Vertrauensschutz bei Erlass, Aufhebung und Änderung von Steuerbescheiden: Verfassungswidrige Steuergesetze, rückwirkende Rechtsprechungsänderungen und rechtswidrige Verwaltungsvorschriften. Zur Reformbedürftigkeit des § 176 AO [1 ed.] 9783428582310, 9783428182312

In einem digitalisierten Besteuerungsverfahren entscheidet ein Algorithmus über den Vertrauensschutz hinsichtlich verfas

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Vertrauensschutz bei Erlass, Aufhebung und Änderung von Steuerbescheiden: Verfassungswidrige Steuergesetze, rückwirkende Rechtsprechungsänderungen und rechtswidrige Verwaltungsvorschriften. Zur Reformbedürftigkeit des § 176 AO [1 ed.]
 9783428582310, 9783428182312

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Schriften zum Steuerrecht Band 157

Vertrauensschutz bei Erlass, Aufhebung und Änderung von Steuerbescheiden Verfassungswidrige Steuergesetze, rückwirkende Rechtsprechungsänderungen und rechtswidrige Verwaltungsvorschriften. Zur Reformbedürftigkeit des § 176 AO

Von

Dennis Christoph Fuchs

Duncker & Humblot · Berlin

DENNIS CHRISTOPH FUCHS

Vertrauensschutz bei Erlass, Aufhebung und Änderung von Steuerbescheiden

S c h r i f t e n z u m St e u e r r e c ht Band 157

Vertrauensschutz bei Erlass, Aufhebung und Änderung von Steuerbescheiden Verfassungswidrige Steuergesetze, rückwirkende Rechtsprechungsänderungen und rechtswidrige Verwaltungsvorschriften. Zur Reformbedürftigkeit des § 176 AO

Von

Dennis Christoph Fuchs

Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Universität Passau hat diese Arbeit im Jahr 2020 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D 739 Alle Rechte vorbehalten

© 2021 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Satz: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0235 ISBN 978-3-428-18231-2 (Print) ISBN 978-3-428-58231-0 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2020/21 von der Juristischen Fakultät der Universität Passau als Dissertation angenommen. Sie ist während meiner Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, insbesondere Finanz- und Steuerrecht von Herrn Professor Dr. Rainer Wernsmann entstanden. Neuere Entwicklungen in der Rechtsprechung und Literatur wurden bis September 2020 berücksichtigt. Größter Dank gebührt meinem Doktorvater Herrn Professor Dr. Rainer Wernsmann, der bereits im Studium mein Interesse für das Steuerrecht geweckt und mich in seiner Eigenschaft als Vertrauensdozent im Max Weber-Programm vielfältig gefördert hat. Er hat diese Arbeit stets bestens betreut. Herrn Professor Dr. Kai von Lewinski danke ich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Bedanken möchte ich mich nicht zuletzt bei Herrn Professor Dr. Holger Altmeppen. An die Zeit als studentische Hilfskraft an seinem Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht denke ich sehr gerne zurück. Bedanken möchte ich mich bei meinen Freunden, die mir stets zur Seite standen. Namentlich hervorheben möchte ich Friederike Berz und Dr. Philipp von Sanden. Meiner Mutter danke ich ganz herzlich für ihren Zuspruch und ihre bedingungslose Unterstützung. Stuttgart, im Dezember 2020

Dennis Fuchs

Inhaltsverzeichnis Einleitung 15 § 1 Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 § 2 Grundlagen des derzeitigen Vertrauensschutzsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 A. Die zeitliche Dimension von Vertrauensschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 I. Vertrauensschutz bei der Aufhebung und Änderung von Verwaltungsakten 18 1. Allgemeines Verwaltungsrecht (§§ 48, 49 VwVfG) . . . . . . . . . . . . . . . . 18 2. Steuerverwaltungsakte (§§ 130, 131 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 3. Steuerbescheide und diesen gleichgestellte Bescheide (§§ 172 ff. AO) . . 24 a) Aufhebung oder Änderung aufgrund neuer Tatsachen (§ 173 Abs. 1 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 aa) Sachverhaltsbezogenes Verständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 bb) Fehlende Rechtserheblichkeit der Tatsache . . . . . . . . . . . . . . . . 28 cc) Nichtberücksichtigung einer rechtserheblichen Tatsache . . . . . . 30 dd) Berücksichtigung einer vergleichbaren rechtserheblichen Tatsache 31 b) Aufhebung oder Änderung aufgrund eines rückwirkenden Ereignisses (§ 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 c) Aufhebung oder Änderung aufgrund von Schreib- oder Rechenfehlern bei Erstellung der Steuererklärung (§ 173a AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 II. Vertrauensschutz nach § 176 AO bei Steuerbescheiden . . . . . . . . . . . . . . . . 34 1. Anwendung als Korrekturbegrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2. Anwendbarkeit auf nicht endgültige Bescheide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 a) Unter Vorbehalt der Nachprüfung ergangene Bescheide (§ 164 Abs. 1 S. 1 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 b) Vorläufige Bescheide (§ 165 Abs. 1 S. 1 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 3. Anwendung im Rahmen der Saldierung gegenläufiger Fehler nach § 177 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 4. Zeitliche Anwendbarkeit des § 176 AO – Abgrenzung von geregeltem und ungeregeltem Vertrauensschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 B. Das Dilemma: Die Differenzierung zwischen abgeschlossenen und nicht abgeschlossenen Veranlagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 I. Problemdarstellung anhand von Beispielsfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 1. Das verfassungswidrige Steuergesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2. Die Änderung höchstrichterlicher Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . 48

8

Inhaltsverzeichnis II. Mögliches „Alles oder nichts“ aufgrund von Zufälligkeiten der automatisierten Steuerfestsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 C. Das Ziel: Vom Verfahrensstand unabhängiger Schutz – Ausblendung von Zufälligkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

Erster Teil



Vertrauensschutz hinsichtlich höchstrichterlicher Rechtsprechung und verfassungswidriger Steuergesetze sowie rechtswidriger Verwaltungsvorschriften nach bisherigem Konzept 53

§ 3 Die Änderung höchstrichterlicher Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 A. Abgeschlossene Veranlagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 I. Bestandskräftige Steuerbescheide (§ 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AO) . . . . . . . . . . 53 1. Änderung von höchstrichterlicher Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 2. Anwendung der bisherigen Rechtsprechung bei der erstmaligen Steuerfestsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 II. Nur wirksame Steuerbescheide: Anwendbarkeit der §§ 172 ff. AO . . . . . . . 56 B. Nicht abgeschlossene Veranlagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 I. Rückwirkung von Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 1. Legitimation der Rückwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2. Vergleich mit rückwirkender Klarstellung durch den Gesetzgeber . . . . . 62 3. Trennung von Rückwirkung und Vertrauensschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 II. Vertrauensschutz bei rückwirkender Rechtsprechungsänderung durch die Judikative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 1. Subjektiver Vertrauensschutz oder objektives Kontinuitätsgebot? . . . . . 64 a) Objektives Kontinuitätsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 b) Subjektiver Vertrauensschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 2. Änderung der Rechtsprechung pro futuro und „prospective overruling“ nach angloamerikanischem Vorbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 III. Übertragbarkeit der Grundsätze über rückwirkende Gesetzesänderungen auf rückwirkende Rechtsprechungsänderungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 1. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rückwirkung von Gesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 2. Anwendungsbeispiel zur Übertragung der Grundsätze auf den Normanwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 3. Übertragbarkeit auf Rechtsprechungsänderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 IV. Schutz durch die Exekutive nach §§ 163, 227 AO durch den Erlass von typisierenden Übergangsregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 1. Typisierungsbefugnis der Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82

Inhaltsverzeichnis

9

2. „Nobile officium“ der Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 3. Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 C. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 § 4 Das verfassungswidrige Steuergesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 A. Abgeschlossene Veranlagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 B. Nicht abgeschlossene Veranlagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 I. Schutz durch die Judikative – Maßgeblichkeit der Tenorierung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 1. Tenorierungsformen des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . 90 a) Nichtigerklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 b) Unvereinbarerklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 2. Auswirkungen der Tenorierung des Bundesverfassungsgerichts für die Anwendung des § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 a) Nichtigerklärung und Wiederaufleben der alten Rechtslage . . . . . . . 95 b) Nichtigerklärung mit rückwirkender (stärker belastender) gesetzgeberischer Neuregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 aa) Schutz des Einzelnen bei abgeschlossenen Veranlagungen . . . . . 97 bb) Schutz des Einzelnen bei nicht abgeschlossenen Veranlagungen 97 c) Nichtigerklärung im Zusammenhang mit Rechtsbehelfen des Steuerpflichtigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 d) Unvereinbarerklärung – Übergangsregelungen und rückwirkendende Neuregelung durch den Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 aa) Disposition in zeitlichem Zusammenhang mit einer Weitergeltungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 bb) Disposition in zeitlichem Zusammenhang mit einer rückwirkenden Neuregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 II. Schutz durch die Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 C. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 § 5 Die rechtswidrige Verwaltungsvorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 A. Typologie der Verwaltungsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 B. Innen- und Außenwirkung von Verwaltungsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 I. Ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 II. Norminterpretierende Verwaltungsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 III. Normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 C. Vertrauensschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 I. Abgeschlossene Veranlagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 II. Nicht abgeschlossene Veranlagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

10

Inhaltsverzeichnis 1. Die Prämisse der h. M. – „Keine Gleichheit im Unrecht“: Aushebelung des Gesetzmäßigkeitsprinzips aufgrund von Vertrauensschutz? . . . . . . . 110 2. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: Gleichheit im Unrecht nur bei Zurechenbarkeit der rechtswidrigen Verwaltungspraxis an den Gesetzgeber? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 3. Erlass von typisierenden Übergangsregelungen nach §§ 163, 227 AO unter Berücksichtigung der restriktiven Tendenzen des Bundesfinanzhofs 115 D. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

Zweiter Teil

Verfassungsmäßigkeit der bisherigen Ausgestaltung von § 176 AO 121

§ 6 Vertrauensbasis der §§ 172 ff. AO und des § 176 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 A. Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 B. Formelle Bestandskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 C. Materielle Bestandskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 § 7 Steuerbescheid als gesetzlicher Anknüpfungspunkt für Vertrauensschutz . . . . . . . . 127 A. Verwaltungsakte als Vertrauensträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 B. Eignung des Steuerbescheids (belastender Verwaltungsakt) als Vertrauensträger im Rahmen des § 176 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 C. Erfordernis der Vertrauensbetätigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 D. Schutzwürdigkeit von Vertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 I. Keine Voraussetzung des § 176 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 II. Maßgeblichkeit des Vertrauensträgers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 1. Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 2. Existenz des Steuerbescheids . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 E. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 § 8 Vereinbarkeit des § 176 AO mit dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 A. Struktur des allgemeinen Gleichheitssatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 B. Gleichheitswidriger Begünstigungsausschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 C. Gleichheitswidrige Begünstigung durch § 176 AO? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 I. Vergleichsgruppen und gemeinsamer Oberbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 II. Rechtfertigung der Ungleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 1. Bindungsintensität des Gleichheitssatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

Inhaltsverzeichnis

11

2. Rechtfertigung durch sachbezogene Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 a) Typisierter Schutz des Vertrauens auf die Rechtslage . . . . . . . . . . . . 143 b) Schutz des (bestandskräftigen) Steuerbescheids . . . . . . . . . . . . . . . . 144 D. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

Dritter Teil

Ein Reformvorschlag für Vertrauensschutz 148

§ 9 Gleichbehandlung der Fallgruppen durch Aufhebung des § 176 AO? . . . . . . . . . . . 148 § 10 Erstreckung auf den erstmaligen Erlass eines Steuerbescheids . . . . . . . . . . . . . . . . 149 A. Rechtslage als Vertrauensträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 I. Verfassungswidriges Steuergesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 II. Höchstrichterliche Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 III. Verwaltungsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 B. Erfordernis einer Disposition? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 C. Schutzwürdigkeit von Vertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 I. Verfassungswidriges Steuergesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 II. Höchstrichterliche Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 D. Anknüpfungspunkt der gesetzlichen Regelung: Abschluss des Veranlagungszeitraums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 E. Formulierungsvorschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 I. Steuerfestsetzung durch Steuerbescheid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 II. Steueranmeldungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 § 11 Modifizierung der Korrekturnormen infolge des Vertrauensträgerwechsels . . . . . . 165 A. Einführung einer Korrekturpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 B. Änderung des § 176 AO als Korrektureinschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 § 12 Auswirkungen des Reformvorschlags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

Vierter Teil

Abschließende Bewertung 169

§ 13 Kernthesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188

Abkürzungsverzeichnis A. A. (a. A.) Andere / Abweichende Ansicht a. E. am Ende alte Fassung a. F. Abs. Absatz Abschn. Abschnitt abw. abweichend Alt. Alternative Anm. Anmerkung AO Abgabenordnung Archiv des öffentlichen Rechts AöR AO-StB AO Steuerberater (Zeitschrift) Art. Artikel Betriebs-Berater (Zeitschrift) BB Begr. Begründer Beih. Beihefter Beschl. Beschluss BFH Bundesfinanzhof Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des BFH (Zeitschrift) BFH NV BMF Bundesfinanzministerium BStBl Bundessteuerblatt BT-Drucks. Bundestags-Drucksache BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerfGE Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerwG Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts BVerwGE bzgl. bezüglich bzw. beziehungsweise das heißt d. h. Der Betrieb (Zeitschrift) DB ders. derselbe dies. dieselbe / n DÖV Die Öffentliche Verwaltung (Zeitschrift) Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft DStJG Deutsches Steuerrecht (Zeitschrift) DStR Deutsches Steuerrecht Entscheidungsdienst (Zeitschrift) DStRE Deutsche Steuer-Zeitung (Zeitschrift) DStZ Deutsches Verwaltungsblatt DVBl. ebd. ebenda Entscheidungen der Finanzgerichte (Zeitschrift) EFG Einf. Einführung Einl. Einleitung

Abkürzungsverzeichnis Erstkomm. Erstkommentierung EStG Einkommensteuergesetz folgende (Seite, Randnummer) f. folgende (Seiten, Randnummern) ff. FG Finanzgericht FGO Finanzgerichtsordnung Fn. Fußnote Finanz-Rundschau (Zeitschrift) FR FS Festschrift gem. gemäß GewStG Gewerbesteuergesetz GG Grundgesetz ggf. gegebenenfalls Gesellschaft mit beschränkter Haftung GmbH GmbH-Rundschau (Zeitschrift) GmbHR GmS-OGB Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes GrEStG Grunderwerbsteuergesetz Großer Senat GrS GS Gedächtnisschrift herrschende Meinung h. M. Hrsg. Herausgeber Hs. Halbsatz Handbuch des Staatsrechts HStR in der Fassung i. d. F. im Sinne des / der i. S. d. im Sinne von i. S. v. in Verbindung mit i. V. m. Juristische Arbeitsblätter (Zeitschrift) JA Jahrbuch der Fachanwälte für Steuerrecht JbFfSt JStG Jahressteuergesetz Juristische Ausbildung (Zeitschrift) Jura Jurisitsche Schulung (Zeitschrift) JuS Juristenzeitung (Zeitschrift) JZ KAG Kommunalabgabengesetz Kölner Steuerdialog (Zeitschrift) KÖSDI krit. kritisch KStG Körperschaftsteuergesetz lit. Buchstabe mit weiteren Nachweisen m. w. N. Mehrwertsteuerrecht (Zeitschrift) MwStR neue Fassung n. F. Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift) NJW Nr. Nummer Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht NVwZ NVwZ-RR Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht – Rechtsprechungsreport Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht NZG OFD Oberfinanzdirektion RFH Reichsfinanzhof

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Abkürzungsverzeichnis

RGBl. Reichsgesetzblatt Randnummer / n Rn. s. siehe Seiten / n oder Satz S. sc. scilicet sog. sogenannte / r ständige Rechtsprechung st. Rspr. Die Steuerberatung (Zeitschrift) Stbg StbJB Steuerberater-Jahrbuch StKongRep Steuer-Kongress-Report StRO Steuerrechtsordnung Steuer und Wirtschaft (Zeitschrift) StuW und andere u. a. Die Unternehmensbesteuerung (Zeitschrift) Ubg Urt. Urteil UStG Umsatzsteuergesetz von / vom v. VerwR Verwaltungsrecht vgl. vergleiche Vor Vorbemerkungen VVDStRL Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatslehrer VwVfG Verwaltungsverfahrensgesetz zum Beispiel z. B. Zeitschrift für Erbrecht und Vermögensnachfolge ZEV zit. zitiert zust. zustimmend

Einleitung § 1 Gang der Darstellung Der verfassungsrechtlich fundierte Vertrauensschutz erfuhr in den letzten Jahrzehnten einen kometenhaften Aufstieg1. Gegenstand dieser Untersuchung ist die Frage, inwieweit ein solcher bei dem erstmaligen Erlass eines Steuerbescheids verwirklicht werden kann. Dieser Themenkomplex ist eng mit der Vorschrift des § 176 AO verwoben, auf dessen Reichweite eingegangen wird. Die Vorschrift verbietet die für den Steuerpflichtigen ungünstige Berücksichtigung von Folgen (1) einer Nichtigerklärung einer Steuernorm durch das Bundesverfassungsgericht (§ 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO), (2) einer Nichtanwendung eines nichtförmlichen oder förmlichen vorkonstitutionellen Gesetzes durch ein oberstes Bundesgericht (§ 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO) und (3) einer geänderten Rechtsprechung eines obersten Bundesgerichts (§ 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AO)2 sowie (4) einer rechtswidrigen Verwaltungsvorschrift (§ 176 Abs. 2 AO) bei der Aufhebung oder Änderung von Steuerbescheiden. Diese Rechtslageänderungen nimmt die Untersuchung in den Fokus. Die Norm des § 176 AO stellt eine einfachgesetzliche Ausprägung von Vertrauensschutz dar3. Ihr Anwendungsbereich ist jedoch zu schmal4, was sich aus dem Umstand ergibt, dass diese das Vertrauen der Steuerpflichtigen nur dann schützt, 1

So Maurer, in: HStR IV3, § 79, Rn. 5; F. Ossenbühl, DÖV 1970, 264 (266) spricht von einem „Siegeszug“. 2 Hinsichtlich der Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung ähnlich bereits § 212 Abs. 4 RAO [RGBl. I 1919, 1993 (2045)], der die in Abs. 2 und Abs. 3 unter gewissen Voraussetzungen geregelte Neuveranlagung des Steuerpflichtigen ausschloss, wenn ein Urteil des RFH die Steuerpflicht entgegen einem früheren Urteil bejahte. 3 v. Wedelstädt, in: Beermann / Gosch, AO / FGO, § 176, Rn. 1. 4 Dies wird häufig kritisiert, vgl. BFH GrS, BStBl II 2008, 608 (618) zu § 10d EStG; Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 4, Rn. 187; v. Wedelstädt, in: Beermann / Gosch, AO / FGO, § 176, Rn. 1 sieht in § 176 AO einen „unvollständigen Versuch“ einer Regelung; nach Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 176, Rn. 1 soll die Norm ein bloßer Anstoß zur Diskussion sein; Dötsch, DStR 2009, 409 (411); Hey, Steuerplanungssicherheit, S. 594; dies., DStR 2004, 1897 (1904); Seer, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 21, Rn. 453 kritisiert, dass die Norm auf die Rechtslage im Zeitpunkt des Bescheid-Erlasses Bezug nimmt, der Steuerpflichtige seine Dispositionen jedoch früher vorgenommen habe. Daher müsse das Vertrauen bereits in diesem Zeitraum geschützt werden. Auch BVerfGE 99, 280 (299 f.) kritisiert die Vorschrift inzidenter, wenn die Weitergeltung einer verfassungswidrigen begünstigenden Vorschrift (hier eine Verschonungssubvention) für die Vergangenheit mit dem Argument gerechtfertigt wird, dass aufgrund der fehlenden Anwendbarkeit des § 176 AO im finanzgerichtlichen Verfahren diejenigen „unangemessen benachteiligt“ würden, die ein solches Verfahren mit dem Bestreben

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Einleitung

wenn die für den Steuerpflichtigen günstige Rechtslage bereits in einem Steuerbescheid berücksichtigt wurde. Für nicht abgeschlossene Verfahren gewährt die Norm keinen Vertrauensschutz, sie ist auf den erstmaligen Erlass eines Steuerbescheids nicht anwendbar5. Bereits häufiger wurde der Wunsch einer Extension des § 176 AO auf erstmalig erlassene Steuerbescheide geäußert6. Bislang wurde eine solche aber nicht umgesetzt. Wird das Vertrauen der Steuerpflichtigen bei dem erstmaligen Erlass eines Steuerbescheids durch § 176 AO nicht geschützt, so ist dies unbefriedigend, da infolge dessen nur „ein kleiner Ausschnitt“7 von Vertrauensschutz explizit gesetzlich geregelt ist. Vor diesem Hintergrund entwickelten sich verschiedene Mechanismen, welche Vertrauensschutz in Verbindung mit der gesetzlichen Regelung über den gesamten Zeitraum verwirklichen sollen. Dem Verfahrensstadium kommt hierbei besondere Bedeutung zu und es kristallisiert sich heraus, dass die Verflechtung zwischen gesetzlicher Regelung, die Vertrauensschutz nur hinsichtlich abgeschlossener Veranlagungen gewährt, und den Schutzkonzepten nach den jeweiligen Fallkonstellationen, die gesetzlich nicht geregelt sind, komplex ist. Dies führt häufig dazu, dass Vertrauensschutz „nach Gutdünken mal gewährt, mal versagt werden kann“8. In einem ersten Teil werden diese Vertrauensschutzkonzepte hinsichtlich höchstrichterlicher Rechtsprechung, verfassungswidriger Steuergesetze sowie rechts­ widriger Verwaltungsvorschriften aufgezeigt. Im zweiten Teil wird die Verfassungsmäßigkeit des § 176 AO in zweierlei Hinsicht beleuchtet werden. Zum einen wird dargestellt, welche Anforderungen Verder Abzugsfähigkeit von weiteren Werbungskosten durchführen (wie die Klägerin im Ausgangsfall). 5 So die st. Rspr.: BFH BStBl II 2002, 840 (841); BFH NV 2002, 1014 (1015); NV 2003, 593 und die Literatur, vgl. Rogall / Curdt, Ubg 2013, 345 (352); v. Wedelstädt, in: Beermann / Gosch, AO / FGO, § 176, Rn.  13; Bartone, in: Kühn / v. Wedelstädt, AO / FGO, § 176, Rn. 9; Koenig, in: Koenig, AO, § 176, Rn. 4; Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 176, Rn. 3; v. Groll, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 176, Rn.  67; Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 176, Rn. 20 (der zutreffend konstatiert, dass dies ein wesentlicher Mangel der Norm ist); Arndt / Jenzen / Fetzer, Allgemeines Steuerrecht, S. 270; Seibel, in: Lippross, Basiskomm. Steuerrecht, § 176, Rn. 6; Rüsken, in: Klein, AO, § 176, Rn. 1a. 6 Rose, Stbg 1999, 401, (409) erwägt eine Ausweitung der Norm de lege ferenda; Felix, KÖSDI 1986, 6509 (6512) befürwortet eine Ausdehnung auf den Zeitraum zwischen der Disposition und der Bekanntgabe des Steuerbescheids. An die Disposition, dessen Vornahme in der Hand des Bürgers liegt, kann das abstrakt-generelle Gesetz indes bereits regelungstechnisch nicht anknüpfen. Der Dispositionsschutz wäre vielmehr Folge der Erweiterung einer Vorschrift wie § 176 AO. Auch Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 176, Rn. 7 regt eine gesetzgeberische Neuregelung an. v. Groll, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 176, Rn. 95 sieht hingegen keinen Bedarf für eine Änderung der Norm, da Vertrauensschutz in allen nicht erfassten Konstellationen durch allgemeine Rechtsgrundsätze sichergestellt sei. Der erste Teil der Untersuchung wird diese Aussage widerlegen. 7 Tiedtke / Szczesny, NJW 2002, 3733 (3738). 8 So formuliert Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 3, Rn. 281.

§ 2 Grundlagen des derzeitigen Vertrauensschutzsystems

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trauensschutz aus Perspektive des Verfassungsrechts an gesetzliche Regelungen stellt. Sodann wird erörtert, ob § 176 AO diese Anforderungen erfüllt. Dabei wird die Bedeutung des Verwaltungsakts für Vertrauensschutz aufgezeigt werden. Nicht behandelt wird die verfassungsrechtliche Herleitung von Vertrauensschutz9. Zum anderen wird der Frage nachgegangen, ob § 176 AO den Anforderungen des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) genügt. Es soll festgestellt werden, ob die Norm aufgrund der Zufälligkeiten für Vertrauensschutz, die von ihr ausgelöst werden, nur unzweckmäßig oder sogar verfassungswidrig ist. Im dritten Teil soll die Darstellung einen gesetzlichen Reformvorschlag erarbeiten, der nicht an den Veranlagungsstand anknüpft und damit einen gleichmäßigen Vertrauensschutz verwirklicht. Ein solcher ist zudem bereits beim erstmaligen Erlass eines Steuerbescheids anwendbar. In einem abschließenden vierten Teil werden wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst.

§ 2 Grundlagen des derzeitigen Vertrauensschutzsystems A. Die zeitliche Dimension von Vertrauensschutz Das Verfahrensstadium bestimmt, wie Vertrauensschutz nach derzeitigem Ansatz realisiert wird. Die Schutzmechanismen werden im Folgenden aufgezeigt. In zeitlicher Hinsicht kann sich die Frage des Vertrauensschutzes ab dem Beginn des jeweiligen Veranlagungszeitraums stellen. Ab diesem Zeitpunkt tätigt der Steuerpflichtige Dispositionen10, dessen Gefahr der Entwertung er sich durch Rechtslageänderungen ausgesetzt sieht. Vertrauensschutz bis zum Erlass des Steuerbescheids regelt der Gesetzgeber nicht. Erst für abgeschlossene Veranlagungen wird Vertrauensschutz auf eine gesetzliche Grundlage gestellt. Dort wird ein solcher über die Vorschriften zur Aufhebung und Änderung von Steuerbescheiden realisiert (§§ 172 ff. AO). Nicht immer ist deren Schutz ausreichend. Dem versucht § 176 AO Rechnung zu tragen. Erst mit dem Erlöschen des Steueranspruchs durch Festsetzungsverjährung (§ 47 i. V. m. 9

Dieser folgt aus dem Rechtstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3, 28 Abs. 1 S. 1 GG) und den Grundrechten, wenn deren Schutzbereich eröffnet ist, vgl. Maurer, in: HStR IV3, § 79, Rn. 41 f. Jedoch fällt die Abwägung bei der Grundrechtsprüfung zwischen dem Interesse des Einzelnen, die Rechtsfolgen seiner Handlungen vorhersehen zu können, und dem Interesse des Staates, auf den gesellschaftlichen Wandel und andere Fehlentwicklungen durch fungible Gesetzgebung reagieren zu können (bei rückwirkender Gesetzgebung), nicht anders aus, wenn man das Rechtsstaatsprinzip dieser Abwägung zugrunde legt, vgl. Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 4, Rn. 717, 720 m. w. N. zur Judikatur des BVerfG. 10 Unter einer Disposition wird jede vermögenswirksame Handlung des Bürgers verstanden, vgl. Ruffert, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 24, Rn. 30; Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 48, Rn.  143.

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Einleitung

§§ 169 bis 171 AO) spielt Vertrauensschutz keine Rolle mehr. Die Steuerfestsetzung ist dann endgültig11. I. Vertrauensschutz bei der Aufhebung und Änderung von Verwaltungsakten Die Art und Weise, wie Vertrauensschutz bei der Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte (§ 48 VwVfG, § 130 AO), bei dem Widerruf rechtmäßiger Verwaltungsakte (§ 49 VwVfG, § 131 AO) sowie bei der Aufhebung und Änderung von Steuerbescheiden (§§ 172 ff. AO) gesetzgeberisch realisiert wird, fällt unterschiedlich aus. Die verschiedenen „Spielarten des Vertrauensschutzes“12, die den Normen innewohnen, werden kurz aufgezeigt. Die §§ 48, 49 VwVfG sind zwar Teil des allgemeinen Verwaltungsrechts, sie sind jedoch auch im Abgabenrecht nicht irrelevant, weil die spezielleren Vorschriften der §§ 130, 131 AO diesen im Wesentlichen nachgebildet sind13. Im weiteren Verlauf der Arbeit kann die Regelungstechnik der §§ 48, 49 VwVfG ferner bei der Bestimmung des Vertrauensträgers des § 176 AO argumentativ fruchtbar gemacht werden14. 1. Allgemeines Verwaltungsrecht (§§ 48, 49 VwVfG) Die gesetzlichen Regelungen des allgemeinen Verwaltungsrechts verwirklichen Vertrauensschutz nach ihrem Wortlaut nur für begünstigende Verwaltungsakte15. Sie kodifizieren die Abwägung zwischen dem Interesse des Einzelnen an der Beständigkeit staatlicher Entscheidungen (bzw. daran, dass keine Vermögensnachteile entstehen) und dem öffentlichen Interesse an der Aufhebung der Entscheidung16. So bringen §§ 48 Abs. 1 S. 2, 48 Abs. 2 S. 1 VwVfG für Geldleistungsbescheide und Bescheide, die sonstige Sachleistungen gewähren (sog. Leistungsbescheide), Vertrauensschutz durch eine Einschränkung der Aufhebbarkeit rechtswidriger Verwaltungsakte nach § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG zum Ausdruck. Teilweise wird davon ausgegangen, dass die in §§ 48 Abs. 1 S. 2, 48 Abs. 2 S. 1 VwVfG genannten Fälle Tatbestandsmerkmale sind, die nicht vorliegen dürfen (sog. negative Tatbestands-

11 Die Festsetzung der Steuer hat nur deklaratorische Wirkung (§ 38 AO), vgl. auch Kemmler, Geldschulden, S. 29–32 unter Einbeziehung der Historie. § 81 S. 2 RAO 1919 regelte noch explizit, dass die Entstehung der Steuerschuld nicht von deren Festsetzung abhängt. 12 So die Formulierung von Maurer, FS Boorberg Verlag, S. 223 (226). 13 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, Vor §§ 130–133, Rn. 10; Birk / Desens / Tappe, Steuerrecht, Rn. 402; Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, Vor § 172, Rn. 6. 14 S. hierzu § 6 der Untersuchung. 15 Maurer, in: HStR IV3, § 79, Rn. 107. 16 S. die Leitentscheidung BVerfGE 59, 128 (152), wonach die Berücksichtigung von Vertrauensschutz bei der Aufhebung von begünstigenden Verwaltungsakten zwingend ist.

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merkmale17), um die Rücknahmemöglichkeit zu eröffnen18. Überwiegend wird jedoch angenommen, dass die vertrauensschützende Vorschrift des § 48 Abs. 2 S. 1 VwVfG das Rücknahmeermessen (§ 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG) einschränkt19. Konsequenterweise wird das behördliche Ermessen auch durch die Ausschlussgründe des § 48 Abs. 2 S. 3 VwVfG beeinflusst. Liegt etwa ein solcher vor, bleibt es der Behörde zwar grundsätzlich unbenommen, den Verwaltungsakt aus anderen Gründen aufrechtzuerhalten20, das Ermessen ist jedoch in diesen Fällen dahingehend vorgeprägt, dass die Aufrechterhaltung die Ausnahme bleiben muss21. Liegen die Voraussetzungen für Vertrauensschutz vor, hat also der Einzelne auf den Bestand des Verwaltungsakts vertraut (subjektive Komponente) und ist dieses Vertrauen nach Abwägung mit öffentlichen Interessen schutzwürdig (objektive Komponente), wird dieser durch die Aufrechterhaltung des Verwaltungsakts verwirklicht. Der Grund hierfür besteht darin, dass der dem Einzelnen entstandene Vermögensnachteil ausgeglichen werden müsste, würde der Leistungsbescheid aufgehoben werden22. Nach § 49a Abs. 1 S. 1 VwVfG würde der Staat die dem Bürger durch Verwaltungsakt gewährte Leistung zurückerhalten. Dieses Hin- und Herzahlen verhindert das Gesetz in Gestalt einer Aufrechnung durch die Aufrechterhaltung des Bescheids23. Insoweit bedeutet Vertrauensschutz bei Leistungsbescheiden Bestandsschutz24. Diametral hierzu wird die Rücknahmemöglichkeit von sonstigen Verwaltungsakten nach § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG, die keine Geld- oder Sachleistung gewähren, durch § 48 Abs. 3 S. 1 VwVfG nicht eingeschränkt25, wodurch dem Prinzip der Ge-

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Blanke, Vertrauensschutz, S. 174. OVG Münster, NVwZ-RR 1997, 585 (586). 19 Vgl. z. B. Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 48, Rn. 135. 20 Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 48, Rn. 148; Erichsen / Brügge, Jura 1999, 155 (159) mit Fn 57; a. A. Ruffert, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 24, Rn. 33. 21 BVerwG, Urt. v. 23. 05. 1996 – 3 C 13.94, Rz 51 (juris) im Hinblick auf die Vorschrift des § 48 Abs. 2 S. 4 VwVfG. Demnach müssen nicht nur besondere Gründe vorliegen, wenn der Verwaltungsakt nur mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben wird, sondern auch, wenn auf die Rücknahme gänzlich verzichtet werden soll. Ebenso Müller, in: Bader / Ronellenfitsch, VwVfG, § 48, Rn. 40. Der BFH [BStBl II 2007, 742 (744)] nimmt ein intendiertes Ermessen auch für die Fälle des § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO an. Kritisch zur Begründung des BFH Popel, Das vorgeprägte und intendierte Ermessen im Steuerrecht, S. 224–226. 22 Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 48, Rn. 114, 178. 23 Maurer, FS Boorberg Verlag, S. 238 f; Müller, in: Bader / Ronellenfitsch, VwVfG, § 48, Rn. 48. 24 Maurer, in: HStR IV3, § 79, Rn. 94; differenzierter ders., FS Boorberg Verlag, S. 223 (243), wonach Bestandsschutz nur Folge der ersparten Geldrechnung ist (Kern des Vertrauensschutzes bleibe der Vermögensschutz, der aus dem Ausgleichsanspruch des Bürgers folge); Erichsen / Brügge, Jura 1999, 155 (158); Blanke, Vertrauensschutz, S. 179; Ruffert, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 24, Rn. 26. 25 Ruffert, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 24, Rn. 35; Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 48, Rn.  175. 18

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Einleitung

setzmäßigkeit größere Bedeutung zukommt26. Durch Abs. 3 wird Vertrauensschutz nicht durch die Einengung der Rücknahme realisiert, sondern über die Rechtsfolgen der Aufhebung27. Rechtsfolge ist der Ausgleich des Vermögensnachteils, weshalb Vertrauensschutz insoweit Vermögensschutz bedeutet28. Häufig kann ein Vermögensausgleich den Interessen des Bürgers jedoch nicht hinreichend Rechnung tragen29, z. B. weil sich das Bestandsvertrauen nicht in Geld beziffern lässt30, weshalb verfassungsrechtliche Zweifel an der Norm des § 48 Abs. 3 S. 1 VwVfG geäußert werden31. Dann besteht allein die Möglichkeit, die Aufhebung auch hier dadurch zu verhindern, dass Vertrauensschutz bei der Ermessensbetätigung der Behörde nach § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG berücksichtigt wird32. Auch bei sonstigen Verwaltungsakten kann Vertrauensschutz somit Bestandsschutz bedeuten33. Das Vertrauensschutzprinzip ist beim Widerruf rechtmäßiger Verwaltungsakte gesetzlich anders ausgestaltet. Ein solcher ist zwar in § 49 Abs. 2 S. 1 VwVfG nicht ausdrücklich geregelt34, jedoch kommt Vertrauensschutz in diesen Normen zum Ausdruck35. Sie erlauben die Aufhebung nur, wenn die gesetzlich enumerativ aufgeführten Fälle vorliegen und bei Nichtvorliegen dieser Voraussetzungen muss der Verwaltungsakt Bestand haben. Der Gesetzgeber unterstellt in allen nicht geregel­ 26

Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 48, Rn. 113. Baumeister, in: Obermayer / Funke-Kaiser, VwVfG, § 48, Rn. 94. 28 Erichsen / Brügge, Jura 1999, 155 (162); Kastner, in: Fehling / Kastner / Störmer, VerwR, § 48, Rn. 57. 29 Pietzcker, NJW 1981, 2087 (2092); Maurer, FS Boorberg Verlag, S. 223 (242). 30 Erichsen / Brügge, Jura 1999, 155 (162). 31 Kastner, in: Fehling / Kastner / Störmer, VerwR, § 48, Rn. 56, der aber durch eine Berücksichtigung von Vertrauensschutz in Form eines Bestandsschutzes (auch) für die Fälle des § 48 Abs. 3 S. 1 VwVfG in Gestalt einer entsprechenden Ermessensausübung der Behörden verfassungsrechtliche Zweifel ausräumen will. Auch Häberle, FS Boorberg Verlag, S. 47 (86–88) zweifelt an der Verfassungsmäßigkeit des § 48 Abs. 3 S. 1 VwVfG. Blanke, Vertrauensschutz, S. 185–189 erachtet Vermögensausgleich als Rechtsfolge von Vertrauensschutz demgegenüber als verfassungsgemäß. 32 Häberle, FS Boorberg Verlag, S. 47 (88); Götz, NJW 1976, 1425 (1429); Müller, in: Bader / ​ Ronellenfitsch, VwVfG, § 48, Rn. 87; BVerwG, Beschl. v. 7. 11. 2000 – 8 B 137/00, NVwZ-RR 2001, 198 (199); Stelkens, JuS 1984, 930 (935); a. A. Erichsen / Brügge, Jura 1999, 155 (162), nach denen die Entstehungsgeschichte und die Systematik der Vorschrift eine solche Interpretation nicht zulassen; Merten, NJW 1983, 1993 (1998). 33 Zu eng BVerwG, Urt. v. 28. 1. 2010 – 3 C 17/09, NVwZ-RR 2010, 801 (803), wonach Verwaltungsakte, die keine Leistungsbescheide sind (also nicht unter § 48 Abs. 2 VwVfG fallen), ohne Rücksicht auf Vertrauensschutz zurückgenommen werden dürfen, da der Gesetzgeber bei diesen den Konflikt zwischen Rechtsrichtigkeit und Rechtssicherheit zugunsten der Rechtsrichtigkeit aufgelöst habe. Die Verpflichtung zum Ausgleich des Vermögensnachteils sei das Äquivalent zur freien Aufhebbarkeit. 34 In den Fällen des § 49 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 und 2 VwVfG kann sich kein schutzwürdiges Vertrauen bilden, weil der Bürger im Fall von Nr. 1 mit der Aufhebung rechnen muss und der Widerruf im Fall von Nr. 2 aus seiner Sphäre stammt, vgl. Ramsauer, in: Kopp / Ramsauer, VwVfG, § 49, Rn. 28. 35 Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 49, Rn. 33. Nach BVerwG, Urt. v. 24. 01. 1992 – 7 C 38/90, NVwZ 1992, 565 (566) ist Vertrauensschutz in diesen Regelungen „eingearbeitet“. 27

§ 2 Grundlagen des derzeitigen Vertrauensschutzsystems

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ten Fällen die Schutzwürdigkeit des Vertrauens36. Wenn hingegen die Voraussetzungen von § 49 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 bis 5 VwVfG vorliegen, wird der Betroffene für etwaige Vermögensnachteile, die er im Vertrauen auf den Bestand des Verwaltungsakts erlitten hat, nach § 49 Abs. 6 S. 1 VwVfG entschädigt. Das Ermessen ist in diesen Fällen im Sinne des Widerrufs vorgeprägt37. Dann bedarf es besonderer Begründung, wenn der Verwaltungsakt deshalb Bestand haben soll, weil der gesetzlich normierte Vertrauensschutz (Entschädigung nach § 49 Abs. 6 S. 1 VwVfG) nicht ausreicht38. Es kann auch bei Vorliegen eines Widerrufsgrunds (§ 49 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 bis Nr. 5 VwVfG) erwogen werden, dass die Behörde ihr Ermessen dahin ausübt, den Verwaltungsakt bestehen zu lassen, um Vertrauen zu schützen. Dies ist konsequent, denn nach überzeugender Auffassung kann das behördliche Ermessen auch in den Fällen des § 48 Abs. 3 S. 1 VwVfG im Einzelfall unberührt bleiben, wenn Konstellationen auftreten, für welche Vermögenskompensation insuffizient ist. Dann muss es auch bei Vorliegen der Voraussetzungen von § 49 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 bis 5 VwVfG möglich sein, das Vertrauen auf andere Weise zu schützen als durch Vermögenskompensation nach § 49 Abs. 6 S. 1 VwVfG39. Schon die Vorschriften des allgemeinen Verwaltungsrechts realisieren Vertrauensschutz bei der Aufhebung von Verwaltungsakten also sehr differenziert. 2. Steuerverwaltungsakte (§§ 130, 131 AO) Die §§ 130, 131 AO regeln die Aufhebungsmöglichkeit von allgemeinen Steuerverwaltungsakten durch die Behörden40. Die Norm des § 130 AO bezieht sich auf rechtswidrige Steuerverwaltungsakte und trifft einen Ausgleich zwischen den Verfassungsprinzipien der Rechtssicherheit (als Subprinzip des Rechtsstaatsprinzips, Art. 20 Abs. 3 GG) und der Rechtsrichtigkeit (Art. 20 Abs. 3 GG)41. Rechtmäßige Steuerverwaltungsakte können nach § 131 AO aufgehoben werden. Für Steuerbescheide und vom Gesetz gleichgestellte Bescheide gelten die §§ 130, 131  AO nicht – ihre Korrektur richtet sich gemäß § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 lit. d AO nach den besonderen Regelungen der §§ 172 ff. AO. Die Vorschriften der §§ 130, 131 AO 36

Maurer, FS Boorberg Verlag, S. 223 (255). BVerwG, Urt. v. 24. 01. 1992 – 7 C 38/90, NVwZ 1992, 565 (566). 38 BVerwG, Urt. v. 24. 01. 1992 – 7 C 38/90, NVwZ 1992, 565 (566). 39 Dies befürwortend auch Ramsauer, in: Kopp / Ramsauer, VwVfG, § 49, Rn. 61a und Rn. 61b, da die geregelten Fallgruppen zu allgemein gefasst sind und die Vielschichtigkeit der Einzelfälle nicht abbilden können. 40 Auch landesrechtliche Vorschriften erklären die §§ 130, 131 AO für die Aufhebung von Kommunalabgabebescheiden für entsprechend anwendbar, s. z. B. Art. 13 Abs. 1 Nr. 3 lit. b BayKAG oder § 11 Abs. 1 Nr. 3 lit. b NKAG. Dort macht sich die fehlende Anpassung der Vorschriften an die Besonderheiten von Geldbescheiden bemerkbar, dazu sogleich im Text. 41 Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, Vor § 130, Rn. 3; Bilsdorfer, NJW 1982, 2408 (2410); v. Wedelstädt, in: Beermann / Gosch, AO / FGO, § 130, Rn. 3; Beermann, Verwirkung und Vertrauensschutz, S. 63. 37

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sind denjenigen des allgemeinen Verwaltungsrechts nachgebildet42, was häufig als Schwäche des Korrektursystems der AO angeführt wird. Aufgrund der Tatsache, dass das VwVfG anhand der Gegebenheiten des Polizeirechts, des Gewerberechts und des öffentlichen Sachenrechts entwickelt wurde43, können die §§ 130, 131 AO den Besonderheiten des Abgabenrechts nicht hinreichend Rechnung tragen. Zwar erlaubt § 130 AO die teilweise Rücknahme eines Verwaltungsakts, soweit dieser teilbar und teilweise rechtswidrig ist44. Da die §§ 130, 131 AO nur für abgabenrechtliche Verwaltungsakte gelten, die immer teilbar sind, ist eine Einschränkung des Regelungsinhalts durch Teilrücknahme (etwa die Herabsetzung der Haftungssumme) somit möglich, was faktisch eine Änderung des Bescheids darstellt45. Nicht ohne Weiteres dem Gesetz entnommen werden kann hingegen die umgekehrte Situation der Erweiterung des Regelungsgehalts (also etwa die Erhöhung einer Haftungssumme). Da die §§ 130, 131 AO die Korrektur von Geldbescheiden nicht vorsehen, deren Korsett nur auf ganze oder teilweise Aufhebung zugeschnitten ist, kann eine solche richiger Ansicht nach nur durch Aufhebung des ursprünglichen Bescheids und Erlass eines neuen Bescheids, der den gesamten Sachverhalt berücksichtigt, erreicht werden46. Betrifft etwa ein nicht berücksichtigter Umstand denselben Sachverhalt, der bereits durch Verwaltungsakt geregelt ist, soll dessen Bestandskraft dem Erlass eines weiteren Geldbescheids entgegenstehen47. Dann muss der gesamte Sachverhalt einer Neuregelung zugeführt werden48. Die Nachforderung einer Geldsumme ist nur möglich, wenn der nicht erfasste Sachverhalt Teil eines selbstständigen Anspruchs (etwa eines Haftungsanspruchs) ist49 oder die Auslegung des ersten Verwaltungsakts ergibt, dass der Sachverhalt durch diesen nicht abschließend geregelt sein soll50. Aus Gründen des Vertrauensschutzes wäre es problematisch, wenn die Nachforderung einer Geldsumme durch Rücknahme des ursprünglichen Bescheids nach § 130 Abs. 1 AO und anschließender Neuregelung stets möglich wäre. Obwohl die Behörde den Vertrauensschutz ebenso wie bei der Vorschrift des § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG im Rahmen ihrer Ermessensausübung (§ 130 Abs. 1 AO) berücksichtigen 42 BT-Drucks. VI/1982, S. 143; Bilsdorfer, NJW 1982, 2408 (2410); Goutier, Änderung von Steuerverwaltungsakten, S. 222. 43 Holz, Materielle Bestandskraft, S. 73; Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, Vor § 130, Rn. 18. 44 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, Vor §§ 130–133, Rn. 53; Rüsken, in: Klein, AO, § 130, Rn. 52; Goutier, Änderung von Steuerverwaltungsakten, S. 224 f. 45 Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 130, Rn. 43 f. 46 BFH BStBl II 2005, 3 (5). 47 Goutier, Änderung von Steuerverwaltungsakten, S. 239. 48 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, Vor §§ 130–133, Rn. 57. 49 BFH BStBl II 2005, 3 (5); v. Wedelstädt, in: Beermann / Gosch, AO / FGO, § 130, Rn. 77; Rüsken, in: Klein, AO, § 130, Rn. 37. 50 Goutier, Änderung von Steuerverwaltungsakten, S. 239. A. A. aber BVerwGE  67, 129 (133 f.);  79, 163 (169 f.), wonach die Nacherhebung von Abgaben durch einen ergänzenden Verwaltungsakt regelmäßig zulässig ist. S. zu dieser Rechtsprechung noch § 7 B.

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könnte51, richtet sich die Aufhebung der ursprünglichen Regelung nach überwiegender Ansicht nach § 130 Abs. 2 AO52, der eine Ermessensausübung im Sinne einer Aufhebung nur bei Vorliegen der dort genannten Rücknahmegründe ermöglicht53. Uneinigkeit besteht insoweit jedoch in der Begründung der Anwendbarkeit dieser Vorschrift54. Diese Problematik ist Folge der gesetzlichen Kategorisierung in belastende und begünstigende Verwaltungsakte und die daraus resultierende Starre, einen abgabenrechtlichen Bescheid nicht bzw. nur bei der Herabsetzung der Geldsumme ändern zu können, was für Geldbescheide untauglich ist55. Gesetzestechnisch verwirklicht wird Vertrauensschutz bei rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakten durch die Vorschrift des § 130 Abs. 2 AO. Im Gegensatz zu § 48 Abs. 2 S. 1 VwVfG, der insgesamt durch die dort geregelte Abwägungsmöglichkeit flexibler handhabbar ist, erlaubt § 130 Abs. 2 AO die Rücknahme nur in vier Fällen56. Zwar könnten die in § 130 Abs. 2 AO genannten Konstellationen als Tatbestandsmerkmale für eine Aufhebung verstanden werden. Richtigerweise schränken sie jedoch das Ermessen der Behörde dahin ein, dass letzteres nur bei Vorliegen der geregelten Fälle im Sinne einer Aufhebung ausgeübt werden kann57. Diese Konstellationen zeichnen sich dadurch aus, dass kein Vertrauen entsteht bzw. dieses nicht schutzwürdig ist58. Sie können das Ermessen der Behörde im Sinne einer Aufhebung vorprägen59. Diese Vorprägung hat zur Folge, dass die Ermessensbetätigung der Behörde gesetzlich vorgezeichnet ist und daher nur in Ausnahmefällen vom gesetzlich gewollten Ergebnis (Aufhebung des Verwaltungsakts in den Fällen des § 130 Abs. 2 AO) abgewichen werden darf60. Schlägt die Behörde den vorgeprägten Weg ein, ist eine Abwägung des Ermessens und eine Begründung der Ermessensentscheidung entbehrlich61. Umgekehrt wird dem Vertrauensschutz der Vorrang eingeräumt, wenn die in § 130 Abs. 2 AO genannten Fälle nicht vorliegen62. Auf eine Vermögensdisposition des Einzelnen stellt § 130 Abs. 2 AO für Vertrauensschutz entgegen § 48 Abs. 2 S. 2 VwVfG nicht ab63; wurde eine solche getätigt, muss sich die Behörde im Rahmen 51

Rüsken, in: Klein, AO, § 130, Rn. 3. BFH BStBl II 2005, 3 (5); v. Wedelstädt, in: Beermann / Gosch, AO / FGO, § 130, Rn. 37. 53 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, Vor §§ 130–133, Rn. 36. 54 Vgl. hierzu noch ausführlich § 7 B. 55 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, Vor §§ 130–133, Rn. 108. 56 Bilsdorfer, NJW 1982, 2408 (2410). 57 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, Vor §§ 130–133, Rn. 36. 58 v. Wedelstädt, in: Beermann / Gosch, AO / FGO, § 130, Rn. 45. 59 So etwa für die Fälle des § 130 Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 3 AO, vgl. hierzu v. Wedelstädt, in: Beermann / Gosch, AO / FGO, § 130, Rn.  55. 60 Vgl. zum intendierten und vorgeprägten Ermessen ausführlich Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 5, Rn. 134 ff mit umfangreichen Nachw. 61 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 5, Rn. 134, 138; Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 7, Rn. 12. 62 v. Wedelstädt, in: Beermann / Gosch, AO / FGO, § 130, Rn. 45. 63 Rüsken, in: Klein, AO, § 130, Rn. 3, 44. 52

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der Ausübung des Ermessens damit auseinandersetzen64. Gleiches gilt für rechtmäßige begünstigende Verwaltungsakte (§ 131 Abs. 2 S. 1 AO). 3. Steuerbescheide und diesen gleichgestellte Bescheide (§§ 172 ff. AO) Die Vorschriften zur Aufhebung und Änderung von Steuerbescheiden und diesen gleichgestellten Bescheiden ermöglichen im „dualistischen System der Korrekturnormen“65 der Abgabenordnung neben §§ 130, 131 AO eine punktuelle Korrektur 66. Zwar verlangen die Prinzipien der materiellen Rechtsrichtigkeit (Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Art. 20 Abs. 3 GG, § 85 AO) und der Gleichmäßigkeit der Besteuerung (Art. 3 Abs. 1 GG), dass die festgesetzte Steuer mit geltendem Recht vereinbar ist67, sodass der Gesetzgeber eine Korrekturpflicht für rechtswidrige Steuerbescheide regeln müsste. Dabei bliebe aber unberücksichtigt, dass der Gesetzgeber auch an die im Rechtsstaatsprinzip verankerten Verfassungsprinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes (Art. 20 Abs. 3, 28 Abs. 1 S. 1 GG) gebunden ist. Es besteht ein Konflikt zwischen divergierenden Verfassungsgütern, nämlich dem Legalitätsprinzip und dem Vertrauensschutz, der durch eine Abwägung aufzulösen ist, weil keines der beiden Prinzipien grundsätzlich vorrangig ist68. Hierbei kommt dem Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum zu69. Die §§ 172 ff. AO sind das Resultat dieser Abwägung70. Rechtmäßige Steuerbescheide können jedoch im Unterschied zu den allgemeineren Regelungen (§ 49 VwVfG, § 131 AO) nicht geändert werden, was daraus folgt, dass der Prinzipienkonflikt zwischen Rechtssicherheit und Rechtsrichtigkeit nicht entstehen kann, vielmehr beide Prinzipien für die Aufrechterhaltung des Steuerbescheids sprechen71, denn bei Steuerbescheiden handelt es sich um gebundene 64

v. Wedelstädt, in: Beermann / Gosch, AO / FGO, § 130, Rn. 69. Höfling / Breitkreuz, JA 1999, 728 (730) 66 Anders als der Grundsatz der Gesamtaufrollung, den die Rechtsprechung und die Finanzverwaltung in § 222 RAO verankert sahen, vgl. Hey, Steuerplanungssicherheit, S. 765. Die Aufgabe der Gesamtaufrollung führte zu einer höheren Gewichtung von Rechtssicherheit, s. Holz, Materielle Bestandskraft, S. 84. Weitere Nachw. bei v. Groll, in: H / H /Sp, AO / FGO, Vor §§ 172–177, Rn. 72; F. Kirchhof, DStR 2007, 2284 (2285). 67 Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, Vor § 172, Rn. 2; Bartone, in: Kühn / v. Wedelstädt, AO / FGO, Vor §§ 172–177, Rn. 1; Seer, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 21, Rn. 381. 68 Weber-Dürler, Vertrauensschutz, S. 154 f.; Blanke, Vertrauensschutz, S. 102. 69 Nach BVerfGE 15, 313 (319 f.) darf der Gesetzgeber der Rechtsbeständigkeit von Akten öffentlicher Gewalt ein hohes Gewicht beimessen. BVerfGE 35, 41 (47) legte bei der verfassungsrechtlichen Überprüfung der getroffenen Abwägung des Gesetzgebers nichts weiter als einen Willkürmaßstab zugrunde. v. Schlabrendorff kritisierte im Sondervotum diesen weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, vgl. BVerfGE 35, 51 (56 f.). 70 FG Münster, EFG 2000, 908 (909); Bartone, in: Kühn / v. Wedelstädt, AO / FGO, Vor §§ 172–177, Rn. 1; Beermann, Verwirkung und Vertrauensschutz, S. 73. 71 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, Vor §§ 130–133, Rn. 92. 65

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Verwaltungsakte72. Letzteres korrespondiert damit, dass aufgrund der Gesetzund Gleichmäßigkeit der Besteuerung (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 3 Abs. 1 GG, § 85 AO) kein Ermessenspielraum, sondern eine Korrekturpflicht der Behörde besteht, wenn die Voraussetzungen vorliegen, weil die Behörde nur eine rechtmäßige Entscheidung treffen kann73. Daher ist die in §§ 48, 49 VwVfG und §§ 130, 131 AO getroffene Differenzierung zwischen rechtmäßigen und rechtswidrigen Verwaltungsakten für Steuerbescheide irrelevant. Das differenzierte System rührt daher, dass das Steuerverfahren von der Mitwirkung des Steuerpflichtigen geprägt ist (§§ 90 Abs. 1 S. 1, 149 Abs. 1 S. 1 AO). Die Korrekturmöglichkeit muss umso geringer ausfallen, je gründlicher der Sachverhalt aufgearbeitet wurde74. Umso stärker muss sie ausgeprägt sein, je weniger gründlich das Verfahren abläuft75. Die Finanzverwaltung erlässt jährlich eine Flut von Steuerbescheiden und ihre fehlende Kapazität ist ein nicht unwesent­ licher Grund für die Digitalisierung76. Ein Bedürfnis der Korrektur rechtswidriger Steuerbescheide besteht vor dem Hintergrund, dass das Steuerrecht Massenfallrecht und in besonderem Maße fehleranfällig ist77. Dies streitet für eine stärkere Ausprägung des Gesetzmäßigkeitsprinzips und durch die hohe Regelungsdichte der §§ 172 ff. AO wird dem nachgekommen78. Die Korrekturmöglichkeit korreliert mit dem Sachverhaltsermittlungsaufwand79, und dies unterscheidet die für Steuerbescheide und ihnen gleichgestellte Bescheide geltenden Vorschriften von der Rigidität der allgemeineren Vorschriften, die in der Kategorisierung in begünstigende oder belastende Verwaltungsakte besteht. Die §§ 172 ff. AO stellen hingegen auf die Auswirkung der Korrektur ab80. Die für die Korrektur von Steuerbescheiden 72

v. Wedelstädt, in: Beermann / Gosch, AO / FGO, § 172, Rn. 38. v. Wedelstädt, in: Beermann / Gosch, AO / FGO, § 172, Rn. 43. 74 Vgl. Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, Vor § 172, Rn. 3 f. 75 Vgl. BFH BStBl II 1981, 507 (508) in Bezug auf § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO, wonach ein Bedürfnis besteht, Verbrauchsteuerbescheide ohne weitere Voraussetzungen ändern zu können, da solche Bescheide in einem summarischen Verfahren und ohne eingehende Prüfung der Rechtslage erlassen werden. Damit ist die Korrekturmöglichkeit stärker ausgeprägt, da das Verfahren weniger gründlich abläuft. Korrespondierend zur einfachen Korrekturmöglichkeit regelte der Gesetzgeber in § 169 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AO eine kurze einjährige Verjährungsfrist, s. hierzu Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, Vor § 172, Rn. 3. 76 Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, Erstkomm. ModG, Einl., Rn. 1.  77 Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, Vor § 172, Rn. 1; v. Wedelstädt, in: Beermann / Gosch, AO / FGO, § 172, Rn.  3.  78 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, Vor §§ 130–133, Rn. 95. 79 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, Vor §§ 130–133, Rn. 97; Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, Vor § 130, Rn. 11. 80 Martens, NVwZ 1983, 130 (132). Teilweise wird auch bei dem Problemkreis der Aufhebung eines Geldzahlungsbescheids und dem Neuerlass eines Verwaltungsakts, der eine höhere Summe festsetzt, auf die Auswirkung der „Korrektur“ insgesamt abgestellt, um Vertrauensschutz nach § 130 Abs. 2 AO realisieren zu können, vgl. Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, Vor § 130, Rn. 18; v. Wedelstädt, in: Beermann / Gosch, AO / FGO, § 130, Rn. 37. A. A. Goutier, Änderung von Steuerverwaltungsakten, S. 243 f., der in dem Regelungsgehalt (wie eine Vielzahl anderer Autoren) einen begünstigenden und einen belastenden Teil sieht. S. hierzu noch § 7  B. 73

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geltenden Vorschriften lösen den Prinzipienwiderspruch zwischen Rechtmäßigkeit und Vertrauensschutz somit in anderer Weise als die §§ 130, 131 AO81. Regelungstechnisch verwirklicht wird der Vertrauensschutz bei den §§ 172 ff. AO dadurch, dass keine Korrekturpflicht besteht, wenn die Abwägung der Verfassungsprinzipien zugunsten des Vertrauensschutzprinzips ausfällt. Der Vertrauensschutz ist in den Tatbestandsmerkmalen der §§ 172 ff. AO integriert82. Diese Normen können also nicht nur als korrektureröffnend, sondern auch als korrekturbegrenzend verstanden werden83. Aus diesem Grund enthalten die korrektureröffnenden Regelungen der §§ 172 ff. AO einen ambivalenten Regelungskern. Die punktuelle, an enge Voraussetzungen geknüpfte Korrekturmöglichkeit führt dazu, dass die Beständigkeit der (wenn auch rechtswidrigen) staatlichen Entscheidung aufgrund des Verfassungsprinzips der Rechtssicherheit die Regel, die nachträgliche Korrektur von Fehlern die Ausnahme ist. Aus historischer Sicht folgt somit aus der Abkehr vom Grundsatz der Gesamtaufrollung der RAO eine stärkere Gewichtung der Rechtssicherheit. Als weitere selbstständige Korrekturbegrenzung tritt § 176 AO hinzu. Daneben liegt es in der Hand der Behörde, dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit durch Festsetzung der Steuer unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 Abs. 1 S. 1 AO) oder durch vorläufige Festsetzung (§ 165 Abs. 1 S. 1 AO) gegenüber dem Interesse an Rechtssicherheit stärkere Geltung zu verschaffen84. Insoweit wird der Prinzipienwiderspruch nicht nur durch das Gesetz, sondern auch durch das Verhalten der Behörden aufgelöst. Nach Ablauf der Festsetzungsfrist (§ 169 Abs. 1 S. 1 AO) beansprucht das Prinzip der Rechtssicherheit uneingeschränkten Vorrang vor materieller Gesetzmäßigkeit85. Danach ist ein etwaiger Gesetzesverstoß endgültig hinzunehmen. Wenn und weil der Vertrauensschutz bereits in den korrektureröffnenden Vorschriften der §§ 172 ff. AO integriert ist, so soll im Folgenden dargestellt werden, in welchen Konstellationen § 176 AO als Korrekturbegrenzung Anwendung finden kann. Ist bereits die Aufhebung oder Änderung des Steuerbescheids nicht möglich, muss § 176 AO dieser auch nicht entgegenwirken. Der Umkehrschluss aus der Vorschrift ergibt, dass die Korrekturvorschriften der Berücksichtigung der dort genannten Ereignisse jedenfalls nicht a priori entgegenstehen86. 81

Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, Vor §§ 130–133, Rn. 97. Vgl. Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, Vor §§ 130–133, Rn. 96, der am Beispiel des § 173 Abs. 1 AO verdeutlicht, dass die Vorschrift auch dahin verstanden werden kann, dass nur nachträgliche gewordene Tatsachen die Korrektur erlauben (Hervorhebung auch dort). 83 Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, Vor § 172, Rn. 4; Beermann, Verwirkung und Vertrauensschutz, S. 72 f.; Helbich, Vertrauensschutz in Verwaltungsvorschriften, S. 266 spricht von einem „verfahrensrechtlichen Schutzwall“. 84 Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, Vor § 172, Rn. 5. 85 Goutier, Änderung von Steuerverwaltungsakten, S. 105. 86 BFH GrS, BStBl II 1988, 180 (183). 82

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a) Aufhebung oder Änderung aufgrund neuer Tatsachen (§ 173 Abs. 1 AO) aa) Sachverhaltsbezogenes Verständnis Die Vorschrift des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO verpflichtet87 die Finanzbehörde, Steuerbescheide oder diesen gleichgestellte Bescheide aufzuheben oder zu ändern, wenn nachträglich rechtserhebliche Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen und bereits bei Erlass des Steuerbescheids existierten88. Als Tatsachen werden alle Bestandteile eines Lebensvorgangs verstanden, die sich insgesamt oder teilweise unter das materielle Steuergesetz subsumieren lassen89. Nicht vom Begriff umfasst sind jedoch Schlussfolgerungen aus Tat­sachen – die juristische Subsumtion ist eine solche90. Die Änderung höchstrichterlicher Rechtsprechung zieht aus einem Lebensvorgang andere juristische Schlüsse91. Ebenso verhält es sich bei der Verfassungswidrigerklärung eines Steuergesetzes durch das Bundesverfassungsgericht92. Führt die Nichtigerklärung etwa zur uneingeschränkten Anwendbarkeit der alten Rechtslage, weil ein verfassungswidriges Gesetz ein wirksames nicht überschreiben kann93 und wird nun unter das wirksame Gesetz subsumiert, ändert sich die juristische Subsumtion. Beschränkt sich das Bundesverfassungsgericht darauf, die Verfassungswidrigkeit einer Norm festzustellen, darf diese bereits ab dem Zeitpunkt der Konfliktentstehung94 nicht mehr angewendet werden95 und der Gesetzgeber ist grundsätzlich verpflichtet, den Verstoß auch mit Wirkung für die Vergangenheit zu beseitigen96. Auch die anschließende (ggf. rückwirkende)  Umgestaltung der Rechtslage durch den Gesetzgeber geht mit einer veränderten Subsumtion einher97. 87 Aufgrund des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung steht der Finanzbehörde kein Ermessen zu, vgl. nur Seer, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 21, Rn. 407. Dies kommt im Gesetzeswortlaut des § 173 Abs. 1 AO auch deutlich zum Ausdruck, wonach Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern „sind“. 88 Höfling / Breitkreuz, JA 1999, 728 (734); Hey, Steuerplanungssicherheit, S. 758 konstatiert zutreffend, dass von dieser Vorschrift das größte Änderungsrisiko ausgeht. 89 Woerner / Grube, Aufhebung und Änderung, S. 82; Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 173, Rn. 2; v. Groll, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 173, Rn. 66; Baum, DStZ 1993, 146 (147). 90 BFH BStBl II 1981, 507 (510); BStBl II 2017, 745 (749); BStBl II 2018, 419 (421); FG Köln, EFG 2018, 88 (89); Bartone, in: Kühn / v. Wedelstädt, AO / FGO, § 173, Rn. 2a; Woerner / Grube, Aufhebung und Änderung, S. 83; v. Wedelstädt, AO-StB 2010, 301 (302). 91 Woerner / Grube, Aufhebung und Änderung, S. 83; Rogall / Curdt, Ubg 2013, 345 (351). 92 Seer, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 21, Rn. 409. 93 E. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, § 39, Rn. 1376. 94 Seer, GmbHR 2002, 873 (876). 95 BVerfGE 55, 100 (110); 87, 153 (178). 96 BVerfGE 55, 100 (111); 81, 363 (384); Seer, GmbHR 2002, 873 (876). Das liegt aber anders, wenn das Bundesverfassungsgericht die Vorschrift für die Vergangenheit für weiterhin anwendbar erklärt, s. exemplarisch BVerfGE 93, 121 (148) – dort aus Gründen der verläss­ lichen Finanz- und Haushaltsplanung. 97 Seer, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 21, Rn. 409; ders., DStR 1993, 307 (312) mit Kritik an FG Niedersachsen, FR 1992, 692, das die rückwirkende Neuregelung des Kinderfreibe-

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Gelangen die Gerichte zu einem anderen Auslegungsergebnis als die Finanzverwaltung, führt dies ebenfalls zu einer geänderten juritischen Subsumtion, da die Gerichte an das in einer Verwaltungsvorschrift festgelegte Rechtsverständnis der Verwaltung nicht gebunden sind98. Verwaltungsvorschriften sind Gegenstand, aber nicht Maßstab gerichtlicher Kontrolle99. Eine Ausnahme besteht nur bei ermessenslenkenden Verwaltungsvorschriften (§ 102 S. 1 FGO)100. Folglich können die Rechtsauffassungen zwischen Exekutive und Judikative divergieren, beide ziehen andere Schlussfolgerungen aus Tatsachen – das ist jedoch von § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht erfasst. Der Steuerpflichtige ist also in allen Konstellationen, die § 176 AO benennt, bereits über § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO vor einer Korrektur des Steuerbescheids geschützt, der eine Berichtigung von Rechtsfehlern nicht zulässt101. Deshalb wird eine weitergehende Bedeutung des § 176 AO im Rahmen der Korrektur aufgrund nachträglich bekannt gewordener Tatsachen teilweise infrage gestellt102. Indes ist die Norm aber auch für diese Fälle nicht bedeutunglos103. bb) Fehlende Rechtserheblichkeit der Tatsache Eine Korrektur des Steuerbescheids wegen nachträglich bekannt gewordener Tatsachen ist nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO nur möglich, wenn diese Tatsachen rechtserheblich waren. Das Merkmal der Rechtserheblichkeit kann eine Korrektur verhindern, wenn sich die Rechtslage ändert. Wenn nachträglich eine Tatsache aufgedeckt wird, die nach dem verfassungswidrigen Gesetz irrelevant war, der Gesetzgeber aber die Rechtslage infolge einer Verfassungswidrigerklärung durch das Bundesverfassungericht rückwirkend so umgestaltet, dass die Tatsache nun erfasst bzw. relevant ist, und der Steuerbescheid daraufhin geändert werden könnte, würde eine sachverhaltsbezogene Korrektur trags als Tatsache i. S. d. § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO einordnete. Nur im Ergebnis zutreffend Baum, DStZ 1993, 146 (147), der das Vorliegen einer Tatsache unterstellt (ohne die Rechtsprechung des FG Niedersachsen zu kritisieren), eine Korrekturmöglichkeit jedoch mit der Begründung ablehnt, die gesetzgeberische Neuregelung sei der Finanzbehörde nicht nachträglich bekannt geworden, da sie bei der Steuerfestsetzung noch nicht existierte; BFH BStBl II 1994, 389 hob die Entscheidung des FG Niedersachsen auf, nahm aber zum Tatsachenbegriff nicht Stellung. 98 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 5, Rn. 189; Hey, DStR 2004, 1897 (1902); Helbich, Vertrauensschutz in Verwaltungsvorschriften, S. 87; Rössler, BB 1981, 842 (844); Kempny, in: Berliner Kommentar, GG, Art. 108, Rn. 145. Anders liegt dies, wenn ein Änderungsbescheid den Streitgegenstand einer Klage vor dem Finanzgericht bildet, dann führt § 176 Abs. 2 AO – eine Vorschrift des einfachen Rechts – eine Bindungswirkung an die Rechtsauffassung, die dem Erstbescheid zugrunde liegt, herbei, vgl. BFH BStBl II 2002, 840 (841). 99 BVerfGE 78, 214 (227). 100 S. zu der Typologie der Verwaltungsvorschriften und ihren Wirkungen noch § 5 A und B. 101 BFH GrS, BStBl II 1988, 180 (182). 102 So z. B. Helbich, Vertrauensschutz in Verwaltungsvorschriften, S. 250. 103 S. dazu sogleich § 2  A. I. 3. a) cc) und dd).

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beiläufig zu einer Rechtsfehlerberichtigung führen. Dasselbe gilt, wenn der Lebensvorgang nach einer Rechtsprechungsänderung des BFH steuerliche Bedeutung erlangt. Das Kriterium der Rechtserheblichkeit soll dies verhindern104. Eine nachträgliche bekannt gewordene Tatsache darf im Änderungsbescheid nicht berücksichtigt werden, wenn die Finanzbehörde bei unterstellter Kenntnis der Tatsache im Zeitpunkt des Erlasses des erstmaligen Steuerbescheids zu keiner anderen Entscheidung gelangt wäre105. Deshalb muss aufgrund der Sachverhaltsbezogenheit des § 173 AO106 eine Kausalitätsprüfung erfolgen, weil sich nicht unter dem „Schafspelz“ der nachträglich bekannt gewordenen Tatsache der „Wolf“ der besseren Rechtserkenntnis verbergen darf107. Führt diese Prüfung dazu, dass die Finanzbehörde die Tatsache bei Kenntnis zum Zeitpunkt der ersten Steuerfestsetzung nicht anders behandelt hätte, wäre verdeckt eine geänderte Rechtsauffassung der Finanzbehörde oder die Umgestaltung der Rechtslage durch die Gerichte und den Gesetzgeber (bei einem „Reparaturauftrag“ des Bundesverfassungsgerichts) Anlass der Korrektur108. Die nachträglich bekannt gewordene Tatsache selbst wäre dann nicht kausal109. Daher ist Voraussetzung für die Eröffnung der Korrektur, dass die Finanzbehörde bei Kenntnis der Tatsache im Zeitpunkt des Erlasses des Steuerbescheids zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre110. Dies ist nicht der Fall, wenn die Finanzbehörde der Tatsache bei der erstmaligen Steuerfestsetzung keine juristische Bedeutung beigemessen, diese also für unmaßgeblich gehalten hätte111. Insofern wird der Steuerpflichtige durch das Kriterium der Rechtserheblichkeit in gewissem Maße vor solchen Rechtslageänderungen abgeschirmt, die in § 176 AO genannt sind. Auf die Norm kommt es in diesen Fällen nicht an, weil schon die Voraus­setzungen der korrektureröffnenden Vorschrift (§ 173 AO) nicht vorliegen112. 104

v. Wedelstädt, AO-StB 2010, 301 (302). Bartone, in: Kühn / v. Wedelstädt, AO / FGO, § 173, Rn. 36; v. Wedelstädt, in: Beermann / ​ Gosch, AO / FGO, § 173, Rn. 27; Rogall / Curdt, Ubg 2013, 345 (351). 106 v. Wedelstädt, in: Beermann / Gosch, AO / FGO, § 173, Rn. 27. 107 So formuliert v. Groll, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 173, Rn. 125. 108 v. Groll, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 173, Rn. 125; v. Wedelstädt, in: Beermann / Gosch, AO / FGO, § 173, Rn.  27. 109 Bartone, in: Kühn / v. Wedelstädt, AO / FGO, § 173, Rn. 35. 110 Für die umgekehrte Situation, dass sich die Rechtsänderung zugunsten des Steuerpflichtigen auswirkt, vgl. BFH GrS, BStBl II 1988, 180 (182). Gab der Steuerpflichtige Tatsachen im Steuerbescheid nicht an, weil sie zu diesem Zeitpunkt nicht rechtserheblich waren, werden diese aber später aufgrund einer Rechtsänderung rechtserheblich, darf der Steuerbescheid aus diesem Grund nicht korrigiert werden, da dem Steuerpflichtigen ansonsten das Kostenrisiko einer gerichtlichen Klage abgenommen würde. 111 Bartone, in: Kühn / v. Wedelstädt, § 173, Rn. 36. 112 Umgekehrt Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 176, Rn. 56, der aufgrund der Existenz des § 176 AO das Kriterium der Rechtserheblichkeit vom Wortlaut des § 173 AO nicht gedeckt sieht und für überflüssig hält. Das trägt indes nicht der Tatsache Rechnung, dass der Anwendungsbereich des § 176 AO schmal ist. Die Änderung finanzgerichtlicher Rechtsprechung ist 105

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Einleitung

cc) Nichtberücksichtigung einer rechtserheblichen Tatsache Die Norm des § 176 AO wird aufgrund des Kriteriums der Rechtserheblichkeit nur virulent, wenn die nicht berücksichtigte Tatsache ursprünglich schon rechtserheblich war und sich deren Berücksichtigung in einem korrigierenden Bescheid aufgrund einer Änderung der Rechtslage noch ungünstiger auswirkt, als wenn die Finanzbehörde die Tatsache bereits im Erstbescheid zugrunde gelegt hätte113. Zur Veranschaulichung der Konstellation folgendes Beispiel: Die rechtserhebliche Tatsache X wurde im erstmaligen Steuerbescheid nicht berücksichtigt, weil sie der Finanzbehörde nicht bekannt war. Wäre diese Tatsache berücksichtigt worden, hätte sie im Zeitpunkt des erstmaligen Erlasses des Steuerbescheids zu einer höheren Steuer i. H. v. € 100,– geführt. Die Tatsache X wird der Finanzbehörde nun nachträglich bekannt. Inzwischen hat sich aber die Rechtslage geändert, sodass die Berücksichtigung der Tatsache in einem Änderungsbescheid zu einer höheren Steuer i. H. v. € 150,– führen würde.

