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German Pages 400 Year 2016
Gustav Landgren Rauswühlen, rauskratzen aus einer Masse von Schutt
Lettre
Gustav Landgren (Dr. phil.), geb. 1983, promovierte an der Universität Uppsala in Schweden.
Gustav Landgren
Rauswühlen, rauskratzen aus einer Masse von Schutt Zum Verhältnis von Stadt und Erinnerung im Werk von Peter Weiss
Finanziell unterstützt wurde die Arbeit in den Jahren 2012-2014 durch WennerGren-Foundation. Darüber hinaus habe ich ein einjähriges Forschungsstipendium von Sven och Dagmar Saléns Stiftelse erhalten. Ein Druckkostenzuschuss wurde von Gunvor och Josef Anérs Stiftelse und Åke Wibergs Stiftelse gewährt. Mein Dank richtet sich zudem an Helge Axelsson Johnsons Stiftelse, von der ich ein großzügiges Forschungsstipendium erhalten habe, das die zahlreichen Forschungsreisen zum Peter-Weiss-Archiv in Berlin finanziert hat.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Vorwort | 9 Einleitung | 11 1. Kapitel: Kontexte | 23
1.1 Raum und Erinnerung | 23 1.2 Erinnerungsraum Stadt: Eine Übersicht zur Forschung | 53 2. Kapitel: Interpretationen | 69
2.1 Negative Stadtmetaphysik im Frühwerk | 69 2.2 Raum und Erinnerung in Abschied von den Eltern und in Fluchtpunkt | 84 2.3 Erinnerung als künstlerisches und politisches Konzept im essayistischen Werk | 113 3. Kapitel: Die Ästhetik des Widerstands als Buch der Erinnerung | 141
3.1 Stand der Forschung | 141 3.2 Form und Struktur der Ästhetik des Widerstands | 152 3.3 Die Ästhetik des Widerstands als historischer Roman | 162 4. Kapitel: Paris: Die Stadt als Buch | 181
4.1 4.2 4.3 4.4
Haussmann und der Schutt der Vergangenheit | 185 Auf der Suche nach den Spuren van Goghs in Montmartre | 204 Exkurs: Das Trauma des Spanischen Bürgerkrieges | 221 Zusammenfassung | 239
5. Kapitel: Berlin: Einblicke in den Abgrund | 243
5.1 5.2 5.3 5.4 5.5
Die zerstörte Stadt: Die Besiegten | 245 Kulturelles Gedächtnis: Der Pergamonaltar | 250 Der Erinnerungsort Bremen und die Räterepublik 1919 | 265 Sodom und Gomorrha: Der Untergang Berlins | 284 Zusammenfassung | 294
6. Kapitel: Erinnerungsraum Stockholm | 299 6.1 Die Rekonstruktion des Vergangenen am Beispiel von Norrmalm | 304 6.2 Strindberg und die Rückkehr des Flaneurs | 319
6.3 Die Inszenierung von Erinnerung am Beispiel des Engelbrekt-Mythos | 334 6.4 Zusammenfassung | 351 Abschließende Bemerkungen | 355 Siglen und Abkürzungen | 361 Quellen- und Literaturverzeichnis | 363 Anhang: „Skulle jag vara riktigt konsekvent“ | 387
Meiner Familie
Vorwort
Diese Monographie entstand während eines Forschungsaufenthalts am Deutschen Institut der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Ich möchte folgenden Personen und Stiftungen danken, die zum Gelingen der vorliegenden Publikation beigetragen haben. Meinem Kollegen Matthias Müller, Ithaca, NY möchte ich für seine Hilfe in der sprachlichen und formalen Gestaltung des Manuskripts herzlich danken. Einige wertvolle Kommentare hinsichtlich der formalen Konzipierung des Typoskripts verdanke ich zudem Herrn Professor Arnd Beise, Universität Fribourg. Freundlicherweise hat mir Gunilla Palmstierna-Weiss, Stockholm die Genehmigung erteilt, das unveröffentlichte Material aus dem Peter Weiss-Archiv in Berlin zu publizieren. Mein Dank gebührt zudem meiner Schwiegermutter Karin Cujai, die durch ihre große Hilfsbereitschaft meine Arbeit vorangetrieben hat. Finanziell unterstützt wurde die Arbeit in den Jahren 2012-2014 durch Wenner-Gren-Foundation. Darüber hinaus habe ich ein einjähriges Forschungsstipendium von Sven und Dagmar Saléns Stiftelse erhalten. Ein Druckkostenzuschuss wurde von Josef Anérs Stiftelse und Åke Wibergs Stiftelse gewährt. Mein Dank richtet sich zudem an Helge Axelsson Johnsons Stiftelse, von der ich ein großzügiges Forschungsstipendium erhalten habe, das die zahlreichen Forschungsreisen zum Peter-Weiss-Archiv in Berlin finanziert hat. Schließlich möchte ich meiner Familie, vor allem meiner Frau, meinem Sohn und meiner Mutter für ihre Unterstützung herzlich danken. Dr. Gustav Landgren Essen, im Februar 2016
Einleitung
Im Jahr 1974, kurz vor der Veröffentlichung des ersten Bandes der Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss, erschien die Festschrift für den schwedischen Germanisten Gustav Korlén, den Organisator der Treffen der Gruppe 47 in Schweden. Darin interpretiert Eberhard Lämmert die Werke von Peter Weiss (1916-1982) u.a. im Kontext der Sprachkrise am Ende des 19. Jahrhunderts. Heraufbeschworen wurde diese Sprachkrise von der Entwertung der Sprache durch die Werbung und durch den zunehmenden Kommerz. Zu den damaligen Sprachkritikern gehörten sowohl konservative als auch sozialistische Autoren wie Karl Kraus und Fritz Mauthner (Beiträge zu einer Kritik der Sprache, 1901-02).1 Die zunehmende Bedeutung der Naturwissenschaften um die Jahrhundertwende (1900) vertiefte zudem die Krise der Sprache, die durch „den Zweifel an ihrer vermeintlich sichersten Domäne – der schöpferischen Phantasie“ akzentuiert wurde.2 Als Paradigma dieser Sprachkrise gilt Hugo von Hofmannsthals häufig zitierter Chandos-Brief, in dem es in einer berühmten Passage heißt: „Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte ‚Geist‘ , ‚Seele‘ oder ‚Körper‘ nur auszusprechen. […] Ich fand es innerlich unmöglich, […] die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.“3 Der Chan-
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Zu diesem sprachkritischen Diskurs siehe Peter Zima, Komparatistik: Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft, (= Uni-Taschenbücher, Bd. 1705) Tübingen 1992, S. 110f.
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Vgl. Eberhard Lämmert, „Peter Weiss – ein Dichter ohne Land“, in: Gert Mellbourn, Helmut Müssener, Hans Rossipal, Birgit Stolt (Hrsg.), Germanistische Streifzüge: Festschrift für Gustav Korlén, (= Stockholmer germanistische Forschungen, Bd. 16) Stockholm 1974, S. 95-109, hier S. 98.
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Zu diesem sprachkritischen Diskurs um die Jahrhundertwende siehe Peter V. Zima, Komparatistik: Einführung in die vergleichende Literaturwissenschaft, Tübingen
12 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT dos-Brief lehnt den Sinn einer sprachlich erfassbaren Welt ab und steht beispielhaft für die immer drastischeren Formen der Verneinungen von sprachlichen Aussagen, die für die Literatur des 20. Jahrhunderts kennzeichnend sind. Literarische Beispiele hierfür bieten die Sprach- und Mitteilungskrisen in den Werken von Kafka und Beckett, „die Flucht“ in das Reich der reinen Sprache, in die romantische „Verdinglichung der Symbolwelt“ (Mallarmé, Baudelaire), bis hin zur „Wortdemontage“ und zur Schaffung eines eigenen literarischen Universums (die Texte der Dadaisten, Arno Schmidt, Raymond Queneau, die Klangpoesie Franz Mons).4 Angesichts dieser Krise sieht Eberhard Lämmert zwei scheinbar entgegensetzte Tendenzen in der zeitgenössischen Literatur; „die Flucht in eine absolute Kunst, l’ art pour l’ art [….] oder aber der andere Weg: Flucht in ein außerliterarisches Engagement in der Hoffnung, die Stimme vieler, ja, ganzer Völker werden zu können und damit den Wahrheitsgehalt der eigenen Poesie auch sozial bestätigen zu können.“5 Beide Haltungen treffen, wie Lämmert gezeigt hat, auf Weiss’ Werk zu. Weiss, der nie deutscher Staatsbürger war, begriff stets seinen Zugang zur deutschen Sprache als ein „Werkzeug“.6 Dieses scheinbar rein instrumental-emotionslose Verhältnis zur deutschen Sprache darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Deutsch für den jüdischen Exilanten Weiss unzertrennbar „die Sprache der Mörder“ blieb, die er aus Hass eine zeitlang verdrängte.7 Sein Mikro-Roman Der Schatten des Körpers des Kutschers stellt ein gewagtes Sprachexperiment dar, das auf die herkömmlichen literarischen Darstellungstechniken durchgehend verzichtet. Die Hinterfragung von Raum und Zeit ist zudem ein Thema, mit dem sich Weiss seit seinen surrealistischen Anfängen als Künstler beschäftigt hat. Andererseits gibt es in Weissʼ Werk, spätestens seit der Veröffentlichung des Dramas Die Ermittlung, ein Engagement für die Probleme der unterdrückten Völker der dritten Welt, das sich in einer Fülle von Essays niederschlägt, sowie in seinen Dramen Gesang vom Lusitanischen Popanz
1992, S. 110-114. Vgl. Hugo von Hofmannsthal, „Ein Brief“, in: Ders., Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Bd. 30: Erfundene Gespräche und Briefe, hrsg. von Ellen Ritter, Frankfurt am Main 1991, S. 45-55, hier S. 48f. 4
Eberhard Lämmert, „Peter Weiss – ein Dichter ohne Land“, in: Gert Mellbourn, Helmut Müssener, Hans Rossipal, Birgit Stolt (Hrsg.), Germanistische Streifzüge, S. 98f.
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Ebd.
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Dies erörtert Weiss in seinem Essay 10 Arbeitspunkte eines Autors in der geteilten Welt (1965): „Die Wahl der Sprache, die ich zum Schreiben benutze, hat nur handwerkliche Funktion.“ Siehe Weiss, R 2, S. 14. Vgl. hierzu auch Jenny Willner, Wortgewalt: Peter Weiss und die deutsche Sprache, Konstanz 2014, S. 10.
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NB 2, S. 708.
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und Viet Nam Diskurs. Darüber hinaus erweist sich bei näherer Betrachtung das literarische Werk von Peter Weiss als ein Reflex dieser Sprachkrise: Man bedenke nur die scheinbar sinnlosen Collagen, die der Autor in seine frühen Prosastücke integrierte und die zur „Waffe“ des „revoltierenden Künstlers“ werden, „gerade weil sie auf den ersten Blick so leicht als bloße Spielerei abgetan und für ‚sinnlos‘ gehalten“ werden.8 Die Heimatlosigkeit des Exilanten und Künstlers Peter Weiss äußert sich nicht nur in seiner jüdischen Identität und seinem Exildasein, sondern auch in seinem späten literarischen Durchbruch mit 44 Jahren und den Schwierigkeiten, einen Anschluss an das literarische Leben in Deutschland, vor allem an die Gruppe 47, zu finden. „Im Exil hab ich 2 Jahrzehnte lang für die Schreibtischschublade geschrieben. Das nicht mehr!“9 Weiss’ Heimatlosigkeit entspricht einem Grundgefühl der Verfremdung, das für das moderne Künstlertum des 20. Jahrhunderts prägend ist und das im Licht der oben skizzierten Sprachkrise betrachtet werden muss.10 Dabei weist Weissʼ Gesamtwerk eine ungewöhnliche Aktualität und Vielfalt auf. Er thematisiert in seinen Werken die unterschiedlichsten Themenkomplexe und Diskurse wie Emigration bzw. Exildasein, politische Theorie, Kunstkritik, die Geschichte des Avantgardefilms, Surrealismus, Marxismus, autobiographische Prosa, Reiseschilderungen, Tagebücher und ästhetische Theorie.11 Der historische Kontext seiner Werke – der Holocaust, die Naziverbrechen, die Blockpolitik des Kalten Krieges – fasziniert in seiner Spannbreite und appelliert heute noch an ein breites Publikum. Wenige andere Autoren haben wie Weiss mit den verschiedenen Kunstmedien gearbeitet und experimentiert: Der Autor hat Gemälde und Zeichnungen konzipiert, Filme gedreht, Collagen erstellt und in seine Texte integriert, Theaterstücke produziert, die Romantrilogie Ästhetik des Widerstands geschrieben mit intermedialen Bezügen unterschiedlichster Art, von Kunstreflexionen bis hin zu ausgedehnten Ekphrasen.
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Ebd., S. 102.
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NB 2, S. 659.
10 Siehe hierzu auch Michael Hofmann, Ästhetische Erfahrung in der historischen Krise: Eine Untersuchung zum Kunst- und Literaturverständnis in Peter Weiss’ Roman „Die Ästhetik des Widerstands“, (= Bonner Arbeiten zur deutschen Literatur, Bd. 45) Bonn 1990, S. 1f. 11 Zu den Reminiszenzen des Surrealismus in der Ästhetik des Widerstands, siehe Christian Bommert, Peter Weiss und der Surrealismus: Poetische Verfahrensweisen in der „Ästhetik des Widerstands“, (= Kulturwissenschaftliche Studien zur deutschen Literatur) Opladen 1990.
14 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT Weiss blieb sein Leben lang ein Bewohner von Städten, und die Stadt ist ein wichtiger Referenzpunkt in seinem Gesamtwerk. Dies gilt nicht zuletzt für die Ästhetik des Widerstands, in der Berlin, Paris und Stockholm die wichtigsten Schauplätze darstellen. Für Weiss, der sich selbst als „Stadtmensch“ verstand, bildete die Großstadt eine Projektionsfläche für sein ästhetisches und soziales Interesse. Sein Interesse blieb allerdings vorwiegend auf die europäischen Metropolen beschränkt. Im Gegensatz etwa zu seinem Autorkollegen Uwe Johnson, dessen Roman Jahrestage u.a. in New York spielt, hat Weiss aus politischen Gründen ein ambivalentes Verhältnis zur „Stadt der Städte“: Abgesehen davon, daß New York für mich die Stadt der Städte ist (für mich, den Stadtmenschen), im architektonischen Sinn, im Sinn des Völkergemischs, nicht hinsichtlich der sozialen, kulturellen Reife, sind mir die USA eine ständige Herausforderung. Die phantastische Landschaft der Riesenstadt kann nicht die Schrecklichkeiten aufwiegen, von denen die gesellschftl. Zustände des Lands geprägt sind.12
Weiss’ Darstellung der Stadt ist keineswegs einfach ein Abbild mimetischer Art, sondern vielfältig und komplex. Sind seine frühen Städtedichtungen von einer surrealistisch geprägten Technik beeinflusst, die häufig eine erotisch aufgeladene Körpermetaphorik aufweist, stellt Weiss’ Darstellung der Stadt in der Ästhetik des Widerstands eher die Dimension des Historischen im Sinne der StädtebildKonzeption Walter Benjamins dar. Auffallend ist des Weiteren die Vergewisserung des physischen Raumes, zu der sich Weiss in seinen Werken immer wieder veranlasst fühlt. Bereits in seinem ersten Brief an Peter Suhrkamp 1948 veranschaulicht Weiss seine Wiederentdeckung der deutschen Sprache mit einer Raummetapher: „ich sitze hier und schreibe in deutscher Sprache und das ist als kehrte ich in ein seit langem nicht mehr gesehenes und doch vertrautes Zimmer zurück.“13 Kennzeichnend für seine Vergegenwärtigung des physischen Stadtraumes ist folgende Passage aus den Notizbüchern: „Theresienstadt – Stadtplan von Prag Versuche, mir die Stadt zu vergegenwärtigen. (Immer wieder: die Fremdheit der Städte, in denen ich gewohnt habe. Wie lebte ich dort eigentlich? Als Träumender?)“14 Erinnerung und Raum – so wird hier deutlich – sind bei Weiss eng miteinander verbunden und ergänzen einander wechselseitig. Die Schlusspassage des frühen autobiographischen Romans Fluchtpunkt, in dem der
12 NB 2, S. 892. 13 Vgl. Peter Weiss – Siegfried Unseld – Der Briefwechsel, hrsg. von Rainer Gerlach, Frankfurt am Main 2007, S. 9-12, hier S. 9. 14 NB 2, S. 44.
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Ich-Erzähler zum ersten Mal in seinem Leben nach Paris reist, markiert einen künstlerischen Neuanfang. Nach der Ankunft des Erzählers in Paris kann er teilhaben „an einem Austausch von Gedanken, der ringsum stattfand, an kein Land gebunden“.15 Seine Probleme, sich mitzuteilen und eine adäquate Sprache zu finden, so der Erzähler, liegen nicht an seiner Heimatlosigkeit, sondern daran, dass manche Worte und Bilder ihm nicht zugänglich seien und zuerst frei gelegt werden müssen: Und wenn es schwer war, an Worte und Bilder heranzukommen, so war es nicht deshalb, weil ich nirgends hingehörte, und keine Verständigungsmöglichkeiten erkennen konnte, sondern nur deshalb, weil manche Worte und Bilder so tief lagen, daß sie erst lange gesucht, abgetastet und miteinander verglichen werden mußten, ehe sie ein Material hergaben, daß sich mitteilen ließ. An diesem Abend, im Frühjahr 1947, auf dem Seinedamm in Paris, im Alter von dreißig Jahren, sah ich, daß ich teilhaben konnte an einem Austausch von Gedanken, der ringsum stattfand, an kein Land gebunden.16
Die Hinwendung zum Raum, die schon in Weiss’ Frühwerk erkennbar ist, äußert sich in einer Vergegenwärtigung und Vergewisserung des Raumes. Die Instabilität des physischen Raumes, seine Veränderung durch Kriege, Katastrophen und menschliche Eingriffe bedeuten einen Verlust der Identität, der Erinnerungen, die auf diesen Raum projiziert werden. Diesen Verlust von Identität musste Weiss als Exilant mehrmals erleben. Die deutschen Städte, Bremen und Berlin, in denen er aufgewachsen war, lagen nach dem Krieg in Trümmern, was Weiss verstörte.17 Selbst das Stadtbild seines lebenslangen Kokons Stockholm veränderte sich in den 1960er Jahren rasch im Zuge der Erneuerung des alten Stadtzentrums. Weiss verfolgte diesen Prozess äußerst skeptisch: Die Technokraten in Stockholm: sie wollen die historischen Perspektiven im Zusammenhang mit ihrer Stadt eliminieren. ‚Das hält das Leben nur im Alten, Verbrauchten fest.‘ Fast hätten sie sich den Bombenkrieg auf Stockholm gewünscht, das wäre das einfachste gewesen, sie wären das Geplänkel um die Bewahrung histor. Sehenswürdigkeiten u Baudenkmäler losgeworden. Jedenfalls werden sie als Sieger im Kampf gegen jene, die eine
15 FP, S. 294. 16 Ebd. 17 Vgl. NB 2, S. 12: „der erste Weg, wie immer, zur Grünenstraße. Immer vor der Leere stehend, in der sich einmal unser Haus befunden hat. Hin u her auf der Grünenstraße, um irgendetwas wiederzuerkennen. Konnte mich nicht einmal mehr an diese kleine Quergasse erinnern“[.]
16 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT noch in ihren Resten bestehende Kultur schützen wollen, hervorgehn, sie reißen ab und bauen, bauen, ihre Monumente des Kapitalismus.18
Im Zitat schlägt sich eine Hinwendung zum spatial turn nieder, die den Verlust der alten Bausubstanz am Beispiel der Sanierung der Stockholmer Innenstadt anprangert. Das Zitat zeigt beispielhaft, wie die Stadt für Weiss als Palimpsest gedeutet wird, die aus verschiedenen historischen Schichten besteht. Dieser Erinneungsraum ist allerdings durch die Zerstörungswut der Stadtarchitekten bedroht, die mit der historischen Bausubstanz tabula rasa machen wollen. Die Stadt zeichnet sich zudem durch eine „Koexistenz der Zeiten“ aus, wobei diese Koexistenz in ein antagonistisches Verhältnis umgewandelt werden kann, indem der Stadtraum zum Schauplatz für „den Kampf der Vergangenheit und Gegenwart“19 wird. Es ist das Ziel der vorliegenden Studie, das Verhältnis von Raum und Erinnerung im Werk von Peter Weiss mit Schwerpunkt auf der Ästhetik des Widerstands zu untersuchen. Dabei wird nicht nur veröffentlichtes, sondern auch unveröffentlichtes Material aus dem Peter Weiss-Archiv in Berlin analysiert und zum Teil aus dem Schwedischen ins Deutsche übersetzt. Das Thema Raum und Erinnerung bildet ein Desiderat in der Weiss-Forschung. Zu diesem Thema gibt es lediglich vereinzelte Studien. Diese beschäftigen sich fast ausschließlich entweder mit dem Frühwerk des Autors oder mit der Shoah.20 Den bisher umfas-
18 NB 2, S. 411. 19 Karlheinz Stierle, Der Mythos von Paris: Zeichen und Bewusstsein der Stadt, München, Wien 1993.S. S.20, S. 22. 20 Grundlegend zum Thema Erinnerung in der Ästhetik des Widerstands ist Waltraud Wiethölter, „Mnemosyne oder Die Höllenfahrt der Erinnerung. Zur Ikono-Graphie von Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands“, in: Gerhard von Graevenitz, (Hrsg.), Zur Ästhetik der Moderne. Für Richard Brinkmann zum 70. Geburtstag. Tübingen 1992, S. 217-282. Vgl. Michael Hofmann, „Antifaschismus und poetische Erinnerung an die Shoah. Überlegungen zu Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands“, in: PWJ 3 (1994), S. 122-134. Siehe auch Arnd Beise, „Peter Weiss: ‚Verleugnete Erfahrungen lebten in mir auf‘“, in: Norbert Otto Eke, Hartmut Steinecke (Hrsg.), Shoah in der deutschsprachigen Literatur, Berlin 2006, S. 216-225. Siehe auch Ulrike Weymann, „Zur Semantik räumlicher Strukturen in Literatur und Film: Das surreale Prosastück Der Fremde und dessen filmische Adaption Hägringen“, in: Yannick Müllender, Jürgen Schutte, Ulrike Weymann (Hrsg.), Peter Weiss: Grenzgänger zwischen Künsten. Bild – Collage – Text – Film, Frankfurt am Main 2007, S. 51-67. Vgl. das Kapitel „Der poetische Raum“ zur Ästhetik des Widerstands in Steffen Groscurth, Fluchtpunkte widerständi-
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sendsten Beitrag zum Thema Erinnerung in der Ästhetik des Widerstands bietet Günter Butzers Studie Fehlende Trauer: Verfahren epischen Erinnerns in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, die in einem Kapitel Weiss’ Romantrilogie behandelt. Butzer befasst sich mit dem wichtigen Thema der Trauer, die der namenlos bleibende Ich-Erzähler 26 Jahre nach Kriegsende durch seine Erinnerungen an die verstorbenen und noch lebenden Widerstandskämpfer zu verarbeiten versucht. Den Schreibanlass seines Romans begründet der Erzähler am Ende des Buches damit, das Andenken an die Toten mittels des Schriftmediums zu konservieren und stellenvertretend für diejenigen erzählen, die verstummt sind.21 Mit dem Titel dieser Arbeit, „Rauswühlen, rauskratzen aus einer Masse von Schutt.“ Zum Verhältnis von Stadt und Erinnerung im Werk von Peter Weiss, wird ein zentrales Thema und eine wichtige Metapher im erzählerischen Werk des Autors hervorgehoben. Die eigenen verschütteten Erinnerungen der Kindheit freizulegen ist bereits in den frühen autobiographischen Werken Abschied von den Eltern und in Fluchtpunkt ein zentrales Thema. Auch in der Ästhetik des Widerstands sind die Erinnerungen des Erzählers von „Erdschichten“ zugedeckt, die freigeschaufelt werden müssen. In Abschied von den Eltern und in der Ästhetik des Widerstands spielt die Freilegung der verschütteten Erinnerungen, was durch die Metapher des Grabens veranschaulicht wird, eine zentrale Rolle. Damit verbunden ist eine Problematisierung des Erinnerungsaktes und dessen Zuverlässigkeit. Gemeinsam ist den behandelten Texten, dass sie Raum und Erinnerung in variierter Form behandeln. Mit Raum ist in beinahe sämtlichen Werken von Weiss die moderne Großstadt gemeint. Der Autor hat sein ganzes Leben in Großstädten verbracht, was auch in seine Werke Eingang gefunden hat. Die einzige Ausnahme von Belang bildet der Mikro-Roman Der Schatten des Körpers des Kutschers, der ausschließlich auf dem Land spielt. Zur Kontextualisierung gehören aus diesem Grund einige theoretische Überlegungen zur Erinnerung und zur Stadt. Gelegentlich werden hier die Reflexionen mit Textbeispielen erläutert. Das erste Kapitel, „Kontexte“, bildet ein theoretisches Gerüst zu den Textanalysen, die somit in einen diskursiven Zusammenhang gestellt werden. Darin wer-
ger Ästhetik: Zur Entstehung von Peter Weiss’ ästhetischer Theorie (= spectrum Literaturwissenschaft/ spectrum Literature, Bd. 41) Berlin 2014, S. 56-78. 21 Günter Butzer, Fehlende Trauer: Verfahren epischen Erinnerns in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, (= Münchener germanistische Beiträge, Bd. 42) München 1998, S. 160-213.
18 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT den zentrale Diskurse wie die antike Memoria-Tradition, Erinnerungsorte (wie z.B. das Museum), kollektives und kulturelles Gedächtnis, Erinnerungsauslöser, Erinnerungskonkurrenz und die Vergegenwärtigung des Erinnerten thematisiert. Im ersten Kapitel wird zudem die kulturelle Bedeutung der modernen Großstadt gewürdigt. Untersucht werden hier v. a. die Figur des Flaneurs, die Lesbarkeit der Stadt und das Motiv der zerstörten Stadt. Diese Abschnitte bilden die methodische und theoretische Grundlage für die Interpretation von Weiss’ Texten. Das zweite Kapitel der vorliegenden Studie fängt mit Weiss’ Frühwerk an, das von einer negativen Stadtmetaphysik geprägt ist. Darin finden sich bestimmte Denkfiguren und Deskriptionsverfahren wieder, die im Spätwerk wiederholt werden. Dies betrifft u.a. den Surrealismus, der den frühen Peter Weiss beeinflusste und dem er Mitte der 1960er Jahre den Rücken kehrte. Mit der Veröffentlichung der Ästhetik des Widerstands wendet sich der Autor dem Surrealismus wieder zu. Auf diese Kontinuität zu verweisen, ist ein wichtiges Anliegen dieser Studie. In dem darauf folgenden Abschnitt zu den autobiographischen Romanen Abschied von den Eltern und Fluchtpunkt kommen Stadt und Erinnerung paradigmatisch zum Ausdruck, indem die Romane in den Großstädten, in denen der Exilant Weiss lebte, spielen: Bremen, Berlin, London und Stockholm sind die Städte, in denen der Erzähler wohnt. Der Entwurzelung, die mit den Stationen des Exils – Großbritannien, Tschechoslowakei und schließlich Schweden – für die Eltern zwangsläufig verbunden ist, versuchen diese entgegenzuwirken, indem sie zumindest eine räumliche Ordnung des Mobiliars an den verschiedenen Zufluchtsorten bewahren. Der homodiegetische Erzähler setzt sich erst nach dem Tod seiner Eltern mit seiner Kindheit auseinander, was einen Erzählstrom auslöst. Die hermetischen Erzählblöcke ohne Absätze und Kapiteleinleitung erinnern an den Sprachduktus der Ästhetik des Widerstands. Auffällig ist, dass der Erzähler in Abschied den Akt des Erinnerns nie problematisiert; nie wird davon gesprochen, wie sich die Erinnerungen bei ihm einstellen. Seine Erinnerungen sind zumeist von einer unangefochtenen Sicherheit geprägt. Dagegen wird der Akt des Erinnerns in Fluchtpunkt häufig in Frage gestellt und somit diskursiv problematisiert. Die Autobiographie-Problematik, die hier angesprochen wird, bekommt später in der Ästhetik des Widerstands eine erneute Aktualität, da Weiss explizit dieses Werk als eine „Wunschautobiographie“ bezeichnet hat.22 Im zweiten Kapitel wird zudem Erinnerung als künstlerisches und politisches Konzept in den essayistischen Schriften genauer analysiert. In Weiss’ frühen Es-
22 „‚Es ist ja eine Wunschautobiographie.‘ Peter Weiss im Gespräch mit Rolf Michaelis über seinen politischen Gleichnisroman“, in: Rainer Gerlach, Matthias Richter (Hrsg.), Peter Weiss im Gespräch, Frankfurt am Main 1986, hier S. 217.
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says, etwa zum Briefträger Cheval, ist der surrealistische Einfluss auf den Autor deutlich. Die phantasmagorische Traumwirkung, die der Raum des Briefträgers Cheval auf den Autor ausübt, ist bezeichnend für die enge Verbindung zwischen Traum und Erinnerung, die Weiss’ Werk prägt. Gezeigt wird hier zudem anhand des späteren essayistischen Werks, wie Weiss’ zunehmende Politisierung ab Mitte der 1960er Jahre eng mit der Erinnerung an die Shoah zusammenhängt. Berücksichtigt werden hier zudem die frühen schwedischen Essays des Autors, die zu Unrecht in der Weiss-Forschung vernachlässigt worden sind. Kapitel drei bildet einen Übergang zur Ästhetik des Widerstands und bietet eine Einführung in die mittlerweile sehr umfassende Sekundärliteratur zur Romantrilogie. Ein wichtiges Anliegen in diesem Abschnitt besteht darin, deutlicher als es bisher in der Weiss-Forschung gemacht wurde, die Ästhetik des Widerstands als historischen Roman einzustufen. Weiss hatte schon früh den Nutzen der Historie für sein Schreiben erkannt und hatte für seine Romantrilogie genaue Recherchen betrieben: Die Ästhetik des Widerstands erweist sich bei näherem Anblick als ein polyhistorischer Roman, welcher vor historischem Personal strotzt und der sich durch einen exzessiven Gebrauch von Jahreszahlen auszeichnet. In Kapitel vier bis sechs, welche den Schwerpunkt der vorliegenden Studie ausmachen, wird Weiss’ Romantrilogie Die Ästhetik des Widerstands untersucht. Räumlichen Schwerpunkt bildet hier, wie im Frühwerk, der kulturelle Raum der modernen Großstadt, der durch das Medium des Flaneurs dekodiert wird. Dies gilt v.a. für Weiss’ Darstellung der Städte Berlin, Paris und Stockholm im Roman. Diese Städte werden in drei Kapiteln behandelt. Dort werden verschiedene Erinnerungsräume untersucht, die eine tragende Rolle spielen, u.a. das Museum, der historische Erinnerungsort (v.a. Gebäude und Plätze in der Stadt) und Beschreibungen von Kunstwerken (Ekphrasen), die eine räumliche Verdichtung des Erinnerten darstellen. Weiss greift in seinen Stadtschilderungen auf die FlaneurTradition zurück, was besonders deutlich in Stockholm und Paris wird. Im vierten Kapitel, „Paris als Buch“ erscheint die Stadt als Enzyklopädie, welche vom Ich-Erzähler dekodiert und „gelesen“ wird. Hier ist nicht zuletzt der Abriss des alten Paris durch Haussmann und die dadurch verlorengegangenen Gebäude zu nennen, wofür sich der Erzähler interessiert. Zudem wird das Paris des 19. Jahrhunderts vergegenwärtigt, als der Erzähler im Rahmen einer Traumepisode Vincent van Gogh in Montmartre trifft. Im vierten Kapitel wird zudem der Spanische Bürgerkrieg im Rahmen eines Exkurses untersucht. Dies scheint insofern gerechtfertigt, da der Spanische Bürgerkrieg für Weiss’ Generation eine Zäsur war, dessen historische Aufarbeitung Anfang der 1970er Jahre noch dringend nötig erschien. Obwohl die Handlung darin primär auf dem Land angesiedelt ist,
20 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT wird der erzählte Raum hier ähnlich wie im kulturellen Raum der Großstädte wie ein Buch „gelesen“ und dekodiert. Wie im Stockholmer Engelbrekt-Abschnitt besitzt der Spanienabschnitt einen beispielhaften Charakter historischer revolutionärer Klassenkämpfe. Im fünften Kapitel, „Berlin: Einblicke in den Abgrund“ wird auf Weiss’ Prosastück Die Besiegten rekurriert, um auf die zentrale Bedeutung der geteilten Hauptstadt für den Autor hinzuweisen. Die Analyse zeigt zudem, dass Weiss bewusst auf eine Ruinenikonographie zurückgreift, welche im 18. Jahrhundert entstanden ist. Berlin wird in der Ästhetik des Widerstands als Erinnerungsraum wahrgenommen, in welchem der kommunistische Ich-Erzähler zusammen mit seinem sozialdemokratischen Vater den Ursachen für die Zerrissenheit der Arbeiterbewegung am Beispiel des Bremer Aufstandes (1919) nachgeht. Die Autobiographie-Problematik in Abschied von den Eltern und in Fluchtpunkt kehrt hier in variierter Form wieder. Danach wird der „Untergang“ der damaligen Reichshauptstadt und die Ermordung der Widerstandskämpfer beleuchtet. Kapitel sechs, „Erinnerungsraum Stockholm“ dokumentiert Weiss’ kritische Auseinandersetzung mit der Auslöschung des kollektiven Gedächtnisses durch den Abriss des alten Stadtteils Norrmalm. Wie im Pariser Abschnitt spielt hier die Figur des Flaneurs eine bedeutende Rolle. Dass Weiss’ Widerstandsroman einen historischen Roman darstellt, wird im Engelbrekt-Abschnitt im Stockholm-Kapitel am deutlichsten: Die Schilderung des schwedischen Bauernführers des zu Ende gehenden Mittelalters strotzt vor historischem Material und Figuren. In diesem Abschnitt, welcher in der Weiss-Forschung zu Unrecht wenig Beachtung gefunden hat, werden die Quellen des Autors mit Hilfe von Dokumenten aus dem Peter Weiss-Archiv rekonstruiert. Als Paradigma des Erinnerungskonzepts des Autors dient in der Ästhetik des Widerstands die antike Mnemotechnik, die konkrete Anleitungen zur Konzipierung von Gedächtnisräumen gibt und die auf der Bildfindung im Raum beruht. Gezeigt wird zudem, dass Weiss’ Erinnerungskonzept auf die Vergegenwärtigung des Erinnerten durch das Abschreiten von Erinnerungsräumen gerichtet ist. Dabei bedient sich der Autor eines räumlichen Gedächtnismodells, dass ihm so realistisch vorkommt, dass er kaum zwischen Realem und Fiktivem unterscheiden kann: „ich bin überall dort gewesen, wo ich mein Ich, im Buch, hinstelle, habe mit allen, die ich nenne, gesprochen, kenne alle Straßen u Räumlichkeiten – ich schildre mein eignes Leben, ich kann nicht mehr trennen zw. Erfundenem u Authentischem – es ist alles authentisch (wie im Traum alles authentisch ist)“.23 Die Affinität zwischen dieser Aussage und der Erinnerungsproblematik im frü-
23 NB 2, S. 872f.
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hen autobiographischen Werk ist auffällig. Hier wie dort fußt das Erinnerungskonzept in der sinnlichen Wahrnehmung der Außenwelt, die beim erlebenden Ich Erinnerungsbilder auslöst. Weiss’ Hinwendung zum Raum ist mit seiner zunehmenden Politisierung verbunden. Dies wird nicht zuletzt durch seinen Essay Meine Ortschaft deutlich, der ein gescheiterter Versuch der Vergegenwärtigung der Shoah ist. Obwohl Weiss’ Judentum „ein halbes“ war, verstand er sich „als Jude und Ausländer“.24 Nichtdestotrotz hat er sich nie mit seiner jüdischen Herkunft anfreunden können, und er hatte latente Schuldgefühle, da er als Halbjude dem Tod in den Konzentrationslagern entgangen ist.25 Bezeichnend für Weiss’ literarische Verarbeitung der Shoah ist folgendes Zitat aus dem autobiographischen Roman Fluchtpunkt, in welchem der Zivilisationsbruch des 20. Jahrhunderts thematisiert wird. In der Geborgenheit eines Kinosaals sieht der Ich-Erzähler die KZ-Häftlinge und die Räume, für die er bestimmt war. Vergeblich versucht er, die Schreckensbilder, die vor seinen Augen abrollen, zu begreifen, wobei jemand im Kinosaal seine Stimme erhebt und „vergeßt dies nie“ ruft. Doch das Ausmaß des Jahrhundertverbrechens entzieht sich einer sprachlichen Beschreibung, so dass die Worte verstummen. Mit diesen „unauslöschlichen“ Bildern des Schreckens vor Augen muss der Erzähler leben, sie sind nicht mehr wegzudenken: Auf der blendend hellen Bildfläche sah ich die Stätten, für die ich bestimmt war, die Gestalten, zu denen ich hätte gehören sollen. Wir saßen in der Geborgenheit eines dunklen Saals und sahen, was bisher unvorstellbar gewesen war, wir sahen es in seinen Ausmaßen, die so ungeheurlich waren, daß wir sie zu unsern Lebzeiten nie bewältigen würden. Es war ein Schluchzen zu hören, und eine Stimme rief, vergeßt dies nie. Es war ein kläglicher, sinnloser Ruf, denn es gab keine Worte mehr, es gab nichts zu sagen, es gab keine Erklärungen, keine Mahnungen mehr, alle Werte waren vernichtet worden. Dort vor uns, zwischen den Leichenbergen, kauerten die Gestalten der äußersten Erniedrigung, in ihren gestreiften Lumpen. Ihre Bewegungen waren unendlich langsam, sie schwankten umher, Knochenbündel, blind füreinander, in einem Schattenreich. Die Blicke dieser Augen in den skeletthaften Schädeln schienen nicht mehr zu fassen, daß die Tore geöffnet worden waren.26
Das Zitat aktualisiert die Frage der Erinnerung an die Shoah, die der IchErzähler und seine Generation „nie bewältigen würden.“ In Uwe Johnsons Romantetralogie Jahrestage erfüllt das Medium Fotografie eine ähnliche Funktion 24 NB 2, S. S. 640, S. 644. 25 Siehe Michael Hofmann, Ästhetische Erfahrung in der historischen Krise, S. 215. 26 FP, S. 245f.
22 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT wie der Film bei Weiss, wenn auch aus der Perspektive der Täter und nicht der Opfer. Dort erinnert sich die Protagonistin Gesine Cresspahl an das Schockmittel […] Fotografie, die die Briten im Konzentrationslager Bergen-Belsen gemacht hatten und abdruckten in einer Zeitung, die sie nach dem Krieg in Lübeck laufen ließen. Die Wirkung hat bis heute nicht aufgehört. Betroffen war die eigene Person: Ich bin das Kind eines Vaters, der von der planmäßigen Ermordung der Juden gewußt hat. Betroffen war die eigene Gruppe: ich mag zwölf Jahre alt sein, ich gehöre zu einer nationalen Gruppe, die eine andere Gruppe abgeschlachtet hat in zu großer Zahl[.]27
Der Tod der letzten Zeugen des „Zivilisationsbruchs“ des 20. Jahrhunderts führt zu einer Auslöschung der lebendigen Erinnerung und deren Transformation in eine kollektive Erinnerung: Eine Generation von Zeitzeugen der schwersten Verbrechen und Katastrophen in den Annalen der Menschheitsgeschichte beginnt nun auszusterben. 40 Jahre markieren eine Epochenschwelle in der kollektiven Erinnerung: wenn die lebendige Erinnerung vom Untergang bedroht und die Formen kultureller Erinnerung zum Problem werden.28
Im Kontext dieser Transformation erfüllt Die Ästhetik des Widerstands als historischer Roman in der kollektiven Erinnerung der Deutschen die Funktion eines wichtigen Zeitdokuments.
27 Uwe Johnson, Jahrestage: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl, Bd. 1, Frankfurt am Main 1970, S. 232. 28 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S. 11. Vgl. auch ebd., S. 51.
1. Kapitel: Kontexte
1.1 R AUM
UND
E RINNERUNG
Seit dem Anfang der 1990er Jahre ist eine neue Forschungstendenz in den Geisteswissenschaften bemerkbar, nämlich ein intensives Interesse für Erinnerung und Gedächtnis. Dies hat Jan Assmann dazu veranlasst, von einer „Virulenz des Themas Gedächtnis und Erinnerung“ bzw. einem neuen „Paradigma der Kulturwissenschaften“ zu schreiben.1 In den letzten Jahrzehnten hat es zudem eine verstärkte Hinwendung zur Raumforschung gegeben; Begriffe wie spatial turn und topographical turn, „Gedächtnisorte“ und „Erinnerungslandschaften“ erleben seitdem einen Aufschwung. Viel beachtete Standardwerke der Erinnerungsforschung sind Aleida Assmanns Studie Erinnerungsräume und Pierre Noras Les Lieux de mémoire. Eine schier unendliche Anzahl von Publikationen über Erinnerung und Gedächtnis ist mittlerweile entstanden, die in dieser Studie nicht gewürdigt werden können. Berücksichtigt werden lediglich einige signifikante Tendenzen, die für die vorliegende Untersuchung relevant sind.2 Folgende Ausführungen dienen hauptsächlich dazu, einige für die vorliegende Studie interessante Problembereiche der Erinnerungsforschung zusammenfassend darzustellen. Die klassische Gedächtniskunst (memoria) besteht aus Orten (loci) und Bildern (imagines). Ein locus ist demgemäß Ort, an den man sich gut erinnern kann, wie etwa ein Haus. Bilder sind Formen, Zeichen oder Abbilder (formae, notae,
1
Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, S. 11 (Hervorhebungen im Original).
2
Zur Einführung in die Erinnerungsforschung siehe Astrid Erll, Ansgar Nünning, „Concepts and Methods for the Study of Literature and/as Cultural Memory“, in: Ansgar Nünning, Marion Gymnich, Roy Sommer, (Hrsg.), Literature and Memory: Theoretical Paradigms, Genres, Functions, Tübingen 2006, S. 11-28.
24 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT simulacra) dessen, was erinnert werden soll. Die memoria bildet eine der fünf Aufgaben der klassischen Rhetorik und behandelt die Mnemotechnik als künstliches Verfahren des Erinnerns, das das natürliche Gedächtnis des Menschen bewahren und vervollkommnen soll.3 Als mutmaßlicher Erfinder der der Lociimagines-Lehre4 gilt Simonides von Keos. Bei einem Festmahl, das von dem thessalischen Adeligen Skopas veranstaltet wurde, trug der Dichter Simonides von Keos zu Ehren seines Gastgebers ein lyrisches Gedicht vor. Nachdem er das Gedicht vorgetragen hatte und bereits das Gebäude verlassen hatte, stürzte das Dach ein, und sämtliche Gäste wurden getötet und ihre Körper zermalmt. Simonides konnte sich aber daran erinnern, wie die Gäste saßen und gelangte dann zu der Erkenntnis, dass eine planmäßige Anordnung entscheidend für das Gedächtnis ist.5 Die anschauliche Geschichte, die Simonides von Keos erfand, wird von Cicero in De oratore wiedergegeben, und zwar bezüglich der Gedächtniskunst als eine der fünf Teile der Rhetorik: Daher müssten diejenigen, welche diesen Teil ihres Intellekts trainieren, Plätze wählen und das, was sie im Gedächtnis festhalten wollten, sich bildlich vorstellen und an diese Plätze versetzen. So werde die Anordnung der Plätze die Anordnung der Dinge bewahren, die Vorstellung von den Dingen aber werden die Dinge selbst bezeichnen und wir würden die Plätze statt Wachstafeln, die Abbilder statt Buschstaben benützen.6
Mit Simonides’ Geschichte wird eine knappe Beschreibung der Mnemonik mit Orten (loci) und Bildern (imagines) verknüpft, die von den römischen Rhetoren übernommen wurde. Der Grundgedanke besteht darin, dass Räumlichkeiten sich
3
Der Verlust der menschlichen Erinnerung, den schon Platon mit der Erfindung der Speichermedien begründet, wird erst nach der Erfindung des Buchdrucks aktuell. Davor war ein gutes Gedächtnis ungeheuer wichtig für den Redner: So wird die Gedächtniskunst von Cicero in De Oratore als einer der fünf Teile der Rhetorik gezählt, wobei Bilder und Orte besondere Merkmale der Mnemotechnik sind. Das Memorieren von Bildern (imagines) und Orten (loci) half dem Redner, sich an Worte zu erinnern, die er mit bestimmten Bildern und Orten verknüpfte. Vor allem spielen Bilder eine entscheidende Rolle für die antike Gedächtniskunst. Siehe hierzu Frances A. Yates, Gedächtnis und Erinnern: Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare, Leipzig 1990, S. 11-15.
4
Vgl. Frances A. Yates, Gedächtnis und Erinnern, S. 11-13.
5
Vgl. hierzu Cicero, De oratore II, § 352-53.
6
Cicero, De oratore II, § 354.
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besonders gut zur Bewahrung und Wiedererweckung von Erinnerungen eignen.7 Quintilianus bemerkt hierzu Folgendes: Denn wenn wir nach einer gewissen Zeit an irgendwelche Örtlichkeiten zurückkehren, erkennen wir nicht nur diese selbst wieder, sondern erinnern uns auch daran, was wir dort getan haben, auch fallen uns Personen wieder ein, ja zuweilen kehren gar die Gedanken in unseren Geist zurück, die wir uns dort gemacht haben.8
Über Erinnerung zu schreiben, so Aleida Assmann, ist ohne Metaphern nicht möglich, denn die Erinnerung entzieht sich „direkter Beschreibung und drängt in die Metaphorik.“9 Erinnerung und Gedächtnis sind zwei einander komplettierende Pole, die sich „nicht ohne Schaden voneinander trennen lassen“. Lexikalisch definiert sie Assmann wie folgt: „Verbleiben wir auf dem Boden des alltäglichen Sprachgebrauchs, dann erscheint Gedächtnis als virtuelle Fähigkeit und organisches Substrat neben Erinnerung als aktuellem Vorgang des Einprägens und Rückrufens spezifischer Inhalte.“10 Laut Harald Weinrich gibt es lediglich zwei zentrale Metaphern in der Memoria-Tradition, nämlich die Wachstafel, die sich in Anlehnung an Platon auf das natürliche menschliche Gedächtnis bezieht und das Magazin, das mit der künstlichen Gedächtnistechnik der Rhetorik verknüpft wird. Mit der Magazinmetapher wird die literarturgeschichtlich einflussreiche Loci-imagines-Lehre verbunden. Die von Weinrich vorgeschlagenen zentralen Gedächtnismetaphern werden von Aleida Assmann mit zwei weiteren, für die
7
Peter Weiss bedient sich des Öfteren der Loci-imagines-Gedächtnistechnik. Dies ergibt sich nicht zuletzt aus seiner Arbeit als Filmemacher: So stellt er sich in einem Interview für eine französische Zeitschrift 1958 ein nie realisiertes Filmprojekt folgenderweise vor: „Ein Mann sitzt in einem Zimmer am Fenster und durchlebt die Stationen seines Lebens noch einmal. Episoden, die sich in diesem Zimmer abgespielt haben oder die ihm durch einzelne Gegenstände dieses Zimmers in Erinnerung gerufen werden.“ Vgl. Simone Dubreuilh, „Peter Weiss, ein junger schwedischer Filmemacher, hinter die Kulissen der modernen Gefängnisse“, in: Rainer Gerlach, Matthias Richter (Hrsg.), Peter Weiss im Gespräch, S. 25f.
8
Vgl. Marcus Fabius Quintilianus, Ausbildung des Redners: zwölf Bücher; lateinisch und deutsch, übersetzt von Helmut Rahn, 5. Aufl., Darmstadt 2011, XI, 2, S. 17.
9
Siehe Aleida Assmann, „Zur Metaphorik der Erinnerung“, in: Dies., Dietrich Harth (Hrsg.), Mnemosyne: Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, S. 13-35, hier S. 13f.
10 Ebd., S. 14.
26 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT westliche Kultur erinnerungskonstituierenden Metaphern ergänzt, dem Ruhmestempel und der Bibliothek.11 Die Geschichte des kollektiven Gedächtnisses, so Jan Assmann, ist zwangsweise mit der Mediengeschichte verbunden. So haben medientechnische Errungenschaften wie die Umwandlung der mündlichen Kultur in eine schriftliche, die Erfindung des Buchdrucks bis hin zu den modernen Medien (Radio, Telefon, Fernsehen, Internet) zu „erinnerungskulturellen Wandlungsprozessen“ geführt.12 Aleida Assmann unterscheidet im Einzelnen zwischen vier Medien des kollektiven Gedächtnisses: Die Schrift, das Bild, der Körper und der Ort. Im Hinblick auf Bilder ist von einer anderen „Übertragungsdynamik“ als bei Texten auszugehen, wobei Bilder „der Einprägungskraft des Gedächtnisses näher“ stehen als das Schriftmedium. Dies gilt vor allem für die Photographie, die „fast alle Gedächtnismedien“ übertrifft wenn es darum geht, den „indexikalischen Charakter“ einer „bestimmten Vergangenheit“ zu vermitteln.13 Aleida und Jan Assmann haben die Vorstellung zweier modi memorandi entwickelt, das kulturelle und das kommunikative Gedächtnis, was im Folgenden kurz erläutert werden soll. Unter kulturellem Gedächtnis versteht Jan Assmann einen „Bestand von Wiedergebrauchs-Texten, – Bildern und Riten“, Mythen und ein „kollektiv geteiltes Wissen“14, das das kulturelle Selbstverständnis einer his-
11 Aleida Assmann, „Zur Metaphorik der Erinnerung“, in: Dies., Dietrich Harth (Hrsg.), Mnemosyne: Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, S. 14-18. Siehe auch Günter Butzer, „Gedächtnismetaphorik“, in: Astrid Erll, Ansgar Nünning (Hrsg.), Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft: Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, S. 11-29, hier S. 13. Butzer polemisiert in seinem Beitrag gegen Aleida Assmanns Verständnis von Metaphorik, das im Lichte der „psychologischen und neurobiologischen Gedächtnisforschung“ als „problematisch“ einszustufen sei. 12 Vgl. hierzu Astrid Erll, „Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses“, in: Dies., Ansgar Nünning Hrsg.), Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft: Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, (= Media and cultural memory, Bd. 2) Berlin, New York 2005, S. 249-276, hier S. 253. 13 Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 221, S. 227. 14 Jan, Assmann, „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität.“ in: Ders., Tonio Hölscher (Hrsg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1988, S. 9-19, hier S. 15. Vgl. hierzu auch Astrid Erll, Ansgar Nünning, „Literatur und Erinnerungskultur: Eine narratologische und funktionsgeschichtliche Theorienskizze mit Fallbeispielen aus der britischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts“, in: Günter Oesterle (Hrsg.), Erinnerung, Gedächtnis, Wissen: Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisfor-
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torischen Epoche konsolidiert. Dem kulturellen Gedächtnis haftet „etwas Sakrales“ an.15 Bezeichnend für das kulturelle Gedächtnis sind zudem „symbolische Figuren, an die sich die Erinnerung heftet“, so genannte Erinnerungsfiguren. Durch Erinnerungsfiguren und durch die rituale Vergegenwärtigung von Geschichte „vergewissert sich eine Gruppe ihrer Identität.“16 Inszeniert wird das kulturelle Gedächtnis durch traditionell kodierte Medien, z.B. in Wort, Bildkunstwerk, Tanz, usw.17 Kommunikatives Gedächtnis bezieht sich dagegen auf Erinnerungen der jüngsten Vergangenheit: Es sind Geschichtserfahrungen bestimmter Generationen, die Menschen mit ihren Zeitgenossen (etwa 3-4 Generationen oder 80-100 Jahre) teilen. Das kommunikative Gedächtnis „wächst in der Gruppe historisch zu; es entsteht in der Zeit und vergeht mit ihr, genauer: mit seinen Trägern.“18 Die jeweiligen Medien konstituieren das kollektive Gedächtnis, indem sie Information speichern, verbreiten und erschließen. Aleida Assmann unterscheidet innerhalb des kulturellen Gedächtnisses zwischen zwei „komplementären Modi“, das Speichergedächtnis und das Funktionsgedächtnis. Anders als das Funktionsgedächtnis beinhaltet das Speichergedächtnis Überlieferungsbestände, die in der Gegenwart nicht gebraucht werden, die aber latent vorhanden sind und in der Zukunft gebraucht werden könnten. Das Speichergedächtnis ist anachron und beschreibt laut Aleida Assmann ein Gedächtnisreservoir allen Wissens, aller angesammelter Texte, Handlungsmuster, usw. Als Korrektiv des Funktionsgedächtnisses ist das Speichergedächtnis auch insofern von Bedeutung, da es von zukünftigen Generationen neu bewertet werden kann. Das bewohnte Gedächtnis wollen wir das Funktionsgedächtnis nennen. Seine wichtigsten Merkmale sind Gruppenbezug, Selektivität, Wertbindung und Zukunftsorientierung. Die historischen Wissenschaften sind demgegenüber ein Gedächtnis zweiter Ordnung, ein Gedächtnis der Gedächtnisse, das in sich aufnimmt, was seinen vitalen Bezug zur Gegenwart verloren hat. Dieses Gedächtnis der Gedächnisse schlage ich vor, Speichergedächtnis zu nennen.19
schung, (= Formen der Erinnerung, hrsg. von Günter Oesterle, Bd. 26) Göttingen 2005, S. 185-210, hier S. 195. 15 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 52. 16 Ebd., S. 53. 17 Vgl. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 48-66. 18 Ebd., S. 50. 19 Aleida Assmann, Erinnerungsräume, S. 133-142, hier S. 134.
