsteht, wenn der Verwaltungsakt mit der bisherigen Rechtsprechung eines der obersten Gerichtshöfe übereinstimmt.556 Außerhalb des Steuerrechts ist ein Vertrauensschutz in den Bestand von Verwaltungsakten in Fällen geänderter Rechtsprechung bislang nicht ausdrücklich geregelt. Es lassen sich nur wenige, bestenfalls ähnliche Wertungen des Gesetzgebers finden, die in eine vergleichbare Richtung weisen. Für das Sozialrecht bestimmt etwa die Vorschrift des § 48 Abs. 2 SGB X, daß ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben ist, wenn der zuständige oberste Gerichtshof des Bundes in ständiger Rechtsprechung nachträglich das Recht anders auslegt als die Behörde bei Erlaß des Verwaltungsaktes und sich dies zugunsten des Berechtigten auswirkt. Die Regelung in § 48 Abs. 2 SGB X ist aber mit § 176 Abs. 1 Nr. 3 AO nicht ganz vergleichbar. Sie normiert keinen Vertrauensschutz, sondern einen Wiederaufnahmegrund zugunsten des Bürgers. Da die Behörde aber nur zu begünstigenden Anpassungen des Verwaltungsaktes für die Zukunft verpflichtet wird, kann im Umkehrschluß angenommen werden, daß eine Anpassung an die Rechtsprechung zuungunsten des Betroffenen nicht stattfinden soll. 557 Diese für das Sozialrecht geltende Wertung des § 48 Abs. 2 SGB X kann zwar nicht ohne weiteres auf das allgemeine Verwaltungsrecht übertragen werden, denn im Sozialrecht ist der Schutz vor belastenden Korrekturen aus sozialstaatlichen Gründen beson555 Vgl. Tipke/Kruse § 176 Rz. 1; a.A.: v. Wedelstädt, in: Beermann § 176 Rz. 2; Frotscher, in: Schwarz § 176 Rz. 2: Schutz des Vertrauens in den Bestand des Gesetzes. 556 S.o. IX. 557 Martens Rz. 475.

206

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

ders stark ausgeprägt.558 Gleichwohl wird in der Literatur für die übrigen Rechtsgebiete allgemein darauf hingewiesen, daß sich eine geänderte Rechtsprechung nicht für die Vergangenheit belastend auswirken dürfe. 559 Das muß auch für die Korrektur von Verwaltungsakten gelten. Mithin entspricht der in § 176 Abs. 1 Nr. 3 AO angeordnete Vertrauensschutz den Korrekturbeschränkungen, die auch im allgemeinen Verwaltungsrecht zu berücksichtigen sind. Dies kann bei einer Rücknahme - wie schon in den vorangegangenen Fällen erläutert 560 - entweder im Rahmen des Korrekturausschlusses nach § 48 Abs. 2 S. 1 VwVfG oder im Rahmen der Ermessensausübung berücksichtigt werden.

d) Von einem obersten Gerichtshof des Bundes für rechtswidrig gehaltene Verwaltungsvorschriften Schließlich regelt § 176 AO einen vierten Fall des Vertrauensschutzes. Nach Absatz 2 der Vorschrift darf bei der Korrektur eines Steuerbescheides nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden, daß eine allgemeine Verwaltungsvorschrift der Bundesregierung, einer obersten Bundesoder Landesbehörde von einem obersten Gerichtshof des Bundes als nicht mit dem geltenden Recht in Einklang stehend bezeichnet worden ist. 561 Verwaltungsvorschriften sind Regelungen, die innerhalb der Verwaltungsorganisation von übergeordneten Verwaltungsinstanzen oder Vorgesetzten an nachgeordnete Behörden oder Bedienstete ergehen.562 Ihr Zweck ist vor allem, den Gesetzesvollzug durch die Verwaltung dort einheitlich festzulegen, wo Gesetzesnormen Spielräume eröffnen oder unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten zulassen. In der Behördenpraxis werden sie als Dienstanweisungen, Richtlinien, Anordnungen, Verfügungen o.ä. bezeichnet.563 Ministerielle Verwaltungsvorschriften gegenüber nachgeordneten Behörden heißen regelmäßig „Erlasse". Durch § 176 Abs. 2 AO wird der Vertrauensschutz zugunsten des Steuerpflichtigen auf die Beständigkeit von Verwaltungsvorschriften der Bundesregierung und der obersten Bundes- oder Landesbehörde ausgedehnt.

558

Vgl. Schnapp, in: GK § 44 Rz. 8. Eingehend Rüberg S. 145 ff ; Arndt, Probleme rückwirkender Rechtsprechungsänderung, u.a. auch für das Steuerrecht, aber noch vor Inkrafttreten des § 176 Abs. 1 Nr. 3 AO (S. 53 ff); Martens Rz. 475; ferner für das Zivilrecht Olzen JZ 1985, 155 (159 ff.) vndMedicus NJW 1995, 2577 ff. 560 S.o. 1. und 2. 561 Vgl. hierzu BFH BStBl. Π 1987, 756 (759). 562 Ossenbühl, in: Erichsen § 6 Rz. 31. 563 Ossenbühl, in: Erichsen § 6 Rz. 31. 559

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

207

Fraglich ist, ob diese Wertung des Steuergesetzgebers auf das allgemeine Verwaltungsrecht übertragen werden kann. Nach klassischer Betrachtungsweise564 gelten Verwaltungsvorschriften vor allem als behördliches Innenrecht, das unmittelbar nur Verwaltungsstellen und Amtswalter untereinander bindet.565 Ursprünglich wurde ihnen die Eigenschaft als Quelle subjektivöffentlicher Rechte völlig versagt.566 Eine Außenwirkung oder gar Verbindlichkeit gegenüber Dritten wird den Verwaltungsvorschriften auch heute grundsätzlich nur in eingeschränktem Maße zugesprochen.567 Eine Bindungswirkung könne sich nur mittelbar zusammen mit dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG ergeben. Die Exekutive müsse aufgrund des Gleichbehandlungsgebotes an der sich aufgrund von Verwaltungsvorschriften entwickelnden Verwaltungsübung festhalten. Bei diesem klassischen Verständnis verwundert es, daß der Steuergesetzgeber einen Vertrauensschutz des Steuerpflichtigen an den Bestand von Verwaltungsvorschriften knüpft. Die Übertragbarkeit dieses Gedanken auf das allgemeine Verwaltungsrecht erscheint deshalb zweifelhaft. Allen Vertrauenstatbeständen ist eine gewisse Sonderverbindung des Staates gegenüber dem Bürger gemeinsam.568 Der Bürger hat nur dann Anlaß, auf ein staatliches Handeln zu vertrauen, wenn das Handeln des Staates auch gerade dem Bürger gegenüber erfolgte, also gewissermaßen an den Bürger adressiert war. Beim Erlaß von Verwaltungsakten, Gesetzen und Richtersprüchen läßt sich eine solche Sonderverbindung noch annehmen. Es erscheint aber nur schwer möglich, den Erlaß von Verwaltungsvorschriften als Vertrauenstatbestand anzuerkennen, wenn man unterstellt, daß sich diese gar nicht an den Bürger richten. Allerdings zeichnet sich in der verwaltungsrechtlichen Literatur und Rechtsprechung ein im Vordringen 569 befindliches weitergehendes Verständnis 564

Zurückgehend auf Laband S. 181 (zitiert nach Rupp S. 19). BVerfG DVB1. 1989, 94; BVerwGE 58, 45 (49); = NJW 1979, 2059; BVerwG DVB1. 1986, 110 (111); vgl. hierzu Darstellungen bei Hill NVwZ 1989, 401 (401) und Ossenbühl S. 484 ff; ferner WolfßBachoflStober § 24 Rz. 23 f.; Ossenbühl, in: Erichsen § 6 Rz. 43. 566 Laband S. 181 (zitiert nach Rupp S. 19 f.): Regeln dagegen, die sich innerhalb der Verwaltung selbst halten, die in keiner Richtung einem außerhalb derselben stehenden Subjekte Beschränkungen auferlegen oder Befugnisse einräumen, ihm nich gewähren und nichts entziehen, ihm nichts gebieten und nichts verbieten, sind keine Rechtsvorschriften. " 567 Ossenbühl S. 486 ff.; WolfßBachoßStober § 24 Rz. 27; Ossenbühl, in: Erichsen § 6 Rz. 44. 568 Weber-Dürler S. 84 f. 569 So sehen etwa Martens Rz. 473 und Ossenbühl, in: Erichsen § 6 Rz. 50 die Entwicklung. 565

208

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

bezüglich der Bindungswirkung von Verwaltungsvorschriften ab. Danach wird normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften 570 auch eine unmittelbare, verbindliche Außenwirkung zugesprochen.571 Eine Bindungswirkung wird nicht mehr nur mittelbar aus der auf den Verwaltungsvorschriften beruhenden Verwaltungsübung i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG abgeleitet. Vielmehr soll sich die Bindungswirkung schon kraft des in den Verwaltungsvorschriften verlautbarten Willensaktes der Verwaltung ergeben.572 Bei solchen Verhaltungsvorschriften handele es sich um verbindliche Teilvorwegnahmen einer dem Bürger gegenüber zu treffenden Entscheidung.573 Folgt man dieser Betrachtungsweise, so überrascht es schon weniger, daß der Gesetzgeber in § 176 Abs. 2 AO Verwaltungsvorschriften als Anknüpfungspunkt für Vertrauensschutz gewählt hat. 574 Gleichwohl muß aus Sicht des allgemeinen Verwaltungsrechts die Norm des § 176 Abs. 2 AO noch als recht modern eingestuft werden. Hinzu kommt, daß man auch nach neuerer Betrachtungsweise im Verwaltungsrecht nicht alle Verwaltungsvorschriften, sondern allenfalls diejenigen mit normkonkretisierendem Charakter 575 als nach außen bindend einstufen würde. Und auch dies wird nicht für sämtliche Rechtsgebiete gleichermaßen erwogen.576 Nach dem bisherigen Stand der verwaltungsrechtlichen Dogmatik wäre es deshalb in vielen Fällen unzulässig, dem Bürger bei der Rücknahme eines Verwaltungsaktes einen mit § 176 Abs. 2 AO vergleichbaren Vertrauensschutz zu gewähren. Das Prinzip der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns würde es rechtfertigen und ggf. fordern, einen Verwaltungsakt auch insoweit zuungunsten des Bügers zu korrigieren, wie er auf einer durch die Rechtsprechung als rechtswidrig erkannten Verwaltungsvorschrift beruht.