Liegt ein solcher Fall vor, ist eine analoge Anwendung von § 176 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 AO möglich114. § 176 AO verbietet nicht die Berücksichtigung von sachverhaltsbezogenen Aspekten, sondern nur die Berücksichtigung einer verschärfenden Rechtsfolge, die an diesen Sachverhalt anknüpft115. Eine direkte Anwendung scheidet aus116, da § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO voraussetzt, dass die bisherige Steuerfestsetzung auf dem verfassungswidrigen Steuergesetz beruht oder die günstigere Rechtsprechung angewendet wurde (§ 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AO). Auch bei der rechtswidrigen Verwaltungsvorschrift ist deren Anwendung ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des § 176 Abs. 2 AO117. Hätte der Steuerpflichtige die Tatsache angegeben, wäre dieser nach § 176 AO vor einer Korrektur geschützt. Die Ver­ sagung von Vertrauensschutz aufgrund einer Verletzung der Mitwirkungspflicht des Bürgers (nach § 90 Abs. 1 S. 1 AO sind die für die Besteuerung erheblichen Tatsachen vollständig anzugeben) wäre indes nicht zu rechtfertigen118. Hierfür sieht die Rechtsordnung andere Rechtsfolgen vor119. Die Analogiebildung erscheint gleichwohl vor dem Hintergrund nicht unproble­ matisch, dass nach überwiegender Auffassung der Steuerbescheid den Vertrauz. B. nicht von der Norm erfasst; das Kriterium der Rechtserheblichkeit scheidet auch diese Fälle aus. Ferner wurde das Kriterium inzwischen ausdrücklich in § 173a AO verankert. 113 v. Wedelstädt, AO-StB 2010, 301 (302). 114 Vgl. Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 176, Rn. 70. 115 Koenig, in: Koenig, AO, § 176, Rn. 4. 116 A. A. Rüsken, in: Klein, AO, § 176, Rn. 7 und v. Wedelstädt, in: Beermann / Gosch, AO / FGO, § 176, Rn. 7.1, die den Anwendungsbereich stets als unmittelbar eröffnet ansehen. Dazu sogleich im Text. 117 FG München, EFG 1998, 433 (435). 118 Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 176, Rn. 70. 119 Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 176, Rn. 70 nennt etwa strafrechtliche Konsequenzen bei vorsätzlichem Unterlassen von Angaben (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO).

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ensträger bildet120 und nicht die Rechtslage121. Trifft diese Aussage zu, was noch geprüft wird122, kann § 176 AO für die Fälle des nachträglichen Bekanntwerdens von Tatsachen nicht analog angewendet werden. Diesen Fällen ist gemeinsam, dass die nachträglich bekannt gewordene Tatsache im erstmaligen Steuerbescheid nicht berücksichtigt wurde (§§ 155 Abs. 1 S. 1 AO, 118 S. 1 AO), aber dort hätte berücksichtigt werden müssen. Wenn die Tatsache im Steuerbescheid nicht berücksichtigt wurde, kann denklogisch nicht auf die Beständigkeit des Steuerbescheids vertraut werden. Konsequenz hiervon wäre, dass § 176 AO insoweit unzulänglich ist. Der Bestimmung des Vertrauensträgers kommt somit materiell-rechtliche Bedeutung zu123. dd) Berücksichtigung einer vergleichbaren rechtserheblichen Tatsache Liegen dem Steuerbescheid bestimmte Lebensvorgänge zugrunde und werden nachträglich identische Lebensvorgänge bekannt, die identisch hätten berücksichtigt werden müssen, stellt sich wiederum die Frage einer analogen Anwendbarkeit des § 176 AO. Das betrifft Fälle, bei denen sich die Subsumtion dieser Tatsachen im Zeitpunkt der Korrektur stärker zulasten des Steuerpflichtigen auswirken würde. Beispiel: Die rechtserhebliche Tatsache X1 wurde im erstmaligen Steuerbescheid nicht berücksichtigt, weil sie der Finanzbehörde nicht bekannt war. Die rechtserhebliche Tatsache X2 wurde bereits dem erstmaligen Steuerbescheid zugrunde gelegt. X1 und X2 waren im Zeitpunkt des erstmaligen Erlasses des Steuerbescheids juristisch gleich zu behandeln. Wäre die Tatsache X1 bereits beim erstmaligen Bescheid berücksichtigt worden, hätte sie zu einer höheren Steuer i. H. v. € 100,– geführt. Die Tatsache X1 wird der Finanzbehörde

120 So die st. Rspr.: BFH BStBl II 2004, 317 (319); BStBl II 2007, 524 (527); BFH NV 2012, 1101 (1102); FG Hamburg, EFG 2006, 1020 (1023) und die Literatur, vgl. Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 176, Rn. 1a – anders hingegen ders., in: Tipke / K ruse, AO / FGO, Vor § 172, Rn. 8: Vertrauen in den Fortbestand der Rechtslage; Seibel, in: Lippross, Basiskomm. Steuerrecht, § 176, Rn. 1; unklar Koenig, in: Koenig, AO, § 176, Rn. 2, der die Steuerfestsetzung als maßgeblich erachtet, andererseits aber ausführt, dass der Bürger darauf vertrauen dürfe, dass Gesetze verfassungsgemäß sind (Rn. 14); Birk, DStJG 27 (2004), S. 9 (21); Müller, AO-StB 2013, 250 (252); Woerner / Grube, Aufhebung und Änderung, S. 146 f. 121 So aber Nr. 1 AEAO zu § 176: „Die Vorschrift schützt das Vertrauen des Steuerpflichtigen in die Gültigkeit einer Rechtsnorm […]“ und BFH BStBl II 1981, 507 (510) – Vertrauen in die Rechtslage (im Ausgangsfall auf den Bestand einer höchstrichterlichen Rechtsprechung); Thiel, DB 1988, 1343 (1344); Höfling / Breitkreuz, JA 1999, 728 (735); Tiedtke / Szczesny, NJW 2002, 3733 (3737); Arndt / Jenzen / Fetzer, Allgemeines Steuerrecht, S. 270; Rössler BB 1981, 842 (844); unklar Anzinger / Mittermaier, BB 2002, 2355 (2358): Vertrauen in die Steuerfestsetzung einerseits, Vertrauen in die Rechtslage andererseits. 122 Vgl. hierzu noch § 6.  123 A. A. wenig überzeugend v. Groll, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 176, Rn. 40, der die präzise Bestimmung der Vertrauensbasis für unbedeutend hält.

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Einleitung nun nachträglich bekannt, inzwischen hat sich aber die Rechtsprechung geändert, sodass deren Berücksichtigung zu einer höheren Steuer i. H. v. € 150,– führen würde.

Die soeben geschilderten Bedenken in Bezug auf die Vertrauensbasis124 bestehen auch hier, weil die Tatsache X1 im erstmaligen Steuerbescheid nicht berücksichtigt wurde und somit nicht auf die Beständigkeit des Steuerbescheids vertraut werden darf. Daran kann bei strenger Sichtweise auch der Umstand nichts ändern, dass der Steuerbescheid Besteuerungsgrundlagen enthält, die bereits berücksichtigt wurden, und die nachträglich bekannt gewordenen Tatsachen juristisch identisch hätten berücksichtigt werden müssen. Der Gesetzgeber sieht dessen ungeachtet den Anwendungsbereich der Vorschrift des § 176 AO trotz Ungereimtheiten im Wortlaut, die er selbst schuf, stets als eröffnet an125. Regelungslücken eines Gesetzes sind aber durch Rechtsfortbildung zu schließen, also durch Analogie126. Ausgehend von der Prämisse, dass der Gesetzgeber glaubte, den Fall geregelt zu haben, kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass dieser den Fall bewusst nicht regeln wollte, sodass die Regelungslücke planwidrig ist. b) Aufhebung oder Änderung aufgrund eines rückwirkenden Ereignisses (§ 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO) § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO verpflichtet die Finanzbehörde zur Korrektur von Steuerbescheiden, soweit ein Ereignis eintritt, das sich steuerlich für die Vergangenheit auswirkt. Rückwirkende Ereignisse treten nach Erlass des Steuerbescheides ein127; sie führen zur Rechtswidrigkeit des ursprünglich rechtmäßig erlassenen Bescheids128. Der Begriff des Ereignisses bezieht sich jedoch nur auf den steuerlich relevanten Sachverhalt129. Damit fallen Änderungen der Rechtslage, die nicht den Lebenssachverhalt, sondern dessen rechtliche Würdigung ändern, nicht unter

124

S. § 2  A. I. 3. a) cc). BT-Drucks. VI/1982, S. 155; Fichtelmann, Systematik, Änderung und Aufhebung von Steuerbescheiden, S. 130 sieht das nachträgliche Bekanntwerden von Tatsachen ebenfalls von der Vorschrift des § 176 AO umfasst und rechtfertigt dies trotz der Schwäche des Wortlauts damit, dass die nach dem Wortlaut zwingende Korrektur (weil der Anwendungsbereich der korrekturbegrenzenden Norm nicht eröffnet ist) dem Sinn und Zweck des § 176 AO widerspräche. Das Gesetz weise in dieser Konstellation eine anfängliche Lücke auf, was dem Gesetzgeber ausweislich seiner Begründung (BT-Drucks. ebd.) bekannt war. 126 Vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 363 ff. 127 Baum, DStZ 1993, 146 (147); v. Wedelstädt, in: Beermann / Gosch, AO / FGO, § 175, Rn. 45; Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 175, Rn. 23. 128 Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 175, Rn. 53. 129 Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 175, Rn. 59; Lauer, Die Korrekturvorschrift des § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO, S. 51 f.; Holz, Materielle Bestandskraft, S. 97; Baum, DStZ 1993, 146 (147). 125

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die Vorschrift des § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO130. Wie soeben gezeigt, führen die Konstellationen, um die sich § 176 AO dreht, zu geänderter juristischer Subsumtion131. Bereits die Korrekturnorm gewährleistet also die Beständigkeit des Steuerbescheids, sodass es auf § 176 AO nicht ankommt. c) Aufhebung oder Änderung aufgrund von Schreib- oder Rechenfehlern bei Erstellung der Steuererklärung (§ 173a AO) Der mit dem Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens132 eingefügte § 173a AO ermöglicht die Korrektur von rechtswidrigen Steuerbescheiden, die auf Schreib- oder Rechenfehler des Steuerpflichtigen bei Erstellung der Steuererklärung zurückzuführen sind. Die neue Regelung war deshalb erforderlich, weil mechanische Fehler nach § 129 AO nur dann berichtigt werden konnten, wenn die Finanzbehörde den Fehler als eigenen übernahm (sog. Übernahmefehler)133. Das automatisierte Steuerverfahren (§ 155 Abs. 4 S. 1 AO) kennt keine Belegvorlagepflichten mehr, weshalb die Behörde den mechanischen Fehler des Steuerpflichtigen nicht erkennen und im Steuerbescheid übernehmen kann134. Unterläuft dem Steuerpflichtigen ein solcher Fehler, muss der Steuerbescheid nach der Neuregelung aufgehoben oder geändert werden, wenn die unzutreffend mitgeteilten Tatsachen bereits im Zeitpunkt des Erlasses des Steuerbescheids rechtserheblich waren135. Werden diese dagegen aufgrund einer Änderung der Rechtsprechung oder des Gesetzes nachträglich rechtserheblich, ist die Vorschrift nicht anwendbar136. Zwar verhindert auch hier das Kriterium der Rechtserheblichkeit rechtslagebezogen motivierte Korrekturen. Denkbar wäre aber z. B., dass die unzutreffend mitgeteilten Tatsachen bereits bei Erlass des Steuerbescheids rechtserheblich waren, die zutreffende Berechnung oder die Korrektur des Schreibfehlers aufgrund einer (rückwirkenden) Gesetzesänderung infolge einer verfassungsgerichtlichen Unvereinbarerklärung einer Norm im Zeitpunkt der Änderung des ­Steuerbescheids zu einer höheren Belastung führen würde. Das kann § 176 Abs. 1 S. 1 AO verhindern137.

130

Koenig, in: Koenig, AO, § 175, Rn. 38. S. § 2  A. I. 3. a) aa). 132 BestVModG vom 18. 7. 2016, BGBl. I 2016, S. 1679 (1691). 133 Diese „langjährige Diskussion [sollte] im Interesse der Steuerpflichtigen zum Abschluss gebracht [werden]“, vgl. BT-Drucks. 18/7457, S. 49. Zum Entstehungsprozess der Vorschrift des § 173a AO vgl. Wernthaler, Die Korrektur von offenbaren Unrichtigkeiten, S. 52 ff. 134 Seer, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 21, Rn. 418; Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, Erstkomm. ModG, Einl., Rn. 15. 135 BT-Drucks. 18/7457, S. 87 f. 136 v. Wedelstädt, AO-StB 2017, 19 (20). 137 v. Wedelstädt, AO-StB 2017, 19 (20). 131

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Einleitung

Die Erhöhung der Steuerlast durch Folgenbeseitigung des mechanischen Fehlers ist aufgrund von § 176 Abs. 1 S. 1 AO auf den Betrag beschränkt, der bei dem erstmaligen Erlass des Steuerbescheids hätte festgesetzt werden müssen138. Dem steht nicht entgegen, dass die Rechtswidrigkeit des Steuerbescheids aus der Sphäre des Steuerpflichtigen stammt. Die Vorschrift ist direkt anwendbar, da bei der Steuerfestsetzung die günstigere Rechtslage bereits angewendet werden konnte. Nur die Kalkulation war unrichtig, sodass die Behörde eine unrichtige Tatsachenbasis einer Regelung zuführte. II. Vertrauensschutz nach § 176 AO bei Steuerbescheiden 1. Anwendung als Korrekturbegrenzung Die Vorschrift des § 176 AO gewährt keinen Anspruch auf Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids zugunsten des Einzelnen, wenn sich die Rechtslage durch die in der Norm genannten Ereignisse ändert139. Sie durchbricht die Bestandskraft nicht, sondern beschränkt eine für den Steuerpflichtigen ungünstige Korrektur140, wenn der Steuerbescheid aus Gründen geändert wird, die in § 176 AO nicht genannt sind. Das „auslösende Moment“ für die Eröffnung des Anwendungsbereichs des § 176 AO muss aus einer Vorschrift der §§ 172 ff. AO kommen141. Dort muss der Anwendungsbereich einer Korrekturvorschrift eröffnet sein142. Dann wird gewährleistet, dass dem korrigierenden Steuerbescheid keine zwischenzeitlich verschärfte Rechtslage zugrunde gelegt wird143. Als maßgeblich wird diejenige Rechtslage fingiert, die im Zeitpunkt der erstmaligen Steuerfestsetzung galt144. Der im Steuerbescheid aufgrund neuer Rechtserkenntnisse enthaltene Fehler muss fortgeführt werden145. Der Regelungsgehalt ist vor dem Hintergrund stringent, als die Korrekturvorschriften selbst eine Aufhebung oder Änderung aufgrund von Rechtslageänderungen nicht vorsehen und somit dem Vertrauensschutz Vorrang einräumen. § 176 AO findet also erst in einem nächsten Schritt Anwendung146, wodurch die Zweiteilung des Vertrauensschutzprinzips zum Ausdruck gebracht wird: §§ 172 ff. AO ge­währleisten Rechtssicherheit und Vertrauensschutz dadurch, dass sie die Kor 138

v. Groll, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 176, Rn. 220. BFH BStBl II 1981, 507 (510); BFH GrS, BStBl II 1988, 180 (183); Rüsken, in: Klein, AO, § 176, Rn. 1b; v. Groll, in H / H /Sp, AO / FGO, § 176, Rn. 35; Koenig, in: Koenig, AO, § 176, Rn. 12. 140 Arndt, Aufhebung und Änderung von Steuerbescheiden, S. 201. 141 v. Groll, in H / H /Sp, AO / FGO, § 176, Rn. 40. 142 v. Groll, in H / H /Sp, AO / FGO, § 176, Rn. 100. 143 BT-Drucks. VI/1982, S. 155. 144 Rödder / Hageböke, Ubg 2014, 13 (16). 145 Rose, Grundzüge des Besteuerungsverfahrens, S. 79. 146 Anzinger / Mittermaier, BB 2002, 2355 (2358). 139

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rektur wegen Rechtslageänderungen aufgrund ihres sachverhaltsbezogenen Verständnisses nicht erlauben, § 176 AO beschränkt die Korrektur aus Gründen des Vertrauensschutzes, wenn §§ 172 ff. AO die Korrektur anderweitig zulassen. 2. Anwendbarkeit auf nicht endgültige Bescheide a) Unter Vorbehalt der Nachprüfung ergangene Bescheide (§ 164 Abs. 1 S. 1 AO) Neben einer endgültigen Steuerfestsetzung durch Steuerbescheide (§ 155 Abs. 1 S. 1 AO) können Steuern, solange der Steuerfall noch nicht abschließend geprüft ist, gemäß § 164 Abs. 1 S. 1 AO unter dem Vorbehalt der Nachprüfung festgesetzt werden. In der Rechtsfolge kann der Steuerbescheid, solange der Vorbehalt (als unselbstständige Nebenbestimmung gemäß § 120 Abs. 1 AO) wirksam ist, ohne die weiteren Voraussetzungen der §§ 172 ff. AO aufgehoben oder geändert werden (§ 164 Abs. 2 S. 1 AO). Das dient der Verfahrensökonomie, denn so kann eine schnelle Steuerfestsetzung auf Grundlage der Angaben des Steuerpflichtigen ermöglicht werden147. Nach dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (§ 85 S. 1 AO, Art. 20 Abs. 3 GG) dürfte die Finanzverwaltung bis zum vollständigen Abschluss der Sachverhaltsprüfung keinen Steuerbescheid erlassen148. Weil jedoch ein Interesse des Bürgers an rascher Steuerfestsetzung besteht, entbindet § 164 Abs. 1 S. 1 AO die Finanzverwaltung von der Pflicht zur sofortigen Prüfung des Steuerfalls149. Daher darf eine Steuerfestsetzung auch dann erfolgen, wenn die Behörde zu diesem Zeitpunkt aus verwaltungsinternen Gründen noch keine endgültige Entscheidung treffen will150. Erfolgt die Steuerfestsetzung jedoch unter Vorbehalt, stellt sich die Frage, ob § 176 AO auch auf solche Festsetzungen anwendbar ist. Das wird nahezu einhellig bejaht151. Vor dem Hintergrund, dass § 164 AO systematisch im Teil I des Dritten Abschnitts und damit an anderer Stelle normiert ist als § 176 AO, der im Teil III des Dritten Abschnitts geregelt ist, könnte man schließen, dass die Norm nur für jene Korrekturvorschriften gilt, die im letzteren Teilabschnitt normiert sind152. Der 147

Trzaskalik, StuW 1993, 371 (372); Heuermann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 164, Rn. 6. Schick, StuW 1988, 301 (329). 149 Schick, StuW 1988, 301 (329) – Hervorhebung auch dort. 150 Heuermann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 164, Rn. 6. 151 BFH GrS, BStBl II 1988, 180 (183) spricht sogar vom Hauptanwendungsgebiet des § 176 AO; BFH BStBl II 1999, 468 (472); BStBl II 2008, 863 (866); FG Köln, EFG 2014, 1069 (1070); Lohmeyer, KStZ 1995, 10 (11); Günkel, FR 1987, 522 ff.; Stephany, INF 2005, 905 (906); Lippross, DStR 2014, 879 (881); v. Wedelstädt, in: Beermann / Gosch, AO / FGO, § 176, Rn. 8; Koenig, in: Koenig, AO, § 176, Rn. 4. 152 In diese Richtung FG Berlin, EFG 1987, 278 (279) mit Hinweis auf die Systematik des Gesetzes. Vorbehaltsbescheiden fehle zudem die Bestandskraft, die die § 172 ff. AO voraussetzen sollen. Freilich gilt das nur für die materielle Bestandskraft, die Vorbehaltsbescheiden fehlt. Trotz systematischer Zweifel im Ergebnis anderer Auffassung, Leisner, DStZ 1999, 358 (362). 148

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Einleitung

Gesetzgeber geht indes ohne nähere Begründung von einer Anwendbarkeit der Norm auf Steuerbescheide unter Vorbehalt der Nachprüfung aus153. Indem § 176 Abs. 1 S. 2 AO die Geltung auch für Steueranmeldungen vorsieht und diese in der Wirkung gemäß § 168 S. 1 AO Vorbehaltsfestsetzungen gleichstehen, hat sich dieser gesetzgeberische Wille objektiviert154. Zwar bezieht sich § 176 Abs. 1 S. 2 AO unmittelbar nur auf die Rechtsprechungsänderung (§ 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AO), es ist aber kein sachlicher Grund ersichtlich, warum Vorbehaltsbescheide in den anderen Konstellationen ausgenommen werden sollten155. Außerdem streitet der offene Wortlaut, der nur von Aufhebung oder Änderung spricht, für die Anwendung der Norm auch auf Vorbehaltsbescheide156. Infrage gestellt werden kann die Anwendung auf Vorbehaltsbescheide aber unter dem Gesichtspunkt, dass der Steuerpflichtige, der einen solchen Bescheid erhält, jederzeit eine Änderung einplanen muss, solange der Vorbehalt wirksam ist (§ 164 Abs. 2 S. 1 AO)157. Weiter kann die Anwendbarkeit hinterfragt werden, wenn der Steuerbescheid als Vertrauensträger des § 176 AO fungieren soll, denn der Steuerpflichtige darf nicht auf die Beständigkeit einer Regelung vertrauen, die noch nicht beständig ist, weil sie mangels materieller Bestandskraft158 aufgrund des Vorbehalts jederzeit ohne weitere Voraussetzungen geändert werden kann. Aufgrund des Vorbehaltsvermerks muss der Steuerpflichtige gerade damit rechnen, dass der Sachverhalt rechtlich auch anders gewürdigt werden kann und der Bescheid daraufhin geändert wird, weil § 164 Abs. 2 S. 1 AO die Finanzverwaltung hierzu berechtigt159. Insoweit erscheint der Hinweis, § 176 AO setze nur formelle Bestandskraft voraus160, etwas künstlich.

153

BT-Drucks. VI/1982, S. 155. v. Wedelstädt, in: Beermann / Gosch, AO / FGO, § 176, Rn. 8; v. Groll, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 176, Rn. 90. 155 Günkel, FR 1987, 522 (523). Nach Rössler, BB 1981, 842 (845) regelt § 176 Abs. 1 S. 2 AO hingegen nur eine Modifikation von § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AO und trifft keine Aussage darüber, welche Bescheide von der Norm erfasst sind. 156 Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 176, Rn. 3; v. Groll, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 176, Rn. 90. A. A. Leisner, DStZ 1999, 358 (359). 157 So FG Rheinland-Pfalz, EFG 1981, 511 (513); FG Berlin, EFG 1987, 278 (279). 158 Seer, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 21, Rn. 288; Heuermann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 164, Rn. 5 m. w. N. 159 Seer, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 164, Rn. 12.  160 So z. B. v. Groll, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 176, Rn. 90 mit dem Hinweis, dass die formelle Bestandskraft den ersten Grad der Verfestigung bilde (§ 124 Abs. 1 S. 1 AO), was die Anwendung des § 176 AO rechtfertige. A. A. tendenziell FG Rheinland-Pfalz, EFG 1981, 511 (513) und FG Berlin, EFG 1987, 278 (279) mit dem systematischen Argument, dass § 176 AO unter der Überschrift Bestandskraft geregelt ist und Vorbehaltsbescheide nicht in Bestandskraft erwachsen. Dass diese in formelle Bestandskraft erwachsen können wird jedoch nicht thematisiert. A. A. ferner Leisner, DStZ 1999, 358 (362), nach deren Sichtweise die §§ 172 ff. AO und damit auch § 176 AO materielle Bestandskraft voraussetzen. Dass Vorbehaltsbescheide materiell nicht bestandskräftig werden, spreche gegen die Anwendung des § 176 AO, da die materielle Bestandskraft der Vertrauensträger sei. 154

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Für die Anwendbarkeit der Norm auf Vorbehaltsbescheide spricht aber, dass der Steuerpflichtige in dieser Konstellation besonders schutzbedürftig ist161. Zwar kann Schutzbedürftigkeit nicht mit Schutzwürdigkeit gleichgestellt werden162, jedoch erwachsen dem Steuerpflichtigen mit der Vorbehaltsfestsetzung erhebliche Nachteile, denn die Finanzverwaltung macht hiervon vielfach Gebrauch, und ob die Voraussetzung der nicht abschließenden Prüfung des Steuerfalls tatsächlich vorliegt, ist nur schwer justiziabel163, denn ob eine weitere Sachverhaltsprüfung erfolgen muss, unterliegt der subjektiven Einschätzung der Behörde164. Soll § 164 Abs. 1 S. 1 AO einerseits als Kompensation für den Verzicht auf den Grundsatz der Gesamtaufrollung dienen165, so erscheint es andererseits angemessen, dieses weite und schwer justiziable Recht der Finanzverwaltung durch ein Anpassungsverbot an eine zwischenzeitlich verschärfte Rechtslage zu beschränken. Die Anwendung des § 176 AO kann als Korrelat für die Einschränkung der materiellen Bestandskraft gesehen werden166. Unangemessen wäre es hingegen, wenn die Finanzverwaltung nach ihrer schwer nachprüfbaren subjektiven Einschätzung durch Vorbehaltsfestsetzung die Norm des § 176 AO in vielen Fällen umgehen könnte, Vertrauensschutz also zur Disposition der Exekutive stünde167. Zwar verbietet sich eine Vorbehaltsfestsetzung, die allein den Zweck hat, den Fall offen zu halten (wenn der Fall also schon vollständig geprüft wurde)168, jedoch wird dieser Nachweis kaum gelingen169. Auch auf Vorbehaltsbescheide kann somit der Schutz des § 176 AO erstreckt werden. b) Vorläufige Bescheide (§ 165 Abs. 1 S. 1 AO) Auch auf die vorläufige Steuerfestsetzung soll § 176 AO anwendbar sein170. Zu vorläufiger Steuerfestsetzung nach § 165 Abs. 1 S. 1 AO ist die Finanzbehörde berechtigt, soweit Tatsachen vorübergehend ungewiss sind und diese Ungewissheit mit verhältnismäßigem Aufwand nicht ausgeräumt werden kann171. Auch Ungewissheit in rechtlicher Hinsicht kann zu vorläufiger Festsetzung führen und einem 161

Rüsken, in: Klein, AO, § 176, Rn. 6.  So, jedoch in einem anderen Zusammenhang, Hey, Steuerplanungssicherheit, S. 597. 163 Hey, Steuerplanungssicherheit, S. 780 f., die die „tatbestandliche Offenheit“ des § 164 Abs. 1 S. 1 AO vor dem Hintergrund der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG kritisiert. 164 Schick, StuW 1988, 301 (329). 165 Hey, Steuerplanungssicherheit, S. 781. 166 Ähnlich Hey, Steuerplanungssicherheit, S. 777 f. (auch zum vorstehenden Satz), die die Anwendung des § 176 AO auf Vorbehaltsbescheide befürwortet, um die mit der Einschränkung der materiellen Bestandskraft verbundene Rechtsunsicherheit so gering wie möglich zu halten. 167 Leisner, DStZ 1999, 358 (364). 168 Seer, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 21, Rn. 285; Schick, StuW 1988, 301 (329). 169 Trzaskalik, StuW 1993, 321 (322). 170 Hannes, ZEV 2002, 65 (66); Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 165, Rn. 111. 171 Scheel / Brehm / Holzner, AO / FGO, S. 403; BT-Drucks. VI/1982, S. 148 f. 162

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Massenphänomen Rechnung tragen172, wenn die Auslegung eines Steuergesetzes Gegenstand eines Verfahrens bei dem BFH ist (§ 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AO), wenn die Vereinbarkeit eines Gesetzes mit der Verfassung Gegenstand eines Verfahrens beim Bundesverfassungsgericht ist (§ 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO) oder wenn dieses den Gesetzgeber nach Verfassungswidrigerklärung aufgefordert hat, die Rechtslage verfassungskonform umzugestalten (§ 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AO). Der Unterschied zur Vorbehaltsfestsetzung besteht darin, dass bei vorläufiger Festsetzung die Klärung der Ungewissheit in die Zukunft verlagert werden muss, weil sie sich derzeit trotz verhältnismäßigem Aufklärungsaufwand nicht ausräumen lässt173, wohingegen bei der Vorbehaltsfestsetzung keine solchen Unklarheiten bestehen, die abschließende Prüfung also nur aus Gründen der Zweckmäßigkeit in die Zukunft verschoben wird174. Aus dieser Zwecksetzung ergibt sich, dass sich die Vorläufigkeit nur auf jene Besteuerungsgrundlagen erstreckt, die ungewiss sind175, und daher wird die materielle Bestandskraft nur partiell suspendiert176. Die Finanzbehörde kann den Bescheid nach Aufklärung der Ungewissheit gemäß § 165 Abs. 2 S. 1 AO nur aufheben oder ändern, wenn sich die Gründe der Änderung auf diejenigen Besteuerungsgrundlagen beziehen, die die Vorläufigkeit (bzw. Ungewissheit) auslösen177. Für alle anderen Besteuerungsgrundlagen gelten die strengeren §§ 172 ff. AO178, und daher muss § 176 AO jedenfalls für diese gelten. Problematisch kann die Anwendung des § 176 AO nur für jene Besteuerungsgrundlagen sein, auf die sich der Vorläufigkeitsvermerk bezieht. Mit Blick auf die Konstellationen, die in § 165 Abs. 1 S. 2 AO unter dem Topos der rechtlichen Ungewissheit geregelt sind, kann sich die Frage der Anwendbarkeit des § 176 AO nur für die Fälle der §§ 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 und Nr. 3 (Korrektureinschränkung nach § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO) sowie Nr. 4 AO (Korrektureinschränkung nach § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AO) stellen. Für alle diese Fälle kann die Anwendbarkeit des § 176 AO zumindest dann bezweifelt werden, wenn die Rechtslage den Vertrauensträger bildet. Durch den Vermerk, dass eine Norm Gegenstand verfassungsgerichtlicher Überprüfung oder die Auslegung eines Gesetzes Gegenstand eines BFH-Verfahrens ist, und dieses Gesetz der Steuerfestsetzung zugrunde liegt, wird das Vertrauen in die Beständigkeit der Rechtslage erschüttert179. Dann muss der Steuerpflichtige nämlich damit rechnen, dass sich die rechtliche Bewertung seines Steuerfalls (auch zu seinen Ungunsten) ändern kann180. Soll dagegen

172

Brockmeyer, DStR 1992, 1222 (1227); Scheel / Brehm / Holzner, AO / FGO, S.  402. Seer, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 21, Rn. 290. 174 Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 165, Rn. 4. 175 Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 165, Rn. 4. 176 Seer, in: Tipke / Lang, § 21, Rn. 293; Scheel / Brehm / Holzner, AO / FGO, S.  404. 177 Seer, in: Tipke / Lang, § 21, Rn. 293. 178 Scheel / Brehm / Holzner, AO / FGO, S.  403. 179 Anzinger / Mittermaier, BB 2002, 2355 (2358). 180 Anzinger / Mittermaier, BB 2002, 2355 (2358) zu § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO. 173

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die materielle Bestandskraft die Ursache des geschützten Vertrauens sein, so ist der Bescheid, soweit die Vorläufigkeit reicht, nicht materiell bestandskräftig geworden und § 176 AO wäre unanwendbar. Wenn und weil aber formelle Bestandskraft nach teilweise vertretener Ansicht ausreichen soll181, hängt die Anwendbarkeit des § 176 AO von dem Zufall ab, dass die Rechtsbehelfsfristen abgelaufen sind. Positiv begründet werden kann die Anwendung für den Fall von § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO mit dem Zweck der Vorschrift. Diese soll verhindern, dass der Steuerpflichtige gezwungen ist, Einspruch einzulegen, wenn er von einer künftigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Nutzen ziehen will, verhindert also Massenrechtsbehelfe, was ökonomisch ist182. Vordergründig sollen dem Steuerpflichtigen durch die Vorläufigkeit also Vorteile verschafft werden183  – er soll auch ohne eigenen Rechtsbehelf am Erfolg partizipieren können184. Dieser Sinn und Zweck kann rechtstechnisch gerade im Zusammenspiel mit § 176 AO verwirklicht werden185 – die Norm ist also ein Instrument dafür, dass die Vorläufigkeit nur zugunsten des Bürgers wirkt. Ebenso verhält es sich für den Fall, dass die Auslegung eines Gesetzes Gegenstand eines Verfahrens vor dem BFH ist (§ 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AO). Durch den BFH entschiedene Rechtsfragen entfalten trotz der Tatsache, dass das Urteil nur die Beteiligten bindet (§ 110 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 FGO), erhebliche Breitenwirkung186, sodass der Steuerpflichte Einspruch einlegen müsste, wenn er von einer für ihn günstigen Rechtsprechungsänderung profitieren möchte187. Dem Zweck der vorläufigen Festsetzung widerspräche es, wenn sich der Vorläufigkeitsvermerk im Falle einer ungünstigen Entscheidung zulasten des Steuerpflichtigen auswirken würde, was der offene Wortlaut aber zuließe188, sodass die Anwendung des § 176 AO insofern ebenfalls sachgerecht erscheint.

181

v. Groll, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 176, Rn. 90. Drüen, FR 1999, 289 (293); Hannes, ZEV 2002, 65 (66); Ende, DStR 2006, 878 (879); Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 165, Rn. 50; Cöster, in: Koenig, AO, § 165, Rn. 25; Seer, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 165, Rn. 16a: Die Vorschrift hat den „Zweck, die Finanzbehörde wegen drohender Massenverfahren […] nicht in Einsprüchen ertrinken zu lassen“. 183 Rüsken, in: Klein, AO, § 165, Rn. 23; v. Wedelstädt, in: Kühn / v. Wedelstädt, AO / FGO, § 165, Rn. 12. 184 Drüen, FR 1999, 289 (293). 185 FG Münster, EFG 2007, 83 (84). 186 Aufgrund der inter-partes-Wirkung des Urteils muss für die Beendigung der Ungewissheit gemäß § 165 Abs. 2 S. 3 AO feststehen, dass die Entscheidungsgründe über den Einzelfall hinaus anzuwenden sind (also z. B. durch Publikation im BStBl II), s. Heuermann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 165, Rn.  158. 187 Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 165, Rn. 53; Heuermann, in: H / H /Sp, AO / ​ FGO, § 165, Rn. 60. 188 Heuermann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 165, Rn. 46 zu § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO. Dieser Gedanke lässt sich auf die Rechtsprechungsänderung übertragen. 182

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Die vorstehende Kritik hinsichtlich der Vertrauensbasis zeigt aber, dass sich diese Ergebnisse in allen Fällen des § 165 Abs. 1 S. 2 AO dogmatisch nicht zweifelsfrei begründen lassen189. 3. Anwendung im Rahmen der Saldierung gegenläufiger Fehler nach § 177 AO Die §§ 172 ff. AO ermöglichen nur eine punkturelle Korrektur von Steuerbescheiden. Ist eine solche Korrektur aufgrund von sachverhaltsbezogenen Umständen möglich (etwa aufgrund einer nachträglich bekanntgewordenen Tatsache nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO) und wird die Bestandskraft partiell durchbrochen, kann eine für den Steuerpflichtigen ungünstige Änderung der Rechtslage (z. B. aufgrund einer Rechtsprechungsänderung) in den Grenzen der Durchbrechung der Bestandskraft190 berücksichtigt werden. Das folgt daraus, dass die Besteuerungsgrundlagen des Steuerbescheids nicht in Bestandskraft erwachsen (§§ 157 Abs. 2, 351 Abs. 1 AO)191. Auch nach Unanfechtbarkeit können diese an veränderte rechtliche Verhältnisse angepasst werden192, weil sie zum erläuternden Teil (§ 121 Abs. 1 AO) des Verwaltungsakts zählen193. § 176 AO verbietet jedoch die Berichtigung von solchen Fehlern, die durch eine Rechtsprechungsänderung aufgedeckt werden. Ist die Bestandskraft des Bescheids durchbrochen, kann im Zuge einer Saldierung die rechtliche Einordnung einer Tatsache aufgrund von Vertrauensschutz nicht an eine geänderte Rechtsprechung angepasst werden (§ 177 Abs. 4 AO i. V. m. § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AO). Grundsätzlich sind nämlich Änderungen der Rechtslage, die nach der erstmaligen Steuerfestsetzung erfolgen, materielle Fehler i. S. d. § 177 Abs. 3 AO, wie auch die Verweisungsnorm des § 177 Abs. 4 AO nahelegt, denn es werden Rechtsfehler offenbart, die bereits ursprünglich (d. h. auch im Zeitpunkt der ersten Steuerfestsetzung) vorlagen194. Die Rechtsprechungsänderung „ändert“ das Recht nicht etwa, sondern die Gerichte erkennen nur das Recht, das schon immer galt. Auch die Kassation einer Steuernorm durch das Bundesverfassungsgericht wirkt bis zum Eintritt der Verfassungskollision zurück195. Die Verfassungswidrigerklärung einer Norm wirkt 189

Anzinger / Mittermaier, BB 2002, 2355 (2358) lehnen die Anwendbarkeit des § 176 AO daher ab (zu § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO). 190 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, Vor §§ 130–133, Rn. 60; Söhn, StuW 2000, 232 (232); Birk / Desens / Tappe, Steuerrecht, Rn. 454; v. Groll, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 177, Rn. 60. 191 Hundt-Eßwein, DStR 2007, 751. 192 Söhn, StuW 2000, 232 (236); Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 177, Rn. 5.  193 v. Groll, StuW 1993, 312 (314); Birk / Desens / Tappe, Steuerrecht, Rn. 526. 194 Bartone, in: Kühn / v. Wedelstädt, AO / FGO, § 177, Rn. 37; Rüsken, in: Klein, AO, § 177, Rn. 17; Koenig, in: Koenig, AO / FGO, § 177, Rn. 26. 195 Battis, in: HStR XII3, § 275, Rn. 100; E. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, § 39, Rn. 1375 f. mit der zutreffenden Begründung, dass der Regelungsgehalt des § 79 Abs. 2

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ebenfalls ex tunc. Der Gesetzgeber muss grundsätzlich – abhängig von der (relativ unkalkulierbaren) Tenorierung im Einzelfall – den Fall für die Vergangenheit (neu) regeln. Auch wenn die Gerichte zu einem anderen Auslegungsergebnis gelangen als die Verwaltung, wäre dieses bereits bei der erstmaligen Steuerfestsetzung (bzw. schon immer) maßgeblich gewesen. Rechtswidrige Verwaltungsvorschriften, die das Auslegungsergebnis der Verwaltung kodifizieren, sind nämlich keine „Gesetze“ im Sinne von Art. 20 Abs. 3, Art. 97 Abs. 1 GG, sodass die Gerichte – mit Einschränkungen bei ermessensdirigierenden Verwaltungsvorschriften – hieran nicht gebunden sind196. 4. Zeitliche Anwendbarkeit des § 176 AO – Abgrenzung von geregeltem und ungeregeltem Vertrauensschutz Weil der Gesetzgeber Vertrauensschutz nur für abgeschlossene Veranlagungen, nicht aber für offene Fälle geregelt hat, ist die präzise Bestimmung der zeitlichen Anwendbarkeit von § 176 AO von wesentlicher Bedeutung. Davon hängt es ab, ob Exekutive und Judikative Vertrauensschutz ohne die gesetzliche Grundlage des § 176 AO verwirklichen müssen. Ausschlaggebend ist die Frage, ob die §§ 172 ff. AO den Eintritt der Bestandskraft als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal voraussetzen. Muss der Steuerbescheid des Bürgers bestandskräftig sein, um in den Genuss der Privilegien des § 176 AO zu kommen, verbirgt sich im bisherigen Vertrauensschutzsystem ein weiterer Zufall, den der Bürger nicht beeinflussen kann. Deshalb wird diese Problematik an anderer Stelle dargestellt197.

B. Das Dilemma: Die Differenzierung zwischen abgeschlossenen und nicht abgeschlossenen Veranlagungen Bisher wurde gezeigt, wie Vertrauensschutz für abgeschlossene Veranlagungen verwirklicht wird. In folgenden Beispielen richtet sich der Fokus auch auf die Personengruppe, die noch keinen Steuerbescheid erhalten hat. Dabei soll das Zusammenspiel von § 176 AO und nicht explizit geregeltem Vertrauensschutz für offene Fälle vorab veranschaulicht werden.

BVerfGG ohne diese Rechtsfolge nicht verständlich wäre; Hillgruber / Goos, Verfassungsprozessrecht, Rn. 689; Anzinger / Mittermaier, BB 2002, 2355 (2359). 196 BVerfGE 78, 214 (227). 197 Vgl. hierzu § 3 A. II.

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I. Problemdarstellung anhand von Beispielsfällen 1. Das verfassungswidrige Steuergesetz Mit Beschluss vom 23. Juni 2015 erklärte das Bundesverfassungsgericht die Ersatzbemessungsgrundlage des § 8 Abs. 2 GrEStG198 i. V. m. § 138 Abs. 2 und Abs. 3 BewG für unvereinbar mit dem Grundgesetz199. Diese Ersatzbemessungsgrundlage kam zur Anwendung, wenn (1) eine Gegenleistung als Bemessungsgrundlage für die Grunderwerbsteuer nicht vorhanden war, (2) bei Umwandlungen im Sinne des zivilrechtlichen UmwG und (3) in den Fällen des § 1 Abs. 3 GrEStG. Insofern wurden die Bewertungsvorschriften des § 138 Abs. 2 und 3 BewG i. V. m. §§ 140 ff. BewG (für die Bewertung von land- und fortwirtschaftlichen Vermögen) und §§ 145 ff. BewG (für die Bewertung von Grundvermögen) als Bemessungsgrundlage herangezogen. Die Regelbemessungsgrundlage des § 8 Abs. 1 GrEStG bestimmt für die Berechnung der Steuer dagegen den Wert der Gegenleistung. Diese Gegenleistung orientiert sich regelmäßig am gemeinen Wert (Verkehrswert) des Grundstücks200. Im Vergleich zur Besteuerung auf Grundlage dieser Regelbemessungsgrundlage des § 8 Abs. 1 GrEStG ergaben sich hierbei gravierende Unterschiede in der steuerlichen Belastung. Empirische Untersuchungen zeigten, dass der bei landund forstwirtschaftlichen Grundbesitzwert nach § 144  BewG zu berücksichtigende Betriebswert (§ 142 BewG) lediglich zehn Prozent des Verkehrswerts betrug201. Diese ungleichen Ergebnisse im Belastungserfolg führten ohne Weiteres zu einem Verstoß des § 8 Abs. 2 GrEStG gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG)202. Gleichheits- und damit verfassungswidrige Normen werden durch das Bundesverfassungsgericht nur selten für nichtig erklärt. Dem Gesetzgeber stehen mehrere Möglichkeiten zur Beseitigung des Verstoßes zur Verfügung und dieser gesetzgeberische Gestaltungsspielraum soll durch die Kassation der Norm nicht eingeschränkt werden203. Indem das Bundesverfassungsgericht beim Entscheidungs­ ausspruch der Unvereinbarerklärung204 diesen Spielraum berücksichtigen kann, 198

In der Fassung des JStG 1997 [BGBl. I 1996, S. 2049 (2062)] vom 20. Dezember 1996. BVerfGE 139, 285. 200 BVerfGE 139, 285 (302). 201 BVerfGE 139, 285 (308) mit Verweis auf BVerfGE 117, 1 (65). 202 BVerfGE 139, 285 (302–317). Dies wurde schon im Vorfeld nicht bezweifelt, vgl. Englisch, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 18, Rn. 64. 203 BVerfGE 93, 386 (402); BVerfGE 99, 280 (298); BVerfGE 105, 73 (133); Arndt / Schumacher, NJW 1999, 745 (747); Seer / Wendt, NJW 2000, 1904 (1910); Seer, GmbHR 2002, 873 (876). 204 Durch die fragmentarischen Regelungen in §§ 31 Abs. 2 S. 2 und 3, 79 Abs. 1 BVerfGG hat der Gesetzgeber im Jahr 1970 [BGBl. I 1970, S. 1765 (1766)] diese Tenorierungsform anerkannt, vgl. Wernsmann, Das gleichheitswidrige Steuergesetz, S. 79. E. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, § 39, Rn. 1368 kritisiert, dass der Anwendungsbereich der Unvereinbar 199

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soll die Verfassungswidrigkeitserklärung der Entscheidungsform der Nichtigkeitserklärung vorgezogen werden205. Auch im vorliegenden Fall führte der Verstoß gegen den Gleichheitssatz zum Entscheidungsausspruch der Unvereinbarerklärung. Grundsätzlich dürfen Normen, die für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt werden, bereits ab dem Zeitpunkt der Konfliktentstehung206 (und damit im Regelfall mit der Verkündung des Gesetzes) nicht mehr angewendet werden. Es ist jedoch zu beobachten, dass hiervon häufig abgewichen wird207. Dies wird für die Vergangenheit unter anderem aus Gründen einer verlässlichen Finanz- und Haushaltsplanung und eines gleichmäßigen Verwaltungsvollzugs gerechtfertigt208. Auch im Beispielsfall wurde § 8 Abs. 2 GrEStG für den Zeitraum vom 1. Januar 1997 bis zum 31. Dezember 2008 aus diesen Gründen trotz eklatanter verfassungsrechtlicher Mängel für weiter anwendbar erklärt und eine Verpflichtung des Gesetzgebers zur rückwirkenden Neuregelung für diesen Zeitraum abgelehnt, obwohl sich die Verpflichtung des Gesetzgebers zur Schaffung einer verfassungsgemäßen Rechtslage als Folge der Verfassungswidrigkeitserklärung einer Norm durch das Bundesverfassungsgericht nach dem Rechtsgedanken des § 79 Abs. 2 S. 1 BVerfGG grundsätzlich auf den gesamten Kollisionszeitraum erstreckt209. Für den Zeitraum vom 1. Januar 2009 bis zum 23. Juni 2015 verpflichtete das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber zu einer rückwirkenden verfassungskonformen Neuregelung. Weitergeltungsanordnung der verfassungswidrigen Vorschrift vom 1. Januar 1997 bis zum 31. Dezember 2008 Das Bundesverfassungsgericht rechtfertigte die Weitergeltung der verfassungswidrigen Vorschrift mit der Begründung, dass der Großteil der Grunderwerbkeitserklärung durch das 4. Änderungsgesetz zum BVerfGG nicht definiert wurde. Aufgrund der Vielschichtigkeit der zu berücksichtigenden Aspekte würde dies eine gesetzgeberische Herausforderung darstellen. 205 Kritisch hierzu überzeugend Wernsmann, Das gleichheitswidrige Steuergesetz, S. 92– 95, wonach die Nichtigerklärung die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit nicht beschränkt. § 31 BVerfGG könne den Gesetzgeber nicht binden, da dieser an die verfassungsmäßige Ordnung, nicht aber an das einfachgesetzliche Recht gebunden sei, dessen Urheber er ist. Dürfe der Gesetzgeber demnach sogar die für verfassungswidrig erklärte Vorschrift inhaltsgleich erneut erlassen, so dürfe er die Rechtslage erst recht verfassungskonform umgestalten. Pohle, Verfassungswidrigerklärung von Gesetzen, S. 81–83 sieht die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers durch die Nichtigerklärung ebenso als nicht gefährdet an. 206 Seer, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 22, Rn. 287; ders. GmbHR 2002, 873 (876). 207 Vgl. nur BVerfGE 99, 280 (299) – dort aus Gründen des Vertrauensschutzes. 208 BVerfGE 93, 121 (148). 209 BVerfGE 55, 100 (111); 81, 363 (384); Seer, GmbHR 2002, 873 (876). Häufig ordnet das BVerfG auch die Nichtigkeit der Regelungen an, wenn der Gesetzgeber sie nicht bis zu dem im Urteil bestimmten Zeitpunkt durch verfassungskonforme Vorschriften ersetzt, vgl. z. B. BVerfGE 130, 240 (262). Teils spricht das BVerfG wie im Beispielsfall diesen Grundsatz nicht mehr aus, sondern sieht die Verpflichtung des Gesetzgebers zur rückwirkenden Umgestaltung der Rechtslage zu dem im Urteil benannten Zeitpunkt als Regel an, s. BVerfGE 139, 285 (318).

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steuerfestsetzungen in diesem Zeitraum bestandskräftig abgeschlossen sei210. Daneben wurde argumentiert, dass auch Steuerpflichtige noch offener Verfahren durch die Geltung der Unvereinbarkeitserklärung auch für den genannten Zeitraum verbunden mit einer rückwirkenden Neuregelung des Gesetzgebers nicht höher belastet werden könnten211. Zwar würde eine Neuregelung der Ersatzbemessungsgrundlage zu einer höheren Steuerlast führen, die Berücksichtigung dieser nachteiligen Folgen scheitere aber aufgrund von § 176 AO. En passant nahm das Bundesverfassungsgericht die Anwendbarkeit des § 176 AO auch für offene Fälle an, also solche, die noch nicht durch einen bestandskräftigen Verwaltungsakt abgeschlossen wurden oder durch Einspruch und Klage offengehalten werden212. Nach derzeitiger Ausgestaltung des § 176 AO trifft es aber nicht zu, dass die Vorschrift auch auf diese Fälle anwendbar ist, denn für den erstmaligen Erlass eines Steuerbescheids gilt die Vorschrift nicht, und falls der Bescheid infolge eines Einspruchs noch nicht bestandskräftig ist, müsste der Einspruch (nach Androhung der Verböserung) gemäß § 362 Abs. 1 S. 1 AO zurückgenommen werden, um den Anwendungsbereich des § 176 AO zu eröffnen213. Ein Verböserungsverbot stünde der Berücksichtigung von ungünstigen Rechtslage­ änderungen (im Rahmen der Gesamtaufrollung, § 367 Abs. 2 S. 1 AO) nämlich nicht entgegen (§ 367 Abs. 2 S. 2 AO). Auch § 176 AO hindert das Finanzamt im Rahmen der Einspruchsentscheidung nicht, solche Rechtslageänderungen zu berücksichtigen214. Die Annahme, dass die Norm auch für nicht abgeschlossene Veranlagungen gilt (im Beispielsfall also im Zeitraum vom 1. Januar 1997 bis zum 31. Dezember 2008), überzeugt nach allem nicht. Unausgesprochene Konsequenz einer vom Veranlagungsstand unabhängigen Anwendung des § 176 AO auf den Zeitraum, in dem die verfassungswidrige Rechtslage im Beispielsfall weiterhin Anwendung finden soll (wie es das Bundesverfassungsgericht annahm), wäre ein unbedingter Schutz des Vertrauens auf ein nichtiges Steuergesetz. Ein solcher widerspräche jedoch der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts. Die Schutzwürdigkeit von Vertrauen auf die Verfassungsmäßigkeit einer Norm korreliere zwar mit der Verpflichtung des Bürgers, gültige Gesetze zu beachten215. Jedoch soll eine Norm schutzwürdiges Vertrauen nicht 210

BVerfGE 139, 285 (319). Bemerkenswert ist zudem der Hinweis (S. 320), dass die Unanwendbarkeit der verfassungswidrigen Norm in dem genannten Zeitraum zu Rückabwicklungsschwierigkeiten führen würde. Damit wird überdies Verwaltungsaufwand bei der Rechtsfolgenbestimmung berücksichtigt. 211 BVerfGE 139, 285 (319). 212 BVerfGE 99, 280 (299) bezieht den Anwendungsbereich des § 176 AO dagegen zutreffend auf die Aufhebung oder Änderung von Steuerbescheiden (also auf Fälle abgeschlossener Veranlagungen). 213 v. Wedelstädt, in: Beermann / Gosch, AO / FGO, § 176, Rn. 13; Koenig, in: Koenig, AO, § 176, Rn. 6; Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 176, Rn. 22; Helbich, Vertrauensschutz in Verwaltungsvorschriften, S. 253 f. 214 BFH BStBl II 2007, 524 (527); Müller, AO-StB 2013, 250 (254). 215 BVerfGE 53, 115 (128).

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begründen können, wenn an deren Verfassungsmäßigkeit erhebliche Zweifel bestehen216. Bliebe man konsequent, müsste man die Schutzwürdigkeit des Vertrauens im vorliegenden Fall verneinen, da nicht nur ernsthafte Zweifel an der Verfassungswidrigkeit der Ersatzbemessungsgrundlage bestanden, diese vielmehr auf der Hand lag. Jedoch zeichnet sich § 176 AO dadurch aus, dass die konkrete Schutzwürdigkeit des Vertrauens kein Tatbestandsmerkmal der Norm ist217 – die Schutzwürdigkeit wird für ihren originären Anwendungsbereich als gegeben unterstellt. Die Anwendung der Norm auf den Zeitraum vom 1. Januar 1997 bis zum 31. 12. 2008 durch Erstreckung ohne inhaltliche Veränderung hinsichtlich des Spezifikums der Unbedingtheit des Schutzes würde zum unbedingten Vertrauensschutz auf ein nichtiges Steuergesetz führen218. Die schlichte Erstreckung der Vorschrift auf den erstmaligen Erlass eines Bescheids, entweder durch den Gesetzgeber219 oder durch richterliche Rechtsfortbildung, ist daher nicht möglich. Die inhaltliche Ausgestaltung einer Vorschrift, die den erstmaligen Erlass eines Steuerbescheids umfasst, kann nur soweit reichen, wie der Steuerpflichtige auf das nichtige Steuergesetz vertrauen darf. Wann und inwieweit auf ein nichtiges Steuergesetz vertraut werden darf, wird daher noch geprüft werden220, weil der verfassungswidrige Normenbestand als Vertrauensträger fungieren muss. Bisher soll dies für den originären Anwendungsbereich der Aufhebung und Änderung von Steuerbescheiden nicht der Fall sein, weil Ursache des geschützten Vertrauens die Bestandskraft der Steuerfestsetzung und nicht das verfassungswidrige Gesetz sei221. Der Reformvorschlag führt also gegebenenfalls zu einem Wechsel des Vertrauensträgers.

216 BVerfGE 13, 261 (272); 18, 429 (439); 19, 187 (197); 30, 367 (388); 135, 1 (22). Kritisch Hey, NJW 2014, 1564 (1566), wonach das „Gesetzescontrolling“ nicht dem Bürger aufgelastet werden soll. Zum Vertrauensschutz auf nichtige Rechtsnormen vgl. ausführlich Wernsmann, JuS 1999, 1177 (1178 f.) und § 10 A. I. und § 10 C. I. der Untersuchung. 217 Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 176, Rn. 1; Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 176, Rn. 28: Die Norm ist anwendbar, wenn ihre Voraussetzungen vorliegen, auch wenn der Betroffene keinen Vertrauensschutz verdient, umgekehrt greift die Norm nicht, wenn die Voraussetzungen nicht vorliegen, der Betroffene aber Vertrauensschutz verdient; Tiedkte / Szczesny, NJW 2002, 3733 (3737); Rödder / Hageböke, Ubg 2014, 13 (20). A. A. nicht überzeugend Rössler, BB 1981, 842 (843), der bei der Anwendung der Vorschrift prüfen will, ob der Einzelne Vertrauensschutz verdient. Dies ergebe sich aus Treu und Glauben, der bei der Gesetzesanwendung zu berücksichtigen sei (richtigerweise müsste § 176 AO hierfür teleologisch reduziert werden). Umgekehrt könne Vertrauensschutz auch dann gewährt werden, wenn die Voraussetzungen des § 176 AO nicht vorliegen würden. Wie dies erfolgen soll, bleibt jedoch im Dunklen. 218 Nach Birk, DStJG 27 (2004), S. 9 (13) darf Vertrauensschutz nicht verabsolutiert werden (jedoch für den Fall der Gesetzesänderung). Das muss auch für das nichtige Steuergesetz ­gelten. 219 So Rose, Stbg 1999, 401 (409 f.), der den Eingangssatz des § 176 AO inhaltlich so aus­ gestalten will, dass dieser auch den Erlass von (Erst-)Steuerbescheiden umfasst. 220 S. § 10 A. I. und § 10 C. I. 221 BFH BStBl II 2004, 317 (319); BStBl II 2007, 524 (527); FG Hamburg, EFG 2006, 1020 (1023).

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Einleitung

Nach allem war die Weitergeltungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts im Zeitraum vom 1. Januar 1997 bis zum 31. Dezember 2008 konstitutiv, um eine Berücksichtigung der neuen Rechtslage für offene Fälle zu vermeiden. Die Anwendung der alten Rechtslage kam allen Steuerpflichtigen unabhängig davon zugute, ob bereits eine Veranlagung erfolgt war222. Angesichts der Insuffizienz des § 176 AO obliegt es dem Bundesverfassungsgericht, das Vertrauen der Steuerpflichtigen auf die Verfassungsmäßigkeit eines Steuergesetzes für nicht abgeschlossene Veranlagungen über den Rechtsfolgenausspruch der verfassungsgerichtlichen Entscheidung zu schützen223. Die Norm des § 176 AO schützt dieses Vertrauen selbst für abgeschlossene Veranlagungen nicht. Allenfalls mittelbar wirkt sich § 176 AO dahin aus, dass der Steuerpflichtige vor einer Umgestaltung der Rechtslage aufgrund eines verfassungswidrigen Gesetzes geschützt wird. Ziel der Arbeit ist es, den Vertrauensschutz bereits beim erstmaligen Erlass eines Steuerbescheids auf eine gesetzliche Grundlage zu stellen, sodass allein das Gesetz die Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit im Hinblick auf Vertrauensschutz trifft, und zwar unabhängig vom Stand der Veranlagung. Rückwirkende gesetzgeberische Neuregelung für den Zeitraum vom 1. Januar 2009 bis zum 23. Juni 2015 Für den Zeitraum vom 1. Januar 2009 bis zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts am 23. Juni 2015 ordnete dieses die Unanwendbarkeit des § 8 Abs. 2 GrEStG mit der Verpflichtung des Gesetzgebers an, die Neuregelung auch auf diesen Zeitraum zu erstrecken. Der Gesetzgeber kam dem durch die Übernahme der Bewertungsvorschriften des § 157 Abs. 1 bis Abs. 3 BewG (i. V. m. § 151 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BewG) nach, die zu höherer Steuerlast führen. Die Verwirklichung von Vertrauensschutz erweist sich in diesem Zeitraum aufgrund der Unzulänglichkeit des § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO als komplizierter. Für den Fall, dass bereits vor der Verkündung der verfassungsgerichtlichen Entscheidung ein Wertfeststellungsbescheid auf Grundlage des § 138 Abs. 1 S. 1 BewG erging224, bleibt es bei diesem Ergebnis, auch wenn ein Grunderwerbsteuerbescheid (Folgebescheid) noch nicht erlassen wurde, obwohl die Neuregelung diesen Fall erfassen würde. Aufgrund des originären Anwendungsbereichs des § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO dürfen anlässlich einer Aufhebung oder Änderung des Wertfeststel 222

Viskorf, in: Boruttau, GrEStG, § 8, Rn. 102. So z. B. BVerfGE 99, 280 (298 f): Die Aufhebung oder eine andere Ausgestaltung der Steuerfreiheit der Stellenzulage Ost für die Vergangenheit durch eine rückwirkende Neuregelung des Gesetzgebers sei aus Gründen des Vertrauensschutzes nicht zulässig. Damit trägt die Tenorierung Vertrauensschutzgesichtspunkten Rechnung. Bereits aus diesem Grund trifft es nicht zu, dass die Rechtsfolgen verfassungsgerichtlicher Entscheidungen beliebig sind, so aber Glanegger DStR 1999, 311 (312). 224 Auf Feststellungsbescheide ist § 176 AO anwendbar, s. die Verweisung in § 181 Abs. 1 S. 1 AO. Zu den Einzelheiten vgl. Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 176, Rn. 9. 223

§ 2 Grundlagen des derzeitigen Vertrauensschutzsystems

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lungsbescheids (sofern eine solche nach den §§ 172 ff AO möglich ist, was allein aufgrund der Verfassungswidrigkeit einer Steuernorm nicht der Fall ist) die Folgen der Verfassungswidrigkeitserklärung des § 8 Abs. 2 GrEStG nicht berücksichtigt werden und insoweit wird eine Parallele zu § 79 Abs. 2 BVerfGG erkannt225. Unterstellt man eine Anteilsvereinigung nach § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG zum Zeit­ punkt X, der zeitlich nach dem 31. 12. 2008, aber vor dem 23. 6. 2015 liegt, so wird als Bemessungsgrundlage nicht der Kaufpreis der Anteile herangezogen, sondern die Ersatzbemessungsgrundlage des § 8 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 GrEStG, da der Kaufpreis der Anteile nicht nur den Wert der Grundstücke abbildet, sondern auch das übrige Vermögen umfasst und der auf die Grundstücke entfallende Anteil des Kaufpreises nur unzureichend ermittelbar ist226. Der bestandskräftige Wertfeststellungsbescheid nach § 138 Abs. 1 S. 1 BewG, wenn er vor dem 23. 6. 2015 erlassen wurde, führt im Rahmen des § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO dazu, dass die Anwendung der verfassungswidrigen Norm (trotz rückwirkender Neuregelung des Gesetzgebers) für diese Besteuerungsgrundlagen keinen Rechtsfehler i. S. v. § 177 AO darstellt227. Insofern wird durch § 176 AO (i. V. m. § 177 Abs. 4 AO) Vertrauensschutz vermittelt. Auch im Folgebescheid müssen die alten Bedarfswerte zugrunde gelegt werden (§ 182 Abs. 1 S. 1 AO), selbst wenn dieser erst zeitlich nach dem 23. 6. 2015 erlassen wurde und diese Werte nicht mehr gelten. Fraglich ist, wie Vertrauensschutz realisiert werden kann, wenn der Wertfeststellungsbescheid zeitlich nach dem 23. 6. 2015 erlassen wird. Dabei unterstellt sei wiederum eine Anteilsvereinigung zum Zeitpunkt X, der nach dem 31. 12. 2008, aber vor dem 23. 6. 2015 liegt. Hierbei kann nicht, wie von § 176 AO vorausgesetzt, auf die Beständigkeit eines Verwaltungsakts vertraut werden (der die alten Werte berücksichtigt), weil es einen solchen nicht gibt. Dies führt beim künftigen Erlass des Wertfeststellungsbescheids (der dann einen Erstbescheid darstellt) dazu, dass die rückwirkende Neuregelung des Gesetzgebers uneingeschränkt Anwendung finden kann. Zum Abschluss der Veranlagung vor der Neuregelung kann es nicht kommen, weil die verfassungswidrige Vorschrift nicht mehr angewendet werden darf. Dies muss zur Aussetzung der Bearbeitung von Veranlagungen bis zur Neuregelung führen228. 225

Der Rechtsgedanke des § 79 Abs. 2 BVerfGG soll § 176 AO zugrunde liegen, vgl. Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 176, Rn.  10; v. Wedelstädt, in: Beermann / Gosch, AO / FGO, § 176, Rn. 22.  226 Viskorf, in: Boruttau, GrEStG, § 8, Rn. 95. 227 Seibel, in: Lippross, Basiskomm. Steuerrecht, § 176, Rn. 1. 228 BVerfGE 93, 386 (403); 105, 73 (134); Schade / Rapp, DStR 2015, 2166 (2170); Pohle, Verfassungswidrigerklärung von Gesetzen, S. 174; Wernsmann, Das gleichheitswidrige Steuergesetz, S. 97 f. spricht von einem „Schwebezustand“, der den Rechtsschutzzielen der Bürger im Ausgangsverfahren dadurch Rechnung tragen soll, dass diese durch eine gesetzgeberische Neuregelung ggf. in eine vorenthaltene Begünstigung eingeschlossen werden und hiervon profitieren können. Ebenso Pohle, Verfassungswidrigerklärung von Gesetzen, S. 83. In den Konstellationen des § 176 AO würde der Bürger gerade vom Abschluss der Veranlagung der Behörde oder des Einspruchsverfahrens profitieren. Die Interessenlage ist hier also umgekehrt.

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Einleitung

Obwohl also beide Steuerpflichtige ihre wirtschaftliche Entscheidung (im Beispielsfall die Anteilsvereinigung nach § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG) im selben Zeitpunkt getroffen haben und der Steueranspruch im selben Zeitpunkt entstanden ist (§ 38 AO), führt die in § 176 AO getroffene Differenzierung dazu, dass diejenigen, deren Veranlagungen vor dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts abgeschlossen wurden, vor der Neuregelung geschützt sind. Sie werden bevorzugt. In allen anderen Fällen ist die ungünstigere Neuregelung uneingeschränkt anwendbar. Diese Personengruppe wird benachteiligt. Der Abschluss der Veranlagung beruht, besonders bei automationsgestützter Steuerfestsetzung (§ 155 Abs. 4 S. 1 AO), auf einem Zufall229. Der Beispielsfall zeigt, dass die Rechtsfolgenbestimmung des Bundesverfassungsgerichts für die Anwendung von § 176 AO bedeutsam ist230. Beide Aspekte sind dahingehend ineinander verzahnt, dass der konkludente Ausschluss des Erstbescheids durch das Gesetz zu einer komplizierten und zeitpunktbezogenen Anwendung der Vorschrift führt. 2. Die Änderung höchstrichterlicher Rechtsprechung Mit Beschluss vom 31. 1. 2013 (veröffentlicht am 27. 3. 2013) gab der Bundesfinanzhof seine Rechtsprechung zum subjektiven Fehlerbegriff hinsichtlich bilanzieller Rechtsfragen231 auf. Im Ausgangsfall bot ein Mobilfunkbetreiber in der Rechtsform einer GmbH den verbilligten Erwerb von Mobiltelefonen bei Abschluss eines Mobilfunkvertrags an. In materiell-rechtlicher Hinsicht stellte sich die Frage, ob die durch die verbilligte Abgabe der Telefone ausgelöste Betriebsvermögensminderung periodengerecht über die Vertragslaufzeit durch einen aktiven Rechnungsabgrenzungsposten (§ 5 Abs. 5 S. 1 Nr. 1 EStG) zu verteilen war. Der BFH bejahte dies, sodass die juristisch korrekte Bilanz der GmbH einen solchen aktiven Rechnungsabgrenzungsposten hätte ausweisen müssen. Der Kaufmann hatte auf einen solchen aber verzichtet, was im Zeitpunkt der Bilanzaufstellung vertretbar war und auch der kaufmännischen Sorgfalt entsprach, da die Rechtsfragen bis dato streitig und noch nicht höchstrichterlich entschieden worden waren. Nach der bisherigen Sichtweise war die Bilanz nur dann fehlerhaft, wenn der Rechtsverstoß für den Bilanzierenden erkennbar war (sog. subjektiver Fehlerbegriff). Bestand keine gesicherte Rechtsauffassung, entsprach jeder vertretbare Bilanzansatz der kaufmännischen Sorgfalt und die Finanzbehörde sollte bei der Steuerfestsetzung an diesen Bilanzansatz gebunden sein232. 229

Auch Schade / Rapp, DStR 2015, 2166 (2170) ordnen die Abgeschlossenheit der Veranlagung als „Zufall“ ein, welche angesichts des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) für Vertrauensschutz nicht relevant sein darf. 230 S. hierzu noch ausführlich unter § 4 B. I. 231 BFH GrS, BStBl II 2013, 317. 232 BFH BStBl II 1993, 392 (394) bejahte die Richtigkeit der Bilanz im Bilanzstichtag trotz Rechtsprechungsänderung nach der Bilanzaufstellung. In letzterem Zeitpunkt stand die Bilanz

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An dieser Rechtsprechung zum subjektiven Fehlerbegriff hielt der BFH jedoch nicht mehr fest. Ein subjektiver Maßstab bei der rechtlichen Bewertung von Geschäftsvorfällen führe nämlich dazu, dass dem materiell zutreffenden Bilanzansatz keine Bedeutung mehr zukommt, die Finanzbehörde also nur noch prüfen darf, ob der Ansatz in der Bandbreite des juristisch Vertretbaren liegt233. Ob die Steuer hingegen juristisch zutreffend festgesetzt wird, wäre unerheblich234. Das könne dazu führen, dass gleich Leistungsfähige aufgrund von abweichenden Bilanzansätzen unterschiedlich besteuert werden (Art. 3 Abs. 1 GG)235. Einen subjektiven Fehlerbegriff zum Maßstab zu machen, würde dazu führen, dass der Steuerpflichtige bei unklarer Rechtslage die noch vertretbaren Grenzen zu seinen Gunsten ausloten könnte236. Der Steueranspruch entstehe aber (§ 38 AO) in der Art und Weise, wie das Gesetz es verlangt – unabhängig von anderen vertretbaren Rechtsansichten237. Für das Entstehen der Steuer sei der Zeitpunkt der Bilanzaufstellung im Vorfeld deshalb nicht relevant238. Kritisiert wurde die Aufgabe des subjektiven Fehlerbegriffs unter anderem mit dem Argument, dass es im Fall einer Rechtsprechungsänderung überhaupt nicht um ein subjektives Verständnis gehe, wenn sich der Bilanzierende im Zeitpunkt der Bilanzaufstellung an der höchstrichterlichen Rechtsprechung orientierte239; dann stelle sich vielmehr die Frage des Vertrauensschutzes. Konkret durften Steuerpflichtige nach der Rechtsprechung zum subjektiven Fehlerbegriff darauf vertrauen, dass die im Zeitpunkt der Bilanzaufstellung zugrunde gelegte Rechtsprechung am Bilanzstichtag weiterhin maßgeblich bleibt. Der BFH argumentierte, mit der Aufgabe des subjektiven Fehlerbegriffs gehe kein Verlust in Einklang mit der (überholten) Rechtsprechung. Das subjektive Fehlerverständnis wirkte sich aber nicht immer zugunsten des Bilanzierenden aus, vgl. BFH BStBl II 2006, 688 (691); Hennrichs, NZG 2013, 681 (682); Rogall / Curdt, Ubg 2013, 345 (346); Schlotter, FR 2013, 835. 233 BFH BStBl II 2010, 739 (745). Nach Weber-Grellet, DStR 2013, 729 (731) lasse die Gleichmäßigkeit der Besteuerung eine solche juristische Einschätzungsprärogative des Kaufmanns nicht zu. Die vertretbare Auslegung könne die Finanzbehörden nicht binden, was mit folgendem argumentum ad absurdum illustriert wird: „niemand käme auf die Idee, den Abzug von Werbungskosten nach Maßgabe eines vertretbaren Subsumtionsvorschlags des Steuerpflichtigen zu beurteilen“ (im Vergleich zu Überschusseinkünften); auch Rogall / Curdt, Ubg 2013, 345 (348) ziehen diesen Vergleich zu den Überschusseinkünften. 234 Aus diesem Grund lehnt auch Kühnen, in: Bordewin / Brandt, EStG, § 4, Rn. 1042 ein subjektives Verständnis ab. Die Bilanz müsse nicht die Kenntnisse des Kaufmanns darstellen, sondern seine objektive Vermögenslage. 235 BFH BStBl II 2010, 739 (745); BFH GrS, BStBl II 2013, 317 (322), wonach der subjektive Fehlerbegriff dazu führt, dass der Kaufmann durch Gestaltung der Bilanz seine Leistungsfähigkeit selbst unzutreffend und für die Finanzverwaltung bindend darstellen könnte; Seiler, in: K / S/M, EStG, § 4, C45. Nach Rogall / Curdt, Ubg 2013, 345 (348) ist ein subjektives Fehlerverständnis mit Gesetz- und Gleichmäßigkeit der Besteuerung nicht zu vereinbaren. 236 Rödder / Hageböke, Ubg 2008, 401 (405); Rogall / Curdt, Ubg 2013, 345 (350). 237 BFH GrS, BStBl II 2013, 317 (322). 238 BFH GrS, BStBl II 2013, 317 (322). 239 Der Steuerpflichtige legt gerade keine beliebige, sondern die Rechtsauffassung eines obersten Bundesgerichts zugrunde, vgl. Drüen, GmbHR 2013, 505 (509).