28 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT Gegen Assmanns Idee eines kulturellen Gedächtnisses wird häufig Maurice Halbwachs’ Vorstellung vom kollektiven Gedächtnis in der Forschung hervorgehoben.20 Gerade angesichts tiefgreifender Ereignisse wie Krieg oder Systemwechsel und den damit verbundenen Veränderungsprozessen ist, wie Kenneweg bemerkt, „von komplexen wechselseitigen Beeinflussungen zwischen individuellen biographischen Erinnerungen auf der einen und öffentlichen, in politischen Auseinandersetzungen eingebundenen Debatten um Vergangenheitsdeutungen auf der anderen Seite“ auszugehen.21 Demgemäß sind immer Individuen als Träger von Erinnerungen anzusehen, die sich allerdings in komplexeren sozialen Zusammenhängen bewegen. Die Literatur ist ein Medium, in welchem individuelle und gemeinschaftliche Erinnerungsinhalte geäußert werden können und in dem biographisches Erinnern und gesellschaftliche Entwicklungen sich wechselseitig ergänzen. Im Folgenden rücken Ansätze in den Fokus, die die Inszenierung von Erinnerungen in Stadttexten und deren Verbindung in außerliterarischen Erinnerungsdiskursen beachten. Dies ist gerade im Hinblick auf das Gesamtwerk von Peter Weiss aktuell, der als Migrant eine Anzahl Texte geschrieben hat, wie Reisebeschreibungen (Notizbücher, Kopenhagener Journal, Pariser Journal), autobiographische Prosa (Abschied von den Eltern, Fluchtpunkt), Dramen (Die Ermittlung) und Romane (Die Ästhetik des Widerstands), in denen individuelles Erleben und Erfahrung sowie politische und kunstgeschichtliche Diskurse in verschiedenen Städten räumlich gefasst werden, wie beispielsweise Ver- und Entwurzelung, Heimat, Herkunft und kulturelles Gedächtnis. Astrid Erll betont bei der Inszenierung von Erinnerung in literarischen Texten die außerliterarischen Aspekte: Gerade die spezifische Kommunikationsstruktur narrativ-fiktionaler Texte erlaubt es den Autoren, die Entstehung und Wirkungsweise kollektiver Gedächtnisse auf verschiedenen textinternen und- externen Ebenen zu bearbeiten und in literarisches Material umzuwandeln: Literarische Figuren erleben und erinnern gemeinsam, Erzählinstanzen appellieren durch Leseanrede an fiktive Leser, was die Chance bietet, die Leserinnen und Leser als Teil einer Erinnerungsgemeinschaft zu integrieren. Autor und Leserschaft können demgemäß eine soziale Gruppe bilden, die die Kenntnis eines bestimmten Erinnerungsdiskurses verbindet, aus dem wiederum Schemata für die
20 Vgl. hierzu Anne Cornelia Kenneweg, Städte als Erinnerungsräume: Deutungen gesellschaftlicher Umbrüche in der serbischen und bulgarischen Prosa im Sozialismus, Berlin 2009, S. 24f. 21 Ebd., S. 27.
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Rezeption weiterer, potentiell konkurrierender Erinnerungsdiskurse abgeleitet werden können.22 Die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit Gedächtnis lässt sich in drei Hauptrichtungen einstufen: Mit „‚Gedächtnis der Literatur‘“ ist vor allem intertextuelle Bezüge gemeint, in welchen die Literatur durch den (zumeist) diachronen Bezug auf ältere Texte, Symbole oder Topoi „an sich selbst erinnert“. Das „‚Gedächtnis in der Literatur’ “ betrifft die Inszenierung und Darstellung von Erinnerung in literarischen Texten. Es wird hier untersucht, wie Erinnerung inszeniert wird und welche Funktion sie erfüllt. Sowohl kollektives als auch individuelles Gedächtnis kann hierbei untersucht werden. Häufig werden hier einzelne Werke synchron untersucht. Die „‚Literatur als Medium des Gedächtnisses’ “ geht davon aus, dass das literarische Werk nicht nur „auf Gedächtnisprozessen beruht (‚Gedächtnis der Literatur‘ )“ oder „Gedächtnis darstellt (‚Gedächtnis in der Literatur‘)“, sondern auch Gedächtnis „vermittelt.“23 In der vorliegenden Studie wird vor allem das „Gedächtnis in der Literatur“ untersucht. Die wissenschaftliche Untersuchung von Raum und Erinnerung ist keineswegs unproblematisch. Hervorgehoben wird häufig das Problem, wie sich die Darstellung von Raum in literarischen Texten narrativ analysieren lässt. Diesbezüglich konstatiert Natascha Würzbach „eine Marginalisierung des Raumes in der Narratologie“24. Auch Christoph Bode und Dorothee Birke, die die Funktion des Raums für die Inszenierung von Erinnerung narratologisch zu analysieren versuchen, verweisen auf ein Desiderat der Forschung.25 Denn gerade die schier endlose Vielfalt an literarischen Raumdarstellungen trägt dazu bei, dass eine Systematisierung des Begriffsapparats schwierig erscheint:
22 Vgl. hierzu Astrid Erll, „Literatur und kulturelles Gedächtnis. Zur Begriffs- und Forschungsgeschichte, zum Leistungsvermögen und zur literaturwissenschaftlichen Relevanz eines neuen Paradigmas der Kulturwissenschaft“, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, Bd. 43, Berlin 2002, S. 257. 23 Astrid Erll, Ansgar Nünning, „Literaturwissenschaftliche Konzepte von Gedächtnis: Ein einführender Überblick“, in: Ebd., (Hrsg.), Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft: Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, S. 1-9, hier S. 2. 24 Natascha Würzbach, „Erzählter Raum: Fiktionaler Baustein, kultureller Sinnträger, Ausdruck der Geschlechterordnung“, in: Jörg Helbig (Hrsg.), Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert. Festschrift für Wilhelm Füger, Heidelberg 2001, S. 105129, hier S. 106. 25 Michael Basseler, Dorothee Birke, „Mimesis des Erinnerns“, in: Astrid Erll, Ansgar Nünning (Hrsg.), Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft: Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, S. 123-147, hier S. 130.
30 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT Die Bedeutung der Raumdarstellung für die Mimesis des Erinnerns im Roman lässt sich weniger gut systematisch erfassen als die der Zeitdarstellung. Bislang fehlt es noch an einem umfassenden erzähltheoretischen Raster für die Kategorien der Raumdarstellung: das liegt vermutlich nicht zuletzt daran, dass „Raum“ im Roman eine schwer einzugrenzende Kategorie ist. Vom konkreten Schauplatz der Handlung bis zu recht abstrakten Vorstellungen wie der einer Aufteilung zwischen Innen- und Außenwelt kann der Begriff eine 26
sehr große Anzahl an verschiedenartigen Phänomenen bezeichnen.
Wer die Bedeutung der Raumdarstellung bei der Inszenierung von Erinnerung narratologisch zu erfassen versucht, kann also nicht auf einen bereits ausgearbeiteten Begriffsapparat zurückgreifen. Ein Forschungsdesiderat erschließt somit Katrin Dennerlein, die den systematischen Versuch unternimmt, Raum in fiktionalen Erzähltexten narratologisch zu analysieren. Gegenüber älteren Ansätzen zur Erzählbarkeit des Raumes, etwa Gaston Bachelards Poetik des Raumes, ist Dennerleins Ansatz insofern neu, da sie mit einem interdisziplinären Ansatz arbeitet, wobei sie Kognitionswissenschaft, Psychologie, Linguistik, Geographie, Soziologie sowie Evolutionsbiologie- und Psychologie verbindet.27 Bei der Inszenierung von Erinnerung im literarischen Text werden die Bezüge zur Vergangenheit in der Regel über Figuren, Gegenstände oder Sinneseindrücke vermittelt, die als Auslöser der Erinnerung einer Figur fungieren. Wenn das Erzählen sich auf das biographische Gedächtnis einer Figur bezieht, sind solche Erinnerungsauslöser häufig überraschende Begegnungen mit früheren Freunden, das Wiederfinden von Dokumenten, Briefen oder die Erinnerung an einen Ort, der früher für die Figur von Bedeutung war, Gerüche oder Speisen, wie der berühmte Geschmack des Madeleine-Gebäcks, der in Marcel Prousts Á la Recherche du temps perdu eine biographische Auslöserfunktion einnimmt. In Uwe Johnsons Roman Jahrestage gibt es mehrere Anspielungen auf Marcel Proust und die Problematisierung des Gedächtnisses, vor allem in den expliziten Erinnerungsdiskursen. In Anlehnung an Prousts auf Bergson zurückgehende Unterscheidung zwischen willkürlicher und unwillkürlicher Erinnerung (mémoire volontaire, mémoire involontaire) thematisiert Johnson das Problem der Vergegenwärtigung des Erinnerten. Im Gegensatz zu Proust, bei dem der Geruch des Madeleine-Kuchens den Erinnerungsstrom auslöst, löst bei Johnson der „teerige, faule, dennoch windfrische Geruch“ von „Gustafssons Fischsalat“ eine Refle-
26 Ebd. 27 Siehe Gaston Bachelard, Poetik des Raumes, (Fr.: La poétique de l’ espace). Aus dem Französischen übersetzt von Kurt Leonhard, München 1960 und Katrin Dennerlein, Narratologie des Raumes, (= Narratologia, Bd. 22) Berlin 2009.
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xion über das menschliche Gedächtnis heraus. Die mémoire involontaire wird von Gesine Cresspahl verworfen. Gustafssons Fischsalat kann, dem pikanten Geruch zum Trotz, das Vergangene nicht vergegenwärtigen. Was einmal lebendige Wirklichkeit war, kann nicht zurückgeholt werden. Übrig bleibt nur „das ausgeraubte und raumlose Bild“: Das Depot des Gedächtnisses ist gerade auf Reproduktion nicht angelegt. Eben dem Abruf eines Vorgangs widersetzt es sich. Auf Anstoß, auf bloß partielle Kongruenz, aus dem blauen Absurden liefert es freiwillig Fakten, Zahlen, Fremdsprache, abgetrennte Gesten; halte ihm hin einen teerigen, fauligen, dennoch windfrischen Geruch, den Nebenhauch aus Gustafssons berühmtem Fischsalat, und bitte um Inhalt für die Leere, die einmal Wirklichkeit, Lebensgefühl, Handlung war; es wird die Ausfüllung verweigern. Die Blockade läßt Fetzen, Splitter, Scherben, Späne durchsickern, damit sie das ausgeraubte und raumlose Bild sinnlos überstreuen, die Spur der gesuchten Szene zertreten, so daß wir blind sind mit offenen Augen.
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Das Zitat bestätigt Siegfried J. Schmidts Hypothese, nämlich dass Erinnerungen sich nicht auf Objekte beziehen müssen. Denn die Vergangenheit bekommt erst durch den Akt des Erinnerns eine konkrete Form und gewinnt somit eine Identität: „Erinnern konstruiert Vergangenheit.“29 Erinnerungsauslöser sind freilich nicht nur biographisch bei Erzählfiguren verankert, sondern auch wenn im literarischen Text gesellschaftliche Erinnerungsprozesse gedeutet werden, wie die Darstellung historischer Begebenheiten in Museen, Bibliotheken oder Denkmälern. Da Erinnerungsauslöser häufig nicht nur fiktional sind, sondern auf real existierende Kunstwerke, Gegenstände, Ereignisse oder Vorstellungen verweisen, spricht man von Intertextualität, Intermedialität und Interdiskursivität literarischer Erinnerungsinszenierungen, die unter dem Schirmbegriff „Selektionsstrukturen“ subsumiert werden können. Auch Architektur ist als Medium des kollektiven Gedächtnisses zu betrachten. Sie kann – und hier zeigt sich eine interessante Parallele zum Stadtdiskurs – wie Benjamin Burkhardt überzeugend darstellt, als „Kommunikationsmittel bzw. [als] Code“ fungieren.30 Das Medium Architektur ist hier nicht nur wegen des 28 Uwe Johnson, Jahrestage: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl, Bd. 1, S. 63f. 29 Siegfried J. Schmidt, „Gedächtnis – Erzählen – Identität“, in: Aleida Assmann, Dietrich Harth (Hrsg.), Mnemosyne: Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt am Main 1991, S. 378-397, hier S. 388 (Hervorhebungen im Original). 30 Benjamin Burkhardt, „Der Trifels und die nationalsozialistische Erinnerungskultur: Architektur als Medium des kollektiven Gedächtnisses“, in: Astrid Erll, Ansgar Nün-
32 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT Gebrauchswerts relevant, sondern viel wichtiger ist die Bedeutung, die man ihm zuschreibt. Was ein Gebäude bedeutet, entscheidet sich im Laufe seiner Geschichte, durch seine Einbindung in das gesellschaftliche Leben. Dies wird am Beispiel der Frankfurter Paulskirche deutlich, die erst im Revolutionsjahr 1848 als Grundstein der deutschen Demokratie in die Geschichte einging. Die moderne Gesellschaft zeichnet sich durch eine zunehmende Vernetzung der Kommunikation aus, wobei verschiedene Interpretationen der Geschichte miteinander konkurrieren und um Deutungshoheit kämpfen. Diese „Politisierung 31 des Verständnisses von Erinnerungskultur“ führt dazu, dass besonders kontroverse und umstrittene Erinnerungsdiskurse um Wahrheitsanspruch miteinander konkurrieren. Autoren positionieren sich im Kampf um die Deutungshoheit verschiedener Erinnerungsdiskurse, sie stellen ihre Texte in den Dienst einer bestimmten Geschichtsauffassung.32 Am Beispiel der Geschichtsvorstellung in der Ästhetik des Widerstands, die eine Art Selbstkritik der Arbeiterbewegung darstellt, wird zudem deutlich, dass Schriftsteller hegemoniale Gedächtnisvorstellungen umdeuten können. Im Hinblick auf die Ästhetik des Widerstands ist die Frage der Vergangenheitsdeutung besonders relevant, da es hier ein wichtiges Anliegen von Peter Weiss ist, verschüttete Erinnerungen im Widerstand neu zu beleben und dadurch hegemoniale Legitimitätsansprüche der Geschichtsschreibung in Ost und West in Frage zu stellen. Nicht zuletzt kritisiert Weiss den Mangel an einer „real existierenden Geschichtsschreibung“ in der DDR, unter anderem bezüglich des Molotow-Ribbentrop-Paktes und des Stalinistischen Terrors.33 Im literarischen Text kann dann der Erinnerungsprozess selbst problematisiert werden. Friedrich Nietzsche entwirft in Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben „eine Dreiheit von Arten der Historie: […] eine monumentalische, eine antiquarische und eine kritische Art der Historie“.34 Astrid Erll hat
ning (Hrsg.), Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifität, Berlin, New York 2004, S. 227-254, hier S. 239f. 31 Siehe Martin Saar, „Wem gehört das kollektive Gedächtnis? Ein sozialphilosophischer Ausblick auf Kultur, Multikulturalismus und Erinnerung“, in: Ders., Gerald Echterhoff (Hrsg.), Kontexte und Kulturen des Erinnerns. Maurice Halbwachs und das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses, Konstanz 2002, S. 267-278, hier S. 274. Vgl. hierzu auch Anne Cornelia Kenneweg, Städte als Erinnerungsräume, S. 26. 32 Vgl. Ebd., S. 31. 33 NB 2, S. 812. 34 Friedrich Nietzsche, „Unzeitgemässe Betrachtungen II: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“, in: Ders., Werke: Kritische Gesamtausgabe, Abt. 3, Bd. 1:
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in enger Anlehnung an dieses Geschichtsmodell fünf „Modi Memorandi“35 konzipiert, die in literarischen Texten thematisiert werden können:
Die Geburt der Tragödie, Unzeitgemässe Betrachtungen I-III, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin, New York 1972, S. 254. (Hervorhebungen im Original.) Die monumentale Historie treibt laut Nietzsche die Menschheit zu großen Taten an, indem sie sie an Heldentaten und Schlachten erinnert. Sie birgt allerdings die Gefahr von Missbrauch durch „Egoisten“ und „Bösewichter“, was verhängnisvoll sein kann: „Dass die grossen Momente im Kampfe der Einzelnen eine Kette bilden, dass in ihnen ein Höhenzug der Menschheit durch Jahrtausende hin sich verbinde, dass für mich das Höchste eines solchen längst vergangenen Momentes noch lebendig, hell und gross sei – das ist der Grundgedanke im Glauben an die Humanität, der sich in der Forderung einer monumentalischen Historie ausspricht. […] Die monumentale Historie täuscht durch Analogien: sie reitzt mit verführerischen Aehnlichkeiten den Muthigen zur Verwegenheit, den Begeisterten zum Fanatismus, und denkt man sich gar diese Historie in den Köpfen der begabten Egoisten und der schwärmerischen Bösewichter, so werden Reiche zerstört, Fürsten ermordet, Kriege und Revolutionen angestiftet und die Zahl der geschichtlichen ‚Effecte an sich‘, das heisst der Wirkungen ohne zureichende Ursachen, von neuem vermehrt.“ (S. 255, S. 258f.) In der antiquarischen Historie sieht Nietzsche die Gefahr eines sterilen Historismus ohne Bezug auf das Werdende: „Hier ist immer eine Gefahr sehr in der Nähe: endlich wird einmal alles Alte und Vergangene, das überhaupt noch in den Gesichtskreis tritt, einfach als gleich ehrwürdig hingenommen, alles was aber diesem Alten nicht mit Ehrfurcht entgegen kommt, also das Neue und Werdende, abgelehnt und angefeindet.“ (S. 263.) Die kritische Historie „muss die Kraft haben und von Zeit zu Zeit anwenden, eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen, um leben zu können: dies erreicht er dadurch, dass er sie vor Gericht zieht, peinlich inquirirt, und verurtheilt; jede Vergangenheit aber ist werth verurteilt zu werden“. (S. 265.) 35 Diese fünf Modi Memorandi stellen eine Weiterentwicklung aus Erlls Dissertation dar, in der die Verfasserin vier Modi der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses entwirft: Kultureller, kommunikativer, antagonistischer und reflexiver Modus. Unter der „Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses“ versteht Erll „[d]ie Gesamtheit der literarischen Verfahren, durch die der Gedächtnisroman auf verschiedenen textinternen Ebenen als Medium und Modell des kollektiven Gedächtnisses inszeniert wird“. Siehe Astrid Erll, Gedächtnisromane: Literatur über den Ersten Weltkrieg als Medium englischer und deutscher Erinnerungskulturen in den 1920er Jahren, (= Studies in English Literary and Cultural History, Bd. 10), Trier 2003, S. 147-160, hier S. 146.
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Im erfahrungshaftigen Modus erscheint das Erzählte als Gegenstand des alltagsweltlichen kommunikativen Gedächtnisses. Im monumentalen Modus erscheint das Dargestellte als verbindlicher Gegenstand eines übergreifenden kulturellen (nationalen, religiösen) Sinnhorizonts, als Mythos des verbindlichen kulturellen Gedächtnisses Im historisierenden Modus erscheint das Dargestellte als ein Teil einer abgeschlossenen Vergangenheit und als Gegenstand der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung. Im antagonistischen Modus werden Erinnerungskonkurrenzen literarisch ausgehandelt. Ein reflexiver Modus liegt vor, wenn das literarische Werk eine erinnerungskulturelle Selbstbeobachtung ermöglicht.36
Die Ausarbeitung dieser Modi ist ein Versuch, mit einem narrativen Begriffsapparat eine „Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses“ zu entwerfen.37 Erll schreibt demgemäß den einzelnen Modi bestimmte, prototypische Eigenschaften zu und betont zugleich die „stets ineinander greifende Formen des literarischen Vergangenheitsbezugs“, wobei von einer „Verbindung verschiedener Modi“ auszugehen ist.38 Es ist weiter von Belang, wessen Erinnerungen im Text präsentiert werden. Geht man bei der literarischen Inszenierung von Erinnerungen von einem IchErzähler aus, wie er in fast allen von Weiss’ Prosatexten zu finden ist, wird ein Spannungsverhältnis zwischen dem erlebendem und dem erzählenden Ich deutlich: In Ich-Erzählungen, d.h. in homodiegetischen, vor allem in autodiegetischen Texten – Memoiren, Autobiographien und autobiographisch geprägten Romanen – wird soziokulturell geprägte Erinnerung (collected memory) beobachtbar. Zentrales Merkmal von Texten dieser Gattungen ist die narrative Inszenierung von Erinnerungsprozessen. Üblicherweise wird dabei zwischen einem erlebendem und einem erzählenden Ich unterschieden und damit eine zweifache Perspektive auf die Erinnerungsproblematik gewährt. Auf der Handlungsebene präsentieren die Texte dem Leser die Erlebnisse eines in soziale Kontexte eingebetteten Individuums, dessen Wahrnehmung der Ereignisse bereits durch viele kollekti-
36 Vgl. Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 167-191, hier S. 168. 37 Ebd., S. 168 (Hervorhebungen im Original). 38 Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 175, S. 189 (Hervorhebungen im Original).
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ve Bezugsrahmen geprägt ist. Auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung kommt mit der Instanz eines gealterten, rückschauenden, kommentierenden, analysierenden, wertenden und damit sinnstiftenden erzählenden Ich die Situation des Abrufs von Gedächtnisinhalten zur Darstellung.39
Astrid Erll stuft demgemäß sowohl den personalen Erzähler als auch den IchErzähler in den reflexiven Modus ein, der dem Leser einen Einblick in deren Gedankenwelt gewährt. Für die Inszenierung des kollektiv Erinnerten eignen sich laut Erll am besten multiperspektivisch fokalisierte Texte. Durch multiperspektivisches Erzählen wird das Erinnerte aus der Sicht mehrerer Erzähler vermittelt. Bezeichnend für diese Texte ist die Pluralität innerhalb der verschiedenen Erinnerungsdiskurse, wobei die verschiedenen Erzähler um Erinnerungshoheit kämpfen. Dabei können interessante „Funktionsweisen und Probleme“ innerhalb der Erinnerungskultur zum Ausdruck kommen: Figuren und individualisierte Erzählinstanzen werden in der Regel mit einer „Perspektive“ ausgestattet, die dem Leser einen Einblick in deren Informationsstand, psychologische Disposition und handlungsleitenden Werte und Normen gewährt. Die Gestaltung der Perspektivenstruktur kann dazu beitragen, sowohl Individualität als auch kulturelle Bedingtheit der Einzelperspektiven und die erzählte Wirklichkeit zu veranschaulichen. […] In multiperspektivisch erzählten oder fokalisierten Texten trägt die Auffächerung des kollektiv Erinnerten in eine Vielzahl von Versionen und Wertungen zwar zum Eindruck einer realistischen Darstellungsweise bei, denn Pluralität und Heterogenität kollektiver Wirklichkeitswahrnehmung und Erinnerung, die Konkurrenz unterschiedlicher Gruppengedächtnisse und das Ringen um Erinnerungshoheit sind zentrale Bestandsteile vieler Erinnerungskulturen. Multiperspektivische Darstellungsverfahren machen aber – vor allem, wenn die perspektivischen Brechungen der erzählten Welt durch wahrnehmende Subjekte nicht in einem Fluchtpunkt zusammengeführt werden – zugleich auch Funktionsweisen und Probleme der Erinnerungskultur sichtbar.40
Wichtig scheint auch die Zeitdarstellung bei der literarischen Auseinandersetzung mit Erinnerung. So haben Michael Basseler und Dorothee Birke in einem 39 Ebd., S. 186. 40 Siehe Astrid Erll, Ansgar Nünning, „Literatur und Erinnerungskultur: Eine narratologische und funktionsgeschichtliche Theorienskizze mit Fallbeispielen aus der britischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts“, in: Günter Oesterle (Hrsg.), Erinnerung, Gedächtnis, Wissen: Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, S. 202f.
36 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT Beitrag über die „Mimesis des Erinnerns“ gezeigt, dass bei der Darstellung individuellen Erinnerns die Perspektive des Erzählers oder der Erzählfiguren häufig mit der Einführung mehrerer Zeitebenen erfolgt.41 Doris Bachmann-Medick hat darauf hingewiesen, dass das Verfahren des psychischen „Kartographierens“ literarischer Texte im Zusammenhang mit der Raumdarstellung interpretiert werden kann.42 Eine zentrale Frage bei der Untersuchung der Raumdarstellung in literarischen Texten ist die Bedeutung und/oder die (symbolische) Funktion des Raumes. Die Wahl von Orten und Räumen kann maßgeblich zur Komposition eines literarischen Werkes beitragen, u.a. indem der Raum als deiktischer Meridian in den Mittelpunkt des Werkes rückt. Dies gilt zumal für Orte und Räume, die emotional oder geschichtlich mit Bedeutung aufgeladen sind. So wird beispielsweise in der Reiseliteratur die „Bewegung durch den Raum, die mit einer Bewegung durch die Zeit korreliert“43, thematisiert. In anderen Texten können Gebäude, Denkmäler, Straßen oder Plätze, die Erinnerung konstituieren oder die Geschichte eines bestimmten Orts beschrieben werden. Der Wechsel des Schauplatzes führt häufig zu einer Verschiebung der diegetischen Ebene und/oder der Erzähl-
41 Michael Basseler, Dorothee Birke, „Mimesis des Erinnerns“, in: Astrid Erll, Ansgar Nünning (Hrsg.), Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft: Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, S. 125-130. 42 Vgl. hierzu Doris Bachmann-Medick, „Spatial Turn“, in: Dies. (Hrsg.), Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 284-328, hier S. 299f.: „Der Darstellungsakzent dringt in den Vordergrund, wenn vom topographical turn, gleichsam einer Unterströmung des spatial turn, die Rede ist […] [.] Die Karte ist hier ein herausgehobener Gegenstand, der aber für den spatial oder topographical turn erst im Zuge ihrer methodischen Umsetzung oder gar strategischen Verwendung im Verfahren des ‚mapping‘ interessant wird. Mapping bleibt freilich nicht mehr nur auf Karten im engeren Sinn bezogen, sondern wird zu einem allgemeinen (metaphorisierten) Ordnungsmuster […] [.] Solche Kartierungsfelder setzen eine Erweiterung der physischen Karte zu ‚mental maps‘ voraus, also zu symbolischen und vor allem subjektiven Aufladungen der kartographischen Bezugspunkte mit je verschiedenen Bedeutungen. Mental Maps verweisen auf die Komplexität der Raumperspektive, auf die Schnittstellen zwischen Raum und Zeit, aufgrund ihrer Überlagerung der physisch-räumlichen Strukturen durch (subjektive) Erinnerungsakte. Sie bringen Kartierung als mentale Operation in den Blick.“ 43 Michael Basseler, Dorothee Birke, „Mimesis des Erinnerns“, in: Astrid Erll, Ansgar Nünning (Hrsg.), Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft: Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, S. 132.
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situation und kann zudem mit der psychischen Konstitution der literarischen Figuren korrespondieren. Ein gutes Beispiel hierfür bietet die Darstellung des Raumes in Weiss’ Erzählung Das Duell (1951 auf Schwedisch erschienen), der mit der psychischen Konstitution des Protagonisten korrespondiert: „Eine Kraft wuchs in ihm, die Kraft, die ihn mit dem Zimmer verband, das er verlassen hatte. Das Zimmer hatte eine Forderung an ihn, die sich immer stärker in ihm geltend machte. Das Zimmer hing hinter ihm wie ein Magnet.“44 Erinnerungen sind umkämpft und verschiedene Vergangenheitsperspektiven ringen ständig um Deutungshoheit. Es ist deswegen von Belang, wessen Erinnerungen ein Text repräsentiert und welche ausselektiert bleiben und ob diese Erinnerungen multiperspektivisch aus der Sicht mehrerer Erzähler oder Erinnerungsfiguren fokalisiert werden.45 I. Das Verhältnis zwischen Erinnerung und Raum ist ein weiterer Schwerpunkt der Forschung. Maurice Halbwachs widmet dem Thema ein Kapitel in seinem unvollendeten Werk La Mémoire Collective (1939).46 Der Begriff des kollektiven Gedächtnisses bezeichnet eine gemeinsame Gedächtnisleistung einer Gruppe von Menschen. So wie jedes Individuum über ein individuelles Gedächtnis verfügt, ist davon auszugehen, dass eine Gruppe von Menschen ein kollektives Gedächtnis besitzt. Das kollektive Gedächtnis fungiert als mnemotechnisches Bindeglied zwischen verschiedenen Generationen einer Erinnerungsgemeinschaft, indem es eine gemeinsame kollektive Identität stiftet. Es nimmt hinsichtlich der kulturellen Vergangenheit einer Gruppe Bezug auf die zeitgenössischen sozialen und kulturellen Diskurse und tradiert gemeinsames Wissen. Das kollektive Gedächtnis wird durch Interaktion, d.h. gemeinsame Riten und geteilte Erlebnisse konsolidiert sowie durch Kommunikation, d.h. wiederholte Vergegenwärtigung der Vergangenheit einer Erinnerungsgemeinschaft. Woran erinnert und was vergessen werden kann, wird durch soziale Bezugsrahmen ausgehandelt, wonach sich das Gedächtnis der einzelnen Individuen entsprechend richtet. Jeder Mensch gehört einer sozialen Gruppe an. Bei Halbwachs stehen das Individuum und das Kollektiv aber keineswegs im Gegensatz zueinander, sondern er betont deren
44 W, Bd. 1, S. 276. 45 Vgl. Birgit Neumann, „Literatur, Erinnerung, Identität“, in: Astrid Erll, Ansgar Nünning (Hrsg.), Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft: Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, S. 149-178, hier S. 168. 46 Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart 1967, S. 127-163.
38 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT wechselseitige Abhängigkeit bei der Gedächtnisbildung. Halbwachs weist darauf hin „daß das Individuum sich erinnert, indem es sich auf den Standpunkt der Gruppe stellt, und daß das Gedächtnis der Gruppe sich verwirklicht und offenbart in den individuellen Gedächtnissen.“47 In den 1990er Jahren wurde der Begriff „Erinnerungskultur“ eingeführt. Die Speicherung der Erinnerung wird häufig als eine kulturelle Errungenschaft betrachtet, als etwas Positives, was zugleich auch eine zivilisatorische Pflicht ist. Diese Vorstellung wurde allerdings mehrmals in Frage gestellt, jüngst von Christian Meier, der in seinem Buch Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit (2010) die westliche Obsession zu erinnern kritisiert. Meier betont im Gegenteil den Nutzen des Vergessens für die westliche Zivilisation; erinnert werden sollte gelegentlich nur an Jahrhundert-Traumata, wie etwa an den Holocaust.48 Pierre Nora unterscheidet zwischen Gedächtnis und Geschichte und betont, dass diese Bezüge zur Vergangenheit voneinander getrennt werden müssen. Geschichte ist für Nora die „stets problematische und unvollständige Repräsentation dessen, was nicht mehr ist.“49 Das Gedächtnis dagegen bezeichnet er als „eine in ewiger Gegenwart erlebte Bindung.“ Noras Aufmerksamkeit gilt vor allem den sogenannten „Erinnerungsorten“, die als künstliche Platzhalter für das nicht mehr vorhandene kollektive Gedächtnis fungieren. Laut Nora ist die heutige Gesellschaft im Begriff, das, was Maurice Halbwachs kollektives Gedächtnis nennt, zu verlieren. Die Zivilisations- und Medienkritik Noras wurzelt in einer kulturkritischen Vorstellung des 19. Jahrhunderts. Die gesellschaftliche Moderne steht vor einem gigantischen Speicherproblem angesichts der ins Unermessliche anwachsenden menschlichen Archive des Wissens, die nicht mehr in der Lage sind, identitätskonstituierende Gedächtnisinhalte zu vermitteln. Die Informationsüberflutung durch die neuen technischen Medien Telegraf, Telefon, später Rundfunk, Fernsehen und Internet haben eine Produktion von Information ermöglicht, die
47 Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt am Main 1985, S. 23. 48 Problematisch ist Meiers Studie u.a. wegen seiner allzu dualistisch-starren Vorstellung von Vergessen und Erinnern als Gegensätze. Dabei lässt Meier außer Acht, dass Erinnern und Vergessen einander häufig komplettieren, wie etwa in der Psychoanalyse Sigmund Freuds. Vgl. hierzu Aleida Assmann, „To Remember or to Forget: Which Way out of a Shared History of Violence?“, in: Dies., Linda Shortt (Hrsg.), Memory and Political Change (= Palgrave MacMillan Memory Studies), New York (NY) 2012, S. 53-71, hier S. 53. 49 Pierre Nora, Zwischen Gedächtnis und Geschichte, Frankfurt am Main 1998, S. 13.
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in der Geschichte der Menschheit Ihresgleichen sucht. Dies führt zwangsweise zur Selektion dieser unendlichen Informationsproduktion, es „muß also vergessen, es muß ausgeblendet oder aufbewahrt werden.“50 Gewährsmann für diesen kulturkritischen Diskurs ist Friedrich Nietzsche und dessen radikale Abrechnung mit der Historie und mit der Wissenschaft, seine Rede von der „historischen Krankheit“ und von dem „Uebermaass von Historie“. Nietzsche sieht in der Gegenwart einen übertriebenen bildungsbürgerlichen Glauben an die Wissenschaft und an die Historie, die „die plastische Kraft des Lebens“ unterhöhlen.51 Stattdessen ist das Vergessenwerden der Historie, das Vermögen, auf die Dauer „unhistorisch zu empfinden“ ein Grundgedanke in Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben.52 Zu den Erinnerungsorten, die als „Ersatz“ für das nicht mehr vorhandene kollektive Gedächtnis fungieren, rechnet Nora historische Persönlichkeiten, Gebäude und Denkmäler, Kunstwerke, philosophische, wissenschaftliche oder historische Texte. Noras Konzeption des Erinnerungsorts erfüllt eine materielle, eine funktionale und eine symbolische Funktion. Erinnerungsorte sind demgemäß immer materiell fassbar, sowohl gegenständlich als auch zeitlich. Diese ‚Orte‘ besitzen eine besonders aufgeladene, symbolische Bedeutung, die für die jeweilige Gruppe identitätsstiftende Funktion hat, z.B. der geografische Ort Auschwitz, der sowohl für die Deutschen als auch für die jüdischen Überlebenden des Holocaust sowie für die Nation Israel bedeutend ist. Die von Nora in einem siebenbändigen Werk zusammengetragenen Erinnerungsorte Frankreichs haben in anderen europäischen Ländern ähnliche Publikationen angeregt. So erschienen seit 2001 in einem dreibändigen Werk Deutsche Erinnerungsorte.53 Im Jahr 2012 wurden ebenfalls das dreibändige Werk Europäische Erinnerungsorte und der Sammelband Baden-württembergische Erinnerungsorte
50 Vgl. hierzu Gotthard Wunberg, „Mnemosyne. Literatur unter den Bedingungen der Moderne: ihre technik- und sozialgeschichtliche Begründung“, in: Aleida Assmann, Dietrich Harth (Hrsg.), Mnemosyne: Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, S. 83-100, hier S. 92 (Hervorhebungen im Original.) 51 Friedrich Nietzsche, Nietzsche, „Unzeitgemässe Betrachtungen II: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“, in: Werke: Kritische Gesamtausgabe, Abt. 3, Bd. 1, S. 325. (Hervorhebungen im Original.) 52 Ebd., S. 246. 53 François, Etienne, Schulze, Hagen (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., München, 2001ff.
40 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT anlässlich des 60. Jahrestags der Gründung des Landes Baden-Württemberg am 25. April 1952 veröffentlicht.54 Aleida Assmann betrachtet Orte als Medium des kulturellen Gedächtnisses und untersucht darüber hinaus Raummetaphern, die bei der Inszenierung von Erinnerung benutzt werden, z.B. Bibliotheken und Museen. Besonders die im 19. Jahrhundert errichteten, historischen Museen sind eine Art Rahmen, innerhalb dessen Menschen mit Gedächtnis umgehen: „Im Bildersaal der Geschichte wird die Zeit zum Raum, genauer: zum Erinnerungsraum, in dem Gedächtnis konstruiert, repräsentiert und eingeübt wird.“55 Neben der Untersuchung von Raummetaphern wie Museen, Bibliotheken, Friedhöfen oder Denkmälern, die als Erinnerungsmedien fungieren, sollte auch betont werden, dass Orte und Räume als Auslöser unwillkürlicher Erinnerungen fungieren können. Anders ausgedrückt: Der Raum kann sowohl Erinnerung konstituieren als auch Erinnerung auslösen. Erinnerung kann in einen Raum hinein projiziert werden, sie kann aber auch selbst den Raum herstellen und strukturieren. Ein physischer Raum kann in der individuellen Aneignung zu einem Erinnerungsanlass werden, oder aber zum Zwecke kollektiver Erinnerung zum Erinnerungsanlass bestimmt bzw. mit dieser Absicht erbaut werden.56
Wenn in dieser Studie von „Erinnerungsräumen“ geredet wird, sind damit nicht nur die oben bereits erwähnten Raummetaphern gemeint, sondern auch die Erinnerungsprozesse, die mit Orten im Raum verknüpft sind und kulturelle Raumvorstellungen mit einbeziehen. Für die Erinnerung ist die Materialität von Orten und Räumen, also ihre sinnliche Erfahrbarkeit und Stabilität, von Bedeutung. Von Belang ist aber bei der Inszenierung von Erinnerung in Räumen und Orten auch das, was Walter Benjamin „Aura“ genannt hat, d.h. etwas, was physisch
54 Reinhold Weber et al (Hrsg.), Baden-württembergische Erinnerungsorte, Stuttgart 2012. 55 Aleida Assmann, Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 47. 56 Vgl. Sabine Damir-Geilsdorf, Béatrice Hendrich, „Orientierungsleistungen räumlicher Strukturen und Erinnerung. Heuristische Potenziale einer Verknüpfung der Konzepte Raum, Mental Maps und Erinnerung“, in: Sabine Damir-Geilsdorf, Angelika Hartmann, Béatrice Hendrich (Hrsg.), Mental Maps – Raum – Erinnerung: Kulturwissenschaftliche Zugänge zum Verhältnis von Raum und Erinnerung, (= Kulturwissenschaft: Forschung und Wissenschaft, Bd. 1) Münster 2005, S. 25-48, hier S. 34f.
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nicht präsent vorhanden ist.57 Da die Fragestellung dieser Studie auf die Inszenierung von kulturellem, autobiographischem und politischem Gedächtnis gerichtet ist, gilt es, der Verbindung von Raum, Erinnerung und der Wahrnehmung von politischen, kulturellen und biographischen Aspekten im Hinblick auf die Prosatexte von Peter Weiss besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Neben der Auswahl von Raummotiven und der Darstellung des erzählten Raums als Schauplatz der Handlung der Figuren ist das Verhältnis von Zeit- und Raumstruktur für die Inszenierung von Erinnerung in der Literatur wichtig. Michael Basseler und Dorothee Birke behaupten, dass der Raum u.a. als „Zeitspeicher“ fungieren kann, aber sie verweisen auch darauf, dass umgekehrt der Raum zur Verdeutlichung von Veränderung benutzt wird: Am Raum manifestiert sich neben der Dauer auch die Veränderung, und zwar in zweifacher Weise: Zum einen hat sich der Ort selbst verändert; zum anderen – fast noch entscheidender – kann durch die Kontinuität des Raums aber auch die Entwicklung des wahrnehmenden Subjekts herausgestellt werden.
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Anne Cornelia Kenneweg verweist darauf, dass das Verhältnis von Erinnerung und Raum reziprok ist: über Raumbeschreibungen können Erinnerungen vermittelt werden und umgekehrt.59 Vor allem bietet die Stadt wegen ihrer kulturellen und geschichtlichen Bedeutung ein besonderes interessantes Potential, das Zusammenwirken von Erinnerung und Raum zu untersuchen. Angesichts der unendlichen Anzahl von Raumdarstellungen scheint es angebracht, den Begriff Raum einzuengen. So untersucht Anne-Katrin Hillebrand beispielsweise die Inszenierung von Erinnerung in Friedhöfen und Museen, zwei Orte, in denen die Verbindung von Erinnerung und Raum paradigmatisch zum Vorschein kommt.60 Sowohl das Museum als auch der Friedhof sind explizit zum Zweck des Erinnerns geschaffen worden. Aleida Assmann analysiert in
57 In Anlehnung an Walter Benjamin benutzt Aleida Assmann den Begriff „Aura“, wenn sie über die Authentizität von Orten und Räumen schreibt. Vgl. Aleida Assmann, Erinnerungsräume, S. 337-339. 58 Vgl. Michael Basseler, Dorothee Birke, „Mimesis des Erinnerns“, in: Astrid Erll, Ansgar Nünning (Hrsg.), Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft: Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, S. 131. 59 Anne Cornelia Kenneweg, Städte als Erinnerungsräume, S. 52. 60 Anne-Katrin Hillebrand, Erinnerung und Raum: Friedhöfe und Museen in der Literatur, (= Epistemata: Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 341) Würzburg 2001.
42 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT einem viel beachteten Aufsatz aus dem Jahr 1994 das Gedächtnis der Orte und unterscheidet dabei zwischen fünf verschiedenen Erinnerungsorten: der heilige Ort, der die Präsenz eines numinosen Wesens verbürgt, der Gedächtnisort, der die Stelle markiert, wo einmal etwas Bedeutungsvolles sich ereignet hat, der Gedenkort, wo eine rituelle Kommemoration stattfindet, der genius loci als auratischer Ort, an dem Naturstimmen, aber auch die Geisterstimmen einer verschollenen Vergangenheit vernehmen sind, und schließlich der Schauplatz oder Tatort, der die Indizien eines Verbrechens, 61
einer Person, eines Lebens für nachträgliche Zeugen festhält.
Im Folgenden sind vor allem folgende Orte von Belang: Der Generationenort, der exemplarische Gedächtnisort, der Gedenkort und schließlich der traumatische Ort.62 Dabei ist es in Assmanns Darstellung unklar, ob es diesbezüglich um ein „Gedächtnis der Orte“ oder um ein Gedächtnis, das mit den Orten selbst verbunden ist, handelt. Orte erwecken nicht nur das Gedächtnis von Menschen, sondern sie verfügen darüber hinaus über ein Gedächtnis, das die recht kurze Erinnerung von Menschen und historischen Epochen überschreitet. Erinnerungsorte sind demgemäß Träger von Erinnerungen und verfügen über ein immanentes Gedächtnis. Generationenorte weisen laut Aleida Assmann eine „langfristige Verbindung mit Familiengeschichten“63 auf. Diese Orte sind dadurch gekennzeichnet, dass Generationen von Familien hier geboren und gestorben sind. In der modernen globalisierten Welt, die von Mobilität gekennzeichnet ist, erscheint die hemmende Bindung des Menschen an Generationenorten als archaisch und unzeitgemäß. Dennoch gibt es ein erneutes Interesse an der Verwurzelung des Menschen an einzelne Orte, etwa in Nordamerika, wo eine neue Literatur entsteht, die die Verbundenheit der Ursprungbevölkerung mit Orten vor der Besiedlung durch die weißen europäischen Kolonisatoren schildert. Mit „heiligen Orten und mythischen Landschaften“ meint Assmann Kultorte, die mit der Anwesenheit von Göttern verbunden sind und die mit „besonderen Tabus“ behaftet sind: „Der heilige Ort ist eine Kontaktzone zwischen Gott und Mensch.“64 Bevor die Präsenz Gottes schriftlich tradiert war, versuchte der Mensch, ihn an bestimmten Orten
61 Aleida Assmann, „Das Gedächtnis der Orte“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Nr. 68 Sonderheft, Stuttgart 1994, S. 17-35, hier S. 17 (Hervorhebungen im Original). 62 Vgl. Aleida Assmann, Erinnerungsräume, S. 298-339. 63 Aleida Assmann, Erinnerungsräume, S. 301. 64 Ebd., S. 303.
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zu evozieren und anzubeten. Dort entstanden Kultorte, wie etwa der Berg, der Hain und die Quelle. Die Vorstellung einer „überräumlichen Allgegenwart Gottes“ ist eine frühe Vorstellung des Monotheismus. Ein besonders prägnantes Beispiel für Kultorte bietet die mythische Erinnerungslandschaft der Aborigines. Die australischen Ureinwohner leben in einem Erinnerungsraum, der durch die „totemischen Ahnen […] beschriftet“ ist.65 Der Raum wird für die Aborigines zur heiligen Schrift, die mündlich tradiert wird. Als Paradebeispiel exemplarischer Gedächtnisorte betrachtet Aleida Assmann Jerusalem und Theben. Am Beispiel von Jerusalem zeigt sich besonders deutlich das Oszillieren zwischen dem „heilig-numinosem Ort und historischem Gedenkort.“66 Jerusalem wird zum umkämpften Gedächtnisort zwischen drei konkurrierenden Glaubensgemeinschaften: Dem Christentum, dem Judentum und dem Islam. Die Kreuzzüge waren ein Kampf um die Erinnerungshoheit über Jerusalem, die erst durch die Aufteilung Jerusalems in christliche und islamische Kultorte im 13. Jahrhundert vorläufig beendet werden konnten. Zum religiösen Gedächtnisort machte aber erst der biblische David die Stadt. Dessen Sohn Salomon baute in Jerusalem einen Tempel, und spätestens seit dem Bau des Tempels als „Wohnsitz Gottes“ bekam Israel einen paradigmatischen Gedächtnisort, der den Glauben zentralisierte und diesen an einem Ort konzentrierte. Nachdem der Tempel zerstört worden ist, ersetzte ihn die Torah, die zum symbolischen Ersatztempel bzw. „portativen Vaterland“ (Heinrich Heine) der jüdischen Erinnerungskultur wurde. Die heilige jüdische Schrift machte später die lange Diaspora ertragbar. Bis die Juden Jerusalem wieder in Besitz nahmen, blieb der Ort für die jüdische Glaubensgemeinschaft ein „eschatologischer Ort, ein Ort des Sterbens, des Gerichts und Erwartung der Ankunft des Messias.“67 Der heilige Ort Jerusalem spielt im Werk von Peter Weiss so gut wie keine Rolle. Dies unterscheidet ihn von anderen deutschsprachigen Autoren jüdischer Herkunft wie etwa Paul Celan und Nelly Sachs, in deren Werken Jerusalem eine bedeutende Rolle spielt (man denke nur an Celans Jerusalem-Zyklus und an Sachs’ Gedicht Überall Jerusalem). Der wichtigste Erinnerungsort im Werk von Peter Weiss ist zweifellos Auschwitz. Auschwitz stellt einen Meridian im Gesamtwerk des Dichters dar: Der Ort ist eng mit der Verarbeitung der eigenen verdrängten Vergangenheit als Entkommender des Holocaust verbunden. Erst nach der Auseinandersetzung mit der deutschen NS-Vergangenheit am Beispiel von Auschwitz engagiert sich Weiss dezidiert politisch. Der Prosatext Meine
65 Ebd., S. 304. 66 Ebd., S. 306. 67 Ebd.
44 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT Ortschaft (1964) wurde zuerst in der schwedischen Tageszeitung StockholmsTidningen veröffentlicht und entstand nach einem Besuch des Autors in Auschwitz. Darin kommen Raum und Erinnerung programmatisch zum Ausdruck. Den „Gedächtnisraum“68 Auschwitz, der mit einem Verbrechen gegen die Menschheit bzw. mit dem Holocaust verbunden wird, nennt Aleida Assmann „traumatisch“. Traumatische Orte sind mit Verfolgung, Tod, Genozid und Niederlage verbunden und nehmen im mythischen, nationalen und historischen Gedächtnis einer Nation eine prominente Stellung ein. Traumatische Orte unterscheiden sich von Gedenkorten insofern, dass sie „sich einer affirmativen Sinnbildung versperren.“69 Das nationale Gedächtnis ist zwar reich an Gedenkorten von Schlachten und Todesopfern. Doch diese Erinnerungen sind insofern nicht traumatisch, da sie „normativ besetzt sind und für eine persönliche oder kollektive Sinnstiftung in Anspruch genommen werden.“70 Der Erinnerungsort wird stabilisiert durch die Vergangenheit, die ihn konstituiert. Die Geschichte des traumatischen Ortes ist mit Sünde, Schande und Tabus verbunden. Paradebeispiel für den traumatischen Ort ist Auschwitz, das inzwischen zur ubiquitären semantischen Verwendung gelangt ist. Wenn auch die Bedeutung des Namens eindeutig ist, desto unklarer erscheint die Bedeutung dieses Ortes. Auschwitz ist weder ein Museum, noch ein Friedhof oder ein Touristen-Ort, obwohl etliche Besucher aus aller Welt es besuchen. Vielmehr erfüllt der traumatische Ort alle diese Funktionen gleichzeitig, wobei er sich einer eindeutigen Charakterisierung entzieht.71 Selbst bezeichnet Weiss in Meine Ortschaft Auschwitz mal als ein „Museum“ mal als einen „Verbannungsort“, wobei er sich durchaus bewusst ist, dass sich der Ort einer endgültigen Bedeutung entzieht: „Was sagt dies alles, was weiß ich davon? Jetzt weiß ich nur, wie diese Wege aussehen, mit Pappeln bestanden, schnurgerade gezogen, mit rechtwinklig dazu verlaufenden Seitenwegen, dazwischen die ebenmäßigen vierzig Meter langen zweistöckigen Blöcke aus rotem Ziegel, numriert von 1 bis 28. Eine kleine, eingekerkerte Stadt, mit zwangsmäßiger Ordnung, völlig verlassen.“72
68 Vgl. hierzu ausführlicher Marita Meyer, Eine Ermittlung: Fragen an Peter Weiss und an die Literatur des Holocaust, St. Ingbert 2000, S. 146-152, hier S. 149. 69 Aleida Assmann, Erinnerungsräume, S. 328. 70 Ebd., S. 328. 71 Jonathan Webber, The future of Auschwitz: Some personal reflections, Oxford (Cambridge Mass.) 1992, S. 8. 72 R, S. 118.