e) Vergleichsergebnis zu 1. Es kann als Vergleichsergebnis festgehalten werden, daß die vertrauensschützenden Regeln des § 176 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 AO mit den Wertungen 57 0

Gerhardt NJW 1989,2233 (2237) mit näheren begrifflichen Voraussetzugen. BVerwGE 72, 300 (320) = NVwZ 1986, 208 (213); Hill NVwZ 1989, 401 (406); Gerhardt NJW 1989, 2233 ff.; Di Fabio DVB1. 1992, 1338 ff; Martens Rz. 475; Ossenbühl S. 502 ff. 57 2 Ossenbühl AöR Bd. 92 (1967), 1,(15). 57 3 Hill NVwZ 1989, 401 (406). 574 Vgl. Weber-Dürler S. 87. 57 5 Gerhardt NJW 1989, 2233 (2237) mit näheren begrifflichen Voraussetzugen. 576 Vgl. Gerhardt NJW 1989, 2233 (2240), für die Fälle der dort. Fußn. 80. 571

Β. Vergleich einzelner Korrekturtatbestände

209

übereinstimmen, die im allgemeinen Verwaltungsrecht anerkannt sind. Nach der gegenwärtigen Fassung des § 48 VwVfG ist es der Verwaltungsbehörde auch möglich, bei der Rücknahme von Verwaltungsakten die gleichen Beschränkungen zu berücksichtigen, wie sie der Steuerbehörde bei der Korrektur von Steuerbescheiden durch § 176 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 AO auferlegt werden. Die Vorschrift des § 176 Abs. 2 AO entspricht in ihrer jetzigen Fassung nicht den im allgemeinen Verwaltungsrecht geltenden Wertungen. Nach allgemeinem Verwaltungsrecht könnten allenfalls in Einzelfällen Verwaltungsvorschriften als Anknüpfungspunkte für Vertrauensschutz angesehen werden. Welche Einzelfalle dies genau sind, läßt sich beim jetzigen Stand der Diskussion noch nicht allgemein umschreiben. Eine pauschale Anordnung, den Vertrauensschutz bei Korrekturen stets auf den Bestand von Verwaltungsvorschriften auszudehnen, würde der Bindung der Verwaltung an Recht und Gesetz zuwiderlaufen.

2. Möglichkeiten zur Vereinheitlichung Es bestünden keine Bedenken, die Regeln des § 176 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 AO in das Verwaltungsverfahrensgesetz zu übernehmen. Zwar läßt sich schon nach der geltenden Fassung der §§ 48 ff. VwVfG zu Korrekturergebnissen gelangen, die der Wertung in § 176 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 AO entsprechen. Dies hängt aber davon ab, daß die jeweils handelnde Behörde etwa bei der Abwägung nach § 48 Abs. 2 S. 1 VwVfG oder bei Ausübung des Ermessens nach § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG zu entsprechenden Ergebnissen gelangt. Das ist bei der sehr allgemeinen, gerneralklauselartigen Fassung von § 48 Abs. 2 S. 1 und § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG nicht unbedingt gewährleistet. Es würde sich daher klarstellend auswirken, die Vertrauensschutzgrundsätze aus § 176 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 AO im Verwaltungsverfahrensgesetz ausdrücklich zu normieren. Systematisch könnten sie etwa hinter Satz 2 in § 48 Abs. 2 VwVfG eingefügt werden. Eine Übernahme des Gedankens aus § 176 Abs. 2 AO in das Verwaltungsverfahrensgesetz dürfte dagegen nicht ohne Modifizierungen der Vorschrift erfolgen. Ein Vertrauensschutz könnte nach dem bisherigen Stand der Dogmatik nur an bestimmte, normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften geknüpft werden. Da sich jedoch nonnkonkretisierende Verwaltungsvorschriften bislang nicht hinreichend genau von sonstigen Verwaltungsvorschriften abgrenzen lassen, erscheint der Gedanke aus § 176 Abs. 2 AO noch nicht genug ausgereift zu sein, um ihn gesetzlich zu normieren. 577 Er sollte zum Zwecke 577

Vgl. auch Martens Rz. 473

14 Arndt

210

4. Teil: Vergleich und Möglichkeiten zur Vereinheitlichung

der Vereinheitlichung der beiden Rechtsgebiete aus der Abgabenordnung gestrichen werden.

5. Teil

Schlußbemerkungen Α. Zusammenfassung der Ergebnisse L Zum allgemeinen Vergleich Bei dem Vergleich allgemeiner Merkmale wurden Differenzen in Terminologie und Systematik der beiden Korrektursysteme ermittelt.1 Keine der dabei festgestellten Unterschiede ist aufgrund von Besonderheiten des einen oder des anderen Rechtsgebietes erforderlich. Es wurden daher jeweils Vorschläge zur Vereinheitlichung gemacht. Im einzelnen lassen sich folgende Untersuchungsergebnisse zusammenfassen: 1. Es ist zu empfehlen, das Mittel der „Änderung" von Verwaltungsakten aus dem Steuerrecht in die §§ 48, 49 VwVfG zu übernehmen. Hierdurch ließe sich die teilweise Rücknahme bzw. der teilweise Widerruf regeln. Vor allem könnte mit Hilfe der „Änderung" ein im Verwaltungsakt festgesetzter Geldbetrag auf elegantere Weise erhöht werden als bisher. Das verwaltungsrechtliche Korrektursystem würde so den Bedürfnissen von Geldbescheiden besser gerecht werden.2 2. Die bei Rücknahme und Widerruf übliche Unterscheidung zwischen belastenden und begünstigenden Verwaltungsakten sollte durch die Begriffe „begünstigende Rücknahme" und „belastende Rücknahme" bzw. „begünstigender Widerruf' und „belastender Widerruf 4 ersetzt werden. Hiermit würde man ebenfalls die Bedürfnisse bei der Korrektur von Geldbescheiden besser berücksichtigen.3 3. Im Verwaltungsrecht können rechtswidrige und rechtmäßige Verwaltungsakte korrigiert werden.4 Dabei muß die Rechtmäßigkeit des Verwal-

1 2 3 4

4. Teil A. 4. Teil Α. I. 4. Teil Α. Π. 4. Teil Α. ΠΙ. 1.

212

5. Teil: Schlußbemerkungen

tungsaktes im Zeitpunkt seines Erlasses beurteilt werden. Der Zeitpunkt seines Erlasses ist jedoch vom Korrekturzeitpunkt aus rückblickend zu betrachten.5 Die §§ 172 ff. AO erfassen ausschließlich rechtswidrige und keine rechtmäßigen Bescheide.6 Dieser Unterschied bedeutet aber keinen Widerspruch zwischen beiden Systemen. Er hängt nur mit dem engeren Anwendungsbereich der §§ 172 ff. AO zusammen, der mit Steuerbescheiden nur gebundene Verwaltungsakte erfaßt. Die §§ 48 ff. VwVfG sind dagegen auch im Bereich der Ermessensverwaltung anwendbar.7 4. Korrekturen werden im Steuerrecht durch Veijährungsregeln (§§ 169 ff. AO), im Verwaltungsrecht dagegen durch eine Ausschlußfrist (§ 48 Abs. 4 VwVfG) zeitlich begrenzt.8 Es empfiehlt sich, in beiden Verfahrensordnungen das bisherige Fristenkonzept durch das jeweils andere zu ergänzen.9 5. Während die Rücknahme- und Widerrufsregeln der Verwaltungsbehörde stets Entschließungsermessen für die Korrekturentscheidung einräumen, sind die steuerrechtlichen Korrekturregeln teils Ermessensregeln, teils bindende Vorschriften. 10 Es wäre grundsätzlich möglich, der Finanzbehörde im stärkeren Umfang als bisher Entschließungsermessen einzuräumen.11 6. Die Verwaltungsbehörde kann die zeitliche Wirkung einer Korrektur im Rahmen des Auswahlermessens bestimmen.12 Das gilt ebenso für die Finanzbehörde, sofern ihr ein Ermessen bei der Korrektur zusteht.13 Diese Möglichkeit wird im Steuerrecht bislang nicht ausreichend beachtet.14 Entsprechendes wie für die zeitlich Wirkung gilt auch für den Umfang der Korrektur bei Ausübung des Auswahlermessens.15 7. Die beiden Korrektursysteme weichen in ihrer Ermächtigungssystematik voneinander ab. Während im Steuerrecht einzelne Korrekturtatbestände aufgezählt werden (Enumerationsprinzip), enthalten die verwaltungsrechtlichen