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von Vertrauensschutz einher, weil ein solcher über § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AO verwirklicht werden könne240. Das erfuhr Kritik aus dem Schriftum241. Die Konsequenzen dieser „schlanken Aussage“242 werden aufgezeigt. Unterstellt man eine Bilanz (-aufstellung) von Kaufmann A zum Zeitpunkt X, der vor dem 27. 3. 2013 liegt243, die einen Geschäftsvorfall Y in einer für ihn juristisch günstigen Art und Weise abbildet244, der materiell richtige Bilanzansatz aber ein anderer und ungünstiger wäre, so ist dies unschädlich, weil der Kaufmann aufgrund des subjektivierten Fehlerverständnisses die maximal günstigste, noch vertretbare Gesetzesauslegung der Bilanz zugrunde legen durfte245. Unterstellt man weiter, dass die Steuer im digitalisierten Verfahren am 26. 3. 2018 um 23.59 Uhr automatisiert (§ 155 Abs. 4 S. 1 AO) festgesetzt wird, darf Kaufmann A diesen Bilanzansatz auch im Falle einer späteren Korrektur des Steuerbescheids beibehalten (§ 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AO), obwohl die materiell zutreffende Bilanz hätte anders ausfallen müssen246. Kaufmann B stellte die Bilanz ebenfalls im Zeitpunkt X auf und behandelte den Geschäftsvorfall Y exakt wie Kaufmann A. Das sich nach einem bestimmten Rechenvorgang orientierende Schema (sog. Algorithmus) der digitalen Finanz­ verwaltung führt bei B jedoch dazu, dass dessen Steuer erst am 27. 3. 2013 nach null Uhr festgesetzt wird. Dies führt dazu, dass bei der Steuerfestsetzung nicht mehr das subjektive Rechtsverständnis des Bilanzierenden maßgeblich ist, sondern der objektiv zutreffende Ansatz am Bilanzstichtag, der in den Algorithmus eingespeist ist (im Ausgangsfall etwa die periodische Verteilung der Betriebsvermögens­ minderung). Dieser Ansatz gelangt jedoch zum ungünstigsten Auslegungsergebnis der Norm. 240

BFH GrS, BStBl II 2013, 317 (324). Vgl. Hennrichs, NZG 2013, 681 (685), der die rückwirkende Korrektur der Bilanz nach Maßgabe der richtigen Rechtserkenntnis aufgrund von Vertrauensschutz ablehnt, was infolge eines objektiven Fehlerverständnisses nunmehr möglich ist. Das Risiko der besseren Rechts­ erkenntnis werde aufgrund der Insuffizienz des § 176 AO (Geltung nur für abgeschlossene Veranlagungen) dem Bürger aufgelastet, was zutrifft. Drüen, GmbHR 2013, 505 (507) kritisiert ebenfalls, dass die Vorschriften des Verfahrensrechts keinen wirksamen Vertrauensschutz vor rückwirkender Anpassung der Bilanz an die Rechtslage bieten. 242 So Dißars, Stbg 2015, 21 (22). 243 Maßgeblicher Zeitpunkt für die Anwendung des § 176 AO ist nicht der Vorlageschluss des I. Senats (a. A. Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 176, Rn. 16; die Veröffentlichung erfolgte am 19. 5. 2010), da dieser zwar das Vertrauen auf die ständige Rechtsprechung zum subjektiven Fehler erschüttern kann, jedoch bildet nach überwiegender Auffassung die Bestandskraft den Vertrauensträger und nicht die Judikate. Rödder / Hageböke, Ubg 2014, 13 (17); Dißars, Stbg 2015, 21 (26); Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 176, Rn. 48 schließen das Ergebnis aus dem Wortlaut, der auf die Änderung der Rechtsprechung abstellt, die mit dem Vorlagebeschluss noch nicht vollzogen wird. 244 Als Beispiel kann die volle Auswirkung von betriebsvermögensmindernden Geschäftsvorfällen genannt werden, die nicht über gewinnerhöhende Rechnungsabgrenzungsposten verteilt werden (so wie im Ausgangsfall). 245 Rödder / Hageböke, Ubg 2008, 401 (405). 246 S. hierzu Rödder / Hageböke, Ubg 2014, 13 (16 ff.); Dißars, Stbg 2015, 21 (26). 241

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A und B haben die Bilanz in demselben Zeitpunkt X aufgestellt, denselben Geschäftsvorfall Y in identischer Weise angesetzt. Einziger Punkt, der die beiden Fälle unterscheidet ist ein schematischer Rechenvorgang, den der Kaufmann nicht beeinflussen kann. Infolge des Rechenvorgangs liegt dem Steuerbescheid des A das maximal günstigste, dem Steuerbescheid des B das maximal ungünstige Normverständnis zugrunde. Schließlich zeigt auch dieser Fall, dass § 176 AO wertungsmäßig stark kritisiert werden kann. A wird aufgrund der Norm im Vergleich zu B bevorzugt. II. Mögliches „Alles oder nichts“ aufgrund von Zufälligkeiten der automatisierten Steuerfestsetzung Die vorstehenden Beispielsfälle zeigten, dass die derzeitige Realisierung von Vertrauensschutz von Zufällen abhängt. Der Erlass eines Steuerbescheids vor einem der in § 176 AO genannten Ereignisse kann vom Bürger nicht beeinflusst werden. Prima facie erscheint eine Differenzierung anhand des Veranlagungsstands dennoch nicht ungewöhnlich. Ist etwa zu erwarten, dass sich die Verfassungswidrigerklärung einer Norm zugunsten des Steuerpflichtigen auswirkt, werden viele Einsprüche allein aus dem Grund eingelegt, um aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Nutzen ziehen zu können247. Insoweit müssen die Fälle offengehalten werden. Dies resultiert aus der gesetzlichen Regelung des § 79 Abs. 2 S. 1 BVerfGG (die einen Rechtsgrundsatz verkörpert248). Im Jahr 1993 reagierte der Gesetzgeber auf diese „Unstimmigkeit“ durch Einfügung des § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO249. Durch die vorläufige Festsetzung der Steuer tritt keine materielle Bestandskraft ein und somit kann der Bürger auch ohne Rechtsbehelf an der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts partizipieren250. Wirkt sich die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes zulasten des Steuerpflichtigen aus, ist dieser aufgrund von § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO umgekehrt gezwungen, einen etwaigen Einspruch zurückzunehmen, den Fall also gewissermaßen „zu schließen“, um vor den nachteiligen Auswirkungen der Entscheidung geschützt zu sein251. Das folgt daraus, dass § 176 AO im Einspruchsverfahren nicht gilt252. Es überzeugt nicht, wenn der Steuerpflichtige durch die Anknüpfung an ein rechtstechnisches Erfordernis zu Verfahrenshandlungen gezwungen wird, um 247

Seer, DStR 1993, 307. BVerfGE 20, 230 (236); 37, 217 (263); 53, 115 (131); 130, 240 (262). 249 Näher Drüen, FR 1999, 289 (293). 250 Drüen, FR 1999, 289 (293). 251 Hey, DStR 2004, 1897 (1899). Dies kann zu einem Wettlauf zwischen der Finanzverwaltung und dem Steuerpflichtigen wie zwischen „Hase und Igel“ führen, um die Formulierung von Steinberger (abw. Meinung zu BVerfGE 72, 200) aufzugreifen (zum Wettlauf zwischen Bürger und Gesetzgeber bei rückwirkenden Gesetzen). 252 Müller, AO-StB 2013, 250 (254). 248

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Einleitung

Vertrauens­schutz zu erhalten. Darüberhinaus wird die Steuer nach der Modernisierung des Verfahrensrechts im Jahr 2017253 nach § 155 Abs. 4 S. 1 AO automationsgestützt festgesetzt. Die Daten aus der Steuererklärung werden nunmehr elektronisch verarbeitet und ein Amtsträger ist in diesen Prozess regelmäßig254 nicht mehr involviert255. Es ist aus diesem Grund meist ein programmierter Algorithmus, der über Vertrauensschutz entscheidet.

C. Das Ziel: Vom Verfahrensstand unabhängiger Schutz – Ausblendung von Zufälligkeiten Die auf der beschränkten Anwendbarkeit des § 176 AO in zeitlicher Hinsicht beruhenden Unstimmigkeiten können nur dadurch ausgeräumt werden, dass diese zeitliche Begrenzung aufgehoben wird. Die schlichte Abschaffung der Norm genügt hingegen nicht, da die Differenzierung zwischen abgeschlossenen Veranlagungen und noch offenen Fällen bereits in den §§ 172 ff. AO angelegt ist, die ebenfalls Vertrauensschutz verwirklichen256. Daher gelingt eine Gleichbehandlung der Personengruppen nur, wenn § 176 AO zum veranlagungsstandunabhängigen Instrument avanciert und die Korrekturnormen modifiziert werden257, was infolge des Vertrauensträgerwechsels auf die Rechtslage zum gesetzlichen Dispositionsschutz führt.

253

Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens v. 18. 7. 2016, BGBl. I 2016, S. 1679. 254 Eine persönliche Bearbeiterung durch einen Sachbearbeiter erfolgt aber dann, wenn der Steuerpflichtige seine Steuererklärung durch Angaben im Freitextfeld ergänzt (§§ 155 Abs. 4 S. 3 i. V. m. § 150 Abs. 7 S. 1 AO), da solche Angaben nicht elektronisch verarbeitet werden können. S. hierzu ausführlich Baldauf, DStR 2016, 833 (834 f.). 255 Müller-Franken, StuW 2018, 113 (115); Thiemann, StuW 2018, 304 (305); Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, Erstkomm. ModG, Einl., Rn. 9 und § 155, Rn. 2.  256 Hierzu noch § 9 der Untersuchung. 257 S. dazu ausführlich im dritten Teil.

Erster Teil

Vertrauensschutz hinsichtlich höchstrichterlicher Rechtsprechung und verfassungswidriger Steuergesetze sowie rechtswidriger Verwaltungsvorschriften nach bisherigem Konzept Die folgenden Ausführungen werden die Vertrauensschutzkonzepte hinsichtlich höchstrichterlicher Rechtsprechung, verfassungswidriger Steuergesetze sowie rechtswidriger Verwaltungsvorschriften aufzeigen. Im Überblick wird dargestellt, wie geregelter und nicht geregelter Vertrauensschutz ineinander übergreifen, vordergründig wird aber der in der Praxis wichtige Schutz nicht abgeschlossener Veranlagungen behandelt. Begonnen wird mit der Rechtsprechungsänderung (§ 3), dann folgt das verfassungswidrige Steuergesetz (§ 4) und die rechtswidrige Verwaltungsvorschrift (§ 5).

§ 3 Die Änderung höchstrichterlicher Rechtsprechung A. Abgeschlossene Veranlagungen I. Bestandskräftige Steuerbescheide (§ 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AO) § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AO verbietet die Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids zulasten des Steuerpflichtigen, wenn sich die Rechtsprechung eines obersten Gerichtshofs des Bundes änderte, die von einer Finanzbehörde bei der bisherigen Steuerfestsetzung angewendet wurde. Bereits der Wortlaut, der von Aufhebung oder Änderung spricht, bringt zum Ausdruck, dass die Norm nur für abgeschlossene Veranlagungen gilt.

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1. Teil: Vertrauensschutz nach bisherigem Konzept

1. Änderung von höchstrichterlicher Rechtsprechung Dem Schutz der Norm unterliegt nur die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (Art. 95 Abs. 1 GG) einschließlich deren Gemeinsamer Senate und des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe (Art. 95 Abs. 3 GG)1. Entscheidungen der Finanzgerichte2 und des EuGH3, die vom Anwendungsbereich des § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AO nicht erfasst sind, können selbst nach einer Steuerfestsetzung nur nach Maßgabe der allgemeinen Grundsätze für rückwirkende Rechtsprechungsänderungen geschützt werden. Die „Änderung einer Rechtsprechung“ setzt zunächst voraus, dass die Gerichte die Rechtsfrage bereits entschieden haben, sodass § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AO nicht anwendbar ist, wenn der BFH erstmals eine Entscheidung über eine Rechtsfrage trifft und diese ungünstiger ist als die bisher verbreitete Auffassung4. Ausreichend für das Merkmal der „Änderung“ ist eine einmalige frühere Entscheidung; es ist nicht erforderlich, dass sich die Rechtsprechung verfestigt oder zur ständigen Rechtsprechung entwickelt hat5. Voraussetzung ist nicht zwingend eine ausdrückliche, aber zumindest eine deutliche Aussage zu einer Rechtsfrage6. Zeitlich später muss ein „im Wesentlichen gleichgelagerter Sachverhalt“ anders entschieden worden sein7. Für Vertrauensschutz irrelevant sein soll, wenn die jüngere Rechtsprechung von sog. obiter dicta abweicht, da diese die Entscheidung nicht tragen8. Zwar reicht die Breitenwirkung der Rechtsprechung so weit, dass der Steuerpflichtige auch auf deren Fortführung vertraut, weshalb argumentiert wird, dass § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AO auch dann einschlägig ist, wenn sich die Änderung aus dem „Gesamtbild der Rechtsprechung“ (die obiter dicta umfasst) ergibt9. Die Rechtslage, die 1

v. Groll, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 176, Rn. 170; Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 176, Rn. 36; Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 176, Rn. 14. 2 BFH BStBl II 2007, 524 (526); v. Wedelstädt, in: Beermann / Gosch, AO / FGO, § 176, Rn. 28. 3 Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 176, Rn. 13. 4 Frotscher, in Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 176, Rn. 37. 5 BFH BStBl II 2008, 863 (867); Dißars, Stbg 2015, 21 (22); Rödder / Hageböke, Ubg 2014, 13 (17); Koenig, in: Koenig, AO, § 176, Rn. 26; Frotscher, in Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 176, Rn. 36. 6 BFH NV 1998, 314 (315); BFH BStBl II 2008, 863 (867); FG Köln, EFG 2014, 1069 (1070). Enger FG Rheinland-Pfalz, EFG 1997, 749 (750), das eine „eindeutige“ Rechtsprechung verlangt. 7 BFH NV 1998, 314 (315); BFH BStBl II 2008, 863 (867); FG Köln, EFG 2014, 1069 (1070). 8 Rüsken, in: Klein, AO, § 176, Rn. 17a m. w. N. 9 Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 176, Rn. 15. A. A. jedoch die h. M., vgl. FG Köln, EFG 2014, 1069 (1070); Dißars, Stbg 2015, 21 (26); Bartone, in: Kühn / v. Wedelstädt, AO / FGO, § 176, Rn. 18; v. Groll, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 176, Rn. 172; Koenig, in: Koenig, AO, § 176, Rn. 27 mit der Kritik, dass sich aus dem „Gesamtbild der Rechtsprechung“ keine justiziablen Maßstäbe für die Frage der Rechtsprechungsänderung herleiten lassen; nach v. Wedelstädt, in: Beermann / Gosch, AO / FGO, § 176, Rn. 28 verlangt „Vertrauensschutz klare und eindeutige

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sich auch aus dem Gesamtbild der Rechtsprechung konstituiert, soll aber nach überwiegender Auffassung gerade nicht der Vertrauensträger sein10. Wenn auf den Verwaltungsakt vertraut werden darf, kommt es darauf an, ob die Finanzbehörde dem Steuerbescheid eine in einem obiter dictum geäußerte Rechtsansicht zugrunde gelegt hat11. Dann besteht kein sachlicher Grund, den Vertrauensschutz zu versagen, wenn der BFH diese beiläufig geäußerte Rechtsansicht im Anschluss an die Steuerfestsetzung ändert12. Abzugrenzen ist die Änderung der Rechtsprechung von deren Präzisierung13 und ihrer schrittweisen Entwicklung14, die als solche keinen Vertrauensschutz auslöst. Der Vertrauensschutz soll entfallen, wenn die Rechtslage unklar15 oder das Vertrauen erschüttert ist, z. B., wenn eine Rechtsfrage nach § 11 Abs. 3 S. 1 FGO dem Großen Senat vorgelegt wurde16. Das fußt indes auf der Prämisse, dass § 176 AO die Rechtslage schützt. Erneut zeigt sich, dass die Bestimmung des Vertrauensträgers die Weiche für die Beantwortung materieller Einzelfragen stellt. 2. Anwendung der bisherigen Rechtsprechung bei der erstmaligen Steuerfestsetzung Die „Anwendung“ der bisherigen Rechtsprechung setzt auch bei (seltener) persönlicher Prüfung der Steuererklärung durch einen Amtswalter nicht voraus, dass dies wissentlich und willentlich geschah. Entspricht die dem Steuerbescheid zugrundeliegende Rechtsansicht derjenigen der bisherigen Rechtsprechung, wird widerlegbar vermutet, dass der Steuerbescheid auf ihr beruht17, wenn kein Nichtanwendungserlass erging18, sodass einer solchen Verwaltungsvorschrift sogar eine Vertrauensschutzkomponente zukommt19. Unterstellt man, dass der SteuerpflichAussagen“; Frotscher, in Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 176, Rn. 43, der interpretationsfähige Urteilspassagen als nicht geschützt sieht, da sie sich als Vertrauensbasis nicht eignen. Das überzeugt aber nur, wenn die Rechtslage von § 176 AO geschützt wird – hierzu noch § 6 der Untersuchung. 10 Vgl. nur Arndt, Probleme rückwirkender Rechtsprechungsänderung, S. 95 f. zur Vorgängernorm des § 222 Abs. 2 RAO. 11 Helbich, Vertrauensschutz in Verwaltungsvorschriften, S. 258. 12 Helbich, Vertrauensschutz in Verwaltungsvorschriften, S. 258. 13 BFH BStBl II 2001, 409 (411); BStBl II 2003, 412 (413 f.); BStBl  II 2008, 863 (867); ­Bartone, in: Kühn / v. Wedelstädt, AO / FGO, § 176, Rn. 19. 14 BFH BStBl II 1999, 468 (472); FG Köln, EFG 2014, 1069 (1070); Rödder / Hageböke, Ubg 2014, 13 (16). 15 Koenig, in: Koenig, AO, § 176, Rn. 28. 16 Koenig, in: Koenig, AO, § 176, Rn. 28; Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 176, Rn. 16. 17 BFH BStBl II 1999, 468 (472); BStBl II 2012, 365 (367). Die Literatur schließt sich dem an, vgl. v. Wedelstädt, in: Beermann / Gosch, AO / FGO, § 176, Rn. 31; v. Groll, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 176, Rn. 191 m. w. N.; Bartone, in: Kühn / v. Wedelstädt, AO / FGO, § 176, Rn. 20. 18 Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 176, Rn. 17. 19 Bartone, in: Kühn / v. Wedelstädt, AO / FGO, § 176, Rn. 11.

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1. Teil: Vertrauensschutz nach bisherigem Konzept

tige in den Fällen des § 176 AO auf den Steuerbescheid vertrauen darf, bedeutet dies, dass der Sachverhalt nicht im Sinne der bisherigen Rechtsprechung geregelt sein kann, wenn sich das Finanzamt rechtmäßig verhalten und einen etwaigen Nichtanwendungserlass beachet hat. Auch andere Begleitumstände können die Vermutung widerlegen, etwa wenn die bisherige Rechtsprechung zum Zeitpunkt der Steuerfestsetzung noch nicht veröffentlicht war20 oder wenn bei persönlicher Bearbeitung des Falls die Abweichung von der Rechtsprechung in den Akten oder in den Erläuterungen zum Steuerbescheid vermerkt wird21. Wenn der Bürger seiner Steuererklärung eine Rechtsprechung zugrunde legt, ohne dass dies für die Finanzbehörde erkennbar war, gilt die Norm gemäß § 176 Abs. 1 S. 2 AO nur, wenn die Behörde bei Kenntnis der Umstände die bisherige Rechtsprechung angewendet hätte – maßgeblich ist dann eine hypothetische Betrachtungsweise22. Das ist etwa der Fall, wenn der Steuerpflichtige gewisse Einnahmen nicht deklarierte, weil sie nach der bisherigen Rechtsprechung steuerfrei waren23. Auch hier wird darauf abgestellt, ob ein Nichtanwendungserlass die Anwendung dieser Rechtsprechung ausgeschlossen hätte24. Liegen die Voraussetzungen der Vorschrift vor, gewährt sie Vertrauensschutz in typisierender Form, also unabhängig von Kausalität, Schutzwürdigkeit des Vertrauens oder einer Interessenabwägung25. II. Nur wirksame Steuerbescheide: Anwendbarkeit der §§ 172 ff. AO Für bestandskräftige Steuerbescheide gilt ohne Weiteres die Vorschrift des § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AO. Es erscheint nicht unzweifelhaft, ob die Norm auch für Steuerbescheide gilt, die lediglich wirksam (§ 124 Abs. 1 S. 1 AO), aber noch nicht bestandskräftig sind. Das hängt mit der Frage zusammen, ob die §§ 172 ff. AO den Eintritt der Bestandskraft als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal voraussetzen26. Dabei wird erkennbar, dass sich die Problematik nach derzeitiger Sichtweise nur konfliktfrei lösen lässt, wenn eine Dichotomie zwischen den korrektur 20

v. Groll, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 176, Rn. 192. Rödder / Hageböke, Ubg 2014, 13 (18); Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 176, Rn. 50. 22 v. Groll, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 176, Rn. 200. 23 Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 176, Rn. 19.  24 v. Wedelstädt, in: Beermann / Gosch, AO / FGO, § 176, Rn. 33; Bartone, in: Kühn / v. Wedel­ städt, AO / FGO, § 176, Rn. 21. 25 Vgl. Hey, Steuerplanungssicherheit, S. 594. 26 Verneinend z. B. v. Wedelstädt, in: Beermann / Gosch, AO / FGO, § 172, Rn. 12; Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, Vor §§ 172–177, Rn. 14; Seer, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 21, Rn. 82. Bejahend BFH BStBl II 2002, 49 (51), der aufgrund von Art. 19 Abs. 4 GG („Grundsatz einer rechtsschutzgewährenden Anwendung und Auslegung von Verfahrensvorschriften“) eine entsprechende Anwendung befürwortet; Bartone, in: Kühn / v. Wedelstädt, AO / FGO, Vor §§ 172–177, Rn. 10; Koenig, in: Koenig, AO, Vor §§ 172–177, Rn. 9.  21

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eröffnenden Vorschriften und der korrekturbegrenzenden Vorschrift des § 176 AO angenommen wird. Der üblichen Methodenlehre zufolge müsste § 176 AO nämlich ab dem Zeitpunkt anwendbar sein, ab dem die §§ 172 ff. AO generell anwendbar sind. Dafür spricht, dass § 176 AO systematisch in diese Normen integriert ist, eine Zweiteilung hinsichtlich der zeitlichen Anwendbarkeit also nicht bezweckt sein kann. Das bedeutet, dass die Vorschrift bereits ab Bekanntgabe des Steuerbescheids anwendbar wäre, wenn die § 172 ff. AO den Eintritt der Bestandskraft nicht voraussetzen würden. Dann würde sich der für Vertrauensschutz ungeregelte Zeitraum verkürzen, was aber mit der Annahme in diametralem Widerspruch stünde, dass bei § 176 AO die Bestandskraft als Vertrauensträger fungieren soll27. Für die ungeschriebene Voraussetzung der formellen Bestandskraft soll sprechen, dass die §§ 172 ff. AO im Teil III des Ersten Unterabschnitts des Dritten Abschnitts der AO geregelt sind28. Diese Normen sind unter der amtlichen Überschrift der „Bestandskraft“ gefasst, sodass diese ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal sein soll29. Jedoch ist diese Sichtweise nicht zwingend, denn die amtliche Überschrift kann auch lediglich verdeutlichen, dass die §§ 172 ff. AO die Bestandskraft durchbrechen können, dies aber nicht müssen. Zudem hätten die §§ 130 f. AO ebenso wie die Vorschriften der §§ 48 f. VwVfG unter den Begriff der Bestandskraft gefasst werden müssen, was sich aus dem Bestreben ergibt, die steuerrechtlichen Vorschriften zwecks Vereinheitlichung der Verwaltungsverfahren an diejenigen des VwVfG anzupassen30. Das VwVfG untergliedert den dritten Teil in die Abschnitte eins (§§ 35 bis 42a  VwVfG  – „Zustande­kommen des Verwaltungsaktes“) und zwei (§§ 43 bis 52 VwVfG) und betitelt den zweiten Abschnitt des dritten Teils (denen die §§ 48 f. VwVfG angehören) mit der Überschrift „Bestandskraft des Verwaltungsaktes“31. Die AO verzichtet im zweiten Abschnitt der „Verwaltungsakte“ (§§ 118 bis 133 AO) hingegen auf die feinere Gliederung des VwVfG. Bei deren Übernahme wären die §§ 130 f. AO unter dem Titel der Bestandskraft gefasst worden, sodass sich aus den amtlichen Überschriften kein zwingendes Argument für die zeitliche Anwendbarkeit der §§ 172 ff. AO herleiten lässt32. Ferner wird aus dem Wortlaut der §§ 130 f. AO, die explizit auch bereits vor Unanfechtbarkeit gelten, e contrario geschlossen, dass dies bei den §§ 172 ff. AO gerade nicht der Fall ist33. Indes bringt das Gesetz die Anwendbarkeit der Normen auch für nicht unanfechtbare Bescheide deutlich auf andere Weise zum Aus 27 BFH BStBl II 2004, 317 (319); BStBl II 2007, 524 (527); FG Hamburg, EFG 2006, 1020 (1023). 28 BFH BStBl II 2002, 49 (51). 29 v. Groll, in: H / H /Sp, AO / FGO, Vor §§ 172–177, Rn. 8 (dort auch zum vorstehenden Satz). 30 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, Vor §§ 130–133, Rn. 10, 91. 31 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, Vor §§ 130–133, Rn. 10, 91. 32 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, Vor §§ 130–133, Rn. 10, 91. 33 v. Groll, in: H / H /Sp, AO / FGO, Vor §§ 172–177, Rn. 8.

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druck, denn § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 lit. a AO (Antrag auf schlichte Änderung), der eine Korrektur vor Ablauf der Einspruchsfrist ermöglicht, setzt deren Geltung in dieser zeitlichen Phase gerade voraus34. Auch der fehlende Ausschluss des § 132 S. 1 AO in § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 lit. d Hs. 2 AO zeigt die Anwendbarkeit der Vorschriften bei noch anhängigen Verfahren auf 35. Es ist kein sachlicher Grund ersichtlich, weshalb dieser fehlende Ausschluss ein Redaktionsversehen sein oder die Norm Überflüssiges regeln sollte36. Es wäre trotz „schlampiger Gesetzgebung“37 merkwürdig, wenn das Gesetz an zwei Punkten versehentlich falsche Maßstäbe aufzeigen würde, weshalb die §§ 172 ff. AO den Eintritt der formellen Bestandskraft ebenso wenig voraussetzen wie die §§ 130 f. AO. Das führt indes zu der eingangs geschilderten Problematik, dass die §§ 172 ff. AO und damit auch § 176 AO bereits ab bloßer Wirksamkeit anwendbar wären. Wenn § 176 AO die (formelle)  Bestandskraft überhaupt nicht voraussetzt, kann diese auch nicht die Ursache des geschützten Vertrauens sein38. Davon wird aber nach ganz überwiegender Auffassung ausgegangen39. Es müsste nach dieser Sichtweise hinsichtlich der zeitlichen Anwendbarkeit zwischen den korrektur­ eröffnenden Vorschriften und der korrekturbegrenzenden Vorschrift des § 176 AO differenziert werden, was freilich unbefriedigend erscheint und auch nicht dem Gesetzeszweck des § 176 AO entspricht, der als stetige Begrenzung der aktiven Korrektur wirken soll. Die Konstellation, dass die Behörde den Steuerbescheid ändert, weil eine Korrekturnorm einschlägig ist und ein Fehler mitsaldiert werden muss, der sich aus einer Rechtsprechungsänderung ergibt (§ 177 Abs. 2 und 4 AO), ist also nicht geschützt, wenn die Rechtsbehelfsfristen noch nicht abgelaufen sind. Den Ablauf dieser Fristen kann der Bürger nicht beeinflussen, sodass sich ein weiterer Zufall im System verbirgt, es also neben dem Zufall der bereits erfolgten Veranlagung zu einer „Verdoppelung“ von Zufällen kommt. Vertrauensschutz kann sich, wenn die Bestandskraft des Steuerbescheids die Vertrauensbasis des § 176 AO bilden soll, in diesem Fall nur nach den allgemeinen Grundsätzen über rückwirkende Rechtsprechungsänderungen ergeben.

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Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, Vor §§ 130–133, Rn. 91. Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, Vor §§ 130–133, Rn. 91; a. A. Koenig, in: Koenig, AO, Vor §§ 172–177, Rn. 9, der in § 132 AO eine überflüssige Regelung sieht. 36 So aber v. Groll, in: H / H /Sp, AO / FGO, Vor §§ 172–177, Rn. 66. 37 So das kritische Resümee von Hey, NJW 2014, 1564 (1567) zur derzeitigen Gesetz­ gebungspraxis. 38 S. zur Bestimmung des Vertrauensträgers noch § 6 der Untersuchung. 39 BFH BStBl II 2004, 317 (319); BStBl II 2007, 524 (527); FG Hamburg, EFG 2006, 1020 (1023). 35

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B. Nicht abgeschlossene Veranlagungen Im Folgenden werden die Möglichkeiten dargestellt, wie Vertrauen im Steuerrecht40 geschützt werden kann, wenn § 176 AO unanwendbar ist, also in der „Unsicherheits-Phase“41 zwischen einer Disposition und dem ersten Erlass eines Steuerbescheids. Ein nicht unbedeutender Unterschied zwischen diesen Mechanismen besteht darin, dass die Vertrauensgrundlage in jedem Fall die bisherige Rechtslage ist, wohingegen bei § 176 AO umstritten ist, ob der Bürger auf die überholte Rechtsprechung oder auf die Beständigkeit des Steuerbescheids vertrauen darf42. I. Rückwirkung von Rechtsprechung Die Rechtsprechung „ändert“ sich, wenn dieselbe normative Situation durch die Gerichte anders beurteilt wird als vorher43. Die Behandlung noch offener Fälle wäre bei einer Rechtsprechungsänderung unproblematisch, wenn sich das gewandelte Rechtsverständnis nur für die Zukunft auswirken würde44. Die Norm des § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AO setzt aber gerade voraus, dass die neuen Rechtsprechungsregeln in die Vergangenheit zurückwirken45. Die Frage des Vertrauensschutzes stellt sich gerade deshalb, weil die Gerichte von ihrer bisherigen Rechtsprechung abweichen, die neue Rechtsprechung aber an Sachverhalte anknüpft, die in der Vergangenheit liegen und ggf. bereits sogar schon abgeschlossen sind46. Die der Verwirklichung des Sachverhalts nachgelagerte Verwaltungsentscheidung (Erlass des Steuerbescheids) liegt aber in der Zukunft, sodass hierbei das gewandelte, 40

Zum Zivilrecht s. Klappstein, Die Rechtsprechungsänderung mit Wirkung für die Zukunft, passim. Zum Strafrecht vgl. Haffke, Rückwirkungsverbot des Art. 103 GG, S. 48 ff. zur analogen Anwendbarkeit des Art. 103 Abs. 2 GG auf rückwirkende Rechtsprechungsänderungen; Rüberg, Vertrauensschutz gegenüber rückwirkender Rechtsprechungsänderung, S. 272 ff.; Maurer, in: HStR IV3, § 79, Rn. 153. Zum bedeutsamen Fall der Absenkung von Promillegrenzen vgl. BGHSt 21, 157 = NJW 1967, 116. 41 So formuliert Rose, Stbg 1999, 401 (402). 42 S. hierzu noch § 6 der Untersuchung. 43 Hagen, FS Geiß, S. 97 (98). 44 Die Rückwirkung verneinend Flume, StbJb 1985/1986, 277 (299 ff.), der aber den Bezug zum Vertrauensschutz nicht herstellt. Nur so ließe sich aber seine These rechtfertigen, dass die günstige Rechtsprechungsänderung im Gegensatz zur verschärfenden Rechtsprechung zurückwirke (S. 309). 45 BFH BStBl II 1979, 455 (456); GrS, BStBl II 1984, 751 (757); BStBl II 1986, 289 (293); NV 2002, 1575 (1576); Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 176, Rn. 38. Nach Flume, StbJb 1985/1986, 277 (304) lässt sich aus der Norm keine Aussage zur Rückwirkung entnehmen (jedoch ohne Begründung). Die Begründung liegt darin, dass eine Norm des einfachen Rechts nicht die verfassungsrechtliche Frage beantworten kann, ob Rechtsprechungsänderungen rückwirkend erfolgen dürfen, s. Wernsmann, Das gleichheitswidrige Steuergesetz, S. 269 und Tipke, FS Rose, S. 92 (104). 46 Hagen, FS Geiß, S. 97; Tipke, FS Rose, S. 92 (101); Maurer, in: HStR IV3, § 79, Rn. 145; Medicus, NJW 1995, 2577; Robbers, JZ 1988, 481 (482); Thiel, DB 1988, 1343 (1352).

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1. Teil: Vertrauensschutz nach bisherigem Konzept

für den Steuerpflichtigen ungünstigere Rechtsverständnis zugrunde gelegt wird, was der Steuerpflichtige als „Schicksalsschlag“47 empfinden mag. Jedoch vertraute der Bürger im Zeitpunkt der Gestaltung seiner Rechtsbeziehungen auf die Beständigkeit der bisherigen Rechtsprechung48 in ähnlicher Weise wie auf den Fortbestand eines Gesetzes49 und dass diese Rechtsauffassung der Gerichte der Maßstab seiner künftigen Veranlagung sein wird50. Zwar binden Urteile unmittelbar nur die am Rechtsstreit Beteiligten (§ 110 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 FGO)51, dieser Hinweis vermag jedoch die präjudizielle Wirkkraft von Urteilen, die sich aus der Autorität von obersten Gerichten ergibt52, nicht zu negieren53. Vielmehr kommen den BFH-Entscheidungen häufig gesetzesähnliche Wirkungen zu54, und besonders im „notorisch unklaren“55 Steuerrecht ist der Einzelne auf die Konkretisierung der auslegungsbedürftigen56 Gesetze angewiesen57. Teilweise überlässt der Gesetzgeber der Rechtsprechung sogar die Präzisierung der Rechtslage, etwa durch unbestimme Rechtsbegriffe oder Generalklauseln58. Die Wirkungen der Rechtskraft schließen es jedenfalls nicht aus, die dem Urteil zugrundeliegenden 47

So formuliert Buchner, GS Dietz, S. 175 (176). G. Kirchhof, in: H / H /R, EStG / KStG, Einf. EStG, Rn. 340; Hagen, FS Geiß, S. 97. 49 Riggert, Selbstbindung der Rechtsprechung durch den allgemeinen Gleichheitssatz, S. 26 f. 50 Söffing, DStZ 2006, 588. 51 Anders liegt dies im amerikanischen Rechtskreis. Nach dem Konzept der „stare decisis“ darf der Richter nur dann von einem Präzedenzfall abweichen, wenn sich die Sachverhalte nicht gleichen. Der amerikanische Richter wird also bei Spruch eines Präzedenzurteils auch für die Allgemeinheit tätig, vgl. hierzu Wipprecht, Änderung der Rechtsprechung nur mit Wirkung für künftige Fälle, S. 3 f. 52 Vgl. BVerfGE 84, 212 (227); 126, 369 (395); 131, 20 (42); BVerfG (K) v. 25. 4. 2015 – 1 BvR 2314/12 = NJW 2015, 1867 (1868); P. Kirchhof, DStR 1989, 263. 53 Hey, Steuerplanungssicherheit, S. 627; Burmeister, FS Friauf, S. 759 (767); Buchner, GS Dietz, S. 175 (181); Wagener / Haag, NZS 2016, 613 (614). Dezidiert F. Ossenbühl, DÖV 1972, 25 (29), der eine andere Sichtweise für „positivistisch-naiv“ hält; ebenso Dötsch, DStR 2009, 409 (410), denn das würde rechtssoziologische Realität verkennen. A. A. aber Kruse, FS 75 Jahre RFH-BFH, S. 239 (254) mit der Begründung, dass der Richerspruch nicht die Allgemeinheit adressiere. 54 Dies anerkennt auch BFH GrS, BStBl II 2008, 608 (617). Die Rechtsfrage der Vererblichkeit von Verlusten nach § 10d EStG lasse sich nicht durch schlichte Gesetzessubsumtion lösen, sondern nur unter Heranziehung von abstrakten Rechtsprinzipien, weshalb die Rechtsprechung in einem solchen Fall ähnlich einem Normsetzer tätig werde. Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 4, Rn.  187; P. Kirchhof, DStR 1989, 263 (269): Rechtsprechungsleitsätze werden in der Praxis wie Rechtssätze behandelt; Burmeister, FS Friauf, S. 759 (767); Leisner, DStJG 27 (2004), S. 191 (193): Rechtsprechung ist „Gesetz“ des Rechtsanwendenden; Buchner, GS Dietz, S. 175 (185): Arbeit des Richters erschöpft sich nicht in der Gesetzesinterpretation, sondern weist auch rechtssetzende Züge auf; Söffing, DStZ 2006, 588; Rose, Stbg 1999, 401 (402); Robbers, JZ 1988, 481 (482). 55 So Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 3, Rn. 269 (jedoch in anderem Zusammenhang). 56 Nahezu jedes Steuergesetz ist auslegungsbedürftig, nur das Ausmaß differenziert, vgl. Kruse, FS 75 Jahre RFH-BFH, S. 239 (242); Vogel, JZ 1988, 833 (836). 57 Burmeister, FS Friauf, S. 759 (765); Flume, StbJb 1985/1986, 277 (309): „Steuerrecht ist eben nicht nur das Steuergesetz“. 58 Buchner, GS Dietz, S. 175 (186). 48

§ 3 Die Änderung höchstrichterlicher Rechtsprechung

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Rechtsaussagen zu abstrahieren und auf vergleichbare Fälle anzuwenden59. Wenn mehrere Auslegungsergebnisse vom Wortlaut der Norm gedeckt sind60, darf sich der Einzelne unter gewissen Voraussetzungen61 auf das Auslegungsergebnis von obersten Bundesgerichten verlassen, da deren Entscheidungen die Vermutung der Richtigkeit in sich tragen62. Es kann vom Bürger nicht erwartet werden, dass dieser über eine bessere Rechtskenntnis verfügt als ein oberstes Bundesgericht63. Nicht zuletzt eröffnet die Publikation der Urteile im Bundessteuerblatt dem Steuerpflichtigen die Möglichkeit, das Auslegungsergbnis der Gerichte zur Kenntnis zu nehmen, sodass sich Vertrauen bilden kann64. Dieses Vertrauen wird durch die Rechtsprechungsänderung enttäuscht. Gleichsam sind die Finanzgerichte aber zur rechtskonformen Gesetzesauslegung verpflichtet, und das gebietet die permanente Überprüfung der Rechtsauffassungen und ggf. deren Korrektur65, sodass ein Spannungsverhältnis zwischen Gesetz­ mäßigkeit (§ 85 AO, Art. 20 Abs. 3 GG) und Gleichmäßigkeit der Besteuerung (Art. 3 Abs. 1 GG) einerseits und Vertrauensschutz als Subprinzip des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG) andererseits entsteht66. 1. Legitimation der Rückwirkung Die Legitimation der Rückwirkung von Rechtsprechungsänderungen ergibt sich nach überwiegender Auffassung daraus, dass die Judikative das Recht im Gegensatz zur rückwirkenden Gesetzgebung nicht ändere, die verschärfende Andersinterpretation nur das schon bestehende Recht erkenne, das schon immer (also auch in der Vergangenheit) galt67. Zudem entscheide die Rechtsprechung immer über 59 Hey, Steuerplanungssicherheit, S. 623, die von einer „Doppelfunktion“ von Urteilen spricht (Streitschlichtung und Präjudizienbildung). 60 Nach Osterloh, StuW 2015, 201 (204) muss Vertrauensschutz an den Norminhalt und nicht an den Normtext anknüpfen. Der Norminhalt wird auch durch höchstrichterliche Rechtsprechung konkretisiert. 61 Näher zu den Voraussetzungen noch unter § 3 B. IV. 62 Lange, NJW 2002, 3657 (3659). 63 So tendenziell Buchner, GS Dietz, S. 175 (183 f.). 64 A. A. Maurer, in: HStR IV3, § 79, Rn. 148, der ein Fehlen von hinreichender Publizität gerichtlicher Urteile bemängelt, da diese grds. nur den Parteien zugestellt werden und die weitere Veröffentlichung ungewiss ist. 65 Burmeister, FS Friauf, S. 759 (774). 66 BFH GrS, BStBl II 2008, 608 (617). 67 BFH BStBl II 2017, 22 (24); Leisner-Egensperger, DStJG 27 (2004), S. 191 (198); dies., Kontinuität als Verfassungsprinzip, S. 537 f.: Wirkung ex tunc, „weil es schon immer so war“, wie es die jüngere Rechtsprechung nun beurteilt; Maurer, in: HStR IV3, § 79, Rn. 149; Koenig, in: Koenig, AO, § 176, Rn. 24; G. Kirchhof, in: H / H /R, EStG / KStG, Einf. EStG, Rn. 341; Hey, JZ 2014, 500 (505); Brocker, NJW 2012, 2996 (2997); Tiedtke / Szczesny, NJW 2002, 3733 (3734). Kritisch Flume, StbJb 1964/1965, 55 (78), der darin ein Scheinargument sieht, da die Rechtsprechung den Rechtszustand gegenüber der bisherigen Rechtslage ändere. Restriktiver

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1. Teil: Vertrauensschutz nach bisherigem Konzept

Sachverhalte der Vergangenheit, sodass dieser ihr Vergangenheitsbezug inhärent sei68. Ferner wird argumentiert, dass bei fehlender Rückwirkung auch der Anlassfall nicht erfasst wäre, die Entscheidungsaussagen für diesen also bloße obiter dicta wären und die Gerichte nur ein Rechtsgutachten für die Zukunft erstellen würden69. Es drohe die Gefahr der Erstarrung der Rechtsprechung70. Wäre die neue Rechtsprechung für Altfälle nicht maßgeblich, soll dies die Gesetzesbindung der Gerichte unterlaufen, da hoheitliche Maßnahmen bewusst rechtswidrig er­gehen müssten71. 2. Vergleich mit rückwirkender Klarstellung durch den Gesetzgeber Diese These, dass eine für den Bürger ungünstige Rechtsprechungsänderung für die Vergangenheit zulässig sein und lediglich „klarstellenden“ Charakter haben soll, weil die Rechtsprechung nur das Recht erkenne, das schon immer galt, erscheint indes nicht unproblematisch. Selbst der Gesetzgeber darf die Rechtslage nur dann mit Rückwirkung „klarstellen“, wenn die engen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen von rückwirkenden Gesetzen vorliegen72. Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Beschluss aus dem Jahr 2013 entschieden, dass eine konstitutiv rückwirkende Regelung vorliegt, wenn der Gesetzgeber eine in der Fachgerichtsbarkeit offene Auslegungsfrage in seinem Sinne beantwortet73 und damit während „des Spiels die Spielregeln ändert“74. Beseitigt der Gesetzgeber rückwirkend eine Auslegungsvariante, sei der Vertrauensschutz in die Beständigkeit des Rechts geschwächt75. Dasselbe soll gelten, wenn der Gesetzgeber einer höchstrichterlich geklärten Rechtsfrage den Boden zu entziehen versucht, um die Rechtsprechung im Nachhinein für die Vergangenheit ins Unrecht zu setzen76. Das ist konsequent, denn der Gesetzgeber darf schon dann nur unter den Voraussetzungen der Gesetzesrückwirkung rückwirkend klarstellen, wenn das Auslegungsspiel Medicus, NJW 1995, 2577 (2581), der zwischen Rechtsfortbildung (die nicht zur Rechtswidrigkeit der bisherigen Praxis führt) und bloßer Korrektur der Rechtsprechung von schon immer Verfehltem differenziert. 68 BFH BStBl II 1986, 289 (293); P. Kirchhof, DStR 1989, 263 (269); Hey, JZ 2014, 500 (506); Schönfeld / Bergmann, DStR 2015, 257 (260). 69 BFH GrS, BStBl II 1984, 751 (757). Anders hingegen Flume, StbJb 1964/1965, 55 (79), der die Rückwirkung von Rechtsprechung ablehnt und die neue Rechtsprechung nur für Fälle nach deren Änderung anwenden will. 70 BFH GrS, BStBl II 1984, 751 (757); F. Ossenbühl, DÖV 1972, 25 (29). Vgl. auch LeisnerEgensperger, DStJG 27 (2004), S. 191 (199) zum Zusammenhang zwischen Versteinerung der Rechtsprechung und Vertrauensschutz. 71 Schwarz, Vertrauensschutz, S. 374. 72 BVerfGE 135, 1 (17). 73 BVerfGE 135, 1 (18). 74 So Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 4, Rn. 753 zu dieser Rechtsprechung. 75 BVerfGE 135, 1 (17). Kritisch im Hinblick auf die Auslegungsoffenheit eines Gesetzes als Vertrauensträger Masing, BVerfGE 135, 29 (41) – Sondervotum zu BVerfGE 135, 1. 76 BVerfGE 18, 429 (439); 30, 367 (389); 135, 1 (18).

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noch offen ist. Dann kann die verfassungsrechtliche Bindung a maiore ad minus nicht weiter sein, wenn die Auslegungsfrage bereits höchstrichterlich entschieden wurde77. Anderes soll gelten, wenn der Gesetzgeber eine gefestigte Rechtsprechung nach deren Änderung wiederherstellt, weil sich dann kein Vertrauen bilden kann, wenn der Gesetzgeber zügig reagiert78. Wenn der Gesetzgeber also zulasten des Bürgers eine Rechtsprechung grundsätzlich nur unter engen Voraussetzungen rückwirkend korrigieren darf, warum soll dann die Rechtsprechung ihre frühere Rechtsprechung voraussetzungslos für die Vergangenheit „ins Unrecht“ setzen dürfen79? Bestünde insofern kein sach­ licher Unterschied, müssten die Rückwirkungsgrundsätze konsequenterweise auch auf Rechtsprechungsänderungen angewendet werden. Der Unterschied besteht darin, dass der Gesetzgeber eben keine bessere Rechts­ erkenntnis, sondern dasjenige Auslegungsergebnis festschreiben will, welches ihm opportun erscheint, weil die Rechtsprechung das Gesetz in einer Art und Weise auslegt, die seinen Vorstellungen widerspricht80. Er hat bei der Schaffung des Gesetzes möglicherweise nicht sorgfältig genug gearbeitet81. Es ist daher kein Widerspruch, dass der Gesetzgeber nur unter engen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen rückwirkend handeln darf, die Rechtsprechungsänderung aber stets zurückwirkt. „Wer Recht setzt und wer Recht spricht, tut Verschiedenes“82. 3. Trennung von Rückwirkung und Vertrauensschutz Die rückwirkende Anwendung der neuen Rechtsprechungsgrundsätze überzeugt nach allem. Vertrauensschutz wird in einem weiteren Schritt und getrennt von der Frage der Rückwirkung verwirklicht83. Zwar wäre eine Beschränkung der Rück 77

Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 3, Rn. 269. BVerfGE 126, 369 (395 f.); 131, 20 (42). S. hierzu ausführlich Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 4, Rn.  754. 79 Lepsius, JZ 2014, 488 (491 ff.) spricht insoweit von einer „Privilegierung der Rechsprechung gegenüber der Gesetzgebung“. Dezidiert kritisch zum Beschluss des BVerfG (E 135, 1) ders., S. 492: „Der Gesetzgeber unterliegt einem strengen verfassungsrechtlichen Korsett bei der Rechtserzeugung, die Rechtsprechung zeichnet sich davon frei, auch wenn sie materiellrechtlich dieselben hoheitlichen Akte durchführt.“ 80 So argumentiert BVerfGE 135, 1 (23) gegen die Zulässigkeit rückwirkender Klarstellungen durch den Gesetzgeber. Auch Schnapp, JZ 2011, 1125 (1129) widerspricht der These, dass das rückwirkende Gesetz lediglich „klarstelle“, was schon immer galt. 81 Vgl. Hey, NJW 2014, 1564 (1567), nach der die Unzulässigkeit klarstellender Gesetz­ gebung „längst überfällige Sanktion“ für „schlampige Gesetzgebung“ ist. Ähnlich Drüen, StuW 2015, 210 (220), wonach der Gesetzgeber die Nachteile für die Vergangenheit hinnehmen muss, die sich aus der unvollkommenen Norm ergeben. 82 Schorkopf, AöR 144 (2019), 203. 83 Von einer solchen Sichtweise geht auch BFH GrS, BStBl II 1984, 751 (757) aus, wenn er sich trotz Rechtsprechungsänderung mit folgendem Hinweis begnügt: „Nach geltendem Recht ist die Streitfrage dahin gelöst, daß die Rechtsprechung nicht gehindert ist, auch 78

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1. Teil: Vertrauensschutz nach bisherigem Konzept

wirkung auf solche Fälle denkbar, bei denen das Vertrauen in die Beständigkeit der bisherigen Rechtsprechung schutzwürdig ist. Das würde jedoch bedeuten, dass die Gerichte zunächst klären müssten, in welchen Fällen das Vertrauen schutzwürdig ist84. Gerichte sollen sich aber primär mit den entscheidungserheblichen Rechtsfragen auseinandersetzen und das Recht fortbilden, wie auch § 11 Abs. 4 FGO zeigt. II. Vertrauensschutz bei rückwirkender Rechtsprechungsänderung durch die Judikative 1. Subjektiver Vertrauensschutz oder objektives Kontinuitätsgebot? a) Objektives Kontinuitätsgebot Kontinuität beschreibt den stetigen Fortgang von etwas85. Ein von Leisner-Egensperger entwickelter Ansatz, der von subjektiven Verhältnissen gelöst ist, versucht das Problem der rapiden Dispositionsentwertung auf ganz andere Weise zu lösen86. Während Vertrauensschutz an die Auswirkungen eines (ggf. abrupten) Rechtsprechungswandels anknüpft, indem die Folgen für Sachverhalte in der Vergangenheit abgemildert werden, fungiert das Kontinuitätsprinzip als kausaler Ansatz. Wohingegen das Vertrauensschutzprinzip auch intensivere Rechtsprechungswandel zulässt, wenn sich die Abweichung im Rahmen einer voraussehbaren Entwicklung hält und hinreichend begründet ist87, zielt das Kontinuitätsprinzip auf eine stärkere Stetigkeit der Planungsgrundlage. Vereinfacht ausgedrückt, werden bei einer Rechtsprechungsentwicklung zwei Zeitpunkte miteinander verglichen. In einem Zeitpunkt A wird dem Gesetz durch die Gerichte die Aussage X entnommen, im anderen Zeitpunkt B die diametrale Aussage Y. X und Y beschreiben die am weitesten voneinander entfernten Auslegungsergebnisse. Ziel des Kontinuitätsprinzips ist es, diesen harten Bruch zu vermeiden, indem zwischen den Zeitpunkten A und B andere Rechtslagen als X oder Y eingeschoben werden, die eine Diskontinuität abschwächen sollen88. Zusammenfassen lässt sich dies mit der These: „Ein Bruch steuerverschärfende Änderungen zu entwickeln und daß es dann Sache der obersten Verwaltungsbehörden ist [also nicht Sache der Gerichte], auf der Grundlage des § 163 AO […] durch Übergangs­regelungen unbillige Auswirkungen  – auch unter dem Gesichtspunkt des Vertrauens­schutzes – zu vermeiden“. Ebenso BFH BStBl II 1991, 610 (613). 84 Leisner-Egensperger, DStJG 27 (2004), S. 191 (199); Grunsky, Grenzen der Rückwirkung, S. 26 f. 85 Duden, Bedeutungswörterbuch, 5. Aufl. 2018. 86 Dieser Ansatz ist Ergebnis ihrer Habilitationsschrift „Kontinuität als Verfassungsprinzip“, vgl. vor allem S. 615–640. 87 BVerfGE 84, 212 (227); 122, 248 (277); BVerfG (K) v. 25. 4. 2015 – 1 BvR 2314/12 = NJW 2015, 1867 (1868). 88 Leisner-Egensperger, DStJG 27 (2004), S. 191 (201). Kritisch Hey, DStR 2004, 1897 (1900), nach der gerade eine Rechtsentwicklung „in kleinen Schritten“ zur Rechtsunsicherheit beiträgt. Eine „klare Neubesinnung“ soll hingegen Verlässlichkeit für die Zukunft versprechen.

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[mit der bisherigen Rechtsprechung] ist unzulässig, Entwicklung in kleinen Schritten ist zulässig“89. Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lassen sich nur im Ansatz Elemente entnehmen, die für ein Kontinuitätsprinzip streiten. Es hält die Rechtsprechungsänderung für zulässig, wenn sie sich im Rahmen einer voraussehbaren Entwicklung hält90. Einschränkungen bestehen nur, wenn diese abrupt erfolgte, sodass sich der Steuerpflichtige nicht auf die neue rechtliche Beurteilung einstellen konnte91. Verfassungsrechtlich begründet wird die Kontinuitätsthese mit dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG)92. Zwar verbiete dieser keine Rechtserneuerung und gewährleiste keinen Fortbestand des bisherigen Rechts93. Aus ihm folge aber eine „verstetigende Kraft“, die rechtliche Brüche vermeidet94. Umschrieben wird dies mit einem Gebot der Gleichheit in der Zeit95. Das Bundesverfassungsgericht hat aber für die Änderung der Rechtsprechung entschieden, dass ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz nur und erst dann vorliegt, wenn einzelne Judikate den Weg der schrittweisen Rechtsprechungsentwicklung so verlassen, dass diese als willkürlich eingestuft werden müssen96. Zudem stellt die bessere Rechtserkenntnis durch die Gerichte einen sachlichen Grund für die Differenzierung dar97. Anders als der subjektive Vertrauensschutz ist das Kontinuitätsprinzip objektivrechtlich determiniert, denn es wirkt unabhängig vom subjektiven Verhalten des Steuerpflichtigen – gerade weil an kein Verhalten angeknüpft wird98. Der Schutz

89 So das zusammenfassende Resümee von Sieker in der Diskussionsrunde „Vertrauensschutz im Steuerrechtsverhältnis“ anlässlich des Vortrags von Leisner-Egensperger, DStJG 27 (2004), S. 209 (214). 90 BVerfGE 84, 212 (227); 122, 248 (277). Tendenziell enger noch BFH GrS, BStBl III 1964, 124 (126), der betont, dass die Stetigkeit von höchstrichterlicher Rechtsprechung ein wesentliches Element der Rechtssicherheit sei. Eine Rechtsprechungsänderung müsse aber dann erfolgen, wenn „schwerwiegende sachliche Erwägungen dafür sprechen“. Auch BFH BStBl III 1965, 206 (209) hält die Kontinuität von höchstrichterlicher Rechtsprechung für eine wesentliche Grundlage der Rechtssicherheit – ein Abweichen sei nur bei Vorliegen von zwingenden Gründen zulässig. Ähnlich Hartz, StbJb 1958/1959, 31 (81), nach dem die Rechtsprechung nur bei Vorliegen von „schwerwiegenden neuen Gesichtspunkten“ geändert werden darf – ihre Grundlinie müsse konservativ sein. 91 BVerfGE 78, 123 (126 f.). 92 Leisner-Egensperger, DStJG 27 (2004), S. 191 (202). 93 P. Kirchhof, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 3, Rn. 334 f. 94 P. Kirchhof, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 3, Rn. 334 f. 95 Hierauf soll nicht weiter eingegangen werden. Überblick bei Heun, in: Dreier, GG, Art. 3, Rn. 39 ff.; P. Kirchhof, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 3, Rn. 333 ff.; F. Wollenschläger, in: M / K /S, GG, Art. 3, Rn. 213. Zur Selbstbindung der Rechtsprechung aufgrund von Art. 3 Abs. 1 GG vgl. Riggert, Selbstbindung der Rechtsprechung durch den allgemeinen Gleichheitssatz, S. 42–59. 96 BVerfGE 18, 224 (240). 97 Robbers, JZ 1988, 481 (483). 98 Leisner-Egensperger, Kontinuität als Verfassungsprinzip, S. 541.

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des aktiven und des passiven Steuerpflichtigen (der nicht disponierte) ist also eine mittelbare bzw. faktische Folge, wohingegen Vertrauensschutz unmittelbar den Schutz des Steuerpflichtigen bezweckt. Besonders im Steuerrecht besteht eine Notwendigkeit von Kontinuität, und aus diesem praktischen Bedürfnis wird eine Rechtspflicht für die Gerichte abgeleitet. Die Verteilung von Dispositionen (z. B. Abschreibungen infolge von wirtschaftlichen Investitionen) auf mehrere Jahre einerseits und die Periodizität des Steuerrechts durch Verteilung über Veranlagungszeiträume aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität andererseits sind dann miteinander besser in Einklang zu bringen, wenn die Folgen der Zerteilung von Einheitlichem durch ein schrittweises Anpassungsgebot abgemildert werden99. Das Kontinuitätskriterium fungiert dann als Gegenpol zur künstlichen Aufspaltung der Sachverhalte und führt sie dadurch wieder zusammen, dass abrupte Rechtslageänderungen vermieden werden100. Da sich die Rechtsprechungsentwicklung dann langsam und schrittweise vollzieht, weil tiefgreifende und abrupte Änderungen gegen das Kontinuitätsgebot verstoßen101, wohingegen das Vertrauensschutzprinzip als Subprinzip des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG) für eine Änderbarkeit der Rechtsprechung nicht voraussetzt, dass sich die Verhältnisse oder die allgemeinen Anschauungen wesentlich änderten102, wäre letzteres bei Rechtsprechungsänderungen über­f lüssig. Wie aber sind dann die Fälle zu entscheiden, die eine graduelle Entwicklung nicht zulassen, weil die Rechtsfrage nur über zwei diametrale Auslegungsergebnisse beantwortet werden kann?103 Angeführt werden könnte z. B. die Abzugsfähigkeit von Werbungskosten – entweder sie sind absetzbar oder nicht. Auch die Frage der Vererblichkeit von Verlusten nach § 10d EStG kann nur mit ja oder nein beantwortet werden104. Für eine kontinuierliche Fortentwicklung der Rechtsprechung soll in kompetenzieller Hinsicht sprechen, dass die Judikative in erheblichem Umfang ihrer Ressourcen beraubt wäre, wären die Richter für Vertrauensschutz zuständig, denn diese müssten sich anfangs der Urteilsfindung die Frage stellen, „wer denn worauf begründetes Vertrauen geltend machen könnte“105. Indes setzt dieses Argument voraus, dass die Judikative kraft eigener Kompetenz Vertrauensschutz verwirklichen

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Leisner-Egensperger, DStJG 27 (2004), S. 191 (203 f.). Leisner-Egensperger, DStJG 27 (2004), S. 191 (203 f.). 101 Leisner-Egensperger, Kontinuität als Verfassungsprinzip, S. 541. 102 BVerfGE 84, 212 (227); 122, 248 (277); BVerfG (K) v. 25. 4. 2015 – 1 BvR 2314/12 = NJW 2015, 1867 (1868). 103 Hey, DStR 2004, 1897 (1900). 104 Hey, DStR 2004, 1897 (1900) in Fn. 40. Das Beispiel der Vererbbarkeit von Verlusten ebenfalls aufgreifend Lang, Diskussionsbeitrag, DStJG 27 (2004), S. 209 (213). 105 Leisner-Egensperger, DStJG 27 (2004), S. 191 (199). A. A. Englisch / Plum, StuW 2004, 342 (362): BFH könne an die Finanzgerichte zurückverweisen, wenn die tatsächlichen Feststellungen nicht ausreichen. 100

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muss106. Die Gewährung von Vertrauensschutz durch die Gerichte ist bisher aber ein seltenes Phänomen geblieben107. Im Beschluss des BFH zur Vererblichkeit von Verlusten nach § 10d EStG traf das Gericht selbst eine typisierende Übergangsregel mit dem Inhalt, dass die neue Rechtsprechungslinie erst und nur mit Wirkung für die Zukunft Anwendung findet108. Hierbei darf jedoch nicht aus den Augen verloren werden, dass dieser Beschluss die spezielle Konstellation betraf, dass die bisherige Rechtsprechung seit über 40 Jahren bestand und sich die Beantwortung der Rechtsfrage nicht durch schlichte Subsumtion, sondern erst durch Heranziehung von Rechtsprinzipien und Wertungen beantworten ließ109. Es lag somit ein Fall extremer Schutzwürdigkeit vor, und das dürfte den BFH veranlasst haben, selbst eine typisierende Übergangsregel zu treffen. Befürchtet wird überdies eine Versteinerung der Rechtsprechung, wenn und weil die Gerichte ihre Rechtsauffassung nur unter dem „Vorbehalt mangelnden Vertrauens“ ändern dürften110. Vertrauensschutz und Rechtsprechungswechsel lassen sich jedoch trennen111. Die Richter sind bei fehlender Bindung an ein Kontinuitätsgebot in der rechtlichen Wertung völlig frei und entwickeln das Recht fort. Die Frage, inwieweit in der Vergangenheit liegende Sachverhalte nicht erfasst werden dürfen, ist davon zu separieren. Indes wäre es gerade ein Kontinuitätsprinzip, das die Rechtsprechung versteinern ließe112. Die Richter wären in ihrer Entscheidungsfindung gerade nicht mehr völlig frei113, sondern gezügelt, wenn sie einen Rechtsprechungswandel langsam und schrittweise, ggf. sogar in mehreren Zwischenschritten vollziehen müssten. Freilich nähme diese Prüfung genauso viel Kapazität in Anspruch wie die Prüfung „wer worauf vertrauen durfte“114. Die Ressourcen der Gerichte sind durch Vertrauensschutz, wenn man annimmt, dass diese dafür zuständig sind, nicht beschränkt, sondern anders eingesetzt. Beschränkt wären 106 Das nimmt z. B. Felix, FS Tipke, S. 71 (91) an, allerdings mit der zweifelhaften Begründung, der BFH solle den Steuerpflichtigen nicht auf die „Bittsteller-Position“ verweisen (sc. durch Abhilfe über Billigkeitsmaßnahmen der Verwaltung), sondern selbst von Rechts wegen auf Fairness erkennen (also durch eigene Verwirklichung von Vertrauensschutz). 107 Vgl. neben dem Beschluss des BFH zur Vererblichkeit von Verlusten (dazu sogleich) aber BFH BStBl II 2019, 208 (212 f.), der die Altfälle nach Aufhebung des Eigenkapitalersatzrechts (§§ 32a, 32b GmbHG a. F.) durch den Gesetzgeber vom anschließenden Rechtsprechungswandel ausklammerte. 108 BFH GrS, BStBl II 2008, 608 (616 ff.). 109 BFH GrS, BStBl II 2008, 608 (617). 110 Leisner-Egensperger, DStJG 27 (2004), S. 191 (199). 111 So im Ergebnis auch Hey, DStR 2004, 1897 (1900). 112 A. A. Englisch / Plum, StuW 2004, 342 (359). 113 Vgl. auch Lang, Diskussionsbeitrag, DStJG 27 (2004), S. 209 (213), wonach sich ein Kontinuitätsgebot nicht mit dem Auftrag des Richters vereinbaren lässt, der Verwaltungsentscheidungen prüfen und den einzelnen Fall richtig entscheiden muss. 114 So formuliert Leisner-Egensperger, DStJG 27 (2004), S. 191 (199) unter Begründung ihrer Kontinuitätsthese. Nach P. Kirchhof, DStR 1989, 263 (270) müssen die Gerichte die Abwägung zwischen den Gründen für die Rechtsprechungsänderung und dem Kontinuitätsgebot in den Urteilsgründen darstellen.

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die Gerichte aber dann, wenn sie das Recht im Urteil nicht mehr nach ihrer freien Überzeugung sprechen dürften, sondern mit der Verpflichtung möglichst schonender Übergänge konfrontiert werden. Zudem kann Rechtsentwicklung „in kleinen Schritten“ gerade Rechtsunsicherheit herbeiführen, da der Zeitraum bis zum endgültigen Wandel der Rechtsauffassung der Gerichte nicht vorhergesehen werden kann115. Überzeugender erscheint es, nicht die Rechtsentwicklung selbst zu beschränken, sondern die „Implementierung“ des Rechtswandels durch Anpassungsregeln zu verlangsamen116. Einem Kontinuitätsgebot bei Rechtsprechungsänderungen in der engen Ausformung, wie von Leisner-Egensperger befürwortet117, kann daher nicht beigepflichtet werden118. Es überzeugt nicht, wenn die Gerichte die neue und richtige Rechtserkenntnis einstweilen beiseitelegen und stattdessen andere Rechtslagen erfinden müssten, die ohnehin nur vorübergehend gelten. Richtigerweise folgt aus einem Kontinuitätsgebot nicht mehr als die Forderung, dass von einer bestimmten Rechtsprechung nur dann abgewichen werden soll, wenn gewichtige Gründe für den Rechtswandel sprechen119. b) Subjektiver Vertrauensschutz Im Vergleich zu einem Kontinuitätsprinzip verhindert das Vertrauensschutzprinzip, dass ungünstige Folgen einer Rechtsprechungsänderung bei der Veranlagung derjenigen Steuerpflichtigen berücksichtigt werden, die berechtigterweise auf die Fortgeltung der überholten Judikatur vertrauten. Es wird also nicht versucht, die Änderung der Rechtsprechung selbst an strengere Voraussetzungen zu knüpfen, was im Einklang mit verfassungsgerichtlicher Judikatur steht, wonach sich die Rechtsprechungsänderung nur im Rahmen einer voraussehbaren Entwicklung bewegen muss120 und nicht willkürlich sein darf121. Vertrauensschutz knüpft vielmehr an die Folgen einer Rechtsänderung an. Im Unterschied zu dem objektiv geformten

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Hey, DStR 2004, 1897 (1900). Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 163, Rn. 113. 117 Zuzugeben ist aber, dass sich die Anforderungen des BVerfG [E 84, 212 (227); 122, 248 (277)] an eine Rechtsprechungsänderung als eine „schwache“ Ausprägung eines Stetigkeitsprinzips verstehen lassen, wenn und weil sich diese im Rahmen einer voraussehbaren Entwicklung halten muss. 118 Lang, Diskussionsbeitrag, DStJG 27 (2004), S. 209 (213) unter Betonung der Aufgabe des Richters, die Rechtmäßigkeit behördlicher Entscheidungen im Einzelfall zu überprüfen. Tendenziell zurückhaltend auch Birk, DStJG 27 (2004), S. 9 (22): „Eine wirksame Schranke […] stellt diese Selbstbeschränkung [sc. über ein Kontinuitätsgebot] jedoch nicht dar. Es gibt keinen Anspruch auf Rechtsprechungskontinuität“. 119 Friauf, DStJG 5 (1982), S. 53 (55). 120 BVerfGE 84, 212 (227); 122, 248 (277); BVerfG (K) v. 25. 4. 2015 – 1 BvR 2314/12 = NJW 2015, 1867 (1868). 121 BVerfGE 18, 224 (240). 116

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Gebot der Stetigkeit der Rechtsprechung ist Vertrauensschutz an gewisse Voraussetzungen geknüpft, weshalb dieses Prinzip subjektiv-rechtlich determiniert ist122. Es kommt also auf die (individuelle) Situation des Steuerpflichtigen an123. So muss eine Vertrauensgrundlage gegeben sein, der Steuerpflichtige muss sein Vertrauen im Hinblick auf den Fortbestand dieser Grundlage betätigt haben (nach verbreiteter Auffassung, sog. Disposition)124 und das Vertrauen muss zudem schutzwürdig sein. Jede dieser Voraussetzungen kann rechtlich problematisch und das tatsächliche Vorliegen dieser „drei Stufen“ im Einzelfall ungewiss sein. Wieviel Zeit muss etwa vergehen, bis von einer gefestigten und langjährigen Rechtsprechung gesprochen werden kann125, sodass das Vertrauen schutzwürdig ist? Ist das Vertrauen möglicherweise auch ohne Vorliegen einer Disposition schutzwürdig?126 Da diese Fragen im Hinblick auf eine mögliche Reform des § 176 AO geprüft werden sollen127, bleiben sie an dieser Stelle offen. 2. Änderung der Rechtsprechung pro futuro und „prospective overruling“ nach angloamerikanischem Vorbild Rechtsprechungsänderungen, die nur in die Zukunft wirken, knüpfen anders als bei subjektivem Vertrauensschutz üblich, nicht an die Folgen eines Rechtswandels an. Sie fungieren als kausaler Ansatz, denn die Notwendigkeit einer Folgenbeseitigung bei Rechtsprechungsänderungen rührt daher, dass die Rechtsprechung an Sachverhalte anknüpft, die in der Vergangenheit liegen, also Rückwirkung entfaltet128. Denkbar wäre die Übertragung der Grundsätze des „prospective overrulings“, was die amerikanische Rechtsrealität beschreibt, dass die neuen Rechtsgrundsätze im Anlassfall zwar formuliert werden, diese dort jedoch noch keine Anwendung finden129, sodass das Vertrauen des Klägers nicht enttäuscht wird. Befürworter dieses Rechtsprinzips wollen dies auch auf die deutsche Rechtsprechung über­

122 Vgl. zum Verhältnis der Prinzipien P. Kirchhof, DStR 1989, 263 (266), der das Vertrauensschutzprinzip als eine „subjektive Erscheinungsform“ des objektiven Kontinuitätsprinzips versteht. Ähnlich Englisch / Plum, StuW 2004, 342 (360). Nach hier vertretener Auffassung besteht aber kein Kontinutätsgebot im engeren Sinne, vgl. § 3 B. II. 1. a). 123 P. Kirchhof, DStR 1989, 263 (266). 124 Richtigerweise ist ein Dispositionserfordernis abzulehnen, s. hierzu noch § 10 B. 125 Zu dieser Voraussetzung vgl. BVerfGE 122, 248 (278); 126, 369 (395); 131, 20 (42). 126 So etwa BVerfGE 127, 1 (22 f.) zur Verlängerung der Spekulationsfristen bei Grund­ stücken (§ 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 EStG) und BVerfGE 127, 61 (79 f.) zur Absenkung der Beteiligungsgrenze des § 17 Abs. 1 EStG. 127 S. den dritten Teil der Untersuchung. 128 R. Birk, JZ 1974, 735 (737). 129 Englisch / Plum, StuW 2004, 342 (360); Kanzler, FR 2008, 457 (465 f.); Söffing, DStZ 2006, 588 (589); R. Birk, JZ 1974, 735 (737); Friauf, DStJG 5 (1982), S. 53 (59); Robbers, JZ 1988, 481 (488); Pohl, Rechtsprechungsänderung und Rückanknüpfung, S. 134.