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Meine Ortschaft thematisiert den Schuldkomplex des Entkommenden, der auf „den Listen derer stand, die dorthin für immer übersiedelt werden sollten.“73 In der schwedischen Fassung des Essays wird dieser Schuldkomplex noch brisanter, wobei Weiss folgende Passage eingefügt hat, die in der deutschen Version fehlt: „Was tat ich am 14. Oktober 1943, als Wladislaw Mata seinen Namen in die Tür kratzte, als er aus dem Keller abgeholt wurde zur Schwarzen Wand? Saß in einer friedlichen Stadt, schlief in einem warmen Bett, tat nichts, um ihm zu helfen.“74 Die Begegnung mit dem traumatischen Ort aktiviert zudem das Problem der Vergegenwärtigung des Vergangenen: „Ich blicke in diese Räumlichkeiten, denen ich selbst entgangen bin, stehe still zwischen den fossilen Mauern, höre keine Stiefelschritte, kein Stöhnen und Wimmern.“75 Eine ähnliche Erinnerungsproblematik, nämlich das Problem der Vergegenwärtigung des Erinnerten, behandelt später Uwe Johnson in den Jahrestagen: Das „Zurückgehen in die Vergangenheit, die Wiederholung des Gewesenen: darinnen noch einmal zu sein, dort noch einmal einzutreten. Das gibt es nicht. […] Das Depot des Gedächtnisses ist gerade auf Reproduktion nicht angelegt.“76 Ständig gegenwärtig sind dem Autor die Geräusche von Eisenbahnwaggons, die ihn an die Viehwaggons erinnern, in denen die Opfer bei ihrer letzten Reise in Auschwitz ankamen: Ständig gegenwärtig ist das Klirren und Rollen der Güterzüge, das Puffen aus den Schornsteinen der Lokomotiven, das langgezogene Pfeifen. Züge rollen in Richtung Birkenau durch die weite flache Landschaft. Hier, wo der lehmige Weg zum Bahndamm ansteigt und ihn überquert, standen die Herren mit ausgestreckten Händen und bestimmten die Gründung des Verbannungsortes, der jetzt wieder einsinkt in die sumpfige Erde.
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73 Ebd., S. 114. 74 Siehe Peter Weiss, „Tjugo år efteråt“, in: Stockholmstidningen, 24.12.1964, S. 7. „Vad gjorde jag den 14 oktober 1943, när Wladislaw Mata skrapade in sitt namn i dörren, innan han hämtades ur källaren till svarta väggen? Satt i en fredlig stad, sov i en varm säng, gjorde inget, för att hjälpa honom.“ Vgl. hierzu auch Irene HeidelbergerLeonard, „Jüdisches Bewußtsein im Werk von Peter Weiss“, in: Michael Hofmann (Hrsg.), Literatur, Ästhetik, Geschichte. Neue Zugänge zu Peter Weiss, St. Ingbert 1992, S. 49-62, hier S. 52. 75 R, S. 120. Vgl. Jochen Vogt, Peter Weiss, S. 91. 76 Uwe Johnson, Jahrestage: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl, Bd. 1, S. 63. 77 Ebd., S. 121.
46 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT Gegenwärtig ist dem Besucher zudem für einen kurzen Moment „das Atmen, das Flüstern und Rascheln“78 der Häftlinge bevor die Erstarrung und das Schweigen eintreten. Das dokumentarische Drama Die Ermittlung entstand, nachdem Weiss die Frankfurter Auschwitz-Prozesse gegen führende SS-Leute als Augenzeuge besucht hatte. In einem in Deutschland bisher unbekannten schwedischen Radiointerview mit der schwedischen Journalistin Ingegerd Lundgren aus dem Jahr 1979 kommentiert Weiss seine Begegnung mit Auschwitz und die Schwierigkeit, dieser Ort bühnentechnisch realistisch darzustellen. Man müsse nicht Adorno um Rat fragen, um festzustellen, dass die realistische Darstellung eines Vernichtungslagers unmöglich sei. Aber, so Weiss, Paul Celans Lyrik habe bewiesen, dass die Darstellung der Shoah möglich sei; der Lyriker habe in seiner Poesie das schreckliche Jahrhunderttrauma „zu einer zeitlosen Ebene erhoben“. Auschwitz darzustellen bedeutet für Weiss eine möglichst nüchterne und konzentrierte Wiedergabe des Stoffes, wobei auf Emotionen durchgehend verzichtet wird. Ziel des Schreibers bestünde darin, „etwas von den Wurzeln eines Teils“ der Geschichte zu enthüllen: Das war die auschlaggebende Idee zum Entwurf des Dramas, nämlich dass das, was in Auschwitz geschah, nicht der Vergangenheit angehörte, sondern, eine gesellschaftliche Situation darstellt, die heute noch vorhanden ist. Das war damals, zu Beginn der 60er Jahre in Deutschland, aber die Prozesse, die heute in Deutschland stattfinden, haben eigentlich in einem noch höheren Maße diese schreckliche Situation veranschaulicht, in der die Opfer immer noch keine Gerechtigkeit erlebt haben, sondern immer noch unterdrückt werden. Das war eine Art Ausgangspunkt, aber dann suchte ich nach einer Form und kam zu dem Entschluss, dass es unmöglich war, ein Vernichtungslager auf eine realistische Weise auf einer Bühne darzustellen, es ging nicht, man brauchte nicht einmal Adorno um Rat zu fragen, der der Meinung war, man könne nach Auschwitz keine Gedichte mehr schreiben, was eigentlich von Paul Celan widerlegt worden war: dass man sehr wohl Gedichte schreiben konnte und dass diese Gedichte eigentlich dieses schreckliche Thema auf eine zeitlose Ebene erhoben. Dann sah ich die einzige Möglichkeit darin, den Stoff zu sammeln und zu konzentrieren,, ihn sehr lakonisch, sachlich und nüchtern und ohne jegliche Sentimentalität aufzubauen und ganz sachlich nur das, was von den noch lebenden Menschen und ihren noch lebenden Henkern gesagt wurde, wiederzugeben und somit das
78 R, S. 124.
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Verhältnis zwischen ihnen zu schildern um etwas von den Wurzeln eines Teils unserer 79
Geschichte zu enthüllen.
Peter Weiss’ Auseinandersetzung mit dem Auschwitz-Komplex führt zudem zur geschichtsphilosophischen Einsicht, dass der Holocaust nicht vergangen sein kann, bevor er aufgearbeitet worden ist. Um unsere Gegenwart zu verstehen, so der Autor, muss man seine Geschichte kennen. Ähnlich wie etwa bei William Faulkner bedeutet dies konkret, dass das Vergangene nicht vergangen ist. Auschwitz literarisch zu schildern heißt demgemäß in Anlehnung an Brecht, dass der Autor in einem wissenschaftlichen Zeitalter für wissenschaftliche Menschen schreibt, wobei es dabei gilt, „bloß Ereignisse und präzise realistische Geschehnisse“80 wiederzugeben. Zudem macht Weiss, der selten öffentlich über seine jüdische Identität sprach, in seinem Radiointerview eine Bemerkung über Auschwitz und die Entstehung des Antisemitismus in Deutschland: Auschwitz ist ja bloß die Umschreibung für eine Welt der Menschenvernichtung. Der Rassismus ist ja ein völlig irrationaler Begriff; es gibt ja keine Rassen im Sinne des Faschismus. Die Juden waren ein Volk, sie waren eine Bevölkerungsgruppe, die seit Generationen in Deutschland assimiliert waren, und viele von ihnen waren sich überhaupt nicht darüber bewusst, dass sie Juden waren, und sie lebten genau wie normale deutsche Bürger, Kleinbürger und Handwerker. Die Judenfrage war ein politisches Schlagwort das plötzlich geschaffen wurde, um die Aufmerksamkeit der Menschen von den wirklichen Problemen in der Gesellschaft abzulenken.81
Als „globale Ikone“ ist der Holocaust in der westlichen Erinnerungskultur omnipräsent und wird zunehmend als Symbol in anderen Kontexten re-kontextualisert und damit aus seinem Kontext gerissen. Der Holocaust wird zudem häufig als Analogie, als Modell und als emotionale Identifikationsfläche benutzt.82 In Deutschland wurde der Begriff „nie mehr Auschwitz“ von sowohl Kriegsgegnern als auch Kriegstreibern instrumentalisiert. Im Kampf um die Erinnerungs-
79 Vgl. das Typoskript im PWA 2530: „Där jag blir ställd, där sköter jag min tjänst“. Interview mit Peter Weiss von Ingegerd Lundgren vom 8.4.1979 (26 Bl.), hier S. 2-3. 80 Ebd., S. 4. 81 Ebd., S. 13. 82 Vgl. Aleida Assmann, „The Holocaust – a Global Memory? Extensions and Limits of a New Memory Community“, in: Dies., Sebastian Conrad (Hrsg.), Memory in a Global Age: Discourses, Practices and Trajectories, (= Palgrave McMillan Memory Studies), New York (NY) 2010, S. 97-118, hier S. 109-112.
48 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT hoheit wird der Holocaust häufig als universales Modell von anderen Erinnerungskulturen benutzt, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf bisher wenig bekannte oder marginalisierte globale Traumata zu lenken.83 Die Shoah bietet ein Beispiel für die Globalisierung der Erinnerungskultur, die Grenzen überschreitet. Als Symbol „für eine Welt der Menschenvernichtung“, für den Zivilisationsbruch des 20. Jahrhunderts rückt der Holocaust ab den 1960er Jahren zunehmend in den medialen Fokus. Die Popularisierung des Holocaust durch die modernen Medien, die das Jahrhundertverbrechen einem breiten Publikum zugänglich gemacht hat, beispielsweise das Tagebuch der Anne Frank, der Eichmann-Prozess und die bekannte US-amerikanische TV-Serie Holocaust84, hat zu einer globalen Auseinandersetzung mit dem Thema geführt: „Their focus on television, cinema and popular culture as powerful agents of globalization, carrying the message of the Holocaust into all corners of the world.“85 Kritiker meinen sogar, dass die westliche Obsession mit dem Holocaust die Gefahr mit sich bringt, andere Traumata und Völkermorde aus dem kollektiven Gedächtnis zu verdrängen: Bezeichnenderweise wurde das 20. Jahrhundert im Westen das Jahrhundert des Auschwitz genannt.86 Mit diesen Globalisierungstendenzen des Holocaust am Beispiel der Filmserie Holocaust setzt sich Peter Weiss im Interview mit Ingegerd Lundgren kritisch auseinander. Zwar begrüßt Weiss die Darstellung einzelner Schicksale im Film, was annähernd dazu beitragen könne, den Holocaust als historisches Ereignis zu
83 Ein gutes Beispiel hierfür liefert Peter Weiss 1968 im Spiegel-Interview „Amerika will den Völkermord“. Darin definiert Weiss Genozid in Anlehnung an Jean-Paul Sartre als „Aktion, die sich gegen die Existenzgrundlagen einer Nation richtet. Nach dem, was wir in Vietnam gesehen haben, ist es die Absicht der Bombardierungen, […] Genozid zu begehen.“ Vgl. Winfried Scharlau, Georg Wolff, „‚Amerika will den Völkermord.‘ Spiegel-Gespräch mit Peter Weiss über Vietnam“, in: Rainer Gerlach, Matthias Richter (Hrsg.), Peter Weiss im Gespräch, S. 161. 84 Gemeint Marvin J. Chomskys vierteilige Filmserie Holocaust (dt.: Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss) aus dem Jahr 1978. Der amerikanische Film behandelt das Schicksal der fiktiven Arztfamilie Weiss, die zur Zeit des Nationalsozialismus in Berlin lebt. Nach der Ausstrahlung in Deutschland und Europa löste der Film eine Debatte über die nationalsozialistische Vergangenheit aus. 85 Aleida Assmann, „The Holocaust – a Global Memory? Extensions and Limits of a New Memory Community“, in: Dies., Sebastian Conrad (Hrsg.), Memory in a Global Age, S. 106. 86 Ebd., hier S. 98: „Yesterday forgotten or almost ignored as a non-event, the genocide of the jews today covers up almost all other memories in public space.“
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verstehen. Ziel seiner Kritik ist dagegen der einseitige Fokus des Filmes auf die Judenvernichtung. Zudem bemängelt er die „wage“ emotionale Einfühlung des Filmes in die Opfer, die die Ursachen des Jahrhunderttraumas nicht hinterfragt. Weiss schafft eine Art Gegen-Gedächtnis, indem er auf die Rolle der antifaschistischen Widerstandskämpfer aufmerksam macht, die im Film keine Rolle spielen. Man müsse, so Weiss, dem Brechtschen Diktum folgen und in einem wissenschaftlichen Zeitalter für ein wissenschaftliches Publikum schreiben, was er in Die Ermittlung getan habe. Wenn wir überhaupt nur annähernd diese unvorstellbaren Zahlen menschlicher Vernichtung verstehen können, dann nähern wir uns den einzelnen Personen, die dies durchgegangen sind, und das wird in Holocaust gemacht. Ich habe allerdings versucht, es in der Ermittlung ganz anders zu machen, dort sind es ja Individuen die reden, es sind nicht Massenchöre, sondern es sind einzelne Stimmen, aber diese Stimmen haben, solange es Zeugen sind, keine Namen, sondern sie sind anonym. Aber diese noch lebenden Menschen berichten über Begebenheiten, die in der Wirklichkeit stattgefunden haben und für uns unglaublich erscheinen; es war wohl das, womit ich die Zuhörer konfrontieren wollte, und deswegen sind es ja die Überlebenden, die zu Wort kommen dürfen. Das was sie erlebt haben, hat vor nicht zu langer Zeit stattgefunden, vielleicht eine Generation vor den Nachkriegsjahrgängen und in meiner Generation. […] Holocaust erfüllt teilweise einen Zweck, aber nur als Anregung. Er schildert Menschen aus sehr bekannten Milieus, mit denen sich ein breites Publikum identifizieren kann; es sind die kleinbürgerlichen und bürgerlichen Milieus, mit denen sich ein bürgerliches Publikum identifizieren kann. Es sind keine Widerstandskämpfer, es wird an keiner einzigen Stelle in Holocaust genannt, dass es tatsächlich Widerstandskämpfer gegeben hat, die gegen die Nazis gekämpft haben. Das ist meines Erachtens ein großes Versäumnis dieses Filmes, dass man den Eindruck kriegt, dass die einzigen Menschen, die von den Nazis verfolgt wurden, Menschen jüdischer Herkunft waren; das war wie gesagt allerdings nur ein kleiner Teil der großen Masse. Aber ich glaube, dass man hierbei den Begriff Brechts wieder aufgreifen müsse, dass man für Menschen schreibt, die in einem wissenschaftlichen Zeitalter leben, das ist gerade das Gegenteil zu diesem Film, dieser Film wendet sich an Menschen, die in einem nicht wissenschaftlichen Zeitalter leben, an Menschen, die keine historische Bildung haben und die entpolitisiert und geschichtslos sind.
Weiss’ Haltung könnte hier in Anlehnung an Astrid Erll als „antagonistischer Modus“ der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses bezeichnet werden, wobei sich der Autor in der Erinnerungskonkurrenz um das historische Ereignis des Holocaust kritisch positioniert.
50 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT Einen besonders interessanten Raum im Hinblick auf die Inszenierung von Erinnerung bietet wegen seiner kulturellen Bedeutung für den modernen Menschen die Großstadt. Die Stadt ist laut Halbwachs ein stabiler Ort (bezeichnenderweise vergleicht er sie mit einem Felsen), der zugleich identitätsstiftend für die Bewohner ist.87 Die verschiedenen Viertel innerhalb einer Stadt und die Häuser innerhalb eines Viertels haben einen festen Platz und sind ebenso stark im Boden verankert wie Bäume und Felsen, wie ein Hügel oder eine Hochfläche. Daraus ergibt sich, daß die Gruppe der Städter nicht den Eindruck hat, sich zu verändern, solange das Aussehen der Straßen und Gebäude gleich bleibt und es wenige zugleich fester gefügte und dauerhaftere soziale Formationen gibt.88
Der Erinnerungsraum Stadt ist von Dynamik und schneller Veränderung geprägt und zeichnet sich durch ihre Flüchtigkeit von Sinneseindrücken und Sinneswahrnehmungen aus. Der urbane Raum besteht aus verdichteten Erinnerungsschichten, die vom Betrachter kodiert und wie ein Buch gelesen werden müssen: In the City of Collective Memory, we find that different layers of historical time superimposed on each other or different architectural strata (touching but not necessarily informing each other) no longer generate a structural form of the city but merely culminate in an experience of diversity. […] To fully appreciate or to be able to read this cityscape however, spectators are required to look at the city not only in formal and functional terms, but in figural or interpretive ways as well.89
Die Inszenierung von Erinnerung in Stadttexten wird unterschiedlich konzipiert. Es sind dabei nicht nur bestimmte Motive, Themen oder Topoi, die in literarische Texte Eingang finden und diese als urban ausweisen, sondern auch Figurentypen, wie z.B. der Flaneur sowie bestimmte Darstellungstechniken, wie die Montage. In Stadttexten dienen Orte und andere Erinnerungszeichen häufig als Auslöser für das Erzählen, in der Darstellung des Stadtraums können bekannte Stadtbilder reproduziert oder neue entworfen werden. Um diese interpretieren zu
87 Zu Recht kritisiert u.a. Anne Cornelia Kenneweg Halbwachs’ Vorstellung von der vermeintlichen physischen Stabilität des Stadtraums. Vgl. Kenneweg, Städte als Erinnerungsräume, S. 57. 88 Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, S. 131. 89 M. Christine Boyer, The City of Collective Memory: Its Historical and Architectural Entertainments, Cambridge (Mass.) 1996, S. 19.
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können, bedarf es sowohl der Beziehung zwischen Erzähler und Stadt als auch den Romanfiguren und der Stadt besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Die Art, wie sich die Romanfiguren oder der Erzähler mit der Stadt identifizieren, führt zu der Frage, ob die Figuren die Geschichte der Stadt als ihre eigene Vergangenheit verstehen. Wie sich die Figuren zur Stadt verhalten und wie sie die Stadt wahrnehmen, gibt sich vor allem durch die Figur des Flaneurs zu erkennen. Deswegen soll dem Flaneur als Erinnerungsfigur besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Die moderne Stadtliteratur und die Dandy-Ästhetik des 19. Jahrhunderts hat die Figur des Flaneurs hervorgebracht, eine Figur, die sich im urbanen Erinnerungsraum bewegt und Sinneseindrücke, Gedanken, Begegnungen und Ähnliches registriert und ausgehend von diesen Wahrnehmungen bzw. Beobachtungen über die Stadt reflektiert. Der ideale Raum des Flaneurs ist die moderne Großstadt, die im 19. Jahrhundert entstand und deren literarischer Prototyp Paris ist. Im deutschen Kulturraum ist der Flaneur unzertrennlich mit Walter Benjamin verbunden. Benjamin verknüpft die Figur des Flaneurs mit der industriellen Konsumgesellschaft, wobei sie zum „Konsumenten“ mutiert: „Sein Blick richtet sich auf die Schaufenster, sein Gang wird magnetisch angezogen vom Warenhaus.“90 Die Funktion des Flaneurs in literarischen Texten ist vielseitig und besteht u.a. darin, dass er die Stadt, in der er sich bewegt mit seinen Sinneswahrnehmungen dekodiert und wie ein Buch „liest“. Flânerie, in other words, can be associated with a form of looking, observing (of people, social types, social contexts and constellations), a form of reading the city and its population (its spatial images, its architecture, its human configurations), and a form of reading written texts […] [.]91
Die Figur des Flaneurs, so David Frisby, ist zudem mit dem Traum eng verbunden. Durch den Traum kommt sie mit der Vergangenheit in Verbindung, mit „the dream world of the surrealist perspective on the city – an intoxicated world, a particular form of remembrance or recall of the past as an immediacy in our present.“92
90 Harald Neumeyer, Der Flaneur: Konzeptionen der Moderne (= Epistemata: Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 252) Würzburg 1999, S. 14, S. 161, hier S. 161. 91 David Frisby, „The flâneur in social theory“, in: Keith Tester (Hrsg.), The Flâneur, London, New York 1994, S. 81-110, hier S. 82f. (Hervorhebungen im Original.) 92 Ebd., S. 85.
52 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT Im urbanen Erinnerungsraum stößt der Flaneur überall auf Geschichte, was ihn dazu veranlasst, sich melancholisch in die Vergangenheit zu versetzen. Bereits Cicero beschreibt in seinem Werk De finibus bonorum et malorum wie er in Rom seinen Fuß „überall, […] auf ein Stück Geschichte“ setzt.93 Harald Neumeyer beschreibt in seiner Studie Der Flaneur: Konzeptionen der Moderne am Beispiel von Franz Hessel die kompensatorische Rolle des Flaneurs in der modernen Stadtliteratur. Dabei wird klar, dass der Flaneur auf den Verlust der Vergangenheit und der damit verbundenen Entwurzelung mit „der Vergegenwärtigung des Vergangenen“ reagiert: Selbst dort, wo der Flaneur auf die Orte seiner Kindheit trifft, sind sie verändert und zeugen von einer Leere, in der sich zugleich der Verlust der vergangenen Zeiten materialisiert. Auf diese Erfahrung einer Entwurzelung, […] reagiert das Stadtbuch mit der Funktionalisierung des Flaneurs als Heimatkundler, der durch Vergegenwärtigung des Vergangenen dem Heimatverlust entgegenwirken soll. Unabhängig davon, ob es dem Flaneur in Spazieren in Berlin tatsächlich gelingt, die Vergangenheit einzuholen, zeigt der Vergleich der Texte, daß die Konzeption des Flaneurs als Heimatkundler den Versuch darstellt, die Defizite zu bewältigen, die der Modernisierungsprozeß für denjenigen schafft, der Heimat mit dem vergangenen Berlin identifiziert: Die Leere der Orte ist mit Geschichte(n) zu füllen.94
Die beiden Weltkriege und die damit verbundenen gesellschaftlichen Umbrüche und Traumata haben Entfremdungsgefühle ausgelöst, die die postmoderne Flanerie maßgeblich beeinflusst hat: Der Flaneur ist als intellektueller Einzelgänger im Zeitalter der globalen Massenkultur zur anachronistischen Figur geworden.95 Besonders der urbane Raum ist als Erinnerungsraum zu betrachten, wobei die Stadt als Motor der Moderne kulturhistorische Themen wie die Entstehung der Menschenmassen und die Technisierung aller Lebensbereiche vorwegnimmt. Besonders aufschlussreich ist die Untersuchung der Veränderung des urbanen Raumes, beispielsweise durch Kriege oder Stadtsanierungen. Das Verschwinden der alten Bausubstanz ist mit einem Verlust der Erinnerungen der Stadtbewohner
93 Hier zitiert nach Aleida Assmann, Erinnerungsräume, S. 312. 94 Harald Neumeyer, Der Flaneur: Konzeptionen der Moderne, S. 318. 95 Vgl. hierzu Stefan Morawski, „The hopeless game of flânerie“, in: Keith Tester (Hrsg.), The Flâneur, S. 181-197.
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an sie verbunden und führt zu einem Verlust der eigenen Identität.96 Literarische Stadtdarstellungen nehmen häufig auf real existierende Städte und urbane Erinnerungskulturen Bezug, z.B. in Victor Hugos literarischer Vergegenwärtigung des mittelalterlichen Stadtkerns von Paris vor der Stadtregulierung durch Baron Haussmann. Großstädte sind als besonders umkämpfte Räume zu betrachten, in denen verschiedene Erinnerungsdiskurse um Deutungshoheit ringen.
1.2 E RINNERUNGSRAUM S TADT : E INE Ü BERSICHT ZUR F ORSCHUNG „Oh, Zarathustra, hier ist die grosse Stadt: hier hast du Nichts zu suchen und Alles zu verlieren. Warum wolltest du durch diesen Schlamm waten? […] Hier ist die Hölle für Einsiedlergedanken: hier werden grosse Gedanken lebendig gesotten und klein gekocht. […] Siehst du nicht die Seelen hängen wie schlaffe schmutzige Lumpen? – Und sie machen noch Zeitungen aus diesen Lumpen!“97 Dieses Zitat aus Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra (1883) steht beispielhaft für einen anti-städtischen Diskurs, der Modernisierungsphänomene wie Urbanisierung und Industrialisierung verneint und der bis ins 20. Jahrhundert in Deutschland eine große Verbreitung fand. Man denke an Oswald Spenglers Denunzierung der „Weltstadt“ in Der Untergang des Abendlandes (1918-22). Die „weltstädtische“ Tendenz ist laut Spengler ein konstantes Phänomen untergehender Kulturen: „Zur Weltstadt gehört nicht ein Volk, sondern eine Masse. Ihr Unverständnis für alles Überlieferte, in dem man die Kultur bekämpft [...] alles das bezeichnet der endgültig abgeschlossenen Kultur, der Provinz gegenüber eine neue, späte und zukunftslose, aber unvermeidliche Form menschlicher Existenz.“98 Spenglers Kritik an der Urbanität reiht sich in einen deutschen Diskurs ein, der für die Stadtdarstellung des 19. und 20. Jahrhunderts bezeichnend ist. Im
96 Zum Zusammenhang zwischen Erinnerung und Identität siehe Birgit Neumann, „Literatur, Erinnerung, Identität“, in: Astrid Erll, Ansgar Nünning (Hrsg.), Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft: Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, S. 150. 97 Friedrich Nietzsche, Werke: Kritische Gesamtausgabe, Abt. 6, Bd. 3, „Der Fall Wagner; Götzen-Dämmerung; Nachgelassene Schriften (August 1888-Angang Januar 1889); Nietzsche contra Wagner“, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin 1969, S. 218f. 98 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Erster Band: Gestalt und Wirklichkeit, München 1920, S. 46f.
54 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT Vergleich zu Ländern wie England und Frankreich fand die industrielle Revolution in Deutschland relativ spät statt, was auch Folgen für die literarische Darstellung der Stadt hatte.99 Während in Paris – der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts – mit Victor Hugo und Charles Baudelaire eine Großstadtlyrik aufblühte, gab es in der deutschen Literatur bis ins 20. Jahrhundert eine starke ländliche Tradition, eine Verherrlichung des Dorf- und Landlebens durch das, was Klaus Bergmann „Agrarromantik“ genannt hat: „Während seit den Tagen Baudelaires auf dem Boden der imperialen Weltstadt Paris eine Großstadtlyrik gedieh, brachten erst die achtziger Jahre in Deutschland ein vergleichbares Phänomen hervor.“100 Der Großstadtdiskurs trieb freilich mit Heine und den Romantikern zarte Blüten, aber das Motiv konnte erst mit Arno Holz und der fin de siècle-Dichtung in der deutschen Literatur richtig Fuß fassen. Für Expressionisten wie Georg Heym, Franz Werfel und Alfred Döblin wurde der Stadttopos geradezu zum Ausdruck der eigenen existentiellen Problematik und zugleich als Chiffre für die Entwurzelung und Verfremdung des Menschen der Moderne: „Die existentielle Komponente nimmt gegenüber den Autoren der Jahrhundertwende zu, ja, es läßt sich sagen, daß die Großstadt für die Expressionisten wie für keine zweite Schriftstellergeneration einen Topos darstellte, der die eigene – und eigenste – Daseinsproblematik einschloß.“101 Denn es war die Entwicklung der modernen Großstadt, die die naturalistische und später auch expressionistische Romankunst ermöglichte, wie es Hermann Broch in seinem Essay Hofmannsthal und seine Zeit formuliert hat; „Die Weltstadt, seit dem Zusammenbruch des römischen Reiches wie für immer verschwunden, war plötzlich wieder auferstanden; London und Paris, zu denen ein wenig später sich New York und Berlin gesellten, waren Weltmetropolen geworden, und nicht nur war es natürlich, daß sich in ihnen der Ausdruck der Zeit formte, sondern auch, daß ihm sämtliche Qualitäten der Großstadt anhafteten, ihre Mannigfaltigkeit, ihre Zerrissenheit, ihre Gier, ihre Düsterkeit“.102 „Ich verlange von einer Stadt, in der ich leben soll, Asphalt, Straßenspülung, Haustorschlüssel, Luftheizung und Warmwasserleitung. Gemütlich bin ich
99
Vgl. hierzu Andreas Freisfeld, Das Leiden an der Stadt: Spuren der Verstädterung in deutschen Romanen des 20. Jahrhunderts, (= Kölner Germanistische Studien, Bd. 17) Köln 1982, S. 15-24.
100 Wolfgang Rothe, Deutsche Großstadtlyrik vom Naturalismus bis zur Gegenwart, Stuttgart 1973, S. 5. 101 Ebd. S. 20f. 102 Hermann Broch, Gesammelte Werke Bd. 6: Dichten und Erkennen – Essays, Bd. 1, hrsg. von Hannah Arendt, Zürich 1955, S. 47.
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selbst.“103 Diese ironische Bemerkung des Wieners Karl Kraus erschien 1911 in der Fackel und polemisiert gegen den damaligen, oben skizzierten städtefeindlichen Diskurs. Hätte die deutsche Dichtung diese Maxime, die in diesem modernitätsbejahendem Diktum steckt, weiter verfolgt, gäbe es in der deutschen Literaturgeschichte nicht nur den einen großen Großstadtroman, Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929).104 Urbanität erscheint als ein wesentliches Kennzeichen von Modernität, denn sozialer Wandel geht vor allem seit der Industrialisierung meist mit Urbanisierung einher. So konstatiert Klaus Scherpe 1988 treffend: „Großstadt und Moderne werden in der Theorie, sofern sie gesellschaftlich interessiert ist, wie selbstverständlich in eins gesetzt.“105 Die neuere Stadtliteraturforschung über literarische Stadtwahrnehmung und Stadtdarstellung hat in-
103 Hier zitiert nach Klaus R. Scherpe, „Berlin als Ort der Moderne“, in: Roland Galle, Johannes Klingen-Protti (Hrsg.), Städte der Literatur, (= Neues Forum für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft, Bd. 27) Heidelberg 2005, S. 200. 104 Diese literarische Einschätzung macht Klaus Scherpe. Vgl. ders., „Berlin als Ort der Moderne“, in: Roland Galle, Johannes Klingen-Protti (Hrsg.), Städte der Literatur, S. 200f. 105 Klaus Scherpe, (Hrsg.), Die Unwirklichkeit der Städte: Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne, (= Rowohlts Enzyklopädie, Bd. 471) Hamburg 1988, S. 8. Insbesondere für die Entwicklung des Judentums ist die Stadt aus sozial-, wirtschaftlich- und kulturhistorischer Sicht sehr bedeutsam geworden. Joachim Schlör hat in seiner Monographie Das Ich der Stadt: Debatten über Judentum und Urbanität, 1822-1938 auf die große Bedeutung der großstädtischen Existenz für das Judentum hingewiesen. Denn auffallend ist die Konzentration der Juden in Ballungsgebieten: „‚Trotz aller Unterschiede zwischen Europa, Asien und Afrika wies die Ausgangsposition der Juden mindestens eine Gemeinsamkeit auf: ihre demographische Konzentration in den Städten und bürgerlichen Berufen.‘“ Vor dem Hintergrund dieser Orientierung an den Städten mag es nicht verwundern, dass die Metropole die geistige und kulturelle „Ersatzheimat“ für deutschsprachige Dichter jüdischer Herkunft wie Heinrich Heine, Alfred Döblin, Walter Benjamin, Peter Weiss und Paul Celan stets geblieben ist. Denn gerade die Heimatlosigkeit der Juden, so Schlör, wird begleitet von einer „Suche nach Heimat.“ Von „Heimat“ zu sprechen setzt in diesem Kontext Verlust voraus – Verlust der physischen Heimat Israel und das damit verbundene Nomadentum. Zitiert nach Joachim Schlör, Das Ich der Stadt: Debatten über Judentum und Urbanität, 1822-1938 (= Jüdische Religion, Geschichte und Kultur; Bd. 1), Göttingen 2005, S. 140, S. 147.
56 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT zwischen einen beträchtlichen Umfang erreicht.106 Diese Forschung hat sich bis jetzt vor allem bestimmten Autoren, Themen und Städten gewidmet, wobei allgemeine Schlussfolgerungen daraus gemacht werden. Symptomatisch für diese Tendenz sind die zahlreichen Beiträge zu Paris als „Hauptstadt der Moderne“ (auffällig ist dabei die Orientierung an Walter Benjamin) und zur Paris-Literatur erschienen. Gerade im Hinblick auf Paris ist von einer verdichteten Konzentration von Literatur auszugehen, d.h. es existiert bereits eine sehr große Anzahl von Paris-Texten, die, häufig ohne voneinander Notiz zu nehmen, den „Mythos von Paris“ suggerieren.107 Für Autoren bietet das komplexe kulturelle Biotop Großstadt ein besonders fruchtbares Darstellungsobjekt. Die künstlerische Darstellung der Stadt stellt deswegen einen Schwerpunkt der wissenschaftlichen Forschung dar. Einige Forscher sind der Ansicht, dass es gerade die Literatur und nicht die Wissenschaft ist, die dazu imstande ist, Ausdrucksformen für die Vielsichtigkeit des Großstadtdiskurses zu finden, darunter Karlheinz Stierle: „Sie sind es in der Tat, die erst in ihren Stadt-Texten die Stadt zum Raum der Lesbarkeit machen, während die institutionelle Wissenschaft vor der Erfahrung und dem Bewußtsein weitgehend stumm bleibt.“108 Die häufig aufgegriffene Metapher der Lesbarkeit der Stadt problematisiert Dieter Ingenschay. Ingenschay verweist darauf, dass jede Großstadt aus einer endlosen Reihe von Diskursen besteht, die unterschiedlich interpretiert werden können:
106 Zu den wichtigsten Beiträgen gehören Klaus Scherpe, (Hrsg.), Die Unwirklichkeit der Städte: Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne, Thomas Steinfeld, Heidrun Suhr (Hrsg.), In der großen Stadt: Die Metropole als kulturtheoretische Kategorie, (= Athenäums Monografien: Literaturwissenschaft, Bd. 101), Frankfurt am Main 1990, Manfred Smuda (Hrsg.), Die Großstadt als „Text“, München 1992, Andreas Mahler (Hrsg.), Stadt-Bilder: Allegorie, Mimesis, Imagination, (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Bd. 170) Heidelberg 1999; Gudrun Held, Peter Kuon, Rainer Zaiser, (Hrsg.), Sprache und Stadt. Stadt und Literatur, Tübingen 2001; Roland Galle, Johannes Klingen-Protti (Hrsg.), Städte der Literatur, Andreas Böhn, Christine Mielke (Hrsg.), Die zerstörte Stadt: Mediale Repräsentationen urbaner Räume von Troja bis SimCity, Bielefeld 2007. 107 Karlheinz Stierle, Der Mythos von Paris: Zeichen und Bewusstsein der Stadt, München, Wien 1993. 108 Ebd., S. 33. Vgl. hierzu auch Anne Cornelia Kenneweg, Städte als Erinnerungsräume, S. 60.
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Die Lesbarkeit der Stadt erweist sich bei näherem Hinsehen […] als eine problematische: […] Freilich ist es nicht schwer, der Komplexität des Phänomens Großstadt den schwarzen Peter zuzuschieben und in ihr den Grund zu suchen dafür, daß die Lesarten der Stadt unendlich vielfach sind. Ein endloses Arsenal von Diskursen kann jede Stadt hervorrufen, und jeder einzelne ist Ergebnis einer eigenen, von anderen Parametern als denen der Stadt 109
abhängigen Komplexitätsreduktion.
Andreas Mahler betont, dass in der Stadtliteratur die Darstellung der Stadt nicht nur reproduziert, sondern auch produziert werden kann.110 Häufig finden allerdings Stadttexte in real existierenden Städten statt, die in ihrer Detailliertheit gelegentlich sogar als eine Art „Reiseführer“ auf die Leser wirken können. Gerade die enge Verbindung zwischen Stadt und Moderne bildet ein Schwerpunkt der Forschung. Gehört die „These des urbanen Charakters der Moderne“ laut Arturo Larcati111 zu den wichtigsten Merkmalen der Entwicklung der modernen Literatur, liegt ein Forschungsschwerpunkt der modernen Stadtliteratur allerdings auf dem Zusammenhang zwischen Großstadtthematik und modernen Erzähltechniken. Die Aufmerksamkeit gilt nicht zuletzt Erzähltechniken, die von den „neuen“ Medien beeinflusst sind, beispielsweise der vom Medium Film beeinflussten Montage-Technik und „Camera-Eye“-Perspektive, die in die Literatur Eingang gefunden hat.112 Zu erwähnen sind in diesem Kontext auch die avantgardistischen Filme der 1920er Jahre, die mit der Montage-Technik experimentieren und dadurch maßgeblich die Literatur beeinflussten, etwa Sergeij Eisensteins Film Panzerkreuzer Potemkin (1926).
109 Dieter Ingenschay, „Großstadtaneignung in der Perspektive des ‚peripheren Blicks.‘“, in: Ders., Albrecht Buschmann (Hrsg.), Die andere Stadt. Großstadtbilder in der Perspektive des ‚fremden Blicks‘ , Würzburg 2000, S. 8. 110 Andreas Mahler, „Stadttexte – Textstädte: Formen und Funktionen diskursiver Stadtkonstitution“, in: Ders. (Hrsg.), Stadt-Bilder: Allegorie, Mimesis, Imagination, S. 12. 111 Vgl. hierzu Anne Cornelia Kenneweg, Städte als Erinnerungsräume, S. 61. 112 Zum Einfluss der neuen Medien auf die Darstellung der Stadt siehe z.B. Klaus R. Scherpe, „Nonstop nach Nowhere City?“ in: Ders. (Hrsg.), Die Unwirklichkeit der Städte. Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne, Hamburg 1988, S. 140. Vgl. auch ders., Stadt, Krieg, Fremde: Literatur und Kunst nach den Katastrophen, Tübingen 2002, S. 65.
58 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT Denn entscheidend für die literarische Darstellung der Stadt ist, dass sie durch die Entwicklung der Fotografie im 19. Jahrhundert reproduzierbar wird,113 wie Walter Benjamin in seinem Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936) bemerkt hat: „Die Zertrümmerung der Aura ist die Signatur einer Wahrnehmung, deren Sinn für alles Gleichartige auf der Welt so gewachsen ist, daß sie es mittels der Reproduktion auch dem Einmaligen abgewinnt.“114 Dies hat, so Klaus Scherpe, für die Erzählbarkeit der Stadt zwei Folgen: Die Wahrnehmung der Stadt wird intensiviert, beispielsweise durch die „Verkleinerung des Wahrnehmungsgegenstandes auf die Großstadtminiatur“115 (beispielsweise bei Fontane); oder die Tatsache der Reproduzierbarkeit der Großstadt kann „zum Anlaß genommen für andersartige ästhetische Arrangements“,116 in denen eine durch die neuen Medien bzw. Wahrnehmungsmaschinen (wie beispielsweise der Film oder die virtuelle Computersimulation) geprägte Struktur in den Text eingeht. Diese neue Wahrnehmung der Stadt kommt in vielen Texten der 1920er Jahre zum Ausdruck, in denen die Faszination an der neuen Multiperspektivität, den neuen Möglichkeiten des Sehens im Medienwechsel zum Ausdruck kommen. Dies gilt nicht zuletzt für Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz, der als einziger großer (deutscher) Großstadtroman des 20. Jahrhunderts in die Literaturgeschichte eingegangen ist. Penibel rekonstruiert Döblin durch die Aufzählung von Straßennamen, Kreuzungen und Häusern das „filigrane Gespinst der Stadt“ und konstruiert somit eine kartographische Textstruktur, die mittels der literarischen Montage weiter entwickelt wird.117 Nicht zuletzt hat sich auch der Filmemacher Weiss für das Motiv der Stadt interessiert. Weiss’ Auseinandersetzung mit dem Filmmedium reicht ins Jahr 1947 zurück. Im Jahr 1947 berichtet Weiss in Heft 3 der schwedischen Kinozeitschrift Biografbladet über die Anfänge des deutschen Nachkriegsfilms, nament-
113 Vgl. Klaus Scherpe, „Nonstop nach Nowhere City?“ in: Ders. (Hrsg.), Die Unwirklichkeit der Städte. Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne, S. 140. 114 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (2. Fassung – 1935/36). In: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 355. 115 Siehe Klaus R. Scherpe, Stadt, Krieg, Fremde: Literatur und Kunst nach den Katastrophen, S. 65. 116 Ebd. 117 Siehe hierzu Harald Jähner, Stadtraum – Textraum. Die Stadt als Megaphon des Unbewußten“, in: Thomas Steinfeld, Heidrun Suhr (Hrsg.), In der großen Stadt: Die Metropole als kulturtheoretische Kategorie, S. 97-107, hier S. 103.
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lich über Wolfgang Staudtes Die Mörder sind unter uns und Helmut Käutners In jenen Tagen. Der Bericht war ein Nebenprodukt seiner Berlin-Reportagen im Auftrag der schwedischen Zeitung Stockholms-Tidningen, die 1947 veröffentlicht wurden. In Biografbladet erschien auch Weiss’ erstes Exposé zu einem Filmentwurf: Början. Skiss till en kortfilm, der 2006 von Axel Schmolke mit dem Titel Der Anfang. Skizze zu einem Kurzfilm ins Deutsche übersetzt wurde.118 Wie viele seiner Filme spielt auch Der Anfang in einer Stadt. Von 1952 bis 1961 dreht Weiss nicht weniger als sechs Experimental-, sechs Dokumentar- und zwei Spielfilme. Darüber hinaus erscheint 1956 in schwedischer Sprache das Buch Avantgardefilm, das die Geschichte des experimentellen Films dokumentiert. In diesem Buch behandelt Weiss in einem Kapitel „Die Stadt“ als Motiv filmischen Schaffens. Die Werke mehrerer Filmemacher werden darin beleuchtet, u.a. Das Kino-Auge von Dziga Vertow, Manhattan von Charles Sheelers und Paul Strands, 24 dollar Island von Robert Flaherty, Alberto Cavalcantis Rien que les heures, Walter Ruttmans Berlin – Symphonie einer Großstadt und Menschen am Sonntag von Robert Siodmark, Billy Wilder und Fred Zinnemann. Zur Einführung schreibt Weiss: Das reiche, widerspruchsvolle Leben der Großstadt, ihr Puls, ihre vorbeigleitenden Menschenschicksale sind oft im Film geschildert worden. Es gibt eine ganze Reihe von diesen Werken, die auf die Bildwirkung der Architektur bauen, auf den Rhythmus des Handwerks, des Verkehrs und der Maschinen, auf die Bewegungen der Menschen und auf die Veränderung zwischen dem Morgen und Abend. Das Thema hat kein Ende, jeden Tag bietet die Stadt neue Sichtweisen für diejenigen, die sehen können.
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Die literarische Auseinandersetzung mit der Stadt, so Anne Cornelia Kenneweg, dient als „Selbsterforschung der Moderne“, als „notwendige Vermittlung zwischen dem Menschen und seiner Umwelt“.120 Die Literatur ist dazu fähig, die immer komplizierteren Formen der städtischen Existenz adäquat zu beschreiben. Diese Beschreibung ist möglich, weil die moderne Stadt als „Buch“ gelesen werden kann, das aus Zeichen besteht. In der Sekundärliteratur wird häufig die
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„Die Stadt. Ein Filmskript“, hrsg., übersetzt und kommentiert von Axel Schmolke“, in: PWJ, Bd. 17, St. Ingbert 2008, S. 9-65.
119 Vgl. Jan Christer Bengtsson, „Peter Weiss, der Film und die Großstadt“, in: Rudolf Wolff (Hrsg.), Peter Weiss: Werk und Wirkung, (= Sammlung Profile, Bd. 27) Bonn 1987, S. 130-145, hier S. 130. 120 Anne Cornelia Kenneweg, Städte als Erinnerungsräume: Deutungen gesellschaftlicher Umbrüche in der serbischen und bulgarischen Prosa im Sozialismus, S. 61.
60 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT Buchmetapher benutzt, um die Affinität zwischen Stadt und Text zu verdeutlichen: Jeder Stadt eignet also eine Textur, eine jeweils spezifische Semiotik, in der sich Zeichen neben Zeichen stellen, Bedeutung tragen, gewinnen oder verlieren und so das Handeln ihrer Benutzer – Bewohner wie Besucher – prägen. Jede Stadt hat ihre eigene Syntaktik, 121
ihre charakteristische „Stadtsemantik“, ihre urbane Pragmatik.
Die „Textur“ der Stadt kann durch verschiedene Medien entziffert werden, unter anderem durch den Flaneur. Die Lesbarkeit der Stadt ist letztendlich als Versuch zu betrachten, das komplexe Verhältnis zwischen Stadt und Text, zwischen der Wahrnehmung des Raumes und ihrer sprachlichen Realisierung darzustellen.122 Was bedeutet in diesem Kontext der Begriff „Stadttext“? In Stadttexten rücken Städtebeschreibungen ins Zentrum der Darstellung, wobei die Referenz im Mittelpunkt steht. Es geht hier primär um ein mimetisches Abbild einer real existierenden Stadt. Die meisten Stadttexte gehören diesem Typus an. Städte des Imaginären entstehen im Laufe des 19. Jahrhunderts und sind Texte urbaner Visionen, Konstrukte, Phantasmagorien. Sie bilden eine Ablösung vom Paradigma des Realen und des Mimetischen. Diese Abkehr von der Mimesis zeigt sich zum ersten Mal programmatisch in Baudelaires Les Fleurs du Mal. Der Stadttext wird hier in Anlehnung an Andreas Mahler als Text definiert, der explizit die Stadt zum Gegenstand der Schilderung macht, z.B. Ezra Pounds Haiku-ähnliches Gedicht In the Station of the Metro (1916): „The apparation of these faces in the crowd; / Petals on a wet, black bough.“123 Schon die semantische Reihe „crowd“, „station“ und „Metro“ signalisiert dem Leser, dass hier eine europäische Metropole gemeint ist, höchstwahrscheinlich Paris.124 In Dos Passos Roman Manhattan Transfer (1925) erscheint, wie Volker Klotz gezeigt hat, die Stadt als dreigliedrig. Maßgeblich trägt dazu die multiperspektivische Erzähltechnik bei, die
121 Andreas Mahler, „Stadttexte – Textstädte: Formen und Funktionen diskursiver Stadtkonstitution“, in: Ders. (Hrsg.), Stadt-Bilder, S. 11. 122 Siehe hierzu Karlheinz Stierle, Der Mythos von Paris, S. 205-219. Vgl. Anne Cornelia Kenneweg, Städte als Erinnerungsräume: Deutungen gesellschaftlicher Umbrüche in der serbischen und bulgarischen Prosa im Sozialismus, S. 62. 123 Hier zitiert nach Andreas Mahler, „Stadttexte – Textstädte: Formen und Funktionen diskursiver Stadtkonstitution“, in: Ders. (Hrsg.), Stadt-Bilder, S. 13. 124 Siehe hierzu Winfried Fluck, „Profanität und Hyperrealität: Die Stadt in der amerikanischen Postmoderne“, in: Roland Galle, Johannes Klingen-Protti (Hrsg.), Städte der Literatur, S. 213.
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eine radikale Simultaneität ermöglicht. Durch die simultane Figurenperspektive von insgesamt dreißig Charakteren wird ein voyeuristischer Einblick in die chaotisch-dynamische Großstadt New York ermöglicht. Die Stadt erscheint bei Dos Passos als ambivalent; einerseits ist sie Ort der Selbstentfaltung und der unbegrenzten Möglichkeiten, andererseits ist die tendenziell zerstörerisch, da der Mensch ihr nicht gewachsen ist.125 Wie kann die Stadt in der Literatur dargestellt werden? Dieser Frage ist Andreas Mahler nachgegangen, der zwischen verschiedenen Formen diskursiver Stadtkonstitution unterschieden hat: Referentielle und semantische Stadtkonstitution.126 Bei der referentiellen Stadtkonstitution wird das fiktive Geschehen einer „realen“ Stadt dargestellt, was manchmal durch den Titel des Werkes deutlich wird, z.B. Berlin Alexanderplatz oder Dubliners. Dargestellt werden hier real existierende Merkmale der Stadt durch Straßennamen, Bauwerke, Naturbesonderheiten, Sehenswürdigkeiten. Eine solche Art der Stadtkonstitution hat man „prototypisch“ genannt: Sie erfolgt unter Verweis auf die jeweils typischen Merkmale der Stadt. Wer z.B. einen Paris-Text konzipieren will, nennt SacréCoeur, den Eiffelturm und Nôtre Dame. Neben der expliziten referentiellen Stadtkonstitution kommen in Stadttexten zudem häufig eine rein deskriptive Technik vor, die semantische Stadtkonstitution127, z.B. in Musils Der Mann ohne Eigenschaften: Wie alle großen Städte bestand sie aus Unregelmäßigkeit, Wechsel, Vorgleiten, Nichtschritthalten, Zusammenstoßen von Dingen und Angelegenheiten, bodenlosen Punkten der Stille dazwischen, aus Bahnen und Ungebahntem, aus einem großen rhythmischen Schlag und der ewigen Verstimmung und Verschiebung aller Rhythmen gegeneinander, und glich im ganzen einer kochenden Blase, die in einem Gefäß ruht, das aus dem dauerhaften Stoff 128
von Häusern, Gesetzen, Verordnungen und geschichtlichen Überlieferungen besteht.