5

4. Teil Α. ΙΠ. 2. a). 4. Teil A. DI. 1. 7 4. Teil Α. ΠΙ. 4. 8 4. Teil Α. IV. 9 4. Teil Α. IV. 6. b). 10 4. Teil Α. V. l.a). 11 4. Teil Α. V. l.b). 12 4. Teil Α. V. 2. a) aa). 13 4. Teil Α. V. 2. a) bb). 14 4. Teil Α. V. 2. a)bb). 15 4. Teil Α. V. 2. b). 6

Α. Zusammenfassung der Ergebnisse

213

Rücknahmeregeln eine Pauschalermächtigung mit Einschränkungen.16 Wollte man ein einheitliches Korrektursystem für Steuerrecht und Verwaltungsrecht schaffen, würde dies für eines der beiden Rechtsgebiete eine inverse Darstellung der Ermächtigungsgrundlagen bedeuten.17

IL Zum Vergleich einzelner Korrekturtatbestände Bei dem Vergleich der einzelnen Korrekturtatbestände wurden teils materielle Wertungsunterschiede, andererseits auch Übereinstimmungen zwischen beiden Korrektursystemen ermittelt. 18 Dabei sind die festgestellten Wertungsunterschiede nicht erforderlich und nicht mit Besonderheiten des einen oder des anderen Rechtsgebietes zu rechtfertigen. Es wurden jeweils Vorschläge zur Vereinheitlichung gemacht. Im einzelnen läßt sich folgendes festhalten: 1. Beide Verfahrensordnungen enthalten gleiche Wertungen bei der Korrektur eines Verwaltungsaktes, der durch unlautere Mittel erwirkt 19 oder durch eine sachlich unzuständige Behörde erlassen wurde. 20 2. Anders als im Verwaltungsrecht wird im Steuerrecht die Zustimmung zur Korrektur bzw. ein Korrekturantrag des Steuerpflichtigen als eigenständiger Ermächtigungsgrund gem. § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 a) AO angesehen. Es ist zu empfehlen, die Vorschrift zu streichen, da sie keine Bedeutung als Korrekturermächtigung hat.21 3. Soll ein Verwaltungsakt wegen mangelnder Berücksichtigung von Tatsachen zuungunsten des Betroffenen korrigiert werden, so besteht Wertungsgleichheit zwischen beiden Verfahrensordnungen, sofern der Fehler überwiegend dem Bürger zuzurechnen ist. 22 Wertungsunterschiede bestehen aber, wenn der Fehler überwiegend der Behörde zuzurechnen ist. Im Steuerrecht ist eine Korrektur zuungunsten des Steuerpflichtigen ausgeschlossen, während sie im Verwaltungsrecht unter gewissen Voraussetzungen zulässig sein kann.23

16 17 18 19 20 21 22 23

4. Teil Α. VI. 1. 4. Teil Α. VI. 2. 4. Teil B. 4. Teil Β. I. 4. Teil Β. Π. 4. Teil Β. ΙΠ. 3. 4. Teil Β. IV. 1. a) aa). 4. Teil Β. IV. 1. a) bb).

214

5. Teil: Schlußbemerkungen

Dieser Weitungsunterschied ist nicht sachgerecht. Es empfiehlt sich, das Steuerrecht insoweit an das Verwaltungsrecht anzupassen.24 4. Soll ein Verwaltungsakt wegen mangelnder Berücksichtigung von Tatsachen zugunsten des Bürgers korrigiert werden, so besteht Wertungsgleichheit zwischen beiden Verfahrensordnungen, sofern den Bürger ein grobes Verschulden am verspäteten Bekanntwerden der Tatsachen trifft. 25 Wegen § 173 Abs. 1 Nr. 2 S. 2 AO bestehen aber Wertungsunterschiede, wenn es sich um für den Bürger gleichzeitig nachteilige Tatsachen handelt. Diese Unterschiede sind nicht gerechtfertigt und sollten beseitigt werden. Dabei ist es eine rechtspolitische Entscheidung, ob § 173 Abs. 1 Nr. 2 S. 2 AO aus der Abgabenordnung gestrichen oder der Rechtsgedanke der Vorschrift in das Verwaltungsrecht übernommen werden soll.26 5. § 173 Abs. 2 AO führt zu Weitungsunterschieden zwischen Steuerrecht und Verwaltungsrecht, sowohl bei Korrekturen zugunsten als auch zuungunsten des Steuerpflichtigen. 27 Die Vorschrift ist jedoch nicht als Korrekturregel anzusehen. Ihr Zweck besteht nicht darin, einen Ausgleich zwischen Rechtssicherheit und Rechtmäßigkeit herbeizuführen. Sie dient allein dazu, Rechtsfrieden nach einer Außenprüfung zu schaffen. § 173 Abs. 2 AO sollte deshalb aus den §§ 172 ff. gestrichen und in die Vorschriften über die Außenprüfung aufgenommen werden.28 6. Das Steuerrecht kennt keine besondere zeitliche Begrenzung, die mit der dreimonatige Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG vergleichbar wäre. 29 Es sollte eine entsprechende Regelung in § 173 AO ergänzt werden.30 7. Die steuerrechtlichen Regeln in § 174 Abs. 1 AO für Korrekturen zugunsten des Steuerpflichtigen bei positiv widerstreitenden Steuerbescheiden führen zu den gleichen Ergebnissen wie bei Anwendung der verwaltungsrechtlichen Regeln.31 Unterschiede ergeben sich aber bei Korrekturen zuungunsten des Steuerpflichtigen gem. § 174 Abs. 2 AO. Die Vorschrift berücksichtigt nicht die Rechtsgedanken aus § 48 Abs. 2 S. 2 und § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 VwVfG und sollte insoweit ergänzt werden.32 24

4 . Teil Β. IV. l.b). 4. Teil Β. IV. 2. a). 26 4. Teil Β. IV. 2. b). 27 4. Teil Β. IV. 2. c) und 1. a) bb). 28 4. Teil Β. IV. 2. c) und l.b). 29 4. Teil Β. IV. 2. d). 30 4. Teil Β. IV. 2. d). 31 4. Teil Β. V. 2. a). 32 4. Teil Β. V. 2. b). 25

Α. Zusammenfassung der Ergebnisse

215

8. In Fällen eines negativen Widerstreites gem. § 174 Abs. 3 AO gelangt man mit Hilfe der verwaltungsrechtlichen Vorschriften zu den gleichen Korrekturergebnissen wie im Steuerrecht, sofern es um Korrekturen zugunsten des Steuerpflichtigen geht. Allerdings ist hierzu erforderlich, § 174 Abs. 3 AO analog anzuwenden, wenn das Tatbestandsmerkmal der Erkennbarkeit nicht vorliegt. Andererseits ist eine Reduzierung des Ermessens in Richtung auf eine Korrekturpflicht anzunehmen, wenn die Annahme der Berücksichtigung in einem anderen Bescheid „erkennbar" war. Die Vorschrift des § 174 Abs. 3 AO sollte zur Klarstellung geändert werden.33 9. In Fällen eines negativen Widerstreites gem. § 174 Abs. 3 AO können sich abweichende Wertungen ergeben, sofern es um Korrekturen zuungunsten des Steuerpflichtigen geht. Das gilt jedenfalls für einige Sonderfalle. 34 Dabei werden erneut die Rechtsgedanken aus § 48 Abs. 2 S. 2 und § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 VwVfG nicht berücksichtigt. Es sind deshalb entsprechende Ergänzungen in § 174 Abs. 3 AO erforderlich. 10. § 174 Abs. 4 AO ist mit § 48 VwVfG wertungsgleich, sofern es um Korrekturen zugunsten des Steuerpflichtigen geht.35 Unterschiede ergeben sich dagegen für den Fall, daß die Korrektur zugunsten eines Dritten erfolgen soll. Während im Steuerrecht wegen der Verweisungsnorm des § 174 Abs. 5 S. 1 AO solche Korrekturen nur zulässig sind, wenn der Dritte an dem vorangegangenen Verfahren beteiligt war, kommt es im Verwaltungsrecht auf diese einschränkende Voraussetzung nicht an. Dieser Unterschied ließe sich durch eine analoge Anwendung von § 174 Abs. 4 AO vermeiden. Zur Klarstellung sollte § 174 Abs. 5 AO entsprechend geändert werden.36 11. Bei Korrekturen zuungunsten des Steuerpflichtigen oder eines Dritten können die Vorschriften des § 174 Abs. 4 bzw. § 174 Abs. 5 AO als mit den verwaltungsrechtlichen Korrekturregeln vereinbar angesehen werden. Das setzt allerdings voraus, daß man im Einzelfall eine Reduzierung des in § 174 Abs. 4 AO enthaltenen Ermessens in Richtung auf ein Korrekturverbot annimmt.37 12. Bei Folgekorrekturen nach Änderung eines Grundlagenbescheides gem. § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO ergeben sich gegenüber der Rechtslage im Verwaltungsrecht keine Unterschiede, wenn die Korrektur zugunsten des Steuer-

33 34 35 36 37

4. Teil Β. V. 2. c) aa). Siehe die Sonderfälle unter 4. Teil Β. V. 2. c) bb) (2) und (3). 4. Teil Β. V. 2. d) aa). 4. Teil Β. V. 2. d) aa). 4. Teil Β. V. 2. d) bb) (1) und (2).