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1. Teil: Vertrauensschutz nach bisherigem Konzept

tragen130. Denn nach Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 97 Abs. 1 GG seien die Richter an Gesetz und Recht gebunden, wozu auch Vertrauensschutz gehöre131. Der Richter würde gegen diese verfassungsrechtliche Verpflichtung verstoßen, würde er bei schutzwürdigem Vertrauen die Geltung der neuen Rechtsprechung für die Vergangenheit nicht einschränken132. Das führe zum Zwang einer zukunftsgerichteten Rechtsprechung133. Jüngere Tendenzen in der deutschen Rechtsprechung deuten auf eine Entwicklung zu dieser Rechtspraxis hin. So nahm der Große Senat des BFH in seinem Beschluss zur Vererblichkeit von Verlusten nach § 10d EStG ausdrücklich eine Rechtsprechungsänderung mit Wirkung pro futuro an und die Literatur prognostizierte daraufhin einen Richtungswandel der Rechtsprechung134. Auch nach dem Rechtsprechungswechsel zu den eigenkapitalersetzenden Darlehen infolge der Aufhebung des Eigenkapitalrechts durch den Gesetzgeber135 gewährte die Rechtsprechung selbst Vertrauensschutz für Altfälle136. Wurde ein Gesellschafterdarlehen noch vor der Veröffentlichung des Urteils gewährt, waren die Grundsätze der bisherigen Rechtsprechung zu eigenkapitalersetzenden Darlehen weiter anwendbar137. Das überrascht vor dem Hintergrund, dass nach der Aufhebung des Eigenkapitalrechts durch den Gesetzgeber gerade unklar war, wie die Rechtsprechung weiter verfahren würde138. Vertrauensschutz bei Rechtsprechungsänderungen setzt nämlich eine gefestigte Rechtslage voraus. Auch die Literatur bezweifelte die Beibehaltung der bisherigen Rechtsprechungsgrundsätze nach der Aufhebung des Eigenkapitalrechts139. Der BFH argumentierte hingegen, dass die Gesellschafter ihre Finanzierungen nicht auf rechtssicherer Grundlage planen konnten, weil ungewiss war, wie die Rechtsprechung auf den Entfall des Eigenkapitalrechts reagieren

130

Arndt, Probleme rückwirkender Rechtsprechungsänderung, S. 90; mit Einschränkungen Wipprecht, Änderung der Rechtsprechung nur mit Wirkung für künftige Fälle, S. 127 ff. Ähnlich schon Flume, StbJb 1964/1965, 55 (79), der die Rückwirkung der neuen Rechtsprechung ablehnt und diese nur für Fälle nach deren Änderung anwenden will (also auch den Anlassfall ausklammert). Gefordert wird teils sogar, dass die Gerichte im Urteil in einer gesonderten Anwendungsentscheidung eine verbindliche Aussage darüber treffen, ob die neuen Rechtsgrundsätze auf vor der Verkündung des Urteils verwirklichte Sachverhalte anzuwenden sind, vgl. Söffing, DStZ 2006, 588 (589). 131 Arndt, Probleme rückwirkender Rechtsprechungsänderung, S. 90. 132 Arndt, Probleme rückwirkender Rechtsprechungsänderung, S. 90. 133 Arndt, Probleme rückwirkender Rechtsprechungsänderung, S. 90. 134 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 4, Rn. 189. 135 Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) v. 23. 10. 2008, BGBl. I 2008, S. 2026. 136 BFH BStBl II 2019, 208 (212 und Leitsatz 3). Bestätigt durch BFH BStBl II 2020, 89 (91 und Leitsatz 1). 137 BFH BStBl II 2019, 208 (212). 138 Fischer, DStZ 2019, 826 (831). 139 Heuermann, NZG 2009, 841 (845); Hölzle, DStR 2007, 1185 (1190). Der BFH [BStBl II 2020, 89 (91)] nahm hingegen an, dass der Steuerpflichtige „am ehesten“ auf die Weitergeltung der bisherigen Rechtsprechungsregeln vertrauen durfte.

§ 3 Die Änderung höchstrichterlicher Rechtsprechung

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würde140. Inzwischen stellte der Gesetzgeber die alte Rechtslage (gewinnmindernde Berücksichtigung von Gesellschafterdarlehensverlusten) durch ein Nichtanwendungsgesetz wieder her (s. § 17 Abs. 2a S. 3 Nr. 2 EStG)141. Dieser Rechtsprechungsentwicklung ist entgegenzutreten. Zunächst ist in kompetenzieller Hinsicht nicht zwingend, dass der Richter aufgrund von Art. 20 Abs. 3 GG zur Verwirklichung von Vertrauensschutz verpflichtet ist, da die Norm alle Staatsgewalten und damit auch die Verwaltung bindet142. Gegen die Ausklammerung des Anlassfalls durch die Gerichte mit allein zukünftiger Wirkung der neuen Rechtsprechungsgrundsätze spricht, dass dies zur Denaturierung gerichtlicher Entscheidungen führen würde143. Gerichte würden dann nämlich nicht mehr den konkreten Fall entscheiden, sondern bloße Rechtsgutachten erstellen144. Zudem enthält die Formulierung der künftigen Rechtsauffassung in einem Urteil ein Gebot an die nachfolgenden Gerichte, in späteren Fällen den Rechtswandel zu vollziehen, unabhängig davon, wie groß der Zeitraum zwischen dem Anlassfall und dem ersten Anwendungsfall ist145. Das konfligiert damit, dass die nachfolgenden Richter an die im Anlassfall formulierten neuen Maßstäbe nicht gebunden sind146. Es stellt sich überdies die Frage, ob nicht der Rechtsweg des Steuerpflichtigen entwertet würde (Art. 19 Abs. 4 GG), wenn sich eine Rechtsprechungsänderung auf seinen Fall nicht bezieht147. Dann hätte eine Klage des Steuerpflichtigen, die auf eine Rechtsprechungsänderung zielt, keinen Sinn, sodass solche Klagen nur noch von der Verwaltung angestrebt würden148. Bestritten wird das aber mit dem Argument, dass Vertrauensschutz nur zugunsten des Steuerpflichtigen wirkt149. Klagt also der Bürger und verschärft sich die Rechtsprechung, würde diese erst für zukünftige Fälle Anwendung finden, sodass das Vertrauen geschützt ist. Entwickelt 140

BFH BStBl II 2019, 208 (212); BStBl II 2020, 89 (91). BGBl. I 2019, S. 2451 (2458). Auf Antrag kann diese Neuregelung auch für in der Vergangenheit liegende Anteilsveräußerungen angewendet werden (§ 52 Abs. 25a S. 2 EStG). Näher hierzu Graw, DB 2020, 690 (692 ff.). 142 Hey, DStR 2004, 1897 (1899 ff.) favorisiert eine Lösung über die Verwaltung. 143 Maurer, in: HStR IV3, § 79, Rn. 151; Rüberg, Vertrauensschutz gegenüber rückwirkender Rechtsprechungsänderung, S. 63 f. 144 BFH GrS, BStBl II 1984, 751 (757). 145 Kanzler, FR 2008, 457 (466). 146 Kanzler, FR 2008, 457 (466); Pohl, Rechtsprechungsänderung und Rückanknüpfung, S. 134 f. Kritisch vor diesem Hintergrund auch R.  Birk, JZ 1974, 735 (742), der annimmt, dass das Gericht die neuen Rechtsgrundsätze zumindest einmal anwenden muss, da es sich ansonsten „unglaubwürdig“ machen würde. Das ist indes keine juristische Argumentation. Eine solche einmalige Selbstbindung der Rechtsprechung ebenfalls ablehnend Robbers, JZ 1988, 481 (488). Hey, Steuerplanungssicherheit, S. 645 erwägt eine gerichtliche Bindung an die Maßstäbe des angekündigten Rechtswandels aus Vertrauensschutz. 147 So z. B. Maurer, in: HStR IV3, § 79, Rn. 150. 148 Maurer, in: HStR IV3, § 79, Rn. 151; Viets, Rechtsprechungsänderung und Vertrauensschutz, S. 178; Grunsky, Grenzen der Rückwirkung, S. 23: Dies könnte Rechtsfortbildung praktisch unmöglich machen. 149 Englisch / Plum, StuW 2004, 342 (361). 141

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1. Teil: Vertrauensschutz nach bisherigem Konzept

sich die Rechtsprechung im Anlassfall hingegen zu seinen Gunsten, könnte die neue Rechtsprechung seinen Fall erfassen150. Eine solche Sichtweise würde jedoch dazu führen, dass die Gerichte bei jedem Rechtsprechungswandel prüfen müssten, ob das Vertrauen der Steuerpflichtigen schutzwürdig war151, was ihre Aufgabe verfehlt, weil sich diese in der Rechtsfindung und -fortentwicklung erschöpft152, was noch an anderer Stelle dargestellt wird153. III. Übertragbarkeit der Grundsätze über rückwirkende Gesetzesänderungen auf rückwirkende Rechtsprechungsänderungen? 1. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rückwirkung von Gesetzen Im Bereich der rückwirkenden Gesetzgebung entwickelte das Bundesverfassungsgericht eine differenzierte Judikatur, die der Rückwirkung aus verfassungsrechtlichen Gründen Grenzen setzt (Art. 20 Abs. 3 GG). Möglicherweise lässt sich diese auch auf die verschärfende Andersinterpretation der Rechtslage durch die Gerichte übertragen. Konstatiert wird insoweit, dass das Rückwirkungsverbot keine spezifische gesetzliche Prägung habe154 und sich die Rechtslage nicht nur durch Gesetze, sondern auch durch Rechtsanwendung konstituiere („Rechtszustand kraft Rechtsanwendung“155). Vielfach wirken Steuergesetze zurück und enttäuschen möglicherweise ein schutzwürdiges Vertrauen des Steuerpflichtigen auf den Fortbestand der gesetzlichen Regelung. Die Verlässlichkeit der Rechtsordnung verlangt die Voraussehbar­ keit der Rechtsfolgen menschlichen Handelns156. Der Steuerpflichtige erwartet 150 Ähnlich Wipprecht, Änderung der Rechtsprechung nur mit Wirkung für künftige Fälle, S. 130, der die „equities of each case“ berücksichtigen will. Prospective overruling käme nur bei schutzwürdigem Vertrauen in Betracht. Bei einem günstigen Rechtsprechungswandel stellt sich die Frage des Vertrauensschutzes aber nicht. A. A. Rose, Stbg 1999, 401 (408). Warum sollte dann der Bürger aber überhaupt klagen, wenn er von einem günstigen Rechtsprechungswandel nicht profitieren könnte? Viets, Rechtsprechungsänderung und Vertrauensschutz, S. 178 lehnt die zukunftsgerichtete Rechtsprechungsänderung aus diesem Grund ab. Auch Rüberg, Vertrauensschutz gegenüber rückwirkender Rechtsprechungsänderung, S. 61 f. und Kisker, VVDStRL 32 (1974), 149 (189) bemängeln einen fehlenden Anreiz zur Klage; Grunsky, Grenzen der Rückwirkung, S. 23 erwägt als Anreiz, dass dem Kläger der streitige Betrag bei einem Klageerfolg aus öffentlichen Mitteln erstattet wird. 151 Auch Grunsky, Grenzen der Rückwirkung, S. 26 erkennt, dass eine solche Feststellung mühsam wäre. 152 So hinsichtlich der Frage der Rückwirkung von Rechtsprechung auch Rüberg, Vertrauensschutz gegenüber rückwirkender Rechtsprechungsänderung, S. 63: Der gerichtliche Auftrag gebiete eine sofortige Revidierung von unrichtiger Rechtsprechung. 153 Hierzu § 3  B. III. 3.  154 Tipke, FS Rose, S. 92 (102). 155 Flume, StbJb 1985/1986, 277 (300). 156 Tipke, StRO I, S. 149.

§ 3 Die Änderung höchstrichterlicher Rechtsprechung

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bei der Vornahme seiner Dispositionen, dass die gesetzliche Regelung, die derzeit verbindlich ist, auch für die Zukunft verbindlich bleibt157. Jedoch kann der Staat gewichtige Gründe für die rückwirkende Umgestaltung der Rechtslage haben, und dieses Änderungsinteresse steht in einem Spannungsverhältnis zum Vertrauensschutz. Die Belange müssen in einen schonenden Ausgleich gebracht werden. Terminologisch unterscheidet das Bundesverfassungsgericht zwischen echter und unechter Rückwirkung (bzw. in der uneinheitlichen Terminologie des Bundesverfassungsgerichts Rückbewirkung von Rechtsfolgen158 und tatbestandliche Rückanknüpfung159). Eine echte Rückwirkung liegt vor, wenn das Gesetz im Nachhinein in bereits abgeschlossene Sachverhalte der Vergangenheit eingreift und dessen Rechtsfolgen verschärft160. Bei der unechten Rückwirkung wirkt das Gesetz in die Zukunft 161, bezieht aber Sachverhalte mit ein, die noch nicht abgeschlossen sind162. Aufgrund der gesetzgeberischen Umgestaltung der Rechtslage für die Zukunft entfaltet die unechte Rückwirkung praktisch keine Rückwirkung163. Die Frage, wann ein abgeschlossener Tatbestand und damit eine echte Rückwirkung vorliegt, wird seit Jahrzehnten diskutiert und uneinheitlich beantwortet. Dreh- und Angelpunkt der Diskussion ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach eine echte Rückwirkung nur dann vorliegt, wenn eine schon entstandene Steuerschuld durch den Gesetzgeber im Nachhinein abgeändert wird164. Bei der Einkommen- und Körperschaftsteuer entsteht die Steuer erst mit Ablauf des Veranlagungszeitraums (§ 38 AO i. V. m. § 36 Abs. 1 EStG, § 30 Nr. 3 KStG), also mit Ablauf des Kalenderjahrs (§ 25 Abs. 1 EStG). Die Disposition ist für die Frage der Abgeschlossenheit des Sachverhalts somit irrelevant. Zwar nahm das Bundesverfassungsgericht in der Schiffsbauentscheidung bei einer Gesetzesänderung vor Abschluss des Veranlagungszeitraums eine echte Rückwirkung an, weil das Gesetz dem Steuerpflichtigen eine Verschonungssubvention anbot, die nur während des Veranlagungszeitraums angenommen werden konnte165. Im weiteren Verlauf verfestigte sich aber die traditionelle Sichtweise des Bundesverfassungsgerichts, wonach für die Unterscheidung zwischen echter und unechter Rückwirkung der Abschluss des Veranlagungszeitraums maßgebend ist166. Verstummt ist die Dis 157

Muckel, Vertrauensschutz, S. 81. BVerfGE 97, 67 (78); 127, 1 (16 f.); 135, 1 (13); 148, 217 (255). 159 BVerfGE 97, 67 (79); 127, 1 (17); 148, 217 (255). 160 BVerfGE 135, 1 (13); 148, 217 (255). 161 Zur zweifelhaften Abgrenzung zwischen unechter Rückwirkung und Rechtsänderung nur für die Zukunft, vgl. Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 4 AO, Rn. 778 ff. 162 BVerfGE 127, 31 (47); 148, 217 (255). 163 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 4 AO, Rn. 715. 164 BVerfGE 127, 1 (18); 127, 31 (48); 127, 61 (77); 132, 302 (319); 135, 1 (13). 165 BVerfGE 97, 67 (80 f.) – Hervorhebung auch dort. 166 Zurückhaltender nach der Schiffsbauentscheidung bereits BVerfGE 105, 17 (37 f., 40) – Sozialpfandbrief, das eine unechte Rückwirkung annahm, obwohl eine Disposition vorlag. Zwar habe der Steuerpflichtige mit dem Erwerb der Wertpapiere sein Vertrauen in die Auf 158

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1. Teil: Vertrauensschutz nach bisherigem Konzept

kussion um einen dispositionsbezogenen Rückwirkungsbegriff einschließlich Aufgabe der Differenzierung zwischen den beiden Rückwirkungsformen167 indes nie. In der Rechtsfolge führt die echte Rückwirkung regelmäßig zur Verfassungswidrigkeit des Gesetzes, denn der Sachverhalt erreichte mit dem Eintritt der Rechtsfolge einen Grad an Abgeschlossenheit, über den sich der Gesetzgeber mit Ausnahme von schwerwiegenden Gründen nicht hinwegsetzen darf168. Der Steuerpflichtige darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass für den verwirklichten und abgeschlossenen Sachverhalt nicht durch eine rückwirkende Gesetzesänderung andere Rechtsfolgen ausgelöst werden169. Nur in Ausnahmefällen kann eine echte Rückwirkung verfassungsgemäß sein, etwa wenn mit einer Neuregelung zu rechnen war oder wenn das bisherige Recht unklar und verworren war, sodass es keine verlässliche Vertrauensgrundlage bilden konnte170. Die bloße Auslegungsoffenheit eines Gesetzes steht der Bildung von Vertrauen jedoch nicht entgegen171. Hingegen ist die unechte Rückwirkung grundsätzlich zulässig bzw. nicht grundsätzlich unzulässig172, da ein derart umfangreicher Schutz des Vertrauens auf den Fortbestand der Rechtslage den Gesetzgeber lähmen würde und das Spannungsverhältnis zwischen dem Vertrauensschutz und dem Änderungsinteresse des Staates, der dem Gemeinwohl verpflichtet ist, zulasten der Anpassungsnotwendigkeit der Rechtsordnung aufgelöst würde173. Zu weitreichend wäre es, den Steuerpflichtigen rechterhaltung des Steuervorteils betätigt. Die Laufzeit der Wertpapiere war jedoch zum Zeitpunkt der Rechtsänderung noch nicht abgelaufen. Jedenfalls dürfe der Steuerpflichtige nicht auf die Aufrechterhaltung von unbefristeten und über Jahrzehnte wirkenden Steuervergünstigungen vertrauen. Vgl. aus der st. Rspr.: BVerfGE 127, 1 (18); 127, 31 (48); 127, 61 (77); 132, 302 (319). Überraschend ist in diesem Zusammenhang die Entscheidung des BVerfG (K), v. 3. 7. 2001 – 1 BvR 382/01, DB 2001, 1650, das für die Unterscheidung zwischen echter und unechter Rückwirkung an die Disposition anknüpft (mit Verweis auf BVerfGE 97, 67). Steinberger, BVerfGE 72, 276 (277) umschreibt die Anknüpfung an Veranlagungszeiträume im Sondervotum zu BVerfGE 72, 200 als „Wettlauf zwischen Hase und Igel“. Einen dispositionsbezogenen Rückwirkungsbegriff ebenfalls ablehnend Wernsmann, Verhaltenslenkung, S. 405 f.; Spindler, DStJG 27 (2004), S. 85 ff. 167 Befürwortend z. B. Weber-Dürler, Vertrauensschutz, S. 286 mit dem Argument, dass es in der Hand des Gesetzgebers liege, abgeschlossene Tatbestände zu schaffen; Hey, Steuerplanungssicherheit, S. 245 ff.; vgl. dies. BB 1998, 1444 (1447) zur Rechtsprechungsentwicklung des BVerfG anlässlich der Schiffbauentscheidung (BVerfGE 97, 67); Tipke, StRO I, S. 156 f.: Vertrauen wird geschützt, wenn dieses durch vollständige Sachverhaltsgestaltung betätigt wurde; Spindler, DNotZ 2007, 105 (108): Vertrauensschutz muss an die Sachverhaltsgestaltung anknüpfen; Vogel, FS Heckel, S. 875 (883 f.). 168 BVerfGE 127, 1 (17, 19); 127, 61 (77). 169 BVerfGE 127, 61 (76). 170 Vgl. hierzu ausführlich Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 4, Rn. 744 m. w. N. zur Judikatur des BVerfG. 171 So BVerfGE 135, 1 (23) zur rückwirkenden Klarstellung durch den Gesetzgeber. 172 Aus der neuen Formulierung des BVerfG aus dem Jahre 2010 „nicht grundsätzlich unzulässig“ [BVerfGE 127, 31 (47); 127, 61 (76)] folgte jedoch keine Änderung des Prüfungsmaßstabs der unechten Rückwirkung, wie anfänglich vermutet wurde. 173 BVerfGE 127, 31 (47); 127, 61 (76); 132, 302 (319).

§ 3 Die Änderung höchstrichterlicher Rechtsprechung

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vor jeder Enttäuschung zu bewahren174. Verfassungsgemäß ist die unechte Rückwirkung nur dann, wenn sie verhältnismäßig, also geeignet ist, den Gesetzeszweck zu fördern, und erforderlich ist175. Die Abwägung zwischen dem Änderungsbedürfnis des Staates und dem Gewicht des enttäuschten Vertrauens muss die Grenze der Zumutbarkeit für den Steuerpflichtigen wahren176. Im Folgenden soll ein Beispiel verdeutlichen, wie sich die Übertragung dieser Grundsätze auf den Normanwendungsbereich (also auf die Gesetzesauslegung durch die Gerichte) auswirken würde. Anschließend wird geprüft, ob eine Übertragung möglich ist. 2. Anwendungsbeispiel zur Übertragung der Grundsätze auf den Normanwendungsbereich Mit Urteil vom 1. Dezember 2010 (veröffentlicht am 30. 3. 2011) änderte der BFH seine Rechtsprechung zum Beteiligungserfordernis einer Personengesellschaft als Organträger bei der umsatzsteuerlichen Organschaft (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 S. 1 UStG)177. Ursprünglich vertrat der BFH für die Frage, ob eine Kapitalgesellschaft als Organgesellschaft in eine Personengesellschaft als Organträger finanziell eingegliedert ist, dass eine Beteiligung der Personengesellschaft an der Organgesellschaft nicht erforderlich ist178. Es sollte ausreichen, dass die Gesellschafter beider Gesellschaften die Mehrheit der Stimmrechte in der Organträgergesellschaft und in der Organgesellschaft besitzen und die Organträgergesellschaft so faktisch ihren Willen in der Organgesellschaft durchsetzen kann179. Im Gegensatz hierzu sollte es bei einer Kapitalgesellschaft als Organträger nicht genügen, dass die Gesellschafter in beiden Gesellschaften die Stimmenmehrheit haben180. Diese Differenzierung zwischen Personen- und Kapitalgesellschaften bei der Organschaft gab der BFH mit der Begründung auf, dass diese gegen das unionsrechtlich determinierte Prinzip der Rechtsformneutralität181 verstoße182. Nach der Rechtsprechungsänderung muss die Personengesellschaft selbst über die Stimmrechtsmehrheit an der Organgesellschaft verfügen, also beteiligt sein183. 174

BVerfGE 127, 31 (47); 132, 302 (319). BVerfGE 127, 31 (48). 176 BVerfGE 127, 31 (48). 177 BFH BStBl II 2011, 600. 178 BFH NV 1999, 1136 (1137). 179 BFH NV 1999, 1136 (1137); BStBl II 2005, 671 (674). 180 Im Anlassfall handelte es sich sogar um die Konstellationen zweier Kapitalgesellschaften, an denen jeweils ein Gesellschafter mehrheitlich beteiligt war. 181 Diese ist Ausdruck der Steuerneutralität. Die Steuerneutralität ist nach der Rechtsprechung des EuGH ein „Grundprinzip des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems“, vgl. die Rs. C 162/07 – Ampliscientifica und Amplifin. 182 BFH BStBl II 2011, 600 (603). 183 BFH BStBl II 2011, 600 (604) und Leitsatz 1. 175

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1. Teil: Vertrauensschutz nach bisherigem Konzept

Nimmt man beispielsweise eine Organschaft zwischen der Personengesellschaft A als Organträgerin und der Kapitalgesellschaft B als Organgesellschaft an und ist an diesen Gesellschaften der Gesellschafter X jeweils mehrheitlich beteiligt, ist aber die Gesellschaft A an B nicht beteiligt, läge nach früherer Rechtsauffassung eine Organschaft vor. Infolge der Rechtsprechungsänderung ist eine solche nicht gegeben. Während nach alter Rechtslage die Gesellschaft B keine selbstständige Tätigkeit ausübt und alle Umsätze der Gesellschaft A als Organträgerin zugerechnet werden, die allein Unternehmerin ist184, liegt nach der jüngeren Rechtsprechung keine Organschaft vor. Dies hat zur Folge, dass die Körperschaft B selbst Unternehmerin ist und somit die von ihr ausgeführten Umsätze bei dieser selbst steuerpflichtig sind. Tätigte B gegenüber A einen Umsatz (etwa eine Lieferung), so wäre dieser bei bestehender Organschaft als Innenumsatz steuerlich irrelevant185. Infolge des Rechtsprechungswandels liegt aber kein solcher, sondern ein steuerpflichtiger Umsatz vor (§§ 1 Abs. 1 Nr. 1, 2 Abs. 1 S. 1 UStG), weshalb sich die Rechtslage verschärfte. Gezeigt werden soll nun, inwieweit die Anwendung der Rückwirkungsjudikatur das Vertrauen der B in die Steuerfreiheit des Umsatzes schützen würde. Wie dargestellt, ist für die Differenzierung zwischen echter und unechter Rückwirkung die Anspruchsentstehung maßgeblich186. Geregelt ist diese zwar in § 13 Abs. 1 Nr. 1 lit. a und lit. b UStG. Die Norm bezieht sich aber jeweils nur auf die einzelnen Lieferungen oder sonstigen Leistungen und regelt gerade nicht das Entstehen der Steuer, die der Steuerpflichtige anmelden und entrichten muss187. Die Entstehung der Jahresumsatzsteuer ist hingegen nicht geregelt188. Diese entsteht, wenn sie sich nach § 16 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1 UStG berechnen lässt, also mit Ablauf des Besteuerungszeitraums (Kalenderjahr)189. Für die Frage der Abgeschlossenheit des Sachverhalts kann es nur auf das Entstehen der Jahresumsatzsteuer ankommen, da sich ansonsten eine erhebliche Privilegierung des Vertrauensschutzes im Vergleich zu den Ertragsteuern ergäbe, wenn eine echte Rückwirkung bereits mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums vorläge. Tätigt die Gesellschaft B gegenüber A am 30. 12. 2010 einen Umsatz (Disposition) und ist die Jahresumsatzsteuer mit Ablauf des 31. 12. 2010 entstanden, dann greift die rückwirkende Rechtsprechungsänderung vom 30. 3. 2011 (Verkündungsdatum) in einen abgeschlossenen Sachverhalt ein, sodass eine echte Rückwirkung vorliegt. Diese ist grundsätzlich unzulässig, und damit werden diese Steuer 184

Dies ist Rechtsfolge der Umsatzsteuerorganschaft, vgl. Meyer, in: Offerhaus / Söhn / Lange, UStG, § 2, Rn. 84. 185 Meyer, in: Offerhaus / Söhn / Lange, UStG, § 2, Rn. 85. 186 S. § 3  B. III. 1.  187 Leipold, in: Sölch / R ingleb, UStG, § 13, Rn. 21; Korn, in: Bunjes, UStG, § 16, Rn. 16. 188 Korn, in: Bunjes, UStG, § 16, Rn. 16; Leipold, in: Sölch / R ingleb, UStG, § 13, Rn. 35. 189 Hundt-Eßwein, in: Offerhaus / Söhn / Lange, UStG, § 13, Rn. 15; Leipold, in: Sölch / R ingleb, UStG, § 13, Rn. 35; Korn, in: Bunjes, UStG, § 16, Rn. 16.

§ 3 Die Änderung höchstrichterlicher Rechtsprechung

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pflichtigen so behandelt, als läge eine Organschaft vor, mit der Folge, dass ein nicht steuerbarer Innenumsatz vorliegt. Wird der Umsatz am 2. 1. 2011 getätigt, wird die Rechtsfolge durch das Urteil für einen gegenwärtigen, noch nicht abgeschlossenen Sachverhalt verändert, sodass eine unechte Rückwirkung vorliegt, die grundsätzlich zulässig ist. Der Umsatz ist damit nach der Grundregel der Rückwirkungsdogmatik steuerpflichtig, weil die Kapitalgesellschaften nach der neuen Rechtslage als Schwestergesellschaften behandelt werden. Die Gerichte müssten nun prüfen, ob bei der unechten Rückwirkung die Grenze der Zumutbarkeit für den Steuerpflichtigen gewahrt bleibt und ob Fälle aus dem Ausnahmekatalog der echten Rückwirkung gegeben sind, die zur ausnahmsweisen Zulässigkeit derselben führen190. Dies kann sich durchaus als kompliziert herausstellen. 3. Übertragbarkeit auf Rechtsprechungsänderungen Ein nicht unwesentlicher Punkt für die Frage der Übertragbarkeit der Rückwirkungsregeln ist die Vergleichbarkeit der Rechtsprechung als Planungsgrundlage mit dem Gesetz191. Das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, dass die Bindungswirkung von Urteilen schwächer sei, da diese keine mit Gesetzen vergleichbaren Rechtsbindungen erzeugen192. In der Tat wirkt das abstrakt-generell formulierte Gesetz gegenüber jedermann. Insofern unterscheidet sich das Judikat – dieses wirkt nur für die Beteiligten des Verfahrens (§ 110 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 FGO). Zudem sind andere Finanzgerichte in vergleichbaren Fällen nicht an die Wertung des obersten Bundesgerichts gebunden193. Jedoch sollen die Gerichte nach § 11 Abs. 4 FGO das Recht auch fortbilden, sodass sich der Adressatenkreis schon nach dem Prozessrecht nicht nur auf die Verfahrensbeteiligten erstreckt194. Dieser in § 11 Abs. 4 FGO formulierte Auftrag lässt sich auf sämtliche Gerichte übertragen195. Auch der Hinweis auf den abstraktgenerellen Charakter eines Gesetzes spricht nicht zwingend gegen die Übertragung der Rückwirkungsregeln. Zwar subsumiert das Gericht im Urteil einen konkreten 190

In der tatsächlichen Praxis schützte ein BMF-Schreiben (v. 5. 7. 2011, BStBl I 2011, 703) das Vertrauen jener Steuerpflichtigen, die ihre Umsätze (Dispositionen) bis zum 1. 1. 2012 ausführten. Das Gericht ging auf Vertrauensschutz nicht ein. Das spiegelt die Rechtspraxis wider, die darin besteht, dass die Verwaltung (und eben nicht die Gerichte) durch Übergangsregeln das Vertrauen bei Rechtsprechungsänderungen schützt. 191 Zu undifferenziert daher Zweigert / Kötz, BB 1969, 453, die die analoge Anwendung befürworten, da es auf die Rechtsnatur des Eingriffs in vertrauensgeschützte Positionen nicht ankomme. 192 BVerfGE 126, 369 (394 f.); 131, 20 (42). Ebenso BFH GrS, BStBl II 2008, 608 (617). 193 Bei einer abweichenden Entscheidung besteht aber eine Pflicht zur Zulassung der Revision (sog. Divergenzrevision gem. § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 FGO). 194 Grunsky, Grenzen der Rückwirkung, S. 16; Buchner, GS Dietz, S. 175 (180); Dötsch, DStR 2009, 409 (411); Robbers, JZ 1988, 481 (482). 195 Buchner, GS Dietz, S. 175 (180).

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1. Teil: Vertrauensschutz nach bisherigem Konzept

Fall unter das Gesetz. Jedoch formuliert die Rechtsprechung in Leitsätzen gesetzesähnliche196 abstrakte Grundsätze197, sodass auch konstatiert wird, dass der Rechtsprechung eine vergleichbare Rechtsqualität zukommt wie Gesetzen198. Die Rechtslage ergebe sich nicht nur aus dem Gesetz, sondern auch daraus, wie die Gerichte dieses interpretieren199. Die Rechtsprechungsänderung führe wie eine Gesetzesänderung zu einer Änderung des Rechts200. Die These, dass sich Steuerpflichtige an der höchstrichterlichen Rechtsprechung ebenso orientieren wie an Gesetzen201, kann durchaus überzeugen, weil sich aus dem Gesetz eben nicht unmittelbar ergibt, ob eine Organgesellschaft auch dann in eine Personengesellschaft als Organträgerin finanziell eingliedert (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG) ist, wenn ein Gesellschafter in beiden Gesellschaften über die Stimmrechtsmehrheit verfügt202. Gesetzgeber und Richter teilen sich die Rechtsfindung, und es soll sich nicht nachteilig für den Steuerpflichtigen auswirken, dass sich der Gesetzgeber nebulös ausdrückt203. Aus diesem Grund mag es nicht sachgerecht erscheinen, die Rückwirkungsdogmatik des Bundesverfassungsgerichts für Gesetzesänderungen zu reservieren204 – „was sogar dem Gesetzgeber nicht erlaubt ist, muß erst recht der dem Gesetz unterworfenen Rechtsprechung verboten sein“205. Gegen die Übertragung der Rückwirkungsgrundsätze soll hingegen eine drohende Erstarrung der Rechtsprechung sprechen. Wenn die Argumentation der Gerichte aufgrund neuer Erkenntnisse oder veränderter sozialer, wirtschaftlicher oder politischer Umstände nicht mehr überzeugt, können die Gerichte nämlich nicht an eine einmalig entschiedene Rechtsfrage gebunden sein206. Aufgrund der richterlichen Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) kann nicht darauf vertraut werden, dass die Richter stets die Rechtsauffassung anderer Entscheidungen für die Zukunft beibehalten, weil diese Unabhängigkeit eine konstitutionelle Uneinheitlich-

196

P. Kirchhof, DStR 1989, 263; Söhn, FR 1971, 222 (224). Englisch / Plum, StuW 2004, 342 (358); P. Kirchhof, FR 2016, 530 (535); Buchner, GS Dietz, S. 175 (180) m. w. N. 198 Medicus, NJW 1995, 2577 (2582). S. auch BFH GrS, BStBl II 2008, 608 (617), der explizit darauf hinweist, dass sich die Vorlagefrage nicht durch schlichte Gesetzessubsumtion beantworten lässt. Enger jedoch Viets, Rechtsprechungsänderung und Vertrauensschutz, S. 177, wonach die Rechtsprechung eine schmälere Vertrauensbasis als das Gesetz bilde. 199 Tipke, FS Rose, S. 92 (102); ders., Steuerrecht, 11. Aufl. 1987, S. 53; Spindler, DNotZ 2007, 105 (115). 200 Wagener / Haag, NZS 2016, 613 (614); Friauf, DStJG 5 (1982), S. 53 (57): Materiell ergebe sich die gleiche Situation wie bei einer rückwirkenden Gesetzesänderung. 201 Buchner, GS Dietz, S. 175 (180). 202 Vgl. hierzu das voranstehende Beispiel unter § 3 B. III. 2.  203 Buchner, GS Dietz, S. 175 (191). 204 Söhn, FR 1971, 222 (224); Buchner, GS Dietz, S. 175 (188). 205 Medicus, NJW 1995, 2577 (2582). Ebenso Tipke, Steuerrecht, 11. Aufl. 1987, S. 53. 206 BVerfGE 18, 224 (240); 59, 128 (165). Offenlassend BVerfGE 38, 386 (397), da sich aufgrund von Kritik der Literatur an der Rechtsprechung kein Vertrauen in diese habe bilden können. 197

§ 3 Die Änderung höchstrichterlicher Rechtsprechung

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keit der Rechtsprechung zur Folge hat207. Freilich darf Vertrauensschutz nicht zu einem Verbot von Rechtsprechungsänderungen führen, weil die Rechtsprechung sonst erstarren würde208. Jedoch sprechen diese Argumente umgekehrt auch nicht für eine völlige Negation von Vertrauensschutz, sondern dafür, dass dieser restriktiv zu handhaben ist209. Richtigerweise ist letzterer aber nicht durch eine analoge Anwendung der Rückwirkungsgrundsätze zu realisieren. Zwar ist jede Staatsgewalt und somit auch die Judikative an Vertrauensschutz gebunden (Art. 97 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG)210. Während (rückwirkende) Gesetze jedoch in einem förmlichen Verfahren erlassen werden, in dem eine ausführliche Abwägung zwischen dem Änderungsbedürfnis des Staates und dem Gewicht des enttäuschten Vertrauens erfolgen und geprüft werden kann, ob die Grenze der Zumutbarkeit für den Steuerpflichtigen gewahrt ist, missachtet das Erfordernis einer Prüfung, „wer worauf vertraut haben könnte“211, im gerichtlichen Urteil den rechtsstaatlichen Stellenwert der Judikative, die das Recht fortentwickeln soll. Im Beschluss des BFH zur Vererblichkeit von Verlusten nach § 10d EStG wurde zwar einerseits die analoge Anwendbarkeit der Rückwirkungsregeln bejaht212, andererseits aber aus Praktikabilitätsgründen von einer präzisen „Subsumtion“ unter die Voraussetzungen abgesehen213, was inkonsequent ist214, aber die These bekräftigt, dass sich eine differenzierte Auseinandersetzung der Gerichte mit Vertrauensschutz nicht in Einklang mit dem Prozess der Rechtsfindung und -fortbildung bringen lässt. IV. Schutz durch die Exekutive nach §§ 163, 227 AO durch den Erlass von typisierenden Übergangsregelungen Nach einem anderen Ansatz sollen nicht die Gerichte, sondern die Verwaltung Vertrauensschutz bei Rechtsprechungsänderungen realisieren215. Eine Rechtsgrundlage hierfür besteht in den §§ 163, 227 AO. Steuern können nach § 163 Abs. 1 S. 1 AO niedriger festgesetzt werden, wenn die Erhebung der Steuer im Einzelfall 207

BVerfGE 78, 123 (126); 126, 369 (395). Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 4, Rn. 186. 209 So auch Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 4, Rn. 191. 210 Medicus, NJW 1995, 2577 (2580 f.). A. A. Leisner-Egensperger, Kontinuität als Verfassungsprinzip, S. 539, nach der es kein Vertrauen in eine „schlechtere“ richterliche Erkenntnis gebe. Ähnlich restriktiv Brocker, NJW 2012, 2996 (3000). 211 So formuliert Leisner-Egensperger, DStJG 27 (2004), S. 191 (199) unter Begründung ihrer Kontinuitätsthese. 212 BFH GrS, BStBl II 2008, 608 (617). 213 BFH GrS, BStBl II 2008, 608 (618). 214 Ebenso Arndt, Probleme rückwirkender Rechtsprechungsänderung, S. 91 zur Recht­ sprechungsänderung über die Unzulässigkeit von Pensionsrückstellungen für GesellschafterGeschäftsführer [BVerfGE 18, 224 (240 f.)]. 215 Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 227, Rn. 53 f.; Fritsch, in: Koenig, AO, § 227, Rn. 22. 208

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1. Teil: Vertrauensschutz nach bisherigem Konzept

unbillig wäre. Im Erhebungsverfahren können Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis gemäß § 227 AO ganz oder teilweise erlassen werden, wenn deren Einziehung im Einzelfall unbillig wäre. Die Normen tragen den sachlichen und persönlichen Besonderheiten des Einzelfalls Rechnung, die der Gesetzgeber im Steuergesetz nicht berücksichtigt hat216. Während bei persönlicher Unbilligkeit die Erhebung der Steuer die Existenz des Steuerpflichtigen gefährden würde, hätte der Gesetzgeber bei sachlicher Unbilligkeit den Fall im Sinne der Billigkeitsmaßnahme geregelt, hätte er ihn erkannt217. Auch aus Gründen des Vertrauensschutzes kann die Festsetzung der Steuer sachlich unbillig sein218, wenn eine rückwirkende Rechtsprechungsänderung Dispositionen entwertet219. Es geht nicht an, „allein denjenigen einen (erst nachträglich als rechtswidrig erkannten) Vermögensvorteil zuzugestehen, deren Veranlagung zufälligerweise schon abgeschlossen ist, die übrigen aber für den gleichen Veranlagungszeitraum die ganze Strenge der neuen Rechtsprechung spüren zu lassen“ 220. Die Verwaltung kann nach §§ 163, 227 AO die Steuer für solche Konstellationen im Einzelfall abweichend festsetzen. Um der Flut der Fälle gerecht zu werden und um die Anwendung der §§ 163, 227 AO zu vereinheitlichen, erlässt die Finanzverwaltung die Steuer nicht in jedem einzelnen Fall, sondern trifft eine Übergangsregelung, die diese Fälle zusammenfasst, was der BFH akzeptiert 221. Diese schreibt für die nachgeordneten Behörden verbindlich vor222, dass die bisherige Rechtsprechung noch bis zu einem gewissen Zeitpunkt weiter anwendbar ist 223. Wird diese Regelung durch die Finanzbehörden nicht oder nicht rechtsfehlerfrei angewendet, kann der Steuerpflichtige die (korrekte) Anwendung gerichtlich er-

216

BFH BStBl II 1994, 833 (834). Birk / Desens / Tappe, Steuerrecht, Rn. 275 f. 218 BFH BStBl II 1995, 754 (755); Birk / Desens / Tappe, Steuerrecht, Rn. 276; Söffing, DStZ 2006, 588 (589). 219 BFH BStBl II 1991, 610 (613). 220 Dezidiert Berg, JuS 1980, 418 (421). 221 BFH BStBl II 1984, 751 (757); BStBl II 1991, 610 (613); BStBl II 2008, 405 (406); BStBl II 2018, 232 (234). BFH BStBl II 1990, 261 (262 f.) weist auf die Möglichkeit von Anpassungsregelungen hin, lehnte im Anlassfall aber Vertrauensschutz ab, da die Verfahrensbeteiligten in der zivilrechtlichen Vereinbarung das Risiko einer Rechtsprechungsänderung erkannten und eine Risikoverteilung vornahmen, die zulasten des Klägers ausfiel. Vgl. auch FG BadenWürttemberg, EFG 2018, 194 (195), wonach allein die Verwaltung für Vertrauensschutz bei Rechtsprechungsänderungen zuständig sei. 222 Die Verbindlichkeit von Verwaltungsvorschriften im Innenverhältnis ergibt sich aus der Dienst- und Gehorsamspflicht der nachgeordneten Amtswalter, vgl. nur Wernsmann, in: H / H / Sp, AO / FGO, § 5, Rn. 189. 223 Vgl. z. B. die Übergangsregelung (BMF, Schreiben v. 5. 7. 2011, BStBl. I 2011, 703) zur finanziellen Eingliederung einer Kapitalgesellschaft in eine Personengesellschaft als Organträgerin bei der Umsatzsteuer-Organschaft (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG) bei Fehlen einer Beteiligung des Organträgers an der Organgesellschaft. Bis zu dem im Schreiben genannten Datum konnte weiterhin von einer Steuerfreiheit der Umsätze der Organgesellschaft ausgegangen werden. 217

§ 3 Die Änderung höchstrichterlicher Rechtsprechung

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zwingen224. Diese (mittelbare) Außenwirkung ist eine Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG), denn solche Regelungen sind ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften, die zur Selbstbindung der Verwaltung führen225. Erlässt die Verwaltung eine solche Anpassungsregelung, so führt dies dazu, dass der einzelne Steuerpflichtige nicht deshalb schlechter gestellt wird, weil seine Veranlagung zufällig erst nach dem Rechtsprechungswandel erfolgt226. Wohingegen Billigkeitsmaßnahmen üblicherweise den Konflikt zwischen Einzelfall- und Gesetzesgerechtigkeit auflösen und anomale Fälle ausgleichen, erfasst der Dispens bei Übergangsregelungen typische Konstellationen, nämlich jene, bei denen das Vertrauen auf den Fortbestand einer Rechtsprechung schutzwürdig war227. Befugt sieht der BFH die Finanzbehörden zum Erlass solcher Regelungen, wenn eine gefestigte und langjährige Rechtsauffassung bestand, der Steuerpflichtige nicht mit einer Änderung der Rechtsprechung rechnen musste und wenn es keinen Anlass für Zweifel gab228. Eine gesicherte Rechtslage bestand nicht, wenn Finanzgerichte Zweifel an der bisher geübten Rechtsauffassung äußerten oder diese von der Literatur infrage gestellt wurde229. In der Rechtsprechung nicht einheitlich beurteilt wird, ob die obersten Verwaltungsbehörden zum Erlass von Übergangsregeln nur berechtigt230 oder sogar verpflichtet231 sind. Gar nicht zu überzeugen vermag der Hinweis, die Finanzbehörden seien zum Erlass von Anpassungsregeln nicht berechtigt, weil darin ein Verstoß gegen § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AO liege232. Die Finanzverwaltung beschränkt die Schutzintensität durch Übergangsregelungen nämlich nicht, sondern erweitert sie für offene Veranlagungen233.

224

Thiel, DB 1988, 1343 (1348). S. etwa FG Baden-Württemberg, EFG 2018, 194 zur erfolgreichen Durchsetzung einer Übergangsregelung über eine Verpflichtungsklage (§ 101 S. 1 FGO) – jedoch aufgehoben durch BFH NV 2020, 86 (88 f.), da das Finanzamt die Ablehnung der Billigkeitsmaßnahme ermessensfehlerfrei abgelehnt habe. Der Sachverhalt sei nicht offensichtlich von der Billigkeitsregelung erfasst gewesen. 225 BFH NV 2020, 86 (88); FG Baden-Württemberg, EFG 2018, 194 (195). 226 GmS-OGB 3/70, BStBl II 1972, 603 (609); BFH BStBl II 1991, 610 (613). 227 Vor diesem Hintergrund kritisch Isensee, FS Flume, S. 129 (142): Der Dispens fungiere dadurch als „Abladehalde gesetzgeberisch unbewältigter Probleme“. 228 BFH BStBl II 1979, 455 (457); BStBl II 1991, 610 (613); BStBl II 2018, 232 (234); FG Münster, DStR 2012, 502 (505) zu § 9 Abs. 6 EStG. 229 BFH BStBl II 2018, 232 (234). 230 So z. B. BFH BStBl III 1965, 206 (210) zur Vorgängerregelung des § 131 AO. Tendenziell auch BFH GrS, BStBl II 1984, 751 (765) und GmS-OGB, BStBl II 1972, 603 (609 f.). 231 So z. B. BFH BStBl II 1979, 455 (457): Ermessensreduzierung auf Null bei wirtschaftslenkenden Gesetzen wie Investitionszulagen; BFH BStBl II 1990, 261 (262); BStBl 1991, 610 im Leitsatz: „Die Verwaltung ist zu einem Billigkeitserlaß […] nicht verpflichtet, wenn den (dem) Steuerpflichtigen zumindest Zweifel […] hätten kommen müssen“ (Hervorhebung nur hier); BFH BStBl II 2008, 405 (406) und Leitsatz 3 („Pflicht zum Erlass“). 232 So aber Tiedtke / Szczesny, NJW 2002, 3733 (3739). 233 Schon der Gesetzgeber erkannte, dass der durch § 176 AO gewährte Schutz nicht ausreicht, vgl. BT-Drucks. VI/1982, S. 155.

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1. Teil: Vertrauensschutz nach bisherigem Konzept

1. Typisierungsbefugnis der Verwaltung Typisierung bedeutet, bei der Ordnung von Massenerscheinungen im Wesentlichen gleichgeartete Sachverhalte in einer Regelung zusammenzufassen. Die Besonderheiten des Einzelfalles können generalsierend vernachlässigt werden234. Nicht unzweifelhaft erscheint, ob der Verwaltung beim Erlass von Übergangsvorschriften eine solche Typisierungsbefugnis zukommt. Dem Grunde nach sind die §§ 163, 227 AO nämlich für einzelne Fälle konzipiert235. Anders als § 131 Abs. 2 RAO, der regelte, dass „für bestimmte Gruppen von gleichgelagerten Fällen […] für die entsprechende Anwendung des Absatzes 1 Richtlinien aufgestellt werden [können]“, sieht die AO 1977 eine solche Möglichkeit gerade nicht mehr vor236. Die Frage erlangt z. B. dann Bedeutung, wenn eine Vertrauensgrundlage zwar bestand, jedoch die Disposition nicht in jedem Einzelfall auf dem Rechtsvertrauen basierte, also die Kausalität zwischen Vertrauensbasis und Vertrauensbetätigung fehlte, oder das Vertrauen nicht schutzwürdig war. Nach dem Beschluss des BFH zur Vererblichkeit von Verlusten darf die Verwaltungsregelung typisierend auch diese Fälle erfassen237. Der BFH ordnete dort zwar selbst eine Weitergeltung des bisherigen Rechts für die Erbfälle an, die bis zum Tag der Veröffentlichung des Beschlusses eingetreten waren, hielt der Finanzverwaltung darüber hinaus aber ausdrücklich die Möglichkeit offen, eine weitergehende typisierende Vertrauensschutzregel auf Grundlage der §§ 163, 227 AO zu erlassen. Die Typisierung finde ihre Rechtfertigung darin, dass Praktikabilitätsgründe es ausschlössen, dass in jedem Einzelfall geprüft werden müsse, ob der Erblasser tatsächlich auf die Verrechnungsmöglichkeit der Verluste beim Erben vertraute238. Das vermag zu überzeugen, denn innere Tatsachen lassen sich nicht nur bei Verstorbenen schwer nachweisen. Andererseits sprach der BFH der Verwaltung bei der Frage der Weitergeltung des Sanierungserlasses als rechtswidrige Verwaltungsvorschrift aus Gründen des Vertrauensschutzes eine Typisierungsbefugnis im Rahmen der §§ 163, 227 AO ab239. Die Typisierung ergebe sich daraus, dass bei der Übergangsregelung für den Sanierungserlass nicht in jedem Einzelfall klar war, ob das Vertrauen auf die Steuerfreiheit des Sanierungsgewinns kausal für den Forderungsverzicht war240. Zwar können Billigkeitsmaßnahmen auch für eine Fallgruppe in Betracht kommen.

234

BVerfGE 122, 210 (232); 148, 147 (202) – dort auch zum vorstehenden Satz. Vgl. Berg, JuS 1980, 418 (421): Trotz Einzelfallbezug zeige die Praxis „doch schon recht generalisierende Effekte“. 236 v. Groll, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 227, Rn. 202. 237 BFH BStBl II 2008, 608 (618). 238 BFH BStBl II 2008, 608 (618). 239 BFH BStBl. II 2018, 232 (235). 240 BFH BStBl II 2018, 232 (235). Nach Englisch / Plum, StuW 2004, 342 (363) ist der Kausalitätsnachweis aufgrund der „abstrakt-generellen Wirkung“ von Präjudizien (freilich besteht eine solche Wirkung nur faktisch) für Vertrauensschutz entbehrlich. 235

§ 3 Die Änderung höchstrichterlicher Rechtsprechung

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Werden jedoch Einzelfälle in einer Übergangsregelung zusammengefasst, müsse in jedem Einzelfall sachliche Unbilligkeit vorliegen241. Allein der Gesetzgeber habe die Kompetenz, typisierende Billigkeitsregelungen zu erlassen242. Wie passt das aber mit der Aussage des BFH im Beschluss zur Vererblichkeit von Verlusten zusammen?243 Richtigerweise besitzt die Verwaltung bei Gruppenregelungen auf Grundlage der §§ 163, 227 AO eine Typisierungsbefugnis. Gruppierungen von Einzelfällen, bei denen ausnahmslos in jedem Fall sichergestellt ist, dass die Voraussetzungen der sachlichen Unbilligkeit vorliegen, sind nämlich nicht oder kaum denkbar. Zwar geht mit einer Typisierung eine Gleichbehandlung von Ungleichem (Art. 3 Abs. 1 GG) einher, wenn die Steuerpflichtigen unabhängig davon „über einen Kamm“244 geschert werden, ob der gesetzliche Tatbestand erfüllt ist, also ohne Berücksichtigung der Besonderheiten des jeweiligen Falles245. Die Typisierung kann diese jedoch aus Praktikabilitäts- und Vereinfachungsgründen rechtfertigen246. Bei fehlender Typisierungsbefugnis würde sich bei einer Gruppierung keine verwaltungsvereinfachende Wirkung einstellen. Müsste in jedem einzelnen Fall sichergestellt sein, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen vorliegen, könnte die Verwaltung konsequenterweise auf die Gruppierung verzichten und Billigkeitsmaßnahmen im Einzelfall erlassen, was bei Rechtsprechungsänderungen mit großer Breitenwirkung nicht praktikabel wäre. Solche Einzelprüfungen würden die Kapazitäten der Verwaltung sprengen. Vertrauensschutz muss aber vollzugsfähig sein247. Für eine Typisierungsbefugnis streitet auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die bei begünstigenden Typisierungen (Vertrauensschutz 241

So auch BFH BStBl II 1981, 204 (206). BFH BStBl II 2018, 232 (235). 243 Fehlende Stringenz bemängelnd auch Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 3, Rn. 281, jedoch in Bezug auf die Tatsache, dass der BFH bei der Rechtsprechungsänderung zur Vererblichkeit von Verlusten eine Übergangsregelung akzeptiert habe, der Sanierungserlass für die Altfälle jedoch nicht temporär weiter gelten durfte. Das überzeugt insoweit nur bedingt, da es sich um verschiendene Vertrauensgrundlagen handelt – im ersten Fall um eine höchstrichterliche Rechtsprechung und im zweiten Fall um eine rechtswidrige Verwaltungsvorschrift. Für rechtswidrige Verwaltungsvorschriften besteht indes nur ein sehr stark eingeschränkter Vertrauensschutz, dessen Voraussetzungen hier nicht vorlagen, s. dazu noch § 5 C. II. Nicht zu rechtfertigen ist jedoch die unterschiedliche Aussage zur Typisierungsbefugnis der Verwaltung. 244 Plastisch Arndt, Praktikabilität und Effizienz, S. 52, der den „Typus“ als subsumtionsfertige Sachverhaltsschablone umschreibt. 245 F. Wollenschläger, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 3, Rn. 201. 246 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 4, Rn. 453; Rüfner, in: Bonner Kommentar, GG, Art. 3, Rn. 111. 247 Ebenso Englisch / Plum, StuW 2004, 342 (362): „Im Hinblick auf den abstrakt-generellen Charakter von Übergangsvorschriften wird man […] eine gewisse Typisierung in Kauf zu nehmen haben“; Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 163, Rn. 121. Zur Vollzugsfähigkeit des Gesetzes als Rechtfertigung der typisierenden Verwaltung, vgl. Isensee, StuW 1994, 3 (11) mit der pragmatischen Formulierung „unumgänglich und daher zulässig“. 242

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1. Teil: Vertrauensschutz nach bisherigem Konzept

durch Anpassungsregelungen gehört dazu) einen großzügigeren Gestaltungsspielraum annimmt248. Freilich müssen bei der Ausgestaltung der Übergangsvorschrift die rechtlichen Grenzen einer zulässigen Typisierung eingehalten werden. So muss sich die Anpassungsvorschrift bei einer Rechtsprechungsänderung realitätsgerecht am typischen Fall für Vertrauensschutz orientieren und darf keinen atypischen Fall als Leitbild wählen249. Zudem darf nur eine kleinere Zahl von Personen von den Härten im Einzelfall, die sich durch die Typisierung ergeben, betroffen und der Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht besonders gravierend sein250. 2. „Nobile officium“ der Verwaltung Kritisiert wird eine Lösung von Vertrauensschutz über die Verwaltung mit dem Argument, dass die §§ 163, 227 AO einen Ermessensspielraum einräumen251. Die Finanzverwaltung sei also zur Verwirklichung von Vertrauensschutz nicht verpflichtet, sodass es sich um ein nobile officium handele252. Vertrauensschutz dürfe aber nicht zur Disposition der Verwaltung stehen, weil dies dem verfassungsrechtlichen Rang des Prinzips widerspräche253. Folglich seien die Gerichte zuständig254, weil die Verwaltung kein Handlungsinstrument besitze255. Es kann sich aus einer Norm mit Ermessensspielraum jedoch auch eine Verpflichtung zum Handeln ergeben, nämlich dann, wenn das Ermessen so verdichtet ist, dass der Erlass der Über-

248 BVerfGE 17, 1 (23) hält es für „leichter erträglich, wenn gelegentlich einer Typisierung auch Personen in den Genuß von Vorteilen kommen, die ihnen nach dem strengen Zweck des Gesetzes nicht gebührten, als wenn Personen davon ausgeschlossen werden, denen die Vorteile nach dem Zweck zukämen“. Der Gestaltungsspielraum ist bei bevorzugenden Typisierungen also weiter. 249 S. zu diesem Erfordernis BVerfGE 117, 1 (31); 122, 39 (59); 122, 210 (233); 137, 1 (21); 137, 350 (375); 148, 147 (202). 250 BVerfGE 126, 233 (263 f.); 133, 377 (413). 251 Söhn, FR 1971, 222 (224) zur Vorgängernorm des § 131 AO; Spindler, DStR 2001, 725 (729); Rose, Stbg 1999, 401 (408); Thiel, DB 1988, 1343; Friauf, DStJG 5 (1982), S. 53 (59); Felix, KÖSDI 1986, 6509 (6510) – da sich aus § 163 AO kein Rechtsanspruch ergebe, stehe Vertrauensschutz nur auf einem Bein (sc. auf dem des § 176 AO); Spindler, DStR 2001, 725 (729). 252 Leisner-Egensperger, Diskussionsbeitrag, DStJG 27 (2004), S. 209 (214); Rose, Stbg 1999, 401 (408). A. A. zu Recht Rüsken, in: Klein, AO, § 176, Rn. 3: „kein Gnadenerweis“; Robbers, JZ 1988, 481 (482). Enger auch BFH BStBl II 1979, 455 (457): Übergangsregelungen beruhen grundsätzlich auf dem Ermessen der Finanzverwaltung, jedoch kann in gewissen Fällen eine Ermessensreduzierung auf Null in Betracht kommen. 253 Spindler, DStR 2001, 725 (729). 254 Selbst Kritiker, die eine administrative Lösung mangels ausdrücklich geregelter Verpflichtung ablehnen, müssen erkennen, dass gerichtliche Anpassungsregeln bloße obiter dicta darstellen, die die Verwaltung nicht binden, vgl. Hey, DStR 2004, 1897 (1901); R. Birk, JZ 1974, 735 (739); Schwarz, Vertrauensschutz, S. 375; Friauf, DStJG 5 (1982), S. 53 (59); Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 163, Rn. 111. 255 Spindler, DStR 2001, 725 (729).

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gangsregelung die einzig verbleibende Handlungsoption darstellt (Ermessensreduzierung auf Null). Dann ergibt sich ein Anspruch auf eine vertrauensschützende Übergangsregelung256. Der Hinweis, §§ 163, 227 AO seien keine tauglichen Rechtsgrundlagen, überzeugt in dieser Pauschalität somit nicht257, sodass es auch nicht erforderlich ist, die Norm des § 163 Abs. 1 AO um eine explizite Verpflichtung der Finanzverwaltung zum Erlass von Anpassungsregelungen zu erweitern258. Eine Verpflichtung zum Handeln der Verwaltung (also eine Ermessensreduzierung auf Null bei schutzwürdigem Vertrauen) ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass die Gerichte richtigerweise für die Realisierung von Vertrauensschutz nicht zuständig sind. Wie dargestellt, erschöpft sich die Tätigkeit des Richters weitgehend in der Überprüfung behördlicher Maßnahmen, in der Findung des richtigen Rechts und in der Rechtsfortbildung259. Ein „judicial self-restraint“ aus Gründen des Vertrauensschutzes (etwa bei Ankündigungsrechtsprechung260 oder bei der Ausklammerung der neuen Rechtsgrundsätze im Anlassfall261) oder sogar ein Kontinuitätsgebot liefe diesem Auftrag zuwider, wenn vor der eigentlichen Rechtsfindung die Frage stünde, auf welche Fälle sich die neue Rechtsprechung überhaupt erstrecken darf262. Die Bedeutung der Rechtsprechung für den Rechtsstaat verbietet es, dass die Ressourcen des Richters anders eingesetzt werden als für den Prozess der Rechtsfindung und -fortbildung. Die Verwaltung ist hingegen für die Veranlagung zuständig und vollzieht dabei die Steuergesetze263. Auslegungsfragen darf sie durch Verwaltungsvorschriften (Art. 108 Abs. 7 GG) beantworten264. Die Verwaltungspraxis ist auch durch 256 Hey, Steuerplanungssicherheit, S. 647. Ihr zustimmend Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 163, Rn.  113. 257 Lang, Diskussionsbeitrag, DStJG 27 (2004), S. 209 (213). 258 So aber Rose, Stbg 1999, 401 (409). 259 Vgl. aus prozessualer Sicht § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO. Ähnlich Hey, DStR 2004, 1897 (1900), nach der die „richterliche Entscheidungsfindung selbst keinen Raum für Vertrauensschutz bietet“ und Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 163, Rn. 110, der die Rechtsprechung nicht in der Lage sieht, dem Vertrauensschutzprinzip hinreichend Rechnung zu tragen. 260 Nach BVerfGE 78, 123 (127) gebietet es eine rechtsstaatliche Verfahrensgestaltung grundsätzlich nicht, die Parteien auf eine künftige Rechtsprechungsänderung hinzuweisen. Schwarz, Vertrauensschutz, S. 375 hält die Ankündigung von Rechtsprechungsänderungen für ein rechtspolitisches Postulat. 261 S. z. B. BFH BStBl III 1964, 602 (609), der zunächst betont, dass es Sache der Finanzverwaltung sei, unbillige Härten bei Rechtsprechungsänderungen zu vermeiden (sc. Vertrauensschutz zu realisieren). Der BFH klammerte dann jedoch selbst den Anlassfall aus, da eine im Ermessen der Verwaltung stehende Regelung nicht in Betracht komme, wenn Vertrauensschutz nur eine bestimme Lösung zulasse. 262 So im Ergebnis auch Hey, Steuerplanungssicherheit, S. 648: Gerichtsentscheidungen seien nicht der Ort, um differenzierende Anpassungsregelungen zu treffen. Nur die Verwaltung könne den Besonderheiten der Rechtsänderung in Übergangsregelungen Rechnung tragen. 263 Lange, NJW 2002, 3657 (3659). 264 Lange, NJW 2002, 3657 (3659).

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1. Teil: Vertrauensschutz nach bisherigem Konzept

Nichtanwendungserlasse determiniert, die vorsehen, dass die Grundsätze einer neuen Rechtsprechung nicht über den entschiedenen Einzelfall hinaus anzuwenden sind265. Für die Zulässigkeit solcher Erlasse, auf die hier nicht vertieft eingegangen werden soll266, spricht, dass § 85 S. 1 AO und das Gewaltenteilungsprinzip (Art. 20 Abs. 2 und 3 GG) die Finanzbehörden verpflichtet, das Recht in eigener Verantwortung anzuwenden267. Richterrecht fällt auch nicht unter den Begriff des „Rechts“ im Sinne des Art. 20 Abs. 3 GG268. Außerdem kann die Existenz des § 165 Abs. 2 S. 3 AO ein Anhaltspunkt für die grundsätzliche Zulässigkeit von Nichtanwendungserlassen sein269. Wenn die Verwaltung ein Urteil prüfen und in einem Nichtanwendungserlass regeln darf, dass die dort geschilderten Rechtsgrundsätze über den Einzelfall hinaus nicht anzuwenden sind, so spricht nichts gegen die Annahme, dass sich diese Kompetenz der Verwaltung nach einem Rechtswandel zu einer Verpflichtung verdichten kann, wenn das Vertrauen schutzwürdig war. Die Wirkung eines Nichtanwendungserlasses ist mit der einer Übergangsregelung auf Grundlage der §§ 163, 227 AO durchaus vergleichbar, denn in beiden Fällen ist die neue Rechtsprechung nicht allgemein anwendbar – bei Rechtsprechungsänderungen deshalb, weil die bisherige Rechtsprechung aus Gründen des Vertrauensschutzes temporär noch weiter gelten soll270. Übergangsregelungen der Verwaltung können ferner mit der verzögerten Nichtveröffentlichung von BFH-Rechtsprechung verglichen werden, die einem temporären Nichtanwendungserlass gleichsteht271. Durch solche Regelungen wird die Verpflichtung der nachgeordneten Behörden zur Anwendung der neuen Rechtsgrundsätze zeitweise ebenso eliminiert wie bei der verzögerten Nichtveröffentlichung von BFH-Rechtsprechung272. 265

Schorkopf, AöR 144 (2019), 203 (224) spricht von einer „Stummschaltung der Judikative“ (durch Nichtanwendungserlasse). 266 Dafür Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 4, Rn. 341 f. (unter gewissen Voraussetzungen); Helbich, Vertrauensschutz in Verwaltungsvorschriften, S. 110 ff. Dagegen etwa LeisnerEgensperger, DStJG 27 (2004), S. 209 (214), wonach Nichtanwendungserlasse zur gegenseitigen Blockierung der Staatsgewalten führen; dezidiert Jochum, Grundfragen des Steuerrechts, S. 46: „Widerstand gegen bessere Rechtserkenntnis [s.c. durch Nichtanwendungserlasse] missachtet die verfassungsrechtliche Stellung des Bundesfinanzhofs und führt zu einem Verstoß der Verwaltungsspitze gegen Recht und Gesetz“. 267 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 4, Rn. 341; Spindler, DStR 2007, 1061 (1064). 268 In diesem Zusammenhang Helbich, Vertrauensschutz in Verwaltungsvorschriften, S. 111. 269 Heuermann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 165, Rn. 158 sieht in der Vorschrift die Rechtsgrundlage für Nichtanwendungserlasse. 270 Hey, Steuerplanungssicherheit, S. 647 sieht in Anpassungsregeln daher zutreffend einen „zeitweiligen Nichtanwendungserlass“; Felix, KÖSDI 1992, 8995 (8999) umschreibt sie als „rückwirkende begünstigende Nichtanwendungserlasse“. 271 Desens, Bindung der Finanzverwaltung an die Rechtsprechung, S. 63. 272 Zur Rechtfertigung verzögerter Veröffentlichung vgl. Desens, Bindung der Finanzverwaltung an die Rechtsprechung, S. 64 f. A. A. mangels Transparenz Pezzer, DStR 2004, 525 (532) – dort ferner mit der Begründung, dass die Finanzverwaltung mit der Vorbehaltsfestsetzung (§ 164 AO) ein Instrument besitze, das es ihr ermöglicht, die allgemeine Anwendung von Urteilen zu bedenken.

§ 3 Die Änderung höchstrichterlicher Rechtsprechung

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3. Rechtsschutz Ist es also Sache der Verwaltung, das Vertrauen bei Rechtsprechungsänderungen zu schützen273, stellt sich die Frage, wie der Steuerpflichtige verfahren kann, wenn eine Übergangsregelung nicht erlassen wurde oder diese zu kurz greift. Erlassen die Finanzbehörden Übergangsregelungen, sind die nachgeordneten Behörden und Amtswalter an diese gebunden. Das folgt aus ihrem Charakter als ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften, die zur Selbstbindung der Verwaltung führen (Art. 3 Abs. 1 GG)274. Sie sind auch von den Gerichten grundsätzlich zu beachten275. Die gerichtliche Kontrolle beschränkt sich auf die Prüfung, ob die Behörden die Verwaltungsvorschrift angewendet haben und ob die Regelung selbst einer sachgerechten Ermessenausübung entspricht276. Sie ist so auszulegen, wie sie Verwaltung verstanden wissen wollte277. Greift die Übergangsregel hinsichtlich Zeitpunkt oder Inhalt zu kurz, erhält die Finanzverwaltung von den Gerichten die Möglichkeit, die Übergangsregelung zu ändern278. So verwies der BFH einen Fall mangels Spruchreife an das Finanzgericht zurück, da die Verwaltung noch ein Ermessensspielraum hinsichtlich der Dauer der zeitlichen Fortgeltung der alten Rechtsprechungsgrundsätze habe279. Ist die Regelung insuffizient, kann der Steuerpflichtige auch von vorneherein eine Billigkeitsmaßnahme für den Einzelfall nach § 163 Abs. 1 S. 1 AO beantragen und ggf. gerichtlich durchsetzen. Greift die Regelung zu weit, könnte diese einer sachgerechten Ermessensausübung nicht mehr entsprechen (§ 5 AO) und daher rechtswidrig sein. Dann muss der Steuerpflichtige auch in diesem Fall eine Einzelmaßnahme anregen und ggf. gerichtlich durchsetzen. Erlässt die Finanzverwaltung trotz schutzwürdigem Vertrauen pflichtwidrig keine allgemeine Übergangsregel, so muss sie dieses durch Einzelmaßnahmen schützen280. Auch wenn eine allgemeine Regelung nicht geboten sein sollte, kann die Verwaltung dennoch im Einzelfall verpflichtet sein, die Steuer aus Billigkeitsgründen abweichend festzusetzen (§ 163 Abs. 1 S. 1 AO)281. Der Steuerpflichtige 273

BFH BStBl III 1964, 124 (127); BStBl II 1973, 298 (303); BStBl II 1979, 455 (457); GrS, BStBl II 1984, 751 (757); BStBl II 1985, 151 (154); BStBl II 1990, 261 (262); BStBl II 1991, 610 (613); NV 2002, 1575 (1576); FG Baden-Württemberg, EFG 2018, 194 (195). 274 Vgl. hierzu Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 5, Rn. 200; Drüen, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 4, Rn.  93. 275 BFH GrS, BStBl II 1984, 751 (757); BStBl II 1991, 610 (613); FG Baden-Württemberg, EFG 2018, 194 (195). 276 BFH NV 2020, 86 (88); FG Baden-Württemberg, EFG 2018, 194 (195); Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 5, Rn.  201; Cöster, in: Koenig, AO, § 163, Rn. 56. 277 BFH NV 2020, 86 (88); FG Baden-Württemberg, EFG 2018, 194 (195); Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 5, Rn.  201; Drüen, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 4, Rn. 93. 278 BFH BStBl II 1979, 455 (458). Die dem Fall zugrundeliegende Übergangsregelung knüpfte an den falschen Zeitpunkt an. 279 BFH BStBl II 1979, 455 (458). 280 BFH BStBl II 1991, 610 (613); BStBl II 2008, 405 (406). 281 BFH BStBl II 1991, 610 (613).

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1. Teil: Vertrauensschutz nach bisherigem Konzept

kann aber nicht so gestellt werden, als wäre eine Regelung ergangen282. Lehnt die Behörde eine solche Billigkeitsmaßnahme, die von der Steuerfestsetzung zu separieren ist283, ab, muss der Steuerpflichtige gegen die ablehnende Entscheidung Einspruch einlegen (§ 347 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO)284. Bleibt dieser ohne Erfolg (§ 44 Abs. 1 FGO), kann der Billigkeitserlass bei Vorliegen einer Ermessensreduzierung auf Null gerichtlich über eine Verpflichtungsklage in Form der Versagungsgegenklage (§ 101 S. 1 Alt. 1 FGO) erzwungen werden. Dann können die Gerichte eine Verpflichtung zur abweichenden Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen aussprechen285. Der Steuerbescheid muss anschließend gemäß § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO geändert werden, da der Steuerverwaltungsakt über die Billigkeitsmaßnahme für die Steuerfestsetzung ein bindender Grundlagenbescheid ist (§§ 171 Abs. 10 S. 1, 351 Abs. 2 AO)286.

C. Fazit Die vorstehenden Ausführungen zeigten das Nebeneinander der Schutzmechanismen bei rückwirkenden Rechtsprechungsänderungen auf. Während für abgeschlossene Veranlagungen ein unbedingter Vertrauensschutz durch § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AO gewährt wird, gestaltet sich die Verwirklichung von Vertrauensschutz für offene Veranlagungen als komplizierter. Einigkeit besteht dahingehend, dass für letztere die Rechtslage als Vertrauensträger fungiert, wohingegen bei § 176 AO umstritten ist, ob der Steuerpflichtige auf den Fortbestand einer Rechtsprechung oder auf die Beständigkeit eines Steuerbescheids vertrauen darf. Uneinigkeit besteht hinsichtlich der kompetenziellen Zuständigkeit der Staatsgewalten für Vertrauensschutz und dessen inhaltliche Ausgestaltung bei offenen Veranlagungen. Die finanzgerichtliche Rechtsprechung sieht die Zuständigkeit bei der Verwaltung, die verpflichtet sein soll, auf Grundlage der §§ 163, 227 AO Übergangsregelungen hin zu den neuen Rechtsprechungsgrundsätzen zu erlassen. Dieser Sichtweise ist zuzustimmen. Wenn sich eine allgemeine Regel aufgrund der Besonderheiten des Falls nicht eignet, muss die Verwaltung das Vertrauen durch Einzelfallmaßnahmen schützen. Die Zuständigkeit der Verwaltung ergibt sich aus ihrem Erstzugriff auf offene Rechtsfragen. Die Realisierung von Vertrauensschutz nach einem Rechtsprechungswandel ist eine solche offene Rechtsfrage, da sie von den Gerichten nicht beantwortet werden muss287. 282

BFH GrS, BStBl II 1984, 751 (764); BStBl II 1990, 261 (263). Steuerfestsetzung und Billigkeitserlass sind zwei zu trennende Verwaltungsentscheidungen, vgl. Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 163, Rn. 21. 284 v. Groll, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 163, Rn. 147. 285 v. Wedelstädt, in: Kühn / v. Wedelstädt, AO / FGO, § 163, Rn. 33. 286 v. Wedelstädt, in: Kühn / v. Wedelstädt, AO / FGO, § 163, Rn. 24; Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 163, Rn. 21a, b; Cöster, in: Koenig, AO, § 163, Rn. 53. 287 S. hierzu mit Nachweisen unter § 3 B. IV. 283

§ 4 Das verfassungswidrige Steuergesetz

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Die Grundsätze des Bundesverfassungsgerichts für rückwirkende Gesetze können nämlich nicht auf Rechtsprechungsänderungen übertragen werden, denn die differenzierte Prüfung der Schutzwürdigkeit von Vertrauen und die Kategorisierung in echte und unechte Rückwirkung steht nicht in Einklang mit originärer richterlicher Tätigkeit. Es würde die Ressourcen der Gerichte sprengen, müsste dem ändernden Urteil eine solche Prüfung vor der Erörterung der Rechtsfragen voranstehen. Ihr Auftrag erschöpft sich in der Rechtsentwicklung und -fortbildung288. Die Rückwirkung von Rechtsprechung auszuschließen überzeugt nicht, weil das Erstellen eines Rechtsgutachtens im Anlassfall zur Denaturierung richterlicher Tätigkeit führt289. Die kontinuierliche Entwicklung der Rechtsprechung ist in verfassungsgerichtlicher Judikatur zwar vorgezeichnet, ein engerer Ansatz, wie teils befürwortet, ist aber abzulehnen, da eine Verpflichtung zur Schaffung von schonenden Übergängen zur Erstarrung der Rechtsprechung führen würde. Überdies trägt Kontinuität zur Rechtsunsicherheit bei, da der Zeitpunkt bis zum endgültigen Rechtswandel nicht vorhergesehen werden kann290. Festzuhalten ist an dieser Stelle der Arbeit, dass die Abgrenzung von geregeltem und ungeregeltem Vertrauensschutz zufallsbehaftet ist. Dies rückt eine veranlagungsunabhängige Lösung in den Vordergrund.

§ 4 Das verfassungswidrige Steuergesetz Im Folgenden wird das Vertrauensschutzkonzept für nichtige Steuergesetze aufgezeigt. Auch hier muss zwischen abgeschlossenen und offenen Veranlagungen differenziert werden.