Das Zitat fängt mit einer unspezifischen Referenz an (wie alle Städte); es besteht aus einer Deskription. Deskriptionen, so Mahler, „sind entscheidende Kristalla-
125 Siehe Winfried Fluck, „Profanität und Hyperrealität: Die Stadt in der amerikanischen Postmoderne“, in: Roland Galle, Johannes Klingen-Protti (Hrsg.), Städte der Literatur, S. 213. 126 Siehe Andreas Mahler, „Stadttexte – Textstädte: Formen und Funktionen diskursiver Stadtkonstitution“, in: Ders. (Hrsg.), Stadt-Bilder, S. 11-36. 127 Siehe Andreas Mahler, „Stadttexte – Textstädte: Formen und Funktionen diskursiver Stadtkonstitution“, in: Ders. (Hrsg.), Stadt-Bilder, S. 11-36. 128 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 10.
62 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT tionspunkte einer dominant ausgerichteten Stadtkonstitution“, die „über Kernlexeme und Attribuierungen“ laufen.129 Die Passage fängt demgemäß mit dem Wort „Stadt“ als Beschreibungsobjekt an und fährt dann fort, die Stadt zu differenzieren und generalisieren: Geschildert wird eine unbestimmte Stadt, ohne bestimmte Merkmale oder Kennzeichen, eine „Stadt ohne Eigenschaften“. Von Belang ist des Weiteren, aus welcher Perspektive die Stadt dargestellt wird, d.h. die Frage der Modalisierung: Diese kann zum einen extern, also ohne Bindung an eine figurale Erzählperspektive oder umgekehrt intern, d.h. mit Bindung an einer Erzählfigur erfolgen. Noch wichtiger ist aber der Abstand zwischen dem Standpunkt der Wahrnehmung und dem wahrgenommenen Objekt. Die Modalisierung des wahrgenommenen Objektes hängt vor allem von der Lokalisierung des Erzählers ab: Wahrnehmung von erhöhter Perspektive aus (Vogelperspektive) wie in Victor Hugos Nôtre Dame de Paris (1830) und August Strindbergs Das Rote Zimmer (1879) bzw. Wahrnehmung von der Straße aus, statische oder bewegliche Position des Erzählers. Von Bedeutung, so Mahler, ist auch der „Grad der Verarbeitung/Deutung des Wahrgenommenen vs. kommentarlose Nebeneinanderstellung.“130 In Rainer Maria Rilkes Darstellung der Stadt Paris in Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1911) vermischt sich das Schauen des Protagonisten mit den synästhetischen Geräuschen und Gerüchen der Großstadt. Die vielen Einzelheiten der Stadt mit ihrem Betrieb bilden eine Einheit; alles wird Teil dieser Einheit. Selbst der Romanprotagonist, der beim Flanieren von den vielen Eindrücken und Bewegungen mitgerissen wird, verschmilzt mit der pulsierenden Dynamik der Großstadt, mit der er Eins wird: Der Boulevard St-Michel war leer und weit, und es ging sich leicht auf seiner leisen Neigung. Fensterflügel oben öffneten sich mit glänzendem Aufklang, und ihr Glänzen flog wie ein weißer Vogel über die Straße. Ein Wagen mit hellroten Rädern kam vorüber, und weiter unten trug jemand etwas Lichtgrünes. Pferde liefen in blinkernden Geschirren auf dem dunkel gespritzten Fahrdamm, der rein war. Der Wind war erregt, neu, mild, und alles stieg auf: Gerüche, Rufe, Glocken.
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129 Andreas Mahler, „Stadttexte – Textstädte: Formen und Funktionen diskursiver Stadtkonstitution“, in: Ders. (Hrsg.), Stadt-Bilder, S. 16. 130 Ebd., S. 21. 131 Rainer Maria Rilke, Sämtliche Werke, Bd. 6: Malte Laurids Brigge. Prosa 19061926, hrsg. vom Rilke-Archiv. In Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke besorgt durch Ernst Zinn, Frankfurt am Main 1966, S. 768.
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Mahler unterscheidet des Weiteren zwischen verschiedenen Funktionstypen der Stadttexte: Städte des Allegorischen, des Realen und des Imaginären.132 Wird der Stadttext „von einer sekundären Semantik derart überbordet“, so dass der eigentliche Topos der Stadtbeschreibung kippt, entstehen „Städte des Allegorischen“.133 Ein Beispiel für den allegorischen Stadttext liefert Albert Camus’ Roman Die Pest (frz.; La Peste, 1947), in welchem die Pestseuche in der nordafrikanischen Stadt Oran aus Sicht der Hauptfigur Dr. Bernard Rieux dargestellt wird. Von vielen Kritikern wurde die Pestseuche als Allegorie für die deutsche Okkupation Frankreichs während des Zweiten Weltkriegs aufgefasst. Ein anderes zeitgenössisches Beispiel für den allegorischen Stadttext stellt Peter Weiss’ Erzählung Der Fremde (1949) dar.134 Schon im Traktat von der ausgestorbenen Welt hatte Weiss die Annäherung eines Ichs an eine fremde Stadt geschildert. Tingeltangel, Jahrmarktsmotive und Zirkusse gehörten zum Inventar des malerischen und literarischen Werkes. Das problematische Verhältnis zwischen Ich und der Stadt waren auch Thema der Selbstbildnisse des Autors in den 1930er Jahren. Von Belang sind in diesem Kontext literarische Darstellungsverfahren, die das Verhältnis zwischen der menschlichen Psyche und der Stadt zum Gegenstand haben. Häufig kann, wie in etwa in Camus’ Die Pest oder in Weiss’ Der Fremde, die Verfremdung des Protagonisten mit der Darstellung der Stadt korrespondieren. II. Seitdem es Städte gibt, seien es Metropolen von globaler Bedeutung oder regionale Zentren, ist auch bekannt, dass sie zerstört werden können. Sei es durch Krieg, Naturkatastrophen oder menschliche Intervention – die Stadt ist ein vergänglicher Ort. Die Vorstellung von der Zerstörbarkeit der Großstadt wurde erstmals programmatisch in Frankreich während der Spätaufklärung formuliert. Das Motiv ist auch das Hauptthema in Heinrich von Kleists Erzählung Das Erdbeben in Chili (1806), die die Vernichtung der Stadt Santiago durch ein Erdbeben thematisiert. Historischer Hintergrund bildet die Zerstörung von Lissabon
132 Andreas Mahler, „Stadttexte – Textstädte: Formen und Funktionen diskursiver Stadtkonstitution“, in: Ders. (Hrsg.), Stadt-Bilder, S. 25-35. 133 Ebd., S. 25. 134 Vgl. hierzu Robert Cohen, Peter Weiss in seiner Zeit: Leben und Werk, Stuttgart, Weimar 1992, S. 66.
64 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT durch das Erdbeben 1755, die im aufgeklärten Europa einen Schock auslöste.135 Die Zerstörung der Stadt in Kleists Erzählung wird von den Bewohnern als göttliche Strafe gedeutet und führt zur Gewalt gegen Menschen, die dafür verantwortlich gemacht werden. Die physische Zerstörung der Stadt führt auch zum Zusammenbruch der alten Ordnung; die auf den „primitiven“ Zustand zurückgeworfene Stadt erlebt in den Ruinen eine zweite paradiesische Blütezeit. Das Zerstören der Stadt führt auch zu einer neuen sozialen Ordnung, wobei offen bleibt, ob diese Ordnung als positiv einzuschätzen ist oder nicht. Das Interesse für das Ruinöse an den Städten ist ein literarischer Topos, der im Laufe des 19. Jahrhunderts an Aktualität gewinnt. In der Dichtung Victor Hugos erscheint der Mythos des Untergangs der großen Städte Athen, Babylon, Sodom und Gomorrha als Schicksal der Metropole Paris. In „L´arc de Triomphe“ aus der Gedichtsammlung Les Voix intérieures (1837) wird das untergegangene Paris als Ruinenlandschaft visionär dargestellt, laut Karlheinz Stierle eine der gewaltigsten Visionen vom Untergang der Metropolen in der französischen Literatur überhaupt: „Hugo ist der Dichter, der als erster Stadtpoesie und Ruinenpoesie in großen Synthesen vereint und dem die sprachliche Kraft zu Gebote steht, um solchen Synthesen den Atem der monumentalen geschichtlichen Reflexion zu geben.“136 Als kritischer Augenzeuge verfolgte Hugo das Abreißen des mittelalterlichen Paris im Zusammenhang mit der neuen Stadtregulierung Haussmanns, z.B. in dem Artikel Ce qui disparaît à Paris. Dort prangert Hugo die Zerstörungswut durch die Bauspekulation des Napoleonischen Paris an: Das bürgerliche Zeitalter, so Hugo, werde im Gegensatz zum Mittelalter keine „erhabenen“ Trümmer hinterlassen. Mit kulturpessimistischen Obertönen wird die Zerstörung der Stadt in Hermann Brochs Der Tod in Vergil (1945) gestaltet. In einer Fassung des Romans, Die Heimkehr des Vergil, begegnet uns das Motiv der zerstörten Stadt. Doch anders als bei Kleist wird die Zerstörung der Stadt für Broch als Inbegriff des Verfalls eines ganzen Zeitalters gedeutet. In einer nächtlichen Angstvision sieht Vergil Brundisium brennen, und seine Bürger „Blut saufen.“ Das Motiv der zerstörten Stadt plagt ihn, er fühlt, dass sich die „Endzeit“ der Kultur nähert, in der schließlich auch die Bücher vernichtet werden. Denn auch die Kunst und Kultur, die Vergils Epoche hervorbringt, ist der Vernichtung preisgegeben. Wie früher Theben, Troia, Babylon und Niniveh zerstört wurden, wird auch das römische
135 Vgl. Andreas Böhn und Christine Mielke (Hrsg.), Die zerstörte Stadt: Mediale Repräsentationen urbaner Räume von Troja bis Sim City, S. 10f. 136 Karlheinz Stierle, „Der Tod der großen Stadt“, in: Manfred Smuda (Hrsg.), Die Großstadt als „Text“, München 1992, S. 109.
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Weltreich und dessen Zivilisation bald vernichtet werden. Vergil sieht das zerstörte Rom vor sich, sieht wie die Wölfe wieder durch die Gassen der verödeten römischen Hauptstadt, einst der Inbegriff menschlicher Kultur, streifen: Betrunkene Horden im Palast und auf der Gasse; noch trinken sie Wein, doch bald werden sie Blut saufen, noch leuchten sie mit Fackeln, doch bald werden ihre Dächer brennen und flammen, brennen, brennen, brennen. Und desgleichen werden die Bücher mit in dem Rauch aufgehen. Mit Recht, mit Recht, mit Recht. […] Und als die Nacht schon weit vorangeschritten war, da sah Vergil viele zerstörte Städte und Heiligtümer vor sich, Städte, in denen er nicht einmal den Namen kannte und die ihm doch so bekannt waren wie die Stadt seiner Jugend, die Mantua hieß; er sah Babylon und Niniveh, er sah ein verwüstetes Theben und das oftmals zerstörte Jerusalem, und er sah das verödete Rom, ein Rom, durch dessen Gassen die Wölfe streiften, ihre Stadt wieder in Besitz zu nehmen, und er sah die 137
Ohnmacht der Götter.
Die Vorstellung von der Sterblichkeit der Großstädte erscheint hier als eine bildhaft konkrete Meditation, die die Gegenwart Vergils in eine offene Zukunft verlängert. Diese Denkfigur hat seine Wurzeln in der Spätaufklärung und wurde erstmals in Louis Sébastien Merciers Werk Tableau de Paris (1782-89) programmatisch formuliert.138 Sie wurzelt in der melancholischen Vorstellung, dass die Stadt bereits ihren höchsten Ausdruck fortgeschrittener Kulturentwicklung erreicht hat und im Begriff ist, an die Natur zurückzufallen: Wie Vergils Zeitgenossen das zerstörte Jerusalem oder das verwüstete Theben besuchen können, werden zukünftige Menschen die Ruinen Brundisiums betrachten können. Nach der Zerstörung der Städte im Zweiten Weltkrieg kam das Genre der Trümmerfotos im Nachkriegsdeutschland in Mode: Zwei Werke, die große Verbreitung fanden, waren Rolf Peters Buch Dresden; eine Kamera klagt an (1949) und Hermann Claasens Gesang im Feuerofen (1947).139 Bei Claasen und Peters erscheint die Stadt als Erinnerungsraum: Dargestellt wurden die Städte Dresden,
137 Hermann Broch, „Die Heimkehr des Vergil“, in: Paul Michael Lützeler (Hrsg.), Materialien zu Hermann Brochs „Der Tod des Vergil“, Frankfurt am Main 1976, S. 15f. 138 Siehe Karl-Heinz Stierle, „Der Tod der großen Stadt: Paris als neues Rom und neues Karthago“, in: Manfred Smuda (Hrsg.), Die Großstadt als Text, S. 101ff. 139 Vgl. Christine Mielke, „Geisterstädte. Literarische Texte und Bilddokumentationen zur Städtebombardierung des Zweiten Weltkrieges und die Personifizierung des Urbanen“, in: Andreas Böhn, Christine Mielke (Hrsg.), Die zerstörte Stadt: Mediale Repräsentationen urbaner Räume von Troja bis SimCity, S. 129f.
66 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT Köln und Frankfurt vor und nach ihrer Zerstörung. Diese Ästhetisierung des Ruinösen legt die Doppelexistenz der zerstörten Städte bloß: Die reale (zerstörte) Stadt und ihren latenten Schatten, ihr vergangenes Aussehen, das nur imaginiert oder literarisch rekonstruiert werden kann.140 Ein Bild, das sich im kollektiven Gedächtnis der Deutschen besonders eingeprägt hat, ist das Foto aus dem Turm der zerstörten Frauenkirche mit Blick auf die Trümmerlandschaft Dresdens. Dieses Foto, das bei Peters reproduziert wird, bestätigt, „dass die räumlichen Bilder eine derartige Rolle im kollektiven Gedächtnis spielen.“141 Hierzu gehört auch Hans Erich Nossacks Darstellung der Nekropole Hamburg in dessen Erzählung Der Untergang (1948). Dort begegnet dem Erzähler eine tote Stadt, die der Vernichtung preisgegeben ist. Das Gefühl der radikalen Fremde überwältigt ihn; die Viertel, die er früher im Schlaf finden konnte, existieren nicht mehr: Nur wenige Hauptstraßen waren freigelegt, aber Kilometer über Kilometer kein lebendiges Haus mehr. Und versuchte man seitlich einzudringen, verlor sich sofort jedes Gefühl für Zeit und Richtung. In Gegenden, die ich zu kennen glaubte, habe ich mich völlig verirrt. Ich habe eine Straße gesucht, die ich im Schlaf hätte finden müssen. Da, wo ich sie 142
vermutete, stand ich und wußte mir nicht zu helfen.
Das Trauma und der Verlust der historischen Bausubstanz waren Themen, die Ende der 1990er Jahre im Zusammenhang mit der Veröffentlichung von W.G. Sebalds Vortrag Luftkrieg der Literatur (1999) eine öffentliche Debatte auslösten. Sebald (1944-2001) gehörte selbst der Generation der Trümmerkinder an, für die der Begriff „Stadt“ mit einer Ruinenlandschaft symptomatisch erschien. Sebalds Vortrag geht der Frage nach, warum die deutsche Literatur sich seines Erachtens in so geringem Maße mit der Zerstörung der Städte im Zweiten Weltkrieg auseinandergesetzt hat. Er kommt zu dem Schlusspunkt, dass das Trauma zu einer Überladung und Lähmung der Denk- und Gefühlskapazitäten der zeitgenössischen Augenzeugen geführt hat. Das wahre Ausmaß der Zerstörung der Städte und die Bombenopfer entziehen sich laut Sebald einer sprachlichen Beschreibung: Das anscheinend unbeschadete Weiterfunktionieren der Normalsprache in den meisten Augenzeugenberichten ruft Zweifel herauf an der Authentizität der an ihnen aufgehobenen Erfahrung. Der innerhalb weniger Stunden sich vollziehende Feuertod einer ganzen Stadt
140 Ebd., S. 129f. 141 Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, S. 130. 142 Hans Erich Nossack, Der Untergang, Frankfurt am Main 1976, S. 49f.
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mit all ihren Bauten und Bäumen, mit ihren Bewohnern, Haustieren, Gerätschaften und Einrichtungen jedweder Art mußte zwangsläufig zu einer Überladung und Lähmung der Denk- und Gefühlskapazität derjenigen führen, denen es gelang, sich zu retten. […] Neben Heinrich Böll, dessen schwermütiger Trümmerroman Der Engel schwieg der literarischen Öffentlichkeit über vierzig Jahre vorenthalten blieb, waren es eigentlich nur Hermann Kasack, Hans Heinrich Nosack und Peter de Mendelsohn, die bei Ausgang des Krieges über das Thema der Zerstörung der Städte und das Überleben in einem Ruinenland schrieben.
143
Die von Sebald hier thematisierten Fragen aktualisieren einen Diskurs des Raumes als Inszenierung von Erinnerung. Sebalds Text macht deutlich, dass der Stadtraum zwar ein Gedächtnisort ist, aber auch, dass dieser Raum kein stabiler Träger von Erinnerungen ist. Die Stadt kann rasch ihr Aussehen verändern, z.B. durch Brüche und Einschnitte dieses Erinnerungsraums durch Kriegszerstörungen oder Naturkatastrophen.
143 W. G. Sebald, Luftkrieg und Literatur, München 1999, S. 35, S. 56.
2. Kapitel: Interpretationen
2.1 N EGATIVE S TADTMETAPHYSIK IM F RÜHWERK Das erzählerische Frühwerk von Peter Weiss ist insofern interessant, da hier bestimmte Denkfiguren vorkommen, die im Spätwerk in variierter Form wiederkehren. Zudem rekurriert Weiss dort auf Beschreibungstechniken, die für das hier behandelte Problemfeld Raum und Erinnerung aktuell sind. Im Folgenden soll auf die Erzählung Der Fremde (1948) von Peter Weiss eingegangen werden, die in Anlehnung an Andreas Mahler als ein allegorischer Stadttext eingestuft werden kann. Dies scheint insofern angebracht, da die Erzählung ein für das Frühwerk von Weiss repräsentativer Stadttext ist.1 Von den westdeutschen Ver-
1
Bereits in einem frühen unvollendeten Prosastück im Peter Weiss-Archiv, betitelt Stadt, ist der urbane Raum mit negativen Konnotationen verbunden. Der namenlose Protagonist und Ich-Erzähler flieht vor der Stadt, wo man den Himmel nicht sehen kann und deren künstliches Leben für Unmut sorgt. Einige Impressionen scheinen seine negativen Gefühle gegenüber der Stadt zu bestätigen: Zwei Autos prallen gegeneinander und ein Mensch, der aus einem Fenster gesprungen ist, liegt zerschmettert auf dem Pflaster. Die Stadt erscheint als ein chaotisches „einziges Dröhnen“. Die Nähe dieses Prosastücks zu den negativ behafteten Stadtbeschreibungen vieler Expressionisten ist auffällig. Siehe PWA 2021; „Stadt“, S. 1 des Typoskripts: „Ich bin vor die Stadt gegangen, ich war im Wäldchen, das ist so dürftig und abgeholzt, ich stand am Rande der Felder und habe den Himmel wieder gesehen. Die Menschen in der Stadt haben den Himmel vergessen, sie gehen mit gesenkten Köpfen zwischen den Steinmauern umher, sie haben den Himmel zugebaut. Da ist der grosse Ameisenhaufen, das Schieben, Drängen und Übereinanderklettern, da ist die Enge, die Atemlosigkeit, ein einziges Dröhnen. Die Masse strömt und zerrt hierhin und dorthin, zuweilen entsteht Unruhe oder Stockung, ein Pferd stürzt, zwei Automobile prallen gegenei-
70 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT lagen abgelehnt, übersetzte Weiss die Erzählung, die seinem filmischen Hauptwerk Hägringen (1959) zugrunde lag, unter dem Titel Dokument I (1949) ins Schwedische. Für Peter Weiss blieb dieser Stadttext immerhin so wichtig, dass er ihn 1980 noch auf Deutsch unter dem Pseudonym Emil Sinclair publizierte.2 Die Gattungsbezeichnung „Erzählung“ trifft auf Der Fremde nicht zu, da hier eigentlich nichts erzählt wird; keine Wirklichkeit wird beschrieben, keine Geschichte wird erzählt, keine Handlung wird wiedergegeben. Insofern knüpft dieser Stadttext in stilistischer und formaler Hinsicht an die zeitgenössischen Stadttexte des Existentialismus an, etwa Albert Camus’ oben bereits erwähnten Roman Die Pest. Im Text hält sich Weiss zudem eng „an die ästhetischen Praktiken der Surrealisten“, wie Alfons Söllner bemerkt hat.3 Hier wie dort nähert sich der Erzähler einer Stadt, die als fremd und unwirklich empfunden wird.4 Von einer Seuche ist übrigens auch in Weiss’ Erzählung die Rede. Die Seuche steht dort ähnlich wie bei Camus für einen Zustand der menschlichen Entfremdung: „Wie soll ich essen können, wenn draußen eine Seuche herrscht und die Opfer ununterbrochen hereingetragen werden? – Eine Seuche? Was für eine Seuche? – Eine Krankheit, die heißt Leben.“5 Der grundsätzliche Konflikt zwischen dem Individuum und einer technisierten Gesellschaft erklärt weiter die Darstellung der Stadt als organisiertes Chaos in Der Fremde: Das städtische Leben folgt hier einer starren Mechanik, die dem Fremden als „absurde Stadtmetaphysik“ erscheint.6
nander, ein Brand schwelt, ein Hund wird überfahren, ein berühmter Mann zeigt sich, ein Dieb wird erfasst, ein Mensch springt aus einem Fenster und bleibt zerschmettert auf dem Pflaster liegen.“ 2 3
Siehe hierzu Arnd Beise, Peter Weiss, S. 179f. Alfons Söllner, Peter Weiss und die Deutschen: Die Entstehung einer politischen Ästhetik wider die Verdrängung, Opladen 1988, S. 56.
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Schon in Weiss’ frühem Prosastück Von Insel zu Insel (1947) wird die angstvolle Begegnung des Erzählers mit der Stadt dargestellt. Der Ich-Erzähler ist ein völliger Fremdling in der Stadt, in der er sich entwurzelt fühlt: „Der erste Abend in einer fremden Stadt. Bin durch die Stadt gelaufen. Habe gesucht. Niemand gefunden, nichts gefunden. Von der Anhöhe sieht man unten den Hafen. Schwarze Schornsteine, Masten mit schlafenden Wimpeln. Versuche mich an den Namen der Stadt zu erinnern. Weiß den Namen nicht. Höre aus einer dunklen Gasse ein Kind nach seiner Mutter rufen. Dann Stille, bewußtlose Stille. Gehe. Ohne Ziel.“ (W, Bd. 1, S. 31).
5
W, Bd. 1, S. 168.
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Vgl. Alfons Söllner, Peter Weiss und die Deutschen, S. 59.
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Diese Fremdheit wird in der ersten größeren Szene spürbar, als einige Passanten vorbeilaufen: Eine Schar Männer stampft im Gleichschritt vorbei, die genagelten Schuhe klirren auf dem Pflaster, sie tragen kleine Kisten unterm Arm, sie atmen schwer und laufen vorgebeugt, ein stumpfes Grau überzieht ihre Gesichter wie eine Uniform. Sie laufen im gleichen Takt, sie sind wie eine zusammenhängende Maschine, verbunden durch Kolben und 7
Räderwerk. Dann schließt sich um sie die metallene Brandung.
Als eine chaotische „Sinfonie der Großstadt“ erscheint das Gewühl von Autos und Menschenmassen, welches zur Arbeit eilt. Durch Alliterationen und synästhetische Effekte, wie sie unter anderem durch die Neologismen („kastagnettenrasselnd“, „xylophonspringend“) realisiert werden, gewinnt folgendes Zitat einen rhythmischen Charakter. Als sprachliche Wiedergabe der monotonen Verfremdung kann die Anapher („vor und zurück“) interpretiert werden: Kastagnettenrasselnd xylophonspringend hölzern gläsern stählern stampfen sie vor und zurück, vor und zurück, zwei Schritte vor, einen zurück, drei Schritte vor, einen zurück […] vorgetrieben werden sie, vor und zurück, in falschen Tönen wühlen und suchen sie, und da alles falsch klingt, klingt es doch wieder richtig, alles ist ineinander verwoben, verschoben, verhoben. Schrecklicher betörender Lärm, pochender Lärm von Herzen Atemzügen Schritten, hackend aneinander, wunderbar unzerbrechliche Dissonanz, geschlossener 8
Grundlärm unter klar aufsteigenden Stimmen, glockenhell zitternden Akkorden.
Durch die rhetorische Figur der Paronomasie wird ein Wortspiel geschaffen, indem Wörter, welche einen ähnlichen Klang haben, miteinander verbunden werden („verwoben, verschoben, verhoben“). Das Erzähler-Ich ist kein Erzähler, der sich bekennt oder sich durch Aussehen oder Alter beschreiben lässt. Es hat keine Identität, und die Grenze zwischen Wirklichkeit und Traum bleibt fließend. Der Schauplatz ist eine Stadt, in der das Erzähler-Ich sich aufhält. Dieses Ich sucht Kontakt mit den Stadtbewohnern, es möchte dazugehören: „Ich gehöre zu euch!“9 Auf der Suche nach einer Arbeit gelangt der Erzähler an verschiedene Stationen – in einen Sportsaal, in dem Boxer trainieren, in eine Glasbläserei, in ein Leichenschauhaus, auf eine gewaltige
7
W, Bd. 1, S. 161.
8
W, Bd. 1, S. 162f.
9
W, Bd. 1, S. 178.
72 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT Baustelle. Sämtliche dieser Zwischenstationen erscheinen dem Ich als Orte des Schreckens, aus denen er flieht. Gleichzeitig fühlt er eine tiefe Verbundenheit mit der Stadt, er kennt „jedes Haus“ in ihr. Seine Einfühlung geht so weit, dass er sich hineinversetzt in die Treppenschächte der Stadt. Die Stadt erscheint hier als „Gehirn“, in dessen Bewusstsein sich der Erzähler hineindrängt: „Ich bin das Bewußtsein dieser Treppenschächte, in denen die Fahrstühle hinter ihren Gittern summen und scharren, in denen Kinder auf den Stufen zum Hof sitzen und einander Bilder zeigen[.]“10 Der „geträumte Raum“ in Der Fremde ist, wie Manuel Köppen zeigen konnte, durch einen ständigen, halluzinatorischen Wechsel des Raumes verbunden.11 In der 13. Prosaszene findet der Protagonist Arbeit bei einer großen Baustelle, wo Hochhäuser aus Zement errichtet werden. Es gelingt ihm, zum ersten Mal, in das „Getriebe“ der Stadt einzudringen und einen Anschluss an das städtische Leben zu finden. Doch es wird schnell klar, dass dieser Anschluss an das Stadtleben stark hierarchisch gegliedert ist, was mittels einer expressiven Raumsemantik zum Ausdruck kommt. Anhand der Tätigkeiten, die auf dem Großbau zu verrichten sind, drückt sich der Stellenwert der Individuen in der Gesellschaft aus, wobei der Protagonist ganz unten im Keller anfangen muss. Dort wird am Fundament des Hauses gearbeitet, wobei die Arbeiter bereit sein müssen, sich selbst zu opfern und eingemauert zu werden. Es scheint der Hauptfigur, als würde er „das ganze Gebäude“ auf seinen Schultern tragen. Ähnlich wie in den autobiographischen Prosastücken Abschied von den Eltern und Fluchtpunkt veranschaulicht die Haustopographie das Rollengefüge der Gesellschaft.12 Diese gesellschaftliche Hierarchie wird als so starr empfunden, dass die Hauptfigur das Gefühl bekommt, von dem Moloch der Großstadt eingemauert und verschlungen zu werden. Das Eingesperrtsein in der Baustelle verweist auf die Enge der von starren Konventionen geprägten Gesellschaft. Zugleich rekurriert Weiss hier auf einen volkskundlichen Topos der Versteinerung des Menschen. Demgemäß sind Mythen und Sagen überliefert, in denen Menschen in Steine verwandelt worden sind. Steine wurden im Volksglauben nicht wie heute als tote Materie betrachtet, sondern als lebendige Wesen, „die in der Erde wachsen wie Pflanzen“, die „sich
10 Ebd., S. 179. 11 Manuel Köppen, „Die halluzinierte Stadt. Strukturen räumlicher Wahrnehmung im malerischen und frühen erzählerischen Werk von Peter Weiss“, in Rudolf Wolff (Hrsg.), Peter Weiss: Werk und Wirkung, S. 9-26, hier S. 12f. 12 Vgl. Ulrike Weymann, „Zur Semantik räumlicher Strukturen in Literatur und Film“, in: Yannick Müllender, Jürgen Schutte, Ulrike Weymann (Hrsg.), Peter Weiss: Grenzgänger zwischen den Künsten, S. 58.
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bewegen“, „weinen“ und „gebären“ können.13 Analog beschreibt Weiss die Stadt in Der Fremde sowie später in Abschied von den Eltern als „eine riesige Gebärmutter aus Stein“14. Ich stehe breitbeinig, mit weitausgetreckten Armen in die Mauer gedrückt, ich liege in ihr und um mich sind Männer geschart, die große Fladen Zements in den Stein klatschen, immer tiefer versinke ich in der nassen schleimigen Masse […] – einige Sekunden glaube ich mich in einer Schneeballschlacht zu befinden, der weiche Schnee trifft mich mit wohltuender Kühle und hüllt mich bald ein, doch dann rucke und zerre ich mit den Gliedern[.] Wollt ihr mich einmauern! gröle ich mit einer Stimme, die ich nicht erkenne. Laßt mich, laßt mich weg! Ich will mit eurem Haus nichts zu tun haben! Laßt euch selbst von eurem Haus erschlagen! Ich will leben!
15
Die Kritik am Lebensstil der modernen formierten Massengesellschaft entzündet sich hier an der Errichtung funktionalistischer Hochhäuser, die die Skylines der europäischen Metropolen prägen. Der diskursiv-gesellschaftliche Hintergrund des Hochhausbaus in Der Fremde bildet die topographische Veränderung der Stadtzentren in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. So entstand in den 1950er und 1960er Jahren im Rahmen einer umfassenden Stadtsanierung auch in Stockholm die so genannte „Hötorgscity“, wo u.a. fünf Hochhäuser errichtet wurden. Diese Veränderung des urbanen Milieus, welche in Der Fremde eingegangen ist, wurde optisch umgesetzt in der filmischen Adaption des Prosastücks, Hägringen (1958/59). Die Ich-Figur passt nicht in die Stadt hinein und will sich auch nicht in das Stadtleben integrieren. Dieses Ich hat kaum Realität, es ist ein „Nichts, Namenlos. Eine Art Seismograph“, es kommt sich selbst dermaßen fremd vor, dass es sich selber schlägt, um sich seiner Wirklichkeit zu vergewissern.16 Seine Situation ist vergleichbar mit der des einzigen Überlebenden nach einer kosmischen Katastrophe – eine Vorstellung, die Weiss schon im Traktat von der ausgestorbenen Welt zehn Jahre zuvor thematisiert hatte. Ähnlich wie im Kapitel „Die Musik des Untergangs“ in Hesses Erzählung Klingsors letzter Sommer (1919), verbringt das Ich die Nacht im „Palast der Nacht“, in dem sich die Menschen in einer künstlichen Welt mit Schaubuden,
13 Zu diesem Topos, siehe Nicole Fritz, Bewohnte Mythen – Joseph Beuys und der Aberglaube, Nürnberg 2007, S. 44-46, hier S. 44 14 Vgl. W, Bd. 1, S. 201, AE, S. 133. 15 Ebd., S. 195. 16 W, Bd. 1, S. 189.
74 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT Freudenhäusern und Karussells aus „Pappe Gips und Tingeltangel“ vergnügen, nach der sich das Ich sehnt, wo es aber nicht hingehört: Ich komme hierher, als der, der ich bin, und will mich als solcher zeigen. Ich will das Unmögliche und hier singen und tanzen. Und ich hebe zu singen an mit einer vor Hunger ausgehöhlten Stimme und tanze mit Bewegungen, die taumelig sind vor Hunger… Ich tanze meine Pantomime und meine Stimme trompetet und trommelt den Takt, ich tanze 17
wachsam, und bereit zur Flucht.
Thematisiert wird in Der Fremde die Lesbarkeit der Stadt; die Stadt erscheint dort als Buch, dessen arbiträre Zeichen (Idiome) dekodiert werden müssen. Doch jedes Wort entgleitet dem Protagonisten, er ist nicht imstande, die Stadt zu lesen. Im Gegenteil entgleiten ihm die Buchstaben, die in ein „undurchsichtiges flimmerndes Wasser“ fallen: Ich höre alle Dialekte des Erdinnern und der Dächer, höre alle Idiome der Stadt, höre bei jedem Wortansatz andre Worte darunter klingeln, spüre das fruchtlose Suchen nach dem richtigen Wort, das fruchtlose Suchen nach dem richtigen Gehör. Jedes Wort, das man anfassen will, entgleitet in ein undurchsichtiges flimmerndes Wasser, in dessen Tiefe all die andern versunkenen Worte schwimmen wie Blechfischchen, an denen man sich verfängt. Kaum länger als einen Augenblick hat alles Ausgesprochene Bedeutung, hebt man sich nur um eine halbe Körperlänge über das Gesagte empor, so versteht man es schon nicht mehr, und noch ein kleiner Schritt: da ist es nur wie ein entlegenes Murmeln, und noch ein 18
winziger Ruck und es versiegt ganz.
Nicht zuletzt ist die Sprachkritik, die in Der Fremde thematisiert wird, zugleich auch ein Ausdruck einer kulturkritischen Tradition im deutschsprachigen Raum. Die Sprache verliert um die Jahrhundertwende durch die zunehmende Kommerzialisierung der Reklame und journalistische Feuilletons allmählich ihre Substanz. In der Dichtung des Fin de siècle kommt, wie Peter Szondi bemerkt hat, „die Fragwürdigkeit des Sprechens, ja der Sprache selbst“ zum Ausdruck.19 Die Sprachkritik im deutschsprachigen Raum um 1900 war eine Reaktion auf diese Entwertung der Sprache durch den Kommerz, beziehungsweise durch den „lü-
17 Ebd., S. 181. 18 W, Bd. 1, S. 163f. 19 Peter Szondi, Theorie des modernen Dramas, Frankfurt am Main 2007, S. 89.
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genhaften Worthandel des Journalismus“ und wurde von sowohl konservativen als auch sozialistischen Strömungen aufgegriffen.20 Ähnlich wie in Knut Hamsuns Roman Hunger oder Kafkas Erzählung Der Hungerkünstler spielt das Motiv des Hungerns in Der Fremde eine bedeutende Rolle. Das Motiv des Hungerns erscheint hier als Chiffre für die radikale Kontaktlosigkeit des Protagonisten: Die gegenwärtige Wahrheit ist nur der Hunger, ein brutaler, nicht wegzudenkender Hunger, der diesen Durchgangsraum, diesen Warteraum der Stadt mit einem einzigen Gongschlag übertönt. Alles ist hier des Hungerns wegen erbaut. Seht das Monument des Hungerns!, rufe ich, und die Gesichter blicken mich träge an. Jeder Holzsplitter, jedes Sandkörnchen ist des Hungerns wegen hierher getragen worden [… ] Der hat einen Sonnenstich gekriegt! sagt einer. Ein anderer: Bei dem klapperts! Ein dritter sagt: Das ist ein Heiliger! Und macht eine tiefe Verneigung. Alle lachen. Fühlt ihr den Hunger nicht? rufe 21
ich.
Wie in Hamsuns Hunger treibt der vor den Hunger in Wahnsinn getriebene Protagonist planlos durch die Stadt und versucht, Anteilnahme zu erwecken. Wie ein Stück Papier treibt er in der Stadt herum; er steigt in eine Bahn ein, um wieder auszusteigen. Er versucht, Kontakt mit den Stadtbewohnern aufzunehmen, doch dies kann ihm nicht gelingen, da er seine Sprache verloren hat: Der Schaffner ruft: Noch jemand ohne Kleider? Noch jemand, der seine Kleider nicht eingelöst hat? Nach vorne zur Tür werde ich gedrängt, hinzugestoßen wie etwas Überschüssiges, und hinten wird neues Leben hineingequetscht. Springe hinaus und sehe im Flug noch ein kleines Spiegelgesicht, das Gesicht des Steuermanns, diese schweren aufmerksamen Züge, diese ernsten Augen, denen der wirbelnde Fahrweg anvertraut ist. Und hi22
nab.
Weiss’ Darstellung der Stadt in Der Fremde weist mithin Reminiszenzen zu den Stadtdarstellungen der Dekadenzliteratur um die Jahrhundertwende 1900 auf. Ein Schlüsseltext in den Stadtbeschreibungen der deutschsprachigen Literatur des Fin de Siècle ist Alfred Kubins im Jahr 1909 veröffentlichter Roman Die andere Seite, der eine dystopische Stadtbeschreibung der Dekadenzliteratur dar-
20 Zu diesem sprachkritischen Diskurs um die Jahrhundertwende, siehe Peter V. Zima, Komparatistik: Einführung in die vergleichende Literaturwissenschaft, S. 110-114. 21 W, Bd. 1, S. 178. 22 Ebd., S. 186.
76 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT stellt. Seiner relativen Unbekanntheit zum Trotz hat dieser Roman Nachkriegsautoren wie Hermann Kasack (Die Stadt hinter dem Strom) literarisch beeinflusst. Auch Peter Weiss, der durch seine Freundschaft mit Hermann Hesse Kubin kannte, fühlte sich mit Kubin und mit dem von ihm vertretenen „magischen Realismus“ in der Malerei sehr verbunden. Kubins Roman zielt ähnlich wie Der Fremde darauf, Korresondenzen zwischen dem Stadtraum und dem Protagonisten herzustellen. Demgemäß wird bei Kubin eine surreal-fantastische Nekropole dargestellt, in der eine radikale Entfremdung des Einzelnen sich kundgibt. Durchaus bezeichnend ist dabei die Tatsache, dass ähnlich wie in Der Fremde die mimetische Ausdrucksfähigkeit der Sprache in Frage gestellt wird: Von dem hochgelegenen französischen Viertel schob sich langsam wie ein Lavastrom eine Masse von Schmutz, Abfall, geronnenem Blut, Gedärmen, Tier- und Menschenkadavern. In diesem in allen Farben der Verwesung schillernden Gemenge stapften die letzten Träumer herum. Sie lallten nur noch, konnten sich nicht mehr verständigen, sie hatten das Vermögen der Sprache verloren. Fast alle waren nackt, die robusteren Männer stießen die schwächeren Weiber in die Aasflut, wo sie von den Ausdünstungen betäubt, untergingen. Der große Platz glich einer gigantischen Kloake, in welcher man mit letzter Kraft würgte und biß und schließlich verendete.
23
Die negative Stadtmetaphysik in Der Fremde äußert sich nicht zuletzt in der Darstellung der Stadt als Nekropole, wobei eine organisierte Ermordung von Menschen sich an einem Hinterhof der Stadt ereignet. Dort werden Menschen vergast, eine unüberhörbare Anspielung auf den Holocaust. Das Motiv des Gases antizipiert Weiss’ spätere Bearbeitung des Jahrhunderttraumas, z.B. im achten Gesang vom Phenol in Die Ermittlung (1965). Der Erzähler fühlt sich sowohl in die Situation der Täter als auch in die der Opfer ein. Ähnlich wie Peter Weiss in seinem Essay Meine Ortschaft stellt der Erzähler fest, dass er auch sehr wohl hätte vernichtet werden können. Der vergaste Mann, der auf dem Boden liegt, könnte er selbst sein: Ein sanfter süßlicher Geruch sticht irgendwo hervor, wie aus einem nadelfeinen Loch eines Gasschlauches. […] Da liegen reglose Körper auf Tischen, manche in weißen Hemden, halb verhüllt von Decken, manche in verrutschten verwüsteten Kleidern. Zwei liegen nebeneinander, tief ineinander verschlungen. […] Wieder gehen die Türflügel auf, gleich legt der Alte die Sichel nieder. Er geht den beiden Gestalten entgegen […] geführt von dem Alten schiebt sich die kleine Prozession durch das feine Rieseln der Wassertropfen,
23 Alfred Kubin, Die andere Seite. Ein phantastischer Roman, München 1975, S. 251.
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durch das kaum wahrnehmbare Rieseln des Gases. […] Ich muß mich an meinem Körper festhalten, um nicht mein ganzes Leben auf den Unbeweglichen zu überfahren. Ich muß meine Finger zusammenpressen, um sie nicht an die schmalen wächsernen Finger zu ver24
lieren. Ich könnte hier statt seiner liegen.
Auffällig ist die Heftigkeit, die erotische Obsession, mit der sich das Ich der Stadt nähert. Die Stadt erscheint als Organismus. Vokabular und Metaphorik sind erotisch aufgeladen und machen deutlich, wie sehr das Motiv des Eindringens in die Stadt als „sexueller Vorgang angelegt ist“:25 Die Stadt wird als „riesige Gebärmutter aus Stein“26 bezeichnet, in die das Ich eindringt: „Nun komme ich in dich hinein, ich dränge mich langsam in dich hinein und mache dich fruchtbar, ich forme dich nach meiner Vorstellung, ich umarme dich hart, ich hauche dir meinen Atem ein, ich zwinge dich, Gestalt anzunehmen.“27 Erotisch
24 W, Bd. 1, S. 166, S. 169. 25 Vgl. Robert Cohen, Peter Weiss in seiner Zeit, S. 67. Sexuelle Freizügigkeit und Promiskuität sind auffällige Merkmale im Werk Henry Millers, mit dem sich Weiss eingehend beschäftigt hat. In der Rezension „Rosenröd korsfästelse“ („Rosenrote Kreuzigung“) zu Henry Millers Roman Sexus (1949), die in Aftontidningen (Stockholm), 07.12.1953 erschien, beschreibt Weiss die erotisch aufgeladene Prosa des amerikanischen Romanciers. Die Durchdringung von Frauenkörpern wird dort als eine Sehnsucht beschrieben, deren Ziel darin besteht, „das pränatale Stadium“ zu erreichen: „Jede Seite ist in Sperma und Blut getränkt, unaufhörlich schlägt das Herz und man spürt die Hitze der Atemzüge. Die Frauen, die eine nach der anderen von seiner Überpotenz ausgehöhlt werden, schweben um ihn herum wie der Lebensstrom, sie haben keine Gesichter, sie sind nur Schöße und wenn er in sie hineindrängt, tut er das mit der brennenden Sehnsucht nach einer Wiedervereinigung mit der Gebärmutter, um das pränatale Stadium zu erreichen. Dieses ständig geahnte embryonale Stadium im Zusammenhang mit der schaffenden Lebensintensität wirft ein neues Licht auf sein ganzes Werk. Die Beziehung zu den Lebenswurzeln in ihm ist so stark, dass er wie ein Gott in allem, was er berührt, sowohl Leben als auch Tod in einem geschlossenen Kreis sieht. Und wie ein Gott entwirft er seine Gestalten aus dem Urschlamm, saugt sie aus und gibt sie dem Nichts preis. Wie ein Gott steht er auch jenseits aller Normen, jenseits des Persönlichen. Sein Ich Henry Miller ist nicht selbstverherrlichend, (wie viele, ängstlich angesichts dieser aller zerreißenden Entladung zu glauben scheinen) sondern die größte Distanzierung zur Person in unserer subjektivistischen Gegenwartsliteratur.“ 26 Vgl. Robert Cohen, Peter Weiss in seiner Zeit, S. 201. 27 Ebd., S. 206.
78 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT aufgeladene Szenen finden sich zudem in den Passagen über eine Dirnenstraße, oder über die Gäste im „Palast der Nacht“, die sich an einem „Neger“ mit einem „Phallus […] wie ein Kanonenrohr“ erregen – eine Passage, die als Kritik an der Leere und Belanglosigkeit der Gesellschaft intendiert sein mag, aus der heutigen Sicht aber rassistisch und kitschig erscheint, wie Robert Cohen bemerkt.28 Mit negativen Konnotationen ist die Stadt ebenfalls in Weiss’ autobiographischem Prosastück Abschied von den Eltern verbunden. Der Ich-Erzähler, der wie Weiss selbst an der Kunstakademie in Prag studiert, fühlt sich fremd in der großen Stadt. Die Fremdheit ist nicht nur sprachlich, sondern auch räumlich: Sie äußert sich zusätzlich in der kleinen heruntergekommenen Wohnung, die er sich als Atelier mietet, und die der Erbärmlichkeit und Nichtigkeit seiner Situation entspricht. Dieser Raum, so der Erzähler, ist „krank“, er ist „fleckig“, „aufgeplatzt von Ausschlägen“ wie er selbst. Der erzählte Raum korrespondiert hier mit der psychischen Konstitution des Protagonisten. Als eine Art Höhle wird die Stadt Prag in Abschied von den Eltern beschrieben: Auf der Suche nach einer Sprache in dem fremden Steinhaufen der Stadt, die er nicht „lesen“ kann, umgibt sich der Erzählerprotagonist in seiner kleinen Scheinheimat mit Kritzeleien, Hieroglyphen, mit „Zeichen und Zauberformeln“. Dass der Erzähler den Atelierraum mit einer „Höhle“ vergleicht, ist durchaus kein Zufall. Wie der Erzähler in dem frühen Prosastück Der Fremde vergleicht der Protagonist seine Malerei mit Hieroglyphen, mit Höhlenaufzeichnungen, indem er die Wände mit Bildern bemalt und mit Symbolen versehen hat. Als der Mensch auf Pergament und Papier zu schreiben anfing, blieb das Sujet der Höhle als Thema erhalten. In der Geschichte der Weltliteratur von den Anfängen bis zur Romantik stellt die Höhlenmetapher ein beliebtes Thema dar. Platon vergleicht beispielsweise in seinem Höhlengleichnis die Welt mit einer Höhle, und die Wahrnehmung des Menschen mit Licht und Schatten an der Höhlenwand, die für Wirklichkeit gehalten wird, ist in der Realität eine Projektion, eine optische Täuschung. In der Sagenliteratur bietet die Höhle ein beliebtes Gleichnis, das in der romantischen Literatur in den Reiseberichten aus fernen Ländern gipfelt (Humboldt, Goethe, Ferdinand Gregorovius, Wanderjahre in Italien, August Kopisch, Entdeckung der blauen Grotte auf der Insel Capri). Weiss’ rekurriert in Abschied von den Eltern gelegentlich auf historische Ereignisse. Der Erzähler kommt pünktlich in Prag an, um die Bestattung des tschechischen Staatsmannes Tomás Garrigue Masaryk (1850-1937) als Augenzeuge
28 W, Bd. 1, S. 215. Vgl. Robert Cohen, Peter Weiss in seiner Zeit, S. 67f.
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zu beobachten.29 Ambitioniert wirkt der Versuch, folgender Passage durch Alliterationen und Assonanzen, Binnen- und Endreimen eine akustisch wirkende syntaktische Struktur zu verleihen. Sprachlich auffällig sind zudem die parataktisch aneinandergereihten Sätze: Da stand ich in dieser Stadt Prag, und sollte mich beweisen, und ich suchte nach einem Raum in dieser Stadt, einem Raum, der mich aufnehmen konnte, und in dem ich mich finden konnte, ich ging in einer fremden Stadt umher, und die Straßen waren von schwarzen Fahnen verhängt, und durch die Reihen der schweigenden Menschenmassen wurde auf einer Lafette ein Sarg zu Grabe gefahren. Da stehe ich vor fremden Türen, radebreche in einer fremden Sprache, frage nach einem Zimmer, werde von fremden Menschen in Korridore geführt, in denen die Luft verbraucht und stickig ist. Ich dränge mich diesen fremden Menschen auf, dränge mich hinein in ihre Wohnungen, ich habe diese Menschen nie gesehen, und sie wissen nichts von mir, und ich erwarte, daß sie mir ein Zimmer geben. […] Bis ich endlich einen Raum finde, der mit eigenem Eingang, ein Atelierzimmer, verfallen, verstaubt, mit rußbelegten Fenstern, mit der Ruine einer Bettstelle, mit Kisten und Brettern, aus denen sich ein Tisch, eine Sitzgelegenheit herrichten läßt. Dieser Raum entspricht mir, er ist krank, er ist fleckig und aufgeplatzt von Ausschlägen, er zeigt mir meine Erbärmlichkeit, er zeigt mir die Niedrigkeit meines Daseins. So siedelte ich mich an in der fremden Stadt, ich fand eine Höhle, in der sich vordem fremde Menschen verkrochen hatten, und die bald wieder anderen als Unterschlupf dienen würde. In dieser kurzen Zwischenzeit richtete ich es mir wohnlich ein in meinem Steinloch mitten in dem großen Steinhaufen, und ich umgab mich mit Kritzeleien, Hieroglyfen, die Kunde davon geben sollten, daß ich hier lebte, mit magischen Zeichen, mit Zauberformeln, mit denen ich die bösen Geister der Einsamkeit verseuchen wollte.
30
Der syntaktische Aufbau dieser Textstelle in anaphorischen Satzsstrukturen mit Wiederholung des Subjekts ist ein sprachliches Merkmal von Weiss’ Prosa, wie Torsten Pflugmacher anhand des Kopenhagener Journals zeigen konnte.31 Die mitteleuropäische Metropole Prag, die Heimat von Autoren wie Kafka, Rilke und Franz Werfel wird bei Weiss zum Sinnbild der Öde und Verfremdung.
29 Vgl. Helmut Lüttmann, Die Prosawerke von Peter Weiss, (= Geistes- und sozialwissenschaftliche Dissertationen, Bd. 24) Hamburg 1972, S. 115. 30 AE, S. 128f. (Hervorhebungen von G.L.) 31 Torsten Pflugmacher, „‚Modelle von Tellern und Tassen aus Pappe und Plastilin‘. Anmerkung zur Ordnung der Beschreibung im Kopenhagener Journal“, in: Yannick Müllender, Jürgen Schutte, Ulrike Weyman (Hrsg.), Peter Weiss: Grenzgänger zwischen den Künsten, S. 69-77, hier S. 74.