216

5. Teil: Schlußbemerkungen

Pflichtigen erfolgen soll.38 Ebenfalls keine Unterschiede ergeben sich bei Korrekturen des Folgebescheides zuungunsten des Steuerpflichtigen, sofern der Folgebescheid nach Aufhebung oder Änderung des Grundlagenbescheides angepaßt werden soll.39 Es bestehen aber Differenzen zwischen Steuerrecht und Verwaltungsrecht, wenn die Korrektur des Folgebescheides nach Erlaß eines Grundlagenbescheides erfolgt. 40 Das gilt jedenfalls dann, wenn der Steuerpflichtige nicht erkennen konnte, daß der Steuerbescheid nur vorläufigen Charakter hat und nach Ergehen eines Grundlagenbescheides noch angepaßt werden soll. § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO berücksichtigt in diesen Fällen nicht die vertrauensschützenden Rechtsgedanken des § 48 Abs. 2 VwVfG und sollte insoweit an das Verwaltungsrecht angepaßt werden 4 1 Die Korrektur eines Folgebescheides nach fehlender oder fehlerhafter Auswertung des Grundlagenbescheides ist entgegen der Praxis im Steuerrecht nicht von § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO gedeckt.42 Folgt man dieser Auffassung, so stimmt die Vorschrift insoweit mit den Wertungen im Verwaltungsrecht überein.43 13. Beim Eintritt rückwirkender Ereignisse zugunsten des Betroffenen stimmen die Korrekturmöglichkeiten im Steuerrecht (§ 175 Abs. 1 Nr. 2 AO) und im allgemeinen Verwaltungsrecht (§ 48 Abs. 1 S. 1 und § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG) überein.44 Geht es dagegen um Korrekturen zuungunsten des Steuerpflichtigen, bestehen Differenzen zwischen beiden Korrektursystemen. Abweichend vom Verwaltungsrecht läßt § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO uneingeschränkt auch dann Korrekturen zu, wenn der Eintritt des rückwirkenden Ereignisses auf einem Umstand beruht, der dem behördlichen Handeln zuzurechnen ist. Die Vorschrift sollte insoweit eingeschränkter formuliert werden.45 14. Wegen des enumerativen Korrektursystems der Abgabenordnung gibt es in Steuerbescheiden unbenannte Fehler, die nicht korrigiert werden können.46 Aufgrund der Pauschalermächtigung in § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG kommt man mit dem verwaltungsrechtlichen Korrektursystem zu anderen Ergebnissen. Diese Differenzen sind zwangsläufige Folge der unterschiedlichen Ermächti-

38 39 40 41 42 43 44 45 46

4. Teil Β. VI. 1. 4. Teil Β. VI. 2. b) aa). 4. Teil Β. VI. 2. b) bb). 4. Teil Β. VI. 2. b) bb). 4. Teil Β. VI. 2. b) cc). 4. Teil Β. VI. 2. b) cc). 4. Teil B. Vn. 1. 4. Teil B. VE. 2. 4. Teil B. Vm. 1. a) und b).

Β. Abschließende Wertung

217

gungssysteme beider Verfahrensordnungen. 47 Auf die Probleme, die sich bei einer Vereinheitlichung dieser beiden Systeme ergeben würden, wurde an anderer Stelle eingegangen.48 15. Treffen ein benannter und ein gegenläufiger unbenannter Fehler in einem Steuerbescheid zusammen, ergeben sich für die verwaltungsrechtlichen Korrekturvorschriften erhebliche Anwendungsprobleme. Im Steuerrecht ist die Fehlersaldierung in § 177 AO geregelt. Es wäre zu empfehlen, den Rechtsgedanken dieser Vorschrift in das Verwaltungsrecht zu übernehmen und § 48 VwVfG entsprechend zu ergänzen. 16. Die vertrauenschützenden Regeln des § 176 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 AO entsprechen den Wertungen im Verwaltungsrecht. Zwar haben die Rechtsgedanken dieser Vorschrift im verwaltungsrechtlichen Korrektursystem bislang keinen ausdrücklichen Niederschlag gefunden. Sie können aber im Rahmen der Ermessensausübung bei einer Korrektur berücksichtigt werden.49 Die Wertung des § 176 Abs. 2 AO entspricht gegenwärtig noch nicht den im Verwaltungsrecht anerkannten Wertungen.50 Die Vorschrift sollte nicht in das Verwaltungsverfahrensgesetz übernommen, sondern aus der Abgabenordnung gestrichen werden.51

B. Abschließende Wertung Die Untersuchungen dieser Arbeit bieten Grundlagen für die Frage, ob es eines eigenständigen Korrektursystems für Steuerbescheide bedarf. Die Gründe, mit denen bislang das besondere Korrektursystem der §§ 172 ff. AO für notwendig gehalten wurde, lassen sich mit den erzielten Vergleichsergebnissen widerlegen: Zum Teil wurden die §§ 172 ff. AO damit gerechtfertigt, daß der Aspekt des Vertrauensschutzes bei Steuerbescheiden geringer zu bewerten sei als bei sonstigen Verwaltungsakten.52 Das Steuerverfahren sei als Massenverfahren besonders fehleranfallig. 53 Die §§ 172 ff. AO seien deshalb neben den verwaltungsrechtlichen Rücknahme- und Widerrufsregeln erforderlich, weil sie er47

4 . Teil B. Vm. l.c). 4. Teil Α. VI. 2. 49 4. Teil Β. IX. 1. a) bis c). 50 4. Teil Β. IX. l.d). 51 4. Teil Β. IX. 2. 52 Arndt, Allgemeines Steuerrecht S. 136 f. 53 v. Wedelstädt, in: Beermann Vor §§ 172 ff Rz. 3. 48

218

5. Teil: Schlußbemerkungen

leichterte Korrekturmöglichkeiten schafften. 54 Die Untersuchungen haben aber gezeigt, daß die §§ 172 ff. AO keineswegs nur Erleichterungen bei der Korrektur von Verwaltungsakten mit sich bringen, sondern Korrekturen auch erschweren können. Zum einen können Steuerbescheide nur wegen bestimmter, einzeln aufgezählter Fehlerarten geändert werden (Enumerationsprinzip 55). Die Korrektur eines bloßen Rechtsfehlers ist dagegen nicht oder nur im Rahmen von § 177 AO möglich.56 Im Verwaltungsrecht sind die Korrekturmöglichkeiten wegen der Pauschalermächtigung in § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG nicht von vornherein auf bestimmte Fehlerarten begrenzt.57 Im Steuerrecht sind Korrekturen nach den einzelnen Tatbeständen oft ausgeschlossen, selbst wenn der Steuerpflichtige die Rechtswidrigkeit des Bescheides gekannt oder grob fahrlässig verkannt hat. Das gilt etwa für Fälle des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO, 58 des § 174 Abs. 2 AO 59 oder des § 174 Abs. 3 AO. 60 Im Verwaltungsrecht ist eine Korrektur in diesen Fällen wegen § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 VwVfG stets möglich. Es kann also nicht davon die Rede sein, das steuerrechtliche Korrektursystem würde einfachere Korrekturmöglichkeiten für Steuerbescheide bereithalten. Andererseits wurden die §§ 172 fF. AO für erforderlich gehalten, weil sie Steuerbescheiden eine höhere Bestandskraft einräumen als die allgemeinen Rücknahme- und Widerrufsregeln. 61 Der Steuerbescheid ergehe nach dem Festsetzungsverfahren in „qualifizierter Form". 62 Dieses Verfahren gewährleiste, daß ein Bescheid nicht mehr abgeändert werden müsse, vorausgesetzt die Behörde kannte die entscheidungserheblichen Umstände oder hätte sie kennen müssen.63 Die §§ 172 ff. AO würden deshalb gegenüber den Rücknahme- und Widerrufsregeln eingeschränkte Korrekturmöglichkeiten eröffnen. Richtig ist aber, daß das steuerrechtliche Korrektursystem die Bestandskraft von Verwaltungsakten nur in manchen Situationen höher bewertet als die §§ 48 ff. VwVfG. In anderen Fällen, sind Korrekturen einfacher möglich als im allgemeinen Verwaltungsrecht. Insbesondere wird in einigen Korrekturtatbeständen ein etwaiges Bestandsvertrauen des Steuerpflichtigen nicht in glei54 55 56 57 58 59 60 61 62 63

Arndt, Allgemeines Steuerrecht S. 137. S.o. unter 4. Teil Α. VI. S.o. unter 4. Teil B. VDI. 1. S.o. unter 4. TeilA. VI. 1. S.o. unter 4. Teil Β. IV. 1. a). S.o. unter 4. TeilB. V. 2. b). S.o. unter 4. Teil Β. V. 2. c) bb) (3.). J. Beermann S. 72; Lauer S. 20 ff. Lauer S. 21. Lauer S. 21 f.