A. Abgeschlossene Veranlagungen § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO verbietet die Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids zu Ungunsten des Steuerpflichtigen, wenn das Bundesverfassungsgericht die Nichtigkeit eines Gesetzes feststellt, auf dem die bisherige Steuerfestsetzung beruht. In der Vorschrift wird eine Parallele zu § 79 Abs. 2 S. 1 BVerfGG erkannt, wonach unanfechtbare Entscheidungen, die auf einer für nichtig erklärten Norm basieren, unberührt bleiben291. § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO gilt auch dann, wenn das

288

S. hierzu mit Nachweisen unter § 3 B. III. S. hierzu mit Nachweisen unter § 3 B. II. 2.  290 S. hierzu mit Nachweisen unter § 3 B. II. 1. a). 291 Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 176, Rn. 10; v. Wedelstädt, in: Beermann / Gosch, AO / ​FGO, § 176, Rn.  22; Bartone, in: Kühn / v. Wedelstädt, AO / FGO, § 176, Rn. 12. 289

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1. Teil: Vertrauensschutz nach bisherigem Konzept

Bundesverfassungsgericht lediglich die Unvereinbarkeit eines Gesetzes mit dem Grundgesetz feststellt292. Erfasst sind förmliche, nachkonstitutionelle Gesetze293. Der Steuerbescheid muss auf diesen beruhen294.

B. Nicht abgeschlossene Veranlagungen I. Schutz durch die Judikative – Maßgeblichkeit der Tenorierung des Bundesverfassungsgerichts Der Rechtspraxis entspricht der Schutz nicht abgeschlossener Veranlagungen durch das Bundesverfassungsgericht. Dieses kann im Rechtsfolgenausspruch das schutzwürdige Vertrauen der Steuerpflichtigen berücksichtigen. Einerseits wird dieser Schutz durch die Tenorierung klar bezweckt295, andererseits kann der Steuerpflichtige zufällig von einer Fortgeltungsanordnung des Bundesverfassungs­ gerichts profitieren, etwa, wenn die befristete Weitergeltung der Norm aus Gründen der verlässlichen Finanz- und Haushaltsplanung gerechtfertigt wird. 1. Tenorierungsformen des Bundesverfassungsgerichts Zunächst sollen die Tenorierungsformen abstrakt dargestellt werden. Sodann wird hinsichtlich der denkbaren Varianten der Bezug zum Vertrauensschutz hergestellt. In einigen Fällen ist eine trennscharfe Differenzierung zwischen offenen und abgeschlossenen Veranlagungen dabei nicht immer nötig, da sich der Schutz durch die Tenorierung und durch § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO auch überlappen können. Gilt die verfassungswidrige Norm für eine bestimmte Zeit weiter, muss auf § 176 AO nicht zurückgegriffen werden. a) Nichtigerklärung Der Regelfolge eines verfassungswidrigen Gesetzes ist dessen Nichtigkeit. Das setzen die §§ 78 S. 1, 82 Abs. 1, 95 Abs. 3 S. 1 BVerfGG voraus296. Die Nichtigkeitserklärung durch das Bundesverfassungsgericht wirkt bis zum Zeitpunkt der

292 v. Wedelstädt, in: Beermann / Gosch, AO / FGO, § 176, Rn. 20; v. Groll, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 176, Rn.  143; Bartone, in: Kühn / v. Wedelstädt, AO / FGO, § 176, Rn. 13. 293 v. Wedelstädt, in: Beermann / Gosch, AO / FGO, § 176, Rn. 21. 294 Bartone, in: Kühn / v. Wedelstädt, AO / FGO, § 176, Rn. 12; v. Wedelstädt, in: Beermann / ​ Gosch, AO / FGO, § 176, Rn. 23. 295 So etwa bei BVerfGE 99, 280 (299). 296 Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 378; E.  Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, § 39, Rn. 1368.

§ 4 Das verfassungswidrige Steuergesetz

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Kollisionsentstehung zurück (ex tunc)297. Sie führt dazu, dass das vorherige Gesetz in keinem Zeitpunkt unanwendbar war, weil ein verfassungswidriges Gesetz ein wirksames nicht überschreiben kann298. Trotz ihrer Rückwirkung kann sich die Nichtigerklärung des Gesetzes bei abgeschlossenen Steuerfällen vorbehaltlich besonderer gesetzlicher Vorschriften nicht mehr auswirken (§ 79 Abs. 2 S. 1 BVerfGG)299. In § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO, der die Berücksichtigung einer Nichtigerklärung bei der Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids verbietet, wird teilweise eine Parallele zu § 79 Abs. 2 S. 1 BVerfGG erkannt. Letztere Vorschrift soll verhindern, dass der Bürger aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Nutzen zieht300. Sie schränkt die Aufhebung von Steuerbescheiden durch die Behörden nicht ein, wenn die Voraussetzungen einer Korrekturnorm vorliegen301. Klargestellt wird, dass aufgrund der Nichtigerklärung keine neuen Rechtsschutzmöglichkeiten eröffnet werden302. Vor diesem Hintergrund kann der Rechtsgedanke des § 79 Abs. 2 S. 1 BVerfGG nicht ohne Weiteres auf § 176 AO übertragen werden. Zwar differenziert § 176 AO ähnlich wie § 79 Abs. 2 S. 1 BVerfGG streng nach dem Stand der Veranlagung. Auch eröffnen beide Normen keine neuen Rechtsschutzmöglichkeiten. § 176 AO soll aber verhindern, dass der Steuerpflichtige infolge einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung stärker belastet wird, gilt hingegen nicht, wenn sich die Nichtigerklärung zugunsten des Bürgers auswirkt – daher erlaubt § 176 AO gerade, dass der Bürger aus verfassungsgerichtlichen Entscheidungen einen Nutzen zieht303. Überdies geht der allgemeine Rechtsgedanke des § 79 Abs. 2 S. 1 BVerfGG dahin, dass die nachteiligen Wirkungen einer verfassungswidrigen Norm für die Vergangenheit nicht beseitigt werden, dass für die Zukunft aber (und damit auch für bevorstehende Veranlagungen, also im Zeitraum vor dem Erlass des Erstbescheids) die Folgen abgewendet werden müssen, die sich aus der Anwendung der verfassungswidrigen Norm ergeben würden304. Die Übertragung dieses Rechtsgedankens würde bedeuten, dass der Zeitraum vor der Veranlagung, aber nach einer Disposition und Nichtigerklärung der Norm nicht geschützt werden dürfte, da bei der künftigen Veranlagung die Folgen der Ver 297

E. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, § 39, Rn. 1375; Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 379; Graßhof, in: Umbach / Clemens / Dollinger, BVerfGG, § 78, Rn. 12. 298 E. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, § 39, Rn. 1376. 299 Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 391. 300 Wernsmann, Das gleichheitswidrige Steuergesetz, S. 24. 301 Wernsmann, Das gleichheitswidrige Steuergesetz, S. 24. Vgl. auch Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 391: § 79 Abs. 2 BVerfGG führe nicht zu einer Erweiterung der Bestandskraft (die aber durch allgemeine Regelungen durchbrochen werden könne). 302 Wernsmann, Das gleichheitswidrige Steuergesetz, S. 24. 303 Zwar erlauben die §§ 172 ff. AO die Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids aufgrund einer verfassungswidrigen Norm nicht. Möglich ist jedoch die Berücksichtigung im Rahmen einer Fehlersaldierung (§ 177 AO). 304 BVerfGE 37, 217 (263).

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1. Teil: Vertrauensschutz nach bisherigem Konzept

fassungswidrigkeit der Norm gezogen werden müssten. Das würde aber dem Vertrauensschutz auf das verfassungswidrige Gesetz nicht Rechnung tragen. b) Unvereinbarerklärung Neben der Nichtigerklärung entwickelte das Bundesverfassungsgericht eine weitere Tenorierungsform, die insbesondere der Folgenbewältigung von gleichheitswidrigen Steuergesetzen dienen soll305. Statt der Kassation der Norm durch das Gericht bei Nichtigerklärung306 bleibt diese bei einer Unvereinbarkeitserklärung (genannt in §§ 31 Abs. 2 S. 2, 79 Abs. 1 BVerfGG) weiterhin im Normenbestand, ist aber nicht mehr anwendbar307. Der Rechtszustand vor dem Inkrafttreten der verfassungswidrigen Regelung lebt nicht wieder auf308, da das verfassungswidrige Gesetz eben nicht aus der Rechtsordnung eliminiert wird309. Die Bereinigung des Verfassungsverstoßes erfolgt anders als bei der Kassation der Norm in zwei Stufen310. Zunächst spricht das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit der Norm aus311. Sodann wird die verfassungswidrige Norm durch den Gesetz­ geber ersetzt312. Dieser wird verpflichtet, den Verfassungsverstoß durch eine Neuregelung, die alle noch nicht bestandskräftigen Entscheidungen umfasst, innerhalb einer bestimmten Frist313 rückwirkend bis zu dem in der verfassungsgerichtlichen Entscheidung genannten Zeitpunkt zu beseitigen314.

305 BVerfGE 110, 94 (138) spricht beim gleichheitswidrigen Steuergesetz sogar schon von einem umgekehrten Regel-Ausnahme-Verhältnis. Die Unvereinbarerklärung sei die Regel. 306 Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 20, Rn. 15. 307 BVerfGE 120, 125 (167); Heußner, NJW 1982, 257 f.; Pohle, Verfassungswidrigerklärung, S. 165; Hein, Unvereinbarerklärung, S. 193; Graßhof, in: Umbach / Clemens / Dollinger, BVerfGG, § 78, Rn. 59; E. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, § 39, Rn. 1399. 308 E.  Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, § 39, Rn. 1399; Wernsmann, Das gleichheitswidrige Steuergesetz, S. 97 f. weist darauf hin, dass formal betrachtet auch die Norm über das Inkraftreten der Anwendungsperre unterliege, sodass der alte Rechtszustand wieder aufleben könne. Dies untermauert seine These, dass die Verfassungswidrigerklärung in den Rechtsschutzzielen der Kläger ihre Rechtfertigung findet. Wenn auch die Norm über das Inkraftreten einer Sperre unterläge (und somit das alte Recht anwendbar wäre), widerspräche dies den Zielen des Klägers, dem die Chance auf eine gesetzgeberische Einbeziehung in die Begünstigung offengehalten werden soll (Wernsmann, ebd., S. 98). 309 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 219. 310 Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 403, 411. 311 Hein, Unvereinbarerklärung, S. 110 f. 312 Anschaulich BVerfGE 22, 349 (360 f.): Im Entscheidungssatz wird die Verfassungswidrigkeit ausgesprochen, die „Einbeziehung der Gruppe […] bleibt dann Sache des Gesetzgebers“ (bei einem gleichheitswidrigen Begünstigungsausschluss); Hein, Unvereinbarerklärung, S. 110 f. 313 Vgl. z. B. BVerfGE 108, 82 (121); 113, 1 (27 f.); 120, 125 (167); 121, 175 (204). Unscharf hingegen BVerfGE 90, 60 (104 f.): Gesetzgeber sei „alsbald“ verpflichtet, eine Neuregelung zu treffen; Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 423. 314 BVerfGE 138, 136 (249); 139, 285 (318).

§ 4 Das verfassungswidrige Steuergesetz

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Gerechtfertigt wird diese Tenorierungsform insbesondere für die Abwicklung des gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlusses (Art. 3 Abs. 1 GG)315. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass der Gesetzgeber eine Fallgruppe regelt, eine andere Fallgruppe hingegen nicht (konkludenter Begünstigungsausschluss) oder dass einer Fallgruppe eine Vergünstigung gewährt wird, die einer anderen Fallgruppe kraft Gesetzes explizit vorenthalten wird (ausdrücklicher Begünstigungsausschluss). Gewährt das Gesetz etwa für die Gruppe A eine Steuervergünstigung, wird diese der Gruppe B aber vorenthalten, so ist nicht die Norm, die der Gruppe A die Vergünstigung gewährt, oder die Vorenthaltung der Vergünstigung für die Gruppe B (wenn diese beim ausdrücklichen Begünstigungsausschluss geregelt316 wurde) per se verfassungswidrig, sondern die Relation der beiden Gruppen, nämlich die Bevorzugung der Gruppe A und die Benachteiligung der Gruppe B317. Die Nichtigerklärung der Norm über die gleichheitswidrige Steuervergünstigung soll unterbleiben, da verschiedene Möglichkeiten bestehen, eine verfassungsgemäße Rechtslage herzustellen318. Nicht die Nichtigerklärung soll eine verfassungsgemäße Rechtslage herstellen, sondern eine Neuregelung des Gesetzgebers319. Dessen Gestaltungsspielraum soll durch die bloße Anwendungssperre gewahrt bleiben320. Etwa könnte die Vergünstigung der Gruppe A abgeschafft werden oder die Gruppe B in die Vergünstigung mit einbezogen werden oder der Fall könnte insgesamt anders geregelt werden (sog. Ergebnisoffenheit des Gleichheitssatzes)321. In der Wirkung für Zukunft und Vergangenheit unterscheiden sich Unvereinbar­

315 Seer, GmbHR 2002, 873 (876); Aretz, JZ 1984, 918 (919); Ipsen, Rechtsfolgen, S. 110; ders., JZ 1983, 41 (45); Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 401, 404. 316 Bei einem Schweigen des Gesetzgebers (konkludenter Begünstigungsausschluss) kommt eine Nichtigerklärung mangels Regelung ohnehin nicht in Betracht, so schon BVerfGE 22, 349 (360). 317 BVerfGE 93, 386 (396). 318 BVerfGE 93, 121 (148); 138, 136 (249). Anderes soll dann gelten, wenn aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nur eine Handlungsoption des Gesetzgebers verbleibt, vgl. BVerfGE 55, 100 (113 f.). 319 BVerfGE 110, 94 (138); Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 403; Maurer, FS Weber, S. 345 (349). 320 BVerfGE 93, 121 (148); 93, 386 (402); 110, 94 (138); 99, 280 (298); 105, 73 (134 f.); 113, 1 (25 f.); 120, 125 (167); 139, 285 (318); Graßhof, in: Umbach / Clemens / Dollinger, BVerfGG, § 78, Rn. 57. Kritisch in Bezug auf den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers Wernsmann, Das gleichheitswidrige Steuergesetz, S. 92–95, mit dem Argument, dass dieser auch bei einer Nichtigerklärung nicht beschränkt werde. § 31 BVerfGG hindere den Gesetzgeber nicht einmal an dem inhaltsgleichen Erlass einer Neuregelung, da dieser an die verfassungsmäßige Ordnung, nicht aber an das einfache Gesetz gebunden sei. Kritisch ebenso Graßhof, in: Umbach / Clemens / Dollinger, BVerfGG, § 78, Rn. 60; Maurer, FS Weber, S. 345 (353); Pohle, Verfassungswidrigerklärung, S. 81; Hein, Unvereinbarerklärung, S. 110 f.: Auch nach Nichtigerklärung stünden dem Gesetzgeber alle Regelungsmöglichkeiten offen. 321 Vgl. grundlegend BVerfGE 22, 349 (361). Besonders anschaulich BVerfGE 93, 386 (396). Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 392; Maurer, FS Weber, S. 345 (348); Desens, DStR 2009, 727 (728).

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1. Teil: Vertrauensschutz nach bisherigem Konzept

erklärung und Nichtigerklärung nicht322. Die Existenzberechtigung der Unvereinbarerklärung ergibt sich aus der Rechtsschutzperspektive des Steuerpflichtigen, dem die Chance offengehalten werden soll, von der Neuregelung des Gesetzgebers zu profitieren323. Das ist möglich, weil die offenen Verfahren nach Verfassungswidrigerklärung ausgesetzt werden müssen324. So könnte eine Neuregelung mangels Vorliegen von § 79 Abs. 2 S. 1 BVerfGG auch die Gruppe B erfassen, wenn diese in die Vergünstigung eingeschlossen werden sollte. Von dem Grundsatz der Nichtanwendbarkeit der verfassungswidrigen Norm bestehen einige Ausnahmen. So kann eine verlässliche Finanz- und Haushaltsplanung die Weitergeltung der Norm für die Vergangenheit rechtfertigen325. Die Finanzplanung kann gefährdet sein, wenn Steuerfälle der Vergangenheit neu aufgerollt werden müssten326. In der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum steuerfreien Existenzminimum wurde argumentiert, dass die Entlastung der damaligen Steuerschuldner zur gegenwärtigen Überlastung des Haushalts (drohende Steuererstattungsansprüche) und zur Belastung der zukünftigen Steuerschuldner führen würde327. Daher wurde eine gesetzgeberische Verpflichtung zur rückwirkenden Neubemessung des Existenzminimums abgelehnt328. Ebenso vermögen Gründe der Rechtssicherheit329 und des Vertrauensschutzes330 eine zeitweise Weitergeltung rechtfertigen. Insoweit ist der Gesetzgeber nicht verpflichtet, die Neuregelung auch auf diese Fälle zu erstrecken. In der Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der Stellenzulage-Ost rechtfertigte das Bundesverfassungsgericht die Weitergeltung des verfassungswidrigen Steuerprivilegs für die Vergangenheit mit dem Argument, das ansonsten das Vertrauen jener enttäuscht würde, die die Tätigkeit im Hinblick auf die Steuerfreiheit der Aufwandsentschädigung übernahmen331. Eine solche Unvereinbarerklärung mit Weitergeltung der verfassungswidrigen Norm für die Vergangenheit kann mit dem österreichischen Grundmodell zur Folgenbewältigung verfassungswidriger Normen verglichen werden332. Nach Art. 140 Abs. 5 S. 3 des Bundesverfassungsgesetzes (B-VG) tritt die Aufhebung der verfassungswidrigen Norm erst mit der Kundmachung des Bundeskanzlers (also 322 Vgl. BVerfGE 37, 217 (262), das die Unvereinbarerklärung der Nichtigerklärung explizit in ihren Wirkungen gleichstellt. 323 Wernsmann, Das gleichheitswidrige Steuergesetz, S. 95 f. 324 BVerfGE 22, 349 (363); 37, 217 (261); 93, 386 (403); Wernsmann, Das gleichheitswidrige Steuergesetz, S. 96; Maurer, FS Weber, S. 345 (361); Graßhof, in: Umbach / Clemens / Dollinger, BVerfGG, § 78, Rn. 59. 325 BVerfGE 87, 153 (179); 93, 121 (148); 105, 73 (134); 117, 1 (70); 135, 238 (246). 326 BVerfGE 87, 153 (179). 327 BVerfGE 87, 153 (179). 328 BVerfGE 87, 153 (179). 329 BVerfGE 113, 1 (28); 117, 1 (70): Phase der Rechtsunsicherheit in der Übergangszeit bis zur gesetzgeberischen Neuregelung soll vermieden werden. 330 BVerfGE 99, 280 (299). 331 BVerfGE 99, 280 (299). 332 Vgl. Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 379 a. E.

§ 4 Das verfassungswidrige Steuergesetz

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mit Wirkung ex nunc) in Kraft. Hierzu ist er nach § 140 Abs. 5 S. 1 B-VG infolge der gerichtlichen Entscheidung verpflichtet. Auf die vor der Aufhebung verwirklichten Tatbestände ist das verfassungswidrige Gesetz für die Vergangenheit weiter anzuwenden (Art. 140 Abs. 7 S. 2 B-VG). Bemerkenswert ist, dass das Bundesverfassungsgericht die Weitergeltung des verfassungswidrigen Rechts für die Vergangenheit auch mit der Unzulänglichkeit des § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO rechtfertigt. Es würden nämlich bei rückwirkender Neuregelung diejenigen Steuerpflichtigen benachteiligt, die ein gerichtliches Verfahren betreiben (dann gilt § 176 AO nicht), das die Absetzbarkeit von weiterem Aufwand bezweckt333. Das verdeutlicht bereits an dieser Stelle, dass für die Realisierung von Vertrauensschutz hinsichtlich eines nichtigen Steuergesetzes die Verzahnung zwischen § 176 AO und der Tenorierung des Bundesverfassungsgerichts maßgeblich ist. 2. Auswirkungen der Tenorierung des Bundesverfassungsgerichts für die Anwendung des § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO Im Folgenden werden die denkbaren Abwicklungsmöglichkeiten verfassungswidriger Gesetze durch das Bundesverfassungsgericht dargestellt. Dabei wird aufgezeigt, wie sich § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO in die jeweilige Konstellation einfügt. Die Verwirklichung von Vertrauensschutz wird durch eine Reihe von verschiedenen Faktoren beeinflusst, nämlich von der Tenorierungsform, von einer etwaigen Übergangsregelung durch das Bundesverfassungsgericht sowie von der Reaktion des Gesetzgebers. Bedeutsam ist, für welchen Zeitraum die verfassungswidrige Norm nicht mehr angewendet werden darf (z. B. im Fall einer befristeten Weitergeltung nach Unvereinbarerklärung) und auf welchen Zeitraum der Gesetzgeber die Neuregelung erstreckt bzw. erstrecken muss. Zunächst wird auf die im Steuerrecht seltene Nichtigerklärung eingegangen, anschließend wird die bedeutsamere Unvereinbarerklärung behandelt. a) Nichtigerklärung und Wiederaufleben der alten Rechtslage Erklärt das Bundesverfassungsgericht ein Steuergesetz für nichtig (§§ 78 S. 1, 82 Abs. 1, 95 Abs. 3 S. 1 BVerfGG), ist das alte Recht für die Zukunft und Vergangenheit uneingeschränkt weiter anwendbar334. Es konnte durch das verfassungswidrige Gesetz nicht aufgehoben werden335. Ist dieses Altrecht für den Steuerpflichtigen 333

BVerfGE 99, 280 (299 f.). Ipsen, Rechtsfolgen, S. 258. 335 Von einem anderen Verständnis geht das österreichische Bundesverfassungsgesetz in Art. 140 Abs. 6 aus, wonach die gesetzlichen Bestimmungen nach der Aufhebung der verfassungswidrigen Vorschriften wieder in Kraft treten, die durch die verfassungswidrigen Normen vormals aufgehoben wurden. 334

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1. Teil: Vertrauensschutz nach bisherigem Konzept

ungünstiger bzw. wird eine begünstigende Norm aufgehoben und disponierte der Steuerpflichtige vor der Veröffentlichung des Urteils, wurde der Erstbescheid, der auf dem verfassungswidrigen Gesetz basiert, aber noch vor der Nichtigerklärung erlassen, darf dies in einem Änderungsbescheid gemäß § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO nicht zu seinen Ungunsten berücksichtigt werden. Diesen Grundfall hat die Norm vor Augen. Im Vorfeld der verfassungsgerichtlichen Entscheidung kann auch eine vorläufige Festsetzung auf der Basis des verfassungswidrigen Gesetzes nach § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO in Betracht kommen. Kassiert das Bundesverfassungsgericht sodann die Norm und wird offenkundig, dass der Gesetzgeber den Fall nicht neu regeln wird (wenn hiervon auszugehen wäre, hätte sich das Bundesverfassungsgericht üblicherweise auf die Verfassungswidrigkeitserklärung beschränkt), müsste der Vorläufigkeitsvermerk grundsätzlich aufgehoben und die Steuer auf Grundlage des alten, ungünstigeren Gesetzes festgesetzt werden (§ 165 Abs. 2 S. 2 AO). Jedoch ist § 176 AO trotz dogmatischer Ungenauigkeiten auf vorläufige Steuerfestsetzungen anwendbar336. Somit ist das Vertrauen des Steuerpflichtigen auch für diesen Fall gesetzlich geschützt. Für die Konstellation, dass der Steuerpflichtige vor der Nichtigerklärung disponierte, vor der Veröffentlichung der Entscheidung aber kein Steuerbescheid erlassen wurde, gilt die Norm hingegen nicht. Hier ist die Norm mangels Einbeziehung des Erstbescheids insuffizient. Unterstellt man, dass der Gesetzgeber den Fall nicht neu regeln wird, dürfte das Finanzamt den Steuerbescheid nicht auf Grundlage des nichtigen Gesetzes, aber auf der Basis des nicht aufgehobenen Altrechts erlassen337. Eine vorläufige Steuerfestsetzung nach § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AO kommt nicht in Betracht, weil die Norm nach dem expliziten Wortlaut nur für die Unvereinbarerklärung gilt338. Freilich ist eine solche Konstellation selten. Sie zeigt aber, dass bei bloßer Nichtigerklärung und fehlender Anwendbarkeit des § 176 AO kein Vertrauensschutz besteht, obwohl der Steuerpflichtige in beiden Fällen auf das nichtige Steuergesetz vertraute. Daher sollte das Gesetz nur dann kassiert werden, wenn das Vertrauen auf das nichtige Gesetz nicht schutzwürdig war – die Nichtigerklärung verneint die Schutzwürdigkeit im Ergebnis implizit. Dem Vertrauensschutz kann eine Unvereinbarerklärung besser Rechnung tragen, wie noch gezeigt wird339.

336

Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 165, Rn. 50: Nichtigkeit der Norm könne wegen § 176 AO allein zu für den Steuerpflichtigen günstigen Änderungen führen. S. hierzu bereits § 2  A. II. 2. b). 337 Desens, in: Kempny / Reimer, Gleichheitssatzdogmatik heute, S. 133 (147): Verwaltungsentscheidungen sind nach einer Nichtigerklärung endgültig (also ohne Verfahrensaussetzung) ohne die Anwendung der kassierten Norm zu treffen. 338 Seer, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 165, Rn. 13; Heuermann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 165, Rn. 34. 339 S. § 4  B. I. 2. d).

§ 4 Das verfassungswidrige Steuergesetz

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b) Nichtigerklärung mit rückwirkender (stärker belastender) gesetzgeberischer Neuregelung aa) Schutz des Einzelnen bei abgeschlossenen Veranlagungen Denkbar wäre auch, dass der Steuerpflichtige disponiert, anschließend ein Steuerbescheid auf der Grundlage des verfassungswidrigen Gesetzes erlassen wird und das Gesetz sodann für nichtig erklärt wird. Entscheidet sich der Gesetzgeber infolge der verfassungsgerichtlichen Entscheidung nun, den Fall rückwirkend und für den Steuerpflichtigen ungünstiger zu regeln, ist der Steuerpflichtige vor der rückwirkenden Umgestaltung des Rechts und dessen Berücksichtigung in einem Änderungsbescheid (im Rahmen einer Fehlersaldierung nach § 177 AO) gemäß § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO geschützt. bb) Schutz des Einzelnen bei nicht abgeschlossenen Veranlagungen Problematisch ist aber die Konstellation, in der der Steuerpflichtige vor der Nichtigerklärung disponiert, der Gesetzgeber den Sachverhalt im Anschluss an die verfassungsgerichtliche Entscheidung rückwirkend und stärker belastend neu regeln möchte und vorher noch kein Steuerbescheid erlassen wurde. Dann gilt § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO nicht. Auch aus der Tenorierung ergibt sich kein Vertrauensschutz durch eine Weitergeltungsanordnung des verfassungswidrigen Rechts. Ist das Vertrauen des Steuerpflichtigen auf das verfassungswidrige Gesetz im Zeitpunkt der Disposition schutzwürdig, ist der Steuerpflichtige aber durch die verfassungsrechtlichen Grenzen für rückwirkende Gesetze geschützt, denn die Neuregelung stellt eine Rückbewirkung von Rechtsfolgen dar. Auch wenn die nichtige Norm nicht existiert, entfaltet sie den Rechtsschein der Gültigkeit, auf den sich der Bürger verlassen darf – dies korrespondiert mit der Verpflichtung gültige Gesetze zu beachten340. Zwar ist die echte Rückwirkung im Regelfall zulässig, wenn eine ungültige Norm durch eine gültige ersetzt werden soll341. Das kann jedoch nicht gelten, wenn das Vertrauen auf den Rechtsschein schutzwürdig war342. Das Gesetzescontrolling kann dem Steuerpflichtigen nämlich nicht aufgebürdet werden, vielmehr soll der Staat die Folgen seiner fehlerhaften Regelungen tragen343. Da das Gesetz somit nicht an Sachverhalte der Vergangenheit anknüpfen darf, wäre für diesen Fall aber fraglich, auf welcher gesetzlichen Grundlage der zu erlassende Steuerbescheid ergehen soll. Das nicht aufgehobene Altrecht kommt insoweit nicht in Betracht, weil das Vertrauen in den Rechtsschein der verfassungswidrigen 340

BVerfGE 53, 115 (128). Vgl. Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 4, Rn. 755 m. w. N. zur Judikatur des BVerfG. 342 Wernsmann in: H / H /Sp, AO / FGO, § 4, Rn. 756 m. w. N. zur jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die für diese Fälle anders verfährt – dazu sogleich im Text. 343 Hey, NJW 2014, 1564 (1566). 341

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1. Teil: Vertrauensschutz nach bisherigem Konzept

Norm schutzwürdig war. Diese Problematik umgeht das Bundesverfassungsgericht dadurch, dass das Gesetz (wenn das Vertrauen in den Rechtsschein schutzwürdig war) zwar für verfassungswidrig erklärt wird, aber für die Vergangenheit weiterhin angewendet werden darf344. Es weist explizit darauf hin, dass sich die Verpflichtung des Gesetzgebers zur verfassungskonformen Umgestaltung der Rechtslage nicht auf die Vergangenheit erstreckt345. Der Vertrauensschutz muss also durch die Unvereinbarerklärung erfolgen, und auch hierin kann die Existenzberechtigung dieser Tenorierungsform erblickt werden. Sie ist ein Instrument zur Realisierung von Vertrauensschutz, wenn das Bundesverfassungsgericht nach inzidenter Prüfung346 die Schutzwürdigkeit des Vertrauens bejaht. Die vorliegende Konstellation zeigt gerade, dass die Nichtigerklärung hierfür nicht tauglich sein kann. Wurde hingegen wie zuvor geprüft347, vor der Nichtigerklärung und einer etwaigen Umgestaltung des Gesetzgebers ein Steuerbescheid erlassen, wird der Steuerpflichtige unabhängig von der individuellen Schutzwürdigkeit des Vertrauens auf den Rechtsschein einer verfassungswidrigen Norm geschützt. c) Nichtigerklärung im Zusammenhang mit Rechtsbehelfen des Steuerpflichtigen Ist Vertrauensschutz nach § 176 AO vom Veranlagungsstand abhängig, so können Rechtsbehelfe des Steuerpflichtigen gegen den Steuerbescheid die Anwendbarkeit der Norm beeinflussen. Nach überwiegender Auffassung knüpft § 176 AO an die Bestandskraft des Steuerbescheids an348. Ordentliche außergerichtliche Rechtsbehelfe hemmen deren Eintritt, sodass der Steuerpflichtige im Zusammenhang mit künftigen verfassungsgerichtlichen Entscheidungen gehalten sein kann, den Steuerbescheid bestandskräftig werden zu lassen. Disponiert der Steuerpflichtige und wird nach Ablauf des Veranlagungszeitraums ein Steuerbescheid erlassen, legt der Steuerpflichtige hiergegen Einspruch ein (§ 347 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO), hat er jedoch Glück und hilft die Finanzbehörde dem Einspruch vor der Nichtigerklärung des Gesetzes ab349, darf der Steuerbe 344

BVerfGE 99, 280 (299): „Eine rückwirkende Regelung ist unter dem Gesichtspunkt eines Vertrauensschutzes verfassungsrechtlich nicht angezeigt“; BVerfGE 105, 73 (134): „Ein rückwirkender Abbau der Vergünstigungen […] kommt aus Verfassungsgründen nicht in Betracht“. 345 BVerfGE 105, 73 (134). 346 So ausführlich erfolgt in BVerfGE 99, 280 (299) unter Berücksichtigung der getroffenen Dispositionen (Aufnahme einer Tätigkeit im Vertrauen auf die Steuerfreiheit einer Stellenzulage). 347 S. § 4  B. I. 2. b) aa). 348 BFH BStBl II 2004, 317 (319); BStBl II 2007, 524 (527); FG Hamburg, EFG 2006, 1020 (1023). S. zur Bestimmung des Vertrauensträgers noch § 6. 349 Das Einspruchsverfahren ruht auch nicht gemäß § 363 Abs. 2 S. 2 AO, soweit die verfassungsrechtlichen Fragen reichen, wenn der Steuerpflichtige seinen Einspruch nicht auf diese stützt. Die bloße Anhängigkeit eines Verfahrens reicht nicht aus, vgl. Brandis, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 363, Rn.  14.

§ 4 Das verfassungswidrige Steuergesetz

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scheid nach § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO nicht im Rahmen einer Änderung an die neue Rechtslage (ggf. auch durch anschließende Umgestaltung durch den Gesetzgeber) angepasst werden. Wird jedoch nach Ablauf des Veranlagungszeitraums ein (im Hinblick auf das anhängige Verfahren beim Bundesverfassungsgericht nach § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO ggf. vorläufiger) Steuerbescheid erlassen und bahnt sich die verfassungsgerichtliche Entscheidung an, hat der Steuerpflichte aber Einspruch gegen den Steuer­ bescheid eingelegt, so kann er de facto zur Rücknahme des Einspruchs (§ 362 Abs. 1 S. 1 AO) gezwungen sein. § 176 AO gilt im Einspruchsverfahren nämlich nicht350, sodass sich ungünstige Rechtslageänderungen nach § 367 Abs. 2 S. 2 AO verbösernd in der Einspruchsentscheidung auswirken könnten (Prinzip der Gesamtaufrollung, § 367 Abs. 2 S. 1 AO). Dies ist Konsequenz der fehlenden Anwendbarkeit des § 176 AO auf den Erstbescheid351. Die Norm greift nur bei der Änderung eines bestandskräftigen Erstbescheids – vorliegend wird im Einspruchsverfahren aber die Rechtmäßigkeit des Erstbescheids geprüft352. Wird der Einspruch zurückgenommen, ist § 176 AO anwendbar, da sich die Änderung des Erstbescheids ansschließend nach den §§ 164 Abs. 2 S. 1, 165 Abs. 2 S. 1, 172 ff. AO richtet353. Ergeht während des laufenden Einspruchsverfahrens eine ungünstige verfassungsgerichtliche Entscheidung, muss der Steuerpflichtige nach § 367 Abs. 2 S. 2 AO auf die Möglichkeit einer verbösernden Einspruchsentscheidung hingewiesen werden. Er kann den Einspruch zwar dann gem. § 362 Abs. 1 S. 1 AO noch zurücknehmen, jedoch hat der Steuerpflichtige dann auch keine Gelegenheit mehr, die Rechtswidrigkeit des Bescheids geltend zu machen. Es überzeugt nicht, dass das Verfahrensrecht den Steuerpflichtigen zur Verwirklichung von Vertrauensschutz faktisch zur Rücknahme des Rechtsbehelfs zwingen kann. Stellte man de lege ferenda nur darauf ab, ob auf den Rechtsschein einer verfassungswidrigen Norm vertraut werden darf, kann dieses „Wettrennen“ vermieden werden. d) Unvereinbarerklärung – Übergangsregelungen und rückwirkendende Neuregelung durch den Gesetzgeber Grundsätzlich führt die Unvereinbarerklärung zur Anwendungssperre der Norm354. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, die Rechtslage zu dem in der Ent­ scheidung genannten Zeitpunkt (rückwirkend) verfassungskonform umzugestal 350

Müller, AO-StB 2013, 250 (254); v. Groll, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 176, Rn. 102; Bartone, in: Kühn / v. Wedelstädt, AO / FGO, § 176, Rn. 9, Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 176, Rn. 3. 351 v. Groll, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 176, Rn. 71. 352 Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 176, Rn. 22. 353 Bartone, in: Kühn / v. Wedelstädt, AO / FGO, § 176, Rn. 9; v. Wedelstädt, in: Beermann / ​ Gosch, AO / FGO, § 176, Rn. 13; Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 176, Rn. 3. 354 BVerfGE 93, 386 (402); 138, 136 (249).

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ten355. Grundlegende Unterschiede zur Nichtigerklärung ergeben sich nicht356. In den Rechtsfolgen ist die Unvereinbarerklärung jedoch flexibler handhabbar und kann der Insuffizienz des § 176 AO durch Weitergeltungsanordnung des verfassungswidrigen Rechts Rechnung tragen. Das Zusammenspiel zwischen einer Unvereinbarerklärung, § 176 AO, und der Neuregelung des Gesetzgebers wird im Folgenden dargestellt. aa) Disposition in zeitlichem Zusammenhang mit einer Weitergeltungsanordnung Zunächst soll auf die Weitergeltungsanordnung für die Vergangenheit eingegangen werden. Aus Vereinfachungsgründen soll dieser Zeitraum mit A bis B umschrieben werden, wobei der Zeitpunkt A den Beginn der Fortgeltungsanordnung darstellt und B deren Ende. Disponiert der Steuerpflichtige im Zeitraum A bis B und wird der Steuerbescheid im selben Zeitraum erlassen, kann der Bescheid nach der Verfassungswidrigerklärung nicht mehr geändert werden. Das folgt (auch) aus § 176 AO. Wird der Steuerbescheid bei einer Disposition im Zeitraum A bis B jedoch erst später erlassen, ist der Steuerpflichtige ebenfalls geschützt, da der verfassungswidrige Zustand im Zeitraum A bis B ja endgültig hingenommen werden soll. Daher darf und muss der erstmalige Steuerbescheid, wenn er nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erlassen wird, auf Grundlage des verfassungswidrigen Rechts ergehen357. Auf § 176 AO kommt es im Ergebnis in beiden Fällen nicht an – wird der Erstbescheid erst nach der verfassungsgerichtlichen Entscheidung erlassen, wäre die Norm auch nicht einschlägig, da § 176 AO auf den erstmaligen Erlass eines Steuerbescheids nicht anwendbar ist und sich zudem die Rechtslage für den einschlägigen Zeitraum aufgrund der Fortgeltungsanordnung nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen geändert hat. Die Weitergeltungsanordnung kann also als Instrument zur Realisierung von Vertrauensschutz eingesetzt werden, das die Unvollkommenheit des § 176 AO kompensiert, wenn das Vertrauen auf den Rechtsschein der Norm schutzwürdig war, was das Bundesverfassungsgericht vorab prüft358. Auch der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers wird durch die Fortgeltungsanordnung nicht eingeschränkt, da bei schutzwürdigem Vertrauen keine für den Zeitraum der Weitergeltung des verfassungswidrigen Rechts (also rückwirkende) Neuregelung ergehen dürfte. Daher darf eine endgültige Verwaltungsentscheidung getroffen werden. 355

BVerfGE 138, 136 (249). Heußner, NJW 1982, 257 (260). 357 Das folgt gerade daraus, dass die Verwaltung aufgrund der Fortgeltungsanordnung das verfassungswidrige Recht weiter anwenden muss, s. Desens, in: Kempny / Reimer, Gleichheitssatzdogmatik heute, S. 133 (149). 358 BVerfGE 99, 280 (299 f.). 356

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bb) Disposition in zeitlichem Zusammenhang mit einer rückwirkenden Neuregelung Der Gesetzgeber kann in der Tenorierung auch zu einer rückwirkenden Neuregelung verpflichtet werden. Die Verfahren sind dann bis zum Tätigwerden des Gesetzgebers auszusetzen. Dieser Zeitraum soll hier mit C bis D beschrieben werden. Zeitpunkt C markiert den Beginn und Zeitpunkt D das Ende des Zeitraums, auf den sich die rückwirkende Neuregelung erstrecken muss. Disponiert der Steuerpflichtige im Zeitraum C bis D und wird der Steuerbescheid vor der Verkündung der verfassungsgerichtlichen Entscheidung erlassen, so darf die Neuregelung im Rahmen einer Änderung des Steuerbescheids nach § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO nicht berücksichtigt werden. Insoweit wirkt die Vorschrift hier konstitutiv. Gleiches gilt, wenn im Zeitraum C bis D ein Rechtsbehelf gegen den Bescheid eingelegt wurde, dieser aber noch vor Verkündung der Entscheidung zurückgenommen werden konnte, sodass § 176 AO anwendbar ist. Als problematisch erweist sich die Konstellation, dass der Steuerpflichtige im Zeitraum C bis D disponierte, die verfassungsgerichtliche Entscheidung sodann verkündet wird, ein Steuerbescheid jedoch noch nicht erlassen wurde. Die Verfahren sind infolge der Entscheidung bis zur rückwirkenden Neuregelung auszusetzen359. Ergeht diese, erfasst sie die Disposition. Zwar kann die anschließende Steuerfestsetzung, wenn sie zwischen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und der Verkündung der Neuregelung erfolgt, nach § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AO vorläufig erfolgen. Bei dem Erlass der Neuregelung und Aufhebung des Vorläufigkeitsvermerks wäre sodann § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO anwendbar, weil die Norm nach h. M. auch für vorläufige Bescheide gilt360. § 176 AO schützt nach dieser Sichtweise also auch vor den Folgen der verfassungsgerichtlichen Entscheidung (Neuregelung durch den Gesetzgeber). Wenn vor Verkündung der Neuregelung also (zufällig) noch ein vorläufiger Bescheid erging, ist der Steuerpflichtige geschützt. Ergeht vor diesem Zeitpunkt 359

BVerfGE 105, 73 (134); 138, 136 (249). Dieser Fall zeigt indes, dass die Anwendung des § 176 AO auf nach § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AO vorläufige Bescheide nicht ganz stimmig ist, weil das Vertrauen in die Rechtslage nach der Verfassungswidrigerklärung erschüttert ist. Es leuchtet nicht ein, weshalb der Steuerpflichtige, der nach der verfassungsgerichtlichen Entscheidung vorläufig veranlagt wurde, vor den daraus resuliterenden Folgen (Neuregelung durch den Gesetzgeber) geschützt sein soll, wohingegen derjenige, der einen solchen Bescheid noch nicht erhalten hat, die volle Härte der Neuregelung zu spüren bekommt. Diese Konstellation verdeutlicht ganz besonders, dass die Anknüpfung des § 176 AO an Bescheide nicht sinnvoll ist. Da die verfassungsgerichtliche Entscheidung hier nämlich schon erging, wissen beide Steuerpflichtige positiv (!), dass das Gesetz verfassungswidrig ist, werden aber dennoch unterschiedlich behandelt. Die Aussetzung der Verfahren soll hier gerade dazu dienen, dass die Konsequenzen der Verfassungswidrigkeit für alle gezogen werden können, weil das Vertrauen in den Rechtsschein der verfassungswidrigen Norm eben nicht schutzwürdig war (dazu sogleich im Text). Die Anwendung des § 176 AO steht diesem Zweck entgegen. 360

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1. Teil: Vertrauensschutz nach bisherigem Konzept

ein solcher Bescheid nicht (etwa, weil der Steuerpflichtige Angaben im Freitext­ feld nach § 150 Abs. 1 S. 7 AO gemacht hat und sich die Veranlagung als kompliziert heraustellt), entfällt das Pendant des § 176 AO und die Disposition ist nicht geschützt. Dies mag zu Recht als unbefriedigend empfunden werden – jedoch nicht aus dem Grund, dass die Disposition bei fehlendem Steuerbescheid hier nicht geschützt ist, sondern dass die Norm überhaupt greift, wenn vor der verfassungsgerichtlichen Entscheidung (endgültiger Bescheid) oder vor Verkündung der Neuregelung (vorläufiger Bescheid) die Veranlagung erfolgt ist. Wäre das Vertrauen auf den Rechtsschein eines verfassungswidrigen Gesetzes nämlich schutzwürdig gewesen, dürfte der Gesetzgeber den Sachverhalt schon nicht rückwirkend neu regeln. Zwar darf der Gesetzgeber eine verfassungswidrige Norm grundsätzlich rückwirkend durch eine verfassungsgemäße ersetzen, was als Rechtfertigungsgrund für eine Rückbewirkung von Rechtsfolgen anerkannt ist361. Das kann jedoch nicht gelten, wenn das Vertrauen eben schutzwürdig war362. Die Rechtspraxis des Bundesverfassungsgerichts bestätigt diese Sichtweise, da im Falle schutzwürdigen Vertrauens im Sinne einer Weitergeltungsanordnung tenoriert wird363 und eine Verpflichtung des Gesetzgebers zur rückwirkenden Neuregelung verneint wird364. Obwohl also das Vertrauen hier nicht schutzwürdig war, wie schon die Verpflichtung zu rückwirkender Neuregelung durch das Bundesverfassungsgericht suggeriert, führt § 176 AO für zahlreiche Fälle zum Dispositionsschutz. Hier stellt sich nicht das Problem, dass der Schutzbereich der Norm nicht weit genug ist, sondern dass er zu weit ist. Das ist Folge davon, dass die Norm Vertrauensschutz unabhängig von der konkreten Schutzwürdigkeit des Vertrauens in die Rechtslage gewährt. In der gerade geschilderten Konstellation fällt das Schutzniveau etwa zu hoch aus, während es bei der rückwirkenden Rechtsprechungsänderung häufig zu niedrig ausfällt und die Verwaltung zum ergänzenden Handeln zwingt. Eine reformierte Neuregelung, die auch für Erstbescheide gilt und die die Schutzwürdig 361

Vgl. grundlegend BVerfGE 7, 89 (94). S. ferner Grzeszick, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20, Abschn. VII, Rn. 86 m. w. N. 362 BVerfGE 99, 69 (82 f.) verneint z. B. eine rückwirkende Erweiterung des Kreises der gleichheitswidrig Belasteten aus Gründen des Vertrauensschutzes unter Bezugnahme auf die Schiffbauentscheidung (BVerfGE 97, 67). Für begünstigende Gesetze s. BVerfGE 99, 280 (299). 363 BVerfGE 99, 280 (299); 105, 73 (134). Eine Fortgeltungsanordnung impliziert aber umgekehrt keineswegs, dass ein etwaiges Vertrauen immer schutzwürdig ist. Eine solche ergeht in den meisten Fällen aus Gründen der verlässlichen Finanz- und Haushaltsplanung. BVerfGE 138, 136 (250 f.) erklärte das verfassungswidrige Recht bis zu einer Neuregelung des Gesetzgebers für weiter anwendbar, da ansonsten in der Übergangsphase Erb- und Schenkungsfälle nicht abgewickelt werden könnten. Gleichzeitig wurde jedoch explizit hervorgehoben, dass diese Anordnung keinen Vertrauensschutz begründet, die eine rückwirkende Neuregelung auf den Zeitpunkt der Urteilsverkündung ausschließt (BVerfGE ebd., S. 251). 364 Vgl. hierzu auch Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 4, Rn. 756 m. w. N. zur Judikatur des BVerfG.

§ 4 Das verfassungswidrige Steuergesetz

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keit des Vertrauens in die Rechtslage tatbestandlich voraussetzt, würde zu einem konstanten Schutzniveau führen. II. Schutz durch die Exekutive Aufgrund der Tenorierungsmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts bleibt der Exekutive kein Handlungsspielraum für die Realisierung von Vertrauensschutz mehr. So wurde gezeigt, dass das Bundesverfassungsgericht der Schutzwürdigkeit des Vertrauens durch eine Weitergeltungsanordnung für die Vergangenheit Rechnung trägt. Die Nichtigerklärung einer Norm oder eine Verpflichtung des Gesetzgebers zur rückwirkenden Neuregelung (bei Unvereinbarerklärung) muss ausscheiden, wenn der Steuerpflichtige auf den Rechtsschein der verfassungswidrigen Norm vertrauen durfte. Ist bei schutzwürdigem Vertrauen somit eine Fortgeltungsanordnung für die Vergangenheit indiziert, besteht weder Raum noch Notwendigkeit für eine typisierende Übergangsregelung der Verwaltung oder für eine Einzelfallmaßnahme auf Grundlage der §§ 163, 227 AO365. Die Finanzverwaltung muss die in der verfassungsgerichtlichen Entscheidung getroffene Aussage über den Vertrauensschutz respektieren.

C. Fazit Die vorstehenden Ausführungen haben verdeutlicht, dass die Verwirklichung von Vertrauensschutz hinsichtlich des verfassungswidrigen Steuergesetzes im Wesentlichen von der Tenorierung des Bundesverfassungsgerichts bestimmt wird. Diese steckt den Rahmen für die Anwendung des § 176 AO und kann die Norm sogar überflüssig machen. Zeigte sich bei der rückwirkenden Rechtsprechungsänderung, dass die Norm dort insuffizient ist, schießt sie bei der Folgenbewältigung verfassungswidriger Gesetze teilweise über das Ziel hinaus. Ebenso wurde verdeutlicht, dass die Tenorierungsform der Unvereinbarerklärung nicht nur dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers und den Rechtsschutzzielen des Steuerpflichtigen Rechnung trägt, sondern auch der Realisierung von Vertrauensschutz dient. Diese flexible Tenorierungsform ermöglicht die Weitergeltung von verfassungswidrigem Recht und führt so zu konstanteren Ergebnissen beim Vertrauensschutz als die Nichtigerklärung, die dort aufgrund von § 176 AO zu harten Brüchen führen kann, etwa wenn eine Steuervergünstigung kassiert wird und die Veranlagung vorher noch nicht abgeschlossen wurde. Somit legitimiert auch der Vertrauensschutz die Verfassungswidrigerklärung. 365 Vgl. auch Trzaskalik, DB 1991, 2255 (2257): „Nicht anfreunden sollte man sich mit der Idee, die Folgen der Nichtigkeitsfeststellung durch die Verwaltung beheben zu lassen. Insbesondere der Billigkeitserlass darf für Reparaturzwecke nicht eingesetzt werden“. Anders Ipsen, Rechtsfolgen, S. 292 ff., der eine Folgenbewältigung verfassungswidriger Rechtslagen durch die Verwaltung auf Grundlage des § 227 AO erwägt.

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1. Teil: Vertrauensschutz nach bisherigem Konzept

§ 5 Die rechtswidrige Verwaltungsvorschrift Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die rechtswidrige Verwaltungsvorschrift. § 176 Abs. 2 AO gewährt im Rahmen der Korrektur rechtswidriger Steuerbescheide diesbezüglich einen weitreichenden Vertrauensschutz. Das überrascht vor dem Hintergrund, dass die überwiegende Auffassung einem Schutz des Vertrauens auf rechtswidrige Verwaltungsrichtlinien kritisch gegenübersteht366. Erneut muss man sich bewusst machen, dass dies die Konsequenz davon ist, dass verschiedene Vertrauensgrundlagen existieren. Wie gezeigt werden wird, ist die Kluft in der Schutzintensität zwischen abgeschlossenen und noch offenen Veranlagungen sehr groß. Bevor auf den Vertrauensschutz eingegangen wird (C.), sollen zunächst die verschiedenen Arten von Verwaltungsvorschriften (A.) und deren rechtliche Wirkung (B.) aufgezeigt werden.

A. Typologie der Verwaltungsvorschriften Bei der Steuerfestsetzung muss die Verwaltung geltendes Recht anwenden (Art. 20 Abs. 3 GG, § 85 S. 1 AO). Ihre Verwaltungspraxis ist durch sog. Verwaltungsvorschriften determiniert, die für gleichmäßigen Gesetzesvollzug sorgen367 (Rechtsanwendungsgleichheit – Art. 3 Abs. 1 GG), zur Vollzugsfähigkeit des Steuerrechts als „Massenfallrecht“ beitragen368 und die Handlungsmaßstäbe der Verwaltung für den Steuerpflichtigen erkennbar machen369. Sie sind abstrakt-generelle Regelungen von übergeordneten an nachgeordnete Behörden370. Typologisch lassen sich norminterpretierende, ermessenslenkende und gesetzeskonkretisierende Verwaltungsvorschrifen unterscheiden. Norminterpretierende Verwaltungsvorschriften geben eine bestimmte Auslegung des Gesetzes vor, wenn die Rechtslage nicht zweifelsfrei ist371. Neben der Vereinheitlichung des Gesetzesvollzugs372 dienen sie auch der Rationalisierung der Verwaltung, da dem Amtswalter die Prüfung der präzisen Rechtslage abgenommen wird373. Ermessenslenkende Vorschriften 366

Hierzu ausführlich unter § 5 C. II. BVerfGE 129, 1 (21); Jachmann, StuW 1994, 347 (349). 368 Trzaskalik, DStJG 5 (1982), S. 315 (318). 369 Erichsen, FS Kruse, S. 39 (43). 370 Erichsen, FS Kruse, S. 39 (40); Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 318; Ehlers, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 2, Rn. 68. 371 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 5, Rn. 188; Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 24, Rn. 11; Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 320. 372 BFH BStBl II 1991, 610 (612); BStBl II 2017, 393 (402); Jachmann, StuW 1994, 347 (348); Erichsen, FS Kruse, S. 39 (43). 373 Erichsen, FS Kruse, S. 39 (45); F. Ossenbühl, in: HStR V3, § 104, Rn. 24; Jochum, Grundfragen des Steuerrechts, S. 43. Die rechtmäßige Verwaltungsvorschrift verhindert zudem, dass der Amtswalter zum falschen Auslegungsergebnis gelangt, vgl. Jachmann, StuW 1994, 347 (349). 367

§ 5 Die rechtswidrige Verwaltungsvorschrift

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bestimmen, wie die Verwaltung ihr gesetzlich eingeräumtes Ermessen ausüben muss374. Normkonkretisierende Vorschriften füllen unbestimmte Rechtsbegriffe (mit Beurteilungsspielraum) aus, wozu die Verwaltung ausdrücklich gesetzlich ermächtigt wurde (sog. administrative Konkretisierungsermächtigung)375.

B. Innen- und Außenwirkung von Verwaltungsvorschriften Intrasubjektive Verwaltungsvorschriften regeln den verwaltungsinternen Bereich innerhalb eines Verwaltungsträgers und binden die nachfolgenden Behörden aufgrund der Geschäftsleitungsgewalt übergeordneter Behörden376. Aufgrund des Charakters als Innenrechtssätze muss eine Außenwirkung positiv begründet werden377. Eine Bindung der Gerichte folgt nicht aus Art. 20 Abs. 3 GG, 97 Abs. 1 GG, weil sie keine „Gesetze“ sind378. Verwaltungsvorschriften sind Gegenstand, aber nicht Maßstab richterlicher Kontrolle379. I. Ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften Ermessenslenkenden Verwaltungsvorschriften kommt mittelbare Außenwirkung zu, weil die Verwaltung von ihren eigenen Regelungen vor dem Hintergrund des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) nur dann abweichen darf,

374

Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 321. Wernsmann, DStR-Beih. 2011, 72 (75); F. Ossenbühl, in: HStR V3, § 104, Rn. 32; Maurer  / ​ Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 24, Rn. 12; Rogmann, Die Bindungswirkung von Verwaltungsvorschriften, S. 199 ff. Vgl. BVerfGE 129, 1 (21 f.) zur eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle, wenn den Behörden auf gesetzlicher Grundlage ein Entscheidungsspielraum belassen wird. Kritisch Erichsen, FS Kruse, S. 39 (53), wonach normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften die Grenzen zur Rechtsverordnung (Art. 80 GG und Landesverfassungen) verwischen, da die Exekutive nur im Rahmen des Art. 80 GG zur Normsetzung befugt sei. 376 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 4, Rn. 86; Jarass, JuS 1999, 105 f.; F. Ossenbühl, in: HStR V3, § 104, Rn. 44; Ehlers, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 2, Rn. 69 f.; Drüen, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 4, Rn. 80; Jochum, Grundfragen des Steuerrechts, S. 10. 377 BVerfGE 100, 249 (258): Verwaltungsvorschriften sind nicht auf „eine unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet“; Stober, in: Wolff / Bachof / Stober / K luth, Verwaltungsrecht  I, § 24, Rn. 20. Jochum, Grundfragen des Steuerrechts, S. 41 weist darauf hin, dass Verwaltungsvorschriften in der Rechtsanwendungspraxis faktisch eine Art Außenwirkung zukommt. Sie sollen sich „quasi auch direkt an den Steuerpflichtigen und nicht nur an die Verwaltung“ richten. Rechtliche Außenwirkung haben sie freilich grundsätzlich nicht – möglicherweise können diese Feststellungen jedoch im Rahmen des Vertrauensschutzes fruchtbar gemacht werden. 378 BVerfGE 78, 214 (227); 129, 1 (21); Jachmann, StuW 1994, 347 (348). 379 BVerfGE 129, 1 (21); Drüen, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 4, Rn. 81a; Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 24, Rn. 22: „Weder Maßstab noch direkter Gegenstand der [richterlichen] Prüfung“ (Hervorhebung nur hier). 375

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1. Teil: Vertrauensschutz nach bisherigem Konzept

wenn es hierfür sachliche Gründe gibt (z. B. wenn ein atypischer Fall vorliegt)380. Bestehen keine solchen, hat der Steuerpflichtige einen Anspruch auf Gleichbehandlung (Selbstbindung der Verwaltung)381. Die Außenwirkung folgt nicht aus der Verwaltungsvorschrift selbst, sondern aus ihrer Anwendung durch die Verwaltung382. Das bedeutet, dass der Steuerpflichtige zwar nicht unmittelbar den Verstoß gegen eine begünstigende Verwaltungsvorschrift rügen, aber einwenden kann, dass die Verwaltung gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstoßen habe383. Art. 3 Abs. 1 GG „extravertiert“ die verwaltungsinternen Weisungen so in die Außenrechtsordnung384. Außerdem treffen ermessenslenkende Vorschriften Regelungen in einem Bereich, den die Gerichte nur eingeschränkt überprüfen dürfen (§ 102 S. 1 FGO)385. II. Norminterpretierende Verwaltungsvorschriften Norminterpretierenden Verwaltungsvorschriften fehlt hingegen eine solche Außenwirkung, weil das Auslegungsergebnis der Verwaltung die Gerichte nicht bindet386. Sie enthalten keine authentische Interpretation des Gesetzes387. Eine rechtmäßige Verwaltungsvorschrift bestimmt nur das gesetzlich Geregelte388, der Bürger kann sich also unmittelbar auf das Gesetz berufen389. Mangels richter­licher Bindung (Art. 97 Abs. 1 GG, 20 Abs. 3 GG) und fehlenden Entscheidungsspielraums der Verwaltung wird eine Einzelmaßnahme der Behörde bei Rechtswidrigkeit durch die Gerichte aufgehoben, sodass die Verwaltungsvorschrift in beiden Fällen keine Bedeutung erlangt390. Ist die Rechtsauffassung der Verwaltung rechtmäßig, stellen sich auch keine gleichheitsrechtlichen Fragen391. Divergiert die 380

Erichsen, FS Kruse, S. 39 (56); Ehlers, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 2, Rn. 70. 381 Erichsen, FS Kruse, S. 39 (56); Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 24, Rn. 27; Wollenschläger, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 3, Rn. 193. 382 Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 24, Rn. 27; Jarass, JuS 1999, 105 (108). 383 Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 24, Rn. 27. 384 Plastisch F.  Ossenbühl, in: HStR V3, § 104, Rn. 55; Stober, in: Wolff / Bachof / Stober / ​ Kluth, Verwaltungsrecht I, § 24, Rn. 26; Heun, in: Dreier, GG, Art. 3, Rn. 58: Art. 3 Abs. 1 GG als „Umschalt- oder Transportnorm“. 385 BFH BStBl II 1995, 754 (755 f.); Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 5, Rn. 200; Erichsen / Klüsche, Jura 2000, 540 (544). 386 BFH BStBl II 1991, 610 (612); BStBl II 2017, 393 (402). 387 A. A. Selmer, StKongRep 1974, 83 (111), da das Gesetz eine Vielzahl von Typenbegriffen enthalte. 388 Nach Arndt, Praktikabilität und Effizienz, S. 24–29 können Praktikabilitätserwägungen in Verwaltungsvorschriften sogar Abweichungen vom Gesetzeswortlaut rechtfertigen. Den Vorrang des Gesetzes (§ 85 S. 1 AO) kann die Verwaltungsvorschrift indes nicht aushebeln. 389 Jachmann, StuW 1994, 347 (349); Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 24, Rn. 44. 390 Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 24, Rn. 44. 391 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 5, Rn. 191; Erichsen, FS Kruse, S. 39 (51); Rogmann, Bindungswirkung von Verwaltungsvorschriften, S. 182 f.

§ 5 Die rechtswidrige Verwaltungsvorschrift

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Rechtsauffassung von Verwaltung und Gerichten, entsteht ein Konflikt zwischen dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und dem Vorrang des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG), der grundsätzlich zugunsten des Gesetzmäßigkeitsprinzips aufzulösen ist, da der Gleichheitssatz ansonsten einen Anspruch auf Wiederholung von Rechtsfehlern begründen würde392. Auch aufgrund der Selbstbindung der Verwaltung ergibt sich somit keine mittelbare Außenwirkung. III. Normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften Normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften entfalten demgegenüber unmittelbare Außenwirkung, wenn und weil der Behörde bei der Rechtsfrage ein Konkretisierungsspielraum zukommt393. Ein solcher Spielraum der Exekutive muss allerdings vom Gesetzgeber vorgezeichnet sein, da die Verwaltung ansonsten die gerichtliche Kontrolldichte bestimmen könnte394. Aus der Rechtsnorm muss sich entnehmen lassen, dass die Konkretisierung des Begriffs der Exekutive obliegt – bloße unbestimme Rechtsbegriffe genügen nicht395. Wenn behördliche Einzelmaßnahmen, die auf Grundlage solcher Normen ergehen, nur eingeschränkt gerichtlich überprüfbar sind, muss das auch für abstrakt-generelle Regelungen der Verwaltung gelten396. Die gerichtliche Überprüfung beschränkt sich auf die Frage, ob sich die Verwaltungsvorschrift im Rahmen des gesetzlich eingeräumten Entscheidungsspielraums bewegt397. Im Steuerrecht sind normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften jedoch selten398, sie sind häufiger in Bereichen anzutreffen, die auf techisch-wissenschaftlichen Sachverstand angewiesen sind399.

C. Vertrauensschutz Im Folgenden soll dargestellt werden, wie das Vertrauen der Steuerpflichtigen geschützt werden kann, die eine bestimmte Rechtspraxis der Verwaltung ihren Planungen zugrunde gelegt haben. Auch im Bereich der Verwaltungsvorschriften muss zwischen offenen und abgeschlossenen Veranlagungen differenziert werden, 392

Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 5, Rn. 191; Erichsen, FS Kruse, S. 39 (51); Jarass, JuS 1999, 105 (108); Rogmann, Bindungswirkung von Verwaltungsvorschriften, S. 182 f. 393 BVerwGE 72, 300 (320 f.); 107, 338 (340–342); 114, 342 (344); Jarass, JuS 1999, 105 (109); Rogmann, Die Bindungswirkung von Verwaltungsvorschriften, S. 200 ff. Zurückhaltend hingegen Heun, in: Dreier, GG, Art. 3, Rn. 58. Offenlassend BVerfGE 80, 257 (265). 394 Jarass, JuS 1999, 105 (109). 395 Jarass, JuS 1999, 105 (109). 396 Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 24, Rn. 32. 397 Nach Maurer, in: HStR V3, § 104, Rn. 73 entfällt die Bindungswirkung ferner auch in atypischen Einzelfällen. 398 Drüen, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 4, Rn. 85. 399 Vgl. ausführlich Jarass, JuS 1999, 105 (109). Anschaulich BVerwGE 114, 342 ff. zur TA Luft.

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1. Teil: Vertrauensschutz nach bisherigem Konzept

weil § 176 Abs. 2 AO an Steuerbescheide anknüpft. Demnach darf bei der Auf­ hebung oder Änderung eines Steuerbescheids nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden, dass eine allgemeine Verwaltungsvorschrift der Bundesregierung oder einer obersten Bundes- oder Landesbehörde von einem obersten Gerichtshof des Bundes als rechtswidrig bezeichnet worden ist. I. Abgeschlossene Veranlagungen Der Anwendungsbereich von § 176 Abs. 2 AO erfasst nur Verwaltungsvorschriften der Bundesregierung (die auf Grundlage des Art. 108 Abs. 7 GG erlassenen Richtlinien), solche der obersten Bundesbehörden (sog. BMF-Schreiben auf Grundlage der Bund-Länder-Vereinbarung400) und der obersten Landesbehörden (terminologisch häufig als Erlasse oder Verfügungen bezeichnet). Nicht umfasst sind etwa Verfügungen der Oberfinanzdirektionen als Mittelbehörden401, sodass insoweit nur Einzelfallmaßnahmen402 oder typisierende Regelungen der Verwaltung403 (jeweils auf Grundlage der §§ 163, 227 AO) gewissen Schutz gewährleisten. Auch besteht kein gesetzlicher Vertrauensschutz für Umsatzsteuervoranmeldungen, weil das Finanzamt in einem Jahresumsatzsteuerbescheid die neue und ungünstigere Rechtsprechung berücksichtigen darf, wenn sie sich nach Abschluss des Voranmeldungsverfahrens geändert hat404. Der Jahressteuerbescheid führt nämlich nicht zur Änderung der Voranmeldungen, sondern zu deren anderweitiger Erledigung (§ 124 Abs. 2 AO)405. 400 Ob das Grundgesetz eine Rechtsgrundlage für Schreiben des Bundesfinanzministers enthält, ist nicht unzweifelhaft, denn Art. 108 Abs. 3 S. 2 i. V. m. Art. 85 Abs. 3 S. 1 GG erlauben grundsätzlich nur Einzelmaßnahmen. Abstrakt-generelle Regelungen, zu denen BMFSchreiben gehören, sind jedoch nur von Art. 108 Abs. 7 GG erfasst – dort sind BMF-Schreiben aber nicht aufgeführt. Dennoch werden Art. 108 Abs. 3 S. 2 i. V. m. Art. 85 Abs. 3 S. 1 GG als Rechtsgrundlage genannt und (hilfsweise) wird angeführt, dass es „Bund und Ländern nicht verwehrt [ist], Kooperationsvereinbarungen zu treffen“, vgl. die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Frick, Solms und Thiele vom 20. 7. 2001, BT-Drucks. 14/6716, S. 2. Die Verfassung soll damit der Bund-Länder-Vereinbarung offenbar nicht entgegenstehen. Ausführlich zu diesem Problemkleis Helbich, Vertrauensschutz in Verwaltungsvorschriften, S. 80–84. 401 Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 176, Rn. 20; Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 176, Rn. 62; v. Wedelstädt, in: Beermann / Gosch, AO / FGO, § 176, Rn. 35. 402 Einen Teilerlass aus Billigkeitsgründen im Einzelfall aufgrund einer rechtswidrigen Verfügung der OFD verneinend BFH NV 2013, 1537 (1540). Die Verwaltungspraxis widersprach gefestigter BFH-Rechtsprechung, sodass sich kein schutzwürdiges Vertrauen habe bilden können. 403 Erwogen wird insoweit eine Ermessensreduzierung auf Null mit der Folge, dass sich aufgrund von Vertrauensschutz ein Anspruch auf eine solche typisierende Übergangsregelung ergeben kann, vgl. z. B. Hey, DStR 2004, 1897 (1903 f.); Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 176, Rn.  67. 404 BFH NV 2010, 1782; Hildesheim, in: Offerhaus / Söhn / Lange, UStG, § 18, Rn. 127; Treiber, in: Sölch / R ingleb, UStG, § 18, Rn. 354; kritisch Lippross, DStR 2014, 879 (880 f.); Hummel, MwStR 2016, 4 (7 f.). 405 BFH NV 2010, 1782.

§ 5 Die rechtswidrige Verwaltungsvorschrift

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Überdies kann das Vertrauen in eine bestimmte Gesetzesinterpretation der Verwaltung auch dann enttäuscht werden, wenn das BMF oder die Landesbehörden ihre Verwaltungspraxis umstellen, z. B. wenn die Behörden die Rechtswidrigkeit ihrer Verwaltungsvorschriften selbst feststellen. Auch dieser Fall ist gesetzlich nicht geregelt406, was rechtspolitisch kritisiert wird407 und vor dem Hintergrund überrascht, dass gerade die Behörde das Vertrauen erzeugt hat. Nicht selten enthalten Verwaltungsvorschriften deshalb Übergangsregelungen hin zur neuen Verwaltungspraxis408. Ob solche ergehen, lässt sich jedoch nicht voraussagen, denn die Verwaltung folgt keinem eindeutigen Schema409. II. Nicht abgeschlossene Veranlagungen Der Schutz offener Fälle ist gerade im Bereich rechtswidriger Verwaltungsvorschriften besonders konfliktbehaftet410. Da von § 176 Abs. 2 AO nur rechtswidrige Konstellationen erfasst sind (hier das Abweichen des BFH von der in einer Richtlinie festgehaltenen Verwaltungspraxis), beschränken sich folgende Ausführungen auf solche Verwaltungsvorschriften. Die aufgrund der Anknüpfung an Bescheide verursachte Problematik besteht darin, dass der Steuerpflichtige, der auf Basis einer gesetzeswidrigen Verwaltungspraxis disponierte und vor der Entscheidung des BFH veranlagt wurde, nach § 176 Abs. 2 AO vor der Korrektur des (an sich rechtswidrigen) Steuerbescheids geschützt ist. Hingegen ist der Steuerpflichtige, der vor dem Ende des Veranlagungszeitraums disponierte, seine Veranlagung zeitlich aber erst nach einem BFH-Urteil erfolgt, nicht geschützt, da die Norm für Erstbescheide unanwendbar ist. Der Vertrauensschutz muss sich in diesen Fällen auf ein bestimmtes (rechtswidriges) Auslegungsergebnis der Verwaltung stützen, da der Bescheid, an den § 176 Abs. 2 AO anknüpft, noch fehlt. Die Perspektive richtet sich also im Hinblick auf die Vertrauensbasis weg vom Steuerbescheid hin zu der rechtswidrigen Verwaltungspraxis. Wesentlich ist somit bei offenen Fällen die Frage, ob der Steuerpflichtige einen Anspruch auf Prolongation einer rechtswidrigen Verwaltungspraxis haben kann, wenn und weil er im Zeitpunkt der Disposition auf ein gewisses Auslegungsergebnis der Verwaltung vertraute. Darf und muss eine rechtswidrige Verwaltungspraxis 406 BFH BStBl II 1987, 842 (843): „176 Abs. 2 AO 1977 gewährt somit einen begrenzten Vertrauensschutz“; Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 176, Rn. 23; Hey, DStR 2004, 1897 (1903); v. Wedelstädt, in: Beermann / Gosch, AO / FGO, § 176, Rn. 38. 407 Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 176, Rn. 64: „wesentliche Lücke, die durch eine gesetzliche Regelung geschlossen werden sollte“. Eine Analogie für diese Fälle befürwortend Hey, Steuerplanungssicherheit, S. 683, weil es nicht darauf ankommen könne, wer die Verwaltungsvorschrift aufhebt (Hervorhebung nur hier). 408 Hey, DStR 2004, 1897 (1903). 409 Hey, DStR 2004, 1897 (1903). 410 Vgl. die Auseinandersetzungen bei Randelzhofer, JZ 1973, 536 (542 ff.); Götz, NJW 1979, 1478 (1481); Berg, JuS 1980, 418 (420 f.), Pauly, JZ 1997, 647 (653).