80 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT Es ist vor allem Josef K., der Protagonist in Kafkas Roman Der Prozeß, mit dem sich der Erzähler identifiziert. Die Grenzstadt zwischen Ost und West, zwischen Europa und Russland entspricht in vielerlei Hinsicht der Herkunft des Autors. Der Erzähler ist wie Weiss tschechischer Staatsbürger, gehört aber der kleinen (und schrumpfenden) deutschsprachigen Minorität an. Der Vater des Erzählers ist kein Deutscher, sondern stammt aus einer Grenzregion, Warnsdorf in Böhmen, deren nationale Zugehörigkeit umstritten ist und bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts Streitobjekt blieb. Der Erzähler erkennt in den deutschen Randgebieten potentielle Konfliktherde, die maßgeblich zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges beitrugen. Prag wird später in Fluchtpunkt als eine düstere Stadt mit schweren Barockhäusern beschrieben, worin der Erzähler seine Fremdheit und seine Randexistenz gespiegelt sieht. In Kafkas Beschreibungen der Stadt als „Buch“ liest er die Stadt mit ihren Gassen und Torgängen, mit dem Schloss und dem Dom. Der junge IchErzähler in Fluchtpunkt, der an der Kunstakademie studiert, lebt ein Jahr lang in Prag. Mit Prag verbindet er primär die barocke Stadt in Schwarz und Gold, die zum Flanieren einlädt.32 Dabei wurde die Altstadt von Prag mit der HradschinBurg, der mittelalterlichen und barocken Bausubstanz, und den jüdischen Vierteln in der Josefstadt um 1900 rasch modernisiert und saniert. Doch die Literatur schilderte vorwiegend noch das alte Prag, die mittelalterliche Mystik, die jüdischen Viertel, die Barockpaläste. Aber das alte Stadtbild Prags veränderte sich im Zuge der Industrialisierung rasch, alte Viertel wurden abgerissen, und die Stadt erlebte um 1900 einen regelrechten Bauboom.33 Als ich in Prag wohnte, der Stadt, in der Josef K. um sein Leben kämpfte, war der Prozeß zu nah, als daß ich ihn hätte erkennen können. […] Prag, diese Grenzstadt zwischen Ost und West, mit ihren düsteren Bauwerken, ihren schweren Barockgewölben, war dazu angetan, meine Randexistenz zu beherbergen, und in Kafkas Beschreibungen erkannte ich
32 AE, S. 129. „Ein Jahr lebte ich in dieser Stadt. Die Stadt, mit ihren Straßenzügen, ihren aufgetürmten Architekturen, ihren Portalen, Brücken und goldenen Statuen, bildete das Außenwerk meines Lebens, im Außenwerk fanden die langen Spaziergänge statt, mit Max, unter Gesprächen, am Flußufer entlang, am Hang der Weinberge, in den Parkanlagen, und im Außenwerk lag der große Bau der Akademie, zwischen den Bäumen in denen die Vögel zirpten, im Außenwerk verliefen die Arbeitsstunden im gemeinsamen Atelier, bei den Kameraden, vor dem Modell, dem Stilleben, beim Schaben der Pinsel auf der Leinwand, beim Geruch der Ölfarben und des Terpentins.‘ 33 Peter Demetz, Prague in Black and Gold: The History of a City, London 1997, S. 314ff.
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meine eigenen Wege wieder, durch die Straßen und Torgänge, an denen sich die Treppen befanden zu den Kanzleien der Ankläger und machtlosen Advokaten, durch den Schloßhof und in den Dom. Meine Gedanken umkreisten die Erlebnisse in dieser Stadt, und je tiefer sie eindrangen, desto schwerer wurde das Ungelöste, das in ihnen lag. Ich war ent34
flohen, und die Menschen, die mir dort begegnet waren, waren zurückgeblieben.
Ähnlich wie die fiktive Stadt in Der Fremde wird Prag als eine „Gebärmutter aus Stein“ in Abschied von den Eltern beschrieben. Dass die Stadt mit sexuellen Konnotationen als Ort des Begehrens behaftet ist, wird an mehreren Passagen des Romans deutlich. In einer Vorahnung der faschistischen Annexion durch Hitlers Truppen erleben der Erzähler und sein Freund Peter Kien eine Luftschutzübung in der dunklen Hauptstadt. Die zusammengeballte Menschenmasse erscheint ihm als ein einziger „weitverzweigter schwarzer Leib“, der von einer irrationalen Hoffnung getrieben wird. Die Dunkelheit der Stadt antizipiert hier die bevorstehende Okkupation durch die Deutschen und verweist auf das Schicksal des Juden Peter Kien, der später von den Nazis „ermordet und verbrannt“ wird.35 Bezeichnend für das kommende Unheil ist dabei, dass die Passage von einer Ekphrasis abgelöst wird, einem Kunstwerk des Erzähler-Protagonisten, das eine brennende Stadt darstellt.36 Ein dunkler Fetzen fällt von oben
34 FP, S. 185. 35 In Elias Canettis Roman Die Blendung (1935) figuriert ebenfalls ein Protagonist namens Peter Kien, der Professor für Asienkunde ist und der sich am Ende des Romans mitsamt seinen Büchern verbrennt. In Fluchtpunkt wird Die Blendung im Rahmen einer katalogartigen Inventur der Bibliothek des Erzähler-Protagonisten erwähnt. Die Bücherlisten fungieren dort als ein mnemotechnischer Behelf, wobei jedes Buch bestimmte Erinnerungen an die frühere Existenz des Ich-Erzählers wachrufen: „In Verwandtschaftsbeziehungen, den Perioden entsprechend, in denen ich sie gelesen hatte, fügten sich die Bücher aneinander. [..] Die Titel, die Farbe, das Ornament eines Buchrückens riefen bestimmte Erlebnisse wach. Die Reihe der Bücher begann mit der hellblauen Gesamtausgabe von Hesses Werken. Die geschwungenen Linien der Goldverzierung waren verwoben mit Erinnerungen an meine Stuben in England, in Nordböhmen, in Prag, im Tessin, im Elternhaus, und innen in den Seiten lagen die Träume und Phantasien aus den Jahren des Aufwachens.“ Vgl. FP, S. 183f. 36 Als literaturwissenschaftlicher Terminus im engeren Sinn wird Ekphrasis hier als eine verbale Beschreibung eines Kunstwerks definiert, z.B. ein Gedicht, das ein Gemälde deutet. Als Paradefall ekphrastischer Schreibweise gilt die Homerische Beschreibung des Schildes von Achill. Homer verwendet in der Ilias den Ausdruck poieon, d.h. ein Wort, das sowohl das Kunstwerk als auch dessen allmähliche Verfertigung beschreibt.
82 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT herab, er erweist sich als ein Menschenleib, der seine Beine dicht an den Bauch presst wie ein Baby in embryonaler Stellung in der „steinernen Gebärmutter“ der Stadt.37 Das Zitat zeichnet sich durch eine anaphorische Satzstruktur aus und ist mit einer diskreten euphonischen Ausschmückung versehen, wie beispielsweise Alliterationen: In einer Vorübung kommenden Unheils waren die Sirenen erklungen und in der lichtlosen Stadt drängten sich unsichtbare Menschenmengen in den Straßen, mit schleppenden Schritten und raunenden Stimmen. Hier und da leuchteten die tanzenden Glühpunkte der Zigaretten, und verhaltene Rufe und Pfiffe stiegen aus dem hin und herflutenden Gedränge auf. Die Bewohner der Stadt waren ein einziger, weitverzweigter schwarzer Leib, preisgegeben einer einzigen, ungewissen Erwartung. Als die Sirenen wieder ertönten, standen wir still, wie unter dem Brausen von den Schwingen mythologischer Ungeheuer. Wir standen im Dunkeln, unter der Vorahnung einer apokalyptischen Zeit. Als das Licht in allen Straßen gleichzeitig aufflammte, begrüßten wir es mit einem tausendfältigen Ruf der Lebenshoffnung, doch lange noch war die Gesetzlosigkeit und Auflösung zu spüren, die in der Dunkelheit auf der Lauer gelegen hatte. Und an einem der letzten Tage stand ich mit Peter Kien, einem Kameraden aus der Akademie, auf einer hellen Straße, und wir hielten ein großes Bild zwischen uns, eins das ich gemalt hatte, ein Bild, das eine brennende Stadt darstellte, und Peter Kien starrte empor und zog den Atem ein mit einem schluchzenden
Gerade der Schaffensprozess, die allmähliche Verfertigung des Kunstwerkes, steht laut Lessing bei der Homerischen Schildbeschreibung im Mittelpunkt. Zur Funktion und zur Geschichte der Ekphrasis, siehe Murray Krieger, Ekphrasis. The Illusion of the Natural Sign, Baltimore, MA 1992, S. 67ff. Vgl. James A. W. Heffernan, Museum of Words: The Poetics of Ekphrasis from Homer to Ashbery, Chicago, IL 1993, S. 191. Siehe hierzu auch Mario Klarer, Ekphrasis. Bildbeschreibung als Repräsentationstheorie bei Spenser, Sidney, Lyly und Shakespeare, (= Buchreihe der Anglia, Zeitschrift für englische Philologie, Bd. 35) Tübingen 2001, S. 2-8; Irina Rajewski, Intermedialität, (= Uni-Taschenbücher, Bd. 2261)Tübingen und Basel 2001, S. 196. 37 Der Topos der zerstörten Stadt begegnet uns auch in den Sujets der Weisschen Gemälde in den 1940er Jahren. So beschreibt er in einem Brief an Hermann Goldschmidt 1941 ein Gemälde, das er produziert hat: „Das große Bild, daß ich jetzt male, stellt eine große Landschaft dar; den ganzen Hintergrund überragt eine zerschossene, einstürzende Stadt, umwölkt von Staub und Rauch und schimmernd durchflossen von Sonnenlicht. Links fliehen Menschen aus den Trümmern, brechen todwund um, Frauen tragen Kinder davon, zerschmetterte Gesichter blicken auf, Hände verkrallen sich im Todeskamp, alles Flucht, Flucht.“ Siehe Peter Weiss, Briefe an Hermann Levin Goldschmidt und Robert Jungk 1938-1980, S. 156f.
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Geräusch, und ich sah einen dunklen Fetzen von oben herabfallen, und als der Fetzen vor uns auf den Steinboden der Straße klatschte sah ich, was dies für einen Fetzen war. Der dunkle Fetzen hatte einen Kopf, und Blut umströmte den Kopf, und der Fetzen war ein Körper, der sich zusammenzog, der sich auf der Seite wälzte und die Knie dicht an den Bauch preßte, und der so liegen blieb, erstarrt, wie ein Embryo in der großen Gebärmutter aus Stein. Es kamen Menschen von allen Seiten hinzugelaufen, und wir hielten die brennende Stadt vor sie hin.
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Symptomatisch für die Stadtbeschreibung im Werk des Autors ist eine Körpermetaphorik, die nicht selten im Bereich der sexuell-erotischen Bildlichkeit fundiert ist. Im surrealistisch beeinflussten Essay Der Traum des Briefträgers Cheval (1960) dechiffriert Weiss das merkwürdige Bauwerk des Briefträgers Cheval. Seine Darstellung der Verräumlichung jener Form gewordenen phantasmagorischen Architekturfantasien wird mittels einer exzessiv-sinnlichen Körpermetaphorik beschrieben: „Die Windungen des Gehirns. Die Gedärme. Das Herz. Die Lungen. Das Atmen. Der Puls. Der Organismus mit seinen Regungen. Das Geschlecht. Das Suchen nach weichen Gliedern, daran zu tasten, sie zu liebkosen. Brüste, Hüften, Schöße.“39 Der Wechsel des Ortes führt in Abschied von den Eltern auch zu einem Wechsel der psychologischen Stimmung des Protagonisten. Das Dunkle, Düstere und Schwermütige der Stadt Prag wird auf die Stimmung des Erzählers übertragen. Anders ausgedrückt: Die Topographie der düsteren Stadt Prag wird zur imaginären Kartographie, zum Chiffre der psychischen Konstitution des Erzählers. Die Existenz des Ich-Erzählers in Prag ist von Selbstzweifel und Destruktivität geprägt. In der Abgeschiedenheit seines Atelierzimmers straft sich der junge Maler mit Essensentzug, er schlägt sich ins Gesicht. Diese Selbstpeinigungen bilden aber ein mnemotechnischer Behelf: Dabei steigen Bilder in ihm auf, die er auf seine Tafeln projiziert sieht; es sind Bilder aus seiner Kindheit und Jugend. Die Passage erinnert an die spätere Schilderung des geplagten Künstlers Géricualt in der Ästhetik des Widerstands, der sich selbst durch Nahrungsentzug peinigt, um sein Gemälde Das Floß der Medusa zu konzipieren und sich in die Situation der Schiffbrüchigen hineinzuversetzen. Die Stunden in der Akademie waren nur eine formelle Rechtfertigung für meinen Aufenthalt in dieser Stadt, meine eigentlichen Leistungen gingen in der Abgeschiedenheit meines Zimmers vor sich, und diese Leistungen waren wie Blut, das nach Torturen hervorsickert.
38 AE, S. 133. (Hervorhebungen von G.L.) 39 R, S. 37.
84 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT Ich schlug mich mit den Fäusten in die Rippen, ich spie in meine Hände und schlug mir die Hände ins Gesicht, ich strafte meine Müdigkeit und Unaufmerksamkeit mit Nahrungsentzug, und bei all diesen Schindereien geschah es doch, daß Bilder in mir aufstiegen und sich langsam und tastend auf die Tafeln vor mir projizierten. Erinnerungen an die Umgebungen meiner frühsten Kindheit klangen in diesen Bildern auf, durchsetzt von den Eindrücken und Widerspiegelungen späterer Jahre, ich versuchte, mich in diesen Bildern zu erkennen, ich versuchte, mich mit diesen Bildern zu heilen, und sie waren voll von der bleiernen Schwere meiner Isoliertheit und von der explosiven Glut meiner angestauten Verzweiflung.
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Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass die negative Stadtmetaphysik, die bereits im erzählerischen Frühwerk zum Ausdruck kommt, sich in einem anaphorischen Sprachduktus äußert: Als syntaktische Wiedergabe der monotonen Verfremdung, die bezeichnend für das Verhältnis des Erzählers zur Stadt ist, als Wiederholung statt Abwechslung. Ein prägnantes Merkmal der frühen Stadtdarstellung ist das Anthropomorphisieren der Stadt, die mit mittels Körpermetaphern dargestellt wird. Mit der Darstellung der Stadt im Frühwerk wird ein erzähltechnisches Muster gelegt, das im späteren Werk in variierter Form wiederkehrt. Besonders fruchtbar erweist sich das Verhältnis zwischen Raum und Erinnerung in Weiss’ autobiographischer Prosa, in welcher sich der Autobiograph in einem durchgehenden, absatzlosen Textstück an seine Kindheit und Jugend erinnert.
2.2 R AUM
UND E RINNERUNG IN A BSCHIED VON DEN E LTERN UND IN F LUCHTPUNKT
Die Erzählung Abschied von den Eltern (1961) ist, wie Axel Schmolke durch Autopsie der Handschriften im Nachlass des Autors in der Berliner Akademie der Künste gezeigt hat, das Ergebnis einer sich über eine Dekade erstreckenden Genese. Zwischen 1950 und 1960 entstehen mehrere Fassungen des Romans sowohl auf Deutsch als auch auf Schwedisch, von denen drei vollständige Versionen überliefert sind.41 Autobiographischer Hintergrund der unmittelbaren
40 AE, S. 129. 41 Siehe hierzu Axel Schmolke, „Das fortwährende Wirken von einer Situation zur andern“: Strukturwandel und biographische Lesarten in den Varianten von Peter Weiss’ Abschied von den Eltern, St. Ingbert 2006, S. 11-55. Vgl. auch Gustav Landgren,
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Niederschrift von Weiss’ mehrmals revidiertem Prosastück, das ursprünglich den Titel Textur trug, bildete u.a. der Tod der beiden Eltern 1959. Die Rolle dieser beiden „Portalfiguren“ seines Lebens hat Weiss nie völlig begreifen können, er hat stets in seinem Verhältnis zu den Eltern zwischen Aufruhr und Unterwerfung gependelt. In Abschied von den Eltern wird klar, dass die Erinnerung an die Kindheit emotional geprägt ist. Der Text ist eine stark autobiographisch geprägte Schilderung von Weiss’ Kindheit und Jugend in Deutschland, die Flucht und Emigration nach London, Böhmen und schließlich in die Provinzstadt Alingsås in Westschweden. Doch der Protagonist und gleichsam der Ich-Erzähler soll nicht vorbehaltlos mit Peter Weiss gleichgestellt werden: Manche Passagen der Erzählung sind aus einer nachträglich entworfenen biographischen Perspektive nachgedichtet.42 Inhaltlicher Schwerpunkt des Werkes ist die Problematisierung der Identität des Ich-Erzählers und dessen vergeblicher Versuch, sich in die Gesellschaft sozial zu integrieren. Wie Weiss ist der Erzähler bürgerlicher Herkunft, und er ist zu Hause (wie auch in der Schule und zusammen mit Freunden) Konformitätszwängen unterworfen. Kennzeichnend für das familiäre Zusammenleben ist die völlige Entfremdung, die der Erzähler empfindet. Dies äußert sich konkret in einer Kontaktlosigkeit zwischen den Familienmitgliedern; erst später erfährt der Erzähler, dass er väterlicherseits jüdischer Herkunft ist, was ihm verschwiegen wurde. Seine Eltern haben den Wunsch, dass der Sohn seine künstlerischen Ambitionen aufgibt, um in die väterliche Firma einzutreten. Seine künstlerischen Versuche stoßen auf Geringschätzung im kaufmännisch orientierten Elternhaus, obwohl seine Mutter früher Schauspielerin war. Mit der Autobiographie-Problematik hat sich Weiss bereits Anfang der 1950er Jahre auseinandergesetzt. In der schwedischen Zeitung Afton-Tidningen erschien 1951 die Rezension Lejoninna i bur (dt.; Löwin im Käfig) zu Maria Wines43 Buch Man har skjutit ett lejon (1951). Dort plädiert Weiss für eine mög-
„‚Mein Exil, das ich in der Gartenlaube gefunden hatte, setzte sich auf dem Dachboden fort.‘ Raum und Erinnerung in Abschied von den Eltern und in Fluchtpunkt“, in: Literatur für Leser 37 (2014), H. 1, S. 23-38. 42 Florian Radvan, Abschied von den Eltern (Oldenbourg Interpretationen, Bd. 45), München 2003, S. 109. 43 Maria Wine: Pseudonym für Karla Maria Lundkvist geboren Petersen (1912-2003). Dänisch-schwedische Dichterin, die ab 1936 mit dem mit Weiss befreundeten Dichter Arthur Lundkvist verheiratet war. In ihren selbstbiographischen Prosaskizzen, z.B. in Man har skjutit ett lejon (1951) [dt.; „Man hat einen Löwen erschossen“], worauf sich diese Rezension bezieht und in Virveldans (1953), verarbeitet Wine ihre schmerzvollen Kindheitserlebnisse in einem Kinderheim in Kopenhagen.
86 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT lichst schonungslose Aufarbeitung des Kindheitstraumas des Dichter-Ichs. Es gelingt der Dichterin nicht, die kranken Seiten ihrer Vergangenheit hervorzuheben, so der Tenor in Weiss’ Rezension. Stattdessen versteckt sie die Traumata, die sie in ihrer Kindheit erlebt hat, „umspinnt“ sie mit Symbolen. Es fehlt Wine an Mut, so Weiss, in die eigene Urwelt einzudringen und die Vergangenheit adäquat zu schildern: Als Selbstanalyse ist Maria Wines Buch nicht rücksichtlos und penetrant genug und als Prosapoesie ist es zu privatdokumentarisch. So ist es etwas dazwischen geworden, ein Kommentar zur Bildwelt einer Dichterin, sehr weich und sensibel, aber eben ohne die wilde Katzenstärke, wonach sie sich sehnt. Sie hat das Buch geschrieben mit der deutlichen Absicht einer Selbsterforschung, immer wieder versucht sie, das Trauma ihrer Vergangenheit zu greifen, sie sucht weit in ihrer Kindheit zurück, aber es gelingt ihr nicht, etwas zu lösen, man hat das Gefühl, dass sie abweicht, die kranken Punkte versteckt statt sie hervorzuheben. Aber dies ist ja die Situation im Käfig. Man steckt in seiner Neurose fest, das Kranke in einem beschwört die poetischen Bilder, man schafft aus dem, was weh tut, man bildet sich ein, sich selbst zu heilen aber im Grunde umspinnt man bloß die Krankheitsherde mit Symbolen. Es fehlt am wirklichen Mut, in seine eigene Urwelt einzudringen. Diese Urwelt, wo der Löwe erschossen wurde. Wo die Kraft zerbrochen wurde. Man hat Angst, die Symbole zu verlieren. Die ganze geheimnisvolle, wogende Traumwelt. Das Leiden an sich ist zu einem allzu wichtigen Bestandteil der Kunst geworden. […] Im Falle Maria Wines scheint die psychologische Analyse die einzige Konsequenz aus ihrer Introvertiertheit und Selbstbeobachtung zu sein. Aber es ist der schwerste Weg, bei dem man 44
bereit sein muss, auf den ganzen herkömmlichen poetischen Apparat zu verzichten.
Diese Rezension zeigt, dass sich Weiss lange vor dem Tod seiner Eltern dem Darstellungsproblem autobiographischen Schreibens gewidmet hat. Trotz Weiss’ Kritik vermittelt Wines Buch gewisse Impulse zu einer möglichst schonungslosen Auseinandersetzung mit der eigenen Kindheit, ohne die „Krankheitsherde“ der persönlichen Biographie zu verstecken, wie sie Weiss später in Abschied von den Eltern sprachlich realisiert hat. Als Lösung des poetischen Problems Maria Wines deutet Weiss die Psychoanalyse an, eine Wissenschaft, die die poetischen Hemmungen zu lösen vermag, obwohl man dabei bereit sein müsse, auf herkömmliche literarische Mittel zu verzichten.
44 Peter Weiss, „Lejoninna i bur“, in: Afton-Tidningen, Stockholm, 17.09.1951, S. 3. (Übersetzung, G.L.)
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Die Psychoanalyse ist unverkennbar in Abschied von den Eltern eingegangen. Dies obwohl Weiss’ Verhältnis zur Psychoanalyse zeitweise von Skepsis geprägt war, was einem Brief an Hermann Levin Goldschmidt vom 19. Juni 1939 zu entnehmen ist. Dort bezeichnet Weiss die Psychoanalyse als „etwas Jahrmarktmäßiges u. ich nehme es nicht ernst.“45 In den folgenden Jahren revidierte Weiss seine Auffassung zur Psychoanalyse, und er unterzog sich im Laufe der 1940er Jahre mehrerer psychoanalytischen Behandlungen bei Iwan Bratt in Alingsås. Bratt bezeichnet Weiss in einem Brief an Goldschmidt 1941 sogar als „den besten (eigentlich den einzigen wirklichen) Psychoanalytiker“ in Schweden.46 Nach der Übersiedlung nach Stockholm Anfang der 1940er Jahre schloss Weiss Bekanntschaft mit dem Psychiater und Sexualforscher Max Hodann, der Weiss auf die Werke Sigmund Freuds und C.G. Jungs aufmerksam machte. Weitere psychoanalytische Behandlungen folgten in den 1950er Jahren bei dem ungarischen Psychoanalytiker Lajos Székely in Stockholm.47 Die psychoanalytischen Theorien werden in Abschied nicht zuletzt durch die dominierende Mutterfigur manifestiert, die den Erzähler sowohl sexuell anzieht (Ödipuskomplex) als auch abstößt. Sein Ödipuskomplex kommt deutlich an folgender Textstelle zum Ausdruck, in der der Erzähler in das Schlafzimmer seiner schlafenden Eltern eindringt und diese beobachtet. Seine Aufmerksamkeit wird von drei Gemälden beansprucht. Das Motiv dieser Kunstwerke stellt eine klassische ödipale Konstellation dar:48 In ihrem großen Bett, das von der Wand abstand und sich mitten ins Zimmer hinein erstreckte, lagen meine Eltern, links mein Vater, leise schnarchend, rechts meine Mutter, ihr Gesicht von der Dunkelheit des Haares umrahmt. Beide lagen auf dem Rücken und über ihnen, an der Wand am Kopfende des Bettes, hingen drei Bilder, links ein Gemälde vom Gesicht meines Vaters, der Kopf wie abgeschnitten im Oval des Kartons, rechts der Kunstdruck vom Bild eines nackten Jünglings, der, im Profil gesehen, die Arme um die Knie und das Gesicht auf die Knie gelegt, hoch über einer einsamen Berglandschaft saß, und in der Mitte das Bild von der nackten Göttin, die, von Schaumflocken umflogen, steif
45 Siehe Peter Weiss: Briefe an Hermann Levin Goldschmidt und Robert Jungk 19381980, hrsg. von Beat Mazenauer, Leipzig 1991, S. 117. 46 Ebd., S. 159. 47 Siehe hierzu Florian Radvan, Abschied von den Eltern, S. 105. 48 Vgl. Karl Heinz Götze, Poetik des Abgrunds und Kunst des Widerstands: Grundmuster der Bildwelt von Peter Weiss, Opladen 1995, S. 52ff. Vgl. Florian Radvan, Abschied von den Eltern, S. 61; Axel Schmolke, „Das fortwährende Wirken von einer Situation zur andern“, S. 91f.
88 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT vorgeneigt, ohne je ein Gleichgewicht zu verlieren, mit der Hand an die Brust bedeckend, mit der andern Hand eine Strähne des langen gewellten Haars vor den Schoß haltend, auf dem Rand einer großen Muschel stand.
49
Unverkennbar verweist diese erotisch aufgeladene Konstellation (Bett, Muschel, nackte Göttin) auf die unterschwelligen sexuellen Wünsche des Erzählers. Wie Franz K. Stanzel bemerkt hat, bedeutet die „Reduktion“ bzw. „Selektion“ bestimmter Gegenstände des erzählten Raumes „eine semiotische Erhöhung dieser Einzelheiten“.50 So spiegelt das Motiv des enthaupteten Vaters seine Eifersucht dem Rivalen gegenüber, der nackte Jüngling symbolisiert den Erzähler und die nackte Göttin seine Mutter, die er unterbewusst begehrt. Die Analogie der schlafenden Mutter mit dem Sujet des Gemäldes wird zudem dadurch bekundet, dass der Erzähler sie ästhetisierend wie ein Gemälde betrachtet; ihr Gesicht wird von ihrem dunklen Haar „umrahmt“. Deutlich nimmt die von Schaumflocken umgebene nackte Göttin mit ihrem langen gewellten Haar, die auf der Muschel steht, Bezug auf Sandro Botticellis berühmtes Ölgemälde Die Geburt der Venus (it.; Nascita di Venere, um 1485, Uffizien Florenz). Dieses Motiv verweist auch auf die symbolische Kastration des Vaters. In Homers Ilias (G. 5, 312, 270f.) wird beschrieben, wie der ursprüngliche Himmelsgott Uranos, Ehemann seiner eigenen Mutter, der Erdgöttin Gaia, von seinem Sohn Kronos kastriert wird, der das Glied des Vaters ins Meer wirft. Um das Glied herum bildet sich Schaum und aus diesem Schaum wird Aphrodite geboren. Die Mutter des Erzählers ist zugleich furchtbare Medusa-Figur als auch Objekt seiner sexuellen Begierde. Sein Gefühl vom sexuellen Versagen ist eng mit der dominanten Mutterfigur verbunden sowie mit dem frühen Tod seiner kleineren Schwester Margit, mit der der Erzähler ein inzestuöses Verhältnis hat. Durchaus bezeichnend für die Ambivalenz des Erzählers gegenüber seiner dominanten Mutter ist ihre fast kinetische Verwandlung in eine furchtbare MedusaGestalt mit Schlangenköpfchen: Das Gesicht nahm mich auf und stieß mich von sich. Aus der großen, warmen Masse des Gesichts, mit den dunklen Augen, wurde plötzlich eine Wolfsfratze mit drohenden Zähnen. Aus den heißen, weißen Brüsten züngelten, wo eben noch tropfende Milchdrüsen wa51
ren, Schlangenköpfchen hervor.
49 AE, S. 81f. 50 Vgl. Franz K. Stanzel, Theorie des Erzählens, 7. Auflage, Göttingen 2001, S. 161. 51 AE, S. 65.
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Das hier aufgegriffene Motiv der „furchtbaren“ Mutter weist Reminiszenzen zu C.G. Jungs Darstellung des Mutterarchetypus auf. Laut Jung ist der Mutterarchetypus ein aus dem kollektiv Unterbewussten evoziertes Bild, das sehr komplex sein kann. Jung spricht demgemäß von der „furchtbare[n] Mutter“, wobei die Muttergestalt unterschiedlich konnotiert ist.52 Sie symbolisiert sowohl Fruchtbarkeit, Sexualität und Geborgenheit als auch Tod, Schrecken und Angst. Michaela Holdenried rühmt Abschied von den Eltern als das entscheidende Werk für die Konsolidierung eines neuen, dominierenden Typus der autobiographischen Prosa in Deutschland, die die „problematischer gewordenen Ich-WeltBeziehungen und die zunehmende Infragestellung gelingender Individualisierung“ thematisiert.53 Dies, obwohl der Erzähler mit dem Abstand von Jahrzehnten über Begebenheiten seiner Kindheit erzählt, und die Verfremdung, die er anlässlich des Todes der Eltern spürt, zu überbrücken versucht. Doch der Versuch einer posthumen Überwindung dieser Fremdheit zwischen ihm und seinen Eltern gelingt dem Erzähler nicht ganz.54 Nicht nur der Tod seiner Eltern sondern auch die Aufteilung des elterlichen Besitzes durch die Geschwister bieten einen Anlass zum Rückblick in die Vergangenheit. Dadurch eröffnet sich eine Schleuse zu einem veritablen Sprach- und Erinnerungsfluss. Dabei ist der Erzähler aber keineswegs unfähig, seine Erinnerungen rational zu überblicken. Im Gegenteil vermag er durch den zeitlichen Abstand zu den Geschehnissen durchaus, diese klar zu überblicken und zu ordnen. Eine Abweichung zu Prousts À la Recherche du temps perdu bietet Weiss’ Erinnerungsprosa insofern, dass der Erzähler im „Unterschied zu Prousts Technik und Verständnis der Mémoire involontaire […] die Bedeutsamkeit von Ereignissen nicht in zufälligen Erinnerungen ‚entdeckt‘,
52 C.G. Jung, Wandlungen und Symbole der Libido: Beiträge zur Entwicklung des Denkens, 2. Auflage, Leipzig und Wien 1925, S. 173f.: „Im Bewußtsein hängt man mit allen Fasern der Pietät an der Mutter, im Traum verfolgt sie einen als schreckliches Tier. […] Die Genealogie der Sphinx ist reich an Beziehungen auf das hier angeregte Problem: sie ist eine Tochter der Echidna, eines Mischwesens, oben eine schöne Jungfrau, unten eine gräuliche Schlange. Dieses Doppelwesen entspricht dem Bild der Mutter: oben die menschliche liebenswerte anziehende Hälfte, unten die animalische, durch das Inzestverbot in ein Angsttier umgewandelte, furchtbare Hälfte.“ 53 Siehe Michaela Holdenried, „Mitteilungen eines Fremden: Identität, Sprache und Fiktion in den frühen autobiographischen Schriften Abschied von den Eltern und Fluchtpunkt“, in: Gunilla Palmstierna-Weiss, Jürgen Schutte (Hrsg.), Peter Weiss: Leben und Werk, Frankfurt am Main 1991, S. 155-173, hier S. 155. 54 Vgl. hierzu auch Helmut Lüttmann, Die Prosawerke von Peter Weiss, S. 116-132.
90 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT sondern erst durch die Arbeit des Erinnerns Schicht für Schicht aufbaut.“55 Mit Hilfe verschiedener hinterlassener Dokumente seiner Eltern, wie etwa der Karte seines Geburtsorts, ordnete Weiss die Erinnerungen an seine Kindheit.56 Abschied von den Eltern ist sprachlich wie ein einziger Erinnerungsblock mit parataktisch aneinandergreihten Sätzen ohne Absätze und Kapitel konzipiert. Dieser Sprachduktus ist stilbildend für andere Autoren der Nachkriegszeit geworden, wie etwa Thomas Bernhard. Mit Bernhard teilt Weiss zudem die Verwendung anaphorischer Satzstrukturen. Erzähltechnisch geht es in Abschied um einen Ich-Erzähler mit Leib, die klassische Form der quasi-autobiographischen Form des Ich-Romans.57 Die Körperlichkeit des Erzählers ist Teil seiner Existenz, die als erlebendes Ich dem Leser präsentiert wird. Aus der Retrospektive versucht der Erzähler, seine Kindheit vom Erzählzeitpunkt um 1960 aus, rückwärts zu rekonstruieren. Deswegen ist die Erzählmotivation eine gänzlich andere, als wenn derselbe Erzähler behauptet, er sei überwältigt von den Erinnerungen, die „übermächtig“ werden. Doch der Widerstand gegen eine vorbehaltslose Identifizierung des erzählenden Ichs (der periphere Ich-Erzähler) mit dem erlebenden Ich ist latent in Abschied vorhanden. Teilweise wird dies wohl begründet mit der Verdrängung des Erzählers, der sich darum bemüht ist, seine vergangenen Fehler zu relativieren. Ein gutes Beispiel hierfür bietet folgende Passage: „Als meine Mutter mir einmal erzählte, meine ersten Worte seien gewesen, was hab ich für eins schönes Leben, was hab ich für ein schönes Leben, hörte ich daraus den Klang von etwas Eingelerntem, Papageienhaftem, mit dem ich meine Umwelt unterhalten oder verhöhnen wollte.“58 Hier überschneiden sich mehrere Bedeutungs- und Erinnerungsebenen. Mit dieser fingierten Erinnerung, die sicherlich nicht die ersten Worte des Erzählers waren, signalisiert der Erzähler, wie sehr seine Mutter ihre Erwartungen auf den Sohn projiziert. Psychoanalytisch ist diese trügerische Erinnerung ein Ausdruck des bürgerlichen Konformitäts- und Unterwerfungszwangs, der das Mutter-Sohn-Verhältnis prägt.59 Hier wird deutlich, dass die Grenze zwischen der Evokation aus der Erinnerung und der korrektiven Nachschöpfung aus der Phantasie ein Merkmal des Romans ist. Der Ich-Erzähler geht weit über eine Nachschrift des Erlebten hinaus, indem er das Erzählte wieder aus seiner Einbildungskraft nachträglich korrigiert. Dabei
55 Siehe Michaela Holdenried, „Mitteilungen eines Fremden“, in: Gunilla PalmstiernaWeiss, Jürgen Schutte (Hrsg.), Peter Weiss: Leben und Werk, hier S. 165f. 56 NB 1, S. 34. 57 Siehe hierzu Franz K. Stanzel, Theorie des Erzählens, S. 124f. 58 AE, S. 63. 59 Siehe Florian Radvan, Abschied von den Eltern, S. 33f.
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wird die Grenze zwischen Nachschöpfung des Erlebten und produktiver Imagination überschritten. Das Erinnern wird somit in der quasi-autobiographischen Ich-Erzählung zu einem reproduktiven Akt, durch den das Erzählte ästhetisch gestaltet wird, vor allem durch Strukturierung und Auswahl der Erinnerungen.60 Das erzählende Ich ist nicht nur durch die gemeinsame in persona-Identität somit eng mit dem erlebenden Ich verbunden. Stilistisch werden die Erinnerungspassagen häufig mit einer Art einleitender Überschriften synoptischen Charakters eingeleitet, die thematisch auf den Inhalt der folgenden Textmasse verweisen, z.B. den Satz „In den seltenen Stunden des Einvernehmens, an einem Sonntag, oder einem Weihnachtsabend“, der eine Passage über die Eltern des Erzählers vorausgehet oder […] „Ein einziges Mal in meiner Kindheit erlebte ich eine Ahnung von körperlicher Freiheit“, die eine Schilderung der glückhaften Spiele des Kindes einleitet.61 Noch ein Beispiel sind folgende Sätze, die ein Ultimatum der Eltern an den Sohn ankündigen. In ihren „grünen Sesseln“ versunken, vor den „hohen grünen Gardinen“, auf den grünen Garten“ blickend wird der Sohn von seinem Vater wegen seines beruflichen Werdegangs angesprochen: „Ich wartete auf den Augenblick eines Ultimatums. Dieser Augenblick kam an einem grünen Abend, im grünen Gartenzimmer.“62 Dieses Zitat steht zugleich auch beispielhaft für die große symbolische Bedeutung der Farbe Grün in Abschied. Diese Farbe kommt tendenziell in wichtigen Übergangssituationen vor, wie beispielsweise folgende fragmentarische Erinnerung an das Elternhaus an der Grünenstraße in Bremen. Grün verweist einerseits an die Unreife des Erzählers, aber es ist auch die Farbe der Hoffnung und des Lebens. Doch die Farbe ist auch negativ konnotiert und symbolisiert das Giftige und Dämonische. Dabei wird das Adjektiv „grün“ sechs Mal innerhalb desselben Satzes wiederholt. Die syntaktische Organisation dieser Beschreibung in anaphorischen, parallelen Satzstrukturen entspricht der stereotypen Tristesse, die die Kindheit des Erzählers prägt. Anstatt Abwechslung wird hier auf einer synaktischen Ebene die Wiederholung des Gleichen thematisiert: Ich ahne einen Raum, der ist grün, der Fußboden grün, die Tapeten grün, die Gardinen grün, und ich sitze auf einem erhöhten Porzellangefäß von der Form einer Gitarre, und meine Mutter steht hinter mir und drückt ihren Zeigefinger tief in meinen Steiß oberhalb des Afters, und ich drücke, und sie drückt, und alles ist grün, und die Straße ist grün, und
60 Zur Inszenierung von Erinnerung in der Ich-Erzählung siehe Franz K. Stanzel – Theorie des Erzählens, S. 275-279. 61 AE, S. 77, S. 83. 62 Ebd., S. 116. Vgl. Helmut Lüttmann, Die Prosawerke von Peter Weiss, S. 128.
92 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT die Straße heißt Grünenstraße. Die Straße im grünen Abendlicht war voll vom Rollen der hoch mit Fässern beladenen Wagen[.]
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Das Muster der Verdrängung, das den Roman durchzieht, bezieht sich nicht zuletzt auf die jüdische Identität des Vaters, die dem Sohn verheimlicht wird und von der er erst später durch seinen Stiefbruder Gottfried erfährt. Dies passiert, als sich die beiden Jünglinge die nationalsozialistischen Hasstiraden gegen die Juden im Radio anhören. Ähnlich wie in der Ästhetik des Widerstands wird durch die Einführung der Radiostimmen ein neues Medium der Gefahr eingeführt. Das Radio vermittelt nicht nur „die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“64 in der Erzählgegenwart, es verweist auch auf die latente Bedrohung durch die Nazis, der der Erzähler ausgesetzt ist. Erst jetzt begreift der Erzähler die Ausnahmestellung und Entwurzelung, die er immer instinktiv empfunden hat. Er rechnet sich von nun an zu den Ausgestoßenen und Unterlegenen, mit denen er sich identifiziert. Er begreift auch den instinktiven Hass der anderen Kinder gegen seine fremden Gesichtszüge, der von Generation zu Generation tradiert worden ist und dem er als Kind immer wieder begegnet ist. Und als Gottfried dann erklärte, daß mein Vater Jude sei, so war dies eine Bestätigung für etwas, das ich seit langem geahnt hatte. Verleugnete Erfahrungen lebten in mir auf, ich begann, meine Vergangenheit zu verstehen, ich dachte an die Rudel der Verfolger, die mich auf den Straßen verhöhnt und gesteinigt hatten, in instinktiver Überlieferung der Verfolgung anders Gearteter, in vererbtem Abscheu gegen bestimmte Gesichtszüge und Eigenarten des Wesens. Ich dachte an Friederle, […] und so war ich mit einem Male ganz auf der Seite der Unterlegenen und Ausgestoßenen, doch ich verstand noch nicht, daß dies meine Rettung war.
65
Narrativ problematisch ist diese Passage insofern, da spätere Erkenntnisse des erzählenden Ichs mit den Erfahrungen des erlebenden Ichs vermischt werden.66 Nichtdestotrotz handelt es sich hier um eine programmatische Schlüsselpassage im Werk von Peter Weiss. Wenn man seine Werke thematisch betrachtet, identifiziert sich der Autor nach der Veröffentlichung von Abschied von den Eltern 63 AE, S. 63f. 64 Günter Butzer, Fehlende Trauer, S. 171. 65 AE, S. 98. 66 Vgl. Arnd Beise, „Peter Weiss. ‚Verleugnete Erfahrungen lebten in mir auf‘“, in: Norbert Otto Eke, Hartmut Steinecke (Hrsg.), Shoah in der deutschsprachigen Literatur, S. 218.
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fast ausschließlich mit den Verfolgten und Ausgebeuteten, sei es mit dem Außenseiter Marat in der Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, mit dem Schicksal der europäischen Juden in Die Ermittlung, mit dem ausgebeuteten und unterdrückten vietnamesischen Volk in Viet Nam Diskurs, mit dem verfolgten jüdischen Revolutionär Leo Trotzki in Trotzki im Exil oder mit den bedrängten und ermordeten Widerstandskämpfern in der Ästhetik des Widerstands.67 Abschied von den Eltern setzt mit der Erinnerung an die Bestattung des Vaters ein. Im Gedächtnis des trauernden Erzählers ist weniger die Figur des Vaters geblieben, vielmehr aber die Räumlichkeiten, mit denen er diese „Portalgestalt“ seines Lebens verbindet: „[…] im Leben dieses Mannes hat es Kontorräume und Fabriken, viele Reisen und Hotelzimmer gegeben, im Leben dieses Mannes hatte es immer große Wohnungen, große Häuser gegeben, mit vielen Zimmern voller Möbel“.68 Als Erinnerungsbild an die bürgerliche Existenz des Vaters hat sich besonders dessen letztes Haus im Gedächtnis des Erzählers eingeätzt: […] stand noch sein letztes großes Haus, über und über mit Teppichen, Möbeln, Topfgewächsen und Bildern gefüllt, ein Heim das nicht mehr atmete ein Heim das er durch die Jahre der Emigration hindurch, durch ständige Übersiedlungen, Anpassungsschwierigkei69
ten und den Krieg hindurch, gerettet hatte.
Der Entwurzelung, die mit den Stationen des Exils – Großbritannien, Tschechoslowakei und schließlich Schweden – zwangsläufig verbunden ist, versuchen die Eltern entgegenzuwirken, indem sie zumindest eine räumliche Ordnung des Mobiliars an den verschiedenen Zufluchtsorten bewahren. Dieses Mobiliar wirkt somit identitätsstiftend. Mit den Möbeln verknüpfen die Familienmitglieder die bisher unangetastete familiäre „Ordnung, […] die immer unangreifbar gewesen
67 Programmatisch wird dieses Engagement in der Rede I come out of my hiding place formuliert, die Weiss am 25.4.1970 an der Princeton University in den USA auf Englisch hielt: „Der Versuch, in meiner Arbeit eine Solidarität mit den Unterdrückten und Ausgebeuteten herzustellen reichte nicht aus. Ich mußte für sie eintreten, ihr Sprecher sein, mußte ihren unartikulierten Reaktionen und Hoffnungen Ausdruck geben.“ Zitiert nach Volker Canaris (Hrsg.), Über Peter Weiss, Frankfurt am Main 1970, S. 914, hier S. 14. 68 AE, S. 60. 69 Ebd., S. 60f. Vgl. Ulrike Weymann, „Zur Semantik räumlicher Strukturen in Literatur und Film: Das surreale Prosastück Der Fremde und dessen filmische Adaption Hägringen“, in: Yannick Müllender, Jürgen Schutte, Ulrike Weymann (Hrsg.), Peter Weiss: Grenzgänger zwischen Künsten. Bild – Collage – Text – Film, S. 51-67.
94 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT war“. Doch die scheinbare Ordnung, die mit dem Mobiliar der Eltern verbunden ist, zerbricht im Zusammenhang mit der Auflösung des Elternhauses. Im Elternhaus verbergen sich wie in den Furchen des Gehirns des Erzählers Erinnerungsschichten: In jedem von uns starb etwas in diesen Tagen, jetzt, nach der Plünderung, sahen wir, daß dieses Heim, aus dem wir ausgestoßen waren, doch eine Sicherheit für uns verkörpert hatte, und daß mit seinem Aufhören das letzte Symbol unserer Zusammengehörigkeit verschwand. In den tiefsten Schichten der Wandlungen, die dieses Heim durchlaufen hatte, lagen Räumlichkeiten, in denen ich aus mythologischem Dunkel zum ersten Bewußtsein 70
erwachte.
Die Topographie des Elternhauses des Erzählers wird durch eine Raumsemantik verdeutlicht, die wichtig für den Roman ist und auf die hierarchische Stellung der einzelnen Familienmitglieder verweist. Der Erzähler, der sich früh von der bürgerlichen Vorstellungswelt der Eltern abkapselt, wählt sich den Dachboden als Zufluchtsort aus. Dieser Platz wird zum Refugium und verweist auf die Sonderstellung des Erzählers: „Mein Exil, das ich in der Gartenlaube gefunden hatte, setzte sich auf dem Dachboden fort.“71 Dieser Platz, der zwar „innerhalb des häuslichen Rahmens“ ist, weist auf seine Ausnahmestellung hin, und zwar „an der Peripherie, also in Opposition zum Zentrum“.72 Anhand dieses Beispiels wird deutlich, dass das Gefühl der Zugehörigkeit zur bürgerlichen Gesellschaft räumlich kodiert ist. Der Widerstand des Sohnes gegen die Erwartungen der Eltern wird durch diese Wahl des abgelegenen Dachbodens ebenfalls akzentuiert. Hinzu kommt die Tatsache, dass der Dachboden als Domizil des Künstlers und des Bohemiens gilt. Als Maler war sich Weiss durchaus bewusst, dass dieses Motiv häufig in der bildenden Kunst reproduziert wird, man denke nur an Gemälde wie Georg Friedrich Kerstings Caspar David Friedrich in seinem Atelier (um 1811), Max Liebermanns Das Atelier des Künstlers (1902) oder August Mackes Franz und Maria Marc im Atelier (1912). Erinnert sei auch an Weiss’ eigene transparent gemalte Temperabilder
70 AE, S. 62f. 71 Ebd., S. 76. 72 Karl Heinz Götze, Poetik des Abgrunds und Kunst des Widerstands: Grundmuster der Bildwelt von Peter Weiss, S. 42. Vgl. Ulrike Weymann, „Zur Semantik räumlicher Strukturen in Literatur und Film: Das surreale Prosastück Der Fremde und dessen filmische Adaption Hägringen“, in: Yannick Müllender, Jürgen Schutte, Ulrike Weymann (Hrsg.), Peter Weiss: Grenzgänger zwischen Künsten. Bild – Collage – Text – Film S. 52.
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Atelier und Atelierinterieur (1946/47).73 Darüber hinaus bietet der Dachboden ein Erinnerungsarsenal, wo häufig Dokumente und andere Erinnerungsträger unter Staub verschüttet liegen. Denn der Dachboden erscheint in der Tradition der Raummetaphorik der Mnemotechnik als ein Ort der „Einöde, als Abort und Alibi“, die Magazinmetapher umfasst die Vorstelllung des Vergessens, des Verborgenen (lethe), des „Abgründigen, Dunklen und Schlafenden bis hin zum Grab und zur Krypta.“74 Diese Merkmale sind typisch für Lethe, die Göttin des Vergessens, der Tabula rasa, deren Vergessens-Metapher das Verfließen und die Verflüssigung ist. Der Dachboden ist zudem ein Raum, in dem Erinnerungen gelagert werden. Dies veranschaulicht Weiss in den Notizbüchern mit einer akustischen Metapher des Knirschens, das die aufeinandergestapelten Schichten von Erinnerungen bei jeder Bewegung hervorrufen: „dann kam ich in einen Speicher, angefüllt mit Ablagerungen, so dicht voll, daß jede meiner Bewegungen knirschte und krachte, daß ich die Luft zwischen den Zähnen zu zermahlen hatte, daß jeder Gedanke sich aus Netzen, Blöcken herausarbeitet werden mußte – jeder Versuch, einen Durchblick zu gewinnen, scheiterte –“75 Plötzlich bekommen die Gegenstände der verstorbenen Eltern einen magischen Reiz, wobei jedes Ding mit einer „Fülle von Erinnerungen“ verbunden ist. In den folgenden Tagen vollzog sich die endgültige Auflösung der Familie. Eine Schändung und Zerstampfung fand statt, voll von Untertönen des Neids und der Habgier, obgleich wir nach außen hin einen freundlich überlegenen Ton besten Einvernehmens zu wahren suchten. Auch für uns, obgleich wir uns längst davon entfernt hatten, besaßen alle diese angesammelten Dinge ihren Wert, und plötzlich war mit jedem Ding eine Fülle von Erinnerungen verbunden. Die Standuhr mit dem Sonnengesicht hatte in meine frühesten Träume hinein getickt, im Spiegel des riesigen Wäscheschranks hatte ich mich bei nächtlichen Streifzügen im Mondlicht erblickt, in den Querleisten des Eßzimmertischs hatte ich Höhlen und Unterstände gebaut, hinter den mürben Samtgardinen hatte ich mich vor dem Fischer im Dunkeln verkrochen[.]
76
Die Trauer des Erzählers gilt in erster Linie dem „gänzlich mißglückten Versuch[s] von Zusammenleben, in dem die Mitglieder einer Familie ein paar Jahr-
73 Vgl. die Abbildungen in: Der Maler Peter Weiss: Bilder, Zeichnungen, Collagen, Filme, Redaktion und Gestaltung: Peter Spielmann, Bochum 1980, S. 228, S. 231. 74 Vgl. Günter Butzer, „Gedächtnismetaphorik“, in: Astrid Erll, Ansgar Nünning (Hrsg.), Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft, S. 23. 75 Siehe NB 2, S. 462. 76 AE, S. 61f.