Β. Abschließende Wertung

219

chem Maße geschützt wie nach den §§ 48 ff. VwVfG. Vor allem wird von den steuerrechtlichen Korrekturtatbeständen nicht der vertrauensschützende Rechtsgedanke des § 48 Abs. 2 S. 2 VwVfG berücksichtigt.64 Hierdurch sind Korrekturen im Steuerrecht möglich, die nach allgemeinem Verwaltungsrecht ausgeschlossen wären. Das steuerrechtliche Korrektursystem gewichtet also die Bestandskraft von Verwaltungsakten nicht durchgängig stärker als die verwaltungsrechtlichen Regeln in den §§ 48 ff. VwVfG. Nach dem Vergleich der beiden Korrektursysteme ist vielmehr folgendes festzustellen: Die steuerrechtlichen Korrekturregeln berücksichtigen die Bestandskraft von Verwaltungsakten weder gezielt stärker noch gezielt schwächer als die verwaltungsrechtlichen Regeln. Sie berücksichtigen die Bestandskraft lediglich anders, d.h. mit Hilfe eines gesetzestechnisch und sprachlich abweichenden Regelungssystems. Hierdurch werden an Korrekturen teils höhere, teils niedrigere Anforderungen gestellt. Dabei läßt sich kein durchgängiger Unterscheidungsgrund für Abweichungen vom Verwaltungsrecht erkennen. Die festgestellten Wertungsunterschiede zwischen beiden Korrektursystemen erscheinen vielmehr als zufallig. Zudem muß bezweifelt werden, ob die in der Literatur hervorgehobenen Besonderheiten des Steuerrechts65 es überhaupt erfordern, Steuerbescheiden ein anderes Maß an Bestandskraft zukommen zu lassen als sonstigen Verwaltungsakten. Die Finanzverwaltung muß zwar im Vergleich mit anderen Fachverwaltungen eine große Zahl von Bescheiden erlassen. Dabei ist auch das materielle Steuerrecht wegen seiner Kompliziertheit fehleranfalliger als manches andere Gebiet des Verwaltungsrechts. Gleichwohl ist nicht einsichtig, daß der Bürger einem Steuerbescheid weniger vertrauen dürfen sollte als einem anderen Verwaltungsakt. Die Berechnung eines Beitrags für den Straßenbau oder die Prüfung umfangreicher Bauanträge muß nicht weniger schwierig sein als die Berechnung einer Steuer. Die Fehlerhäufigkeit im Steuerrecht muß auch nicht deshalb größer sein, weil die Finanzverwaltung sehr viele Steuerbescheide zu erlassen hat. Eine wegen zahlreicher Vorgänge eingespielte Verwaltungspraxis führt sogar eher zu größerer Verläßlichkeit und stärkerem Vertrauen als zu Fehleranfalligkeit und dadurch begründeter Skepsis hinsichtlich der Richtigkeit des Bescheides. Die Gefahr von Fehlern ist in komplizierten Einzelverfahren viel größer, wenn eine ständige Verwaltungspraxis fehlt und ein Sachbearbeiter nicht wegen materieller Zweifelsfragen auf eine ständige Rechtsprechung oder auf umfangreiche Verwaltungsrichtlinien zurück64 65

217.

S.o. unter 4. Teil Β. V. 2. c) bb) (2.). Vgl. etwa Lauer S. 20 ff; Arndt, Allgemeines Steuerrecht S. 136 f.; Rasenack S.

5. Teil: Schlußbemerkungen

220

greifen kann. Es ist deshalb nicht gerechtfertigt, bei der Korrektur von Steuerbescheiden weniger Rücksicht auf das Bestandsvertrauen des Bürgers zu nehmen als in anderen Rechtsgebieten. Umgekehrt können Besonderheiten des Steuerrechts es nicht rechtfertigen, einem Steuerbescheid ein höheres Maß an Bestandskraft beizumessen als einem anderen Verwaltungsakt.66 Besondere Korrekturvorschriften für Steuerbescheide sind daher nicht erforderlich. Die Korrektur von Steuerbescheiden und sonstigen Verwaltungsakten könnte mit Hilfe nur eines Korrektursystems geregelt werden. Solange sich der Gesetzgeber zu diesem Schritt noch nicht entschließen kann, sollte er zumindest die dargelegten Wertungsunterschiede zwischen den beiden Verfahrensordnungen abbauen. Die vorgeschlagenen Gesetzesänderungen können dabei eine Hilfe sein.

66

So aber Lauer S. 21 f.

Anhang: Wortlaut der im 3. Teil zitierten älteren Gesetze I. Edikt über die Einführung einer allgemeinen Gewerbe-Steuer vom 28.10.1810 (Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1810, S. 79) §1

Ein Jeder, welcher in Unsern Staaten, es sey in den Städten, oder auf dem platten Lande, sein bisheriges Gewerbe, es bestehe in Handel, Fabriken, Handwerken, es gründe sich auf eine Wissenschaft oder Zunft, fortsetzen oder ein neues unternehmen will, ist verpflichtet, einen Gewerbeschein darüber zu lösen und die in dem beigefügten Tarif A. angesetzte Steuer zu zahlen. (...)

§2 Der Gewerbeschein giebt demjenigen, auf dessen Namen er ausgestellt ist, die Befugniß, ein Gewerbe fortzusetzen oder ein neues anzufangen. Eins und das andere, ohne Gewerbeschein, ist strafbar, und wer sich dessen schuldig macht, verfallt in eine Geldstrafe, welche dem sechsfachen Werthe der von ihm jährlich zu bezahlenden Steuer gleich ist. §18

Es versteht sich ferner von selbst, daß der Inhaber eines Gewerbescheins den Polizey-Verordnungen eines jeden Orts, wo er sein Gewerbe treibt, unterworfen ist, und sich bey Ausübung desselben, Beschränkungen, welche die Aufrechthaltung einer guten Polizey und aller andern allgemeinen Gesetze erfordert, gefallen lassen muß.

Anhang: Wortlaut der im 3. Teil zitierten älteren Gesetze

222

I I . Zoll- und Verbrauchs-Steuer-Ordnung (Gesetz-Sammlung fur die Königlichen Preußischen Staaten 1818, S. 102) §108 Die Beamten müssen bei der ihnen anvertrauten Zoll- und Steuer-Erhebung sich genau nach den vorgeschriebenen Sätzen richten, und sind dafür verantwortlich. Die bei gehöriger Anmeldung zoll- oder verbrauchsteuerpflichtiger Waare durch die Schuld der Hebungsbehörde gar nicht, oder unzureichend erhobenen Gefalle sollen daher nicht von den Steuerschuldigen, sondern von den Erhebungsbeamten eingezogen, und diesen soll nur das Recht zur Erstattung gegen jene vorbehalten werden. Zu viel erhobene Gefalle sollen dagegen aus der Staatskasse zurückgezahlt werden, wenn binnen Jahresfirst, vom Tage der Versteuerung an gerechnet, der Anspruch auf den Ersatz angemeldet und bescheinigt wird. Geschieht dies nicht, so geht nach Ablauf dieser Frist der Anspruch verlohren.

I I I . Ordnung zum Gesetz wegen Versteuerung des inländischen Branntweins, Braumalzes, Weinmostes und der Tabaksblätter (Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1819, S. 102) §58

Die Beamten müssen bei der ihnen anvertrauten Steuererhebung sich genau nach den vorgeschriebenen Sätzen richten und sind dafür verantwortlich. Die bei gehöriger Anmeldung zur Versteuerung durch die Schuld der Hebungsbehörden, gar nicht oder unzureichend erhobenen Gefalle, sollen daher nicht von dem Steuerschuldigen, sondern von dem Erhebungsbeamten eingezogen, und diesem soll nur das Recht auf Erstattung gegen jene vorbehalten werden. Zu viel erhobene Gefalle sollen dagegen aus der Staatskasse zurückgezahlt werden, wenn binnen Jahresfrist, vom Tage der Versteuerung an gerechnet, der Anspruch auf Ersatz angemeldet und bescheinigt wird. Geschieht dies nicht, so geht nach Ablauf dieser Frist der Anspruch verlohren. Außer den bestimmten Steuersätzen wird nichts erhoben; Quittungen und Bescheinigungen der Steuerbehörden werden gebührenfrei ertheilt.

Anhang: Wortlaut der im 3. Teil zitierten älteren Gesetze

IV. Gesetz über die Verjährungsfristen bei öffentlichen Abgaben (Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1840, S. 140) §5

Eine Nachforderung von Grundsteuern ist zulässig sowohl bei gänzlicher Uebergehung, als bei zu geringem Ansatz, in beiden Fällen aber nur für das Kalenderjahr, worin die Nachforderung geltend gemacht wird.

§6 Die Nachforderung von Klassen-, Gewerbe- und persönlichen, auf besonderen Titeln beruhenden Steuern findet im Fall gänzlicher Uebergehung nach den im § 5 enthaltenen Regeln statt; im Fall eines zu geringen Ansatzes fallt bei diesen Steuern jede Nachforderung weg, jedoch unbeschadet der gesetzlichen Wiederumlage bei Gewerbesteuer-Gesellschaften, welche nach Mittelsätzen steuern.

§7

Bei den im § 2 erwähnten indirekten Steuern1 kann der Betrag dessen, was zu wenig oder gar nicht erhoben worden ist, nur binnen einem Jahre, vom Tage des Eintritts der Zahlungsverpflichtung an gerechnet, nachgefordert werden.

V. Vollzugsordnung zum Gesetze über die Organisation der inneren Verwaltung; insbesondere die Einrichtung und Zuständigkeit der Behörden und das Verfahren betreffend (Großherzoglich Badisches Regierungsblatt 1864 S. 333 ff., abgedruckt bei Ipsen, S. 184) §88

Die Behörde, von welcher eine Verfügung oder Entscheidung in Verwaltungs- und Polizeisachen erlassen ist, oder die einer vorgesetzten höheren 1 Dies sind: Eingangs-, Ausgangs- und Durchgangsabgaben, die in Folge der Zollvereinigungs-Verträge zu erhebenden Ausgleichungsabgaben, die Branntwein-, Braumalz-, Mahl- und Schlachtsteuer, die Weinmost- und Tabacksteuer, die Salzablösungsgelder, die Blei- und Zettelgelder, die Wege-, Brücken-, Fahr-, Waage- und Krahngelder, die Kanal-, Schleusen-, Schifffahrts- und Hafenabgaben und die Niederlagegelder.