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1. Teil: Vertrauensschutz nach bisherigem Konzept

aus diesem Grund noch aufrechterhalten werden, kann die erstmalige Steuerfestsetzung auf dieser Grundlage ergehen. 1. Die Prämisse der h. M. – „Keine Gleichheit im Unrecht“: Aushebelung des Gesetzmäßigkeitsprinzips aufgrund von Vertrauensschutz? Der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) gebietet Gleiches gleich und Ungleiches verschieden zu behandeln411. Legt die Verwaltung ihr Gesetzes­ verständnis in einer Verwaltungsvorschrift fest, darf sie nicht grundlos von ihrer Verwaltungspraxis abweichen (Selbstbindung der Verwaltung)412. Im Abweichen von ihren eigenen Regeln in einzelnen Fällen liegt nämlich eine Ungleichbehandlung gegenüber denjenigen, die auf Grundlage der Verwaltungsvorschrift veranlagt werden413. Ist dieses Ergebnis zweifelsfrei, wenn die Verwaltungsvorschrift rechtmäßig ist, entwickelt sich bei deren Rechtswidrigkeit ein verfassungsrechtliches Spannungsverhältnis, denn dann kollidieren der Vorrang des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG, § 85 AO), der die Verwaltung zu rechtmäßigem Handeln zwingt, und der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG)414. Genauer besteht die Problematik darin, dass die Verwaltung rechtswidrig eine Begünstigung gewährt oder dem Steuerpflichtigen unrechtmäßig eine Belastung nicht auferlegt415. Dieses Spannungsverhältnis ist in aller Regel mit dem Verbot der „Gleichheit im Unrecht“ zugunsten des Gesetzmäßigkeitsprinzips aufzulösen416. Das Dogma besagt, dass sich im Bereich des Verwaltungshandelns aus Art. 3 Abs. 1 GG kein Anspruch auf Wiederholung eines Fehlers herleiten lässt417. Der rechtswidrigen Verwaltungspraxis kommt so über den Gleichheitssatz keine gesetzesderogierende Kraft zu418. Der Wortlaut des Art. 3 Abs. 1 GG, der Gleichheit „vor“ und nicht entgegen dem Gesetz gewährt, macht dies deutlich419. Der Steuerpflichtige, der von einer Begünstigung ausgeschlossen wurde, kann also nicht verlangen, in die Begünstigung 411

BVerfGE 42, 64 (72); 71, 255 (271); 93, 386 (396); Heun, in: Dreier, GG, Art. 3, Rn. 20. Erichsen / Klüsche, Jura 2000, 540 (545); Heun, in: Dreier, GG, Art. 3, Rn. 58. 413 Selmer, StKongRep 1974, 83 (110). 414 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 5, Rn. 192; Erichsen, FS Kruse, S. 39 (58 f.); Erichsen / ​Klüsche, Jura 2000, 540 (545). 415 Pauly, JZ 1997, 647 (649). 416 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 5, Rn. 193 ff.; Rüfner, in: Bonner Kommentar, GG, Art. 3, Rn. 181; Nußberger, in: Sachs, GG, Art. 3, Rn. 51; Heun, in: Dreier, GG, Art. 3, Rn. 61; Wollenschläger, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 3, Rn. 218; Jachmann, StuW 1994, 347 (349); Selmer, StKongRep 1974, 83 (112 f.). Nach P. Kirchhof, DStJG 18 (1995), S. 17 (32) ist hingegen ein Anspruch auf Gleichbehandlung gegeben, wenn die rechtswidrige Praxis eine Vielzahl von Fällen betrifft, die Behörde diese Praxis nicht aufgeben will und überwiegende öffentliche Interessen nicht die zutreffene Anwendung des Gesetzes verlangen. 417 BFH BStBl II 1989, 836 (840); Nußberger, in: Sachs, GG, Art. 3, Rn. 51; P. Kirchhof, in: HStR V1, § 125, Rn. 66 ff, insbesondere Rn. 68; Maurer, in: HStR IV3, § 79, Rn. 127. 418 F. Ossenbühl, DÖV 1970, 264 (265); P. Kirchhof, in: HStR V1, § 125, Rn. 68. 419 Erichsen, FS Kruse, S. 39 (59). 412

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eingeschlossen zu werden, weil sie einem anderen unrechtmäßig gewährt wurde420. Ebensowenig kann der Steuerpflichtige seine eigene rechtmäßige Belastung mit dem Argument abwehren, dass andere Steuerpflichtge unrechtmäßigerweise nicht belastet wurden421. Die Rechtsprechung des schweizerischen Bundesgerichts, die Gleichheit im Unrecht gewährt, wenn sich die Behörden weigern, ihre rechtswidrige Praxis aufzugeben und nur dann die Einbeziehung in eine rechtswidrige (Dritt-)Begünstigung versagt, wenn einige wenige Fälle betroffen sind, kann nicht überzeugen422. Gegen diese spricht, dass die Verwaltung durch rechtswidriges Handeln ihre gesetzwidrige Praxis nicht noch weiter dadurch ausbauen darf, dass die Gesetze nun für eine Vielzahl von Fällen nicht mehr angewendet werden423. In Anlehnung an diese Rechtsprechung wird jedoch der Schluss gezogen, dass sich das Dogma „Keine Gleichheit im Unrecht“ nicht immer durchsetzen muss, sondern diesem aufgrund von anderen Verfassungsprinzipien auch Grenzen gesetzt werden können424. Problematisch ist, ob und inwieweit Vertrauensschutz (Art. 20 Abs. 3 GG) als weiteres Verfassungsprinzip (Subprinzip des Rechtstaatsprinzips  – Art. 20 Abs. 3 GG425) im Ausnahmefall zu einer Bindung an die Verwaltungsvorschrift führen und somit den fundamentalen Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes verdrängen und zu einer Gleichbehandlung im Unrecht führen kann. Nur dann können offene Fälle, die von § 176 Abs. 2 AO nicht erfasst sind, überhaupt geschützt werden. Entpuppt sich ein solcher Vertrauensschutz wirklich als „trojanisches Pferd des Rechtsstaats“426?

420

F. Wollenschläger, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 3, Rn. 218. Dezidiert BFH BStBl II 1989, 836 (840): „Würde man einer rechtswidrigen Verwaltungspraxis den Vorrang vor dem Grundsatz der Gesetzesbindung der vollziehenden Gewalt einräumen, so käme dies einer Auflösung des Rechtsstaats gleich“. Ähnlich FG Baden-Württemberg, EFG 1986, 451 (453): Gleichheit im Unrecht „würde die gesetzliche Norm und den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung […] auf den Kopf stellen“. Etwas Anderes gilt jedoch dann, wenn die rechtswidrige Verwaltungspraxis dem Gesetzgeber zurechenbar ist  – zum Zinsurteil des BVerfG sogleich im Text. 422 Vgl. die Nachzeichnung dieser Rechtsprechung bei Wernsmann, Das gleichheitswidrige Steuergesetz, S. 295 f. 423 Wernsmann, Das gleichheitswidrige Steuergesetz, S. 296. 424 Götz, NJW 1979, 1478 (1481), der Vertrauensschutz als Beispiel nennt, hierfür aber das Hinzutreten besonderer Umstände fordert, z. B. das Vorliegen einer jahrzehntelangen Verwaltungspraxis. 425 So schon BVerfGE 13, 261 (271). 426 So F. Ossenbühl, DÖV 1972, 25 (29). 421

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1. Teil: Vertrauensschutz nach bisherigem Konzept

2. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: Gleichheit im Unrecht nur bei Zurechenbarkeit der rechtswidrigen Verwaltungspraxis an den Gesetzgeber? Möglicherweise lassen sich dem Zinsurteil des Bundesverfassungsgerichts427 Tendenzen entnehmen, wie das Spannungsverhältnis zwischen Gesetzesbindung und Gleichbehandlung im Bereich der Verwaltung aufzulösen ist. Dem Urteil lag die Problematik zugrunde, dass die Kapitalertragsteuer im Streitzeitraum nicht durchgängig als Quellensteuer ausgestaltet war und die Erhebung der Steuer von der Deklarierung des Steuerpflichtigen abhing. Empirische Untersuchungen zeigten, dass die Erklärungsquote zwischen 3,7 % und 47,7 % lag, sodass in Rund der Hälfte der Fälle Kapitaleinkünfte verschwiegen wurden und dem Fiskus ein enormer Steuerausfall entstand428. Ursächlich für diesen Erhebungsmangel war eine Verwaltungsvorschrift (Bankenerlass 1979), die eine hinreichende Sachverhaltsaufklärung verhinderte429. Die dem Erlass nachfolgende gesetzliche Regelung (§ 30a AO) übernahm weitgehend deren Inhalt. Ein redlicher Steuerpflichtige klagte gegen seine Belastung. Der BFH nahm an, dass hier die Fallgruppe „Keine Gleichheit im Unrecht“ berührt ist, da er sich gegen seine eigene (an sich) rechtmäßige Steuerbelastung (im Gegensatz zu jenen, die ihre Kapitaleinkünfte verschwiegen und sich somit rechtswidrig verhalten haben) wehrt430. Das Bundesverfassungsgericht teilte diese Sichtweise indes nicht. Es stellte ausdrücklich fest, dass es nicht um Gleichheit im Unrecht gehe, da der Mangel im Erhebungsverfahren auf das materielle Steuergesetz durchschlage, also die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes in Bezug auf den Gleichheitssatz in Frage stehe431. Zwingend wäre dies jedoch nicht gewesen. Da sich der Gleichheitsverstoß auf das Gesetz selbst auswirkt, musste die Frage, ob eine faktische Steuerfreiheit über einen Anspruch auf Gleichbehandlung im Unrecht begründet werden kann, nicht aufgegriffen werden432. Der Sache nach geht es indes gerade darum433. Knackpunkt ist, dass der Gesetzgeber die in der Verwaltungsvorschrift (Bankenerlass) geregelten Grundsätze übernahm, ihm die rechtswidrige Verwaltungspraxis also zugerechnet werden konnte434. Die Konfliktsituation, dass sich die Verwaltung über 427

BVerfGE 84, 239. BVerfGE 84, 239 (276). 429 BVerfGE 84, 239 (278). 430 BFH BStBl II 1989, 836 (840). 431 Explizit BVerfGE 84, 239 (284). 432 Wernsmann, Das gleichheitswidrige Steuergesetz, S. 294 f. 433 Überzeugend Wernsmann, Das gleichheitswidrige Steuergesetz, S. 294 f. Vgl. auch Pauly, JZ 1997, 647 (649) mit (zustimmendem) Verweis auf Goerlich, JZ 1991, 1140: Verdeckt unter dem Mantel der Vollzugsgleichheit, habe das BVerfG doch über Gleichheit im Unrecht entschieden [und Gleichheit im Unrecht gewährt]. 434 BVerfGE 84, 239 (281): „Bei dem Bankenerlass 1979 handelt es sich um eine Verwaltungsvorschrift, die der Gesetzgeber bewusst und gewollt bei dem Erlass der Abgabenordnung 1977 und des Einkommensteuergesetzes 1979 hingenommen hat. Aus der Vorgeschichte […] wird 428

§ 5 Die rechtswidrige Verwaltungsvorschrift

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den Willen des Gesetzgebers hinwegsetzen kann, entstand deshalb nicht, sodass sich ein Anspruch auf Gleichbehandlung im Unrecht in diesem Ausnahmefall hätten begründen lassen435. Geht es bei der Versagung einer Gleichstellung einer Personengruppe im Unrecht um den Schutz des Gesetzgebers, weil die Verwaltung ansonsten mithilfe des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) den Vorrang des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) umgehen könnte, so kann aus dem Zinsurteil gefolgert werden, dass sich ein Anspruch auf Gleichbehandlung im Bereich einer rechtswidrigen Verwaltungspraxis nur durchsetzen kann, wenn diese Praxis dem Gesetzgeber zugerechnet werden kann436. Dann ist letzterer nicht schutzwürdig437. Es besteht aber auch beim Vertrauensschutz nicht die Gefahr, dass die Verwaltung den Gewaltenteilungsgrundsatz aus den Angeln hebt oder sich zukünftig rechtswidrig verhält („Keine Fehlerwiederholung“), denn Vertrauensschutz zielt hier auf die Folgenbewältigung von bisherigem rechtswidrigen Handeln. Freilich wird auch bei einer zeitweisen Prolongation einer rechtswidrigen Verwaltungspraxis der Fehler bis zu der Veranlagung der Steuerpflichtigen wiederholt. Jedoch hat diese Wiederholung nicht den Zweck, die unrichtige Auslegung des Gesetzes entgegen dem Willen des Gesetzgebers fortzuführen438. Für Vertrauenssschutz ist gerade charakteristisch, dass ein bestimmtes hoheitliches Handeln fortgeführt wird, weil der Steuerpflichtige im Zeitpunkt seiner Planung darauf vertraute, dass diese rechtlichen Maßstäbe die Grundlage seiner späteren Veranlagung bilden werden – sein „Vertrauen lebt aus dem Vergangengen, ist aber in die Zukunft gerichtet“439. Ändert sich etwa die höchstrichterliche Rechtsprechung und erlässt die Finanzverwaltung eine Übergangsregelung, was der BFH akzeptiert, der ausdrücklich auf diese Möglichkeit hinweist oder in seltenen Fällen selbst eine solche Regel trifft440, verlängert auch diese eine rechtswidrige (Gerichts-)Praxis bzw. eine unrichtige Auslegung des Gesetzes, sodass das der Vorrang des Gesetzes zurücktritt. In der Literatur wird dagegen argumentiert, dass schon das Vertrauen in verfassungswidrige Normen nicht geschützt ist, sodass das Vertrauen in eine rechtswidrige Verwaltungspraxis erst recht nicht geschützt sein kann441. Jedoch spricht die Spruchdeutlich, dass dem Gesetzgeber der Bankenerlass bekannt war […] und dass er seine bisherige Handhabung beibehalten wollte […]“ (Hervorhebungen nur hier). 435 Wernsmann, Das gleichheitswidrige Steuergesetz, S. 293. 436 Wernsmann, Das gleichheitswidrige Steuergesetz, S. 299. 437 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 5, Rn. 196. 438 Vgl. Hey, FS Kirchhof, Bd. II, S. 1657 (1664): Es sei nicht davon auszugehen, dass der Steuerpflichtige und die Finanzverwaltung „fraudulent“ zulasten des Fiskus [und des Gesetzgebers] zusammenwirken. A. A. F. Ossenbühl, DÖV 1972, 25 (29), da Vertrauensschutz in der Folge den gesetzlichen Befehl negiere. 439 Birk, DStJG 27 (2004), S. 9 (10). 440 S. die Nachweise unter § 3 B. IV. 441 Kampe, Verwaltungsvorschriften und Steuerprozeß, S. 217; Maurer, in: HStR IV3, § 79, Rn. 128. Jedoch erkennt auch Maurer an, dass Härtefälle von Billigkeitsregelungen (§§ 163, 227 AO) erfasst werden dürfen.

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1. Teil: Vertrauensschutz nach bisherigem Konzept

praxis des Bundesverfassungsgerichts gegen diese Prämisse, denn die Abkehr von der Nichtigerklärung hin zur Unvereinbarerklärung wird gerade auch aus Gründen des Vertrauensschutzes gerechtfertigt442. Letztere ist flexibler handhabbar als die Nichtigerklärung und ermöglicht die Weitergeltung des verfassungswidrigen Gesetzes für die Vergangenheit, sodass die Dispositionen geschützt sind443. Bei der zukünftigen Veranlagung darf der Steuerbescheid sodann noch auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts ergehen444. Der hier vertrenenen Sichtweise steht auch nicht entgegen, dass Vertrauensschutz durch Verlängerung einer rechtswidrigen Richtlinie zu einem Anspruch auf einen rechtswidrigen Steuerbescheid führt („Fällen einer rechtswidrigen Entscheidung sehenden Auges“)445, denn wenn der Bescheid aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art. 20 Abs. 3 GG) noch auf Grundlage der (rechtswidrigen) Auslegung des Gesetzes oder des verfassungswidrigen Gesetzes ergehen muss, ist dieser nicht rechtswidrig, sondern rechtmäßig446. Auch Vertrauensschutz ist ein Legalitätskriterium von Verwaltungshandeln und somit Ausdruck von Rechtmäßigkeit447. So erscheint es nicht von vornherein ausgeschlossen, dass eine Verwaltungsvorschrift, die vom BFH als rechtswidrig identifiziert wurde, bis zur Veranlagung des Steuerpflichtigen weiter angewendet wird, auch wenn dies freilich nicht der Regelfall sein kann. Für diese Sichtweise spricht auch, dass sie das Spannungsverhältnis zwischen Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und Gleichbehandlung nicht einseitig pauschal zulasten des Gleichheitssatzes auflöst, sondern eine differenzierendere Abwägung zwischen den Verfassungsprinzipien ermöglicht448. Im Anschluss an diese bewirkt § 176 Abs. 2 AO die Bindung an die Verwaltungsvorschrift bei Änderungsbescheiden. Nimmt man an, dass bei § 176 AO die Rechtslage als Vertrauensträger fungiert449, würde auch der Gesetzgeber davon ausgehen, dass eine Bindung an eine

442 Helbich, Vertrauensschutz in Verwaltungsvorschriften, S. 174 mit Verweis auf BVerfGE 99, 69 (83). 443 BVerfGE 99, 280 (299) zur Steuerfreiheit der Stellenzulage-Ost. 444 Zum Vertrauensschutz auf verfassungswidrige Normen s. noch § 10 A. I. 445 So aber Berg, JuS 1980, 418 (421). Zur rückwirkenden Rechtsprechungsänderung ebenso Schwarz, Vertrauensschutz, S. 374. 446 Burmeister, FS Friauf, S. 759 (776). 447 Burmeister, FS Friauf, S. 759 (776). So für den Fall einer rechtswidrigen behördlichen Zusage auch F. Ossenbühl, DÖV 1972, 25 (29), der Vertrauensschutz in rechtswidrige Verwaltungsvorschriften aber ablehnt. 448 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 5, Rn. 195. Insofern trifft es nicht vollends zu, dass eine zeitweise Bindung an eine rechtswidrige Verwaltungsvorschrift einer Auflösung des Rechtsstaats gleichkäme [so aber BFH BStBl II 1989, 836 (840)], denn Vertrauensschutz ist ebenfalls ein Subprinzip des Rechtsstaatsprinzips, s. z. B. BVerfGE 13, 261 (271). Für eine abwägungsoffenere Lösung s. auch Englisch / Plum, StuW 2004, 342 (365). 449 Zu Recht kritisch Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 5, Rn. 195, der auf den Verwaltungsakt als Vertrauenstatbestand abstellt. Vgl. hierzu noch § 6. 

§ 5 Die rechtswidrige Verwaltungsvorschrift

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rechtswidrige Verwaltungsvorschrift möglich ist450. Jedenfalls steht die Formel „Keine Gleichheit im Unrecht“ einer zeitweisen Perpetuierung einer fehlerhaften Verwaltungspraxis nicht a priori entgegen, sondern Vertrauensschutz kann eine weitere Kategorie sein, die in seltenen Ausnahmefällen das Abweichen von der Formel rechtfertigt451. Freilich ist damit aber noch nichts gesagt, für welche Fälle Vertrauensschutz in Betracht kommt und wie dieser realisiert werden kann. 3. Erlass von typisierenden Übergangsregelungen nach §§ 163, 227 AO unter Berücksichtigung der restriktiven Tendenzen des Bundesfinanzhofs Auch die Rechtsprechung erkennt einen Vertrauensschutz auf Grundlage einer rechtswidrigen Verwaltungsvorschrift nur sehr zurückhaltend an. Zutreffend wird konstatiert, dass die Verwaltung von einer unzutreffenden Auslegung des Gesetzes baldmöglichst abrücken muss452. Sie schließt aber grundsätzlich nicht aus, dass die Finanzverwaltung Anpassungsregelungen auf Grundlage der §§ 163, 227 AO erlassen darf, wenn die Rechtsprechung von einer „bisher allgemein geübten Verwaltungsauffassung“ abweicht453. Voraussetzung ist, dass eine für den Steuerpflichtigen günstige und zweifelsfreie Rechtsauffassung bestand. Hätten dem Steuerpflichtigen aber Zweifel an der Richtigkeit der Verwaltungspraxis kommen müssen, etwa weil die Literatur oder die Rechtsprechung der Finanzgerichte ihr nicht folgt, scheidet Vertrauensschutz mangels hinreichender Vertrauensgrundlage aus454. Häufig scheiterte Vertrauensschutz 450 Nicht differenziert genug Helbich, Vertrauensschutz in Verwaltungsvorschriften, S. 172, der aus § 176 AO herleitet, dass rechtswidrige Verwaltungsvorschriften im Allgemeinen als Vertrauensträger geeignet sind. Nach h. M. soll nämlich die Bestandskraft des Bescheids von § 176 AO geschützt sein. 451 Rüfner, in: Bonner Kommentar, GG, Art. 3, Rn. 182; ebenfalls differenzierend Nußberger, in: Sachs, GG, Art. 3, Rn. 51: Wenn das Gleichbehandlungsinteresse aus Gründen des Vertrauensschutzes schutzwürdig sei, können als Folge auch gesetzwidrige Vorteile gewährt werden (Hervorhebung nur hier). Indes ist ein Vorteil nicht gesetzwidrig, wenn Vertrauensschutz im Ausnahmefall zur Gewährung des Vorteils zwingt. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3, Rn. 61, wonach Vertrauensschutz in Ausnahmefällen die Fortführung einer rechtswidrigen Verwaltungspraxis zeitweise legitimieren könne; Englisch / Plum, StuW 2004, 342 (365); Randelzhofer, JZ 1973, 536 (544); Liggenstorfer, Gleichbehandlung im Unrecht, S. 78 f.; Kölbel, Gleichheit im Unrecht, S. 116. Enger Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 5, Rn. 195, der eine Bindung an die rechtswidrige Verwaltungsvorschrift nur in den Fällen des § 176 Abs. 2 AO anerkennt. A. A. F. Ossenbühl, DÖV 1970, 264 (266); ders., DÖV 1972, 25 (29); Selmer, StKongRep 1974, 83 (112 f.); Schwarz, Vertrauensschutz, S. 352 f. 452 BFH BStBl II 1997, 245 (246). 453 BFH BStBl II 1990, 261 (262); BStBl II 1991, 610 (613); BSBl II 2018, 232 (234). Erging hingegen eine solche Übergangsregelung nicht, hat der Steuerpflichtige im Rahmen einer Einzelfallmaßnahme (§§ 163, 227 AO) keinen Anspruch darauf, so behandelt zu werden, als wäre eine solche ergangen (genauer, weil der Fall von einer typisierenden Regelung erfasst gewesen wäre, das Vertrauen aber nicht schutzwürdig war), s. BFH BStBl II 1990, 261 (263). 454 BFH BSBl II 2018, 232 (234) – auch zum vorstehenden Satz.

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an diesem Kriterium455 – so wurde beispielsweise auch die rechtswidrige Steuerfreiheit von Sanierungsgewinnen456 durch den Sanierungserlass der Finanzverwaltung vor dessen Rechtswidrigerklärung durch den BFH häufig infrage gestellt457, sodass die Anpassungsregelung auf Basis der §§ 163, 227 AO als rechtswidrig erachtet wurde458. Die Voraussetzung einer zweifelsfreien Rechtslage kann indes kritisiert werden, denn bereits die Existenz einer norminterpretierenden Verwaltungsvorschrift zeigt, dass die Rechtslage nicht zweifelsfrei sein kann, da ansonsten kein Bedürfnis für eine Norminterpretation durch die Verwaltung bestünde459. Gerade im Fall des Sanierungserlasses als norminterpretierende Verwaltungsvorschrift460 wären Steuerpflichtige und Insolvenzverwalter aber besonders auf Rechtssicherheit angewiesen gewesen. Eine große Breitenwirkung, die bei einer „lang dauernden Verwaltungsregelung von erheblicher wirtschaftlicher Tragweite“ vorliegt461, konnte durchaus angenommen werden, da im Anschluss an die Rechtswidrigerklärung des Sanierungserlasses der Ausgang zahlreicher Unternehmens­ sanierungen zweifelhaft, eine vertrauensschützende Regelung im Grunde zwingend erforderlich war. Da die Verwaltung jedoch nicht regeln durfte, schützte der Gesetzgeber mit der rückwirkenden Einführung des § 3a EStG, der die Steuerfreiheit der Sanierungsgewinne auf eine gesetzliche Grundlage stellt, das Vertrauen, sodass die Steuerfreiheit der Sanierungserträge auf Antrag auch für Altfälle gewährt werden konnte, bei denen die Schulden vor dem Beschluss des BFH erlassen wurden462. Hinsichtlich der Ausgeststaltung einer Übergangsregelung der Verwaltung fordert der BFH, dass in jedem geregelten Einzelfall die Voraussetzungen der sach­ lichen Unbilligkeit vorliegen müssen, da typisierende Regelungen dem Gesetzgeber vorbehalten seien463, was bereits an anderer Stelle kritisiert wurde464. Die Recht 455

So etwa bei BFH BStBl II 1991, 610 (613). BFH GrS, BStBl II 2017, 393 (403). Zustimmend aus der Literatur v.  Wedelstädt, in: Kühn / v. Wedelstädt, AO / FGO, § 163, Rn. 5; a. A. z. B. Seer, FR 2014, 721 (727), da mit dem Forderungsverzicht kein Zuwachs an wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit einhergehe (sog. „Scheingewinn“). 457 Kanzler, FR 2003, 478 (481) mit dem Argument, dass der Gesetzgeber die vormalige Regelung des § 3 Nr. 66 EStG bewusst aufgehoben habe; Sistermann, DStR 2017, 689 (693); Beutel / Eilers, FR 2017, 266 (269). Kritisch ebenfalls FG München EFG 2008, 615 f. aufgrund des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung („Verwaltungspraxis contra legem“); Sächsisches FG, EFG 2013, 1898 (1899); offenlassend im Hinblick auf den allgemeinen Gesetzesvorbehalt BFH NV 2012, 1516 (1517). 458 BFH BStBl II 2018, 232 (235). A. A. als der BFH z. B. Krumm, in: Blümich, EStG, § 3a, Rn. 4 m. w. N. 459 Fischer, DStZ 2019, 826 (829). 460 BFH BStBl II 2017, 393 (402). 461 BFH BStBl II 1991, 610 (613). 462 S. die Anwendungsregelung des § 52 Abs. 4a S. 3 EStG. 463 BFH BStBl II 2018, 232 (235). Gruppenregelungen ebenfalls ablehnend Arndt, FS Armbruster, S. 233 (247). 464 Vgl. § 3  B. IV. 1. 456

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sprechung erkennt also zumindest prinzipiell an, dass Verwaltungsvorschriften taugliche Vertrauensträger sein können, der Schutz ist hingegen an strenge Voraussetzungen geknüpft465. Würde Vertrauensschutz nämlich bereits daran scheitern, dass auf eine rechtswidrige Verwaltungsvorschrift schon dem Grunde nach nicht vertraut werden darf oder das Dogma „keine Gleichheit im Unrecht“ einem solchen Vertrauensschutz entgegenstünde, müsste die Judikative der Verwaltung die Befugnis zum Erlass von allgemeinen Anpassungsregelungen absprechen. In der Literatur hingegen wird Vertrauensschutz auf Verwaltungsvorschriften teils mit der Begründung abgelehnt, dass es an einem individualisierbaren Rechtsakt gegenüber dem Steuerpflichtigen fehle466. Die Situation ist indes eine andere, denn während die Behörde bei abgeschlossenen Fällen bereits (rechtswidrig) gehandelt hat, begehrt der Steuerpflichtige bei noch offenen Fällen ein künftiges „gesetzwidriges“ Handeln467. Überdies führt die Argumentation nicht weiter, da sie nicht präzise zwischen den verschiedenen Vertrauensträgern differenziert468. Liegt nämlich ein individualisierbarer Rechtsakt im Sinne des § 176 Abs. 2 AO vor, so knüpft Vertrauensschutz an diesen Rechtsakt an469. Der Verwaltungsakt ist dann der Anknüpfungspunkt für Vertrauensschutz und nicht die Verwaltungspraxis470. Keine Aussage getroffen wird damit, ob auf eine rechtswidrige Verwaltungs­ vorschrift vertraut werden darf. Das kann aber zumindest im Grundsatz angenommen werden471. Zwar wirken Verwaltungsvorschriften nur im Innenverhältnis (zwischen den Behörden), sie entfalten jedoch durch ihre Publikation eine Breitenwirkung in der Rechtspraxis, die einen Anknüpfungspunkt für Vertrauensschutz bildet472. Eine Pflicht zur Veröffentlichung von Verwaltungsvorschriften kann zumindest für solche angenommen werden, welche (mittelbare) Außenwirkung entfalten473. Die Publikation im 465

So auch die Deutung der Rechtsprechung bei Fischer, DStZ 2019, 826 (829). Pauly, JZ 1997, 647 (653). 467 Arndt, FS Armbruster, S. 233 (246); Randelzhofer, JZ 1973, 536 (544); Maurer, in: HStR IV3, § 79, Rn. 128; Schwarz, Vertrauensschutz, S. 353. 468 Arndt, FS Armbruster, S. 233 (246). 469 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 5, Rn. 195. 470 Götz, NJW 1979, 1478 (1481); Berg, JuS 1980, 418 (421); Selmer, StKongRep 1974, 83 (112 f.). 471 A. A. Maurer, in: HStR IV3, § 79, Rn. 123. Nach Abwägung der Verfassungsgüter (Gleichheitssatz, Vorrang des Gesetzes und Vertrauensschutz) ablehnend auch Berg, JuS 1980, 418 (421). 472 Randelzhofer, JZ 1973, 536 (543); Liggenstorfer, Gleichbehandlung im Unrecht, S. 81, die Vertrauensschutz bei einer langjährigen und offensichtlichen Verwaltungsvorschrift anerkennt, sofern deren Rechtswidrigkeit nicht erkennbar war. 473 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 5, Rn. 205: Aufgrund des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG); Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 24, Rn. 53, wonach die Publikation aus „rechtsstaatlichen Gründen geboten“ sei. A. A. aber BVerwGE 104, 220 (227), das eine generelle Veröffentlichungspflicht von ermessenslenkenden Verwaltungsvorschriften (die mittelbare Außenwirkung haben) verneint. BVerwGE 122, 264 (269 f.) nimmt jedoch für Verwaltungsvorschriften mit unmittelbarer Außenwirkung eine Veröffentlichungspflicht an. 466

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1. Teil: Vertrauensschutz nach bisherigem Konzept

Bundessteuerblatt zeigt, dass sich die Wirkung von Verwaltungsvorschriften nicht nur auf den behördeninternen Bereich beschränkt474. Der Steuerpflichtige orientiert sich bei seiner Steuerplanung nicht nur an Parlamentsgesetzen, sondern auch daran, wie diese von der Verwaltung gehandhabt werden475. Das abstrakt-generelle Gesetz kann für sich nämlich keine eindeutige Planungsgrundlage sein. Daraus ergibt sich z. B. auch die Rechtfertigung der typisierenden Verwaltung, die das abstrakte Gesetz konkretisieren, es also vollzugsfähig machen muss476. Ist das Gesetz aus sich selbst heraus nicht vollzugsfähig, kann der Steuerpflichtige auf die Verwaltungsauffassung zurückgreifen. Das gilt umso mehr, wenn die Rechtsfrage noch nicht höchstrichterlich entschieden wurde. Wenn hiergegen eingewendet wird, dass Regelungen der Verwaltung nicht mehr Bedeutung zukommt als Literaturauffassungen477, so verfängt dies hinsichtlich des Vertrauensschutzes478 nicht, da die Rechtsauffassung der Verwaltung dem Staat zugerechnet werden kann und daher ausreichend Autorität besitzt479. Alleine deshalb nehmen Verwaltungsvorschriften einen größeren Stellenwert beim Rechtsanwender ein480. Die vom BFH für zulässig erachtete Umsetzung von Vertrauensschutz durch Übergangsregelungen der Finanzverwaltung vermag zu überzeugen. Solche Regelungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie entsprechend dem Vorrang des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) die Implentiertung der rechtskonformen Gesetzsauslegung durch die Verwaltung nicht verhindern, sondern nur verlangsamen481. Sie hindern die Finanzverwaltung nicht, ihre Praxis unverzüglich nach der Aufdeckung ihrer Rechtswidrigkeit durch den BFH aufzugeben. Wegen des fundamentalen Grundsatzes vom Vorrang des Gesetzes dürfen Übergangsregelungen jedoch nur Sachverhalte erfassen, die in der Vergangenheit liegen482. Sie können dazu eingesetzt werden, um den Zeitraum bis zur Veranlagung des Steuerpflichtigen zu über­ brücken (also für alle Dispositionen, die vor dem BFH-Urteil getätigt wurden), 474

Hummel, MwStR 2016, 4 (13). Nach Erichsen, FS Kruse, S. 39 (59) knüpft das Vertrauen an die Publikation der Verwaltungsvorschrift an (Hervorhebung nur hier). Nur diese und nicht die Verwaltungsvorschrift selbst richte sich an behördenexternes Publikum. 475 Erichsen, FS Kruse, S. 39 (60); Liggenstorfer, Gleichbehandlung im Unrecht, S. 81; Selmer, StKongRep 1974, 83 (108); Möllinger, DStJG 5 (1982), S. 339 (359). Darum grenzt es entgegen Trzaskalik, DStJG 5 (1982), S. 315 (325) nicht an „Doppelzüngigkeit“, wenn norminterpretierende Verwaltungsvorschriften einerseits unbeachtlich sind (weil sie die Gerichte nicht binden), andererseits Vertrauensschutz bei deren Rechtswidrigkeit gewährt wird. 476 Isensee, StuW 1994, 3 (11). 477 Trzaskalik, DStJG 5 (1982), S. 315 (325); Röhrig / Doege, DStR 2006, 161; Rössler, BB 1981, 842 (844). 478 Anderes gilt natürlich für den Richter, der z. B. an eine norminterpretierende Verwaltungsvorschrift nicht gebunden ist. 479 Hey, FS Kirchhof, Bd. II, S. 1657 (1664); Hummel, MwStR 2016, 4 (12). 480 Zu weitgehend aber Hey, FS Kirchhof, Bd. II, S. 1657 (1663), die die Bedeutung von Verwaltungsvorschriften für die Praxis auf das Niveau von Parlamentsgesetzen hebt. 481 Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 163, Rn. 113. 482 Die Übergangsregelung der Verwaltung zum rechtswidrigen Sanierungserlass erfasste richtigerweise nur Fälle vor dem Veröffentlichungsdatum des Beschlusses des Großen Senats, s. BMF, Schreiben v. 27. 4. 2017, BStBl I 2017, 741 f.

§ 5 Die rechtswidrige Verwaltungsvorschrift

119

wenn das Vertrauen schutzwürdig war. Allzu harte Brüche im Vertrauensschutzkonzept, die aufgrund der starren zeitlichen Grenze des § 176 Abs. 2 AO entstehen, können so unter Umständen vermieden werden483. Pro futuro (also für alle Dispositionen, die zeitlich nach dem BFH-Urteil erfolgen) ist uneingeschränkt die zutreffende Auslegung des Gesetzes zugrunde zu legen. Wenn wie hier angenommen wird, dass in seltenen Fällen auf eine rechtswidrige Verwaltungsvorschrift vertraut werden darf, führt dies aber nicht dazu, dass verfassungsrechtlicher Vertrauensschutz (Art. 20 Abs. 3 GG) eine Außenwirkung solcher Verwaltungsregelungen begründet484. Vetrauensschutz kann nämlich nur zur zeitweisen Fortwirkung von etwas führen, was schon einmal bestand (z. B. eine verfassungswidrige Norm). Zwar besitzen ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften mittelbare und normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften unmittelbare Außenwirkung, sodass Vertrauensschutz diese Wirkung temporal verlängern könnte. Die im Steuerrecht bedeutsamen norminterpretierenden Verwaltungsvorschriften entfalten demgegenüber schon bei deren Rechtmäßigkeit keine solche Wirkung485. Vertrauensschutz kann aber nichts begründen, was es nie gab486. Dogmatisch überzeugender erscheint daher eine administrative Lösung.

D. Fazit Die vorstehenden Ausführungen zeigten bei der Realisierung von Vertrauensschutz im Bereich rechtswidriger Verwaltungsvorschriften eine besondere Diskrepanz zwischen der gesetzlichen Regelung des § 176 AO und dem nicht explizit geregelten Vertrauensschutz auf. Während § 176 Abs. 2 AO voraussetzungslos bestandskräftige Steuerbescheide vor der Korrektur abschirmt, die auf einer rechtswidrigen Verwaltungsvorschrift beruhen, können offene Fälle kaum geschützt werden, da der elementare Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) einen Anspruch auf Gleichbehandlung im Unrecht ausschließt. Die Verwaltung kann durch ihre Praxis nicht geltende Gesetze umgehen. Sie muss aber unbestimmte Rechtsbegriffe in Steuergesetzen auslegen und das Steuerrecht vollziehbar machen. Dieser Prozess ist fehleranfällig. Trotz bloßer Innenwirkung der Verwaltungsregelungen verlässt sich der Steuerpflichtige bei seiner Planung auf deren Geltung. Publizierte Verwaltungsvorschriften (und nur diese) entfalten eine 483 Fischer, DStZ 2019, 826 (831) erblickt in den strengen Maßstäben der Rechtsprechung an die Schutzwürdigkeit von Vertrauen in Verwaltungsvorschriften einen Wertungswiderspruch zu § 176 Abs. 2 AO, der tatbestandlich überhaupt keine Schutzwürdigkeit voraussetzt. 484 Maurer, in: HStR IV3, § 79, Rn. 128; Schwarz, Vertrauensschutz, S. 352. So aber Jarass, JuS 1999, 105 (108), der dies für seltene Ausnahmefälle erwägt; Hummel, MwStR 2016, 4 (13 f.). 485 S. hierzu § 5 B. II. 486 Überzeugend Schwarz, Vertrauensschutz, S. 352: Ansonsten würde nämlich „der Gedanke des Vertrauensschutzes erst implantiert [werden], um dann einer Deduktion zugänglich zu sein“.

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1. Teil: Vertrauensschutz nach bisherigem Konzept

Breitenwirkung, weil sie für den Rechtsanwender sogar in gebundener Ausgabe verfügbar sind. Dies legitimiert einen eng gesteckten Vertrauensschutz. Die Voraussetzungen hierfür sind streng, aber nicht so streng, dass die Rechtslage zweifelsfrei sein muss. Erforderlich ist eine gesicherte und langjährige Verwaltungspraxis, die als Richtlinie durch Publikation der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Verwirklicht werden kann ein solcher Vertrauensschutz durch Anpassungsregelungen der Finanzverwaltung. Knüpfen diese zulässigerweise nur an Disposionen an, die in der Vergangenheit liegen, besteht nicht die Gefahr, dass der Wille des Gesetzgebers durch Prolongation der rechtswidrigen Praxis weiter umgangen wird. Die Verwaltung zieht so nicht ihren „Kopf aus der Schlinge“, sondern wickelt Altfälle ab. Insofern kann der Aussage, Vertrauensschutz auf rechtswidrige Steuerrichtlinien erweise sich als „trojanisches Pferd des Rechtsstaats“487, nicht vollends zugestimmt werden. Für das gefunde Ergebnis streitet, dass Vertrauensschutz in rechtswidrige Verwaltungsvorschriften in einigen Ausnahmekonstellationen einerseits zumindest möglich ist, andererseits strenge Maßstäbe488 an eine Lockerung der Gesetzesbindung gestellt werden. So kann ein schonender Ausgleich zwischen dem Vorrang des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG), dem Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und dem Vertrauensschutzprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) erreicht werden. Es gelingt aber im Bereich rechtswidriger Verwaltungsvorschriften kaum, die große Kluft zwischen § 176 Abs. 2 AO und offenen Veranlagungen durch administrative Übergangsregelungen auf Grundlage der §§ 163, 227 AO zu reduzieren, um Unbilligkeiten zu vermeiden, die durch die gesetzliche Anknüpfung an Steuerbescheide entstehen. Dies legt bereits an dieser Stelle der Arbeit nahe, diese Diskrepanz durch eine Aufhebung des § 176 Abs. 2 AO aufzulösen.

487

F. Ossenbühl, DÖV 1972, 25 (29). Nach Fischer, DStZ 2019, 826 (829) besteht aufgrund der hohen Hürden der Rechtsprechung faktisch kein Vertrauensschutz im Vorfeld von Steuerfestsetzungen.

488

Zweiter Teil

Verfassungsmäßigkeit der bisherigen Ausgestaltung von § 176 AO  Anhand einer Fülle von Beispielen wurde bislang verdeutlicht, dass die Anknüpfung an Steuerbescheide für Vertrauensschutz zu unbefriedigenden Ergebnissen führt. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, ob der konkludente Ausschluss von erstmalig erlassenen Steuerbescheiden nur wertungsmäßig nicht überzeugt oder sogar verfassungswidrig ist. Vorab wird die Vertrauensbasis des § 176 AO dargestellt (§ 6). Dann wird erörtert, ob ein Verwaltungsakt der Eingriffsverwaltung geeignet ist, Vertrauen zu vermitteln (§ 7). Anschließend wird geprüft, ob die Beschränkung der Norm auf die Aufhebung oder Änderung von Steuerbescheiden dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) standhält (§ 8).

§ 6 Vertrauensbasis der §§ 172 ff. AO und des § 176 AO Soll geprüft werden, ob ein belastender Steuerbescheid Vertrauen vermitteln kann, muss zunächst eruiert werden, ob das in § 176 AO geschützte Vertrauen überhaupt an einen Steuerbescheid anknüpft oder ob die Norm das Vertrauen in die Rechtslage schützt. Würde § 176 AO den Schutz des Vertrauens in die Rechtslage bezwecken, wäre die Voraussetzung, dass bereits ein Steuerbescheid erlassen wurde, lediglich ein Tatbestandsmerkmal. Ferner stellt die Beantwortung der Frage, welches Vertrauen die Norm schützt, die Weiche für eine Vielzahl von materiellen Einzelfragen. Als erstes genannt werden kann die analoge Anwendung des § 176 AO auf das nachträgliche Bekanntwerden von bereits ursprünglich rechtserheblichen Tatsachen1. Auch bestehen Unschärfen bei Vorbehaltsbescheiden, da bei solchen keine materielle Bestandskraft eingetreten ist2. Zwar soll die formelle Bestandskraft für die Anwendbarkeit der Vorschrift genügen. Wie passt das aber damit zusammen, dass die §§ 172 ff. AO den Eintritt der Bestandskraft überhaupt nicht voraussetzen3? In der Konsequenz dürfte das Finanzamt den Bescheid ab der Bekanntgabe

1

S. § 2  A. I. 3. a) cc). S. § 2  A. II. 2. a). 3 S. § 3  A. II. 2

122

2. Teil: Verfassungsmäßigkeit der bisherigen Ausgestaltung von § 176 AO   

zwar ändern, bis zum Ablauf der Rechtsbehelfsfristen bestünde jedoch kein gesetzlicher Vertrauensschutz. Bildet hingegen die Rechtslage den Vertrauensträger, wäre die Anwendung des § 176 AO auf vorläufige Bescheide nicht unproblematisch, da der Vorläufigkeitsvermerk das Vertrauen in die Rechtslage erschüttert4. Zuletzt sei noch darauf hingewiesen, dass die Forderung nach Bestandskraft als Voraussetzung des § 176 AO dessen Unanwendbarkeit im Einspruchsverfahren nach sich zieht und damit den Steuerpflichtigen zur Rücknahme von Rechtsbehel­ fen zwingen kann5. Die Literatur prüft den exakten Vertrauensträger nicht präzise, geht weitgehend von einem Schutz der Bestandskraft aus6 oder hält dessen Bestimmung teils sogar für entbehrlich7. Teilweise finden sich auch Aussagen, die nicht konsequent sind. Wenn die Rechtslage als Vertrauensträger abgelehnt wird, warum soll dann der in § 176 Abs. 2 AO geregelte Vertrauensschutz darauf basieren, dass die Verwaltungsvorschrift im Bundessteuerblatt oder in anderen Publikationsformaten veröffentlicht wurde, weil sich nur dann Vertrauen bilden konnte8? Dies widerspricht der Logik, denn wenn § 176 AO nur die Beständigkeit eines Verwaltungsakts schützt, ist es irrelevant, ob der Steuerpflichtige die rechtlichen Grundlagen nachvollziehen kann, auf denen der Bescheid basiert. Freilich erscheint es auf den ersten Blick merkwürdig, dass über den „Umweg“ der Bestandskraft etwas geschützt wird, was der Steuerpflichtige nicht kennt9. Das wäre indes schlichte Konsequenz der Norm und könnte nur rechtspolitisch kritisiert werden. Dass die Norm aber auch dann greift, wenn dem Steuerpflichtigen womöglich gar nicht bewusst ist, dass der Steuerbescheid auf einem nichtigen Gesetz beruht, spricht indes gegen die Annahme, dass das geschütze Vertrauen in der Rechtslage zu suchen ist.

A. Rechtslage Für einen Schutz des Vertrauens auf die Rechtslage spricht, dass die Disposition dem Steuerbescheid zeitlich vorangeht, denn üblicherweise erfolgt bei einem Bestandsvertrauen in den Verwaltungsakt die Disposition zeitlich nach dem Erlass des Bescheids (vgl. etwa das Regelbeispiel in § 48 Abs. 2 S. 2 VwVfG, das eine 4

S. § 2  A. II. 2. b). S. § 4  B. I. 2. c). 6 Bartone, in: Kühn / v. Wedelstädt, AO / FGO, § 176, Rn. 2; Rüsken, in: Klein, AO, § 176, Rn. 1. Nebulös hingegen Arndt, Rücknahme und Widerruf, S. 202: Vertrauen in die Bestandskraft von Steuerbescheiden, die durch das Vertrauen in die dem Bescheid zugrundeliegende Rechtslage „verstärkt“ wird. 7 v. Groll, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 176, Rn. 40. 8 Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 176, Rn. 20; v. Wedelstädt, in: Beermann / Gosch, AO / FGO, § 176, Rn. 35 a. E. 9 Für die umgekehrte Situation, dass der Steuerpflichtige seiner Steuererklärung ein bestimmtes Auslegungsergebnis der Rechtsprechung für die Finanzverwaltung nicht erkennbar zugrunde legt, s. § 176 Abs. 1 S. 2 AO. 5

§ 6 Vertrauensbasis der §§ 172 ff. AO und des § 176 AO

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Vertrauensbetätigung voraussetzt10). Die Disposition kann in den Fällen des § 176 AO nur im Vertrauen auf das geltende Recht getätigt worden sein, weil zu diesem Zeitpunkt noch kein Steuerbescheid erlassen wurde. Gegen den Schutz des Vertrauens auf die Rechtslage spricht aber die Anwendbarkeit der Norm in zeitlicher Hinsicht, denn dürfte der Steuerpflichtige z. B. auf die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes vertrauen, ließe sich der Ausschluss des erstmaligen Steuerbescheids vor dem Hintergrund des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) nicht rechtfertigen, denn auch noch nicht veranlagte Steuerpflichtige haben möglicherweise auf die Rechtslage vertraut. Dann müsste die Norm zeitlich an die Disposition oder analog zu der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts an die Entstehung der Steuerschuld (Abschluss des Veranlagungszeitraums)11 anknüpfen, also bereits bei dem erstmaligen Erlass des Steuerbescheids gelten. Auch dürfte § 176 AO das Vertrauen in die Rechtslage nicht voraussetzungslos schützen, also unabhängig davon, ob eine gesicherte Rechtslage bestand und das Vertrauen schutzwürdig war. Dies widerspräche den Grundprinzipien des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes (Art. 20 Abs. 3 GG). Freilich sind diese Argumente nur Indizien und sprechen nicht zwingend für einen Schutz der Bestandskraft, weil der Schluss vom rechtlichen Sollen auf das rechtliche Sein unzulässig ist12. Jedoch würde es überraschen, wenn der Gesetzgeber diese Aspekte bei der Schaffung der Norm nicht bedacht hätte. Tatsächlich geht aber die Gesetzesbegründung davon aus, dass der Vertrauensträger in der Rechtslage zu suchen ist13. Dies als richtig unterstellt könnte vor dem Hintergrund des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) zur Verfassungswidrigkeit des § 176 AO führen, es sei denn, dass durch die Voraussetzung einer abgeschlossenen Veranlagung die Grenzen einer gesetzgeberischen Typisierung eingehalten sind. Das wird noch an anderer Stelle geprüft14. Der Entstehungsgeschichte eines Gesetzes kommt indes für die Gesetzesauslegung keine übergeordnete Bedeutung zu – sie kann nur Zweifel an der Richtigkeit des gefundenen Auslegungsergebnisses

10

Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 48, Rn. 136 und 141 ff. S. zur Differenzierung zwischen echter und unechter Rückwirkung anhand des Abschlusses des Veranlagungszeitraums BVerfGE 132, 302 (319); 135, 1 (13 f.); 148, 217 (255 f.). 12 Vgl. Chr. Morgensterns „unmögliche Tatsache“: „Und er kommt zu dem Ergebnis: Nur ein Traum war das Erlebnis. Weil, so schließt er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf“, zit. nach Chr. Morgenstern, Alle Galgenlieder, 1949, S. 165 f. 13 BT-Drucks. VI/1982, S. 155: „Die Vorschrift soll das Vertrauen des Steuerpflichtigen in eine ihm günstige Gesetzgebung, Rechtsprechung oder Verwaltungsvorschrift schützen, wenn eine Steuerfestsetzung auf diesen Faktoren beruht“ sowie ferner: „Geschützt wird das Vertrauen in die Gültigkeit einer Rechtsnorm, in die Richtigkeit der Rechtsprechung eines Obersten Gerichtshofes eines Bundes und in die Übereinstimmung einer allgmeinen Verwaltungsvorschrift der Bundesregierung, einer obersten Bundes- oder Landesbehörde mit der Rechtslage“ (Hervorhebungen nur hier). Zust. aus der Literatur: Holz, Materielle Bestandskraft, S. 101 f. 14 Vgl. § 8  C. II. 2. a). 11

124

2. Teil: Verfassungsmäßigkeit der bisherigen Ausgestaltung von § 176 AO   

ausräumen oder dessen Richtigkeit bestätigen15. Maßgeblich ist der objektivierte Wille des Gesetzgebers16. Hier kann keine Rede davon sein, dass sich der subjektive Wille des Gesetzgebers im Sinne des Schutzes der Rechtslage durch Verortung des § 176 AO innerhalb der Korrekturvorschriften objektiviert hat17. Eine Auslegung der Vorschrift im Sinne des Schutzes des Vertrauens auf Steuerbescheide ist hingegen durchaus möglich. Die Annahme, dass die Rechtslage im Rahmen des § 176 AO als Vertrauensträger fungiert, überzeugt daher nicht.

B. Formelle Bestandskraft Für den Schutz der Bestandskraftspricht die systematische Stellung des § 176 AO innerhalb der §§ 172 ff. AO. Die Regelungen im dritten Teil des ersten Unterabschnitts des dritten Abschnitts der AO stehen unter der amtlichen Überschrift der Bestandskraft. Zwar treffen die §§ 172 ff. AO streng genommen keine Aussagen zur Bestandskraft von Steuerbescheiden, sondern regeln deren Durchbrechung18. Jedoch sollen diese Vorschriften auch den Prinzipienwiderstreit zwischen Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (diese würde an sich eine unbegrenzte Durchbrechung der Bestandskraft legitimieren) und Vertrauensschutz auflösen19. Auch nach verbreiteter Auffassung im allgemeinen Verwaltungsrecht soll ein Zusammenhang zwischen formeller Bestandskraft und Vertrauensschutz bestehen. Schutzwürdiges Vertrauen basiere auf der Bestandskraft von Verwaltungsakten, und diese bilde den Vertrauensträger20. Richtigerweise wird der Vertrauensschutz durch den Eintritt der formellen Bestandskraft indes weder begründet noch verfestigt. Das folgt daraus, dass die §§ 172 ff. AO, in die der Vertrauensschutz eingearbeitet ist, zwar vordergründig für bestandskräftige Steuerbescheide gelten, solche aber nicht voraussetzen21. Bestandskräftige Bescheide unterliegen weder eigenen Regelungen, noch sind die 15

BVerfGE 59, 128 (153). BVerfGE 59, 128 (153). 17 A. A. Hey, Steuerplanungssicherheit, S. 595 in Fn. 11 unter Auseinandersetzung mit der berechtigen Kritik von Leisner, DStZ 1999, 358 (363). Dass die Norm systematisch bei den Korrekturvorschriften verortet sei, stehe der Annahme nicht entgegen, dass der Gesetzgeber Aussagen zur Schutzwürdigkeit von Vertrauen in die Rechtslage getroffen habe. 18 Bartone, in: Kühn / v. Wedelstädt, AO / FGO, Vor §§ 172–177, Rn. 1; Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, Vor § 172, Rn. 1; Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, Vor §§ 172–177, Rn. 1. 19 v. Groll, in: H / H /Sp, AO / FGO, Vor §§ 172–177, Rn. 1; Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, Vor § 130, Rn. 3. 20 Schwarz, Vertrauensschutz, S. 321 f.; ders., in: Fehling / Kastner / Störmer, VerwR, § 35, Rn. 66; Pieroth, JZ 1984, 971 (978), der in der Bestandskraft den „Kristallisationspunkt“ des Vertrauensschutzes im administrativen Bereich sieht; ders., JZ 1990, 279 (285). Eigens für den Fall des § 176 AO vgl. v. Groll, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 176, Rn. 42, der den Vertrauensträger in der formellen Bestandskraft des Steuerbescheids sieht. 21 Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, Vor §§ 172–177, Rn. 11. A. A. Bartone, in: Kühn / ​v.Wedelstädt, AO / FGO, Vor §§ 172–177, Rn. 10. Näher hierzu § 3 A. II. 16

§ 6 Vertrauensbasis der §§ 172 ff. AO und des § 176 AO

125

Korrekturvorschriften ab diesem Zeitpunkt anders ausgestaltet22. Nach den gesetzlichen Vorschriften knüpft Vertrauensschutz somit gar nicht an die Bestandskraft, sondern an die Wirksamkeit bzw. an die Existenz des Verwaltungsakts an23. Da der Gesetzgeber bei der Abwägung zwischen Vertrauensschutz und Legalität einen weiten Gestaltungsspielraum hat, muss diese gesetzgeberische Entscheidung insoweit respektiert werden. Wenn die Bestandskraft für Vertrauensschutz nach den allgemeinen Vorschriften zur Aufhebung oder Änderung von Verwaltungsakten nicht konstitutiv ist24, stellt sich die Frage, weshalb § 176 AO die Bestandskraft von Steuerbescheiden25 schützen soll. Knüpfen die korrektureröffenden Vorschriften der §§ 172 ff. AO, die als austariertes System Vertrauensschutz durch eine Begrenzung der Korrektur verwirklichen, also einen ambivalenten Regelungskern haben, an die formelle Bestandskraft nicht an, müsste sich ein rechtfertigender Grund finden lassen, weshalb die ausschließlich korrekturbegrenzende Vorschrift des § 176 AO erst ab Unanfechtbarkeit gelten soll. Ein Auseinanderklaffen in zeitlicher Hinsicht zwischen Korrektureröffnung und Vertrauensschutz durch Korrekturbegrenzung wäre eine eigenartige Besonderheit – so gelten etwa die §§ 48, 49 VwVfG, §§ 130, 131 AO einheitlich ab Bekanntgabe. Niemand würde auf die Idee kommen, § 48 Abs. 2 VwVfG so auszulegen, dass die Norm erst ab dem Eintritt der Bestandskraft gilt, § 48 Abs. 1 VwVfG hingegen schon vorher anwendbar ist. Daher formuliert das Gesetz in § 48 Abs. 2 S. 1 VwVfG durchaus konsequent und präzise, dass die Rücknahme ausgeschlossen ist, wenn auf den Bestand (sc. und nicht auf die Bestandskraft) des Verwaltungsakts vertraut werden durfte. Wenn hiergegen eingeworfen wird, dass die Korrekturvorschriften der §§ 172 ff. AO insgesamt den Eintritt der Bestandskraft als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal voraussetzen, überzeugt dies nicht, wie schon an anderer Stelle dargestellt wurde26. Ein sachlicher Grund für die spätere Geltung des § 176 AO lässt sich nicht finden, weil der Steuerpflichtige aus dem Ablauf der Rechtsbehelfsfristen nichts gewinnen, die Bestandskraft den Vertrauensschutz nicht verstärken kann. Es überzeugt nicht, wenn der Steuerpflichtige anlässlich einer ungünstigen Recht 22

S. die präzise Formulierung von Ramsauer, in: Kopp / Ramsauer, VwVfG, § 48, Rn. 1: Die Norm ermöglicht eine Durchbrechung der Wirksamkeit bzw. Bestandskraft von Verwaltungsakten (Hervorhebungen nur hier). Nichts Anderes gilt für die vertrauensschützenden Regelungen in § 48 Abs. 2 und 3 VwVfG, die sowohl für wirksame, als auch für bestandskräftige Verwaltungsakte gelten. 23 Blanke, Vertrauensschutz, S. 164–166, wonach die gesetzliche Ausgestaltung die These widerlegt, dass Vertrauensschutz bei der Aufhebung von Verwaltungsakten auf ihrer Unanfechtbarkeit (formelle Bestandskraft) beruht. Zust. Hey, Steuerplanungssicherheit, S. 744 in Fn. 231. 24 Dies gilt auch im allgemeinen Verwaltungsrecht. Die §§ 48, 49 VwVfG gelten nach ihrem Wortlaut ausdrücklich schon vor Unanfechtbarkeit. 25 Bartone, in: Kühn / v. Wedelstädt, AO / FGO, § 176, Rn. 2; v. Groll, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 176, Rn. 40; Rüsken, in: Klein, AO, § 176, Rn. 1. 26 S. § 3  A. II.

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2. Teil: Verfassungsmäßigkeit der bisherigen Ausgestaltung von § 176 AO   

sprechungsänderung deshalb benachteiligt werden würde, weil die Korrektur des Steuerbescheids einen Tag vor Ablauf der Rechtsbehelfsfristen erfolgt, obwohl er sogar schon veranlagt wurde. Das widerspräche dem Gesetzeszweck des § 176 AO als stetige Korrekturbegrenzung. Da somit die Vertrauensgrundlage des § 176 AO weder in der Bestandskraft noch in der Rechtslage zu suchen ist, liegt diese in der schlichten Existenz des Steuerbescheids. Es ist ausreichend, dass der Verwaltungsakt durch Bekanntgabe in der Welt ist. Danach verwirklichen §§ 172 ff. AO einschließlich § 176 AO Vertrauensschutz. Die stabilisierende Wirkung von Verwaltungsakten, aus der der Vertrauensschutz folgt, entfaltet sich auch ohne den Eintritt der formellen Bestandskraft – es gibt keine „Vertrauensstufung“ von der Wirksamkeit zur formellen Bestandskraft27.

C. Materielle Bestandskraft Auch die materielle Bestandskraft von Verwaltungsakten steht in keinem Zusammenhang mit dem Vertrauensschutz (und damit auch nicht zu § 176 AO), wie noch kurz gezeigt werden soll. Vorab ist problematisch, dass der Begriff der materiellen Bestandskraft unterschiedlich verstanden wird28. Nach teilweise vertretener Auffassung soll die materielle Bestandskraft die Bindung der Behörde an die getroffene Regelung beschreiben29. Diese trete bereits mit der Bekanntgabe, also mit Beginn der Wirksamkeit des Verwaltungsakts (§ 124 Abs. 1 S. 1 AO) ein30. Folgt man dieser Auffassung, würde der Vertrauensschutz im Bereich der Verwaltungsakte an den Begriff der materiellen Bestandskraft anknüpfen, da der Vertrauensschutz ab Bekanntgabe auf eine gesetzliche Grundlage gestellt wird (§§ 172 ff. AO). Das wäre indes schlichte Konsequenz davon, dass der Zeitpunkt des Eintritts der materiellen Bestandskraft mit dem Bekanntgabezeitpunkt übereinstimmt. Dann hätte das Insitut der materiellen Bestandskraft jedoch keine eigenständige Bedeutung, was vom Gesetz nicht bezweckt sein kann, da die Begriffe nebeneinander verwendet werden (§ 124 AO einerseits und §§ 172 ff AO andererseits)31. Außerdem würden die §§ 172 ff. AO so stets die materielle Bestandskraft durchbrechen. 27

Blanke, Vertrauensschutz, S. 153 ff. S. überzeugend auch Kastner, in: Fehling / Kastner / Störmer, Verwaltungsrecht, § 48, Rn. 43: „Gegenstand […] [des] Vertrauens ist der Fortbestand der rechtlichen Auswirkungen des VA“. 28 Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, Vor § 130, Rn. 2 spricht von „terminologischer Phantasie“; Erichsen / Knoke, NVwZ 1983, 185 (188) sprechen von „terminologischer Unsicherheit“. 29 Koenig, in: Koenig, AO, Vor §§ 172–177, Rn. 4; Ramsauer, in: Kopp / Ramsauer, VwVfG, § 43, Rn. 31; Bartone, in: Kühn / v.Wedelstädt, AO / FGO, Vor §§ 172–177, Rn. 12. 30 Baumeister, in: Obermayer / Funke-Kaiser, VwVfG, § 43, Rn. 13; Frotscher, in: Schwarz / ​ Pahlke, AO / FGO, Vor §§ 172–177, Rn. 5 ff. 31 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, Vor §§ 130–133, Rn. 14; Müller-Franken, in: H / H / Sp, AO / FGO, § 124, Rn. 46.

§ 7 Steuerbescheid als Anknüpfungspunkt für Vertrauensschutz

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Richtigerweise fallen Wirksamkeit und materielle Bestandskraft nicht zusammen, denn die materielle Bestandskraft setzt den Eintritt der formellen Bestandskraft voraus32. Das rührt daher, dass die materielle Bestandskraft in einem objektiven Sinne der Rechtssicherheit und dem Rechtsfrieden dient und die Verbindlichkeit der getroffenen Regelung dadurch verfestigt, dass diese durch den Bürger nicht mehr angefochten werden kann33. Die Bestandskraft verhindert, dass die Regelung der Verwaltung durch den Bürger grenzenlos in Frage gestellt werden kann34. Wenn aber die materielle Bestandskraft erst im Anschluss an die formelle Bestandskraft eintritt, die Korrekturnormen, die den Vertrauensschutz näher ausgestalten, aber schon den Eintritt der formellen Bestandskraft nicht voraussetzen, kann die materielle Bestandskraft den Vertrauensschutz nicht begründen oder verfestigen.

§ 7 Steuerbescheid als gesetzlicher Anknüpfungspunkt für Vertrauensschutz A. Verwaltungsakte als Vertrauensträger Der Verwaltungsakt ist ein „der Verwaltung zugehöriger Ausspruch, der dem Unterthanen gegenüber im Einzelfall bestimmt, was für ihn Rechtens sein soll“35. Als zwischen Bürger und Gesetz geschobener hoheitlicher Akt36 dient er dem Gesetzesvollzug, setzt also die abstrakt-generellen Rechtssätze im Einzelfall um (Konkretisierungsfunktion)37. Ferner soll er die rechtlichen Beziehungen zwischen Staat und Bürger stabilisieren, die er regelt (Stabilisierungsfunktion)38. Das bedeutet, dass der Verwaltungsakt auch dann als „stabile Grundlage“ für Rechte und Pflichten des Bürgers fungiert, wenn er rechtswidrig ist39. Ferner schließt er 32

Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, Vor §§ 130–133, Rn. 14; Holz, Materielle Bestandskraft, S. 34; Erichsen / Knoke, NVwZ 1983, 185 (188); Schemmer, in: Bader / Ronellenfitsch, VwVfG, § 43, Rn. 21. 33 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, Vor §§ 130–133, Rn. 14, 21. 34 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, Vor §§ 130–133, Rn. 21 m. w. N. S. auch Merten, NJW 1983, 1993 (1998): „Es soll endlich Schluß sein“. 35 O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. I, S. 93. 36 Schuppert, Verwaltungswissenschaft, S. 155 unter Bezugnahme auf die Lehre von O. ­Mayer (m. w. N.). 37 Löwer, JuS 1980, 805 (806); Vogel, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 28 (1970), 225 (269); Schwarz, in: Fehling / Kastner / Störmer, VerwR, § 35, Rn. 65; Schuppert, Verwaltungswissenschaft, S. 155 f. 38 Maurer, in: HStR IV3, § 79, Rn. 87; Rüfner, VVDStRL 28 (1970), 187 (205): „Einen Sinn hat der VA, wenn er nicht frei zurücknehmbar ist, sondern das Rechtsverhältnis stabilisiert“; Schwarz, in: Fehling / Kastner / Störmer, VerwR, § 35, Rn. 66; Erichsen / Knoke, NVwZ 1983, 185. 39 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 9, Rn. 41 (Hervorhebung nur hier).

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2. Teil: Verfassungsmäßigkeit der bisherigen Ausgestaltung von § 176 AO   

das Verwaltungsverfahren förmlich ab40. Wie gezeigt, kann schon die Existenz des Verwaltungsakts eine Vertrauensgrundlage und eine Basis für Dispositionen bilden41. Aufgrund seiner soeben genannten Funktionen ist der Verwaltungsakt als Vertrauensbasis besonders tauglich42. Das Gesetz kategorisiert Verwaltungsakte in den §§ 48 f. VwVfG, §§ 130 f. AO anhand der Wirkung der ursprünglich getroffenen Regelung für den Bürger43. Vertrauensschutz kommt nach diesen Regelungen nur bei Verwaltungsakten in Betracht, die den Bürger begünstigen. Die Stundung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 222 S. 1 AO) erfolgt etwa durch rechtsgestaltenden begünstigenden Steuerverwaltungsakt44, auf den § 130 Abs. 2 AO anwendbar ist. Auch Billigkeitsmaßnahmen (§§ 163, 227 AO) sind begünstigende allgemeine Steuerverwaltungsakte, für die § 130 Abs. 2 AO gilt45, sofern kein Widerrufsvorbehalt besteht (vgl. § 163 Abs. 4 S. 1 i. V. m. Abs. 3 S. 1 AO, der eine Rücknahmepflicht normiert46). Am Bestand solcher Verwaltungsakte hat der Steuerpflichtige ein berechtigtes Interesse; das in § 130 Abs. 2 AO verankerte Vertrauensschutzprinzip schränkt die Rücknehmbarkeit solcher Verwaltungsakte ein. Hingegen wird der Steuerpflichtige gegen eine Rücknahme eines belastenden Steuerverwaltungsakts (z. B. eine Prüfungsanordnung nach § 196 AO oder ein Haftungsbescheid gem. § 191 Abs. 1 S. 1 AO47) nichts einwenden (§ 130 Abs. 1 AO). Der Bürger hat hier kein Interesse an der Beständigkeit der Regelung. Wie verhält es sich aber bei Steuerbescheiden, die dem Steuerpflichtigen eine Zahlungspflicht auferlegen (also belastend wirken) und für welche §§ 130, 131 AO nicht gelten (§ 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 lit. d AO)?

B. Eignung des Steuerbescheids (belastender Verwaltungsakt) als Vertrauensträger im Rahmen des § 176 AO Die Norm des § 176 AO knüpft anders als andere vertrauensschützende Normen im Bereich der Aufhebung und Änderung von Verwaltungsakten an den Bürger belastende Verwaltungsakte an. Belastende Verwaltungsakte sind solche, die Pflichten oder Nachteile begründen oder bestätigten sowie solche, die Rechte aufheben oder nachteilig verändern48. Steuerbescheide begründen Zahlungspflichten, auch 40

Schuppert, Verwaltungswissenschaft, S. 157. S. Weber-Dürler, Vertrauensschutz, S. 181 f. und § 6 der Untersuchung. 42 Weber-Dürler, Vertrauensschutz, S. 181. 43 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 130, Rn. 17. 44 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 130, Rn. 59; Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 222, Rn. 1. 45 v. Groll, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 163, Rn. 136. 46 Kritisch zur Neuregelung aufgrund fehlenden Vertrauensschutzes Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 163, Rn.  25d. 47 S. den Beispielskatalog zu belastenden Steuerverwaltungsakten bei Wernsmann, in: H / H / Sp, AO / FGO, § 130, Rn. 41. 48 Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 130, Rn. 18a. 41

§ 7 Steuerbescheid als Anknüpfungspunkt für Vertrauensschutz

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wenn die Steuerfestsetzung für die Entstehung des Steueranspruchs nicht konstitutiv ist (§ 38 AO)49. Sollte Vertrauensschutz für solche Bescheide nicht in Betracht kommen, würden die §§ 172 ff. AO nicht den Ausgleich zwischen Legalität des Verwaltungshandelns und subjektivem Vertrauensschutz regeln, sondern „nur“ den Ausgleich zwischen Gesetzmäßigkeit und objektiver Rechtssicherheit in dem Sinne, dass der Rechtsfrieden vorbehaltlich einer Korrektureröffnung die weitere Verbindlichkeit einer rechtswidrigen Verwaltungsentscheidung legitimiert. Im Schrifttum wird hingegen an der These gerüttelt, dass Bescheide, die dem Bürger eine Zahlungspflicht auferlegen, originär belastende Verwaltungsakte sind, um Vertrauensschutz realisieren zu können. Der Ansatz ist also ein anderer. Anstatt zu fragen, ob auch belastende Regelungen als Vertrauensgrundlage taugen, wird dem Verwaltungsakt ein begünstigendes Element verliehen. Dies ist Folge davon, dass §§ 130 Abs. 1, 131 Abs. 1 AO keine Regelungserweiterung zulassen und die jeweiligen Abs. 2 die Aufhebungsbefugnis der Behörden nur bei begünstigenden Verwaltungsakten einschränken. Die Problematik soll folgendes Beispiel50 verdeutlichen: Verwaltungsakt mit Mischwirkung Die Behörde erlässt nach nach § 191 Abs. 1 S. 1 AO einen Haftungsbescheid über € 50.000,– (erster Verwaltungsakt), stellt aber später fest, dass sich die zutreffende Haftsumme in Bezug auf denselben Haftungsgrund auf € 100.000,– beläuft. Sodann erlässt sie einen Haftungsbescheid über € 100.000,– (dritter Verwaltungsakt). Da dem weiteren Erlass eines Haftungsbescheids die Bestandskraft des ursprünglichen Bescheids entgegensteht, nimmt sie diesen zurück (zweiter Verwaltungsakt), fasst aber Rücknahme und Neuerlass in einem Bescheid zusammen.

Weil die §§ 130, 131 AO die Erweiterung der Haftungssumme nicht vorsehen, diese nur eine Aufhebung und keine Korrektur von Steuerverwaltungsakten ermöglichen, liegen drei Verwaltungsakte vor. Der erste Bescheid begründet Pflichten bzw. Nachteile und könnte durch den zweiten Bescheid nach § 130 Abs. 1 AO ohne Berücksichtigung von Vertrauensschutz zurückgenommen werden. Sodann könnte die Behörde im dritten Bescheid eine völlig neue Regelung (Zahlungspflicht von € 100.000,–) treffen51. Im Ergebnis könnte der Bürger weitgehend voraussetzungslos höher belastet werden, was als unbefriedigend empfunden wird. Um das Vertrauen auf den ersten Haftungsbescheid als belastenden Verwaltungsakt (!) schützen zu können, wird vorgeschlagen, dem Bescheid insoweit eine begünstigende Komponente zu verleihen, als dass er keine höhere Haftungssumme festsetzt52. Soll die Haftungssumme erhöht werden, hebt der zweite Verwaltungsakt den be 49

Eckhoff, Rechtsanwendungsgleichheit, S. 337. Entnommen von Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 130, Rn. 20; Birk / Desens / Tappe, Steuerrecht, Rn. 406. 51 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 130, Rn. 21 zum gesamten Absatz. 52 Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 9, Rn. 50; Birk / Desens / Tappe, Steuer ­recht, Rn.  406; Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 130, Rn. 11. 50

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2. Teil: Verfassungsmäßigkeit der bisherigen Ausgestaltung von § 176 AO   

günstigenden Teil des ersten Verwaltungsakts („zahle nicht mehr als € 50.000,–“) auf53. Diese Sichtweise, die etwas künstlich wirkend54 ein begünstigendes Element in den aufzuhebenden Verwaltungsakt implantiert, ist ersichtlich von dem Bemühen getragen, das Vertrauen in den Fortbestand des originär belastenden Verwaltungsakts zu schützen, sodass weitere Nachforderungen unzulässig sind. Freilich ließe sich eine solche Zwitterstellung auch auf den Steuerbescheid übertragen, da dieser ebenso wie ein Haftungsbescheid eine Geldzahlungspflicht auslöst. Dann könnte sich der in §§ 172 ff. AO angenomme Vertrauensschutz ebenso wie bei den §§ 130 Abs. 2, 131 Abs. 2 AO daraus legitimieren, dass alle Steuerbescheide den Steuerpflichtigen zumindest auch begünstigen. Andererseits wird vertreten, die Abgrenzung als begünstigend oder belastend bei den §§ 130, 131 AO nicht anhand der Wirkung der ursprünglichen Regelung vorzunehmen, sondern auf die Wirkung der Änderung insgesamt, also auf das Ergebnis abzustellen55. Wird ein an sich belastender Verwaltungsakt aufgehoben, um ihn durch einen zu ersetzen, der einen höheren Geldbetrag festsetzt, so ist dieser Vorgang für den Bürger nachteilhaft, sodass die Regelungen über die Aufhebung begünstigender Verwaltungsakte anwendbar sind, denn die Wirkung ähnelt der Aufhebung eines originär begünstigenden Verwaltungsakts56. Nach wiederum anderer Auffassung ist die Aufhebung (zweiter Verwaltungsakt) des Haftungsbescheids (erster Verwaltungsakt) begünstigend, weil sie die ursprünglich belastende Regelung beseitigt, sodass sich die Aufhebung der Aufhebung durch Neuerlass eines Haftungsbescheids nach § 130 Abs. 2 AO richtet57. Eine andere strenge Position verneint die Schutzwürdigkeit des Vertrauens in Geldzahlungsbescheide und lehnt eine ebenfalls begünstigende Regelung dieser 53

Birk / Desens / Tappe, Steuerrecht, Rn. 406. Insofern inkonsequent Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 9, Rn. 50 und § 11, Rn. 13 sowie Loose, in: Tipke / K ruse, AO / ​ FGO, § 130, Rn. 11, die dem belastenden Verwaltungsakt auch eine begünstigende Wirkung zuschreiben, im Rahmen der Korrektur bei der Weichenstellung begünstigend / belastend aber auf das Ergebnis der Änderung insgesamt und nicht auf die Wirkung der ursprünglichen Regelung abstellen. Stellt man auf das Ergebnis der Änderung ab, bedarf es dem Hilfskonstrukt der Mischwirkung indes nicht, weil es nach dieser Sichtweise auf die Wirkung der Regelung nicht ankommt. Die Auffassung, die Verwaltungsakten eine begünstigende Komponente verleihen will, rührt gerade daher, dass §§ 130, 131 AO streng nach dem Wortlaut auf die Wirkung der Regelung abstellen. 54 Dezidiert Schröder, JuS 1970, 615 (616), der dies als „lebensfremd“ bezeichnet. 55 BVerwGE 143, 87 (107 f.); Wernthaler, Die Korrektur von offenbaren Unrichtigkeiten, S. 194, die auf die Belastungswirkung der Korrektur und nicht auf die Belastungswirkung des Verwaltungsakts abstellen will; Merten, NJW 1983, 1993 (1997); Baumeister, in: Obermayer / Funke-Kaiser, VwVfG, § 48, Rn. 59; Detterbeck, Allgmeines Verwaltungsrecht, S. 227; Intemann, in: Koenig, AO, § 130, Rn. 17; v. Wedelstädt, in: Beermann / Gosch, AO / FGO, § 130, Rn. 37; Werth, in: Kühn / v. Wedelstädt, AO / FGO, Vor §§ 130–132, Rn. 12. 56 v. Wedelstädt, in: Beermann / Gosch, AO / FGO, § 130, Rn. 37; Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 227; Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11, Rn. 13; Werth, in: Kühn / v. Wedelstädt, AO / FGO, Vor §§ 130–132, Rn. 12. 57 BFH BStBl II 1985, 562 (564); Woerner / Grube, Aufhebung und Änderung, S. 28.