96 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT zehnte lang beieinander ausgeharrt hatten“.77 Hier wird ein wesentlicher Punkt des Akts des Erinnerns angesprochen, nämlich die Trauer über das Ungenügen der Familie, ein „normales“, sinnvolles Leben miteinander zu führen. Um die Ursachen dieses gescheiterten Zusammenlebens zu ergründen, fühlt sich der Erzähler veranlasst, sich an seine Kindheit zu erinnern, um mögliche Ursachen für das Scheitern zu finden. Erst mit der endgültigen Auflösung des Elternhauses ist die Möglichkeit zu einem umfassenden Rückblick gegeben, in dem „das letzte Symbol“ der geschwisterlichen „Zusammengehörigkeit“ verschwindet. Die Auflösung des Familienlebens hat immerhin den Vorteil, dass sie eine Befreiung aus der erstarrten bürgerlichen Existenz zur Folge hat.78 Erst mit dieser Auflösung erreicht auch der Erzähler die Freiheit zu einer umfassenden Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit. Das Ausmaß der Erinnerungen an Kindheit und Jugend in Abschied von den Eltern und später in Fluchtpunkt vermittelt den Eindruck, dass die emotionale Bindung des Erzählers an die Familie keineswegs aufgelöst ist, sondern sich verstärkt durch den Prozess des Sich-Erinnerns manifestiert. Der Erzähler wühlt auf dem Dachboden herum auf der Suche nach der Vergangenheit seiner Eltern. Ziel ist „die Rekonstruktion eines vorgeschichtlichen Augenblicks.“79 Er findet die hellgraue Uniform seines Vaters und Fotografien von seiner Mutter, die einst Schauspielerin war. Das erlebende Ich stößt auf dem Dachboden, der als Erinnerungsarchiv dient, auf interessante Dokumente über das Leben seiner Eltern. Diese Dokumente werfen ein Licht auf die dunklen und geheimnisvollen Jahre vor der Geburt des Erzählers und geben über das geheimnisvolle Leben seiner Eltern vor seiner Geburt näher Auskunft. Die Erinnerung an diesen Fund wird ergänzt durch „einige vergilbte Blätter mit der Handschrift
77 Ebd., S. 59. 78 Das Ausbruchsmotiv begegnet uns bereits in Weissʼ frühem Prosastück Der Turm und stellt in Abschied von den Eltern und in Fluchtpunkt ein wichtiges Merkmal dar. Der Erzähler der autobiographischen Prosa bemüht sich, „aus der ihn beengenden Welt auszubrechen.“ Vgl. Manfred Haiduk, Der Dramatiker Peter Weiss, Berlin 1977, S. 29. 79 AE, S. 77. Merkwürdig geheim bleibt die Vorgeschichte der Eltern, die nur sporadisch über ihre Vergangenheit reden. Nicht zuletzt fühlt sich der Erzähler durch diese Leerstellen veranlasst, die Vergangenheit seiner Eltern zu erforschen. Dabei kommen Erinnerungslücken aus der „Vorzeit“ hoch, z.B. als der Erzähler auf dem Schoß seines Vaters gesessen hat: „Es war noch eine Erinnerung da, wie das Knie in der dunklen Vorzeit zur Seite wich, und wie ich in die Tiefe glitt, von den Händen des Vaters gehalten.“
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meines Vaters […] ein paar Tagebücher mit den Notizen meiner Mutter“, die der Erzähler vor der testamentarisch begründeten Verbrennung rettet.80 Aus diesen Dokumenten fügt sich dann eine fragmentarische „Familiengeschichte“ zusammen.81 Der Erzähler referiert dann den Inhalt eines Briefes von seinem Vater an seine Mutter, geschrieben kurz vor einem Gefecht an der Ostfront. Dieser Brief enthält die einzige genaue Datierung in Abschied, „Zaklikow, den 5. Juli 1915.“82 Der Vater, der seinen Tod unmittelbar vor dem Gefecht antizipiert, vereint in seinem Brief den Spagat zwischen der Perspektive eines mutigen Soldaten und der eines zärtlichen Liebhabers. Interessant ist dieser Brief auch, weil darin die „Portalgestalt“ des Vaters zum einzigen Mal direkt zu Wort kommen darf, und weil er einen Erinnerungsstrom des Erzählers auslöst: Zu meinen Untersuchungen auf dem Dachboden fügt sich heute ein Brief, den mein Vater an meine Mutter schrieb, vor dem Gefecht, in dem er den Bauchschuß erhielt. Der Inhalt dieses Briefes lautet, Zaklikow, den 5. Juli 1915. […] Hierauf das Schreiben an meine Mutter. Mein sehnlichster Wunsch war, noch einmal aus diesem Krieg nachhause zu kommen, nachhause zu dir, mein Geliebtes. Wenn es mir nicht vergönnt ist, dich noch einmal zu sehen, dann sollen dich diese Zeilen, die ich schreibe, ehe ich ins Gefecht komme, zum letzten Mal grüßen. Es wird mir schwer, den Gedanken zu fassen, daß ich nun nicht mehr deine lieben Augen, deinen Mund sehen und fühlen soll, deine Arme werden mich nicht mehr umschlingen. Wäre ich noch, dann hätte dein Leben erst begonnen, ich hätte es dir so schön bereitet, wie du dirs nicht träumen könntest, auch meines hätte erst beginnen sollen. […] Beim Lesen dieses Briefes steigt das Lauschen aus den Nächten der Kindheit auf, da ich wach lag, mein Ohr an die Wand preßte, um etwas von den fer83
nen, murmelnden Stimmen meiner Eltern zu erfassen.
Charakteristisch für die Annäherung des Erzählers an seine eigenen Erinnerungen sind die „große[n] blinde[n] Flecken“s84, „d.h. ein Mangel an authentischen Dokumenten.“85 Auf die Frage, inwieweit dem Erzähler die eigene Kindheit und Jugend verfügbar ist, finden sich in Abschied sporadische Aussagen. Eine ist die Erinnerung an den ersten Schultag, die mit folgender Reflexion über das Ge-
80 AE, S. 62. 81 Ebd., S. 78. 82 AE, S. 78. Vgl. Helmut Lüttmann, Die Prosawerke von Peter Weiss, S. 114. 83 AE, S. 78f. 84 AE, S. 63. 85 Peter Hanenberg, Peter Weiss: Vom Nachteil und Nutzen der Historie für das Schreiben, (= Philologische Studien und Quellen, Bd. 127) Berlin 1993, S. 41.
98 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON S CHUTT dächtnis eingeleitet wird: „die Kindheit lag Jahrzehnte hinter mir, ich kann sie jetzt mit durchdachten Worten schildern, ich kann sie zergliedern und vor mir ausbreiten, doch als ich sie erlebte, da gab es kein Durchdenken und kein Zergliedern, da gab es keine überblickende Vernunft.“86 Mit diesem Zitat will der Erzähler hervorheben, dass der zeitliche Abstand den Prozess des Verstehens und Deutens der Kindheitserlebnisse maßgeblich gefördert hat. Das, was er früher nicht verstanden hat, begreift er jetzt; er ist vom „Objekt des Geschehens zum verstehenden Subjekt der Ereignisse“87, zum Herrn seiner Biographie geworden. Der Prozess des Erinnerns wird demgemäß zu einem (vergeblichen) Versuch des rationalen Ordnens und Zergliederns der zuvor ungeordneten, chaotischen Sinneseindrücke und Erinnerungsbrocken der Kindheit. Auffällig ist, dass der Erzähler den Akt des Erinnerns nie problematisiert; nie wird erwähnt, wie die Erinnerungen in ihm hochkommen. Seine Erinnerungen sind zumeist von einer absoluten Sicherheit geprägt. Dies gilt vor allem für die Beschreibung einzelner Räumlichkeiten und Gebäude. Nur die ganz frühen Erinnerungen des Erzählers weisen Leerstellen auf, wie etwa die Beschreibung des ersten Hauses der Familie, das er bewusst wahrgenommen hat. Hier sind die Erinnerungen bewusst lückenhaft, denn alles andere wäre unglaubwürdig. Insofern verleiht diese Lückenhaftigkeit dem Roman eine Aura von Authentizität. Die Vagheit wird durch das wiederholte Wort „ich ahne“ manifestiert: Das erste Haus weist große blinde Flecken auf, ich kann den Weg durch dieses Haus nicht finden, ahne nur die Stufen einer Treppe, ahne den Winkel eines Fußbodens, auf dem ich fettig abgegriffene, rotbraune Holzhäuschen aufbaue und grüne Schanzen, ahne einen kleinen Lastwagen, mit Modellkisten gefüllt, und der Gedanke an diese Kisten verursacht ein dickes, schweres Gefühl im Gaumen, ahne Briefmarken, die ich vor mir ausbreite, rosa und hellgrüne Briefmarken mit dem Gesicht eines Königs mit Schnurrbart, und meine älteren Brüder stürzen herbei und schreien, und die Mutter kommt und schreit und fegt die 88
Briefmarken zusammen und fegt sie ins Ofenfeuer.
Allerdings trägt die Plastizität89 dieser Beschreibung dazu bei, die Unsicherheit des Erinnerungsaktes und die Leerstellen zu durchlöchern: Die detaillierte Beschreibung von der Briefmarke mit dem bärtigen König und die Farben der Spielzeuge untermauern mithin die Unsicherheit des Erzählers. Es wird demge-
86 AE, S. 72. 87 Helmut Lüttmann, Die Prosawerke von Peter Weiss, S. 119. 88 AE, S. 63. 89 Helmut Lüttmann, Die Prosawerke von Peter Weiss, S. 120.
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mäß implizit angedeutet, wie die Erinnerung den zeitlichen Abstand des aufgerufenen Ereignisses transzendieren kann, indem sie in die Leerstelle einer Erinnerungslücke eine Erklärung einsetzt. Das erzählende Ich wird hier stark profiliert, während das erlebende Ich vage im Hintergrund sichtbar wird. Eine Spannung zwischen erlebendem und erzählendem Ich kommt mithin in Abschied von den Eltern zum Ausdruck. Diese Spannung wird besonders deutlich, wenn der Erzähler die Perspektive des unmittelbaren Erlebens und die Perspektive der Erinnerung miteinander nicht in Deckung bringt. Bezeichnend für diese Spannung ist folgende Passage, in welcher der Erzähler endgültig Abschied von seinem Kameraden Jacques nimmt. Jacques, den der Erzähler in London trifft, ist im Gegensatz zum Erzähler, der als Angestellter im Kontor arbeitet, ein Bohemien, ein Künstler, der das Unbändige und non-konformistische verkörpert. Jacques, mit der er sich stark identifiziert, wird für den Erzähler zum Inbegriff einer alternativen Lebensform, die dieser wegen seiner Bindung an die Eltern nicht realisieren kann. Zusammen mit Jacques organisiert der Erzähler die erste Kunstausstellung seines Lebens, die keine Besucher findet. Es handelt sich offensichtlich im Hinblick auf Jacques, der aus der Starre der bürgerlichen Gesellschaft ausbricht, um eine Variation des Themas „Wunschautobiographie“, das im Widerstandsroman zur Anwendung kommt. Es wird im Text angedeutet, dass Jacques später nach Spanien fahren wird, wahrscheinlich um aktiv am Spanischen Bürgerkrieg teilzunehmen, was als eine wünschenswerte Projektionsfläche des Ich-Erzählers erscheint. Das erzählende Ich weiß, dass dieser Abschied endgültig ist, dadurch markiert, dass er symbolisch Jacques zu Tode schießt mit der Blechpistole seines Bruders. Diese symbolische „Tötung“ von Jacques verweist zum Einen auf sein wahrscheinliches Schicksal als freiwilliger Kämpfer der Internationalen Brigaden. Zum Andreren geht es hier offensichtlich um eine klassische Variation des Alter-Ego Motivs, wobei Jacques den künstlerischen Teil des Erzähler-Ichs symbolisiert, der jetzt „stirbt.“90 Dessen ist sich das erlebende Ich allerdings nicht bewusst. Immer noch hofft es auf ein baldiges Wiedersehen in der Stadt, eine trügerische Hoffnung, die vom erzählenden Ich verneint wird: Der Abschied ist endgültig. Jetzt ist dieser Morgen ganz durchsetzt vom Gefühl des Abschieds, dieser englische Sommermorgen, mit schimmerndem Sonnenlicht im Frühnebel, mit dem schläfrigen Klappern einer Mähmaschine und dem fernen Schlürfen von den Hufen eines Pferdes. Da lag die Blechpistole meines Bruders auf dem Gartenweg, ich hob sie auf, nahm sie mit,
90 Florian Radvan bezeichnet die Passage als „eine Schlüsselszene für den gesamten Text“, was sicherlich zutrifft. Vgl. hierzu Radvan, Abschied von den Eltern, S. 49.
100 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Jacques sprach von Spanien, vom Bürgerkrieg, vielleicht äußerte er den Gedanken, daß er in die internationale Brigade eintreten wolle. Jetzt ist in diesem Morgen ein Abschied auf immer enthalten, damals bestand noch irgendeine Verabredung vom Wiedertreffen in der Stadt, es war alles zuende, es gab keine Fortsetzung mehr, ich schoß Jacques tot, wie er da hinter dem herabgeschraubten Fenster des Zuges stand hob ich die Blechpistole, zielte und ahmte einen Schuß nach, und Jacques spielte den Getroffenen, warf die Arme empor und ließ sich zurückfallen. […] Jacques zeigte sich nicht mehr im Fenster, ich sah Jacques nie wieder.
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Der Chronotopos Fenster erfüllt in Abschied von den Eltern eine wichtige Rolle, häufig bildet er die Schwelle zum Tod: In der Schule blickt der Erzähler aus dem Fenster auf einen Leichenwagen. Später blickt er aus einer „gläserne[n] Luke“ eines Leichenwagens auf den weißen Sarg seiner toten Schwester.92 Die gläserne Trennwand verweist auf die Endgültigkeit des Abschieds und verweist hier auf den Beginn eines neuen Lebensabschnitts. Die bisherigen Bemerkungen haben den Eindruck erweckt, dass die Inszenierung von Erinnerung in Abschied von den Eltern einen rationalen Prozess des Ordnens und Gliederns darstellt. Dass der Erzähler in der Regel rational seine Erinnerungen ordnet, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch ausgesprochen emotionale Passagen vorkommen. Des Weiteren wurde angedeutet, dass das erzählende Ich dem erlebenden Ich gegenübersteht und aus einem großen zeitlichen Abstand heraus auf die Begebenheiten mit Distanz zurückblicken kann. Das erzählende Ich betrachtet nicht selten mit Kritik oder gar Abscheu die Taten seines früheren Ich, was zu einer Spannung oder zu einem Bruch in der Identität des Erzählers führen kann.93 Der Rückblick auf den ersten Schultag ist
91 AE, S. 121. 92 AE, S. 101. Vgl. Axel Schmolke, „Das fortwährende Wirken von einer Situation zur andern“, S. 226. Zur Darstellung des Todes in Abschied von den Eltern siehe auch Steffen Groscurth, „‚…ein ungeheurer Aufwand von Energien zu Nichts zerflossen‘. Die Motivik des Todes in Abschied von den Eltern“, in: PWJ 22 (2013), S. 141-170. 93 Vgl. hierzu Jochen Vogt, Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie, 7. Auflage, Opladen 1990, S. 71. Dort schreibt Vogt über das Wechselspiel von erzählendem und erlebendem Ich, dieses „drückt eine Differenz und Spannung, wo nicht gar einen Bruch in der Identität des Erzählers aus: er schreibt aus der Rückschau, ist gealtert und kennt mindestens teilweise die Folgen des vergangenen Geschehens. Aufgrund seiner Lebenserfahrung, veränderter Auffassungen und Maßstäbe betrachtet er das Tun und Treiben seines früheren Ich mit Abscheu, Kritik, Ironie oder auch Nachsicht, jedenfalls mit Distanz.“
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ein Beispiel für emotional aufgeladenes Erzählen, nicht allein deshalb, weil das erlebende Ich hier in den Vordergrund tritt. Im Zitat wird versucht, die panische Angst des Kindes vor dem Schulbeginn durch den Geschmack von Himbeerbonbons anschaulich wiederzugeben. Auch hier kommt die oben bemerkte Spannung zwischen erlebendem und erzählendem Ich zum Ausdruck: Während das erzählende Ich sich dessen bewusst ist, dass dies nur der Anfang der Panik ist, die sein Leben prägen wird, zeigt sich das erlebende Ich erregt von den Begebenheiten, was sich durch die langen parataktischen Nebensätze manifestiert. Wir trugen jeder eine Tüte, voll von süßen, klebrigen Himbeerbonbons, zum ersten Schultag gehörte solch eine Tüte […] und die Furcht vor der Schule ist klebrig und süß wie der Geschmack der Himbeerbonbons. Doch vorm Schultor floh ich zurück, ich lief zurück über die schwarze, hartgestampfte Schlacke des Schulhofs, ich lief auf der weißen, staubigen Allee zurück, […] hinein in die verwilderte Tiefe des Parks, bis an den Rand der Felder, ich kann es jetzt schildern, ich kann es jetzt überblicken, es war der erste Schultag, es war der Anfang der Panik, ich wollte mich nicht fangen lassen, ich floh keuchend, ich 94
rang nach Atem, es brannte wie Feuer in meiner Kehle und in meiner Brust[.]
In der oben angeführten Textstelle verbinden sich das Affektive und Rationale, was laut Helmut Lüttmann ein ästhetisches Merkmal von Abschied von den Eltern darstellt.95 Ebenfalls kündigt der Erzähler explizit durch seine retrospektiven Reflexionen zum Geschehen gelegentlich an, dass er seine Kindheit nicht mit emotionsloser Objektivität zu betrachten vermag. Getrübt werden die Kindheitserinnerungen des Erzählers besonders durch Friederle, der ihn immer wieder ausgrenzt, körperlich misshandelt und auf seine Sonderstellung hinweist. Er stilisiert sich als „Flüchtling“: Und nach der Schule versuchte ich, Friederle zu entkommen, doch mit seinem Rudel von Verbündeten stöberte er mich überall auf. Wenn ich lief, liefen sie neben mir. Wenn ich langsam ging, gingen sie langsam neben mir. Wenn ich jäh ausbrach zur andern Straßenseite hinüber, warfen sie Steine nach mir. Diese kleinen pfeifenden Steine, und die höhnenden Stimmen da drüben, wie gut sie erkannt hatten, daß ich ein Flüchtling war, und 96
daß ich in ihrer Gewalt war.
94 AE, S. 72. 95 Vgl. Helmut Lüttmann, Die Prosawerke von Peter Weiss, S. 122. 96 AE, S. 74.
102 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Friederle, der seine Aggressionen und vererbten Vorurteile auf den anders Aussehenden (sprich: Juden) projiziert, wird zum Paradigma der konformistischkollektivistischen Mitläufer-Mentalität. Dass auch Friederle ein Teil vom Ich des Erzählers ist, wird in Abschied ebenfalls klar. Dort wird eine Passage geschildert, in welcher der Erzähler seine Opferrolle abstreift und zum Täter wird. Mit Lehmklumpen bewerfen er und seine Kameraden einen Jungen, der auf einem Floß sitzt und auf ein überschwemmtes Grundstück hinausgestoßen wird. Als Anführer der Gruppe zwingt der Erzähler auch einen „Schwachen“, ein heißes Eisen zu küssen. Obwohl er sich durchaus bewusst ist, dass er zu den Schwachen gehört, übernimmt der Erzähler vorübergehend die Rolle des Quälers: „Alle Zerstörungslust und Herrschsucht in uns durfte sich entfalten. Ich wurde zu Friederle.“97 Das Erinnern an die Begebenheiten der Vergangenheit in Abschied von den Eltern scheint ein Prozess zu sein, in dessen Verlauf sich der Erzähler zunehmend von dem Erlebten loslöst und abkapselt: Er versucht, sich mittels des Erinnerungs- und Schreibprozesses von seiner Vergangenheit, die maßgeblich von den Eltern geprägt wurde, loszulösen. Diese Interpretation wird nicht nur durch den vom damaligen Suhrkamp-Lektor Hans Magnus Enzensberger stammenden Titel des Buches bestätigt, sondern kommt auch im Text explizit zum Ausdruck: „[N]ach Rückfällen in Schwäche und Mutlosigkeit, nahm ich Abschied von den Eltern. […] Ich war auf dem Weg, auf der Suche nach einem eigenen Leben.“98 Wie oben bereits festgestellt, kommen auch Sachverhalte zur Sprache, die sich nach dem Aufbruch des Erzählers aus dem Elternhaus begeben haben. Dies passiert gelegentlich dann, wenn das erzählende Ich im Rahmen kürzerer Prolepsen in die Zukunft blickt, beispielsweise wenn er vorausdeutend sagt: „[I]n dem großen, dunkelbraunen Holzhaus am Rand eines schwedischen Sees wurde das Heim zum letzten Mal errichtet, und dort vollzog sich der Untergang, der mit dem Tod meiner Schwester begonnen hatte.“99 Wenn das erzählende Ich zu Wort kommt, geschieht dies zumeist als ein Gestus der relativierenden Distanz zum Geschehen. So auch in folgender Passage, in welcher der Erzähler sein Elternhaus in Bremen zum ersten Mal seit Jahrzehnten besucht. Als er durch die Allee läuft, stellt er fest, dass sich nichts verändert hat bis auf die „tiefe Stille“, die in der Gegend herrscht. Als er sein Elternhaus an der Marcus-Allee besichtigt, kommen die Erinnerungen an die Kindheit wie ein „dumpfes Geschwür“ bei ihm hoch:
97 AE, S. 86. 98 AE, S. 141. 99 AE, S. 103.
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Vor einigen Jahren konfrontierte ich mich mit dem Haus das wir, zur Zeit meines Eintritts in die Schule, bezogen hatten. Seit Jahrzehnten hatte ich die Allee nicht mehr gesehen, und als ich sie nun wiedersah fühlte ich meine Kindheit wie ein dumpf schmerzendes Geschwür in mir. Die Stämme der Bäume zu den Seiten des Fahrdamms waren stark und hoch geworden, ihre Äste langten weit aus und schossen ihr Blattwerk zu einem dichten Blattwerk zusammen. Wie ein Verzauberter in einem bösen Märchen ging ich auf den Park zu, in den die Allee mündete, und in dem unser Haus noch verborgen lag. […] Es 100
herrschte tiefe Stille, alles war versunken in seine lange Vergangenheit.
Der deiktische Ausdruck „vor einigen Jahren konfrontierte ich mich“ stellt zwar eine relativierende Distanz zum Geschehen dar, ist aber diskret in den chronologischen Bericht über die Kindheit des Erzählers integriert. Diese Integration des zeitlich Heterogenen in den chronologisch gegliederten Erzählfluss ist auch für die Inszenierung von Erinnerung in Fluchtpunkt charakteristisch. In Kontrast zu dieser Erzählweise innerhalb eines klar abgegrenzten Zeitraumes, der nur selten überschritten wird, steht die Inszenierung von Erinnerung in der Ästhetik des Widerstands: Hier wird die Diegese ständig von längeren Rückblicken in die Vergangenheit unterbrochen. Ein stilistisch besonders interessanter Übergang ist die Verlegung des Schauplatzes ins Exilland Großbritannien. Der Protagonist betrachtet zuerst ein stereoskopisches Guckkastentheater, das sich im Büro seines Vaters in Deutschland befindet. Die Szenerie des Theaters, die dem Erzähler am meisten imponiert, stellt einen Dieb dar, der sich vor einer aufgebrochenen Schreibtischschublade in einem Büro befindet. Nachdem sich der Erzähler die Bildersequenz des Theaters angekuckt hat, mündet dieser Bericht im abrupten Wechsel des Raumes vom Schaubild des Tagediebs zum Londoner Lagerraum des Vaters: Am eindrucksvollsten war das Zimmer, in dem der Dieb vor der aufgebrochenen Schreibtischschublade hockte. Es war ein behütetes und gepflegtes Zimmer. […] Die Hände des Diebes waren tief in die Schublade gesteckt, und sein Gesicht, bis unter die Augen mit einem schwarzen Tuch umbunden, war spähend der offenen Tür zugewandt, als habe er ein Geräusch draußen im dunklen Flur gehört. Und nun stehe ich in London, im Lagerraum des Kontors meines Vaters, zwischen dem Mustertisch und dem mit Stoffrollen ge101
füllten Regal, und in mir steigt eine wuchernde Unruhe auf.
100 Ebd., S. 70. 101 AE, S. 109.
104 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Der Dieb, von dem hier die Rede ist, weist unverkennbare Züge mit dem Protagonisten auf, der sich selbst einen „Tagedieb“ nennt.102 Ähnlich wie der Dieb in dem Kontor ist der Erzähler ein Fremdling, eine Anomalie in dem Geschäft seines Vaters, dessen Ansprüchen er nicht gewachsen ist. Als Kind erlebt der Erzähler bewusst den Aufstieg des Nationalsozialismus als den Anbeginn „eines neuen, schrecklichen Kreuzzugs.“ Doch diese Phase des kommenden Unheils liegt noch weiter zurück als sich der Erzähler erinnern kann, hinter den frühesten Tagen seiner Kindheit. Diese Zeit, als der Erste Weltkrieg noch andauerte, wird als „die mythologischen“ Jahre seiner Kindheit beschrieben. Schauplatz dieser Entwicklung ist die Stadt, die vom Erzähler als menschlicher Organismus beschrieben wird, aus dessen Eingeweiden der Marschtakt der neuen Zeit schlägt. Der Aufstieg der neuen verhängnisvollen Massenbewegung wird sprachlich mittels anaphorischen Satzstrukturen wiedergegeben: Diese Phase des Daseins, voll aufgestauten Unheils, scheint unendlich weiter zurück als die frühesten Tage der Kindheit. Wie aus einem anderen Leben blicke ich in diese Zeit hinein, fremd vor dem Ich, aus dem ich hervorgegangen bin. Ich sehe die unendlichen Kolonnen, höre den einförmigen Marschtakt, das Scheppern der eisenbeschlagenen Stiefel, das Klirren der Dolche an den Gurten. Wieder und wieder kamen die Fahnen und Standarten, die ausgelöschten, anonymen Gesichter, die Münder im Gesang geöffnet, wieder und wieder kamen die Trommeln, und über der Stadt lag der Schein eines großen Feuers. Unaufhörlich schlug der Marschtakt, wie ein Puls in den Eingeweiden der Stadt, etwas lud sich auf und griff um sich, ergriff mich, ergriff alle, eine Kraft die gepocht hatte so lange ich mich entsinnen konnte, und früher noch, zur Zeit meiner Geburt und der mythologischen Jahre, als die Kanonaden dumpf um die Horizonte lagen, als die Verwundeten in den Lazaretten verbluteten. Ich war mit eingeschlossen in eine unbarmherzige Entwicklung, und wenn ich auch zu den Fliehenden gehörte, so war ich doch mit eingeschmolzen 103
in dieses unaufhörliche Marschieren […] eines neuen, schrecklichen Kreuzzugs.
Die Textstelle beschreibt den Aufstieg des Faschismus in den „Eingeweiden“ der Stadt. Die Tatsache, dass die Stadt mittels Körpermetaphern beschrieben wird, weist Reminiszenzen zum surrealistischen Frühwerk des Autors auf. Dabei kommt eine Spannung zwischen erlebendem und erzählendem Ich zum Vorschein. Das erzählende Ich fühlt sich veranlasst, sich vom erlebenden Ich zu distanzieren, er ist „fremd vor dem Ich“, dem er entstammt.
102 Ebd., S. 89. Vgl. auch Helmut Lüttmann, Die Prosawerke von Peter Weiss, S. 131. 103 Ebd., S. 97.
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Bei besonders intensiven Szenen aus der Kindheit wird häufig das erlebende Ich stärker profiliert, wobei das erzählende Ich vor allem an dieser Stelle Kommentare einschiebt. Folgende Passage drückt die Erinnerung an die seltene Situation der Nacktheit aus, was für den Erzähler eine körperliche und individuelle Emanzipation darstellt. Die Situation kontrastiert mit der strikten und prüden bürgerlichen Erziehung, an die der Erzähler gewöhnt ist. Der Erzähler erinnert sich an einen Sommertag seiner Kindheit, als seine Eltern den gemeinsamen Freund Fritz W. besuchten. Dieser fordert den Erzähler auf, sich auszuziehen und zusammen mit seinen Kindern nackt im Garten zu tanzen. Die Wahl des Raumes ist hier durchaus kein Zufall: Der Garten ist seit der Antike mit dem „ewigen Frühling“ verbunden und da das Paradies ein Garten ist, kann umgekehrt ein Garten Paradies heißen.104 Ausnahmsweise darf der Erzähler in dem locus amoenus des Gartens nackt spielen, umgeben von ebenso nackten spielenden Kindern: Ein einziges Mal in meiner Kindheit erlebte ich eine Ahnung von körperlicher Freiheit. Ich war mit meinen Eltern und Geschwistern zu Besuch bei einer befreundeten Familie. […] Fritz’ Kinder sprangen nackt im Garten umher, zwei Mädchen und ein Junge, gleichaltrig mit mir und meinen jüngeren Schwestern. Wir waren in unseren Sonntagskleidern und sahen verlegen den nackten, sonngebräunten Körpern bei ihrem Spiel zu. […] Da kam Fritz plötzlich auf uns zugesprungen und riß mit wenigen Griffen meinen Schwestern die Kleider herunter, ich selbst verkroch mich unter den niedrigen Zweigen einer Tanne, doch er zog mich hervor, streifte auch mir Hose und Bluse ab und schob mich, zusammen mit meinen Schwestern, in den Kreis seiner Kinder. Bestürzt nestelten wir uns selbst den Rest unserer Kleiderstücke vom Leib und fühlten an der ganzen Haut die warme Luft. […] Und wir erlebten nun, was wir jeden Sommertag hätten erleben können, aber was nie wiederkam wie wir in unserer Nacktheit lebendig wurden. Gras, Blätter, Erde und Gestein fühlten wir jetzt mit all unseren Poren und Nerven, balgend und jubelnd verloren wir uns in 105
einem kurzen Traum ungeahnter Möglichkeiten.
Diese Textstelle wird aus der Perspektive des erlebenden Ichs wiedergegeben. Dies wird nicht zuletzt durch die naive Beschränkung des „point of view“ auf die Sicht des gutgläubigen Kindes offensichtlich. Doch unterlässt es das erzählende Ich nicht, einen Kommentar über die Vergänglichkeit des kindlichen Glücks einzuschieben.
104 Vgl. hierzu Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, [1948], 6. Auflage, Bern 1967, S. 206. 105 AE, S. 83f.
106 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Unmittelbar im Anschluss an die Publikation von Abschied von den Eltern erschien der Roman Fluchtpunkt (1962), den man als Fortsetzung der Erzählung lesen kann. Es setzt an dem Punkt ein, wo Abschied endet. Zeitlich umspannt der Roman sieben Jahre zwischen dem 8. November 1940 und dem Frühjahr 1947. Wie in Abschied spielt die Inszenierung von Erinnerung auch in Fluchtpunkt eine entscheidende Rolle. Gegliedert ist die Textmasse in 59 ungleich umfangreiche Abschnitte. Der Ich-Erzähler erinnert sich an seine verzweifelten Anpassungsversuche als Künstler in der schwedischen Diaspora. In der Rekonstruktion der persönlichen Vergangenheit hat Weiss den Nutzen der Erinnerung für sein Schreiben entdeckt. Historische Stoffe und Dokumente werden ab jetzt zum zentralen Gegenstand seiner Texte.106 Ein entschiedener Unterschied zur Inszenierung von Erinnerung in Abschied von den Eltern ist in Fluchtpunkt der Zweifel des Erzählers am Akt des Erinnerns.107 Was in Abschied als positiv eingestuft wurde, das Ordnen und Zergliedern der Vergangenheit, erscheint in Fluchtpunkt suspekt und zweifelhaft angesichts der zeitlichen Distanz zum Erinnerten.108 Ein Beispiel für die zeitliche Diskrepanz zwischen erinnerndem und erlebendem Ich bietet ein Museumsbesuch des Protagonisten in Stockholm. Ein trügerisches Erinnerungsbild des Erzählers, das sich im Biologischen Museum eingeprägt hat, stellt eine Naturszenerie mit Eisbären und Jägern dar: „In einem eigentümlich schwelenden Licht befanden sich, so wollte ich mich erinnern, Jäger im Kampf mit Eisbären.“ Obwohl die spärliche Belichtung des „niederen, dunklen“ Museumsraums „unverändert“ geblieben ist, ist „[v]on einem dramatischen Kampf […] jedoch nichts zu sehen.“109
106 Vgl. Arnd Beise, Peter Weiss, S. 221. Siehe auch Alfons Söllner, Peter Weiss und die Deutschen, S. 156-185. 107 Zur Inszenierung von Erinnerung in Fluchtpunkt siehe Steffen Groscurth, Fluchtpunkte widerständiger Ästhetik: Zur Entstehung von Peter Weiss’ ästhetischer Theorie, S. 160-177, hier S. 167: „Erinnerung wird zum ästhetischen Verfahren, das nicht mehr der auf Authentizität und Korrektheit abzielenden Strukturierung einer dokumentarischen Dokumentation folgt, sondern den Ansprüchen einer literarisierten Annäherung.“ 108 Ein wesentliches Merkmal der Erinnerungsstruktur des Romans besteht in der Betonung des Diskontinuierlichen. Darüber hinaus bietet Fluchtpunkt „Frühformen widerständiger Ästhetik“, die später in der Ästhetik des Widerstands erprobt werden. Vgl. Steffen Groscurth, Fluchtpunkte widerständiger Ästhetik: Zur Entstehung von Peter Weiss’ ästhetischer Theorie, S. 14 S. 173, hier S. 14. 109 FP, S. 161.
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Das Herstellen einer Deutlichkeit des Erinnerten, so signalisiert der Erzähler in Fluchtpunkt, ist eine Täuschung. Ähnlich wie die Ich-Erzählerin Nelly in Christa Wolfs autobiographischem Roman Kindheitsmuster ist sich Weiss durchaus bewusst, dass die „Beschreibung der Vergangenheit – was immer das sein mag, dieser noch anwachsende Haufen von Erinnerungen – in objektivem Stil […] nicht gelingen“ kann.110 Der Erzähler ist nicht in der Lage, sich in sein „verwittertes Ich“ hineinzuversetzen und deswegen sind seine Erinnerungen nur bedingt zuverlässig. Diese Problematisierung des Erinnerungsprozesses und die Entfremdung angesichts des zeitlichen Abtsands kommen in folgender Passage zum Ausdruck. Narratologisch bedenklich ist die Passage insofern, da die späteren Einsichten des erzählenden Ichs ins erlebende Ich hinein projiziert werden: Tausendfach verändert sind unsere Gedanken, Empfindungen, Erwägungen, versuchsweise werden sie hingeschrieben, zwanzig Jahre später, nicht mehr überprüfbar, denn der einzige Zeuge, der mich widerlegen könnte, mein damaliges Ich, ist verwittert, in mich aufgegangen. Mit dem Schreiben schaffe ich ein zweites, eingebildetes Leben, in dem alles, 111
was verschwommen und unbestimmt war, Deutlichkeit vorspiegelt.
Die Passage bestätigt dass, was Almut Finck in Anlehnung an Roy Pascal in ihrer grundlegenden Studie zur Autobiographie schreibt, nämlich dass die Autobiographien mit großem Vorbehalt studiert und geprüft werden müssen. Zu lückenhaft und irreführend ist der Akt des Erinnerns: „Eine Autobiographie schreiben würde dann nicht heißen, die Vergangenheit objektiv zu rekonstruieren, sondern subjektiv aus der Perspektive der Gegenwart zu interpretieren. Sie wäre eher der fiktive Entwurf eines Lebens als dessen wahrheitsgetreue Reproduktion. Autobiographik rückte in die Nähe fiktionaler Gattungen.“112 In dem unveröffentlichten Prosafragment Die restlose Wiedergabe der Wahrheit ist möglich beschreibt Weiss die kapitale Schwierigkeit, die poetische Wahrheit mittels des Schriftmediums objektiv darzustellen. Einfacher sei dies in anderen Medien, in der Malerei und in der Musik. Dort ist der hermeneutische Prozess anders als beim Schreiben: Musik und Bilder stellen „zusammengedrängte Kunstblöcke dar“, die jeder Rezipient subjektiv auf seine Art interpre-
110 Christa Wolf, Kindheitsmuster, 2. Auflage, Berlin und Weimar 1977, S. 215. 111 FP, S. 159. 112 Almut Finck, Autobiographisches Schreiben nach dem Ende der Autobiographie, (= Geschlechterdifferenz & Literatur, Bd. 9) Berlin 1999, S. 27. Vgl. hierzu auch Steffen Groscurth, Fluchtpunkte widerständiger Ästhetik: Zur Entstehung von Peter Weiss’ ästhetischer Theorie, S. 165.
108 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT tiert. Texte zu produzieren bedeutet, sich preiszugeben und mit den Worten die „innersten Erfahrungen“ ohne etwas zu verleugnen genau wiederzugeben. Wenn dies nicht gelingt, so Weiss, scheitert der Prozess des Schreibens: Die restlose Wiedergabe der Wahrheit ist möglich, wenn es mir gelingt, die letzten Vorbehalte mir selbst gegenüber zu opfern. Ich habe Teilwahrheiten ausgesagt, um mich zu schonen und um mir einen Rückzug zu sichern. Wenn ich auf dem Weg war, mich ungeteilt zum Gegenstand der Untersuchung zu machen, brach ich vorzeitig ab. […] In anderen Kunstarten können Gleichnisse gefunden werden, Musik und Bilder stellen zusammengedrängte Kunstblöcke dar, die jeder auf seine Weise ausdeuten kann. Beim Schreiben aber wird die Forderung immer absoluter, dass die Worte genau und konkret die innersten Erfahrungen ausdrücken, und es scheint mir besser, garnicht zu schreiben, als etwas, was zur Sprache kommen will, zu verleugnen. Wenn ich es wage, fortzusetzen, dann ist die Kindheit meines Schreibens vorüber, mit ihrer Unsicherheit und ihren Wünschen nach Anpassung, und ihr selbständiges Dasein könnte beginnen.
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Die Inszenierung von Erinnerung, so heißt es explizit in Fluchtpunkt, ist ein Ausdruck der Notwendigkeit, sich von inneren Zwängen zu emanzipieren und gleichzeitig diesen Erinnerungen mit objektiver Distanz zu begegnen. Fast zwanghaft fühlt sich der Erzähler von Fluchtpunkt veranlasst, seine Erinnerungen an die Jugendjahre niederzuschreiben. Der Erzähler ist kaum in der Lage, sich dem Drang der Vergangenheit zu entziehen: „Augenblicke, die weit zurückliegen, nehmen blendende Helle an, werden übermächtig, und ich muß wieder in sie hinein, in meiner Gegenwart[.]“114 Diese Aussage kontrastiert allerdings mit anderen Aussagen über Erinnerung in Abschied, so dass der Erzähler letztendlich zwei entgegengesetzte Positionen in Bezug auf den Erinnerungsprozess einnimmt. Die andere Position veranschaulicht der Erzähler durch folgende Reflexion: […] und wieder sitzt Cora vor mir, an der Rampe der Bühne, […] und ich stürze weiter und jahrelang, ein Jahrzehnt lang, legen sich neue Augenblicke darüber, neue Erfahrungen, und ich peile sie aus, verfälsche sie, benutze sie für meine gegenwärtigen Absichten, suche nach Spuren in ihnen, die in die heutige Stunde führen, in der ich körperlich vor115
handen bin, hier in meinem Arbeitsraum, durch dessen Fenster ich in die Stadt blicke.
113 PWA 2327. „Die restlose Wiedergabe der Wahrheit ist möglich“. 114 Ebd., S. 288. 115 FP, S. 289.
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Fluchtpunkt unterscheidet sich von Abschied durch die relativ langen Ausführungen zur Problematisierung des Erinnerungsaktes. Manchmal, wie im oben angeführten Zitat, vermitteln diese Reflexionen ein gewisses Maß an Unsicherheit hinsichtlich der Zuverlässigkeit des Erinnerten. Neben den bisher genannten Impulsen, die für das Niederschreiben der Erinnerungen des Erzählers in Abschied gelten, gibt es noch einen Anlass zum Erzählen in Fluchtpunkt. Diesen formuliert der Erzähler mit folgender melancholischer Reflexion: Immer liegt ein Zuspät im Aufzeichnen, ein Ersatz für etwas Verlorenes. Ich sprach mit Max, als er weit entfernt war, in seinem Hotelzimmer in New York, als er wieder in seinem Wäldchen war und dem Max Bernsdorf, den ich aus den Stockholmer Tagen kannte, nicht mehr glich. Hoderers Stimme kam mir erst nah, als er schon tot war, und mit den Stimmen meiner Eltern setze ich mich auseinander, als sie selbst zu Asche verwandelt in der Erde lagen.
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Die Literatur beansprucht nur bedingt einen Wert: Als Ersatz für das wirkliche Leben kann demgemäß das Schreiben nur eine begrenzte Gültigkeit beanspruchen. Die Trauer des Erzählers und dessen emotionale Gebundenheit gelten hier dem versäumten Kontakt mit Menschen, die für ihn wichtig waren. Der Prozess des Schreibens wird zum Ersatz für etwas Verlorenes, das nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Die Intimität mit den Eltern stellt sich erst ein, wenn sie tot in der Erde liegen. Damit knüpft Weiss thematisch an den Anfang von Abschied an, wo es heißt: „die Trauer galt dem Versäumten, und des Zuspät, das uns Geschwister am Grab überlagerte.“117 Es wurde ferner berichtet, dass das Unbehagen des Erzählers an seiner Kindheit und Jugend zur Niederschrift von Abschied führte. Dasselbe dürfte angesichts der analogen Textstelle für die Erzählmotivation in Fluchtpunkt zu gelten. Die Erinnerung bietet für den Schreibenden eine Möglichkeit, Versäumtes nachzuholen, indem es zu einer imaginären engen Verbindung mit „Portalgestalten“ in seinem Leben kommt.118 Der Erzähler steht wie in Abschied nicht mit abgeklärter Distanziertheit zum Erinnerten, aber immerhin ist er durch die zeitliche Distanz zu den Erinnerungen in der Lage, die Begebenheiten rational zu ordnen und in einen Kontext zu stellen. Seine alten Bücher, die er zufällig vor dem Verkauf gerettet hat, liegen wie „geolo-
116 FP, S. 286. 117 AE, S. 59. 118 Vgl. hierzu auch Helmut Lüttmann, Die Prosawerke von Peter Weiss, S. 255.
110 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT gische Schichten“ herum.119 Die Verknüpfung mit seiner früheren Identität, die die Bücher konstituiert hatten, wird somit mit archäologischen Metaphern verbildlicht: „Hier liegen die Reste aus früheren Zeitabschnitten, geologische Schichten, mit den Abdrücken von Bildern und Zeichen.“120 Die Metapher der archäologischen Schichten trifft auch auf den Erinnerungsprozess zu, da Weiss langsam erinnerte Schichten ablegt, um das „Herausschälen einer eigenen, untrennbar mit der Sprache verbundenen Ordnung zu dokumentieren.“121 Die Unzuverlässigkeit, die der Erzähler gelegentlich signalisiert – man denke an seine Erinnerungslücken und an seine Absichten, das Erinnerte zu seinen Vorteilen auszunutzen – kommt auch in folgendem Zitat zum Ausdruck: Als der, der ich heute bin, vergegenwärtige ich mir die lebendigen Augenblicke, die immer übermächtig waren, die sich nie ausschöpfen ließen, deren Forderungen ich nie erfüllen konnte, und die immer weitere Wellenkreise in mir warfen. […] Nur Cora weiß, wie ich war, als ich nackt neben ihr lag, im nächtlichen Hotel. Nur Max weiß, wie ich war, als ich in sein verrauchtes Pensionszimmer eintrat, und er sieht mich noch so, wie ich auf dem 122
befremdeten Foto vor dem Zirkus erscheine.
Der Tenor dieser Passage impliziert, dass nur das im Gedächtnis haften bleibt, was einen starken Eindruck hinterlassen hat und somit nur bedingt glaubwürdig ist.123 Darüber hinaus behauptet der Erzähler, dass nur die Freunde und Freun-
119 Zu vergleichen ist diese Technik des Erinnerns mit Christa Wolfs Roman Kindheitsmuster. Dort wird der Erinnerungsakt ebenfalls mit der Metapher der geologischen Schichten veranschaulicht: „In der Nacht vor diesem Hitzetag, vor dem kurzen Morgenschlaf, als dir alles klar war, sahst du auch ein, daß man unerschrocken und sogleich behutsam würde vorgehen müssen, um die geologischen Schichten (bis hin zum Tertiär) abzutragen.“ Siehe Christa Wolf, Kindheitsmuster, S. 208f. 120 FP, S. 289. 121 Vgl. Michaela Holdenried, „Mitteilungen eines Fremden“, in: Gunilla PalmstiernaWeiss, Jürgen Schutte (Hrsg.), Peter Weiss: Leben und Werk, S. 163. 122 FP, S. 286. 123 Weiss’ Archäologie der Bilder aus der Kindheit weist Reminiszenzen zu den Kindheitsbeschreibungen von Christa Wolf auf. In Kindheitsmuster (1976) thematisiert Wolf wie Weiss die Unzuverlässigkeit des Erinnerungsprozesses. Der autobiographische Roman beschreibt die Kindheit der Autorin in Nazideutschland und ihren blinden Glauben an die Ziele der Nationalsozialisten. Die Erzählerin in Kindheitsmuster stellt bald fest, dass auf Grund der zeitlichen und emotionalen Distanz zum Erinnerten inzwischen unmöglich geworden ist, die Kindheitserinnerungen zu re-
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dinnen, die ihn damals beobachtet haben, ein objektives Bild über ihn vermitteln können. Zweck ist hier, die Unzulänglichkeit bei der Erfassung des Erlebten in Fluchtpunkt zu dokumentieren und den Akt des Erinnerns zu problematisieren. Charakteristisch für Fluchtpunkt ist ein „Sichzurücksuchen“ in die wiedergefundene Sprache. Doch dieses Zurücksuchen in die eigene Vergangenheit zielt nicht nur auf die Rekonstruktion der Identitätsgenese, sondern umfasst auch psychoanalytische Einsichten in die eigene Verstörung. Demgemäß werden die Erinnerungen des Erzählers getrübt vom „Schutt der Vorurteile“, verseucht vom bürgerlichen Milieu, in dem er aufgewachsen ist und von der Erziehung. Mit dieser veränderten Ausrichtung des Erinnerungsaktes knüpft Weiss gattungsgeschichtlich an den psychologischen Roman Anton Reiser von Karl Philipp Moritz an.124 Meine Freiheit, diese Augenblicke nach meinen Eingebungen zu verändern, ist unbegrenzt. Wie ein Blinder kann ich eintreten in das Zimmer, in dem Max im Bett lag, und aus dem schwelenden Grau kann ich einen Schrank, einen Tisch und die Gardinen am Fenster hervortreten lassen, ich kann mir die Palmenkübel draußen in der Halle denken, und Erika, in ihrem blauen, ärmellosen Kleid, ich kann Formen, Farben, Gerüche, Bewe-
konstruieren. Diese resignierte Haltung bedeutet zugleich eine Problematisierung des Ich-Erzählers als glaubwürdige Erzählinstanz. Die Ich-Erzählerin Nelly arbeitet nach dem „Inselprinzip“, indem sie keine zuverlässigen Erinnerungen evoziert, nur Medaillons, Tableaus und befestigte Bilder. Ihre Vergangenheitsbewältigung beschränkt sich auf das „Inselprinzip“ und lautet: Vergessen, Verfälschen: „Nicht nur trennen dich von ihm [das Kind] die vierzig Jahre; nicht nur behindert dich die Unzuverlässigkeit deines Gedächtnisses, das nach dem Inselprinzip arbeitet und dessen Auftrag lautet: Vergessen! Verfälschen! […] Er [der erwachsene Mensch] hat es hinter sich gelassen, beiseite geschoben, hat es vergessen, verdrängt, verleugnet, umgemodelt, verfälscht, verzärtelt und vernachlässigt, hat sich seiner geschämt und hat sich seiner gerühmt, hat es falsch geliebt und hat es falsch gehaßt. Jetzt, obwohl es unmöglich ist, will er es kennenlernen.“ Christa Wolf, Kindheitsmuster, S. 14. Zu diesem Thema, siehe auch Sabine Wilke, Ausgraben und Erinnern: Zur Funktion von Geschichte, Subjekt und geschlechtlicher Identität in den Texten Christa Wolfs, (= Epistemata: Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 110) Würzburg 1993, S. 48f. 124 Im Jahr 1950 hat Weiss selbst eine psychoanalytische Behandlung abgeschlossen, was sich laut Michaela Holdenried in Abschied und in Fluchtpunkt „in literarisches Material umgemünzt“ hat. Siehe Michaela Holdenried, „Mitteilungen eines Fremden“, in: Gunilla Palmstierna-Weiss, Jürgen Schutte (Hrsg.), Peter Weiss: Leben und Werk, S. 164f.
112 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT gungen vor mich hinzaubern und ihnen Wahrheit zusprechen, selbst wenn alles anders war. Nur Cora, Max, Else, Edna, Hoderer, Karl Kurz sahen mich, wie ich wirklich war […] halb taub, halb blind unter dem Schutt der Vorurteile, verseucht von einem Milieu, von einer Erziehung.
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Hier wird wieder die Zuverlässigkeit des Erzählers in Frage gestellt: Dieser behauptet etwas selbstgefällig, dass er das Zimmer seines Freundes Max selbst im blinden Zustand restlos rekonstruieren kann, er kann Gerüche, Farben und Formen hervorzaubern und nach seinen Absichten beliebig verändern, „selbst wenn alles anders war.“126 Abschied von den Eltern stellt nicht nur ein Schlüsselwerk für die Konsolidierung eines neuen, dominierenden Typus der autobiographischen Prosa in Deutschland dar. Raum und Erinnerung sind darin tief miteinander verbunden und spiegeln wie später in der Ästhetik des Widerstands die Stationen des Exilanten Peter Weiss: Bremen, Berlin und Stockholm bilden die Schauplätze des literarischen Universums. Auch werkgeschichtlich ist Weiss’ frühe autobiographische Prosa von Belang: Hier wird nicht nur das Verhältnis des Ich-Erzählers zu seiner bürgerlichen Herkunft problematisiert, sondern der Grundstein zur „Wunschautobiographie“, wie Weiss die proletarische Subjektwerdung des IchErzählers in der Ästhetik des Widerstands beschreibt, gelegt.
125 FP, S. 287. 126 Wie Steffen Groscurth bemerkt, wird in Fluchtpunkt ein räumliches Modell der Enge etabliert, das in der Ästhetik des Widerstands erneut erprobt wird. Vgl. Steffen Groscurth, Fluchtpunkte widerständiger Ästhetik, S. 347. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Besuch des Erzähler-Protagonisten im Haus seiner Eltern, denen er durch seinen alternativen Lebensstil gründlich entfremdet ist. Die räumliche Enge durch die bürgerlich-überladene Möblierung des „Damenzimmers“ entspricht der Enge des familiären Zusammenlebens. Die Eltern und der Sohn sind durch das Mobiliar bedrängt. Diese Bedrängung ist sowohl physisch als auch psychisch zu verstehen: „Die Lehnen der Stühle, auf denen meine Eltern Platz genommen hatten, waren zu steil, und die geschwungene Sofawand drückte sich in meinen Rükken. Der Tisch stand zu nah, konnte aber nicht abgeschoben werden, da sonst alles im Zimmer durcheinandergeraten wäre, der Teppich, das Tischchen mit der hohen Porzellanlampe, der Nähtisch mit der offenen Schublade, der Fußschemel, der hohe geschnitzte Schreibtischstuhl, bezogen mit einem Gobelinmuster, das meine Mutter selbst nach alten englischen Vorlagen gestickt hatte, zudem war die Tischkante gegenüber fest an die Knie meiner Eltern geklemmt.“ Vgl. FP, S. 274.