224

Anhang: Wortlaut der im 3. Teil zitierten älteren Gesetze

Behörde, kann solche auf ergriffenen Rekurs oder sonst auf Ansuchen einer Partei - auch wenn ein weiterer Rekurs nach den Bestimmungen der gegenwärtigen Verordnung nicht mehr zulässig ist - abändern oder ganz aufheben: 1) wenn durch die Verfügung oder Entscheidung nicht eine Partei einen gesetzmäßigen Anspruch bereits erworben hat - und in diesem Falle schon wegen geänderter Ansicht - oder 2) wenn durch spätere Verhandlungen das tatsächliche Verhältnis in wesentlicher Beziehung sich abweichend gestaltet. Ist die Verfügung schon Gegenstand einer höheren Entscheidung geworden, so steht dieses Recht nur der höheren Behörde zu, welche zuletzt materiell entschieden hat. Hiervon abgesehen, ist es der vorgesetzten Behörde jederzeit unbenommen, solche Weisungen, Anordnungen oder Belehrungen zu erlassen, welche sich auf den Gegenstand der Verfügung oder Entscheidung im allgemeinen beziehen.

VI. Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund (Bundes-Gesetzblatt des Norddeutschen Bundes 1869, S. 245) §53 Die in dem § 29 bezeichneten Approbationen können von der Verwaltungsbehörde nur dann zurückgenommen werden, wenn die Unrichtigkeit der Nachweise dargethan wird, auf deren Grund solche ertheilt worden sind. Außer aus diesem Grunde können die in den §§ 30, 32, 33, 34 und 36 bezeichneten Genehmigungen und Bestallungen in gleicher Weise zurückgenommen werden, wenn aus Handlungen oder Unterlassungen des Inhabers der Mangel derjenigen Eigenschaften, welche bei der Ertheilung der Genehmigung oder Bestallung nach der Vorschrift dieses Gesetzes vorausgesetzt werden mußten, klar erhellt. (...).

Anhang: Wortlaut der im 3. Teil zitierten älteren Gesetze

V I L Gesetz, betreffend die Besteuerung des Gewerbebetriebes im Umherziehen und einige Abänderungen des Gesetzes wegen Entrichtung der Gewerbesteuer vom 30. Mai 1820 (Gesetz-Sammlung fur die Königlichen Preußischen Staaten 1876, S. 247) §7 Will der Gewerbetreibende nach Einlösung des Gewerbescheines im Laufe des Jahres ein anderes als das darin bezeichnete Gewerbe im Umherziehen beginnen oder letzteres auf andere als die im Gewerbescheine bezeichneten Gegenstände, Waaren oder Leistungen ausdehnen, oder Begleiter, Fuhrwerk oder Wasserfahrzeuge mitführen, ohne daß dies im Gewerbescheine vermerkt ist, oder in größerer als der darin angegebenen Anzahl, so ist er verpflichtet, hiervon vorherige Anmeldung behufs Aenderung beziehungsweise Ergänzung des eingelösten oder Ertheilung eines anderen Gewerbescheines zu machen.(...) Insofern die beabsichtigte Aenderung des Gewerbebetriebes eine Erhöhung der Steuer (§ 9) oder die Entziehung der Steuerfreiheit (§ 13) bedingt, hat die Regierung zugleich den zu entrichtenden Steuersatz, auf welchen jedoch der für das betreffende Jahr bereits entrichtete Steuerbetrag in Anrechnung gebracht wird, anderweit festzusetzen und die Aushändigung des Gewerbescheines gegen Erlegung des Mehrbetrages zu veranlassen. §15 Wegen Abstandnahme vom Beginn des Gewerbebetriebes, sowie wegen Einstellung, Unterbrechung oder Verminderung des Betriebes im Laufe des Jahres findet eine Erstattung der Steuer für den eingelösten Gewerbeschein oder eines Theiles derselben in der Regel nicht statt. Ist jedoch wegen unvorhergesehener, von dem Willen des Inhabers des Gewerbescheines unabhängiger Ereignisse der Beginn des Gewerbebetriebes unterblieben oder der Betrieb eingestellt worden und wird der Gewerbeschein innerhalb einer Frist von 6 Wochen nach der Einlösung zurückgegeben, so kann die entrichtete Steuer ersteren Falls ganz, im letzteren Falle zu einem verhältnismäßigen Theile erstattet werden.

15 Arndt

Anhang: Wortlaut der im 3. Teil zitierten älteren Gesetze

226

V I I L Zuwachssteuergesetz (Reichs-Gesetzblatt 1911, S. 33) §34 Ist im Falle des § 5 das steuerpflichtige Rechtsgeschäft nichtig oder aufgehoben, so ist nach näherer Bestimmung des Bundesrates die Abgabe auf Antrag zu erlassen. Dasselbe gilt, wenn wegen Nichterfüllung der Vertragsbedingungen das Rechtsgeschäft rückgängig gemacht oder das Eigentum zurückübertragen wird. Ferner ist in den Fällen der Preisminderung nach §§ 459, 460 des Bürgerlichen Gesetzbuchs der Veräußerungspreis entsprechend zu ermäßigen und die Steuer entsprechend zurückzuzahlen.

I X . Reichsabgabenordnung vom 13.12.1919 (RGBl. I S. 1993) §74 (1) Bis zu ihrer Bekanntgabe (§ 73) können Verfügungen zurückgenommen, geändert oder durch andere Verfügungen ersetzt werden. (2) Entscheidungen, die auf Grund einer mündlichen Verhandlung verkündet werden, können nach ihrer Verkündung nicht mehr zurückgenommen oder geändert werden. (3) Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten können auch nach der Bekanntgabe oder Verkündung berichtigt werden. §75 Erachtet die Behörde eine Verfügung nachträglich für ungerechtfertigt, so ist sie, soweit in den §§76 bis 78 oder sonst in den Steuergesetzen nichts Abweichendes bestimmt ist, berechtigt, sie zurückzunehmen oder zu ändern; wenn eine Verfügung nur auf Antrag erlassen werden kann und der Antrag zurückgewiesen worden ist, darf die Verfügung nur auf Antrag geändert werden. §76 (1) Einen Steuerbescheid im Sinne der §§211, 220 kann die Behörde, die ihn erlassen hat, zurücknehmen oder ändern: 1. wenn der Bescheid Zölle oder Verbrauchsabgaben betrifft,

Anhang: Wortlaut der im 3. Teil zitierten älteren Gesetze

2. wenn er andere Steuern betrifft, falls der Steuerpflichtige zustimmt; ist jedoch ein solcher Bescheid bereits unanfechtbar geworden, so darf er nur zum Nachteile des Steuerpflichtigen zurückgenommen oder geändert werden. (2) Die Vorschriften über die Nachforderung hinterzogener Steuern, über die Nach- und Neuveranlagung und über die Berichtigung von Veranlagungen bleiben unberührt. (3) Einspruchsentscheidungen können unter den gleichen Voraussetzungen wie Steuerbescheide der im Abs. 1 Nr. 2 bezeichneten Art zurückgenommen oder geändert werden. Andere Rechtsmittelentscheidungen können nicht zurückgenommen oder geändert werden. §77 Verfügungen, die Ungehorsamsfolgen (Zwangsmittel, Sicherungsgelder oder Steuerzuschläge) festsetzen, dürfen nur zugunsten der Betroffenen zurückgenommen oder geändert werden. §78 (1) Wo eine Anerkennung, Genehmigung, Bewilligung oder Erlaubnis ausgesprochen worden ist, die den Beteiligten Befugnisse oder Vergünstigungen gewährt oder sie von Pflichten befreit, kann diese Verfügung, soweit nicht Widerruf oder weitere Bedingungen vorbehalten sind, nur zurückgenommen oder eingeschränkt werden: 1. wenn die Verfügung von sachlich unzuständiger Stelle erlassen worden ist, 2. wenn sich die tatsächlichen Verhältnisse geändert haben, die für die Erlassung der Verfügung maßgebend waren, oder das Vorhandensein dieser tatsächlichen Verhältnisse auf Grund unrichtiger oder irreführender Angaben des Beteiligten irrig angenommen ist, 3. wenn der Beteiligte die Bedingungen oder Verpflichtungen, die ihm bei Gewährung der Vergünstigung auferlegt worden sind, nicht erfüllt oder eine nachträglich geforderte Sicherheit nicht leistet. (2) Hat der Beteiligte die Verfügung durch unlautere Mittel, wie Täuschung, Zwang, Bestechung, veranlaßt, so kann sie mit rückwirkender Kraft zurückgenommen werden.

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Anhang: Wortlaut der im 3. Teil zitierten älteren Gesetze

§212 (1) Wenn nichts Abweichendes vorgeschrieben ist, sind Nachforderungen von Steuern bis zum Ablaufe der Veijährungsfrist zulässig. (2) Hat jedoch bei Steuern, bei denen die Veijährungsfrist (§ 121) mehr als ein Jahr beträgt, das Finanzamt nach Prüfung des Sachverhalts einen besonderen, im Gesetze selber vorgesehenen schriftlichen Bescheid (Veranlagungs-, Freistellungs- oder Feststellungsbescheid) erteilt, so ist, soweit nichts anderes vorgeschrieben ist, eine Neuveranlagung nur zulässig, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden, die eine höhere Veranlagung rechtfertigen. (3) Eine Neuveranlagung ist ferner zulässig, wenn bei einer Nachprüfung durch die Aufsichtsbehörde Fehler aufgedeckt werden, deren Berichtigung eine höhere Veranlagung rechtfertigt; dies gilt nicht bei den Steuern vom Einkommen und vom Vermögen ausschließlich der Erbschaftssteuer. (4) Eine Neuveranlagung darf nicht auf eine nach Entstehung des Steueranspruchs erlassene Entscheidung des Reichsfinanzhofs gegründet werden, in der die Steuerpflicht im Gegensatze zu einer früheren, einen gleichen Tatbestand betreffenden höchstrichterlichen Entscheidung bejaht wird.