§ 7 Steuerbescheid als Anknüpfungspunkt für Vertrauensschutz

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Bescheide ab58. Weil eine dem Verwaltungsakt inhärente Beschränkung („es werden keine Nachforderungen gestellt“) nicht vorliege, sei hinsichtlich des nicht geforderten Geldbetrags keine Regelung ergangen, die aufgehoben werden müsste59. Dem Verwaltungsakt lasse sich nicht die Aussage entnehmen, dass kein höherer Bertrag gefordert werden soll, sodass er rein belastend wirkt60. In der Konsequenz verneint diese Auffassung die Eignung einer belastenden Regelung als Vertrauensträger61. Sie geht davon aus, dass ein solcher nur für begünstigende Verwaltungsakte in Betracht kommt. Aber selbst bei Zugrundelegung dieser Sichtweise bestehen hinsichtlich § 176 AO, der an belastende Steuerbescheide anknüpft, keine verfassungsrechtlichen Bedenken (Art. 20 Abs. 3 GG), da der Gesetzgeber jedenfalls einfachgesetzlich Vertrauensschutz gewähren darf. Auch die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte gewährt Vertrauensschutz bei der sog. „Nacherhebung von Abgaben“ nur sehr restriktiv. Diese erkennt zwar an, dass auch ein belastender Geldzahlungsbescheid Gegenstand des verfassungsrechtlich fundierten Vertrauensschutzes sein kann, jedoch sei die Annahme des Bürgers, dass keine weiteren Nachforderungen gestellt werden, nur bei dem Hinzutreten besonderer Umstände zulässig62. Aber auch wenn solche besonderen Umstände vorliegen, falle die Interessenabwägung aufgrund des Kriteriums der Beitragsgerechtigkeit in der Regel zulasten des Bürgers aus63. Aufgrund dieser strengen Voraussetzungen ist die Nacherhebung von Abgaben auch nach dieser Sichtweise weitgehend zulässig. Richtigerweise besteht zwischen der Wirkung einer Regelung und verfassungsrechtlichem Vertrauensschutz kein zwingender Zusammenhang. Die Eröffnung von Vertrauensschutz im Rahmen administrativen Handelns setzt keinen begünstigenden Verwaltungsakt voraus. Die Geltung des Prinzips ergibt sich allein aus der Stabilisierungsfunktion von Verwaltungsakten, denn bei allen Formen von Verwaltungsakten vertraut der Bürger auf die Verbindlichkeit der getroffenen Regelung und den förmlichen Abschluss des Verwaltungsverfahrens. Die Funktion des Ver 58

Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 48, Rn. 123 f.; BVerwGE 30, 132 (133 f.), das aber eine Einschränkung der Nachforderung über den Grundsatz von Treu und Glauben prüft. 59 Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 48, Rn. 123. Nach VGH Kassel, Beschl. v. 2. 10. 1980 – V TH 13/80, NJW 1981, 596 (597) kann eine solche inhärente Beschränkung nur bei Vorliegen von objektiven Anhaltspunkten gegeben sein, dass von einer höhreren Geldforderung bewusst abgesehen wurde. Ähnlich Stelkens, JuS 1984, 930 (932), wonach sich der Verzicht auf eine höhere Forderung zumindest aus der Begründung des Verwaltungsakts ergeben muss. 60 VGH Kassel, Beschl. v. 2. 10. 1980 – V TH 13/80, NJW 1981, 596 (597); BVerwGE 67, 129 (134), das aber beim Hinzutreten besonderer Umstände Vertrauensschutz auch für belastende Verwaltungsakte für möglich hält; BVerwG, Urt. v. 2. 9. 1999 – 2 C 23/98, NVwZ-RR 2000, 367 (368); Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 48, Rn. 123. 61 So auch die Deutung dieser Rechtsauffassung bei Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11, Rn. 14; Baumeister, in: Obermayer / Funke-Kaiser, VwVfG, § 48, Rn. 60. 62 BVerwGE 67, 129 (133 f.) zum gesamten Absatz. 63 BVerwGE 79, 163 (169 f.) zum gesamten Absatz. Vgl. zu dieser Rechtsprechung auch Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 130, Rn. 25. 

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2. Teil: Verfassungsmäßigkeit der bisherigen Ausgestaltung von § 176 AO   

waltungsakts bildet das Vertrauensfundament. Zwar vertraut der Steuerpflichtige bei leistungsgewährenden Verwaltungakten auch auf den Inhalt der Regelung, sodass bei diesen Wirkung und Funktion dafür streiten, dass der Bürger die Leistung guten Gewissens verbrauchen oder anderweitige Dispostionen tätigen darf (s. auch § 48 Abs. 2 S. 2 VwVfG, der dieses Verständnis voraussetzt). Dort tritt vertrauensbekräftigend die für den Bürger vorteilhafte Regelung hinzu. Primär erweist sich der Verwaltungsakt aber aufgrund seiner Funktion als geeigneter Vertrauensträger. Die dogmatischen Unsicherheiten rund um die Problematik des Erlasses eines stärker belastenden Bescheids rühren daher, dass Vertrauensschutz in den §§ 48, 49 VwVfG, §§ 130, 131 AO unzureichend geregelt ist. Die Probleme ergeben sich dort nur deshalb, weil das Gesetz an die Wirkung der Verwaltungsakte anknüpft, was zumindest für Geldzahlungsbescheide nicht tauglich ist. Aus diesen gesetzlichen Regelungen ist die nicht überzeugende These entstanden, dass Vertrauensschutz nur für begünstigende Verwaltungsakte möglich ist. Daher müsse der belastende Bescheid Mischwirkung haben. Freilich trifft es zu, dass Vertrauensschutz bei einigen belastenden Maßnahmen keine Rolle spielt, nämlich dann, wenn der Bürger kein Interesse am Bestand hat (z. B. bei einer Baubeseitigungsanordnung). Bei Geldzahlungsbescheiden greift das aber nicht, sodass berechtigterweise kritisiert wird, dass die §§ 130, 131 AO für solche Bescheide nicht hinreichend angepasst sind64. Es überzeugt daher, wenn für die Lösung der Problematik eine analoge Anwendung von §§ 130 Abs. 2, 131 Abs. 2 AO vorgeschlagen wird65. So kann an den gesetzlichen Begriffen festgehalten werden66. Außerdem müsste anderweitig nahezu jeder Verwaltungsakt eine Mischwirkung haben67. Im Ergebnis sind nämlich die Positionen, die eine solche Mischwirkung annehmen, von dem Bemühen getragen, das Vertrauen in den ursprünglichen belastenden Verwaltungsakt zu schützen. Vertrauensschutz setzt eine Vertrauensgrundlage voraus, und diese kann eben nur in dem erstmaligen Bescheid gesehen werden. Es macht keinen Unterschied, ob ein begünstigender Verwaltungsakt aufgehoben oder ein belastender Verwaltungsakt zurückgenommen wird, nur um letzteren durch eine noch stärker belastende Regelung zu ersetzen68. Auch der Belastete darf bei einem abgeschlossenen Verwaltungsverfahren davon ausgehen, dass seine finanzielle Planung nicht durch weitere Nachforderungen durcheinandergebracht wird69. Die Regelungen 64 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 130, Rn. 29; Wernthaler, Die Korrektur von offenbaren Unrichtigkeiten, S. 194 f.; v. Wedelstädt, in: Beermann / Gosch, AO / FGO, § 130, Rn. 37; Martens, NVwZ 1983, 130 (132) kritisiert, dass die Kategorisierung in begünstigende oder belastende Regelungen bei Abgabenbescheiden nicht überzeugt; Thiel, JbFfSt 1977/1978, 97 (100 f.). 65 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 130, Rn. 27.  66 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 130, Rn. 24. 67 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 130, Rn. 23. 68 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 130, Rn. 19; Schröder, NJW 1970, 615 (619). 69 Schröder, NJW 1970, 615 (619).

§ 7 Steuerbescheid als Anknüpfungspunkt für Vertrauensschutz

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zur Aufhebung allgemeiner Steuerverwaltungsakte sollten an diese Rechtsrealität angepasst werden. Diese Gedanken lassen sich auch für die Korrekturnormen für Steuerbescheide (§§ 172 ff. AO) fruchtbar machen. § 176 AO fungiert nämlich gerade als Korrektureinschränkung für belastende Steuerbescheide – eben weil diese keine Mischwirkung haben. Dem Steuerbescheid muss keine ambivalente Wirkung (belastend und begünstigend zugleich) zugeschrieben werden, sondern §§ 172 ff. AO dienen durch ihre Einschränkung der Aufhebbarkeit nicht nur dem Rechtsfrieden und der Effizienz der Verwaltung, sondern verwirklichen auch Vertrauensschutz. § 176 AO tritt als weitere explizit geregelte Beschränkung hinzu. Wirksame und belastende Steuerbescheide sind nach allem taugliche Vertrauensträger, sodass die Norm keinen verfassungsrechtlichen Bedenken (Art. 20 Abs. 3 GG) begegnet.

C. Erfordernis der Vertrauensbetätigung In der Literatur wird im Bereich der Gesetzesänderungen lebhaft diskutiert, ob eine kausale Betätigung des Vertrauens Voraussetzung von Vertrauensschutz als Subprinzip des Rechtsstaatsprinzips ist70. Im Steuerrecht wird gefragt, ob der Steuerpflichtige disponiert haben muss71. Darunter versteht man jedes vermögenswirksame Tun, Dulden oder Unterlassen des Bürgers72. Bejaht man eine solche Voraussetzung auch beim Vertrauensschutz für Steuerverwaltungsakte, kann die Verfassungsmäßigkeit von § 176 AO hinterfragt werden, denn die Norm regelt gerade keinen Dispositionsschutz. Zwar mag der Steuerpflichtige vor seiner Veranlagung durchaus vermögenswirksame Handlungen vorgenommen haben. Jedoch nahm er diese im Vertrauen auf die rechtliche Situation und nicht im Vertrauen auf den Steuerbescheid vor. Üblicherweise erfolgt bei Verwaltungsakten die Disposition im Anschluss an ein Bestandsvertrauen auf den Verwaltungsakt (s. auch § 48 Abs. 2 S. 1 VwVfG)73. Der fehlende Dispositionsschutz von § 176 AO resultiert daraus, dass die Norm für den erstmaligen Erlass eines Steuerbescheids nicht anwendbar ist74. Weiter stellt sich bei belastenden Verwaltungsakten das Problem, dass sich nämlich kaum jemals nachweisen lassen wird, dass der Steuerpflichtige gerade deshalb eine Vermögensverschiebung vornahm, weil er darauf vertraute, 70

Blanke, Vertrauensschutz, S. 45, der eine Dispostion voraussetzt, aber keine hohen Anforderungen an eine solche stellt; Schwarz, Vertrauensschutz, S. 307 f. bejaht ein Dispositionserfordernis. Für eine abwägungsoffenere Lösung Weber-Dürler, Vertrauensschutz, S. 97 f.: Sofern bedeutende öffentliche Interessen vorliegen, reiche das bloße Vertrauen (also ohne Betätigung) nicht aus. Nach Muckel, Vertrauensschutz, S. 99 ist die Dispostion keine zwingende Voraussetzung, kann aber die Stellung des Bürgers im Rahmen der Abwägung mit öffentlichen Interessen stärken. 71 Dies stellt jedoch nur einen terminologischen Unterschied dar. 72 Erichsen / Brügge, Jura 1999, 155 (161). 73 Erichsen / Brügge, Jura 1999, 155 (161). 74 Hey, Steuerplanungssicherheit, S. 594.

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2. Teil: Verfassungsmäßigkeit der bisherigen Ausgestaltung von § 176 AO   

dass ihm von staatlicher Seite von seinem Vermögen nichts weiter genommen wird75. Der Kausalitätsnachweis würde misslingen. Sowohl bei begünstigenden als auch bei belastenden Verwaltungsakten ist ein Dispositionserfordernis abzulehnen76. Die für Vertrauensschutz relevante (Bindungs-)Wirkung von Verwaltungsakten ergibt sich nämlich im Unterschied zu anderen Vertrauensträgern aus ihrem Charakter selbst77. Der Verwaltungsakt ist als Anknüpfungspunkt für Vertrauensschutz gerade deshalb besonders geeignet, weil er aufgrund seiner fehlerunabhängigen Wirksamkeit den „Schlusspunkt“ des Verwaltungsverfahrens markiert78. Bereits aus der Natur des Verwaltungsakts als abschließende Verwaltungsentscheidung (Abschlussfunktion) ergibt sich, dass der Bürger im Anschluss nicht mehr handeln muss, weil die hoheitliche Entscheidung vergangene Sachverhalte einer Regelung zuführt. Zwar mag der Bürger im Vertrauen auf leistungsgewährende Verwaltungsakte die Leistung verbrauchen. Der Anknüpfungspunkt für Vertrauensschutz liegt allerdings nicht in dem Verbrauchen der Leistung, sondern in dem förmlichen Abschluss des Verwaltungsverfahrens. Hiervon getrennt werden muss die Frage, ob der Steuerpflichtige im Vertrauen auf die Rechtslage disponiert haben muss. Da die Untersuchung den Vertrauensschutz de lege ferenda auf den erstmaligen Steuerbescheid erstrecken soll, wird dies später noch geprüft79.

75

Im Sinne einer Beweislastumkehr in Bezug auf ein Kausalitätserfordernis hingegen Arndt, Probleme rückwirkender Rechtsprechungsänderung, S. 84, der in dieser Voraussetzung eine „Farce“ sieht, da sich die Behauptung des Steuerpflichtigen, dass er im Vertrauen auf staatliches Handeln disponiert habe, kaum widerlegen lasse. Blanke, Vertrauensschutz, S. 44 verteidigt die von ihm geforderte Vertrauensbetätigung mit dem Argument, dass sich das subjektive Vertrauen des Bürgers ohne eine solche nur schwer nachweisen lasse. 76 Vgl. aus Perspektive der Schweiz Weber-Dürler, Vertrauensschutz, S. 185, die in der Vertrauensbetätigung nur einen „Gradmesser“ im Rahmen der Interessenabwägung sieht (ähnlich der Regelung des § 48 Abs. 2 S. 2 VwVfG). 77 S. Kisker, VVDStRL 32 (1974), 149 (152 f.); Kuhfus, Die Berichtigung offenbarer Unrichtigkeiten nach § 129 AO, S. 149 f.; Seer, Verständigungen im Steuerverfahren, S. 314, die zwischen abstraktem und konkretem Vertrauensschutz differenzieren. Nur konkreter Vertrauensschutz setze eine Betätigung voraus, der Verwaltungsakt gewähre Vertrauensschutz aber abstrakt, er folge aus seiner Natur selbst. Daher normieren die §§ 172 ff. AO folgerichtig abstrakten Vertrauensschutz, s. Kuhfus, ebd., S. 151. Ihnen zust. Hey, Steuerplanungssicherheit, S. 744. Ähnlich Leisner, FS Berber, S. 273 (280 f.): „Die Bestandskraft existiert, auch wenn sich niemand darauf beruft, niemand sich darauf verlässt“ (nach hier vertretener Auffassung folgt der Vertrauensschutz nicht aus der Bestandskraft, sondern aus der Abschlussfunktion des Verwaltungsakts, s. § 7 B. 78 Hey, Steuerplanungssicherheit, S. 744. 79 Vgl. hierzu noch § 10 B.

§ 7 Steuerbescheid als Anknüpfungspunkt für Vertrauensschutz

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D. Schutzwürdigkeit von Vertrauen I. Keine Voraussetzung des § 176 AO Eine bemerkenswerte Besonderheit des § 176 AO liegt darin, dass das tatsächliche Vorliegen von subjektivem Vertrauen nicht vorausgesetzt wird80. Es spielt für die Norm keine Rolle, ob das Vertrauen schutzwürdig war81, sodass es weder darauf ankommt, ob der Steuerpflichtige bei seiner Planung während des laufenden Veranlagungszeitraums noch beim Erhalt des erstmaligen Steuerbescheids Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes, an der Richtigkeit eines Auslegungsergebnisses der Rechtsprechung oder an einer Verwaltungsauffassung hatte. Die Einzelheiten des Falles werden also vernachlässigt. Betrachtet man das differenzierte Abwägungsmodell der §§ 48, 49 VwVfG, stellt sich die Frage, wodurch sich diese tatbestandliche Offenheit des § 176 AO legitimieren lässt. II. Maßgeblichkeit des Vertrauensträgers 1. Rechtslage Von signifikanter Bedeutung ist hier, welches Vertrauen § 176 AO schützt. Sucht man die Ursache in der Rechtslage82, gibt es Fälle, die nicht schutzwürdig sind, weil der Steuerpflichtige im laufenden Veranlagungszeitraum die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes (z. B. eine verfassungswidrige Steuervergünstigung, § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO) kannte oder kennen musste. Bei der Korrektur wäre er aber dennoch abgesichert und würde die vom Bundesverfassungsgericht zwischenzeitlich kassierte Steuervergünstigung beibehalten. Das erscheint vor dem Hintergrund inkonsequent, als er bereits beim erstmaligen Erlass des Steuerbescheids nicht schutzwürdig gewesen wäre, wenn die Verfassungswidrigkeit der Norm vom Bundesverfassungsgericht bereits vor diesem Zeitpunkt festgestellt worden wäre. Andererseits gibt es Fälle, die schutzwürdig sind, weil der Steuerpflichtige die Verfassungswidrigkeit der Steuervergünstigung nicht kannte oder kennen musste und hypothetisch schon beim ersten Steuerbescheid Vertrauensschutz verdient hätte. Dann erscheint es im Hinblick darauf, dass das Vertrauen in die Rechtslage geschützt sein soll, konsequent, dass der Bürger bei der Korrektur abgeschirmt wird83. 80

Arndt, Rücknahme und Widerruf von Verwaltungsakten, S. 202. Loose, in: Tipke / K ruse, AO / FGO, § 176 Rn. 1; Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 176 Rn. 28; Tiedkte / Szczesny, NJW 2002, 3733 (3737); Rödder / Hageböke, Ubg 2014, 13 (20). 82 BT-Drucks. VI/1982, S. 155; Hey, Steuerplanungssicherheit, S. 596, die den Rechtssatz unter der zusätzlichen Voraussetzung der Existenz eines Steuerbescheids geschützt sieht. 83 Freilich erscheint es aber inkonsequent, dass der Steuerpflichtige für den Fall, dass die Ursache des Vertrauens in der Rechtslage liegt, schon beim Erlass des erstmaligen Steuerbescheids nicht geschützt wird. Das wird noch an anderer Stelle erörtert, s. § 8 C. II. 2. a). Hier geht es nur um die Verfassungsmäßigkeit des § 176 AO für seinen originären Anwendungsbereich, der in der Korrektur von Steuerbescheiden liegt. 81

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2. Teil: Verfassungsmäßigkeit der bisherigen Ausgestaltung von § 176 AO   

Wenn das geschützte Vertrauen des § 176 AO in der Rechtslage zu suchen wäre, würde die Norm diese Unterschiede verwischen. Schutzwürdige und nicht schutzwürdige Fälle wären bei der Korrektur des Steuerbescheids über einen Kamm geschoren und gleichbehandelt, denn würde die Norm zwischen den Fällen differenzieren (also Ungleiches ungleich behandeln), müsste sie darauf abstellen, ob der Steuerpflichtige im laufenden Veranlagungszeitraum bzw. beim Erlass des erstmaligen Steuerbescheids auf die Rechtslage vertrauen durfte. Nur dann erscheint es folgerichtig, dass dem Bürger bei der Korrektur seines Steuerbescheids Vertrauensschutz gewährt wird. Ein unbedingter Vertrauensschutz auf ein nichtiges Gesetz ist nämlich mit dem Vertrauensschutzprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG), das mit dem Legalitätsprinzip (§ 85 S. 1 AO, Art. 20 Abs. 3 GG) in schonenden Ausgleich gebracht werden muss, nicht zu vereinbaren. Zwar ist der Gesetzgeber befugt, durch typisierende Normen Ungleiches im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) gleich zu behandeln, wenn der realitätsgerechte Fall zutreffend abgebildet wird84. Die Typisierung ist unabhängig davon, ob der Gesetzgeber einen Vereinfachungszweck erkennbar verfolgt (anders als bei Lenkungsnormen85), ein rechtfertigender Grund für die Gleichbehandlung86. Die Anknüpfung an die bloße Existenz eines Verwaltungsakts ist indes völlig ungeeignet, den realitätsgerechten Fall der Schutzwürdigkeit von Vertrauen in die Rechtslage zutreffend abzubilden. 2. Existenz des Steuerbescheids Sucht man die Ursache des geschützten Vertrauens hingegen richtigerweise in der Existenz des Steuerbescheids87, stellt sich die Frage, weshalb § 176 AO anders als z. B. § 48 Abs. 2 VwVfG auf eine Interessenabwägung verzichtet. Kollidierende Verfassungsgüter sind hier der Vertrauensschutz und das Legalitätsprinzip. Letzteres würde es gebieten, die zwischenzeitlich durch den BFH für richtig erkannte Gesetzesauslegung bei der Korrektur von Steuerbescheiden zugrunde zu legen. Andererseits hat der Staat mit dem Erlass eines Verwaltungsakts eine bedeutsame Vertrauensgrundlage geschaffen. Vertrauensschutz gebietet insoweit die Selbstbindung des Staats an diese Vertrauensgrundlage88. Zwar kommt dem Gesetzmäßigkeitsprinzip eminente Bedeutung zu, da es mit Rechtsstaatlichkeit nicht zu vereinbaren wäre, wenn die Finanzbehörden bei der Korrektur von Steuerbescheiden 84 BVerfGE 139, 285 (313); 145, 106 (146); 148, 147 (202); Tipke, StRO I, S. 349; Eckhoff, Rechtsanwendungsgleichheit, S. 87 ff.; Wollenschläger, in: v.  Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 3, Rn. 204. 85 BVerfGE 117, 1 (32); 135, 126 (151 f.); 143, 246 (377). Wernsmann, Verhaltenslenkung, S. 241 spricht von einem „subjektiven Einschlag in die Rechtfertigungsanforderungen“. 86 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 4, Rn. 451 ff. 87 S. hierzu ausführlich § 6 B. der Untersuchung. 88 Muckel, Vertrauensschutz, S. 108.

§ 7 Steuerbescheid als Anknüpfungspunkt für Vertrauensschutz

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zu einer gesetzwidrigen Entscheidung gelangen müssten89. Die vollziehende Gewalt ist keine „entfesselte Gewalt“, sondern hat eine rechtsgebundene Funktion90. Jedoch ist auch Vertrauensschutz ein Prinzip von Verfassungsrang, sodass das Gesetz den Widerstreit dieser gleichrangigen Prinzipien durch eine Werte- und Interessenabwägung auflösen, also praktische Konkordanz herstellen muss91. Vertrauensschutz steht somit unter dem Vorbehalt eines gegenläufigen überwiegenden öffentlichen Interesses92. Fällt die getroffene Abwägung zugunsten des Vertrauensschutzes aus, trifft die Finanzverwaltung keine gesetzwidrige, sondern eine rechtmäßige Entscheidung93. Die Vorschrift des § 176 AO ist jedoch verfassungsrechtlich (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht deshalb problematisch, weil sie keinen Auftrag an die Exekutive normiert, die Schutzwürdigkeit des Vertrauens bei der Korrektur des Steuerbescheids zu prüfen, da die Abwägung der geschilderten Verfassungsprinzipien bereits vom Gesetzgeber durch die (enge) Formulierung der Tatbestandsmerkmale vorgenommen wurde. § 176 AO greift nämlich nur punktuell in vier geregelten Fallgruppen, wohingegen § 48 Abs. 2 S. 1 VwVfG durch das abwägungsoffene System einen weiten Tatbestand aufweist, der durch ein Regelbeispiel (§ 48 Abs. 2 S. 2 VwVfG) und durch Ausschlussgründe (§ 48 Abs. 2 S. 3 VwVfG) konkretisiert wird. Auf die Interessen- oder Werteabwägung kann im Rahmen des § 176 AO aufgrund des engen Tatbestands verzichtet werden. Auch andere Normen folgen diesen Schema – so regeln § 49 Abs. 2 S. 1 VwVfG und die §§ 130 Abs. 2, 131 Abs. 2 S. 1 AO konkrete Voraussetzungen für die Einschränkung der Aufhebbarkeit von Verwaltungsakten. Schließlich kodifizieren auch die korrektureröffnendnen Vorschriften der §§ 172 ff. AO das Abwägungsergebnis der widerstreitenden Verfassungsprinzipien durch die Formulierung enger Tatbestände. Vertrauensschutz wird nach diesen Normen schon dadurch realisiert, dass sie z. B. die Aufhebung des Bescheids aufgrund eines nichtigen Steuergesetzes nicht erlauben.

E. Fazit Die vorstehende Darstellung verdeutlichte, dass Vertrauensschutz nicht nur für solche Verwaltungsakte in Betracht kommt, die den Einzelnen begünstigen. Die gesetzliche Kategorisierung in den §§ 48, 49 VwVfG und in den §§ 130, 131 AO anhand der Wirkung des ursprünglichen Verwaltungsakts überzeugt jedenfalls 89

Weber-Dürler, Vertrauensschutz, S. 153 f. Stern, Staatsrecht I, § 20 IV 4, S. 801. 91 Weber-Dürler, Vertrauensschutz, S. 154 f.; Blanke, Vertrauensschutz, S. 102; Muckel, Vertrauensschutz, S. 106. 92 Muckel, Vertrauensschutz, S. 104. 93 Burmeister, FS Friauf, S. 759 (776). 90

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2. Teil: Verfassungsmäßigkeit der bisherigen Ausgestaltung von § 176 AO   

für Geldzahlungsbescheide nicht. Völlig zu Recht wird daher kritisiert, dass diese Normen für solche Bescheide nicht hinreichend angepasst sind. Belastenden Verwaltungsakten muss kein begünstigendes Element verliehen werden, denn der Vertrauensschutz folgt nicht aus der Wirkung der Regelung, sondern aus der Funktion des Verwaltungsakts. Die Stabilisierungsfunktion taugt in besonderem Maße als Vertrauensfundament. Aus der Abschlussfunktion ergibt sich, dass der Bürger nicht zwingend im Vertrauen auf den Bestand des Verwaltungsakts disponiert haben muss. Daraus folgt, dass § 176 AO, der Vertrauensschutz für belastende Steuerbescheide normiert, insoweit nicht verfassungswidrig ist.

§ 8 Vereinbarkeit des § 176 AO mit dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG)  Bislang wurde festgestellt, dass § 176 AO hinsichtlich der Regelung von Vertrauensschutz für abgeschlossene Veranlagungen verfassungskonform ist. Als problematisch erweist sich aber vor dem Hintergrund des Gleichheitssatzes die Tatsache, dass eine große Gruppe von Steuerpflichtigen vom Schutz der Vorschrift ausgenommen ist. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, ob die Relation der beiden Vergleichsgruppen (offene Fälle einerseits, abgeschlossene Fälle andererseits) verfassungskonform ist.

A. Struktur des allgemeinen Gleichheitssatzes Der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) wirkt relativ94. Seine Struktur fordert immer einen Vergleich mit einer anderen Gruppe95. Die verschieden behandelten Vergleichsgruppen müssen unter einen gemeinsamen Oberbegriff („genus proximum“) gefasst werden können96. Aus der sog. Ergebnissoffenheit des Gleichheitssatzes folgt, dass nicht die rechtliche Behandlung einer Gruppe an sich verfassungsgemäß und die Behandlung der anderen Gruppe an sich verfassungswidrig ist97. Aussagen über die Gleichheitskonformität lassen sich eben nur über einen Vergleich zwischen beiden Personengruppen treffen98, und daher ist es für Art. 3 Abs. 1 GG irrelevant, dass § 176 AO für sich genommen den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Vertrauensschutzes (Art. 20 Abs. 3 GG) genügt99. 94 Maurer, FS Weber, S. 345 (354); Wollenschläger, in: v.  Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 3, Rn. 44. 95 Wernsmann, FR 1999, 242 (245); Sachs, FS Friauf, S. 309 (316) spricht von „Vergleichsakzessorietät“. 96 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 4, Rn. 434. 97 Wernsmann, FR 1999, 242 (246). 98 Wernsmann, FR 1999, 242 (246). 99 S. hierzu § 7

§ 8 Vereinbarkeit des § 176 AO mit dem allgemeinen Gleichheitssatz  

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Nach der sog. „neuen Formel“ ist der Gleichheitssatz verletzt, wenn „eine Gruppe von Normbetroffenen im Vergleich zu einer anderen anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die unterschiedliche Behandlung rechtfertigen können“100. Es können sich für den Gesetzgeber unterschiedliche Grenzen ergeben, die von einem Willkürverbot bis zu einer Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen101. In jüngerer Rechtsprechung bemisst das Bundesverfassungsgericht die Bindungsintenstität nach der Art und des Ausmaßes der gesetzlichen Differenzierung (sog. „stufenlose Prüfung“)102. Bei einem Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG sind alle Regelungen verfassungswidrig, auf denen die Ungleichbehandlung beruht – wegen ihrer Relation zueinander103.

B. Gleichheitswidriger Begünstigungsausschluss Der gleichheitswidrige Begünstigungsausschluss betrifft Fallkonstellationen, in denen einer Personengruppe eine Begünstigung gewährt wird, die einer anderen Personengruppe vorenthalten wird (Art. 3 Abs. 1 GG)104. Die Personengruppe, die den Vorteil erhält, wird gegenüber der anderen Personengruppe bevorzugt105. Die von der Begünstigung ausgeschlossene Gruppe wird benachteiligt. Der Ausschluss einer Gruppe von der Begünstigung kann je nach Regelungstechnik des Gesetzgebers ausdrücklich oder konkludent erfolgen. Beim ausdrücklichen Begünstigungsausschluss gewährt der Gesetzgeber einer Personengruppe in einer Norm einen Vorteil und schließt die andere Gruppe in einer separaten oder in derselben Norm (als Ausnahme formuliert) expressis verbis hiervon aus106. Anders liegt dies beim konkludenten Begünstigungsausschluss. Dort wird der Kreis der 100 BVerfGE 93, 386 (397); 126, 400 (418); Rüfner, in: Bonner Kommentar, GG, Art. 3, Rn. 25; Heun, in: Dreier, GG, Art. 3, Rn. 26. 101 BVerfGE 112, 164 (174); 116, 164 (180); 126, 400 (416); 139, 285 (309); 148, 147 (184). 102 BVerfGE 138, 136 (180); 139, 285 (309); 141, 1 (38); 148, 217 (243). 103 Wernsmann, FR 1999, 242 (245); Desens, DStR 2009, 727 (729). 104 BVerfGE 112, 164 (174); 116, 164 (180); 126, 400 (416); 138, 136 (180); BVerfG (K) v. 31. 10. 2016 – 1 BvR 871/13 = NVwZ 2017, 617 (620); Maurer, FS Weber, S. 345 (348 f.); Ipsen, JZ 1983, 41; Erichsen, Jura 1991, 585 (587). 105 S. Wernsmann, Das gleichheitswidrige Steuergesetz, S. 83 f. zur Terminologie: Das Begriffspaar „Bevorzugung – Benachteiligung“ betrifft die Relation der Vergleichsgruppen. 106 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 109. BVerfGE 105, 73 (110) erklärte etwa § 19 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 und Abs. 2 EStG in der damals geltenden Fassung für verfassungswidrig, da Versorgungsbezüge als Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit erfasst, die Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung jedoch nach § 22 Nr.1 S. 3 lit. a EStG nur mit dem Ertragsanteil besteuert wurden. Dass nur der Ertragsanteil der Renten besteuert werde, sei zur Kompensation von Nachteilen gegenüber Versorgungsbezügen ungeeignet, denn bei etwaigen Ausgleichswirkungen handele es sich um Zufallswirkungen (BVerfG ebd., S. 120 f.), sodass eine „Vergünstigung“ (sc. eine Bevorzugung der Bezieher gesetzlicher Renten) vorliege. Der Gesetzgeber führte also beide Vergleichsgruppen jeweils einer gesonderten Regelung zu, die zu einer Ungleichbehandlung führte, wofür kein sachlicher Grund ersichtlich war.

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2. Teil: Verfassungsmäßigkeit der bisherigen Ausgestaltung von § 176 AO   

Begünstigten enger gesteckt. Anstatt beide Personengruppen zu regeln, wird die nicht begünstigte Gruppe im Gesetz nicht genannt und explizit nur die Gruppe geregelt, die den Vorteil erhält107.

C. Gleichheitswidrige Begünstigung durch § 176 AO? I. Vergleichsgruppen und gemeinsamer Oberbegriff Nach den soeben dargestellten Maßstäben handelt es sich bei § 176 AO um einen solchen konkludenten Begünstigungsausschluss, denn die Norm bevorzugt diejenige Personengruppe, deren Veranlagungen bereits abgeschlossen wurden (im Folgenden Gruppe A). Für die Personengruppe, deren Veranlagung noch nicht abgeschlossen wurde (im Folgenden Gruppe B), regelte der Gesetzgeber keinen Vertrauensschutz. Diese Personengruppe wird durch Nichtregelung (die Gruppe wird im Gesetz an keiner Stelle genannt) benachteiligt. Die Gruppe A wird beim Erlass eines (ändernden) Steuerbescheides begünstigt, denn diese wird bei der Korrektur vor der Anwendung einer gesetzgeberischen Neuregelung infolge Verfassungswidrigerklärung einer Norm oder vor der Anwendung einer zwischenzeitlich verschärften Rechtsprechung abgeschirmt. Bei den Personen der Gruppe B hingegen

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Anschaulich Wernsmann, Das gleichheitswidrige Steuergesetz, S. 85 f. mit Beispielen – dort auch zum vorstehenden Text; Ipsen, JZ 1983, 41. BVerfGE 126, 29 erklärte beispielsweise eine Norm für unvereinbar mit dem Grundgesetz, die einer Personengruppe von Arbeitnehmern ein Rückkehrrecht in den öffentlichen Dienst gewährte, soweit das Arbeitsverhältnis auf einen Träger des Zivilrechts überging, an der die Stadt nicht mehr mehrheitlich beteiligt war. Diese Personengruppe wurde gesetzlich bevorzugt. Die Arbeitsverhältnisse einer anderen Personengruppe gingen ebenso auf einen Träger des Zivilrechts über, was jedoch sachgrundlos kein Rückkehrrecht begründete, da die gesetzlichen Voraussetzungen nicht vorlagen (sc. dieser Fall nicht geregelt war). Diese Personengruppe wurde benachteiligt. Nach BVerfGE 93, 386 war die ungleiche Behandlung von Beamten und Soldaten in integrierten militärischen Stäben bei der Gewährung eines Auslandszuschlags verfassungswidrig. Die Rechtsnorm (§ 55 Abs. 5 S. 6 BBesG i. d. F. des Begleitgesetzes Auswärtiger Dienst, BGAD v. 30. 8. 1990, BGBl. I, S. 1849) sah einen solchen Zuschlag nur für Soldaten vor; die Beamten erwähnte das Gesetz nicht, sodass es sich um einen konkludenten Begünstigungsausschluss handelte. Auch BVerfGE 126, 400 lag ein konkludenter Begünstigungsausschluss zugrunde, wenn und weil gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften vom Versorgungsfreibetrag bei der Erbschaftsteuer ausgeschlossen waren (§ 17 ErbStG i. d. F. der Bekanntmachung v. 27. 2. 1997, BGBl. I, S. 378). Die Norm sah einen solchen explizit nur für Eheleute vor und nannte die ausgeschlossene Personengruppe (Lebenspartnerschaften) nicht (s. zur fehlenden Rechtfertigung BVerfGE ebd., S. 428 f.). In der Terminologie von Wernsmann, Das gleichheitswidrige Steuergesetz, S. 87 war in § 17 ErbStG eine „drittbegünstigende Zusatznorm“ zu sehen. BVerfGE 25, 101 (106) behandelte ebenfalls einen konkludenten Begünstigungsausschluss, wenn und weil nach § 34a EStG in der damals geltenden Fassung Zuschläge, die für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit gewährt wurden, nur dann steuerfrei waren, wenn sie auf gesetzlicher oder tarifvertraglicher Grundlage gewährt wurden. Zuschläge, die auf anderen Rechtsgrundlagen beruhten, waren ohne gesetzliche Erwähnung von der Steuerfreiheit ausgenommen.

§ 8 Vereinbarkeit des § 176 AO mit dem allgemeinen Gleichheitssatz  

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wirken sich diese Ereignisse bei dem Erlass eines (erstmaligen) Steuerbescheides uneingeschränkt zu deren Ungunsten aus. Die Obergruppe dieser beiden Vergleichsgruppen bilden Steuerpflichtige, die im laufenden, zum Zeitpunkt der Rechtsänderung aber bereits abgeschlossenem Veranlagungszeitraum disponiert oder ihre Rechtsverhältnisse auf Grundlage einer fehlerhaften rechtlichen Basis gestaltet haben. Diese lässt sich noch weiter auf diejenigen Personen verengen, die ihre wirtschaftliche Entscheidung im selben Zeitpunkt getroffen haben. Alle Personen der Obergruppe haben gemeinsam, dass der Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis gegen sie im selben Zeitpunkt entstanden ist (§ 38 AO i. V. m. den Einzelsteuergesetzen). II. Rechtfertigung der Ungleichbehandlung Möglicherweise lässt sich die Nichtgewährung von Vertrauensschutz im Erstbescheid aber rechtfertigen. Grundsätzlich müssen Ungleichbehandlungen durch hinreichend gewichtige Sachgründe gerechtfertigt werden, die dem Ziel und dem Ausmaß der Differenzierung angemessen erscheinen108. Vorab zu klären gilt es, „wie gut“ diese Gründe sein müssen. 1. Bindungsintensität des Gleichheitssatzes Der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum verengt sich, wenn sich die Normadressaten nicht durch ihr Verhalten auf die differenzierende Regelung einstellen oder wenn nachteilige Folgen nicht durch eigenes Verhalten abgewendet werden können109. Das ist aus der Sicht des durch die Ungleichbehandlung Benachteiligten zu beurteilen110. Im Rahmen des § 176 AO kann die vom Vertrauensschutz ausgeschlossene (benachteiligte) Personengruppe ihre Veranlagung nicht durch eigenes Verhalten herbeiführen, denn der Abschluss der Veranlagung und damit auch die Realsierung von Vertrauensschutz hängt alleine vom Verhalten und insbesondere von der Arbeitsbelastung der Behörden ab. Nach der Modernisierung des Steuerverfahrens wird der Steuerbescheid sogar automatisiert erlassen (§ 155 Abs. 4 S. 1 AO), sodass der Erlass eines Bescheids überhaupt nicht mehr von menschlichem Verhalten, sondern von einem programmierten Algorithmus abhängt. Dies streitet für eine strenge Bindung an den Gleichheitssatz. Die Anforderungen an den rechtfertigenden Grund steigen weiter mit dem Ausmaß der Ungleichbehandlung111. Ausgehend von diesem Maßstab müssen zur 108

BVerfGE 148, 147 (183 f.); 148, 217 (242); Wendt, NVwZ 1988, 778 (781). BVerfGE 126, 400 (418); 139, 285 (309) 148, 217 (243); F. Wollenschläger, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art.  3, Rn.  143. 110 BVerfGE 138, 136 (185). 111 BVerfGE 138, 136 (181); 139, 285 (310). 109

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2. Teil: Verfassungsmäßigkeit der bisherigen Ausgestaltung von § 176 AO   

Rechtfertigung der durch § 176 AO ausgelösten Ungleichbehandlung strenge Maßstäbe angelegt werden, da die Benachteiligten nicht nur eine kleine Randgruppe bilden. Weiter sprechen die Rechtsfolgen im Sinne einer „Alles oder nichts“-Lösung für ein erhebliches Ausmaß der Ungleichbehandlung, denn während der bevorzugten Gruppe voller und unbedingter Vertrauensschutz gewährt wird, enthält die benachteiligte Gruppe überhaupt keinen gesetzlichen Vertrauensschutz, selbst wenn das Vertrauen in hohem Maße schutzwürdig war, sodass eine strukturelle Abweichung in der Schutzintensität besteht. Das wiegt umso schwerer, als die beiden Personengruppen über erhebliche Gemeinsamkeiten verfügen, wenn und weil sie im laufenden Veranlagungszeitraum im Vertrauen auf die Rechtslage Steuertatbestände erfüllt haben und möglicherweise sogar noch im selben Zeitpunkt disponiert haben. Wie bereits dargestellt, bezieht § 176 AO das Vertrauen zwar in die Existenz eines Verwaltungsakts112, das ändert aber nichts daran, dass im laufenden Kalenderjahr beide Personengruppen nur auf die Rechtslage vertrauen konnten. Das Vertrauen der Bevorzugten auf den Bescheid tritt erst zu einem späteren Zeitpunkt hinzu. Zwar bestehen durchaus administrative Möglichkeiten, auch für die benachteiligte Gruppe Vertrauensschutz zu realisieren113. Diese können jedoch den Gesetzgeber nicht von der Beachtung des Gleichheitssatzes entbinden114. Ferner können Übergangsregelungen der Verwaltung die Auswirkungen der Ungleichbehandlung nur abschwächen, da solche Regelungen durch das Erfordernis der Schutzbedürftigkeit bedingt sind, während § 176 AO weitgehend voraussetzungslos gilt. Auf einer „gleitenden Skala“115 sind somit strenge Anforderungen an den rechtfertigenden Grund zu stellen. 2. Rechtfertigung durch sachbezogene Gründe Ungleichbehandlungen können durch sachliche Gründe gerechtfertigt werden, wenn zwischen den Unterschieden der Gruppen und der differenzierenden Regelung ein innerer Zusammenhang besteht116. Die Differenzierung muss dem verfolgten gesetzlichen Zweck entsprechen117. Die Beantwortung der Frage, ob 112

S. hierzu ausführlich § 6 B. der Untersuchung. Der Gesetzgeber nahm die Lückenhaftigkeit des § 176 AO bewusst in Kauf und wies darauf hin, dass in „einigen Fällen“ Übergangsregelungen aus Billigkeitsgründen nötig sein werden, vgl. BT-Drucks. VI/1982, S. 155. So selten sind diese Fälle indes nicht. 114 Vgl. BVerfGE 148, 217 (248 f.), wonach das Ausmaß der Ungleichbehandlung dadurch reduziert werden kann, dass andere gesetzliche Regelungen die Benachteilung in gewissen Umfang „auffangen“. Daraus ergibt sich, dass mögliche kompensierende Maßnahmen der Verwaltung freilich nicht geeignet sind, Ungleichbehandlungen abzufedern. 115 So die Formulierung von Nußberger, in: Sachs, GG, Art. 3, Rn. 33 zur neuen Rechtsprechung des BVerfG [E 138, 136] zur stufenlosen Prüfung. 116 Rüfner, in: Bonner Kommentar, GG, Art. 3, Rn. 26. 117 Rüfner, in: Bonner Kommentar, GG, Art. 3, Rn. 30. 113

§ 8 Vereinbarkeit des § 176 AO mit dem allgemeinen Gleichheitssatz  

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die durch § 176 AO ausgelöste Ungleichbehandlung gerechtfertigt werden kann, hängt davon ab, ob die Norm das Vertrauen in die Rechtslage oder in den Steuerbescheid schützt. a) Typisierter Schutz des Vertrauens auf die Rechtslage Der Gesetzgeber verfolgte mit der Schaffung der Norm den Zweck, „das Vertrauen des Steuerpflichtigen in eine ihm günstige Gesetzgebung, Rechtsprechung oder Verwaltungsvorschrift zu schützen“118. Ist der Schutzzweck hierin zu sehen, stellt sich die Frage, worin das Differenzierungsziel besteht, denn sowohl die bevorzugte als auch die benachteiligte Gruppe haben auf die Rechtslage vertraut. Dann können Differenzierungsziele nur die Verwaltungsvereinfachung oder die Verwaltungspraktikabilität sein, und diese Ziele können typisierende Normen rechtfertigen119. Das Differenzierungskriterium, nämlich die Anknüpfung an einen bereits erlassenen Steuerbescheid, erscheint praktikabel, leicht zu handhaben und somit zur Verwaltungsvereinfachung geeignet, sodass ein innerer Zusammenhang zwischen Differenzierungsziel und -kriterium besteht. Typisierende Normen müssen weiter nicht nur zur Vereinfachung geeignet, sondern auch erforderlich und angemessen sein sowie den realitätsgerechten Fall zutreffend abbilden, dürfen also keinen atypischen Fall als Leitbild wählen120. Als milderes Mittel kommt die Anknüpfung des § 176 AO an die Schutzwürdigkeit des Vertrauens in die Rechtslage in Betracht, was zu einem konstanteren Schutzniveau zwischen offenen und abgeschlossenen Fällen führen würde. Ein solches Mittel wäre aber nicht gleich geeignet, weil dann die Schutzwürdigkeit des Vertrauens wie auch bei der Schaffung von Anpassungsregelungen von der Verwaltung geprüft werden müsste, sodass sich keine vereinfachende Wirkung einstellen würde. Die Vorteile der Typisierung müssen ferner im rechten Verhältnis zu der damit verbundenen Ungleichheit stehen121. Die Nachteile dürfen nur eine kleine Zahl von Personen betreffen122. Ist die Zahl der Benachteiligten sehr groß, fehlt es jedenfalls an der Angemessenheit der Typisierung123. Wenn hingegen nur in einigen zahlenmäßig begrenzten Fällen unbillige Rechtsfolgen entstehen, führt dies nicht zur Ver 118

BT-Drucks. VI/1982, S. 155. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3, Rn. 34. 120 BVerfGE 139, 285 (313); P. Kirchhof, in: HStR VIII3, § 181, Rn. 130; Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 3, Rn. 147 f.; Rüfner, in: Bonner Kommentar, GG, Art. 3, Rn. 113; Heun, in: Dreier, GG, Art. 3, Rn. 34; Nußberger, in: Sachs, GG, Art. 3, Rn. 108; Tipke, StRO I, S. 349 f. 121 BVerfGE 139, 285 (313); P. Kirchhof, in: HStR VIII3, § 181, Rn. 132; Hey, in: Tipke / Lang, § 3, Rn. 148; Nußberger, in: Sachs, GG, Art. 3, Rn. 109. 122 Wendt, NVwZ 1988, 778 (784); Heun, in: Dreier, GG, Art. 3, Rn. 34; Rüfner, in: Bonner Kommentar, GG, Art. 3, Rn. 114. 123 Rüfner, in: Bonner Kommentar, GG, Art. 3, Rn. 114. 119

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2. Teil: Verfassungsmäßigkeit der bisherigen Ausgestaltung von § 176 AO   

fassungswidrigkeit der Norm, wenn und weil Billigkeitsmaßnahmen (im Einzelfall oder in Gestalt von Gruppenregelungen nach §§ 163, 227 AO) für diese Fälle in Betracht kommen124. Nach diesen Maßstäben darf § 176 AO die Vergleichsgruppen nicht gleichbehandeln, denn der Ausschluss von jeglichem Vertrauensschutz für offene Fälle betrifft eine erhebliche Anzahl von Steuerpflichtigen und nicht nur eine Randgruppe. Praktikabilitätserwägungen können eine solche erhebliche Differenzierung nicht rechtfertigen. Zwar können nicht abgeschlossene Veranlagungen, die von § 176 AO nicht erfasst sind, durch Anpassungsregelungen der Finanzverwaltung geschützt werden. Diese Billigkeitsregelungen erfassen jedoch insbesondere bei Rechtsprechungsänderungen (§ 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AO) nicht nur einige wenige Fälle. Bereits abgeschlossene Veranlagungen stellen auch nicht den realitätsgerechten Fall von schutzwürdigem Vertrauen auf die Rechtslage dar, denn auf Rechtslage wurde im laufenden Veranlagungszeitraum vertraut. Zwar mag auch die von § 176 AO erfasste Personengruppe auf die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes vertraut haben. Jedoch ist eine nachgelagerte Verwaltungsentscheidung (Erlass des Steuerbescheids) kaum ein zuverlässiger Indikator für die Schutzwürdigkeit des Vertrauens in einen anderen Vertrauensträger (Rechtslage) als den Steuerbescheid. Nimmt man also an, dass § 176 AO das Vertrauen der Steuerpflichtigen auf die Rechtslage schützt, kann die Ungleichbehandlung der beiden Personengruppen (offene und abgeschlossene Veranlagungen) nicht gerechtfertigt werden125. b) Schutz des (bestandskräftigen) Steuerbescheids Richtigerweise fußt das von § 176 AO geschützte Vertrauen aufgrund der systematischen Stellung der Norm nicht auf der Rechtslage. Ebenfalls schützt die Vorschrift nicht die Bestandskraft des Steuerbescheids, da der Vertrauensschutz Ausfluss der Abschlussfunktion von Verwaltungsakten ist und die Bestandskraft diesen nicht verfestigen kann126. Es muss also geklärt werden, ob die Existenz eines Steuerbescheids die Ungleichbehandlung der Personengruppen rechtfertigen kann. Dagegen spricht, dass der Steuerpflichtige seine Rechtsverhältnisse im laufenden Veranlagungszeitraum im Vertrauen auf die Rechtslage gestaltet. Ob der Steuerbescheid als nachgelagerte Verwaltungsentscheidung vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (im Fall des § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO) erging, hängt alleine vom Zufall ab. Zufälligkeiten sollten für Vertrauensschutz keine Rolle spie 124

Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 4, Rn. 456; Isensee, StuW 1994, 3 (10); Nußberger, in: Sachs, GG, Art. 3, Rn. 111; F. Wollenschläger, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art.  3, Rn. 208 m. w. N.; Wendt, NVwZ 1988, 778 (784). 125 A. A. Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 176, Rn. 7, der die Norm für verfassungskonform hält, obwohl das Vertrauen auf die Rechtslage bezogen wird (s. ebd., Rn. 5). 126 S. hierzu ausführlich unter § 6 B.

§ 8 Vereinbarkeit des § 176 AO mit dem allgemeinen Gleichheitssatz  

145

len. Das wiegt umso schwerer, als die Personengruppen über viele Gemeinsamkeiten verfügen, wenn und weil sie ihre wirtschaftlichen Entscheidungen sogar im exakt selben Zeitpunkt getroffen haben können, wie schon erörtert wurde127. Die Anknüpfung an Steuerbescheide durch § 176 AO führt in der Folge dazu, dass der „eine Steuerpflichtige womöglich Glück und der andere einfach Pech hatte“128. Zu beachten ist aber, dass dieser harte Bruch in den Rechtsfolgen nicht nur durch § 176 AO, sondern ebenfalls durch die §§ 172 ff. AO ausgelöst wird. Die noch nicht veranlagten Steuerpflichtigen werden insoweit gegenüber veranlagten Steuerpflichtigen benachteiligt, als letzteren Vertrauensschutz auch dadurch gewährt wird, dass die §§ 172 ff. AO die Korrektur des Steuerbescheids für die in § 176 AO aufgezählten Ereignisse nicht erlauben. Das resultiert daraus, dass die korrektureröffnenden Normen sachverhaltsbezogen zu verstehen sind129. Durch dieses Verständnis wird ebenfalls unbedingter Vertrauensschutz realisiert. § 176 AO führt diesen Vertrauensschutz logisch fort, wenn die Bestandskraft durchbrochen wurde, z. B. bei einer Fehlersaldierung (§ 177 AO). Wenn die Norm des § 176 AO häufig kritisiert wird, weil sie zu Brüchen führt und keinen Dispositionsbezug herstellt130, muss das auch für das sachverhaltsbezogene Verständnis der §§ 172 ff. AO gelten. Indiz dafür, dass die Ungleichbehandlung durch § 176 AO gerechtfertigt werden kann, bildet die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die entweder § 79 Abs. 2 BVerfGG bzw. den Regelungsgehalt, der in der Differenzierung zwischen „nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen“ (also bestandskräftigen Verwaltungsakten) und noch „anfechtbaren Entscheidungen“ (bei noch nicht bestandskräftigen Verwaltungsakten) besteht, für verfassungskonform erachtet131. Andererseits führt das Bundesverfassungsgericht für bestimmte Fallkonstellationen aus, dass eine solche Differenzierung „schwerlich sachgerecht“ sei, da der Abschluss des Steuerfalles häufig nicht von Rechtsbehelfen des Bürgers, sondern vom Verhalten der Behörde abhänge132. Diese Kritik lässt sich auch auf § 176 AO übertragen, denn 127

S. § 8  C. II. 1. Schade / Rapp, DStR 2015, 2166 (2170) – dort zum gesamten Absatz. 129 S. § 2  A. I. 3. a) aa). 130 Vgl. z. B. Hey, Steuerplanungssicherheit, S. 594; dies., DStR 2004, 1897 (1904). 131 Nach BVerfGE 7, 194 (196 f.) verstieß § 26 Abs. 5 EStG 1957 (dessen Regelungsgehalt in der getroffenen Differenzierung derjenigen des § 79 Abs. 2 BVerfGG entsprach) nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG). BVerfGE 15, 313 (319 f.) erachtete die Beschränkung des Art. 2 Abs. 7 StÄndG 1960 (die Neuregelung des § 18 EStG betreffend) auf die nicht rechtskräftigen Fälle als verfassungsgemäß. Auch nach BVerfGE 20, 230 (235) ist die Vorschrift verfassungsgemäß. BVerfGE 82, 60 (97) beschränkte die Verpflichtung des Gesetzgebers zur rückwirkenden Neuregelung des Kinderfreibetrages auf die nicht bestandskräftig abgeschlossenen Veranlagungen und erachtet somit den Rechtsgedanken des § 79 Abs. 2 BVerfGG inzidenter als verfassungsgemäß. BVerfGE 82, 198 (208) wiederholte diese Differenzierung nach verfassungswidriger Neuregelung des Kinderfreibetrages. BFH BStBl 1994, 389 wies daraufhin eine Klage ab, die auf Teilhabe an der Neuregelung durch einen Anspruch auf Korrektur des bestandskräftigen Steuerbescheids zielte. 132 BVerfGE 87, 153 (180) zur rückwirkenden gesetzgeberischen Neuregelung des Grundfreibetrages. 128

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2. Teil: Verfassungsmäßigkeit der bisherigen Ausgestaltung von § 176 AO   

der Abschluss der Veranlagung kann vom Steuerpflichtigen nicht beeinflusst werden133. Ist das Differenzierungsmerkmal für den Bürger nicht verfügbar, besteht eine strengere Bindung an den Gleichheitssatz134. Auch wenn die beiden Personengruppen über viele Gemeinsamkeiten verfügen und Vertrauensschutz durch die Anknüpfung an den Veranlagungsstand zum Zufallsprodukt wird, besteht zwischen den Gruppen ein Unterschied von erheblichem Gewicht, nämlich der Erlass des Steuerbescheids. Er stellt einen inneren sachlichen Zusammenhang zwischen der differenzierenden Regelung (bzw. den Rechtsfolgen) und den Verschiedenheiten der Gruppen her135, denn Rechtsfolge des § 176 AO ist die Unabänderlichkeit eines wirksamen Verwaltungsakts aufgrund von Vertrauensschutz. Gerade der Erlass des Steuerbescheids unterscheidet die beiden Gruppen. Die Verschiedenheit der Gruppen muss die unterschiedlichen Rechtsfolgen aber auch nach Art und Außmaß legitimieren können136. Der Unterschied in den Rechtsfolgen besteht darin, dass einer Personengruppe unbedingter Vertrauensschutz gewährt wird und die andere Personengruppe konkludent hiervon ausgenommen ist. Der wirksame Verwaltungsakt kann diesen Unterschied aufgrund seiner besonderen Eignung als Vertrauensgrundlage137 nach Art und Ausmaß noch rechtfertigen, weil er den Schlusspunkt des Verwaltungsverfahrens markiert. Der Steuerpflichtige darf aufgrund der Funktionen des Verwaltungsakts darauf vertrauen, dass der vergangene Sachverhalt einer endgültigen Regelung zugeführt wurde (Abschluss- und Stabilisierungsfunktion). Diese Regelung soll grundsätzlich nicht durch Rechtsänderungen immer wieder in Frage gestellt werden dürfen. Dieser Aspekt fehlt in noch offenen Fällen. Zwar vertrauen beide Personengruppen bei der Gestaltung ihrer Rechtsverhältnisse faktisch auf die Rechtslage. Jedoch tritt bei abgeschlossenen Veranlagungen in rechtlicher Hinsicht noch ein erhebliches Vertrauen in den Steuerbescheid hinzu. Der wirksame Steuerbescheid als Differenzierungskriterium kann sich also trotz hohem Grad und Gewicht der Ungleichbehandlung sowie der hohen Bindungsintensität des Gleichheitssatzes noch „sehen lassen“138.

D. Fazit Die vorstehenden Ausführungen zeigten auf, dass § 176 AO den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) nicht verletzt. Die veranlagte Personengruppe wird zwar gegenüber der Personengruppe, die noch keinen Steuerbescheid erhal 133

Ebenfalls kritisch Trzaskalik, DB 1991, 2255 (2257). S. die Nachweise unter § 8 C. II. 1.  135 Zu dieser Voraussetzung vgl. Wendt, NVwZ 1988, 778 (780 f.). 136 Wendt, NVwZ 1988, 778 (781). 137 S. hierzu § 7 A. und B. 138 So formuliert Wendt, NVwZ 1988, 778 (785) hinsichtlich der Rechtfertigungserfordernisse. 134

§ 8 Vereinbarkeit des § 176 AO mit dem allgemeinen Gleichheitssatz  

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ten hat, dadurch bevorzugt, dass weitgehend voraussetzungsloser Vertrauensschutz gewährt wird. Die vom Schutz ausgenommene Gruppe wird vom Gesetz nicht erwähnt. Das Ausmaß dieser Ungleichbehandlung ist hoch. Ferner kann der Steuerpflichtige den Abschluss der Veranlagung durch die Behörden nicht beeinflussen, sodass eine strenge Bindung an den Gleichheitssatz besteht. Folgt man der Gesetzesbegründung und einem Teil der Literatur, die die Rechtslage als von § 176 AO geschützt sieht, kann die dort getroffene Differenzierung nur auf Verwaltungsvereinfachung zielen. Typisierende Rechtsnormen sind jedoch nur unter gewissen Voraussetzungen zulässig, die hier nicht erfüllt sind, da die Zahl der Benachteiligten sehr groß ist und somit die Vorteile der Typisierung nicht im rechten Verhältnis zu der dadurch resultierenden Ungleichheit stehen. Außerdem stellen abgeschlossene Veranlagungen nicht den realitätsgerechten Fall von schutzwürdigem Vertrauen in die Rechtslage dar. Stellt man beim Vertrauensträger richtigerweise auf den Steuerbescheid ab, liegt kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) vor, da der wirksame Verwaltungsakt die Ungleichbehandlung legitimieren kann. Der Steuerpflichtige darf aufgrund der Stabilisierungsfunktion von Verwaltungsakten in besonderem Maße auf die endgültige Regelung vertrauen. Zwischen den beiden Fallgruppen besteht somit durchaus ein Unterschied von solchem Gewicht, dass die Ungleichbehandlung gerechtfertigt werden kann.

Dritter Teil

Ein Reformvorschlag für Vertrauensschutz Die Vorschrift des § 176 AO kann aufgrund der Anknüpfung an Steuerbescheide rechtspolitisch stark kritisiert werden, sie ist aber nicht verfassungswidrig. Die Abschaffung der Norm würde jedoch nicht zur Gleichbehandlung von offenen und abgeschlossenen Veranlagungen führen (§ 9). Häufig wird der Wunsch geäußert, die Vorschrift auf den erstmaligen Erlass eines Steuerbescheids zu erstrecken1. Einen solchen Regelungsvorschlag soll die Arbeit im Folgenden unterbreiten (§ 10). Es genügt nicht, den Eingangssatz des § 176 AO so zu erweitern, dass die Norm auch für den Erstbescheid gilt2, weil dies zu einem voraussetzungslosen Vertrauensschutz in die Rechtslage führen würde. Ein solcher wäre verfassungsrechtlich unzulässig (Art. 20 Abs. 3 GG). Vielmehr muss für das Festsetzungsverfahren eine eigene Norm geschaffen werden. Da der Reformvorschlag auf die Gewährleistung eines einheitlichen Schutzniveaus zielt, müssen auch die Korrekturvorschriften modifiziert werden (§ 11).

§ 9 Gleichbehandlung der Fallgruppen durch Aufhebung des § 176 AO? Da § 176 AO durch die Anknüpfung an Steuerbescheide zur Ungleichbehandlung zwischen offenen und abgeschlossenen Fällen führt, könnte erwogen werden, die Norm abzuschaffen. Dies würde den Vertrauensschutz jedenfalls nicht negieren, da offene Fälle bereits im derzeitigen Konzept durch die Exekutive und Judikative geschützt werden können. Bei Rechtsprechungsänderungen wird das Vertrauen richtigerweise durch Anpassungsregelungen der Finanzverwaltung geschützt (§§ 163, 227 AO), bei der Verfassungswidrigerklärung von Steuergesetzen kommt eine Fortgeltungsanordnung durch das Bundesverfassungsgericht in Betracht3. Bei einer Eliminierung des § 176 AO können diese Mechanismen auch auf abgeschlossene Veranlagungen übertragen werden. Übergangsregelungen knüpfen an den Veranlagungsstand nämlich nicht an, sodass sie sich im derzeitigen Konzept 1

Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 176, Rn. 71; Rose, Stbg 1999, 401 (409 f.). So aber Rose, Stbg 1999, 401 (409 f.), der de lege ferenda folgende Formulierung des § 176 AO vorschlägt: Beim Erlass, bei der Aufhebung oder bei der Änderung eines Steuerbescheids darf nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden, dass …“ (Hervorhebung nur hier). 3 S. hierzu den ersten Teil der Untersuchung. 2

§ 10 Erstreckung auf den erstmaligen Erlass eines Steuerbescheids  

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mit § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 bzw. Nr. 3 AO überschneiden können, wenn bereits ein Steuerbescheid erlassen wurde. Ebenso ergehen solche Regelungen nicht voraussetzungslos, sondern nur dann, wenn das Vertrauen schutzwürdig ist. Vertrauensschutz würde dann ausschließlich und unabhängig vom Verfahrensstand durch das Bundesverfassungsgericht und durch die Finanzverwaltung realisiert werden. Die Abschaffung des § 176 AO kann die Ungleichbehandlung jedoch nicht in vollem Umfang beseitigen, da auch die korrektureröffnenden Vorschriften (§§ 172 ff. AO) das Vertrauen in den Steuerbescheid dadurch schützen, dass die Korrektur nur unter engen Voraussetzungen zulässig ist4. Durch die Korrekturbegrenzung und ihr sachverhaltsbezogenes Verständnis erzeugen sie Vertrauensschutz und schirmen den Steuerbescheid vor Rechtslageänderungen ab. Dies gilt unabhängig davon, ob das Vertrauen in die Rechtslage schutzwürdig war, weil der Schutz auf der Existenz eines Verwaltungsakts fußt. Außerdem verhindert das Kriterium der Rechtserheblichkeit, welches nun in § 173a AO ausdrücklich verankert ist, dass nachträglich bekannt gewordene Tatsachen (§ 173 Abs. 1 Nr. 1 AO) Eingang in den Steuerbescheid finden, die nach der früheren Rechtsprechung irrelevant waren. Der harte Bruch, der zwischen offenen und abgeschlossenen Veranlagungen besteht, wird also nicht nur durch § 176 AO ausgelöst, sondern gleichermaßen durch die §§ 172 ff. AO. Ein einheitliches Schutzniveau kann also durch die Abschaffung des § 176 AO nicht erreicht werden.

§ 10 Erstreckung auf den erstmaligen Erlass eines Steuerbescheids Im Folgenden soll ein Regelungsvorschlag dargestellt werden, der das Vertrauen bereits bei dem erstmaligen Erlass eines Steuerbescheids schützt. Eine solche Norm muss an die Rechtslage als Vertrauensträger anknüpfen. Das Vertrauen des Steuerpflichtigen muss sich entweder auf ein nichtiges Steuergesetz (A. I.), auf die Richtigkeit und damit auf den Fortbestand einer höchstrichterlichen Rechtsprechung (A.II.) oder auf die Rechtmäßigkeit einer Verwaltungsvorschrift beziehen (A.III.). Ferner muss geprüft werden, ob eine Vertrauensbetätigung (Disposition) zwingende Voraussetzung für Vertrauensschutz ist und somit auch Tatbestandsmerkmal einer Norm de lege ferenda im Festsetzungsverfahren sein muss (B.). Schließlich müssen die Maßstäbe dargestellt werden, die an die Schutzwürdigkeit des Vertrauens zu stellen sind (C.). Sodann soll die konkrete Ausgestaltung der Norm dargestellt (D.) und ein Formulierungsvorschlag unterbreitet werden (E.).

4

S. hierzu ausführlich § 2 A. I. 3.

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3. Teil: Ein Reformvorschlag für Vertrauensschutz 

A. Rechtslage als Vertrauensträger I. Verfassungswidriges Steuergesetz Verfassungswidrige Gesetze (z. B. gleichheitswidrige Steuervergünstigungen) können Grundlage geschützten Vertrauens sein5. Zwar ist anerkannt, dass eine echt rückwirkende neue Norm eine verfassungswidrige Norm zulässigerweise ersetzen darf6. Dies gilt aber nicht für verfassungswidrige Steuerbefreiungen, die eine Basis für Dispositionen des Steuerpflichtigen bilden könnnen7. Das Vertrauen in gleichheitswidrige Normen kann also durchaus schutzwürdig sein, sodass eine rückwirkende Neuregelung für diese Fälle unzulässig ist8. Maßgeblich für die Bestimmung des Vertrauensträgers bei verfassungswidrigen Gesetzen ist die Frage, ob diese bloß vernichtbar (Vernichtbarkeitslehre) oder ipso iure und rückwirkend (bis zum Eintritt der Verfassungskollision) nichtig sind (Nichtigkeitsdogma). Ist ein Gesetz bloß vernichtbar, also bis zur Verfassungswidrigerklärung durch das Bundesverfassunsgericht wirksam, kann die verfassungswidrige Norm selbst die Vertrauensbasis sein9. Ist das Gesetz jedoch von Anfang an nichtig, ohne dass es einer Feststellung durch das Bundesverfassungsgericht bedarf, kann Vertrauensträger nur der Rechtsschein sein, der von der Norm ausgeht10. Anhänger der Vernichtbarkeitslehre argumentieren, dass Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG die Zugehörigkeit der verfassungswidrigen Norm zur Rechtsordnung voraussetzt, weil der Richter nicht zur Vorlage von etwas verpflichtet werden kann, was nicht existiert11. Die Regelung zur Kompetenz über die Entscheidung der Verfassungs 5 Wernsmann, JuS 1999, 1177 (1179); Weber-Dürler, Vertrauensschutz, S. 88; Muckel, Vertrauensschutz bei Gesetzesänderungen, S. 88; Hey, DStJG 27 (2004), S. 91 (100). 6 S. grundlegend BVerfGE 7, 89 (94): „Gerade die rechtsstaatliche Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen […] führt notwendig dazu, daß der Gesetzgeber Verhältnisse, die er […] gesetzlich geregelt glaubte, auf Grund gerichtlicher Entscheidung nicht oder anders geregelt findet, als er annahm; gerade die Rechtsstaatlichkeit kann […] den Gesetzgeber zu rückwirkenden Regelungen [sc. solche, die eine ungültige Norm ersetzen] veranlassen“. 7 BVerfGE 99, 280 (299). Aber auch bei verfassungswidrigen belastenden Normen kann Vertrauensschutz in Betracht kommen. BVerfGE 99, 69 (82 f.) untersagte dem Gesetzgeber aufgrund von Vertrauensschutz die rückwirkende Einbeziehung der bislang befreiten Gruppe in die Belastung. 8 Sehr deutlich BVerfGE 99, 280 (299): „Eine rückwirkende Regelung ist unter dem Gesichtspunkt eines Vertrauensschutzes verfassungsrechtlich nicht angezeigt. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens hatte […] im Vertrauen auf die gewährte Steuerfreiheit der Aufwandsentschädigung die Tätigkeit […] übernommen“ (sc. darin lag die Disposition) und BVerfGE 99, 69 (83): Im vorliegenden Fall ist […] eine rückwirkende Erweiterung des Kreises der Steuerpflichtigen […] wegen des verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbots ausgeschlossen“ (Hervorhebung nur hier). 9 Muckel, Vertrauensschutz, S. 87. 10 Muckel, Vertrauensschutz, S. 87. 11 Söhn, Anwendungspflicht oder Aussetzungspflicht, S. 14; Moench, Verfassungswidriges Gesetz und Normenkontrolle, S. 122 ff.; Böckenförde, Die sogenannte Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze, S. 61 f.

§ 10 Erstreckung auf den erstmaligen Erlass eines Steuerbescheids  

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widrigkeit (Art. 100 GG) trifft aber keine Aussage über die Wirkung bzw. Rechtsfolgen von verfassungswidrigen Normen12. Umgekehrt kann der Begriff der „Gültigkeit“ in Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG für die Rechtsfolge der Nichtigkeit eines verfassungswidrigen Gesetzes und damit für das Nichtigkeitsdogma sprechen13. Gegen die Wirksamkeit einer verfassungswidrigen Norm bis zur Kassation und damit gegen die Vernichtbarkeitslehre spricht weiter, dass das Bundesverfassungsgericht für die Vergangenheit ein folgenloses Unwerturteil aussprechen würde14. Die Vernichtbarkeitslehre ist nach allem abzulehnen, sodass der Steuerpflichtige auf den Rechtsschein der Wirksamkeit einer Norm15 und nicht auf die Existenz einer Norm vertraut. Diese Sichtweise teilt auch das Bundesverfassungsgericht. Nach seiner Rechtsprechung geht von Gesetzen der Rechtsschein der Verfassungsmäßigkeit aus16. Die Schutzwürdigkeit von Vertrauen in die Verfassungsmäßigkeit einer Norm korreliere mit der Verpflichtung des Bürgers, gültige Gesetze zu beachten17. Jedoch wurde festgestellt, dass sich der Bürger nicht auf den Rechtsschein der Norm verlassen darf, wenn an deren Verfassungsmäßigkeit erhebliche Zweifel bestehen18. Dies ist aber eine Frage der Schutzwürdigkeit des Vertrauens19 und lässt die grundsätzliche Eignung von ungültigen Normen als Vertrauensgrundlage nicht entfallen. Verwirklicht wird ein solcher Vertrauensschutz nach derzeitigem Konzept durch eine entsprechende Tenorierung des Bundesverfassungsgerichts20. Anstatt einer „schroffen Nichtigerklärung“21 erklärt es die Norm für unvereinbar mit dem Grundgesetz. Zwar darf die Norm infolge einer Verfassungswidrigerklärung grundsätzlich nicht mehr angewendet werden. Wenn das Vertrauen in den Rechtsschein einer Norm jedoch schutzwürdig ist, muss der Verfassungsverstoß für die Vergangenheit hingenommen werden, sodass eine Fortgeltungsanordnung vom Bundesverfassungsgericht getroffen wird. Der Gesetzgeber darf das verfassungswidrige Steuerprivileg nicht rückwirkend (verfassungskonform) umgestalten22. 12 Wernsmann, Das gleichheitswidrige Steuergesetz, S. 64; Hartmann, DVBl 1997, 1264 (1267). 13 Wernsmann, Das gleichheitswidrige Steuergesetz, S. 64; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 166; Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 379. 14 Wernsmann, Das gleichheitswidrige Steuergesetz, S. 64. 15 Wernsmann, JuS 1999, 1177 (1179); Hey, Steuerplanungssicherheit, S. 301; dies., DStJG 27 (2004), S. 91 (100); Mellinghoff, DStJG 27 (2004), S. 25 (35). 16 BVerfGE 53, 115 (128). 17 BVerfGE 53, 115 (128, 130). Der Bürger dürfe sich auch dann auf die Verfassungsmäßig­ keit einer Norm verlassen, wenn sie mit dem Grundgesetz unvereinbar ist, was aus dem Rechtsstaatsprinzip folge (Art. 20 Abs. 3 GG – in der Ausprägung des Vertrauensschutzes). 18 BVerfGE 13, 215 (224 f); 13, 261 (272); 18, 429 (439); 19, 187 (197); 30, 367 (388); BVerfGE 135, 1 (22). Zum Vertrauensschutz bzgl. nichtiger Rechtsnormen vgl. ausführlich Wernsmann, JuS 1999, 1177 (1178 f.). 19 S. hierzu noch § 10 C. I. 20 S. zu diesem Schutzmechanismus im Einzelnen § 4 B. I. 2. d). 21 P. Kirchhof, StuW 2000, 221 (228). 22 Hey, DStJG 27 (2004), S. 91 (110 f.); dies., Diskussionsbeitrag, DStJG 27 (2004), S. 114 (120).