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2.3 E RINNERUNG
ALS KÜNSTLERISCHES UND POLITISCHES K ONZEPT IM ESSAYISTISCHEN
W ERK
Der Essay stellt keine Gattung im herkömmlichen Sinne dar, sondern ein heterogenes literarisches Genre, das schwer definierbar ist. Bereits der etymologische Ursprung des Wortes deutet auf Unbestimmtheit hin. Das französische Wort essai, das aus dem Spätlateinischen exagium (Prüfung, Abwägen, Gleichmaß) herleitet, bedeutet Überprüfung, Verifizierung, Experiment, Versuch, Probelauf oder „literarisches Prosawerk von sehr freier Gestaltung, das eine Thematik behandelt ohne sie zu erschöpfen, oder verschiedene Artikel miteinander verknüpft“.127 Klar ist, dass sich der Essay in einem literarischen Grenzgebiet zwischen Literatur und Philosophie oder Literatur und wissenschaftlicher Theorie bewegt. Unter den offenen, mit dem Essay verwandten literarischen Formen rechnet demgemäß Bruno Berger das Feuilleton, den Brief und das Tagebuch.128 Die Länge eines Essays ist nicht eindeutig festgelegt. Im Extremfall kann er wie eine Kurzgeschichte konzipiert sein, wie etwa Virginia Woolfs The Death of the Moth. Zu den Hauptmerkmalen des essayistischen Diskurses zählen laut Peter V. Zima Nichtidentität von Subjekt und Objekt, Erfahrung, Ambivalenzbewusstsein, Selbstreflexion, Offenheit und Dialog; der Essay fordert den Autor immer wieder heraus, seine Stellungnahme zu relativieren.129 Zudem zeichnet sich der Essay häufig durch eine Verbindung zwischen Kritik und Utopie aus. Mittlerweile herrscht eine inflationäre und verwirrende Anzahl von Definitionen des Begriffs Essay, der als Oberbegriff nichtfiktionaler Prosa scheinbar beinahe alles umfassen kann. Dies hat Christian Schärf dazu veranlasst, von einer Kapitulation der Literaturwissenschaft hinsichtlich der Heterogenität der Gattung zu sprechen: „Genau besehen wird beinahe alles zum Essay. Dokumentarfilme werden zu Filmessays, es entsteht der Essayroman und der Romanessay; das essayistische Gedicht, der Versessay […] [.] Heute kann man den Eindruck gewinnen, dass der Essay allgegenwärtig ist.“130 Solche und ähnliche Definitionen sind insofern problematisch, da sie den Begriff Essay zu einem Umbrella-Terminus für beinahe alles Geschriebene ausdehnen. Diese breite Definition macht eine
127 Vgl. hierzu Peter V. Zima, Essay/Essayismus: Zum theoretischen Potenzial des Essays: Von Montaigne bis zur Postmoderne, Würzburg 2012, S. 5. 128 Vgl. Bruno Berger, Der Essay: Form und Geschichte, Bern und München 1964, S. 33, S. 37. 129 Ebd., S. 23-30. 130 Christian Schärf, Geschichte des Essays. Von Montaigne bis Adorno, Göttingen 1999, S. 7.
114 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Untersuchung des Essays belanglos, da der Begriff dadurch seine ursprüngliche Bedeutung verliert. Dass der kritische Charakter des Essays vor allem in den Werken Nietzsches, Baudelaires und Dostojewskijs begründet wird, ist wohl kein Zufall. Im 19. Jahrhundert, im Zeitalter der Industrialisierung, der Konsolidierung von Großkonzernen und der Massengesellschaft, entsteht der kritische Intellektuelle, der auf diese Phänomene reagiert und in ihnen eine akute Gefahr des Individuums sieht. Der kritische Intellektuelle wendet sich von der formierten Massengesellschaft ab und versucht, das „sterbende Individuum“ (Paul Valéry) durch radikale Kritik zu retten. Dabei ist das bevorzugte Medium der Essay, der durch seine vornehmsten Merkmale, Reflexion, Kritik, Ironie und Dialog die Rettung des Individuums in einer entmenschlichten Gesellschaft ermöglichen soll.131 Der Essay wird in der vorliegenden Studie in Anlehnung an Reinhard Nickisch folgendermaßen definiert: Der Essay ist ein subjektiv gestaltetes und stilästhetisch durchformtes abgeschlossenes Stück nichtfiktiver Prosa, das prinzipiell weder thematisch noch tendenziell eingegrenzt ist und seinen Gegenstand in aller Regel kritisch-skeptisch, intuitiv-assoziativ, facettenreich und oft auch mehr oder minder dialogisch (nicht aber methodisch, systematisch und er132
schöpfend wie etwa Traktat oder Abhandlung) behandelt.
Zu den zahlreichen Intellektuellen, die im 20. Jahrhundert den Essay als kritisches Instrument erprobt haben – gehört neben Robert Musil, Heinrich Mann, Jean Paul Sartre, Theodor Adorno und Herbert Marcuse – auch Peter Weiss. Seine Essays, die 1968 und 1971 in zwei Bänden erschien, nannte Weiss „Rapporte“. Die Bände enthalten aber nicht nur Berichte, sondern auch Reden, politische Stellungnahmen, offene Briefe und Essays. Der erste Band enthält neun kürzere Texte, die 1960 bis 1965 in literarischen Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht wurden. Der zweite Band mit seinen dreizehn Pamphleten zum aktuellen politischen Diskurs hat einen ausgesprochen kritischen Charakter. Die Notizbücher, die in zwei Teilen veröffentlicht wurden, bieten eine Art Fortsetzung der Rapporte, aber in verkürzter Form. Eine Sammlung essayistischer Arbeiten liegt mit Rekonvaleszenz vor, einem Buch, das während eines Kran-
131 Peter V. Zima, Essay/Essayismus: Zum theoretischen Potenzial des Essays: Von Montaigne bis zur Postmoderne, S. 29f. 132 Vgl. Reinhard Nickisch, „Der Brief und andere Textsorten im Grenzbereich der Literatur“, in: Heinz Ludwig Arnold, Heinrich Detering (Hrsg), Grundzüge der Literaturwissenschaft, München 1996, S. 357-364, hier S. 360.
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kenhausaufenthaltes nach dem ersten Herzinfarkt 1970 entstand. Darin äußert sich Weiss zur Tagespolitik, Kunst und Literatur aber auch zu spezifisch schwedischen Phänomenen, etwa dem Abriss der alten Bausubstanz Stockholms. Gerade das essayistische Werk des Autors ist in der Weiss-Forschung eher stiefmütterlich behandelt worden. So bildet eine Gesamtausgabe der Essays bis heute ein Desiderat der Forschung. Selbst die Rapporte-Bände sind Auswahlbände. Eine detaillierte Untersuchung des gesamten essayistischen Werkes kann im Rahmen dieses Buches selbstverständlich nicht geleistet werden. Ziel ist vielmehr, anhand eines signifikanten Materials das Verhältnis zwischen Raum und Erinnerung in einer Auswahl von Essays zu untersuchen: Avantgarde Film, Der Traum des Briefträgers Cheval, Gegen die Gesetze der Normalität, Meine Ortschaft sowie verschiedene Publikationen zum Themenkomplex Vietnam, die Notizbücher und schließlich Rekonvaleszenz. Ein wichtiges Anliegen dieses Abschnitts besteht darin, die künstlerische und politische Entwicklung des Autors anhand seiner bisher unbekannten schwedischen Essays zu untersuchen. Die kritische Hinterfragung von Zeit und Raum wird im Buch Avantgarde Film (schw.: 1956; dt.: 1995) thematisiert. Dies kommt paradigmatisch in Weiss’ Analyse von Jean Cocteaus Film Le sang d’ un poète (1930) zum Ausdruck. In den surrealen Szenen des französischen Filmemachers sieht Weiss ein filmisches Pendant zu Hesses Steppenwolf: „Er unternimmt etwas ähnliches wie Hermann Hesse im Steppenwolf: in einem tranceähnlichen Zustand, außerhalb des gewohnten Zeitkontinuums, wird er Zeuge einer Reihe von Szenen aus einer sonderbaren Theatervorstellung.“133 Dies äußert sich konkret darin, dass die Dimensionen des Raumes gesprengt werden, und die Gravitationsgesetze damit aufgehoben werden. Bei einer Szene in Cocteaus Film ist ein kleines Mädchen zu sehen, das bei seiner Gouvernante „Fluglektionen“ nimmt. Damit werden die Gesetze der Realität und der Schwerkraft verletzt. Diese Hinterfragung des Raumund Zeitkontinuums des frühen Surrealisten Weiss wird in der Ästhetik des Widerstands bei einer surrealen Flugszene des Protagonisten thematisiert und gewinnt insofern auch Bedeutung für das Spätwerk. Die Zeitlosigkeit, das Verhaftetsein des Dichters in der Vergangenheit kommt schon in der ersten Szene zum Ausdruck. Der Protagonist steht an einer Staffelei, halbnackt wie ein Athlet, doch mit einer Perücke aus dem 18. Jahrhundert; er ist dabei, ein Frauengesicht zu zeichnen. Er arbeitet naiv, naturalistisch, dilettantisch – doch plötzlich entdeckt er das Magische in seinem Künstlertum: der gezeichnete Mund wird lebendig.
133 Weiss, Avantgarde Film, S. 59. 134 Ebd., S. 59.
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116 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Das Scheitern dieser surrealistischen Kunstströmung und deren Einverleibung in das juste milieu des kommerziellen Kunstbetriebs ist Thema des Pariser Journals: „Diese Werke, die das Gewohnte niederreißen wollten, die den Blick öffnen wollten zu einem ungebundenen Lebenszustand, die die Fragwürdigkeit, den Wahn der äußeren Normen spiegelten, stellten sich konserviert in gepflegten Räumen dar und ließen sich aus bequemen Plüschsesseln betrachten.“135 Mit Abscheu wird konstatiert, dass die surrealistische Kunst, die einst „die Kraft von Sprengbomben hatte“, das Interesse am „Wilde[n] und Unbändige[n]“ verloren hat. Die Produzenten der Kunst bei einer Vernissage, so der Erzähler, schauen sich ihre eigenen Bilder an, „kotzen aus Übelkeit über den eigenen Gestank, servieren die Kotze parfümiert“ und trinken Cocktails mit den Besuchern.136 Und aus dem einst revolutionären Wortführer der Surrealisten, André Breton, ist ein durchaus gesitteter und arrivierter Salonlöwe geworden. Auch die bewunderten Kunstwerke Jean Tinguelys, die einst das Potenzial entfalteten, „Kunst nur als Handlung“137 zu rechtfertigen, werden in Galerien zur Schau gestellt, „mit festgesetzten Preisen.“138 Selbstkritisch räumt auch Weiss ein, dass er als Autor von Fluchtpunkt den Markt willig bedient hat und dass sein Buch eine „Handelsware“139 geworden ist. Selbst ein Konzeptkünstler wie Daniel Spoerri habe sich dem Markt angepasst und repräsentiere im Zerrspiegel die Erhaltung einer alten Ordnung. Als einziger künstlerischer Lichtpunkt gilt das kompromisslose Schreiben Samuel Becketts, der die Ansicht vertrat, es würde vielleicht bald ein einziges Schweigen geben. Vor allem fasziniert Weiss Becketts radikale Sprachkritik, seine Fähigkeit, das Mimetische an der Sprache fast gänzlich abzustreifen und bis hin zur Grenze des Unsagbaren vorzustoßen: „Jedes seiner Bücher schien ja das letzte Aussagbare zu enthalten, und dann gelang es ihm doch wieder, noch weiter vorzustoßen.“140 Im Auftrag einer schwedischen literarischen Zeitschrift interviewte Weiss Beckett mehrere Stunden in dessen Pariser Wohnung.141 Das Gespräch fiel etwa
135 R, S. 83. 136 Ebd., S. 84f, hier S. 84. 137 R, S. 89. 138 Ebd., S. 88. 139 Ebd., S. 87. 140 Ebd., S. 93. 141 Vgl. hierzu die Memoiren von Gunilla Palmstierna-Weiss, Minnets Spelplats, Stockholm 2013, S. 148f. Zu Weiss’ schwedischen Essays siehe Gustav Landgren, „‚Weiter kann man kaum noch gehen, um zu veranschaulichen, dass das, was man
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in die Zeit, als der Artikel „Der fragende Mensch“ entstand, eine Rezension zu Becketts Roman Watt, die in der schwedischen Abendzeitung Expressen am 7. Dezember 1953 erschien. Darin rühmt Weiss, ähnlich wie im Pariser Journal, den Zweifel an der Mimesis in Becketts Werk. Der in Paris wohnhafte Ire spricht laut Weiss in seinem Werk das „Unaussprechliche“ in „mathematischer Präzision“ aus. Seine Geschichten seien eigentlich „unerzählbar“: Die radikale Verneinung der Wirklichkeit sei mit einer Detailbesessenheit verbunden, indem einzelne Gegenstände minutiös beschrieben werden. Diese Diskrepanz zwischen Kritik an der Wirklichkeit und unwahrscheinlicher Detailbeschreibung vermittelt den Eindruck, als höre man einem „Irren“ zu: Weiter kann man kaum noch gehen, um zu veranschaulichen, dass das was man erzählen will eigentlich unerzählbar ist. Aber Beckett kleidet dieses Unartikulierte, Unaussprechliche in eine Form von mathematischer Präzision. Während es einerseits die völlige Entrücktheit, das absolute Abstandnehmen von der Wirklichkeit gibt, gibt es andererseits eine Detailschilderung der Wirklichkeit von besessener Präzision, mit Perspektiven und Beleuchtungen von allen Seiten zum dröhnenden Takt einer Ewigkeitsmachine. Diese doppelte Perspektive beunruhigt und verwirrt, die Nerven sind manchmal bis zum Unerträglichen gespannt – es ist, als würde man einem Irren zuhören – aber die ganze Zeit ahnt man ein System; auch wenn immer nur von einer Tür, einem Stuhl, einem Schuh die Rede ist, gerät man in eine fesselnde Spannung. Es wird z.B. häufig von mr. Knotts Bekleidung geredet: Manchmal hat er eine Socke auf jedem Fuß, oder eine Socke auf dem einen Fuß und einen Strumpf auf dem anderen, oder einen Stiefel oder einen Schuh oder eine Socke und einen Pantoffel oder einen Strumpf und einen Schuh oder einen Strumpf und einen Pantoffel oder nichts usw. Oder als Watt einmal drei Frösche Krak! Krek! und Krik! quaken hörte.
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erzählen will, eigentlich unerzählbar ist.‘ Die schwedischen Essays von Peter Weiss“, in: Weimarer Beiträge 60 (2014) H. 3, S. 426-441. 142 Weiss, „Den frågande människan“, in: Expessen, Stockholm, 7.12.1953, S. 4. (Übersetzung, G.L.) Die schwedischen Essays des Autors belegen eine zunehmende Integration von Peter Weiss in den schwedischen Kulturbetrieb der 1950er Jahre. Vgl. hierzu Wiebke Annik Ankersen, „Ein Querschnitt durch die Lage“: Die Situation und die schwedische Prosa von Peter Weiss, St. Ingbert 2000, S. 181. Weiss’ Buchbesprechungen der 1950er Jahre sind wie Rolf D. Krause gezeigt hat, eher als „symbiotischidentifizierende als kritisch-rezensierende“ Berichte zu betrachten. Vgl. hierzu Rolf D. Krause, „Peter Weiss in Schweden. Verortungsprobleme eines Weltbürgers“, in: Rainer Gerlach (Hrsg.), Peter Weiss, S. 67.
118 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Noch in den 1950er Jahren glaubte jedoch Weiss an die künstlerische Kraft der surrealistischen Bewegung. Davon zeugt nicht zuletzt ein Typoskript im Peter Weiss Archiv der Akademie der Künste in Berlin. Das zehn Blätter umfassende Typoskript ist, noch ohne Titel, auf Schwedisch verfasst und wird nach seinen Anfangsworten archiviert: „Skulle jag vara riktigt konsekvent…“ („Wenn ich richtig konsequent wäre“). Offenbar handelt es sich um ein undatiertes Vorlesungsmanuskript über den Surrealismus. Von Belang ist es für die WeissForschung insofern, als es einigen wichtigen Themen des Gesamtwerks des Autors vorgreift. Hinzu gehören u.a. das Motiv des Grabens, die Hervorhebung des Irrationalen und Traumhaften und die Bedeutung von Cheval und Strindberg für das Werk (vgl. unten) sowie ein allgemeiner kulturkritischer Impetus. Doch wichtiger ist vielleicht die Akzentuierung der künstlerischen Mittel des Surrealismus, die als beispielhaft dargestellt werden. Der Surrealismus ist noch in der Lage zu provozieren; man kann die einfachsten Gegenstände provokant machen, z.B. eine Kaffeetasse in ein Stück Haut einkleiden. Dann regt sich beim Zuschauer ein Gefühl von Unmut, wie „ein ziemlich grausamer Aufschrei“. Ziel ist es, den Lebensstil des Zuschauers zu hinterfragen. Das Leben als etwas Veränderliches, Fantastisches und Mannigfaltiges zu betrachten, trifft den Kern des Surrealismus: Eine Tasse ist an sich nichts Merkwürdiges, auch nicht ein Stück Fell. Aber eine Tasse, eingekleidet in ein Stück Fell, zusammen wirken sie wie ein ziemlich grausamer Aufschrei, der vielleicht folgenden Sinn ergibt: Halt ein, bevor du deinen Kaffee trinkst, warte ein bisschen, wie lebst du eigentlich? Dies verdirbt uns den Appetit, es stellt unsere Geborgenheit in Frage. Nun kann man sich ja fragen: Warum sollte unsere Geborgenheit in Frage gestellt werden, warum sollten wir uns überhaupt solche Schocks antun? Aber dann antwortet der Dadaist und der Surrealist: Ihr seid gar nicht so geborgen, wie ihr euch einbildet, seht euch nur an, wie die Welt um euch herum beschaffen ist (und dies ist, wie gesagt, mindestens so aktuell heute wie vor dreißig Jahren), ihr seid im Grunde genommen ängstlich, ohne Fantasie und Spontaneität, eigentlich führt ihr ein ziemlich langweiliges und armes Leben. Dieses Gefühl von Sicherheit, das lähmt euch nur noch, es wäre besser, ihr würdet dieses Gefühl verwerfen und stattdessen das Leben als etwas Veränderliches, Fantastisches und Mannigfaltiges sehen! Und dann – wenn wir so weit wären, dann sind wir auf den Kern des Surrealismus gestoßen.
143
143 Vgl. PWA 2005; der Text ist im Anhang dieser Arbeit vollständig abgedruckt und ins Deutsche übersetzt.
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Ist der erste Teil des Pariser Journals eine Kritik an dem zeitgenössischen Kunstbetrieb, sind die beiden folgenden Abschnitte eine Sprachübung in minutiöser Beschreibungskunst. Erzählt wird von einem Aufenthalt des Autors mit seiner Frau Gunilla Palmstierna (im Text Inez genannt) in Frankreich. Die Beschreibungen des Erzählers zielen auf eine beinahe photographisch genaue Wiedergabe der Außenwelt, eine Technik, die in der Ästhetik des Widerstands zum Einsatz kommt. Schon hier kündigt sich jener realistische „Paradigmenwechsel“ zugunsten einer Hinwendung zu den Begebenheiten und Dingen der empirischen Außenwelt an, den Robert Cohen hinsichtlich Weiss’ Beschreibungskunst Anfang der 1960er Jahre attestiert hat.144 Das Tor zur Straße war geöffnet worden, nach dem knirschenden Geräusch war es still, der Garten lag reglos, ein Garten am äußersten Rand von Malakoff, der Maler Vilard hatte hier ein Jahrzehnt gelebt, und in seinen Bildern gab es das gleiche Spiel von Licht und Schatten, das hier in diesem verwachsenen Landschaftsstück, in dieser breiten, verstaubten Fensterebene, und drinnen auf den schräg abfallenden Wänden lebte, es war ein einheitlicher geschlossener Raum, gebildet aus dem kubischen Innern hinter der Glaswand und der schmalen langgestreckten bewachsenen Tiefe davor, doch es wartete alles auf den Verfall, 145
es hielt den Atem an, es rieselte von Staub und feinen Sandkörnern
Der Essay Aus dem Kopenhagener Journal wurde erstmals im Jahresring (Stuttgart 1962, S. 224-239) veröffentlicht. Der Text beinhaltet dokumentarische Aufzeichnungen eines Kopenhagener Aufenthalts des Autors.146 Die Konzipierung des Essays fällt in die Zeit, als Weiss an dem Filmprojekt Bag de ens facader im Auftrag des dänischen Filminstituts arbeitete. Gleichzeitig schrieb Weiss den Roman Fluchtpunkt, ein „Buch über die Kriegsjahre“147, wie es im Journal heißt. Ähnlich wie der Roman Fluchtpunkt ist Weiss’ Essay ein Versuch, eigene Erlebnisse in literarisches Material umzuwandeln. Im Zentrum seines Interesses stehen die Dreharbeiten zu seinem Filmprojekt Bag de ens facader in Kopenhagens neu errichteten Vororten. Weiss’ sozialkritische Reportage der Wohnverhältnisse in der Kopenhagener Vorstadt ist als Kritik an der Belanglosigkeit der
144 Robert Cohen, Peter Weiss in seiner Zeit, S. 93. 145 R, S. 100. 146 Eine vollständige kritische Aufgabe des Kopenhagener Journals (1960/61) wurde 2006 von Rainer Gerlach und Jürgen Schutte herausgegeben. Vgl. Peter Weiss, Das Kopenhagener Journal. Kritische Ausgabe, hrsg. von Rainer Gerlach und Jürgen Schutte, Göttingen 2006. 147 R, S. 52.
120 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT modernen Konsumgesellschaft intendiert. Geschildert werden Erlebnisse in einem schäbigen italienischen Restaurant, Straßeneindrücke und ein Besuch beim Friseur. Das Prosastück besteht auch aus Erinnerungsfragmenten des Erzählers an seine frühe künstlerische Existenz im Stockholm der 1940er Jahre. Außerdem findet ein interessanter Auszug aus dem Tagebuch seiner Mutter Eingang in den Text. Erzähltechnisch bemerkenswert ist, dass Weiss den Text seiner Mutter, die er in extenso zitiert, bewertet und kommentiert. Somit werden zwei Erzählebenen geschaffen, wobei der Erzähler sich von den Eindrücken und Erlebnissen seiner Mutter nachträglich distanziert. Ihm kommen die Interieurs seltsam vertraut vor. Der Autor-Protagonist erlebt seine Kindheit wieder, als er in die Wohnungen der Menschen eintritt, deren Leben er dokumentiert. Er ist auf einmal wieder der verlorene Sohn: In meinem Zimmer beschäftigte ich mich während der Abendstunden und freien Tagen mit den Vorarbeiten zu einem Buch über die Kriegsjahre. Die einzigen Angaben von Daten, die ich über diese zwanzig Jahre zurückliegende Zeit erhalten kann, entnehme ich den Almanachen meiner Mutter, die ich von der Auflösung des Heims her gerettet habe. In den hohen schmalen Büchern verzeichnet sie, neben Hinweisen auf ihre Hausarbeit und täglichen Mahlzeiten, hier und da Ereignisse, die mir Aufschluss über meine Vergangenheit geben. […] Das Ermüdende in meinen täglichen Untersuchungen liegt darin, dass ich jeden Eindruck zunächst aus einer Hülle von Langeweile und Verblödung herausschälen muss. Um zu dem Unbekannten zu gelangen, muss ich erst das Allzubekannte überwinden. Bei jedem Eintritt in eine Wohnstätte befinde ich mich in der Situation des verlorenen Sohns.
148
Der Erzähler heuchelt Aufmerksamkeit vor bei den Interviews mit den Bewohnern. Vergeblich versucht er, hinter der materiellen Oberfläche der Konsumgesellschaft ein „Zeichen ihres wirklichen Daseins“ zu finden (R 54). Was er bei den Anwohnern findet, ist allerdings ein tiefes Einverständnis mit der monotonen Lebenssituation. Ein wichtiges ästhetisches Merkmal im Kopenhagener Journal ist das Schauen. Der Berichterstatter Weiss beschreibt penibel die Wohnungen seiner Studienobjekte, v.a. die Kunstwerke, die sich in ihnen befinden. Seine Beobachtungen zielen auf eine ethnologische Darstellung der Wirklichkeit anderer Menschen.149 Diese Wirklichkeit korrespondiert mit der Darstellung des Raumes. So fallen z.B. dem Erzähler beim Besuch bei einer alten Dame, die in ihrer Woh-
148 R, S. 53. 149 Vgl. Arnd Beise, Peter Weiss, S. 235.
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nung allein wohnt, ihre Gemälde ins Auge: „Über dem Radio hängt ein Bild, auf dem ein Hafen mit Schuppen und Segelschiffen zu sehen ist. Die Ölfarbe des Gemäldes ist von starkem Glanz. Über dem Sofa hängt ein großes Bild, auf dem Schubert am Flügel zu einem Schlag auf die Tastatur ausholt, umgeben von andächtigen Zuhörern in Biedermeierkleidung.“150 Das Sujet dieser Gemälde verweist zum Einen auf die eskapistische Sehnsucht des Erzählers weg von der Hochhaussiedlung, aber entspricht zum Anderen auch der Sehnsucht der im Rollstuhl gefesselten Dame nach Freiheit. Mit einem wissenschaftlichen Sprachduktus wird der Alltag der Menschen in den Hochhaussiedlungen beschrieben: „Die Einblicke in meinen Forschungsbereich zeigen mir Menschen, die einem ungeheuren Andrang von Forderungen ausgesetzt sind, die diese Forderungen aber mit Gelassenheit und selbst Zufriedenheit hinnehmen.“151 Die Zufriedenheit der Menschen wundert den Berichterstatter, er kann sich schlicht nicht vorstellen, wie man sich für ein Leben in den modernen Vororten entscheiden kann. Den relativen Wohlstand im Vorort und die Zufriedenheit der Anwohner erklärt Weiss mit der vermeintlichen Einebnung der Klassenunterschiede: Was mir verlogen erscheint, ist für die Siedler in diesen Betonblöcken Ausdruck eines erstrebenswerten Standards. Die soziale Umwälzung hat sich vollzogen. Arbeiter, Handwerker, Verkäufer, Beamte besitzen, was Ingenieure, Ärzte, Direktoren besitzen, die Gradualunterschiede in den Werten der Besitztümer sind gering. Die Güter der Zivilisation sind allen zugänglich. Der Kampf gegen Ausbeuter hat sich ins Ungreifbare verloren, weil alle Besitzende sind. Ein Idealzustand ist erreicht worden.
152
Wie bereits angedeutet erweckt der Besuch in der Hochhaussiedlung Erinnerungen des Erzählers an seine Vergangenheit. So kommt ihm bei der Lektüre von Kafkas Werken die Uraufführung seines Dramas Der Turm im Stockholmer Kellerstudio in den Sinn. Die Aufführung wurde von der Presse verrissen und der kleine „feucht-stickige“ Zuschauerraum erweckt beim Erzähler immer noch Angst. Die Wahl des Raumes, der Keller, ist nicht überraschend angesichts Weiss’ psychoanalytischer Therapiesitzungen. Der Keller ist, wie Gaston Bachelard bemerkt hat, „das dunkle Wesen des Hauses, das Wesen, das an den unterirdischen Mächten teilhat. Wenn man dort ins Träumen gerät, kommt man in Kontakt mit der Irrationalität des Tiefen.“153 Der Keller ist für C.G. Jung Raum der
150 R, S. 61. 151 R, S. 63. 152 R, S. 54. 153 Gaston Bachelard, Poetik des Raumes, S. 50.
122 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Angst und des Unbewussten, Chaotischen. Das Albtraumhafte, Unbewusste überwältigt den Erzähler bei der Aufführung seines Dramas, in dem er eine kleine Nebenrolle hat: Beim Lesen von Kafkas Niederschriften über die Vorstellungen der ostjüdischen Theatergruppe kam mir meine Aufführung im Stockholmer Kellerstudio in den Sinn. Im Herbst 1948 wurde dort mein Drama Der Turm gespielt, und von der Presse herabgerissen. In dem kleinen, feucht-stickigen Zuschauerraum saßen nur wenige Menschen. Die negative Haltung der Presse drückte sich während der wenigen Abende, an denen das Stück gespielt wurde, in einer stillen Verzweiflung im Spiel aus. Ich hatte an den ersten Abenden eine kleine Rolle übernommen und sollte als abstrakter, schwarz gekleideter Trommler während der Abschlusszene der Hauptfigur im Hintergrund stehen. Beide Male meines Auftretens waren von dem Schrecken geprägt, der sich in gewissen Theaterräumen einstellt, und in denen ich mich auf irgendeiner Bühne, in irgendeinem Drama befinde, ohne meine Repliken zu kennen, ohne zu wissen, um was es geht, und mich fieberhaft bemühte, etwas von meinen Aufgaben zu erfahren. Hier, auf der wirklichen Bühne, in einem wirklichen Spiel, vor wirklichen Zuschauern, merkte ich bei meinem ersten Auftreten plötzlich, dass ich vergessen hatte, mir die Brille abzunehmen, die jetzt, furchtbar störend, auf der 154
weißgeschminkten Gesichtsmaske saß.
Der Erzähler sieht sich als Außenseiter des Vororts, dessen Realität ihn fremd erscheint. Es ist durchaus bezeichnend, dass er Zuflucht sucht in der inneren Welt der Kunst in den Wohnungen, die er besucht. Ein Künstler, der besonders hervorgehoben wird, ist Jean Genet, der in seiner Kunst laut dem Erzähler „ein Dasein zur Sprache kommen lässt, in dem alles unseren Wertbestimmungen entgegengesetzt ist.“155 Bei den Bewohnern der modernen Plattenbauten mag an Materiellem nichts fehlen. Doch fehlt es an kulturellem Kapital; der Erzähler findet in den Wohnungen der Anwohner wenige Bücher von zweifelhaftem literarischem Wert. Eine Arbeiterfrau sieht jeden Abend „das Televisionsprogramm. Nur bei Theater- und Balletvorstellungen schaltet sie den Apparat ab. […] Bücher liest sie nicht. Auf unsere Frage, woran sie während ihres Alleinseins denke, antwortet sie, an nichts.“156 Die Verfremdung des modernen Zivilisationsmenschen und dessen Flucht in die innere Welt der Kunst thematisiert Weiss in seinem Prosastück Der große Traum des Briefträgers Cheval (zuerst in Akzente 7, 1960, S. 468-481). Wie im
154 R, S. 54f. 155 R, S. 67. 156 Ebd., S. 65. Vgl. Beise, Peter Weiss, S. 237.
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Kopenhagener Journal steht hier die Wirklichkeit einer künstlerisch-surrealen Traumwelt entgegen, die der Erzähler bevorzugt. Diese Traumwelt wird als die „wahre“ Welt empfunden und bestimmt auch seine Beobachtung der Außenwelt. Das eigentliche Dasein liegt verborgen hinter dem Traum. Im Erinnerungsraum des Palais Idéal, das der französische Landpostbote Ferdinand Cheval in Hauterives zwischen 1879 und 1912 errichtete, sieht der Erzähler seine eigene Existenz als physischen Raum gespiegelt. Das Prosastück ist von großem Einfühlungsvermögen in die Gedankenwelt des Briefträgers gekennzeichnet. Gleichzeitig prangert Weiss den zeitgenössischen Kunstbetrieb an, der laut ihm von künstlerischer Verflachung geprägt ist: „Man will herankommen an das Zufällige, das Ungeordnete, das Unbewußte, und dann rahmt man es ein und stellt es auf einem Sockel und übergibt es der Organisation eines kommerziellen Apparates.“157 Als Gegenpol dieses eitlen Kunstbetriebs sieht der Erzähler Chevals organisches Gesamtkunstwerk, das in der Erde verharrt, aus der es emporgewachsen ist. Die revolutionäre innere Traumwelt des Surrealismus steht hier im Vordergrund. Es geht Weiss darum, das verschüttete „Unbekannte“ unter der Schicht des „Allzubekannten“ hervorzuholen. Das wahre „Leben“ soll hinter der „dünnen Schicht“ der modernen Zivilisation, worunter Weiss „soziales Denken“, „Verantwortungsbewusstsein“, „Rücksichtnahme“ versteht, freigelegt werden.158 Eine wichtige Denkfigur, die in Weiss’ Essay thematisiert wird, ist die des Grabens. Mit unermüdlicher Hingabe gräbt, schaufelt und mauert der Briefträger an seinen Visionen. Das Traumhaus des Briefträgers deutet der Erzähler als einen semiotischen Raum, wo nichts unsemiotisiert bleibt. Das Palais Idéal ist ein zu Raum gewordener Traum: Ich bin im Innern eines Traums. Verstehe die Sprache dieses Traums. Verstehe die Formeln, die Symbole, die Hieroglyphen dieses Traums. Jede kleinste Einheit hat ihren Sinn. […] Alles geschieht in seinem Innern. Er ist in sich drinnen, er träumt und baut das Geträumte. Die Gestalten seines geheimen Lebens. Der primitive Mann, der Steinzeitmann mit seinen Beschwörungen. Er errichtet diese Reliefs, diese Skulpturen, um den Augenblick seines Lebens festzuhalten, den Augenblick zwischen Geburt und Tod. Sein Material Sand, Staub, Steinbrocken, mit Lebenssaft vermengt. […] In unbeirrter Folgerichtigkeit gräbt, wühlt, schaufelt, mauert er an seinen Visionen, festigt sie mit seinem plasmaartigen 159
Material, kratzt, schabt, schleift an ihnen mit unermüdlicher Hingabe.
157 R, S. 47. 158 R, S. 67. 159 Ebd., S. 38f.
124 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Die Thematisierung des Traummotivs im frühen essayistischen Werk ist kein Zufall, sondern ist auch bezeichnend für Weiss’ größere Prosaarbeiten, man denke nur an jene Szenen in Der Schatten des Körpers des Kutschers, in welchen der Ich-Erzähler surreale Bilder dadurch evoziert, dass er sich Salz in die Augen streut, um der provinziellen kleinbürgerlichen Tristesse zu entkommen. Die Evozierung dieser verschwommenen Traumbilder stellt eine kritische Hinterfragung von Zeit und Raum dar. Die Krise des modernen Dichters erfährt dort laut Eberhard Lämmert „seine krasseste Zuspitzung.“160 Weiss’ Interesse an Cheval ist durchaus verständlich, vor allem wenn man bedenkt, dass er den französischen Postboten als Vorläufer des Surrealismus versteht. In dem Typoskript „Skulle jag vara riktigt konsekvent…“ wird Cheval sogar als „Schutzheiliger“ der Surrealisten stilisiert. Cheval habe ganz im Sinne der Surrealisten von seinen Träumen gelebt: „Er ist beinahe ein Schutzheiliger der Surrealisten geworden. Denn er verwirklichte in seinem Leben dieses surrealistische Ideal, von seinen Träumen zu leben. In vielen Jahrzehnten, bis zu seinem Tod, baute er in seiner Freizeit an einem fantastischen Palast aus Lehm, Steinen und Muschelschalen.“161 Das Traummotiv ist auch Hauptthema von Weiss’ Aufsatz über August Strindberg betitelt Gegen die Gesetze der Normalität (1962). Darin versucht Weiss, das komplizierte Wesen des schwedischen Dichters zu schildern, v.a. im Hinblick auf das Traummotiv. Der Titel ist bezeichnend für das Spätwerk Strindbergs, etwa Dramen wie Das Traumspiel (1902) in welchem, so Strindberg im Vorwort, die „Nachbildung der unzusammenhängenden, aber scheinbar logischen Form des Traumes“ darstellt.162 Auch Nach Damaskus bezeichnete Strindberg als Traumspiel, was auf den traumähnlichen Aufbau des Dramas verweist. Weiss’ Essay wird eingeleitet von einer Analepse, eine Erinnerung an die verbotene Lektüre der Jugend, zu deren Werke auch der späte radikale Strindberg gehörte. Das anfängliche Namedropping der Werke, die der Erzähler als Jugendlicher gelesen hat, wird abgelöst von der trügerischen Vagheit des Erinnerten. An seine erste Rezeption des großen schwedischen Dramatikers kann sich er nicht mehr erinnern:
160 Eberhard Lämmert, „Peter Weiss – ein Dichter ohne Land“, in: Germanistische Streifzüge: Festschrift für Gustav Korlén, S. 95-109, hier S. 100. 161 PWA 2005, S. 8 des Typoskripts. 162 Vgl. August Strindberg, Ein Traumspiel. Deutsch von Peter Weiss, Frankfurt am Main 1965, S. 7. Siehe hierzu auch Peter Szondi, Theorie des modernen Dramas, Frankfurt am Main 2007, S. 50f.
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Als ich als Fünfzehn-Sechzehnjähriger anfing, die Werke der Weltliteratur aufzustöbern, war es oft der Klang der Titel, der mich anzog. Heimlich nahm ich aus der Bibliothek meiner Eltern die verbotenen Bücher und las sie unter der Bettdecke, beim Schein der Taschenlampe. Zwischen dem Idioten und den Dämonen, den Elixieren des Teufels, dem Hunger und dem Steppenwolf stieß ich auf Schwarze Fahnen, auf die Beichte eines Toren. Was damals aus der Welt dieses Umstürzlers, diesen Anarchisten Strindberg in mich ein163
drang, und auf welche Weise ich es verarbeitete, läßt sich kaum mehr feststellen.
Der Erzähler erinnert sich an seine Ankunft in Stockholm, als er die Eröffnungsszene von Strindbergs Roman Das rote Zimmer las. Hier wird die Stadt von der Vogelperspektive aus dargestellt. Als der Erzähler kurz nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Stockholm ankommt sind die Spuren von Strindberg allgegenwärtig. So erinnert er sich an das Stockholm der 1940er Jahre, in dessen Häuser die Aura aus Strindbergs Zeit noch überall spürbar war. Die überladenen bürgerlichen Interieurs, die ihm damals begegneten, verweisen auf die Enge der Gesellschaft des Fin de Siècle, die Strindberg zeitgemäß geschildert hat. Das bürgerliche Milieu, in welchem seine Stücke spielen, besitzen für die Gegenwart eine Aktualität und konnten noch als Dekor benutzt werden in den modernen „Wohnfabriken“ unserer Zeit: Auf meiner Suche nach einem möblierten Zimmer stieß ich auf Räume, in denen er zuhause war, Räume mit Gegenständen überladen, alle diese Fauteuils, Chiffoniers, Draperien, Palmenkübel und mastodontischen Tische, dieses Zubehör der Einengung, der eine solche Rolle in seiner Dichtung spielt, und in dem er sich dann und wann Luft macht, indem er 164
jemandem die Petroleumlampe, die Kristallvase an den Kopf wirft.
Von Interesse ist in diesem Zusammenhang Weiss’ Beschreibung Strindbergs in dem Typoskript „Skulle jag vara riktigt konsekvent…“. Dort rückt der schwedische Autor in die Nähe der Surrealisten. Weiss zitiert dabei das Vorwort des 1902 entstandenen Dramas Ein Traumspiel: Der Autor hat in diesem Traumspiel die Nachbildung der unzusammenhängenden, aber scheinbar logischen Form des Traumes nachzuahmen versucht. Alles kann geschehen, alles ist möglich und wahrscheinlich. Die Gesetze von Raum und Zeit sind aufgehoben; die Wirklichkeit steuert nur eine geringfügige Grundlage bei, auf der die Phantasie weiter schafft und neue Muster webt, ein Gemisch von Erinnerungen, Erlebnissen, freien Erfin-
163 R, S. 72. 164 Ebd., S. 75.
126 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT dungen, Ungereimtheiten und Improvisationen. Die Personen spalten sich, verdoppeln sich, vertreten einander, gehen in Luft auf, erdichten sich zerfließen, fügen sich wider zusammen, usw. Das ist ganz im Geiste des Surrealismus.165
Im Typoskript Ur en musikers anteckningar („Aus den Aufzeichnungen eines Musikers“) aus den 1940er Jahren scheinen Strindbergs Vorwort zum Traumspiel und die Hinterfragung von Raum und Zeit der Surrealisten paradigmatisch realisiert. Der Ich-Erzähler tritt dort in ein Buch hinein, wo er einen umgedrehten leeren Festsaal findet. Der Boden ist das Dach und umgekehrt. Die über dem Kopf des Erzählers hängenden Möbel geben ihm ein „leichtes Schwindelgefühl“. Der Saal ist „durchwuchert“ obwohl keine Menschen da sind. Doch bevor der Erzähler sich dem Tanzen widmet, klappt er das Buch zu und befindet sich wieder in seinem dunklen Zimmer, das er vom „Floß“ seines Bettes aus betrachtet. Ich verstecke mich im Buch der Nacht, dessen Seiten noch verschlossen sind. Ich dränge in die nie zuvor geöffneten Blätter ein, und finde eine seltsame Welt von schwarzen Kanälen. Ich suche durch ein unterirdisches Wegsystem; dann finde ich einen umgedrehten Raum: Tische und Stühle stehen vor mir, der Boden ist das Dach und dazwischen hängen bunte Papierfetzen; der Raum scheint für ein Fest gestaltet. Unruhig, erwartungsvoll gehe ich auf und ab zwischen den rasselnden, wellenförmigen Party-Dekorationen. Die oben von mir hängenden Möbel geben mir ein leichtes Schwindelgefühl. Neben mir wächst die Lampe auf, das Dach ist der Boden und die bunten Papierfetzen rasseln wie Schilf im Wind. Ich gehe durch diesen durchwucherten Festsaal, wo eine unsichtbare Musik gespielt wird und zum Tanzen einlädt. Aber wo sollen wir tanzen? Vielleicht mit dem Kopf nach unten zwischen den Stuhlreihen? Noch bevor die Festgemeinschaft eintritt befinde ich mich wieder auf nächtlichen Straßen. Erst danach, wenn das Buch zugeklappt wurde, fühle ich wieder Sehnsucht – ich wäre gerne dabei gewesen. Aber mein eigenes Zimmer emp166
fängt mich, ein dunkles Zimmer, vom Floß des Bettes aus gesehen.
165 PWA 2005, S. 6 des Typoskripts. (Übersetzung, G.L.) 166 PWA 1910, S. 12 des Manuskripts. (Übersetzung, G.L.) Vgl. PWA 1910, Ur en musikers anteckningar, Bl. 12: “Jag gömmer mig i nattens bok, vars sidor ännu är slutna. Jag tränger in mellan de aldrig förr öppnade bladen, finner en sällsam värld av svarta kanaler. Jag letar mig fram i ett underjordiskt vägsystem; sedan finner jag ett rum so är uppochnervänt: bord och stolar står ovanför mig, golv är tak, och däremellan hänger brokiga pappersremsor; rummet verkar rustat till fest. Orofylld, förväntansfull, går jag av och an mellan de rasslande, böljande serpentinerna. De ovanför mig hängande möblerna inger mig en lätt svindelkänsla. Bredvid mig växer lampan upp, tak är golv de brokiga pappersremsorna vajar och susar som säv. Jag banar mig
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Der hier beinahe kinetische Wechsel von Schauplätzen und Räumen erinnert an Weiss’ Beschreibung der jump cuts seiner expressionistischen Liebesfilme, die er in Film Avantgarde beschreibt. Die Aufhebung der Dimensionen des Raumes führt ähnlich wie in Cocteaus Film Le sang d’ un poète zu einer Aufhebung der Gravitationsgesetze. Peter Weiss’ Rundfunkvortrag Filmische Ausdrucksmittel aus dem Jahr 1953 ist ein Schlüsseltext zum Verständnis des Medienkritikers Weiss. Dort setzt sich der Autor im Rahmen zahlreicher Medienreflexionen mit der Ästhetik des Filmmediums auseinander und nimmt zudem einigen Kerngedanken seines Essays Laokoon oder Über die Grenzen der Sprache (1965)167, der 12 Jahre später erschien, vorweg. Die übergreifende Frage in Weiss’ Laokoon-Essay betrifft Darstellungsmöglichkeiten in unterschiedlichen Medien angesichts einer »eigentlich unerzählbaren« Wirklichkeit. In Lessings Tradition vergleicht Weiss Sprach- und Bildmedium wie Malerei und Bildhauerei und reflektiert dabei die eigenen Erfahrungen und Probleme als antifaschistischer Emigrant, der seine Mitteilungsnot am Rande des Schweigens im Medium einer fremden Sprache bewältigen musste und zur gleichen Zeit im Bewegtbildmedium Film zu überwinden suchte. Hier kristallisiert sich seit 1965 ein Schlüsselproblem seines Schaffens zwischen Erzählprosa, Theater und Filmarbeit heraus – die Darstellbarkeit des Schrecklichen an der Grenze des Sag- und Zeigbaren. Um dieses Verhältnis von Sagen und Zeigen, Wort und Bild, Mitteilbarkeit und Verstummen kreist die ganze erzählerische, essayistische, dramatische und filmische Selbstverständigung und Wirklichkeitsaneignung des Autors. Gerade der Essay erschien ihm als geeignetes Medium, in dem er dieses Spannungsverhältnis reflektierend aufarbeiten konnte. Gerade der Essay ermöglichte einen ständigen „Grenzverkehr“ zwischen Kommunikation und Metakommunikation, Empirie und Selbstreferenz des Autors in einer (nicht nur informationstechnologischen,
väg genom denna igenvuxna festsal, där en osynlig musik redan intonerar till dans. Men var ska vi dansa? Kanske med huvudet neråt mellan stolsraderna? Ännu innan festsällskapet träder in befinner jag mig åter på nattliga gator. Först efteråt, när boken slutits igen, känner jag saknad – jag skulle gärna varit med. Men mitt eget rum tar emot mig, ett mörkt rum, sett från sängens flotte.“ 167 Zum Laokoon-Essay vgl. auch Michael Hofmann, „Der ältere Sohn des Laokoon. Bilder und Worte in Peter Weiss’ Lessingpreisrede und in der Ästhetik des Widerstands“, in: PWJ 1 (1992), S. 42-57. Weiss’ Laokoon-Aufsatz enthält zudem, wie Jenny Willner überzeugend gezeigt hat, unterschwellige Anspielungen auf die Judenvernichtung in Deutschland, der Weiss knapp entkam. Vgl. Jenny Willner, Wortgewalt: Peter Weiss und die deutsche Sprache, S. 37-50.
128 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT sondern auch institutionellen und ökonomischen) Medienabhängigkeit.168 Insofern ist der Essay unverzichtbar für Weiss’ Materialästhetik. Auffällig ist aber, dass Weiss in seinem Laokoon-Essay zwar die Eigenart des statischen Bildes hervorhebt, den Film als Bewegtbildmedium aber ausspart – anders als in genannten Rundfunkbeitrag Filmische Ausdrucksmittel, wo die Differenz zwischen Gemälde und Film nachdrücklich herausgestellt wird: Ein Buch können wir von uns legen, wir können zurückblättern, eine Zeile erneut lesen; wenn wir lesen, ist die Außenwelt um uns herum greifbar. Auch vom statischen Bild können wir uns abwenden. Aber wenn die Bestandteile des Bildes beweglich sind, dann können wir den Blick davon nicht losreißen. Was passiert, ist oft gleichgültig, die Bewegung an sich ist genug, sie erweckt immer unsere Aufmerksamkeit. Vor dem Film sind wir 169
wehrlos wie vor dem Traum.
Diese Analogisierung von filmischer Bildsequenz und Traum steigert sich zur These einer unwiderstehlichen Sogwirkung als einer synästhetisch wirksamen Bildmagie: Im Film nimmt die Vision Form an, und wir werden in sie hineingesaugt. Die literarischen Symbole und Bilder lassen größeren Spielraum für die Phantasie des Rezipienten; die Worte erwecken und stimulieren den Leser nur, der das Angedeutete selbst ergänzen muss. Die Auseinandersetzung mit dem Buch und dem Gemälde ist eine selbständige Handlung, eine Art Gespräch, in welchem man seine Individualität nicht verliert. Die Auseinandersetzung mit dem Film dagegen gleicht einem magischen Kult, wo unser Ich erlischt.
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Die filmische Bildmagie kann, muss aber keineswegs, automatisch jede reflektierende Verarbeitung ausschließen.
168 Gustav Landgren, „‚Weiter kann man kaum noch gehen, um zu veranschaulichen, dass das, was man erzählen will, eigentlich unerzählbar ist.‘ Die schwedischen Essays von Peter Weiss“, in: Weimarer Beiträge 60 (2014) H. 3, S. 430f. 169 Peter Weiss, Filmens uttrycksmedel [Filmische Ausdrucksmittel], in: Dagens Nyheter, Stockholm, 5.5.1953, 4f. (Übersetzung von Gustav Landgren). 170 Ebd. Vgl. Gustav Landgren, „‚Weiter kann man kaum noch gehen, um zu veranschaulichen, dass das, was man erzählen will, eigentlich unerzählbar ist.‘ Die schwedischen Essays von Peter Weiss“, in: Weimarer Beiträge 60 (2014) H. 3, S. 431.
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Das Konkretionspotential des Filmes, dessen Griff über alle unsere Sinne, kann uns in eine lähmende Passivität versetzen. Das Medium des Filmes an sich besitzt eine derartige Stärke, dass der Filmemacher häufig verleitet wird, es bequem für sich zu machen. Meistens wird der Film nicht benutzt, um unser Vermögen, das Dasein aufzufassen und zu erweitern, sondern eher um es zu betäuben. Der Filmproduzent ist ein Drogenlieferant, der 171
unsere unendliche Sehnsucht nach Wirklichkeitsflucht befriedigt.
Umgekehrt hat der Surrealismus die Suggestivkraft des Filmmediums in subversiver Weise genutzt und sich damit vom populären Genrefilm abgesetzt: Das, was allgemein Film genannt wird, besitzt äußerst wenig von der wirklichen Eigenart und Suggestionskraft des Filmes. Meistens bleibt der Film ein Ausläufer der naturalistischen Novellenkunst. Aber der Film besteht nicht nur aus Handlung, sondern auch aus der emotionalen Substanz in den Bildsequenzen. Die Handlung des Filmes liegt im Rhythmus und in der Bewegung, in der assoziativen inneren Struktur, in der Poesie des Objektes und in der Spannung zwischen den verschiedenen Komponenten des Bildes.172
Dass Weiss den Film als Bewegtbildmedium in seinem Laokoon-Essay nicht mehr einbezogen hat, dürfte anzeigen, dass er seine frühen Ausführungen zur unwiderstehlichen Sogkraft filmischer Bildmagie nicht für endgültig gehalten hat. War Weiss’ Einstellung zur Realität um 1950 von einer Ablehnung der Wirklichkeit geprägt – bezeichnend ist folgende Passage aus dem Prosastück In der Stadt legt sich gleich wieder der alte Druck über einen: „ich will mich nicht der Wirklichkeit anpassen, ich will die Wirklichkeit überwinden, ich will mich nicht begrenzen sondern steigern“173, so engagierte sich der Autor ab Mitte der sechziger Jahre zunehmend politisch. Der Aufsatz Unter dem Hirseberg (1965) ist in der Form eines öffentlichen Briefes an Hans Werner Richter konzipiert und entstand im Rahmen des stark polarisierenden Wahlkampfes, in dem sich viele Künstler und Intellektuelle für die SPD engagierten. Dort begründet Weiss seinen Unwillen, nach Deutschland zurückzukehren, und legt seine Gründe für diesen Entschluss dar. Einen Hauptgrund, sein Exildasein fortzusetzen, bildet das Scheitern der Sozialdemokratie in Deutschland, ihr Unvermögen, autoritäre Strukturen abzuschaffen und eine wahre sozialistische Alternative zur CDU/ CSU darzustellen. Dieses Scheitern eines Neuanfangs veranschaulicht Weiss mit
171 Ebd. 172 Ebd. 173 PWA 2268. „In der Stadt legt sich gleich wieder der alte Druck über einen“.
130 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT der Metapher des erstickenden Hirsebergs: „Die sozialistische Demokratie, die Ihr damals plantet wurde unter dem Berg von Hirsebrei begraben.“174 In diesem Hirseberg der Meinungsnivellierung und Konsens-Stimmung im Wirtschaftswunderland kann der Autor die Argumente der Opposition „kaum von den Argumenten der Konservativen unterscheiden.“175 Doch als dezidiert politisch engagierter Autor tritt Weiss erst im Zusammenhang mit der Veröffentlichung des politischen Pamphlets 10 Arbeitspunkte eines Autors in der geteilten Welt (1966) hervor. Die Veröffentlichung dieses Pamphlets fällt in die Zeit, als Weiss’ Drama Die Ermittlung und der Essay Meine Ortschaft entstanden. In seinem Essay prangert Weiss die westliche Sozialdemokratie an, die seines Erachtens in den Händen der „Großkapitalverwalter“ gefesselt ist. Die Industriegesellschaft sei nichts anderes als eine neue „Klassengesellschaft auf erhöhtem Niveau“, in welcher die Arbeiterbewegung allmählich die „Normen der Bürgerlichkeit“ übernehme. Hier bekennt sich Weiss explizit zum ersten Mal zum Sozialismus, wenn auch mit dem Vorbehalt, dass „Fehler“ im Namen des Sozialismus begangen worden seien und noch begangen werden: „Die Richtlinien des Sozialismus enthalten für mich die gültige Wahrheit.“176 Weiss’ Vietnam-Aufsätze sind im Kontext der allgemeinen politischen Entwicklung Ende der 1960er Jahre zu verstehen. Bereits 1965 war Weiss mit Plänen umgegangen, ein Welttheater oder Weltgedicht zu konzipieren, das „die Befreiungskämpfe und Unterdrückungsfeldzüge der letzten beiden Jahrzehnte“ behandeln sollte.177 Seit Mitte der 1960er Jahre verfolgte Weiss zunehmend kritisch die Entwicklung in Vietnam, die allmählich zum beinahe „ausschließlichen Bezugspunkts seines Dritte-WeltEngagements wurde“178 Seine Argumentation weist in Sachen Vietnam nichts von der „Zweifel-Krankheit“ oder für „die Schwierigkeit, sich für eine Sache zu entscheiden“ auf, die sonst Weiss’ publizistische und schriftstellerische Tätigkeit kennzeichnen.179 Im Gegenteil sind seine Stellungnamen für Vietnam von einer „unerbittlichen Parteilichkeit“ geprägt, die gelegentlich in einem starken Pathos gipfelt. Kennzeichnend für diese Essays, etwa Vietnam! (veröffentlicht 1966 auf Deutsch und Schwedisch) ist ein für den Essayisten Weiss ungewöhnliches emo-
174 R 2, S. 7-13, hier S. 8. 175 Ebd., S. 9. 176 R 2, S. 22. 177 Siehe hierzu Weiss, R 2, S. 63. 178 Günter Giesenfeld, „‚Politisches Engagement ist altmodisch.‘ Peter Weiss und die Dritte Welt“, in: Gunilla Palmstierna-Weiss, Jürgen Schutte (Hrsg.), Peter Weiss: Leben und Werk, S. 194-212, hier S. 205. 179 Ebd., S. 241.