X. Landesverwaltungsordnung fur Thüringen vom 10. Juni 1926 in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. Juli 1930 (Gesetzsammlung für Thüringen 1926, S. 177 und 1930, S. 123; zit. nach Ipsen S. 188 f.) §141 Erachtet eine Behörde eine von ihr erlassene Verfugung für ungerechtfertigt, so kann sie sie, soweit die §§142 bis 144 und 146 nicht anderes bestimmen, durch eine neue Verfügung zurücknehmen oder ändern, und zwar auch dann, wenn Anfechtung nicht oder nicht mehr zulässig ist. Ist die Verfügung von einer Behörde erlassen worden, die infolge Anfechtung einer vorausgegangenen Verfügung damit befaßt war, so kann diese Behörde die Entscheidung über die Zurücknahme oder Änderung der im ersten Rechtszuge zuständigen Behörde übertragen. §142 I Zuungunsten des Beteiligten kann eine Verfügung ohne seine Zustimmung nur aus überwiegenden Gründen des gemeinen Wohles zurückgenommmen oder geändert werden, es sei denn

Anhang: Wortlaut der im 3. Teil zitierten älteren Gesetze

1. daß und insoweit in ihr ein gesetzlich nicht ausgeschlossener Widerruf vorbehalten worden ist, 2. daß sie von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen worden ist, 3 . daß sie dem zur Zeit ihres Erlasses geltenden Rechte widerspricht, 4. daß das Vorhandensein der für die Verfügung maßgebenden tatsächlichen Verhältnisse auf Grund unrichtiger oder irreführender Angaben des Beteiligten irrig angenommen worden ist, 5. daß sie durch unlautere Mittel veranlaßt worden ist oder 6. daß die Gesetze sonstige Gründe für die Zurücknahme oder Änderung zulassen. II Wenn eine Verfügung nur auf Antrag erlassen werden kann und der Antrag zurückgewiesen worden ist, darf die Verfügung nur auf Antrag geändert werden. III Eine Verfügung, durch die ein Zwangsmittel festgesetzt worden ist, darf nur zugunsten des Betroffenen zurückgenommen oder geändert werden. §143 I Eine Verfügung, durch die eine Erlaubnis, Genehmigung, Bewilligung oder Anerkennung ausgesprochen worden ist, die dem Beteiligten eine Befugnis oder eine Vergünstigung gewährt, oder ihn von einer Pflicht befreit, kann, soweit in ihr nicht ein gesetzlich nicht ausgeschlossener Widerruf vorbehalten worden ist, zuungunsten des Beteiligten ohne seine Zustimmung nur zurückgenommen oder geändert werden, 1. wenn sie von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen worden ist, 2. wenn sie dem zur Zeit ihres Erlasses geltenden Recht widerspricht, 3. wenn und soweit im Falle der Änderung des zur Zeit ihres Erlasses geltenden Rechts von der Erlaubnis usw. noch kein Gebrauch gemacht worden ist und Tatsachen vorliegen, die nach dem neuen Rechte ihre Versagung rechtfertigen würden, 4. wenn sich die tatsächlichen Verhältnisse geändert haben, die für die Verfügung maßgebend waren, 5. wenn das Vorhandensein der für die Verfügung maßgebenden tatsächlichen Verhältnisse auf Grund unrichtiger oder irreführender Angaben des Beteiligten irrig angenommen worden ist,

Anhang: Wortlaut der im 3. Teil zitierten älteren Gesetze

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6. wenn sie durch unlautere Mittel veranlaßt worden ist, 7. wenn deijenige, zu dessen Gunsten die Verfügung erlassen worden ist, die ihm darin bei Gewährung der Erlaubnis usw. auferlegten Verpflichtungen nicht erfüllt oder 8. wenn einer Polizeibehörde ohne ihr Verschulden Tatsachen erst nachträglich bekannt werden, die zur Versagung der von ihr erteilten Erlaubnis usw. berechtigt hätten, und polizeilich zu schützende Interessen gefährdet sind, und wenn in den Fällen der Ziffern 3 und 4 zugleich die Zurücknahme oder die Änderung zur Verhütung oder Beseitigung von überwiegenden Nachteilen oder Gefahren für das gemeine Wohl notwendig ist. Unberührt bleiben die gesetzlichen Vorschriften, die die Möglichkeit der Zurücknahme oder der Änderung weiter beschränken. §144 I Hat in den Fällen des § 142 Abs. I Ziffer 5 und § 143 Ziffer 6 deijenige, zu dessen Gunsten die Verfügung erlassen worden ist, die Anwendung des unlauteren Mittels gekannt, so kann die Verfügung auch mit rückwirkender Kraft zurückgenommen oder geändert werden. II Soweit nicht gesetzliche Vorschriften in weiterem Umfange Schadensersatz zubilligen, ist in den Fällen des § 143 Ziffer 1, 2 und 4 dem Betroffenen für den ihm durch die Zurücknahme oder Änderung entstehenden Schaden im Rahmen der Billigkeit Ersatz zu leisten. Wegen der Entschädigung steht der Rechtsweg offen. §145 I Das auf Zurücknahme oder Änderung einer nicht oder nicht mehr anfechtbaren Verfügung gerichtete Anbringen eines Beteiligten ist, weil die Sache schon entschieden sei, zurückzuweisen, soweit kein Anlaß zur Zurücknahme oder Änderung gemäß den §§ 141 bis 144 besteht. II Die Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bleiben unberührt. §146 I Rechtskräftige Entscheidungen der Verwaltungsgerichte in Rechtsstreitigkeiten können nur im Wege des Wiederaufnahmeverfahrens aufgehoben

Anhang: Wortlaut der im 3. Teil zitierten älteren Gesetze

oder geändert werden. Der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens steht den Beteiligten und dem zuständigen Ministerium aus den in den §§ 579 bis 583 der Zivilprozeßordnung bezeichneten Gründen innerhalb der Ausschlußfrist eines Monats zu. Für die Berechnung der Frist gilt § 586 Abs. II und III daselbst entsprechend. II - IV (...)

X I . Polizeiverwaltungsgesetz vom 1. Juni 1931 (Preußische Gesetzsammlung 1931, S. 77) §42 (1) Die Zurücknahme oder nachträgliche Einschränkung einer polizeilichen Erlaubnis oder Bescheinigung (§ 40) ist vorbehaltlich abweichender gesetzlicher Bestimmung nur zulässig, a) wenn die Erteilung dem bestehenden Rechte widersprach, b) wenn die Erteilung auf Grund von Angaben des Antragstellers erfolgt ist, die in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig waren, c) wenn und soweit im Falle der Änderung des bestehenden Rechtes von der Erlaubnis oder Bescheinigung noch nicht Gebrauch gemacht worden ist und Tatsachen vorliegen, die nach dem neuen Rechte deren Versagung rechtfertigen würden, d) wenn Tatsachen nachträglich eintreten oder abgesehen von b, der Polizeibehörde nachträglich bekannt werden, die die Polizeibehörde zur Versagung der erteilten Erlaubnis oder Bescheinigung berechtigt haben würden, sofern ohne die Zurücknahme der Erlaubnis oder Bescheinigung im einzelnen Falle eine Gefährdung polizeilich zu schützender Interessen eintreten würde. (2) Die Zurücknahme oder nachträgliche Beschränkung einer polizeilichen Erlaubnis oder Bescheinigung kann im polizeilichen Interesse jederzeit erfolgen, wenn die Erteilung unter dem ausdrücklichen Vorbehalte des Widerrufs erfolgt oder die Widerruflichkeit gesetzlich ausdrücklich vorgeschrieben ist.

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Abgabenordnung - Abweichungen vom VwVfg 17 - Befreiung von Vorschriften 24 Abhilfebescheid 124 Abschlag auf die Steuersumme 89 Abschreibung 165 - linear/degressiv 69 Abwasserkanalisation 92 acte administratif 27 Allgemeine Korrekturvoraussetzungen im Steuerrecht 50 allgemeine Korrekturregeln - erste Regelungen in einigen Ländern 36 Allgemeiner Vergleich 53 Änderung der Rechtsprechung 204; 209 Änderung von Hausnummern 66 Anerkennung als steuerbegünstigte Wohnung 173 Anerkennungsbescheid 107 Anlaufhemmung 83 Anschaffungskosten eines Computers 164 Antrag des Adressaten 119 Anwendungsbereich des Verwaltungsverfahrensgesetzes 38 Arbeitsmittel 165 Aufhebung oder Änderung von Grundlagenbescheiden 179 Aufklärungspflichten 31 Ausschlußfrist 79 Außenprüfung 38; 132; 137; 142 außersteuerliche Verwaltungsakte 22

Auswahlermessen 99 - vollständige oder teilweise Korrektur 108 - zeitliche Korrekturwirkung 100 Bagatellsteuern 22 Bauantrag 98 Baugenehmigung 98 Beihilfebescheid 71 Beiträge 21 Bereicherungsanspruch 191 Berücksichtigung von Tatsachen 126 Beschlüsse von Verwaltungsbehörden 32 Besitz- und Verkehrsteuern - Korrektur von Bescheiden 51 Besonderheiten des Steuerrechts 19; 38 Bestandskraft - Zeit bis zur Anerkennung 27 - Zeit nach Anerkennung 33 Beweismittel 139 Bewertungsbescheid 23; 145 Bewertungsgesetz 74; 103 Bindungswirkung 28 Bodenwertanteil 23 Bundesverfassungsgericht 206 Computer 164 Dauerwirkung 100 Deutscher Juristentag 38 Einheitswert 23; 74; 103