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3. Teil: Ein Reformvorschlag für Vertrauensschutz 

II. Höchstrichterliche Rechtsprechung Auch die höchstrichterliche Rechtsprechung ist dem Grunde nach als Vertrauensträger tauglich. Das Prozessrecht steht dem nicht entgegen. Nach § 110 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 FGO sind zwar nur die Verfahrensbeteiligten an das Urteil gebunden, jedoch verfügen BFH-Urteile, auch aufgrund ihrer Publikation im Bundessteuerblatt, über erhebliche Breitenwirkung in der Rechtspraxis. Die getroffenen Rechtsaussagen können abstrahiert und auf vergleichbare Fälle angewendet werden23. Nach dem Rechtsgedanken des § 11 Abs. 4 FGO (Vorlage einer Rechtsfrage an den Großen Senat) und des § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 FGO (Zulassung der Revision) hat die Judikative die Aufgabe, das Recht fortbilden. Zwar besteht zu den Parlamentsgesetzen ein Unterschied, weil diese abstrakt-generell wirken und die Rechtsprechung nur die jeweiligen Ausgangsfälle entscheidet. Aber auch die Leitsätze der „Recht-Sprechung“ sind häufig gesetzesähnlich formuliert24. Das Bundesverfassungsgericht konstatiert, dass das Vertrauen in fachgerichtliche Entscheidungen im Vergleich zu gesetzlichen Regelungen aufgrund der richterlichen Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG), die zu einer konstitutionellen Uneinheitlichkeit von Rechtsprechung führt, nur eingeschränkt schutzwürdig ist, anerkennt aber ebenfalls, dass ein solcher Vertrauensschutz unter engen Voraussetzungen prinzipiell möglich ist25. III. Verwaltungsvorschriften Oben26 wurde bereits dargestellt, dass Verwaltungsvorschriften grundsätzlich als Vertrauensträger fungieren können, denn trotz der Tatsache, dass diese nur behördenintern wirken, kommt ihnen aufgrund ihrer Publikation im Bundessteuerblatt eine Breitenwirkung in der Rechtspraxis zu27. Kritiker entgegen, dass die Bedeutung von Verwaltungsvorschriften in der Rechtspraxis nicht größer ist als die von Literaturstimmen28. Wenn wie hier dennoch vereinzelt ein Vertrauensschutz für nicht abgeschlossene Veranlagungen für möglich gehalten wird, werden strenge Anforderungen an einen solchen gestellt. Dieser kommt wegen des fundamentalen Grundsatzes vom Vorrang des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) nur in seltenen Ausnahmefällen in Betracht, z. B. bei einer langjährigen Verwaltungspraxis mit erheblicher Breitenwirkung und auch nur dann, wenn der Steuerpflichtige die 23

Hey, Steuerplanungssicherheit, S. 623. P. Kirchhof, DStR 1989, 263; ders., FR 2016, 530 (535) – Hervorhebung auch dort; Söhn, FR 1971, 222 (224). Zu weitgehend aber Lepsius, JZ 2014, 488 (491), wonach sich die Rechtswirkungen von Urteilen nur noch graduell von Gesetzen unterscheiden. 25 BVerfGE 126, 369 (394 f.); 131, 20 (42). 26 S. § 5 C. II., dort auch m. w. N. 27 Erichsen, FS Kruse, S. 39 (59); Randelzhofer, JZ 1973, 536 (543); Liggenstorfer, Gleichbehandlung im Unrecht, S. 81. 28 S. hierzu mit entsprechenden Nachw. § 5 C. II. 3. 24

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Rechtswidrigkeit der Verwaltungsvorschrift nicht erkennen konnte29. Außerdem muss die gesichterte Verwaltungspraxis der Öffentlichkeit durch Publikation zugänglich gemacht worden sein. Wie bereits dargestellt, schützt § 176 Abs. 2 AO bestandskräftige Bescheide, die auf einer rechtswidrigen Verwaltungsvorschrift beruhen, ohne weitere Voraussetzungen, sodass ein großes Ungleichgewicht in der Schutzintensität zwischen offenen und abgeschlossenen Veranlagungen besteht. Diese Diskrepanz kann nicht durch gesetzliche Anhebung des Schutzniveaus für offene Fälle überwunden werden, weil der Vorrang des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) einen Anspruch auf Gleichbehandlung im Unrecht (Art. 3 Abs. 1 GG) grundsätzlich ausschließt. Da Vertrauensschutz für noch offene Fälle nur in einigen Sonderkonstellationen und unter strengen Voraussetzungen in Betracht kommt, können und müssen diese Fälle nicht gesetzlich erfasst werden. Rechtswidrige Verwaltungsvorschriften werden daher im Folgenden nicht mehr berücksichtigt.

B. Erfordernis einer Disposition? Erörtert werden soll nun, ob verfassungsrechtlicher Vertrauensschutz als Anknüpfungspunkt eine Vertrauensbetätigung voraussetzt. Bejaht man dies, müsste sich eine steuerverfahrensrechtliche Implementierung von Vertrauensschutz de lege ferenda auf Dispositionen beziehen. In der Literatur wird argumentiert, ein Dispositionserfordernis erlaube es, das Vertrauen auf konrekte Sachverhaltselemente zu beziehen, den Vertrauensschutz also handhabbar zu machen30. Zugleich diene es der Abgrenzung zwischen berechtigtem Vertrauen und bloßen Enttäuschungen, Erwartungen und Hoffnungen31, die nicht geschützt sind32, denn durch die Vertrauensbetätigung manifestiert sich das subjektive Vertrauen nach außen33. Diese Externalisierung mag sich zwar als Kriterium zur Kategorisierung der Fälle eignen34. Jedoch besteht in praktischer Hinsicht das Problem, dass die Kausalität zwischen einer Rechtsnorm und den Motiven des Einzelnen (innere Tatsachen) nur schwer ermittelt werden kann35. Nicht berücksichtigt wird weiter, dass ein subjektives Vertrauen durchaus ohne 29

Liggenstorfer, Gleichbehandlung im Unrecht, S. 81. Blanke, Vertrauensschutz, S. 41. 31 Schwarz, Vertrauensschutz, S. 307. 32 Das BVerfG konstatiert in diesem Zusammenhang, dass Vertrauensschutz den Bürger nicht vor jeder Enttäuschung bewahren soll, s. z. B. BVerfGE 127, 1 (17); 127, 31 (47); 127, 61 (76) m. w. N. 33 Blanke, Vertrauensschutz, S. 42. A. A. unter ausdrücklicher Ablehnung der Gegenauffassung Weber-Dürler, Vertrauensschutz, S. 97, da sich das tatsächliche Vertrauen auch ohne Disposition nachweise lasse (allerdings ohne Darstellung, wie dies erfolgen soll). 34 Muckel, Vertrauensschutz, S. 98. 35 Wernsmann, Verhaltenslenkung, S. 406 in Fn 67. 30

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3. Teil: Ein Reformvorschlag für Vertrauensschutz 

Disposition schutzwürdig sein kann36. Der Ausschluss dieser Fälle lässt sich nicht rechtfertigen37, wie die folgende Analyse verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung sogleich zeigen wird. Vermittelnd wird bei fehlender Vertrauensbetätigung vertreten, dass Vertrauensschutz zwar in Betracht kommen kann, jedoch besondere Elemente der Schutzbedürftigkeit hinzutreten müssen38. So soll der verstrichenen Zeit zwischen dem Erlass des Verwaltungsakts und dessen Rücknahme Indizwirkung für die Qualität des Vertrauens zukommen39. Gleich drei Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom selben Tag aus dem Jahr 2010 behandeln Konstellationen, in denen das Vertrauen der Steuerpflichtigen auch ohne Vertrauensbetätigung als schutzwürdig eingestuft wurde40. Im Fall der unecht rückwirkenden Absenkung der Beteiligungsquote bei der Besteuerung der Veräußerungen von privaten Kapitalgesellschaftsanteilen (§ 17 Abs. 1 EStG) von 25 % auf 10 % durch das Steuerentlastungsgesetz 1999–2000–200241 wurde argumentiert, dass die Erstreckung der Neuregelung auf Anteilsveräußerungen, die zwar nach Verkündung des Gesetzes erfolgten, bei denen aber die Wertsteigerungen bis zu diesem Zeitpunkt steuerfrei hätten realisiert werden können, gegen das Vertrauensschutzprinzip verstößt42. Dies ergebe sich daraus, dass die rückwirkende Absenkung der Beteiligungsgrenze für diese Fälle eine konkret verfestigte Vermögensposition entwerten würde43. Das Entstehen einer solchen Position ist bemerkenswerterweise nicht an eine Disposition des Steuerpflichtigen geknüpft44; ausdrücklich wurde hervorgehoben, dass es unerheblich sei, ob der Steuerpflichtige vor der Gesetzesverkündung im Vertrauen auf die Steuerfreiheit des hinzugewonnenen Werts disponiert habe, sei es durch Veräußerung der Anteile oder durch bewusstes Absehen hiervon45. Der ursprüngliche Erwerb der Anteile als Disposition sei ebenfalls irrelevant, da die Hoffnung, einen möglichen Wertzuwachs steuerfrei einnehmen zu können, nicht über die bloße Erwartung hinausgehe, dass sich geltendes Recht nicht ändern werde46, was überzeugt. Im Fall der Verlängerung der Spekulationsfristen des § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 EStG von zwei auf zehn Jahren bei der Veräußerung von Grundstücken durch das eben 36

A. A. Mellinghoff, DStJG 27 (2004), S. 25 (38 f.), der Vertrauensschutz nur für den tätigen Bürger anerkennt. 37 Muckel, Vertrauensschutz, S. 98. 38 Blanke, Vertrauensschutz, S. 43. 39 Blanke, Vertrauensschutz, S. 43. 40 BVerfGE 127, 1; 127, 31; 127, 61. 41 V. 24. 3. 1999, BGBl. I 1999, S. 402. 42 BVerfGE 127, 61 (79). 43 BVerfGE 127, 61 (80). 44 Dieses Beispiel widerlegt die These von Weber-Dürler, Vertrauensschutz, S. 98, dass der Bürger durch Vertrauensschutz nur dann von Nachteilen abgeschirmt werden kann, wenn im Vorfeld „gewisse Vorkehrungen“ (sc. Dispositionen) getroffen wurden, da der Bürger seinen Planungen ansonsten bloße Erwartungen zugrunde legen würde, die nicht geschützt sind. 45 BVerfGE 127, 61 (80). 46 BVerfGE 127, 61 (79).

§ 10 Erstreckung auf den erstmaligen Erlass eines Steuerbescheids  

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schon genannte Steuerentlastungsgesetz 1999–2000–2002 nahm das Bundesverfassungsgericht ebenso einen solchen konkret verfestigten Vermögensbestand an, wenn das Grundstück nach altem Recht erworben wurde und die Zweijahresfrist vor der Verkündung des unecht rückwirkenden Gesetzes bereits abgelaufen war47. Auch hier wurde darauf abgestellt, dass die nach altem Recht entstandenen Wertzuwächse vor der Neuregelung steuerfrei hätten realisiert werden können48. Weiter wurde auch betont, dass es unerheblich sei, ob der Steuerpflichtige im Vertrauen auf den bereits eingetretenen Wertzuwachs entweder durch Veräußerung oder durch bewusste Nichtveräußerung des Grundstücks disponiert habe49. Der dritte Beschluss dreht sich um Tarifbegünstigung des § 34 EStG für Entschädigungen als Ersatz für entgangene oder entgehende Einnahmen (§ 34 Abs. 2 Nr. 2 EStG i. V. m. § 24 Nr. 1 lit. a EStG) – hierunter fallen Abfindungen an den Arbeitnehmer nach Aufhebung des Arbeitsvertrags. Vormals wurden solche Entschädigungszahlungen durch die Anwendung des halben durchschnittlichen Steuersatzes tarifbegünstigt. Durch das Steuerentlastungsgesetz wurde diese Vergünstigung durch die seither geltende Fünftel-Regelung ersetzt, was zu einer erheblichen Mehrbelastung führte. Sofern die Vereinbarung der Entschädigungszahlung (darin liegt eine Disposition) vor der Einbrinung des Gesetzes in den Bundestag getroffen wurde, sei das Vertrauen schutzwürdig, weil die Bestimmung des Steuersatzes für den künftig auszuzahlenden Betrag von erheblicher Bedeutung sei50. Weniger schutzwürdig sei das Vertrauen jener Steuerpflichtiger, die den Abschluss der Entschädigungsvereinbarung nach der Einbringung des Gesetzes in den Bundestag getroffen haben, da ab diesem Zeitpunkt damit gerechnet werden musste, dass sich der Steuersatz ändere51. Soweit das Gesetz auch an Sachverhalte anknüpft, bei denen die Entschädigungvereinbarung zwischen der Einbringung des Gesetzes in den Bundestag und der Verkündung der unecht rückwirkenden Neuregelung getroffen wurde, und die Entschädigung auch in diesem Zeitraum zugeflossen ist, liege jedoch ein Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz (Art. 20 Abs. 3 GG) vor52. Dies ergebe sich daraus, dass es sich bei dem Zufluss der Entschädigung um Einkommen handle, das noch unter Geltung der alten Rechtslage generiert wurde53. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass die Disposition (Abschluss der Vereinbarung) nicht schutzwürdig war, denn ab der Einbringung des Gesetzes musste, wie bereits geschildert, mit der Änderung der Rechtslage gerechnet 47

BVerfGE 127, 1 (21). Verneinend im Fall der rückwirkenden Einführung der Gewerbesteuerpflicht bei Veräußerung von Mitunternehmeranteilen (§ 7 S. 2 Nr. 2 GewStG) BVerfGE 148, 217 (265). 48 BVerfGE 127, 1 (21). 49 BVerfGE 127, 1 (22). 50 BVerfGE 127, 31 (50). 51 BVerfGE 127, 31 (50 f.). 52 BVerfGE 127, 31 (57 ff.). 53 BVerfGE 127, 31 (57).

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3. Teil: Ein Reformvorschlag für Vertrauensschutz 

werden. Das Bundesverfassungsgericht argumentierte, dass sich der Bürger in diesen Fällen auf die Gewährleistungsfunktion des geltenden Rechts verlassen dürfe. Durch den Vollzug der getroffenen Vereinbarung ergebe sich ein konkreter Vermögensbestand. Außerdem habe der Sachverhalt nun einen gesteigerten Grad an Abgeschlossenheit erreicht, sodass die Anknüpfung an diese Fälle durch eine unecht rückwirkende Regelung nur unter engen Voraussetzungen zulässig sei54. Während in den ersten beiden Beschlüssen keine Dispositionen vorlagen, an die angeknüpft werden könnte, lag im dritten Beschluss eine solche zwar vor, jedoch war sie nicht schutzwürdig, da der Gesetzesvorschlag bereits in den Bundes­tag eingebracht worden war. Das Bundesverfassungsgericht begründete und umschrieb diese Konstellationen mit den bis dato neuen Termini der „konkret verfestigten Vermögensposition“ und der „Gewährleistungsfunktion des Rechts“ und behält diese Begrifflichkeiten in einer jüngeren Entscheidung bei55. Diese Figuren stehen für die Erkenntnis, dass Vertrauensschutz und Dispositionsschutz nicht gleichzusetzen sind56. Das Vorliegen einer Disposition spricht zwar für eine besondere Schutzwürdigkeit des Vertrauens57, ist aber nicht konstitutiv. De lege ferenda ist es also nicht erforderlich, dass der Steuerpflichtige sein Vertrauen auf die Rechtslage betätigte.

C. Schutzwürdigkeit von Vertrauen Bisher wurde gezeigt, dass BFH-Rechtsprechung und verfassungswidrige Steuer­ gesetze als Vertrauensträger prinzipiell tauglich sind58. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, in welchen konkreten Fällen das Vertrauen geschützt werden darf. Diese Fälle müssen von einer (abstrakt-generellen) gesetz­lichen Regelung erfasst werden können. Die abzuwägenden Verfassungsgüter sind hierbei das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (§ 85 S. 1 AO, Art. 20 Abs. 3 GG), welches die Finanzbehörden zum Erlass eines rechtmäßigen (Erst-)Bescheids verpflichtet, und das Vertrauensschutzprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG). I. Verfassungswidriges Steuergesetz Auf den Rechtsschein einer verfassungswidrigen Norm kann sich nur berufen, wer auf diesen vertraut hat oder auf diesen vertrauen durfte – das Vertrauen muss also schutzwürdig sein. Ist das Vertrauen schutzwürdig, darf dem Bürger ein 54

BVerfGE 127, 31 (59 f.), dort auch zum vorstehenden Satz. BVerfGE 148, 217 (257). 56 A. A. Mellinghoff, DStJG 27 (2004), S. 25 (38): „Vertrauensschutz ist in erster Linie Dispositionsschutz“. 57 BVerfGE 148, 217 (257). 58 S. § 10 A. 55

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Steuerprivileg (z. B. eine gleichheitswidrige Begünstigung) nicht rückwirkend entzogen werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts soll eine Norm schutzwürdiges Vertrauen des Steuerpflichtigen nicht begründen können, wenn an deren Verfassungsmäßigkeit erhebliche Zweifel bestehen59. Die Literatur verneint die Schutzwürdigkeit, wenn die Verfassungswidrigkeit der Norm offensichtlich ist60. Dieser offene Maßstab wurde als zu unbestimmt kritisiert, da die Grenze zwischen verfassungswidrigen und offensichtlich verfassungswidrigen Normen nur schwer gezogen werden könne61. Gefordert wird ein großzügigerer Maßstab, da es nicht angehe, den Bürger das Risiko der Verfassungswidrigkeit einer Norm tragen zu lassen62. Das „Gesetzescontrolling“ sei ureigene Sache des Parlaments63. Ein höheres Vertrauensschutzniveau bei nichtigen Steuergesetzen sei auch deshalb erforderlich, weil es dem Steuerpflichtigen nicht zumutbar sei, auf einer hypothetisch verfassungsgemäßen Rechtslage zu disponieren64. Dies dürfte auch kaum möglich sein, da es mehrere verfassungskonforme Alternativen geben könne65. Ein niedriges Schutzniveau würde eine Pflicht des Einzelnen zu verfassungskonformen Verhalten contra legem begründen66. Somit, und weil Gesetze die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit in sich tragen, sei es gerechtfertigt, die Schutzwürdigkeit des Vertrauens erst ab der verfassungsgerichtlichen Entscheidung abzulehnen67. 59

Vgl. BVerfGE 13, 215 (224 f) hinsichtlich einer „systemwidrigen und unbilligen Regelung“, die erheblichen verfassungsrechtlichen Zweifeln begegnet. Im Ausgangsfall erachtete das BVerfG die rückwirkende Neuregelung jedoch als zulässig, da die „Mangelhaftigkeit“ der Norm erkennbar war und Gründe des gemeinen Wohls die Neuregelung erforderten. Grundsätzlich sind solche Normen als Anknüfungspunkt für Vertrauensschutz also geeignet. Nebulös BVerfGE 13, 261 (272), wonach der von einer nichtigen Norm erzeugte Rechtsschein nicht immer schutzwürdig ist (Hervorhebung nur hier). Ebenso BVerfGE 18, 429 (439), allerdings ohne Erörterung wann sich der Bürger nicht auf den Rechtsschein einer ungültigen Norm verlassen darf. Deutlich BVerfGE 19, 187 (197 f.): „Es bestanden […] ernsthafte Zweifel, ob [die Norm] nicht […] wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG verfassungswidrig ist. In einem solchen Fall ist dem Gesetzgeber gestattet, die Rechtslage rückwirkend zu klären“ (Hervorhebungen nur hier). In der Sache ebenso BVerfGE 30, 367 (388). S. auch BVerfGE 135, 1 (22), wonach Vertrauensschutz zurücktritt, „wenn das bisherige Recht in einem Maße systemwidrig und unbillig war, dass ernsthafte Zweifel an seiner Verfassungsmäßigkeit bestanden“. 60 P. Kirchhof, StuW 2000, 221 (228). 61 Hey, Steuerplanungssicherheit, S. 301; Mellinghoff, DStJG 27 (2004), S. 25 (35). 62 Leisner, FS Berber, S. 273 (287). 63 So Hey, NJW 2014, 1564 (1566). „Einfache Ungleichbehandlungen“ sollen nicht so offensichtlich sein, dass sie der Bildung von Vertrauen entgegenstünden (zum KAGG-Beschluss des BVerfG [E 135, 1 (25–27]). 64 Hey, Steuerplanungssicherheit, S. 302. Ähnlich Leisner, FS Berber, S. 273 (287): Der Bürger muss mit der „möglicherweise verfassungswidrigen Norm leben“ und Mellinghoff, DStJG 27 (2004), S. 25 (35 f.): Auch wer eine Norm für verfassungswidrig halten sollte, „wird dem Steuerpflichtigen kaum eine andere Handlungsgrundlage benennen können, als das geltende Recht“. 65 Hey, Steuerplanungssicherheit, S. 302. 66 Hey, Steuerplanungssicherheit, S. 302. 67 Hey, DStJG 27 (2004), S. 91 (105).

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3. Teil: Ein Reformvorschlag für Vertrauensschutz 

Diese Kritik ist nicht vollends überzeugend. Es trifft zwar zu, dass eine Rechtsnorm die stärkste Dispositionsgrundlage bildet, was für eine hohe Schutzwürdigkeit spricht. Die Norm ist jedoch nichtig – nicht sie, sondern nur der Schein ihrer Existenz existiert, sodass die Qualität der Vertrauensgrundlage stark eingeschränkt ist. Insofern besteht bereits ein sehr weitgehender Vertrauensschutz, wenn erst erhebliche Zweifel die Schutzwürdigkeit entfallen lassen. Daher würde es überzeugen, wenn eine vertrauensschützende Norm im Festsetzungsverfahren de lege ferenda die Schutzwürdigkeit des Vertrauens ausschließt, wenn an der Verfassungsmäßigkeit der Norm „erhebliche Zweifel“ bestanden. Zwar handelt es sich hierbei um einen unbestimmten Rechtsbegriff, jedoch darf der Gesetzgeber auch solche verwenden, wenn die zu erfassenden Einzelfälle vielschichtig und die zu berücksichtigenden Besonderheiten weit gestreut sind68. Das Bestimmtheitsgebot als Subprinzip des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG)69 steht nur der Verwendung von solchen Tatbestandsmerkmalen entgegen, die nicht nur unbestimmt, sondern unbestimmbar sind70. Freilich kann der Begriff „erhebliche Zweifel“ durch handhabbare Kriterien näher konkretisiert werden. Er verdeutlicht, dass die verfassungsrechtlichen Bedenken jedenfalls ein ge­ wisses Ausmaß erreichen müssen. Es genügt etwa nicht, dass die Norm von einigen wenigen Literaturstimmen für verfassungswidrig gehalten wird. Wenn jedoch die überwiegende Auffassung im Schrifttum die Norm für verfassungswidrig erachtet, kann dies Anlass für gewichtigere Zweifel geben71. Eine solche gleitende Skala kann den vielschichtigen Umständen der konkreten Rechtsänderung Rechnung tragen. Endgültig zerstört ist der Rechtsschein der Gültigkeit der Norm, wenn ein Finanzgericht von der Verfassungswidrigkeit der Norm überzeugt ist und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einholt (Vorlagebeschluss nach Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG)72. Das Vertrauen ist spätestens ab diesem Zeitpunkt nicht mehr schutzwürdig, sodass der Steuerbescheid nicht auf Grundlage der streitigen Norm ergehen darf, wenn das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit feststellt. Bis zu einer rückwirkenden Neuregelung durch den Gesetzgeber, die in solchen Fällen zulässig ist, weil das Vertrauen in den Rechtsschein der Vorschrift nicht schutzwürdig war, kommt eine vorläufige Festsetzung nach § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AO in Betracht.

68

BVerfGE 78, 214 (226) weist darauf hin, dass insbesondere das Steuerrecht nicht ohne unbestimmte Rechtsbegriffe auskommt; Grzeszick, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20, Abschn. VII, Rn. 65. 69 Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 374. 70 Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, Rn. 244; ebenso Birk / Kulosa, FR 1999, 433 (435), die von Auslegungsfähigkeit sprechen (Hervorhebung jeweils auch dort). 71 A. A. BVerfGE 143, 246 (386) und Hey, JZ 2014, 500 (505), wonach Auffassungen im Schrifttum für die Schutzwürdigkeit des Vertrauens keine Rolle spielen. 72 Nach P. Kirchhof, DStR 2015, 717 (721) sollen „ernsthafte Zweifel“, die den Vertrauensschutz entfallen lassen, nur im Fall einer Richtervorlage angenommen werden.

§ 10 Erstreckung auf den erstmaligen Erlass eines Steuerbescheids  

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II. Höchstrichterliche Rechtsprechung Im Zeitpunkt der Gestaltung seiner Rechtsbeziehungen vertraute der Bürger auf die Beständigkeit der bisherigen Rechtsprechung73 und dass diese Rechtsauffassung der Gerichte Maßstab der künftigen Veranlagung sein wird74. Wann aber ist dieses Vertrauen schutzwürdig? Nach Ansicht des BFH darf die Finanzverwaltung vertrauensschützende Übergangsregelungen erlassen (weil in diesen Fällen das Vertrauen schutzwürdig ist), wenn eine gefestigte und langjährige Rechtsauffassung bestand und der Steuerpflichtige nicht mit einer Rechtsprechungsänderung rechnen musste75. Zweifel müssen ihm aber dann kommen, wenn Finanzgerichte oder Literaturstimmen die Richtigkeit der höchstrichterlichen Rechtsprechung infrage stellen bzw. Kritik hieran üben76. Auch nach dem Bundesverfassungsgericht ist das Vertrauen nur bei einer gefestigten und langjährigen Rechtsprechung schutzwürdig77. Dieser strenge Maßstab, an den de lege ferenda angeknüpft werden kann, überzeugt. Zwar kann das Vertrauen in eine durch den BFH konkretisierte Rechtslage schutzwürdig sein, jedoch ist ein solcher Vertrauensschutz restriktiv zu handhaben78, da ein solcher die Rechtslage nicht versteinern darf. Außerdem streitet die richterliche Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) gegen einen weitreichenden Vertrauensschutz. Auch anhand der Rechtsprechung zu den sog. Nichtanwendungsgesetzen lässt sich die zurückhaltende Anerkennung von Vertrauensschutz erkennen79. Danach darf der Gesetzgeber nach einem Rechtsprechungwechsel rückwirkend eine langjährige Rechsprechung wiederherstellen, weil sich kein „hinreichend gefestigtes und damit schutzwürdiges Vertrauen“ habe bilden können80. Der Gesetzgeber muss die Rückkehr zur alten und gefestigten Rechtsprechung lediglich ankündigen und rasch umsetzen81. Der Begriff der „gefestigten und langjährigen Rechtsprechung“ ist als Tatbestandsmerkmal auch bestimmt genug, weil er der Auslegung fähig ist. Wenn an der Rechtsprechung etwa Kritik geübt wird oder Untergerichte häufig abweichend entscheiden, kann von einer „gefestigten“ Rechtsprechung nicht gesprochen werden82. Stimmen die Finanzgerichte jedoch überwiegend zu und lassen sich im Schrift 73

G. Kirchhof, in: H / H /R, EStG / KStG, Einf. EStG, Rn. 340; Hagen, FS Geiß S. 97. Söffing, DStZ 2006, 588. 75 BFH BStBl II 1979, 455 (457); BStBl II 1991, 610 (613); BStBl II 2018, 232 (234); FG Münster, DStR 2012, 502 (505). 76 BFH BStBl II 2018, 232 (234). 77 BVerfGE 72, 302 (326); 122, 248 (278); 126, 369 (395); 131, 20 (42). 78 Ebenso Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 4, Rn. 191. 79 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 4, Rn. 191. 80 BVerfGE 135, 1 (27) m. w. N. Vgl. zu diesem Problemkreis ferner Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 4, Rn.  754. 81 Wernsmann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 4, Rn. 754. 82 So auch BVerfGE 126, 369 (395). 74

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3. Teil: Ein Reformvorschlag für Vertrauensschutz 

tum keine durchgreifenden Gegenargumente finden, spricht das für eine Schutzwürdigkeit des Vertrauens. Nach einer einmaligen Entscheidung des BFH zu einer Rechtsfrage liegt sicherlich noch keine gefestigte Rechtsprechung vor, da nicht klar wäre, ob es sich um eine „unerwartete Auslegungsüberraschung“83 handelt, von der künftig wieder abgewichen wird. Von einer „langjährigen“ Rechtsprechung kann jedenfalls nicht vor ihrem zweijährigen Bestand gesprochen werden. Diese offenen Begriffe erlauben die Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls. So könnte unter Umständen die Schutzwürdigkeit des Vertrauens auch dann bejaht werden, wenn der BFH seine Rechtsprechung trotz Kritik viele Jahre beibehält.

D. Anknüpfungspunkt der gesetzlichen Regelung: Abschluss des Veranlagungszeitraums Häufig wird § 176 AO deshalb kritisiert, weil die Norm in zeitlicher Hinsicht auf den Erlass eines Steuerbescheids abstellt, der Steuerpflichtige seine Dispositionen aber schon früher getätigt habe. Der Erlass des Steuerbescheids sei lediglich ein formaler Akt, der sich als Anknüpfungspunkt für Vertrauensschutz nicht eigne. Daher sei de lege ferenda die Anknüpfung an die Dispostionen zu begrüßen84. Hier besteht jedoch das Problem, dass das abstrakt-generelle Gesetz bereits gesetzestechnisch nicht an die Disposition des Einzelnen anknüpfen, sondern allenfalls eine solche voraussetzen kann. Jedoch ist eine Vertrauensbetätigung keine notwendige Voraussetzung für verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz. Auch das Bundesverfassungsgericht behält die Differenzierung zwischen echter und unechter Rückwirkung trotz laut gewordener Kritik85 expliztit bei und spricht sich gegen einen dispositionsbezogenen Rückwirkungsbegriff aus86. Analog zu der Rückwirkungsdogmatik des Bundesverfassungsgerichts erscheint es de lege ferenda sinnvoll, für Vertrauensschutz im Festsetzungsverfahren an den Abschluss des Veranlagungszeitraums anzuknüpfen. Das bedeutet, dass der Steuerpflichtige während des laufenden Veranlagungszeitraums damit rechnen muss, bei der späteren Steuerfestsetzung zur gesetzmäßig geschuldeten Steuer herangezogen zu werden, wenn sich die Rechtslage vor dem Abschluss des Veranlagungszeitraums ändert. Dem Steuerpflichtigen wird somit etwa kein Vertrauensschutz ge-

83

So formuliert BVerfGE 126, 369 (396). Vgl. exemplarisch Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 176, Rn. 9 (auch zum vorstehenden Text). 85 S. z. B. Hey, Steuerplanungssicherheit, S. 262 ff. mit der Begrüdung, dass der Tatbestand der Steuerentstehung (§ 38 AO i. V. m. den Einzelgesetzen der periodischen Steuern) nur eine „Verklammerung“ von Einzellebenssachverhalten (z. B. einzelne Umsätze bei der Umsatzsteuer) sei. Mit der Steuerentstehung korrespondiere aber keine Handlung des Steuerpflichtigen, an die das Vertrauensschutzkonzept anknüpfen könnte. Das Abschnittsprinzip sei lediglich technischer Natur. 86 Deutlich BVerfGE 127, 1 (18–20); 127, 61 (77 f.). 84

§ 10 Erstreckung auf den erstmaligen Erlass eines Steuerbescheids  

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währt, wenn eine (fakultative) Disposition getätigt wurde, die durch eine Rechtsprechungsänderung vor dem Jahresablauf entwertet wurde. Auch Ereignisse, die das Vertrauen erschüttern, muss der Steuerpflichtige in diesem Zeitraum gegen sich gelten lassen, z. B. wenn die Vereinbarkeit eines Steuergesetzes Gegenstand eines Verfahrens beim Bundesverfassungsgericht ist, da das Vertrauen in die Rechtslage in diesen Fällen nicht (mehr) schutzwürdig ist. Wird die Entscheidung nach dem Ende des Veranlagungszeitraums, aber vor der erstmaligen Steuerfestsetzung veröffentlicht, darf der Erstbescheid sodann nicht auf Grundlage des verfassungswidrigen Rechts ergehen. Wurde hingegen vor der Veröffentlichung der verfassungsgerichtlichen Entscheidung noch ein erster Steuerbescheid erlassen, so wird bereits an dieser Stelle deutlich, dass sich ein gleichmäßiger und vom Veranlagungsstand unabhängiger Vertrauensschutz normativ nur verwirklichen lässt, wenn der Steuerpflichtige den „Vorteil“, dass der Bescheid noch auf der günstigeren verfassungswidrigen Norm beruht, wieder abgeben muss – eben weil das Vertrauen in die Rechtslage innerhalb des Veranlagungszeitraums nicht schutzwürdig war. Insoweit beansprucht die Formel, dass „Vertrauensschutz nicht so weit geht, den Staatsbürger vor jeder Enttäuschung zu bewahren“87, auch hier Geltung. Legt man den Abschluss des Veranlagungszeitraumes als Anknüpfungspunkt zugrunde, lässt sich eine Parallele zur unechten Rückwirkung erkennen, die grundsätzlich zulässig88 bzw. nicht grundsätzlich unzulässig89 ist. Der Steuerpflichtige darf auch dort während des laufenden Veranlagungszeitraums nicht darauf vertrauen, dass der Gesetzgeber die Rechtslage nicht rückwirkend zu seinen Ungunsten umgestaltet. Zwar ist eine unechte Rückwirkung nicht voraussetzungslos zulässig, sondern die mit der Neuregelung verfolgten Interessen der Allgemeinheit müssen mit dem Vertrauen des Einzelnen auf den Fortbestand der Rechtslage abgewogen werden90. Außerdem muss die unechte Rückwirkung verhältnismäßig sein91. Im Bereich des Vertrauensschutzes hinsichtlich rechtswidriger Positionen geht es jedoch nicht um die Anpassung der Rechtsordnung an gewandelte Lebensverhältnisse, sondern darum, einen angemessenen Ausgleich zum Gesetzmäßigkeitsprinzip zu finden, welches zur rechtmäßigen Steuerfestsetzung zwingt. Daher ist ein im Vergleich zur unechten Rückwirkung niedrigeres Schutzniveau gerechtfertigt. Das ergibt sich auch daraus, dass z. B. ein Vertrauen in eine verfassungswidrige Norm (also in eine rechtswidrige Position) nicht in dem Umfang schutzwürdig ist wie in ein verfassungsmäßiges, das tatsächlich existent ist und nicht nur einen Rechtsschein ausstrahlt. 87

BVerfGE 132, 302 (319 f.); 148, 217 (256). So wieder BVerfGE 132, 302 (318); 148, 217 (255). 89 BVerfGE 127, 1 (17); 127, 31 (47); 127, 61 (76). 90 BVerfGE 132, 302 (320) m. w. N. 91 BVerfGE 148, 217 (256 f.). S. auch den strengen Maßstab bei BVerfGE 132, 302 (319), wonach bestimmte Fälle unechter Rückwirkung „in vielerlei Hinsicht den Fällen echter Rückwirkung nahe stehen“. 88

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3. Teil: Ein Reformvorschlag für Vertrauensschutz 

Der Reformvorschlag, der auf das Abschnittsprinzip Bezug nimmt, führt in der Konsequenz dazu, dass der Steuerpflichtige (wie auch bei der unechten Rückwirkung) in vielen Fällen keinen Vertrauensschutz erhält, obwohl das Vertrauen möglicherweise betätigt wurde. Die Angleichung des Schutzniveaus offener Fälle an das Niveau abgeschlossener Veranlagungen (für letztere gilt § 176 AO) oder die Entwicklung eines „Dispositionsschutzkonzepts“ ist auch nicht Ziel dieser Arbeit. Vielmehr soll eine Möglichkeit aufgezeigt werden, wie ein veranlagungsstandunabhängiger Vertrauensschutz normiert werden könnte, der ein gleichmäßiges Schutzniveau gewährleistet. Dies gelingt in erster Linie dadurch, dass nicht mehr an zwei voneinander unabhängige Vertrauensträger angeknüpft wird (Rechtslage und Steuerbescheid), sondern ein einheitlicher Vertrauensträger besteht (Rechtslage).

E. Formulierungsvorschlag I. Steuerfestsetzung durch Steuerbescheid Im Folgenden soll nun aufgezeigt werden, wie ein Vertrauensschutz, der nicht an Bescheide anknüpft, gesetzlich in der Abgabenordnung verankert werden könnte. Für den erstmaligen Steuerbescheid böte sich die Anfügung eines Absatzes 6 an § 155 AO an. Eine solche Regelung könnte lauten: (6) 1Bei der Steuerfestsetzung darf nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden, dass 1. das Bundesverfassungsgericht die Nichtigkeit eines Gesetzes feststellt 2. sich die Rechtsprechung eines obersten Gerichtshofes des Bundes geändert hat, wenn das Vertrauen in die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes oder in den Fortbestand der bisherigen Rechtsprechung im betreffenden Besteuerungszeitraum schutzwürdig war. 2Das Vertrauen ist im Fall von Abs. 6 S. 1 Nr. 1 schutzwürdig, wenn an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes keine erheblichen Zweifel bestanden. 3Im Fall von Abs. 6 S. 1 Nr. 2 ist das Vertrauen schutzwürdig, wenn eine gefestigte und langjährige Rechtsprechung eines obersten Gerichtshofes des Bundes bestand. 4Für Steueranmeldungen gilt Abs. 6 S. 1 entsprechend, soweit sie sich auf den gesamten Besteuerungszeitraum beziehen. Der Regelungsvorschlag setzt in § 155 Abs. 6 S. 1 letzter Hs. AO die Schutzwürdigkeit des Vertrauens voraus und verdeutlicht, dass der Abschluss des Besteuerungszeitraums92 insofern maßgeblicher Zeitpunkt ist. Die Schutzwürdigkeit wird hierbei abstrakt umschrieben – es kommt also nicht darauf an, ob der einzelne 92 Auch die Vorschrift des § 16 Abs. 1 S. 2 UStG verwendet den Begriff des „Besteuerungszeitraums“ (Kalenderjahr). Abw. jedoch die §§ 36 Abs. 1, 25 EStG, die vom „Veranlagungszeitraum“ sprechen.

§ 10 Erstreckung auf den erstmaligen Erlass eines Steuerbescheids  

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Steuerpflichtige tatsächlich auf den Fortbestand der bisherigen Rechtsprechung vertraute. Da es sich bei der Formulierung „gefestigte und langjährige Rechtsprechung“ (Abs. 6 S. 3), die den Maßstab für die Schutzwürdigkeit des Vertrauens in eine Rechtsprechung bildet, um einen unbestimmen Rechtsbegriff handelt, kann die Verwaltung diesen Begriff bei der jeweiligen Rechtsänderung durch eine norminterpretierende Verwaltungsvorschrift präzisieren, sodass eine einheitliche Anwendung der Norm durch die Behörden gesichert ist. Im Falle der Verfassungswidrigerklärung einer Norm kann das Bundesverfassungsgericht auf eine Fortgeltungsanordnung verzichten und einen Hinweis erteilen, ob das Vertrauen im Sinne dieser Norm schutzwürdig war oder nicht (Abs. 6 S. 2). Rechtswidrige Verwaltungsvorschriften werden im Regelungsvorschlag bewusst nicht berücksichtigt, da die Prolongation einer rechtswidrigen Verwaltungspraxis aus Gründen des Vertrauensschutzes nur in seltenen Ausnahmefällen in Betracht kommt93. II. Steueranmeldungen Nach § 155 Abs. 6 S. 4 AO des Regelungsvorschlags kommt Vertrauensschutz auch für Steueranmeldungen in Betracht. Indem nach dem Wortlaut nur solche Steueranmeldungen erfasst sind, die sich auf den gesamten Besteuerungszeitraum beziehen, sollen insbesondere Umsatzsteuervoranmeldungen (§ 18 Abs. 1 S. 1 UStG), die Steuerfestsetzungen unter dem Vorbehalt der Nachprüfung sind (§§ 168 S. 1, 164 Abs. 2 S. 1 AO), ausgenommen werden, die bereits nach derzeitiger Fassung des § 176 Abs. 1 S. 1 AO nicht geschützt sind, weil das Finanzamt in einem Jahresumsatzsteuerbescheid die neue und ungünstigere Rechtsprechung anwenden darf, wenn sie sich nach Abschluss des Voranmeldungsverfahrens geändert hat94. Das folgt daraus, dass der Jahressteuerbescheid nicht zur Änderung der Voranmeldungen führt, sondern zu deren anderweitigen Erledigung (§ 124 Abs. 2 AO)95. Es besteht auch für eine Neuregelung, die für die Schutzwürdigkeit des Vertrauens auf den Abschluss des Besteuerungszeitraums abstellt, kein Anlass, einzelne Voranmeldungen zu schützen, weil sich durch die feingliedrigere Abschichtung des Sachverhalts im Umsatzsteuerrecht ansonsten eine nicht gerechtfertigte Privilegierung gegenüber den Ertragsteuern ergäbe. Wie die Einkommen- und Körperschaftsteuer (§ 2 Abs. 7 S. 1 EStG, § 7 Abs. 3 S. 1 KStG) ist auch die Umsatzsteuer eine Jahressteuer (§ 16 Abs. 1 S. 2 UStG). Hingegen verdeutlicht § 155 Abs. 6 S. 4 AO, dass der Unternehmer seiner Jahresanmeldung, die sowohl Steuererklärung als auch eine erste Steuerfestsetzung ist, die bisherige und günstigere Rechtsprechung zugrunde legen darf, wenn das Ver 93

Vgl. § 5  C. II. BFH NV 2010, 1782; Hildesheim, in: Offerhaus / Söhn / Lange, UStG, § 18, Rn. 127; Treiber, in: Sölch / R ingleb, UStG, § 18, Rn. 354; kritisch Lippross, DStR 2014, 879 (880 f.); Hummel, MwStR 2016, 4 (7 f.). 95 BFH NV 2010, 1782. 94

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3. Teil: Ein Reformvorschlag für Vertrauensschutz 

trauen nach dem Abschluss des Voranmeldungsverfahrens (noch) schutzwürdig ist. Wird im Anschluss vom Finanzamt ein Jahressteuerbescheid erlassen, weil dieses zum Ergebnis kommt, dass eine höhere oder niedrigere Steuer geschuldet wird als angemeldet, so liegt hierin eine Änderung der Steuerfestsetzung (die aufgrund des Charakters als Jahressteueranmeldung nach § 168 S. 1 AO unter dem Vorbehalt der Nachprüfung steht) und keine erstmalige Steuerfestsetzung96. Die gesetzliche Reform muss für diesen Fall ebenfalls sicherstellen, dass die neue Rechtsprechung in diesem Jahresbescheid nicht berücksichtigt werden darf, wenn und weil das Vertrauen mit Ablauf des Kalenderjahrs eben schutzwürdig war, um ein konstantes Schutzniveau gewährleisten zu können97. Wurde hingegen die Jahresanmeldung noch auf Grundlage der alten Rechtsprechung abgegeben und ändert sich die Rechtsprechung im Anschluss, war das Vertrauen aber schon im Voranmeldungsverfahren (Kalenderjahr) nicht schutzwürdig (etwa weil die bisherige Rechtsprechung nicht hinreichend gefestigt war), muss das Gesetz regeln, dass dieses Ergebnis nicht beibehalten werden darf. Hierfür muss eine Verpflichtung des Finanzamts zum Erlass eines Umsatzsteuerjahresbescheids, der die neue Rechtsprechung berücksichtigt, verankert werden. Eine solche Regelung könnte an § 167 AO in einem weiteren Abs. 3 angefügt werden, auf das Festsetzungserfordernis des § 167 Abs. 1 AO Bezug nehmen und wie folgt aussehen: (3) 1Abs. 1 Satz 1 gilt sinngemäß, wenn 1. das Bundesverfassungsgericht die Nichtigkeit eines Gesetzes feststellt, welches einer Steueranmeldung zugrunde liegt, 2. sich die Rechtsprechung eines obersten Gerichtshofes des Bundes geändert hat, die bei einer Steueranmeldung angewendet wurde, und das Vertrauen in die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes oder in den Fortbestand der bisherigen Rechtsprechung im betreffenden Besteuerungszeitraum nicht schutzwürdig war. 2§ 155 Abs. 6 Sätze 2 und 3 gelten sinngemäß. Diese Neukonzeption führt Vertrauensschutz auch bei der Umsatzsteuer einer sachgerechten Regelung zu.

96

Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO / FGO, § 168, Rn. 10; v. Wedelstädt, in: Kühn / v. Wedelstädt, AO / FGO, § 167, Rn. 4; a. A. Heuermann, in: H / H /Sp, AO / FGO, § 168, Rn. 10. 97 S. hierzu noch § 11.

§ 11 Modifizierung der Korrekturnormen  

165

§ 11 Modifizierung der Korrekturnormen infolge des Vertrauensträgerwechsels A. Einführung einer Korrekturpflicht Von der Prämisse getragen, dass die Neuausrichtung des Vertrauensschutzes für die Schutzwürdigkeit auf den Ablauf des Veranlagungszeitraums abstellt, wirken sich vertrauenszerstörende Ereignisse, wie etwa ein anhängiges Verfahren beim Bundesverfassungsgericht, das die Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit der Verfassung zum Gegenstand hat, bis zum 31. Dezember des jeweiligen Jahres zulasten des Steuerpflichtigen aus. Wie bereits gezeigt, dürfen „erste“ Steuerbescheide in solchen Fällen nicht auf der Grundlage des verfassungswidrigen Rechts ergehen, wenn die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nach dem Jahresablauf, aber vor der erstmaligen Steuerfestsetzung veröffentlicht wird98. Problematisch sind nun die Konstellationen, bei denen trotz fehlender Schutzwürdigkeit (im maßgeblichen Zeitpunkt) vor der Veröffentlichung der verfassungsgerichtlichen Entscheidung bereits ein „erster“ Steuerbescheid erlassen wurde. Es bestünde kein gleichmäßiges Schutzniveau (unabhängig vom Veranlagungsstand) und dadurch wiederum eine Ungleichbehandlung zwischen offenen und abgeschlossenen Veranlagungen, wenn der Steuerbescheid weiterhin auf der Grundlage des verfassungswidrigen Rechts Bestand haben könnte, sodass eine Korrekturpflicht zulasten des Steuerpflichtigen geregelt werden muss, soweit das Vertrauen im betreffenden Besteuerungszeitraum nicht schutzwürdig war. Entsprechendes gilt für die rückwirkende Rechtsprechungsänderung, wenn das Verfahren vor dem BFH, das eine Auslegung eines Steuergesetzes zum Gegenstand hat, bereits im laufenden Veranlagungszeitraum anhängig wurde oder das Vertrauen aus anderen Gründen nicht schutzwürdig war. Die Ungleichbehandlung zwischen offenen und abgeschlossenen Veranlagungen resultiert nämlich nicht nur aus der derzeitigen Fassung des § 176 AO, sondern auch daraus, dass die §§ 172 ff. AO die Korrektur nur aus sachverhaltsbezogenen Anlässen erlauben und den Steuerbescheid so bei Rechtslageänderungen abschirmen. Insofern böte sich die Einfügung eines § 173b AO mit folgendem Inhalt an: Steuerbescheide sind aufzuheben oder zu ändern,

1

1. wenn das Bundesverfassungsgericht die Nichtigkeit eines Gesetzes feststellt, auf dem die bisherige Steuerfestsetzung beruht, 2. wenn sich die Rechtsprechung eines obersten Gerichtshofes des Bundes geändert hat, die bei der bisherigen Steuerfestsetzung von der Finanzbehörde angewandt worden ist,

98

Vgl. § 10 D.

166

3. Teil: Ein Reformvorschlag für Vertrauensschutz 

und das Vertrauen in die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes oder in den Fortbestand der bisherigen Rechtsprechung im betreffenden Besteuerungszeitraum nicht schutzwürdig war. 2§ 155 Abs. 6 Sätze 2 und 3 gelten sinngemäß.

B. Änderung des § 176 AO als Korrektureinschränkung Neben der Einführung einer Korrekturpflicht muss jedoch auch die korrekturbegrenzende Vorschrift des § 176 AO modifiziert werden, denn denkbar wäre, dass das Vertrauen im Besteuerungszeitraum schützwürdig war, die Korrektur aus sachverhaltsbezogenen Gründen nach den §§ 172 ff. AO erlaubt ist und sich die Rechtsprechung nach Abschluss des Veranlagungszeitraums geändert hat. Bei einer Fehlersaldierung nach § 177 Abs. 2 AO könnte diese Rechtsprechungsänderung nun berücksichtigt werden. Zwar durfte hier nach § 155 Abs. 6 S. 1 AO des Regelungsvorschlags bereits der erstmalige Steuerbescheid noch auf Grundlage der bisherigen Rechtsprechung ergehen, sodass argumentiert werden könnte, dass die Berücksichtigung der neuen Rechtsprechung in einem Änderungsbescheid erst recht unzulässig wäre (argumentum a fortiori). Es erscheint aber sinnvoll, dass eine korrekturbegrenzende Vorschrift die Saldierung dieser Fehler ausdrücklich verhindert. Zwar ist § 176 AO bereits nach derzeitiger Fassung als Korrektureinschränkung bei einer Fehlersaldierung anwendbar, jedoch muss das Gesetz im Zuge der Neuausrichtung verdeutlichen, dass das Vertrauen in die Rechtslage und nicht das Vertrauen in den Steuerbescheid maßgeblich ist. Die Norm des § 176 AO könnte daher wie folgt umformuliert werden: Bei der Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids darf nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden, dass 1

1. das Bundesverfassungsgericht die Nichtigkeit eines Gesetzes feststellt, auf dem die bisherige Steuerfestsetzung beruht, 2. sich die Rechtsprechung eines obersten Gerichtshofes des Bundes geändert hat, die bei der bisherigen Steuerfestsetzung von der Finanzbehörde angewandt worden ist, und das Vertrauen in die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes oder in den Fortbestand der bisherigen Rechtsprechung im betreffenden Besteuerungszeitraum schutzwürdig war. 2§ 155 Abs. 6 Sätze 2 und 3 gelten sinngemäß. 3Für Steueranmeldungen gilt Abs. 1 S. 1 entsprechend, soweit sie sich auf den gesamten Besteuerungszeitraum beziehen. Insgesamt führt dieser Regelungsvorschlag zu einer nicht unerheblichen Abschwächung des Vertrauensschutzprinzips, da sich der Steuerpflichtige aufgrund

§ 12 Auswirkungen des Reformvorschlags 

167

der Korrekturpflicht erst dann endgültig auf die Beständigkeit des Steuerbescheids verlassen darf, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist (§ 169 ff. AO).

§ 12 Auswirkungen des Reformvorschlags Es gilt ganz grundsätzlich zu betonen, dass die gesetzliche Neuausrichtung nicht die Anhebung des Schutzniveaus (insbesondere für Erstbescheide) zum Ziel hat, sondern einen konstanten Vertrauensschutz gewährleisten soll, der unabhängig vom Zufall der bereits erfolgten oder noch nicht erfolgten Steuerfestsetzung anwendbar ist. Der nach derzeitiger Fassung des § 176 AO ausgelöste harte Bruch wird durch die Neukonzeption vermieden. Aus den neuen Rechtsnormen folgt ein bedingter Vertrauensschutz, der in der Rechtsfolge auch Dispositionen schützen kann, solche aber nicht zwingend voraussetzt. Dadurch, dass es nicht auf die jeweilige Dispostion ankommt, sondern an den Ablauf des Veranlagungszeitraums angeknüpft wird, ist aber weiterhin eine Entwertung der Disposition möglich, wenn die Rechtsänderung vor dem 31. Dezember des jeweiligen Jahres erfolgt. Die unbestimmten Rechtsbegriffe „gefestigte und langjährige Rechtsprechung“ sowie „erhebliche Zweifel“ (an der Verfassungsmäßigkeit einer Norm) sind bestimmt genug und gerichtlich voll überprüfbar. Dadurch, dass der Regelungsvorschlag in § 155 Abs. 6 S. 1 AO die Finanzbehörden verpflichtet, bei der ersten Steuerfestsetzung die bisherige Rechtsprechung oder das verfassungswidrige Gesetz zugrunde zu legen, wird nicht etwa eine Verpflichtung zum rechtswidrigen Handeln (Erlass eines „rechtswidrigen“ Steuerbescheids) begründet, sondern Vertrauensschutz ist vielmehr ein Legalitätskriterium von Verwaltungshandeln99. Ebenso führt bereits § 176 AO in seiner derzeit geltenden Fassung zum Erlass eines „rechtswidrigen“ Änderungsbescheids. Für die Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung besteht nach der Neuregelung kein zweigeteiltes, vom Verfahrensstand abhängiges Vertrauensschutz­ konzept mehr. Ein Billigkeitserlass im Einzelfall auf Grundlage der §§ 163, 227 AO ist ebenso nicht mehr erforderlich wie eine Übergangsregelung für die Vergangenheit. Der Vertrauensschutz wird auf eine einheitliche gesetzliche Grundlage gestellt und so von der Vollzugsebene auf die Normebene verlagert. Die Dynamik der Rechtsprechung wird hierbei in keinster Weise eingeschränkt – eine Gefahr der Versteinerung besteht nicht, denn der Vertrauensschutz ist getrennt von der Rechtsprechungsänderung zu realisieren, schränkt die Änderbarkeit der Rechtsprechung an sich also nicht ein. Die Gerichte müssen den Vertrauensschutz im Anlassfall, wenn und soweit diese bisweilen anstelle der Finanzverwaltung tätig werden, nicht mehr durch eine (typisierende) Übergangsregelung oder mittels einer sonstigen Einschränkung für die Vergangenheit realisieren. 99

Burmeister, FS Friauf, S. 759 (776).

168

3. Teil: Ein Reformvorschlag für Vertrauensschutz 

Hinsichtlich des verfassungswidrigen Steuergesetzes führt die Neuregelung zu einer Anwendung eines im Normenbestand nicht mehr vorhandenen Gesetzes (bei einer Nichtigerklärung) oder eines nicht mehr anwendbaren Gesetzes (bei einer Unvereinbarerklärung). Die Tenorierung des Bundesverfassungsgerichts muss dem Vertrauensschutz nicht mehr Rechnung tragen, sodass eine explizit ausgesprochene Fortgeltung des verfassungswidrigen Gesetzes für die Vergangenheit nicht mehr nötig ist. Ausreichend ist ein Hinweis darauf, dass das Vertrauen in die verfassungswidrige Norm im Sinne der gesetzlichen Neuausrichtung schutzwürdig ist oder nicht. Für rechtswidrige Verwaltungsvorschriften bleibt es demgegenüber beim bisherigen Vertrauensschutzkonzept, da die einzelnen Fälle, für die Vertrauensschutz unter sehr strengen Voraussetzungen in Betracht kommt, zu selten sind, um diese gesetzlich erfassen zu können oder müssen. Durch eine Aufhebung des § 176 Abs. 2 AO in seiner derzeitigen Fassung kann die extreme Ungleichbehandlung zwischen offenen und geschlossenen Fällen vermieden werden.

Vierter Teil

Abschließende Bewertung Die wichtigsten Thesen werden im Folgenden nochmals zusammengefasst. Für weitere Ergebnisse kann auf die jeweiligen Zusammenfassungen der einzelnen Abschnitte verwiesen werden.

§ 13  Kernthesen I. Das derzeitige Vertrauensschutzkonzept hinsichtlich verfassungswidriger Gesetze, höchstrichterlicher Rechtsprechung und rechtswidriger Verwaltungsvorschriften ist zweigeteilt. Für abgeschlossene Veranlagungen besteht ein weitreichender Vertrauensschutz, der kaum weiter bedingt ist, als dass vor der Rechtsänderung bereits ein Steuerbescheid erlassen wurde. Für offene Veranlagungen besteht kein gesetzlicher Vertrauensschutz. II. Die Komplexität dieses Systems ergibt sich daraus, dass zwei verschiedene Vertrauensgrundlagen bestehen. Die Norm des § 176 AO bezieht das Vertrauen in die Existenz eines Steuerbescheids, wohingegen das Vertrauen der nicht veranlagten Steuerpflichtigen auf die Rechtslage bezogen werden muss. Ob ein Vertrauensschutz auch für noch nicht veranlagte Steuerpflichtige in Betracht kommt, hängt davon ab, ob das Vertrauen in die Rechtslage im laufenden Kalenderjahr schutzwürdig war. Wie dieser verwirklicht wird, hängt von der Art der jeweiligen Rechtsänderung ab. III. Im Bereich der Rechtsprechungsänderung1 wird Vertrauensschutz für offene Fälle durch Übergangsregelungen der Finanzverwaltung auf Grundlage der §§ 163, 227 AO realisiert. Der pauschale Ausschluss der Rückwirkung von Rechtsprechung führt zur Denaturierung gerichtlicher Entscheidungen, weil das Urteil im Ausgangsfall ein bloßes Rechtsgutachten wäre. Auch können die Grundsätze für rückwirkende Gesetzesänderungen nicht auf Rechtsprechungsänderungen übertragen werden, denn der richterliche Auftrag erschöpft sich in der Auslegung des Rechts und in der Rechtsfortbildung. Es überzeugt nicht, wenn der Richter vorab prüfen müsste, auf welche Fälle sich die neue Rechtsprechung erstrecken darf. Auch wenn die höchstrichterliche Rechtsprechung aufgrund ihrer Autorität und Breitenwirkung prinzipiell eine taugliche Vertrauensbasis darstellt, ist ein solcher Vertrauensschutz nur restriktiv anzuerkennen. 1

S. hierzu § 3 C.

170

4. Teil: Abschließende Bewertung 

IV. Bei verfassungswidrigen Steuergesetzen2 wird der Vertrauensschutz für offene Fälle durch das Bundesverfassungsgericht verwirklicht. Die Tenorierungsform der Unvereinbarerklärung wahrt nicht nur den gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum und dient den Rechtsschutzinteressen des Steuerpflichtigen, dem die Möglichkeit offengehalten werden soll, von der Neuregelung des Gesetzgebers zu profitieren, sondern kann auch das Vertrauen in den Rechtsschein einer verfassungswidrigen Norm durch eine Fortgeltungsanordnung schützen. Die Nichtigerklärung eines Gesetzes muss unterbleiben, wenn das Vertrauen schutzwürdig war. V. Ein Vertrauensschutz in rechtswidrige Verwaltungsvorschriften3 kommt nur in seltenen Ausnahmekonstellationen in Betracht. Das Spannungsverhältnis zwischen dem Vorrang des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) und dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) ist in aller Regel zugunsten des Gesetzmäßigkeitsprinzips aufzulösen. Der Gleichheitssatz begründet keinen Anspruch auf Wiederholung eines Fehlers. Dies wird mit der Formel „keine Gleichheit im Unrecht“ beschrieben und dient dem Schutz des Gesetzgebers, da die Verwaltung nicht über den Gleichheitssatz geltende Gesetze umgehen können soll. Daraus folgt allerdings nicht, dass ein Vertrauensschutz in rechtswidrige Verwaltungsvorschriften schon grundsätzlich ausscheidet, da auch dieser ein Subprinzip des Rechtsstaatsprinzips ist und in die Abwägung der kollidierenden Verfassungsprinzipien einfließen kann. Freilich kommt dem fundamentalen Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes hierbei eine besondere Bedeutung zu – es erscheint jedoch sachgerecht, dieses Spannungsverhältnis nicht pauschal zulasten des Vertrauensschutzes aufzulösen. Im Bereich der Verwaltungsvorschriften entsteht aufgrund dieser restriktiven Tendenz ein besonders großes Ungleichgewicht in der Schutzintensität im Verhältnis zu § 176 Abs. 2 AO, der Vertrauensschutz weitgehend voraussetzungslos gewährt, sodass jedenfalls Abs. 2 in seiner derzeitigen Fassung aufgehoben werden sollte. VI. Die Vorschrift des § 176 AO ist in hohem Maße unzweckmäßig, aber nicht verfassungswidrig. Zwar wird die Personengruppe, deren Veranlagung noch nicht abgeschlossen wurde, vom Gesetz weder genannt noch geschützt, sodass ein konkludenter Begünstigungsausschluss vorliegt. Jedoch verletzt die Norm den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) nicht, da zwar beide Personengruppen auf die Rechtslage vertraut haben, bei der bereits veranlagten Personengruppe aber noch ein erhebliches Vertrauen in den Fortbestand des Steuerbescheids hinzutritt. Die Existenz des Verwaltungsakts kann das hohe Ausmaß der Differenzierung noch legitimieren4.

2

S. hierzu § 4 C. S. hierzu § 5 D. 4 S. hierzu § 8 C. 3

§ 13  Kernthesen 

171

VII. Die Bestandskraft von Verwaltungsakten steht in keinem Zusammenhang mit dem Vertrauensschutz5. Weder die formelle noch die matierelle Bestandskraft können diesen verfestigen. Das folgt daraus, dass die §§ 172 ff. AO ganz grundsätzlich den Eintritt der Bestandskraft nicht voraussetzen. In diese Normen ist der Vertrauensschutz eingearbeitet. Die dort getroffene Abwägung zwischen Gesetzmäßigkeit und Vertrauensschutz ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, da insoweit ein weiter gesetzgeberischer Gestaltungsspielraum besteht. Für § 176 AO folgt daraus, dass die Bestandskraft nicht die Ursache des geschützten Vertrauens sein kann. Es ist kein sachlicher Grund ersichtlich, weshalb die §§ 172 ff. AO die Korrektur rechtswidriger Steuerbescheide bereits ab Bekanntgabe ermöglichen, der Vertrauensschutz des § 176 AO jedoch erst mit dem Ablauf der Rechtsbehelfsfristen bestehen soll. Vom Ablauf der Rechtsbehelfsfristen kann der Steuerpflichtige nicht profitieren. Der Vertrauensträger des § 176 AO ist somit die schlichte Existenz des Steuerbescheids. VIII. Verfassungsrechtlicher Vertrauensschutz (Art. 20 Abs. 3 GG) setzt keinen begünstigenden Verwaltungsakt voraus6. Es besteht kein zwingender Zusammenhang zwischen der Wirkung einer Regelung und dem Vertrauensschutz, weil sich letzterer allein aus der Stabilisierungs- und Abschlussfunktion von Verwaltungsakten ergibt. Diese Funktionen bilden das Vertrauensfundament – vertraut wird auf die Verbindlichkeit der getroffenen Regelung und den förmlichen Abschluss des Verwaltungsverfahrens. Dass Geldzahlungsbescheiden künstlich ein begünstigendes Element verliehen wird, ist Folge davon, dass die §§ 130, 131 AO an die Wirkung der Regelung anknüpfen und keine Regelungserweiterung zulassen, was für diese Art von Verwaltungsakten untauglich ist. IX. Auch wenn die derzeitige Ausgestaltung des § 176 AO verfassungsgemäß ist, erscheint es de lege ferenda sinnvoll, die Anknüpfung an Steuerbescheide für Vertrauensschutz aufzugeben und ein einheitliches Schutzkonzept zu regeln7. Ein solches zeichnet sich dadurch aus, dass unabhängig vom Verfahrensstand allein die Rechtslage als Vertrauensträger fungiert. Zudem muss die Schutzwürdigkeit des Vertrauens tatbestandlich vorausgesetzt werden. Maßgeblicher Zeitpunkt ist insoweit der Abschluss des Veranlagungszeitraums. Es ist nicht möglich, den Vertrauensschutz an die Disposition zu knüpfen, da eine solche keine zwingende Voraussetzung ist. Damit wirken sich ungünstige Rechtsänderungen und andere Ereignisse, die das Vertrauen in die Rechtslage erschüttern, zulasten des Steuerpflichtigen aus, wenn sie vor Ablauf des Kalenderjahrs eintreten. Insoweit wird eine Parallele zur unechten Rückwirkung gezogen, wonach Rechtsänderungen, die an nicht abgeschlossene Sachverhalte der Vergangenheit anknüpfen (also Rechtsänderungen im laufenden Kalenderjahr), im Regelfall keinen Vertrauensschutz auslösen. 5

S. hierzu § 6 B. und C. S. hierzu § 7 A. und B. 7 S. hierzu § 10 und § 11. 6

172

4. Teil: Abschließende Bewertung 

Die gesetzliche Ausgestaltung muss im Wesentlichen durch zwei Aspekte gekennzeichnet sein. Zum einen muss eine Norm geschaffen werden, die Vertrauensschutz bereits bei dem erstmaligen Erlass eines Steuerbescheids verwirklicht, sofern das Vertrauen in die Rechtslage im maßgeblichen Zeitpunkt schutzwürdig war. Zum anderen muss es eine Korrekturpflicht geben, wenn vor der Rechtsänderung bereits ein Steuerbescheid erlassen wurde, das Vertrauen im laufenden Kalenderjahr aber nicht schutzwürdig war, denn die derzeitige Zweiteilung des Vertrauensschutzsystems ergibt sich nicht nur aus § 176 AO, sondern schon aus den §§ 172 ff. AO, die eine Korrektur aufgrund von Rechtslageänderungen nicht zulassen. Zwar führt dies insgesamt zu einer Abschwächung des Vertrauensschutzes, weil der Steuerpflichtige erst mit Ablauf der Festsetzungsfrist endgültig davon ausgehen darf, dass sich keine weiteren Änderungen mehr ergeben. Jedoch bezweckt dieser Reformvorschlag nicht die Anhebung des Schutzniveaus für erstmalige Steuerbescheide, die derzeit von § 176 AO nicht erfasst sind, oder generell eine stärkere Gewichtung von Vertrauensschutz, sondern einen gleichmäßigen Vertrauensschutz. Ein solcher kann aber nur dadurch erreicht werden, dass die Anknüpfung an die Veranlagung aufgehoben wird.

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Sachverzeichnis Algorithmus  50, 52, 141 Begünstigungsausschluss  93, 139 – ausdrücklicher  93, 139 – gleichheitswidriger  93, 139 – konkludenter  93, 139 Belegvorlagepflicht 33 Bestandskraft – formelle  39, 56 ff., 121, 124 ff. – materielle  51, 121, 126 f. Disposition – Begriff 133 Dispositionserfordernis – bei Vertrauen auf den Verwaltungsakt  133 f. – bei Vertrauen auf die Rechtslage  153 ff. Dispositionsschutz  52, 102, 133 f., 156, 160 ff., 162 Einspruch  39, 51, 88, 98, 122 Ermessen 19 – bei Anpassungsregelungen, siehe Übergangsregelungen der Verwaltung – vorgeprägtes  19, 21, 23 Festsetzungsfrist 26 Gesamtaufrollung – Grundsatz der  26, 37 Gesetzesbindung der Verwaltung  104 Gesetzescontrolling  97, 157 Gesetzesrückwirkung  72 ff. – Differenzierung anhand von Veranlagungszeiträumen 73 – echte  74, 97, 102 – Übertragbarkeit der Grundsätze auf Rechtsprechungsänderungen  77 f. – unechte  74 f., 161 Gesetzmäßigkeit der Verwaltung  24 Gewährleistungsfunktion des Rechts  156

Gewaltenteilung 86 Gleichheit im Unrecht  107, 110, 112 ff., 117, 153 Gleichheitssatz  110, 138 ff. – Bindungsintensität 141 – Ergebnisoffenheit  93, 138 – genus proximum  138 – Gleichheit in der Zeit  65 – gleichheitswidriger Begünstigungsausschluss, siehe Begünstigungsausschluss – neue Formel  139 – Relativität 138 – Selbstbindung der Verwaltung  81, 87, 106, 110 – stufenlose Prüfung  139 Gleichmäßigkeit der Besteuerung  24 Kontinuitätsgebot, siehe Rechtsprechung Korrektur von Steuerbescheiden – Pflicht zur  24 f., 165 – punktuelle  24, 40 Korrekturbegrenzung  34, 149, 166 Massenrechtsbehelfe 39 Nacherhebung von Abgaben  131 Nichtanwendungserlass  56, 86 Nichtigerklärung  90 ff. – als Regelfolge  90 – Rückwirkung 91 – Weitergeltung des Altrechts  95, 97 Nichtigkeitsdogma 150 Obiter dicta  54, 62 Prospecitve overruling, siehe Recht­ sprechungsänderung Rechtsprechung – Ankündigungsrechtsprechung 85 – Bindungswirkung  60, 77, 152

Sachverzeichnis – Breitenwirkung 152 – Fortbildung des Rechts  77 – gesetzesähnliche Wirkung von  60 – konstitutionelle Uneinheitlichkeit von  78 – Kontinuität von  64 ff., 85 – präjudizielle Wirkkraft  60 – Rechtskraft 60 – Versteinerung der  62, 67, 78 – verzögerte Veröffentlichung von  86 Rechtsprechungsänderung  53 ff. – Begriff 59 – pro futuro  69 ff. – Prospective overruling  69 – Rückwirkung  59, 61 f. Rechtsschein – einer verfassungswidrigen Norm  98, 99, 102, 150 f., 156 ff. Rechtsschutzgarantie 71 Richterliche Unabhängigkeit  71, 78 Rückwirkende Ereignisse  32 Rückwirkende Klarstellung  62 f. Sachverhaltsermittlungsaufwand 25 Saldierung – von gegenläufigen Fehlern  40, 58, 97, 166 Sanierungserlass 116 Schreib- oder Rechenfehler  33 Schutzwürdigkeit des Vertrauens – auf ein verfassungswidriges Gesetz ​ 156 ff. – auf eine höchstrichterliche Recht­ sprechung  159 f. Selbstbindung der Verwaltung, siehe Gleichheitssatz Steueranmeldungen  163 f. Steuerbescheide – unter dem Vorbehalt der Nachprüfung  35 ff., 121, 163 – vorläufige  37 ff., 51, 96, 99, 101, 122, 158 Steuerverwaltungsakte – allgemeine  21 ff. – besondere  24 ff. Tatsachen  27 ff., 121 – Begriff 27 – rechtserhebliche  28, 121, 149

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– sachverhaltsbezogenes Verständnis  27 Typisierung 123 – Begriff  82, 136 – bei Übergangsregelungen, siehe Übergangsregelungen der Verwaltung – Voraussetzungen  143 f. Übergangsregelungen der Verwaltung ​ 79 ff., 115, 118, 148, 159 – Ermessen 84 – Gruppierung 80 – Rechtsschutz 87 – Typisierungsbefugnis  82 ff. Übernahmefehler 33 Umsatzsteuervoranmeldung  163 f. Ungewissheit – rechtliche 38 – tatsächliche 37 Unvereinbarerklärung  92 ff. – Aussetzung der Verfahren  94, 101 – Gestaltungsspielraum des Gesetz­ gebers  93, 100 – Normanwendungssperre  92, 99 – Pflicht des Gesetzgebers  92, 99, 101 – Rechtsschutzziel 94 – Vergleich mit österreichischem Modell  94 f. – Weitergeltung des verfassungswidrigen Gesetzes  94, 100, 114, 148, 151 Verfahrensökonomie 35 Vertrauen auf – ein verfassungswidriges Gesetz  97, 102, 113, 150 f. – eine höchstrichterliche Recht­ sprechung 152 – eine rechtswidrige Verwaltungs­ vorschrift  109, 117 f., 152 f. Vertrauensschutz – bei Aufhebung und Änderung von Steuerbescheiden 24 – bei Rücknahme und Widerruf von all­ gemeinen Steuerverwaltungsakten  21 – bei Rücknahme und Widerruf von Verwaltungakten 18 – subjektive Prägung  68 Vertrauensträger – Bestandskraft  39, 45, 121, 124 ff., 144

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Sachverzeichnis

– Existenz eines Verwaltungsakts  125 f., 128, 136, 149 – Rechtslage  31, 38, 53 ff., 114, 122, 135 f., 143 Verwaltungsakt – Abschlussfunktion  127 f., 134, 144, 146 – begünstigender  128, 131 – belastender 128 – Konkretisierungsfunktion 127 – mit Mischwirkung  22, 129, 132 – Stabilisierungsfunktion  126, 127, 131 Verwaltungsvorschriften  85, 104 ff. – Außenwirkung  105 ff., 117, 119

– Breitenwirkung 152 – ermessenslenkende  105 f. – Keine authentische Gesetzesinterpretation 106 – norminterpretierende  106 f., 116, 163 – normkonkretisierende 107 – Pflicht zur Veröffentlichung von  117 – rechtswidrige  104, 109 – Selbstbindung der Verwaltung, siehe Gleichheitssatz Zinsurteil  112 ff. Zufallswirkungen  39, 41, 48, 58, 144