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arverzeichnis

Entschließungsermessen 95 Enumerationsprinzip 110 Enumeratives Korrektursystem 49 Ereignis - rückwirkendes 186 Ergebnisse 215 - allgemeiner Vergleich 215 - Vergleich einzelner Korrekturtatbestände 217 Erklärungspflichten 142 Erlaß 18 Erlaß eines Grundlagenbescheides 181 Erlaßzeitpunkt 72 Ermächtigungssystematik 110 Ermessen 94 Ermittlungspflicht 131 Ersetzungsbescheid 57 Erste Korrekturregeln - im Steuerrecht 28 - im Verwaltungsrecht 30 Fahrtenbuchauflagen 69 fehlerhafte Auswertung von Grundlagenbescheiden 183 Festsetzungsfrist als allgemeine Korrekturvoraussetzung 50 Festsetzungsveijährung 38; 78 Finanzbehörde - Begriff 26 Folgeänderung 164 Folgebescheid 38 Folgekorrekturen 172 Fortschreibung 103 Fortschreibung des Einheitswertes 74 Frankreich 27 französische Revolution 27 freie Rücknehmbarkeit als Korrekturgrundsatz 43 Frist - Beginn 82

-

Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG 44 Fristablauf - Hemmung 86 Fristendauer 85 Fristenregelungen - Anwendungsbereich 81 - Art 79 Fristenüberwachung 84 Gaststättenerlaubnis 70 Gebühren 21 gegenläufige Fehler 195 Geldbescheide - Anforderungen an Korrekturregeln 38 Gemeindeverwaltung 20; 21 gemeinsamer Ausschuß des Bundes und der Länder 38 Gerichtshöfe des Bundes 207 Gesetzmäßigkeit der Besteuerung 50; 68 Gestaltungsmöglichkeiten bei zeitlicher Korrekturwirkung 100 gestufte Verfahren 177 Getränkesteuer 21 Gewaltenteilung als Entstehungsgrund für Verwaltungsakte 27 Gewerbesteuer 21; 30 Gewerbesteuerbescheid 21 Gewerbesteuermeßbescheid 105 Gewinnfeststellungsbescheid 174 große Steuern 22 Grundlagenbescheid 38; 52; - Aufhebung und Änderung 179 - Erlaß 181 - fehlerhafte Auswertung 183 Grundsteuer 21 Grundsteuermeßbescheid 22; 75 Haftungsbescheid 20 Haftungsschuldner 20

Sachwortverzeichnis Hauptfeststellung 104 Hausnummern 66 Hemmung von Fristabläufen 80 Hundesteuer 21 irreführende Antragsformulare 130 Jagdsteuer 21 Kalenderverjährung 83 Kinderfreibeträge 191 Kleinbetragsgrenze als allgemeine Korrekturvoraussetzung 50 Kodifikation - des Verwaltungsverfahrensrechts 38 Kodifikation von Rechtsgebieten 15 Kommunalabgabengesetz 21; 92 kommunale Steuerbescheide 21 Kompensation 195 Korrektur - Begriff 25 Korrekturermessen 94 Korrekturfristen 78 Korrekturregeln - historische Entwicklung 27 - Vorläufer 30 Korrekturzeitpunkt 72 Kraftfahrzeugsteuer 108 Kraftfahrzeugsteuerbescheide 75 Landesverwaltungsgesetz - Anwendbarkeit 22 Landesverwaltungsordnung für Thüringen 36 Mantelgesetz 16 - Funktion der Reichsabgabenordnung 40 Massenverfahren als Rechtfertigung 19 Mitwirkungspflichten 142

247

Nachfeststellung 74; 103 neue Beweismittel 139 neue Tatsachen 51 Neufestsetzung 57 neutrale Korrekturen 66 Norddeutscher Bund 31 Norminterpretation 147 Nutzungsdauer 165 Organisationsakte 66 Pauschalermächtigung 110 Periodizität der Veranlagung 38 Preußische Steuerreform 28 preußisches Polizeiverwaltungsgesetz 36 Ratenrückzahlungsbescheide 69 Realsteuern 21 Rechtfertigung der Rechtslage - Massen verfahren 19 - qualifizierte Form des Steuerbescheides 19 - unterschiedliches Steueraufkommen 22 - Widersprüche 19 Rechtfertigung der Unterschiede 19 rechtmäßiges Verwaltungshandeln - Berücksichtigung bei Korrektur 42 Rechtsanwendungsfehler 52; 146 Rechtsfehler 126 Rechtskontinuität im Steuerverfahrensrecht 39 Rechtssicherheit - Berücksichtigung bei Korrekturen 42 Rechtsstaatsprinzip - Berücksichtigung bei Korrekturen 42 Rechtsuneinheitlichkeit 17

248

arverzeichnis

Rechtswidrigkeit des Steuerbescheides - als allgemeine Korrekturvoraussetzung 50 Rechtswidrigkeit von Gesetzen 204 Rechtswidrigkeit von Verwaltungsvorschriften 204 Reichsabgabenordnung 34 - Einfluß auf Fortentwicklung im Steuerrecht 34 - Reform 17; 39 Rentenbescheid 72 rückwirkende Ereignisse 52; 186 Ruhegehaltsansprüche 91 sachlich unzuständige Behörde 117 Schankerlaubnissteuer 22 Schaubild 134 Scheinvater 191 schlichte Änderung 119 Spende 190; 192 Sportverein 192 Steueraufkommen - als Maß fur Korrigierbarkeit 22 steuerbegünstigte Wohnung 173 steuerbegünstigter Wohnraum 22 Steuerberater 162 Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung 51 Steuerhinterziehung 82; 129 Steuerrecht - Begriff 26 - erste Korrekturregeln 28 Steuervergütungsbescheide 64 Steuerverkürzung 129 Stichtagsprinzip 74 Straßenbaubeitragsbescheid 21; 145 Stundung 18 Subventionsbescheide 46 Tatsachen, neue 31; 51 Terminologie

-

Festigung in Literatur und Rechtsprechung 37 - Unterschiede 18 Treu und Glauben 131 Umbenennung einer Straße 66 unbenannte Fehler 195; 196 Ungleichbehandlungen 20 unlautere Mittel 114 Unterbrechung von Fristabläufen 81 Unterschiede - Konzeption der Korrektursysteme 18 - Rechtfertigung 19 - Terminologie 18 Untersuchungsgrundsatz 131 unzuständige Behörde 117 Vaterschaft 192 Veräußerungsgewinn 167 Verfahrensgrundsätze - ungeschriebene 15 Verfristungen 78 Vergleich 53 - Änderung der Rechtsprechung 204; 209 - Auswahlermessen 99 - Bedeutung der Rechtmäßigkeit 67 - bei Begünstigung oder Belastung 59 - einzelne Korrekturtatbestände 114 - Entschließungsermessen 95 - Ermessen bei der Korrektur 94 - Fristbeginn 82 - Fristendauer 85 - geänderte Grundlagenbescheide 172 - gegenläufige Fehler 195 - Hemmung des Fristablaufs 86 - Kompensation 195

Sachwortverzeichnis -

Korrektur bei unlauteren Mitteln 114 - Korrektur Zustimmung oder Antrag 119 - Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes 69 - Rechtswidrigkeit von Gesetzen 204 - Rechtswidrigkeit von Verwaltungsvorschriften 204; 210 - rückwirkende Ereignisse 186 - sachlich unzuständige Behörde 117 - Tatsachenmängel 126 - unbenannte Fehler 195 - Verfristung von Korrekturmöglichkeiten 78 - Veijährungs- und Ausschlußfristen 79 - Wirkung von Korrekturen 54 Vergnügungsteuer 21 Vergütungsbescheide 64 Veijährungsfrist 38; 79 Verkehrszeichen 69 Verlustliste der Rechtseinheit 16; 24 Versorgungsamt 173 Vertrauensschutz - Ausschluß durch Tatbestandsmerkmale 157 - bei Anfechtungsklage eines Dritten 46 - Berücksichtigung bei Korrekturen 42 - Kenntnis der Rechtswidrigkeit 162 - Korrektureinschränkungen 43 - verschiedene Steuersätze 160 Verwaltungsakt - historische Entwicklung 27 - mit Dauerwirkung 69 - über Geld-und Sachleistungen 44

249

Verwaltungsakt mit Dauerwirkung 100 Verwaltungsbehörde - Begriff 26 Verwaltungsrecht - Begriff 26 - erste Korrekturregeln 30 Verwaltungsrechtsordnung - in Württemberg 36 Verwaltungsverfahrensgesetz - Abweichungen von der AO 17 - als allgemeiner Teil 16; 24 - Anwendungsbereich 16; 38 - Beratungen 17 - Entwurf 38 Verwaltungsverfahrensrecht - Abbau von Unterschieden 17 Verwaltungsvorschriften - rechtswidrige 210 Vorläufige Steuerfestsetzungen 51

Wahlrechte 69 Werbungskosten 164 widerstreitende Steuerbescheide 51 widerstreitende Verwaltungsakte 146 Wiederaufgreifen 46; 96; 120; 140; 144; 176 - im engeren Sinne 46 - im weiteren Sinne 47 - Verhältnis zu Rücknahme und Widerruf 48 Wirkung der Korrektur - zeitlich 100

zeitliche Korrekturgrenzen - besondere 143 zeitliche Korrekturwirkung 100

250

arverzeichnis

Zeitpunkt - bei Beurteilung der Rechtmäßigkeit 69 Zustandsstörer 72

Zustimmung des Adressaten 119 Zuwachssteuergesetz 33 Zweitwohnungsteuer 22