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tionales Pathos. Zunächst werden die Verbrechen des südvietnamesischen Regimes unter Ngo Dinh Diem gegen die Zivilbevölkerung kritisiert. Dieser habe „Tausende“ politische Gegner ermorden lassen und „Zehntausende“ in Gefängnisse und Konzentrationslager geworfen.180 Die nüchterne Berichterstattung geht relativ schnell in einen emotional aufgeladenen Vergleich der USA mit dem NSRegime über: „Amerika, dieses Land, das so viele Demokraten beherbergt, steht heute vor den Völkern, die nach Freiheit und Unabhängigkeit streben, als Weiterführer der Tradition von Guernica, Lidice und Maidanek.“181 Nun ist dieser Vergleich an sich nicht unbedingt „gehässig“ 182 wie etwa Arnd Beise meint, sondern eher ein durchaus zeittypisches Argument in der emotional aufgeladenen Vietnam-Debatte. Selbst der schwedische Staatsminister Olof Palme verglich noch 1972 in einem Interview das Zerbomben Hanois durch die USRegierung mit einer „Art von Folter“. Die Bombenangriffe, so Palme, seien „Untaten“, die sich vergleichen ließen mit den nationalsozialistischen und kommunistischen Verbrechen gegen die Menschheit, die in Guernica, Oradour, Babij Jar, Katyn, Lidice, Sharpeville und Treblinka verübt worden seien.183 Andererseits ist Beise zuzustimmen, wenn er auf das Defizit der Argumentation von Weiss eingeht, v.a. verwischt der Autor nicht selten die Argumentationsebenen. Dies betrifft nicht zuletzt die Unterstellung, dass der Vietnam-Krieg wie der Holocaust rassistisch motiviert war. Zudem erscheint der Vergleich des demokratischen US-Präsidenten Lyndon B. Johnson mit Hitler abstrus und Weiss’ Argumentation rhetorisch wenig überzeugend. Dabei mangelt es nicht an pathos, aber der Autor vernachlässigt die argumentatio, indem Weiss’ Argumente schlecht untermauert sind: „Wie Hitler Bewunderung in den Augen der Welt weckte durch den Bau von Autobahnen, von Metallindustrien, chemischen Werken und Waffenfabriken, so steht ein großer Teil der USA und der westlichen Welt hinter Johnsons Politik, weil sie den Aufschwung und den wachsenden Lebensstandard zu sichern scheint. Der Krieg in Vietnam ist fern. Er richtet sich gegen Menschen einer anderen Rasse.“184 Hinsichtlich des Einsatzes von Gas durch US-Truppen in Vietnam vergleicht Weiss den Erfindungsgeist der amerikanischen Rüstungsindustrie mit dem der deutschen KZ-Ingenieure des Holo-
180 R 2, S. 51-62, hier S. 53. 181 R 2, S. 61. 182 Arnd Beise, Peter Weiss, S. 241. 183 Zitiert nach Henrik Berggren, Olof Palme: Vor uns liegen wunderbare Tage: Die Biographie. Aus dem Schwedischen von Paul Berf und Susanne Dahlmann, München 2010, S. 478f. 184 R 2, S. 58.
132 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT caust: „Die Gebrauchsanweisungen entsprechen dem Erfindungsgeist, den deutsche Fabrikanten einmal der Errichtung von Vergasungs- und Verbrennungskammern widmeten.“185 Solche und ähnliche stark von Pathos geprägten Aussagen über Vietnam scheinen, wie Jan Kostka es formuliert hat, „identifikatorisch, von Wunschvorstellungen geprägt, ja idealisierend“.186 Dass die Shoah ein wichtiges Fundament für Weiss’ Argumentation bildet187, was teilweise seine moralische Empörung in Sachen Vietnam erklären könnte, wird durch folgendes Zitat deutlich, in welchem Weiss den Erinnerungsraum der NS-Konzentrationslager mit der Deportation der Landbevölkerung in Vietnam durch die südvietnamesische Regierung vergleicht. Dabei nennt Weiss, der selbst dem Holocaust entkam, den amerikanischen General Jaquard Rothschild als Sprachrohr des amerikanischen „Völkermords“ in Vietnam. In einem „schrecklichen Kreislauf der Geschichte“ propagiere der Jude Rothschild für die Vernichtung eines anderen Volkes durch die Einsetzung von „Senf und anderen Kampfgasen“: Die Menschen wurden aus ihrem natürlichem Milieu gerissen, oft mitten in der Ernte, ihre Häuser wurden niedergebrannt, Familien wurden zersplittert, sie durften nichts als ein Bündel mitbringen, als sie in die neuen befestigten Anlagen zogen. Hier hatten sie fortan zu leben, hinter dreifachen Palisaden, Wassergräben Stacheldraht und Wachtürmen. Neun Millionen Menschen sollten von diesem Plan erfaßt werden, eine Zahl, die der Menge der Juden entspricht, die von Hitler überwältigt wurden. […] Brigadegeneral Jaquard Rothschild […] fordert in der Zeitschrift Science and Mechanics, April 1966, die Anwendung von Senf- und anderen Kampfgasen, die den Tod und die Außerkampfsetzung des Feindes zur Folge haben, und somit den Frieden sichern und zukünftige Kriege ausschließen. […] Wenn Rothschild, der seinem Namen nach zu denen gehört, die von Hitler zur Vernichtung verurteilt wurden, jetzt in einem schrecklichen Kreislauf der Geschichte ein anderes
185 Ebd., S. 60. 186 Jan Kostka, „Die Bearbeitung des Vietnam-Problems in Weiss’ Trotzki im Exil“, in: Margrid Bircken, Dieter Mersch, Hans-Christian Stillmark (Hrsg.), Ein Riss geht durch den Autor: Transmediale Inszenierungen im Werk von Peter Weiss, Bielefeld 2009, S. 196-214, hier S. 196. 187 Die Analogie zwischen Vietnam und dem Holocaust stammt ursprünglich von JeanPaul Sartre, der wie Weiss Mitglied des 1966 vom britischen Philosophen Bertrand Russel gegründeten Russel-Tribunals war. Siehe hierzu Berthold Molden, „Vietnam, the New Left and the Holocaust“, in: Aleida Assmann, Sebastian Conrad (Hrsg.), Memory in a Global Age: Discourses, Practices and Trajectories, 79-96, hier S. 83.
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Volk dem Genocide ausliefern will, so macht er sich zum Sprecher für eine Tendenz, die sich gegenwärtig im rapiden Ansteigen befindet.
188
Nach der Analogisierung der US-Regierung mit den „Staatsmännern und Generälen“,189 die im Nürnberger Prozess wegen Genozid verurteilt wurden, warf man Weiss Amerika-Hass vor, gegen den er sich öffentlich verteidigen musste. Dies erscheint teilweise verständlich, bedenke man Passagen in den Notizbüchern mit folgendem oder ähnlichem Wortlaut: „Nixon die gleiche Psyche wie Hitler: da sein Untergang naht, will er so viel u so viele wie möglich mit sich ins Verderben reißen. […] Oft überwältigt von rasendem, blinden Haß, wenn mir das fette Gesicht Kissingers, die Fratze Nixons aus der Zeitung entgegenstarrt!“190 Durchgehend ist die Erinnerung an die Niederlage des antifaschistischen Widerstands in Nazideutschland, die eine diskursive Folie für die „Befreiungskämpfe“ in Vietnam bildet.191 Weiss’ Idealisierung des vietnamesischen Volkes, dessen „Lebenswillen, […] Zähigkeit und Mut“ gegen die Supermacht USA gelobt wird, brachte den Autor später in Schwierigkeiten. Dies betraf nicht nur seine bedingungslose Unterstützung Vietnams im Zusammenhang mit dem Einmarsch vietnamesischer Truppen in Kambodscha nach dem Sturz des PolPot-Regimes, was ihm den Vorwurf einer heuchlerischen „Weiss-Malerei im Hinblick auf die Politik des gegenwärtigen Vietnam“ in der bundesrepublikanischen Presse eintrug.192 Vietnams Invasion in Kambodscha und die einheimische repressive Politik gegenüber der chinesischen Minderheit nach dem Ausbruch des chinesisch-vietnamesischen Kriegs 1979 trug zu einer großen Flüchtlingswelle bei, den so genannten „boat people“, was viele Menschen verstörte. Noch 1979 schrieb Weiss in der Frankfurter Rundschau, „daß der Freiheitskampf Vietnams nicht nur realpolitische, sondern auch starke moralische Aspekte enthält, die sich der sozio-ökonomischen Analyse entziehen“.193 Politisch interessanter als seine Essays zu Vietnam ist der Artikel Der Sieg, der sich selbst bedroht (1967 in der sozialdemokratischen Zeitung Aftonbladet erstmals veröffentlicht). Hatte Weiss noch in seinem Artikel Antwort auf Kritiken zum Vietnam-Aufsatz (1966) den Staatssozialismus des Ostblocks verteidigt und die Verbrechen gegen das Völkerrecht, die im Namen des Sozialismus be-
188 R 2, S. 54, S. 61. 189 Ebd., S. 69. Vgl. Beise, Peter Weiss, S. 242. 190 NB 2, S. 67, S. 92. 191 Vgl. R 2, S. 61. 192 Vgl. hierzu Beise, Peter Weiss, S. 249f. 193 Siehe, NB 2, S. 849. Vgl. Arnd Beise, Peter Weiss, S. 243.
134 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT gangen wurden, relativiert, enthält sein polemischer Artikel über Ben Gurions Expansionspolitik in Israel im Zusammenhang mit dem Sechstagekrieg dennoch ein vorbehaltsloses Bekenntnis zum Staat Israel und dessen Existenzrecht. Diese Position kontrastiert mit der offiziellen Position des Ostblocks gegenüber dem von den USA unterstützten israelischen Staat. Weiss begründet seine Unterstützung des Staates Israel mit der Erinnerung an die Shoah. Sowohl der „Genocidhaß der Vereinigten Arabischen Republik gegen Israel“ als auch Ben Gurions Behauptung, es wäre besser, „wenn alle Araber Israel verließen“, wird von Weiss kritisiert. Stattdessen plädiert er für eine friedliche Lösung des Konflikts und eine Distanzierung Israels von dem Westen. In den sozialistischen Ländern hat man betont, daß Israel in seinem Kampf gegen die arabischen Staaten den Interessen des Imperialismus dient. Wir, die wir mit großer Sympathie die Aufbauarbeit in Israel verfolgt haben und die wir uns mit der Forderung nach der absoluten Lebensberechtigung des Staates Israel solidarisch fühlen, haben uns diese Auf194
fassung nicht ganz zu eigen machen wollen.
Nachdem Weiss im Jahr 1970 einen Herzinfarkt erlitt, entstand während des Genesungsprozesses das essayistische Prosastück Rekonvaleszenz. Auf den ersten Blick wirkt das Buch wie ein Konglomerat von Essays, Reflexionen und Aufzeichnungen zur aktuellen Tagespolitik, zu Erinnerungen, erotischen Träumen und Notizen. Doch dieser Eindruck ist wohl von Seiten des Autors kalkulierte Absicht: das heteronome Material entspricht dem allmählichen Genesungsprozess des Erzähler-Ichs. Dies äußert sich darin, dass die Anzahl der Träume zurückgeht und der Genesende sich allmählich der äußeren Welt zuwendet. Obwohl Weiss eine Publikation früh erwog und Rekonvaleszenz portionsweise in verschiedenen Zeitschriften erschien, wurde die Essaysammlung erst in der Werkausgabe 1991 veröffentlicht und somit der literarischen Öffentlichkeit zum ersten Mal zugänglich. Die Veröffentlichung von Rekonvaleszenz ist werkgeschichtlich insofern von Bedeutung, da Weiss sich dort wieder dem Traumhaften seiner frühen surrealistischen Phase annähert, was er seit der Veröffentlichung von 10 Arbeitspunkten eines Autors in der geteilten Welt vernachlässigt hatte. Das Traumhaft-Surreale ist auch ein wichtiges stilistisches Merkmal der Ästhetik des Widerstands. Es geht dem Autor darum, wieder zu den künstlerischen Anfängen zurückzufinden, zum „Unvernünftige[n], Spontane[n]“, zu dem, was er als „romantisch, utopisch, subjektivistisch diffamiert und disqualifiziert“ habe195.
194 R 2, S. 71. 195 W, Bd. 2, S. 406.
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Dennoch spielt das Verhältnis von Erinnerung und Raum eine wichtige Rolle in dem Prosastück, v.a. in der ersten Hälfte. In einer besonders prägnanten Passage träumt Weiss von seiner Jugendstadt Bremen, wie er nachts durch die Stadt spaziert. Das Bremen, das Weiss während seiner Kindheit und Jugend kennen lernte, ist nur in Bruchstücken vorhanden, nur ansatzweise lässt sich die Stadt rekonstruieren. Dass der Filmemacher Weiss seine Erinnerungen an Bremen mit „Filmstreifen aus zentralsten Kammern des Gedächtnisses“ vergleicht, ist wohl wenig überraschend. Diese Spiegelungen stammen aus der Stadt Bremen, so wie diese sich dem Drei- oder Vierjährigen zeigte, vor einem halben Jahrhundert, einer Stadt, die heute nur noch in winzigen Bruchstücken vorhanden ist, und in der sich hier und da nur, zwischen den neuen Bauwerken, die Zeit vor der Zerstörung rekonstruieren lässt. 1947, als ich zum ersten Mal nach der Emigration wieder durch Bremen ging, war mein früheres Leben dort nur von Ruinen und Schutt überlagert, bei ein paar späteren Besuchen überkam mich in dieser Stadt immer eine Lähmung, die es mir unmöglich machte, nach meinen eigenen Spuren zu suchen, nur nachts hin und wieder tauchen diese grundlegenden Augenblicksaufnahmen, diese Filmstreifen aus den zentralsten Kammern des Gedächtnisses auf, und wecken den 196
Wunsch, ihrem Ursprung noch einmal nachzuspüren.
Weiss’ politisches Engagement trug ihm zunehmend den Ruf eines Vulgärmarxisten ein, der mit einer „derben Holzschnitt-Technik“ die Welt dualistisch betrachtet und vereinfacht.197 Dieser Vorwurf betraf nicht zuletzt seine Inszenierung von Kafkas Roman Der Prozeß. Das Drama, das 1975 in Bremen uraufgeführt wurde, gilt als künstlerisch misslungen, nicht zuletzt, weil die Reduktion der Komplexität Kafkas auf eine einseitige klassendeterminierte Interpretation Mitte der 1970er Jahre zumeist auf Ablehnung stieß. Tatsächlich ist nicht zu leugnen, dass Weiss’ einseitige Interpretation von Kafkas Roman weit hinter der Komplexität der entsprechenden Passagen zurückbleibt. Dennoch bleibt Weiss’ Beschäftigung mit Kafka als Zeugnis „einer lebenslangen produktiven KafkaRezeption“198 wichtig – noch kurz vor seinem Tod wurde ein weiteres KafkaStück, Der neue Prozeß, am Dramatischen Theater in Stockholm uraufgeführt.
196 Ebd., S. 496. 197 Vgl. Eberhard Lämmert, „Peter Weiss – ein Dichter ohne Land“, in: Germanistische Streifzüge, S. 105. 198 Vgl. Jochen Vogt, Peter Weiss, S. 133.
136 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT In dem Artikel „Författaren och kritikern“ („Der Autor und der Kritiker“) antwortet Weiss auf die Kritik seiner Stockholmer Inszenierung von Kafkas Roman Der Prozeß aus dem Jahr 1975. Im Anschluss an diese Inszenierung hatte ihm der Journalist und Kafka-Kenner Harry Järv in der Zeitschrift Horisont Nr. 5/6 1976 vorgeworfen, er habe Kafka „vulgärmarxistisch“ umgedeutet. In seiner Entgegnung geht Weiss explizit auf die Rolle des Kritikers bei der Deutung literarischer Werke ein. Järv habe seine Inszenierung nach falschen Maßstäben gedeutet, indem er das Werk „subjektiv“ und „emotional“ beurteilt habe. Man müsse sich stattdessen die Frage stellen, ob es überhaupt wünschenswert und möglich sei, einen komplexen Roman wie Der Prozeß zu inszenieren. Denn das Theater, so scheint Weiss zu meinen, stellt mit seiner „groben Gegenwärtigkeit“ ein grundsätzlich anderes Medium als das des Romans dar. Gerade in der Frage des Medienwechsels sieht Weiss die Aufgabe des Kritikers begründet: Dieser sollte die Frage aufnehmen, die sich der Autor selber gestellt und praktisch-experimentell zu beantworten versucht hat, „ob man überhaupt einen Roman in ein Drama umwandeln und inszenieren“ könne: Der Kritiker nutzt hier seine Stellung aus, indem er subjektiv und emotional ein literarisches Werk angreift, anstatt das Ziel dieser Arbeit zu untersuchen, deren Verdienste und Mängel. Den Ausgangspunkt meiner Inszenierung fand ich, abgesehen von meinen KafkaStudien, in den Schluss-Sätzen des fragmentarischen Werkes. Bevor K. sich abschlachten lässt, sieht er hoch über seinem Kopf ein Fenster sich öffnen. Jemand lehnt sich aus dem Fenster heraus, streckt die Arme hervor. K. fragt: Wer war das? Ein Freund? Ein guter Mensch? Jemand, der teilgenommen hat? Jemand, der mir helfen möchte? War es nur einer? Waren es alle? Kafka liefert hier selbst eine Interpretation, die davon ausgeht, dass die Selbstaufopferung des Protagonisten sinnlos ist. Er deutet eine andere Lösung an, aber ist nicht imstande, seine unerhörte Niederlage zu revidieren. Das Gesamtwerk Kafkas kreist um diesen Dualismus. Ständig entdeckt er immer qualvollere Anzeichen dafür, dass er nicht imstande ist, sein Leben zu verändern. Dann ist es eine andere Frage, ob man überhaupt einen Roman in ein Drama umwandeln und inszenieren soll. Vor allem einen Roman wie Kafkas, der sich in einem hohen Maß mit psychologischen und traumähnlichen Motiven befasst. Ich bin skeptisch gewesen und habe mich dafür entschieden, meine Arbeit zu folgendem experimentellen Versuch einzuengen: Ist es überhaupt möglich, ein äußerst abstraktes und vielfältiges Thema in die beinahe grobe Gegenwärtigkeit der Theaterbühne umzuwandeln?
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Hier sollte der Kritiker seine Aufgabe finden: Er sollte begründen, ob man, mit Kafkas Roman als Ausgangspunkt, einer bestimmten Lebenssituation in einer bestimmten Gesell199
schaft anschauliche Form verleihen kann.
In diesem Text schließt sich in gewisser Weise ein Kreis im essayistischen Werk des Autors. Weiss nähert sich in seinen späten Essays wieder Themenbereichen seines Frühwerks an, ohne auf seine politisch gewonnen Stellungnahmen der 1960er Jahre zu verzichten. Demgemäß bedeutet seine spätere Beschäftigung mit dem Werk Franz Kafkas eine Rückkehr zu seinen surrealistisch-psychologischen Anfängen, allerdings mit einer verschärften politischen Einsicht. Das essayistische Werk von Peter Weiss zeichnet sich durch eine große Spannbreite der Themenbereiche aus. Dabei wird klar, dass Weiss das heterogene Hybrid-Genre des Essays durch Filmanalysen, Medienreflexionen, kulturdiagnostische Kommentare, Buchrezensionen, sozialkritische und kulturpolitische Zeitungsaufsätze mit zusätzlichen Registern und Bedeutungsdimensionen bereichert hat. Ein spezifisches Merkmal seiner Essaykunst ist, abgesehen von ihrem dialogischen Charakter, ein journalistisches Jargon, das häufig als eine Kritik an der kulturellen Verflachung durch die Kulturindustrie zu verstehen ist.
199 PWA 2164. „Kritikern utnyttjar här sin ställning till att subjektivt och emotionellt gå till angrepp mot ett litterärt arbete, istället för att undersöka arbetets målsättning, dess förtjänster och fel. Utgångspunkten för min dramatiserig fann jag, bortsett från mina långa Kafka-studier, i den fragmentariska romanens slutmeningar. Innan K låter sig slaktas ser högt ovanför sig ett fönster öppnas. Någon lutar sig ut, sträcker fram armarna. K frågar: vem var det? En vän? En god människa? Någon som deltog? Någon som ville hjälpa? Var det bara en? Var det alla? Kafka själv ger här en tolkning som betyder att han är medveten om det meningslösa i denna självuppoffring. Han snuddar vid en annan lösning men förmår inte revidera det oerhörda nederlag han tagit på sig. Hela Kafkas verk står i tecknet av denna dualism. Ständigt finner han nya alltmer kvalfulla uttryck för sin oförmåga att grundläggande förändra sitt liv. Sedan är det en annan fråga, om man överhuvudtaget skall ge sig i kast med att dramatisera en roman. Till råga på allt en roman som i sådan hög rad som Kafkas framställer psykologiska och drömliknande motiv. Jag har själv varit tveksam och sedan reducerat mitt arbete till följande experimentella försök: går det att förvandla ett ytterst abstrakt och mångtydigt tema till scenens nästan grova påtaglighet?“ Här borde kritikern finna sin uppgift: att begrunda, om, med Kafkas roman som utgångspunkt, en bestämd livssituation i ett bestämt samhälle funnit åskådlig form.“
138 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Züge der Aufklärung in einem weiteren Sinne trägt jeder Essay200 – bei Weiss ist der Begriff häufig mit Rationalismus und Gesellschaftskritik verbunden. Auffällig ist in seinen essayistischen Texten allerdings die Ambivalenz zwischen der einerseits scharfen, kommentarlosen, zum Teil zum Dokumentarischen und Journalistischen tendierenden, häufig auch schockierenden Deskription und andererseits den vielfältigen thematischen und stilistischen Anleihen bei surrealistischen Bestrebungen, Richtungen und Darstellungstechniken der künstlerischen Avantgarde.201 Die Funktion des Essays in Weiss’ Schaffen ist vielfältig: Zum Einen ist seine Essayistik offensichtlich eine fortgesetzte Dokumentation einer im Prinzip unabgeschlossenen Selbstreflexion zu sehen. Zum Anderen nutzt Weiss bereits früh den Essay als rein operative Form zur Herstellung von Öffentlichkeit in kritischen Daseinsfragen.202 Zudem wird die Essayistik häufig zum Vehikel einer Sprachkritik, die sich in einer Suche nach einer adäquaten medialen Ausdrucksform manifestiert, wie etwa die Rezension zu Beckett belegt. Die hier präsentierte Auswahl von Weiss’ Essays erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie zeigt aber, dass Weiss zu den wichtigsten Essayisten der deutschen Nachkriegsliteratur gehört, dessen künstlerische Entwicklung sich beispielhaft im essayistischen Werk entfaltet. Dabei gewinnt das spezifisch Experimentierende, was die Gattung prägt, an Bedeutung für Weiss, der mit vielen verschiedenen Medien – zum Teil gleichzeitig – experimentiert hat, bevor er seinen späten Durchbruch in Deutschland mit dem Mikroroman Der Schatten des Körpers des Kutschers 1960 erlebte. Zudem antizipieren seine Essays wichtige Themenbereiche im Werk des Autors. Nutzte Weiss in den frühen Essays häufig das Reflexionspotential dieser Textform, instrumentalisiert er sie in den 1960er Jahren zur politischen Plattform: Aus dem esoterischen und unsicheren Künstler Weiss entfaltet sich in den 1960er Jahren ein weltbekannter, in die öffentliche Debatte durch das Medium des Essays eingreifender Autor, der sich seiner Um-
200 Dieter Bachmann, Essay und Essayismus: Benjamin – Broch – Kassner – H. Mann – Musil – Rychner, Stuttgart 1969, S. 95. 201 Alfons Söllner kommt analog zu der Schlussfolgerung, dass gerade das „Oszillieren zwischen Ästhetizismus und politischer Radikalisierung“ ein auffallendes Merkmal in Weiss’ Ästhetik wider die Verdrängung bildet. Vgl. Alfons Söllner, Peter Weiss und die Deutschen, S. 33. Vgl. hierzu auch Steffen Groscurth, Fluchtpunkte widerständiger Ästhetik: Zur Entstehung von Peter Weiss’ ästhetischer Theorie, S. 279. 202 Vgl. Gustav Landgren, „‚Weiter kann man kaum noch gehen, um zu veranschaulichen, dass das, was man erzählen will, eigentlich unerzählbar ist.‘ Die schwedischen Essays von Peter Weiss“, in: Weimarer Beiträge 60 (2014) H. 3, S. 439.
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welt kritisch zuwendet und seine mediale Auswirkung durchaus zu benutzen weiß. Das spielerische Element, das Weiss’ frühe surrealistisch angehauchte Essays zum Teil kennzeichnet, geht unter wachsendem politischem Druck allmählich verloren und weicht einem kritischen, aufklärerischen Pathos.
3. Kapitel: Die Ästhetik des Widerstands als Buch der Erinnerung
3.1 S TAND
DER
F ORSCHUNG
Die Aktualität von Peter Weiss zeigt sich nicht zuletzt in dem bis heute anhaltenden Interesse für das Werk des Autors. Besondere Aufmerksamkeit erregt Weiss heute noch mit seinem am schwersten zugänglichsten Werk, der Romantrilogie Die Ästhetik des Widerstands, die zwischen 1975 und 1981 erschien. Der Roman bildet, wie Klaus Scherpe bemerkt hat, eine Art Zusammenfassung des Weisschen Werks: Demgemäß enthält Weiss’ magnum opus die Quintessenz der Themen, mit denen er sich seit den 1940er Jahren als Autor, Filmemacher und Maler beschäftigt hat.1 Bei der Verleihung des Büchner-Preises (1982) an den kurz zuvor verstorbenen Autor, vergleicht der Literaturkritiker und Autor Walter Jens in seiner Laudatio Die Ästhetik des Widerstands mit Joyces Ulysses: Man müsse, so Jens, dieses Buch mehrmals lesen, denn erst dann falle einem die Komplexität des Werks auf: „Nicht dreimal, fünf- und sechsmal muss dieses große, dem Ulysses ranggleiche Buch“ gelesen werden.2 Bisher ist Die Ästhetik des Widerstands in acht Sprachen übersetzt worden, in schwedisch, französisch, spanisch, dänisch, niederländisch, türkisch, norwegisch und englisch, wobei in den letzten beiden Sprachen nur der erste Band vorliegt. Der erste Band der englischen Ausgabe der Ästhetik des Widerstands erschien erst im Jahr 2005 und ist
1
Klaus R. Scherpe, „Reading the Aesthetics of Resistance: Ten Working Theses“, S. 97. Die Ästhetik des Widerstands wurde auch von Weiss selbst als sein „literarisches Hauptwerk“, als „summa artistica“ verstanden. Vgl. hierzu NB 2, S. 639.
2
Walter Jens, „Fremdlinge sind wir im eigenen Haus… Laudatio auf Peter Weiss“, in: Büchner-Preis-Reden 1972-1983 (Mit einem Vorwort von Herbert Heckmann), Stuttgart 1984, S. 175-189, hier S. 184.
142 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT mit einem Vorwort von Fredric Jameson versehen. Darin hebt Jameson die Aktualität der Romantrilogie hervor, nicht nur für das politische Selbstverständnis des einst geteilten Deutschlands, sondern auch für die internationale linke Bewegung in einer globalisierten post-revolutionären Ära, die sich in einer scheinbar unaufhaltsamen Expansion des internationalen Finanzkapitalismus befindet. Den Roman charakterisiert Jameson als „proletarian Bildungsroman“ welcher das Ziel habe, „an aesthetic pedagogy“ auszuarbeiten.3 Auch im angelsächsischen Sprachraum ist der Roman somit zum Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses geworden. Diese Beiträge bilden häufig eine Einführung in das Werk des Autors, wie etwa Robert Cohens Studie Understanding Peter Weiss.4 Darüber hinaus hat Weiss im Anschluss an die Veröffentlichung der Ästhetik des Widerstands die Notizbücher publiziert. Sie sind mit zahlreichen Abbildungen der in der Romantrilogie figurierenden Orte, Gebäude und Personen versehen und bieten eine Quelle für Weiss’ Recherchearbeit zur Entstehungszeit des Romans.5 Der Gattungsbegriff Roman ist im Hinblick auf die Ästhetik des Widerstands allerdings umstritten. Ralf Schnell schreibt z.B. hinsichtlich der Ästhetik des Widerstands, dass sich dieses Werk jeglicher Gattungsbestimmung entzieht: Die Gattungsbezeichnung ‚Roman‘ wird diesem nicht gerecht, handelt es sich doch kaum um Figurenkonstellation, Charakterentwicklung, Handlungsstrukturen, sondern eher um Abhandlung, Essay, Traktat, um kunsttheoretische, politische und wissenschaftliche Über-
3
Jameson hebt in seinem Vorwort u.a. das, was er Weiss’ „working out of an aesthetic pedagogy“ nennt, hervor. Siehe Fredric Jameson, „Foreword“. In: The Aesthetics of Resistance, Übers. von Joachim Neugroschel, Durham 2005, S. 7f., hier S. 10. Vgl. Noah Isenberg, „Introduction: Peter Weiss’s Die Ästhetik des Widerstands at TwentyFive“, in: The Germanic Review 2008, S. 1. Weiss’ Konzeption einer „kämpfenden Ästhetik“ in der Romantrilogie umfasst eine „Aktivierung und Erweiterung der Bewußtseinspotentiale der Menschen.“ Vgl. hierzu Armin Bernhard, Edukative Grundlagen und Bildungsprozesse in Peter Weiss’ „Ästhetik des Widerstands“, Frankfurt am Main 1994, S. 157.
4
Robert Cohen, Understanding Peter Weiss, (= Understanding modern European and Latin American literature) Columbia 1996.
5
Es handelt sich im Hinblick auf die Notizbücher im Gegensatz zu den kleinen Notizbüchern, die Weiss immer mit sich führte, tatsächlich um bearbeitetes literarisches Material. Vgl. hierzu Arnd Beise, Peter Weiss, S. 257.
D IE Ä STHETIK DES W IDERSTANDS ALS B UCH
DER
E RINNERUNG
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legungen mehr als um erzählerische Ausfabulierung eines Gesellschaftspanoramas oder 6
eines individuellen Konflikts.
Weiss’ Romantrilogie wird trotz der zwiespältigen Rezeption in Deutschland als eines der großen Werke der deutschen Gegenwartsliteratur eingestuft. Dies spiegelt sich nicht zuletzt in der großen Anzahl der Besprechungen zu dem Buch – zwischen 1975 und 1982 erschienen etwa 111 Rezensionen zur Ästhetik des Widerstands. Martin Rector unterteilt die Rezeption der Ästhetik des Widerstands in vier Phasen. Die erste fällt in die Jahre des Erscheinens und ist hauptsächlich von der überforderten und in ihren Beurteilungen stark gespaltenen deutschen Literaturkritik der 1970er und frühen 1980er Jahre geprägt.7 Ab den 1980er Jah-
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Ralf Schnell, Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945, Stuttgart 1993, S. 504. Nicht umsonst nennt Schnell das letzte Kapitel seines Buches in Anlehnung an Weiss’ Romantrilogie „Zwischen ‚Post-Historie‘ und ‚Widerstands‘ -Ästhetik (19781989)“.
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Die Rezeption der Ästhetik des Widerstands in der BRD ist mittlerweile sehr gut dokumentiert. Siehe hierzu beispielsweise Volker Lilienthal, Literaturkritik als politische Lektüre. Am Beispiel der „Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss, Berlin 1988, siehe v.a. S. 104-136. Alexander Stephan, „Ein großer Entwurf gegen den Zeitgeist.“ Zur Aufnahme von Peter Weiss’ „Die Ästhetik des Widerstands“, in: ders. (Hrsg.). Die Ästhetik des Widerstands, Frankfurt am Main 1983, S. 346-366, Helmut Peitsch, „Zur Rezeption der Ästhetik des Widerstands in der Literaturwissenschaft“, in: Konsequent: Diskussion-Sonderband , 6. März 1984, S. 106-113, Uta Kösser, „Rezeption der Ästhetik des Widerstands in einer Umbruchsituation“, in: Weimarer Beiträge 37, (1991) H. 8, S. 1125-1141. Direkt ablehnend waren die Rezensionen Fritz Raddatz’, Karl Heinz Bohrers, Moritz Menzels, Franz Schonauers und Gert Uedings. Vor allem wendeten sich diese Kritiker gegen die Faktenhäufung des Romans und gegen die Sprache. Moritz Menzel schrieb in Der Spiegel vom „Ton fortgeschrittener Schulungsseminare“ und monierte, die Sprache des Buches erinnerte an die „monotone Charme eines Zentralorgans“. (In: Der Spiegel, Nr. 48 (24.11.1975, S. 176.) Franz Schonauer schrieb von einem „bis zur Inhumanität abstrakte[n], unlebendige[n] Buch“, das ihn an die sowjetische Literatur der Stalin-Ära erinnerte (in Der Tagesspiegel, 25.3. 1979). Ueding meinte in seiner Rezension, (in Die Zeit, 8.5.1981) Weiss stünde unter dem „Einfluss der marxistischen Orthodoxie“, die „alle Spontaneität und Empfindlichkeit“ völlig vernachlässigt habe. Fritz Raddatz, Weiss’ wohl schärfster Kritiker, schrieb in der Zeit vom 8.5.1981, die Ästhetik des Widerstands sei „ein stilistische[r] Aufzählungsgalopp“: „tonlos, sprachlos, farblos“. Zitiert nach Volker Lilienthal, Literaturkritik als politische Lektü-
144 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT ren erfolgte eine zweite Phase, in der Die Ästhetik des Widerstands zu einem „bevorzugten Selbstverständigungstext“8 innerhalb und außerhalb linker Universitätskreise wurde. Der Roman wurde Gegenstand kollektiver Lese- und Diskussionszirkel sowohl im Osten als auch im Westen: So konstituierten sich lokale Gruppierungen, meist innerhalb der Germanistik, u.a. um Jochen Vogt in Essen, Klaus Scherpe an der FU Berlin, Burkhardt Lindner in Frankfurt, Martin Rector in Hannover und um Sigrid Lange an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Eine Krönung und zugleich einen bundesweiten Gipfel erfuhr diese zweite Rezeptionsphase in Hamburg, vorangetrieben vor allem von Ulrich Schreiber.9 Das von ihm initiierte Kampnagel-Treffen hatte zwei wichtige Folgen für die Institutionalisierung der Weiss-Forschung: Erstens wurde die „Internationale PeterWeiss-Gesellschaft“ (IPWG) gegründet und es wurde beschlossen, zweimal jährlich die Mitteilungsschrift Notizblätter herauszugeben. Zum anderen ging aus der Kampnagel-Tagung die Anregung zur Gründung des Peter Weiss Jahrbuchs aus, das seit 1992 regelmäßig einmal im Jahr erscheint. In Universitätskreisen setzte in den 1990er Jahren ein regelrechter Forschungs- und Publikationsboom ein, in dem Die Ästhetik des Widerstands zu einem Modetext wurde. Nach dem Abschluss der Romantrilogie und dem Tod von Peter Weiss im Mai 1982 fehlte es bisher an einer grundlegenden Biographie zu Leben und Werk des Autors. Aus diesem Anlass erschien 1987 die Monographie von Jochen Vogt, gefolgt von den Darstellungen Robert Cohens (1992), Stefan Howalds (1994), später
re. Am Beispiel der „Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss, S. 114f., S. 120, S. 126. Die Vorurteile gegenüber der Ästhetik des Widerstands sind teilweise heute noch präsent. So stellt der Literaturkritiker Volker Weidermann fest, die Romantrilogie sei künstlerisch „misslungen“: „Die ausschweifenden, widerständigen Bände„ so stellt Weidermann lapidar fest, „sperren heute nicht nur das Proletariat, sondern fast jeden Leser aus.“ Siehe Volker Weidermann, Lichtjahre: Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute, Köln 2006, S. 56. 8
Zum Stand der Forschung siehe Martin Rector, „Fünfundzwanzig Jahre Die Ästhetik des Widerstands. Prolegomena zu einem Forschungsbericht“, in: Arnd Beise, Jens Birkmeyer, Michael Hofmann (Hrsg.), Diese bebende kühne zähe Hoffnung: 25 Jahre Peter Weiss, ‚Die Ästhetik des Widerstands‘ , St. Ingbert 2008, S. 13-47, hier S. 14.
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Martin Rector, „Fünfundzwanzig Jahre Die Ästhetik des Widerstands. Prolegomena zu einem Forschungsbericht“, in: Arnd Beise, Jens Birkmeyer, Michael Hofmann (Hrsg.), Diese bebende kühne zähe Hoffnung: 25 Jahre Peter Weiss, ‚Die Ästhetik des Widerstands‘ , S. 21, S. 25f.
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von Arnd Beise (2002) und schließlich von Jens-Fietje Dwars (2007).10 Ein wichtiger Schritt für das biographische und werkgeschichtliche Studium des Autors war die Übergabe des Peter-Weiss-Nachlasses an die Akademie der Künste in Berlin (West), was heute als Peter-Weiss-Archiv der Öffentlichkeit zugänglich ist. In den 1990er Jahren erschienen zwei für die weitere akademische Erforschung der Ästhetik des Widerstands wichtige Veröffentlichungen, Robert Cohens Bio-bibliographisches Handbuch, das ein Namenregister der im Roman erwähnten historischen Personen mit kurzen biographischen Angaben beinhaltet, sowie der von Alexander Honold und Ulrich Schreiber herausgegebene Sammelband betitelt Die Bilderwelt des Peter Weiss.11 Um die Jahrhundertwende
10 Jochen Vogt, Peter Weiss mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt, 3. Auflage, Reinbek bei Hamburg 2005, Stefan Howald, Peter Weiss zur Einführung, Hamburg 1994, Arnd Beise, Peter Weiss, Stuttgart 2002, Jens-Fietje Dwars, Und dennoch Hoffnung. Peter Weiss: Eine Biographie, Berlin 2007. 11 Durchaus aufschlussreich aus intermedialer Perspektive ist in diesem Sammelband Nana Badenbergs Artikel „Kommentiertes Verzeichnis der in der ‚Ästhetik des Widerstands‘ erwähnten bildenden Künstler und Kunstwerke“, der erstmals durch zahlreiche Abbildungen ein Inventar aller in der Romantrilogie erwähnten, beschriebenen und interpretierten Kunstwerke liefert. Siehe Nana Badenberg, „Die ‚Ästhetik‘ und ihre Kunstwerke. Eine Inventur“, in: Alexander Honold, Ulrich Schreiber (Hrsg.), Die Bilderwelt des Peter Weiss (= Argument-Sonderband, Bd. 227), Hamburg 1995, S. 114-162, vgl. Ebd., „Kommentiertes Verzeichnis der in der ‚Ästhetik des Widerstands‘ erwähnten bildenden Künstler und Kunstwerke“, in: Alexander Honold, Ulrich Schreiber (Hrsg.), Die Bilderwelt des Peter Weiss, S. 163-238. Siehe hierzu auch Heinrich Dilly, „Die Kunstgeschichte in der Ästhetik des Widerstands“, in: Alexander Stephan (Hrsg.): Die Ästhetik des Widerstands. Frankfurt a. M. 1983, S. 296-311, Karl-Josef Müller, Haltlose Reflexion. Über die Grenzen der Kunst in Peter Weiss` Roman „Die Ästhetik des Widerstands“, (= Epistemata: Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 92) Würzburg 1992, Martin Rector, „Laokoon oder der vergebliche Kampf gegen die Bilder. Medienwechsel und Politisierung bei Peter Weiss“, in PWJ 1 (1992), S. 24-41, Stefan Schwöbel, Autonomie und Auftrag. Studien zur Kunsttheorie bei Peter Weiss, ( = Studien zur deutschen und europäischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 41) Frankfurt am Main 1999, Jochen Vogt, „Ugolino trifft Medusa. Nochmals über das ‚Hadesbild‘ in der Ästhetik des Widerstands“, in: Margrid Bircken, Dieter Mersch, Hans-Christian Stillmark (Hrsg.), Ein Riss geht durch den Autor: Transmediale Inszenierungen im Werk von Peter Weiss, Bielefeld 2009, S. 69-92, Yannick Müllender, Jürgen Schutte, Ulrike Weymann, (Hrsg.). Peter Weiss: Grenzgänger zwischen den Künsten. Bild – Collage – Text – Film, Frankfurt am Main 2007.
146 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT 2000 setzte schließlich eine bis heute anhaltende Phase des deutlichen Abflachens des wissenschaftlichen Interesses am Roman ein. Die mittlerweile sehr umfassende Sekundärliteratur zu Peter Weiss kann hier nicht gewürdigt werden. Peer-Ingo Litschke verzeichnet in seiner im Jahr 2000 erschienenen Peter-Weiss-Bibliographie (PWB) die sich bis Anfang der 1990er Jahre erstreckt, etwa 40 Monographien und über 300 Aufsätze und Rezensionen zur Ästhetik des Widerstands.12 Martin Rector unterscheidet im Einzelnen zwischen sieben Forschungsschwerpunkten zur Ästhetik des Widerstands: Biographisches, Geschichte und Sozialwissenschaften, Kunstgeschichte, Psychologie, ästhetische Theorie, Kulturwissenschaften und Narratologie.13 Die biographisch orientierte Forschung geht häufig von Weiss’ berühmtem Diktum von der „Wunschautobiographie“ des Erzählers im Widerstandsroman aus. Sie untersucht das Verhältnis von –„autobiographischer Faktizität“ und fiktionaler Umdeutung, „vorzugsweise in der Biographie des Ich-Erzählers“14, seines Lehrers Max Hodann und seiner Eltern.15 Die Interpretationen des Romans, die Schwerpunkte der Geschichte, Politologie und Soziologie behandeln, untersuchen zumeist die Geschichte des antifaschistischen Widerstands zwischen 1937 und 1945, das antagonistische Verhältnis zwischen der SPD und der KPD in den 1930er Jahren, den Spanischen Bürgerkrieg, die Moskauer Schauprozesse, den Hitler-Stalin-Pakt oder die Geschichte der antifaschistischen „Roten Kapelle“ und die Ermordung der Widerstandsgruppe in Plötzensee.16 Gründlich untersucht
12 Peer-Ingo Litschke: Peter-Weiss-Bibliographie (PWB). Internationales Schrifttumverzeichnis der Primär- und Sekundärliteratur unter Einschluß der Bildenden Künste und der Filme mit Berücksichtigung der frühen künstlerischen Versuche, Aachen, 2000, S. 100-128. 13 Vgl. Martin Rector und die Literaturhinweise in: Ders., „Fünfundzwanzig Jahre Die Ästhetik des Widerstands. Prolegomena zu einem Forschungsbericht“, in: Arnd Beise, Jens Birkmeyer, Michael Hofmann (Hrsg.), Diese bebende kühne zähe Hoffnung: 25 Jahre Peter Weiss, ‚Die Ästhetik des Widerstand‘, S. 35-47. 14 Ebd., S. 35. 15 Siehe u.a. Maria Schmitt, „Die Ästhetik des Widerstands“: Studien zu Kontext, Struktur und Kunstverständnis, (= Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft, Bd. 15) St. Ingbert 1986, S. 29, S. 90-95, Michael Hofmann, Ästhetische Erfahrung in der historischen Krise, S. 30, S. 230-258. 16 Zur Darstellung des Spanischen Bürgerkriegs in der Ästhetik des Widerstands siehe Bettina Bannasch, „Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands“, in: Bettina Bannasch, Christiane Holm (Hrsg.), Erinnern und Erzählen: Der spanische Bürgerkrieg in der deutschen und spanischen Literatur und in den Bildmedien, Tübingen 2005, S. 471-
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sind die geschichtlichen Rekonstruktionen und Kommentare einzelner Biographien der historischen Gestalten des Romans, vor allem zu den Protagonisten Hans Coppi und Horst Heilmann, aber auch zu wenig bekannten Romanfiguren wie Lotte Bischoff und Richard Stahlmann. Zu den historischen Figuren Willy Münzenberg und Herbert Wehner gibt es ebenso zahlreiche Wortmeldungen.17 Auch die Geschichtsauffassung des Romans wurde untersucht, vor allem im Hinblick auf die philosophischen Theorien Walter Benjamins, aber auch Weiss’ Verständnis von Utopie. Dabei wurde u.a. gezeigt, dass Weiss ein unorthodoxes, dialektisches Geschichtsverständnis entwirft, das von Benjamins Diktum ausgeht, „die Geschichte gegen den Strich zu bürsten“.18 Ein wichtiger Komplex des Romans betrifft die Kunstinterpretationen. Denn dort erscheinen die eng aneinandergereihten Gedächtnisblöcke, aus denen der Roman besteht, verdichtet. Es geht Weiss dabei um eine Wiederbelebung der alten Ekphrasis-Tradition der Bildbeschreibung, deren Tradition er aufgreift. Hierzu gehören Fragen der Hermeneutik der Bildbetrachtung, die Weiss bereits in seiner Laokoon-Rede 1965 theoretisch erörtert hatte. Berühmt ist die große Auswahl der Kunstbeschreibungen, die im Roman figurieren, und die von Piero della Francesca über Dürer, Goya, Brueghel, Géricault bis hin zu Picasso reicht. Über 100 Künstler und Kunstwerke werden im Roman erwähnt, die zusammen eine Art musée imaginaire bilden.19 Behandelt wird vor allem die Kunst, die zur Zeiten politischer,
484. Zur Roten Kapelle siehe Achim Kessler, „Schafft die Einheit“; Die Figurenkonstellation in der „Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss, (= Edition Philosophie und Sozialwissenschaften, Bd. 44) Berlin 1997, S. 69-81. Zu den Moskauer Schauprozessen siehe Robert Cohen, Versuche über Weiss’ Ästhetik des Widerstands, (= New York University Ottendorfer series; N.F., Bd. 33), Frankfurt am Main [u.a.] 1989, S. 113, S. 153-172. 17 Vgl. die bei Martin Rector angeführte Literatur, in: Ders., „Fünfundzwanzig Jahre Die Ästhetik des Widerstands. Prolegomena u einem Forschungsbericht“, in: Arnd Beise, Jens Birkmeyer, Michael Hofmann (Hrsg.), Diese bebende kühne zähe Hoffnung: 25 Jahre Peter Weiss, ‚Die Ästhetik des Widerstands‘ , S. 38. 18 Zu Weiss’ Widerstandsroman im Kontext der Geschichtsphilosophie Walter Benjamins siehe das Kapitel „Zur Konstruktion der Kritik, die geschichtliche Rekonstruktion; ‚Die Ästhetik des Widerstands‘ von Peter Weiss“, in Rainer Koch, Geschichtskritik und ästhetische Wahrheit: Zur Produktivität des Mythos in moderner Literatur und Philosophie, Bielefeld 1990, S. 117-183. 19 Siehe hierzu die Übersicht von Nana Badenberg , „Peter Weiss“, in: Konstanze Fliedl, Marina Rauschenberger, Joanna Wolf, (Hrsg.), Handbuch der Kunstzitate: Malerei,
148 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT sozialer oder ästhetischer Umbrüche konzipiert wurde. Auffallend knapp bleiben dagegen die Beschreibungen der gegenstandslosen Kunst der Expressionisten und Dadaisten sowie die so genannte Expressionismusdebatte. Es galt dabei in der Forschung, nicht nur die Beschreibungen und Interpretationen kanonisierter Bildkunstwerke wie etwa des Pergamonaltars, Picassos Guernica und Gericaults Floß der Medusa im Hinblick auf deren Funktion in der Romanhandlung und für den Textaufbau zu untersuchen, sondern auch die große Anzahl der Kunstwerke, die am Rande der Romanhandlung figurieren, systematisch aufzulisten und mit der kunsthistorischen Forschung in Beziehung zu setzen. Zu diesem Thema gibt es zahlreiche Wortmeldungen: Peter Bürger, Heinrich Dilly, Jost Hermand, Werner Fritsch, Norbert Krenzlin, Klaus Scherpe und andere. Hierzu gehört u.a. der im Jahr 2007 erschienene Sammelband Peter Weiss: Grenzgänger zwischen den Künsten, der das Gesamtwerk des Autors unter Berücksichtigung der verschiedenen Medien Malerei, Film und Photographie untersucht.20 So hat Weiss’ Existenz als Maler21 zweifellos die narrative Organisation des Textes beeinflusst, was aus verschiedenen Selbstzeugnissen hervorgeht. Beim Gespräch mit Burkhardt Lindner im Jahr 1981 behauptet Weiss, dass das Schreiben in großen Schriftblöcken, welches ein künstlerisches Merkmal der Ästhetik des Widerstands ist, ein Reflex seiner Malerexistenz sei: „Es ist eine Überlieferung aus meiner Zeit als Maler: ich will geschlossene Bilder vor mir sehen.“22 Und in
Skulptur, Fotografie in der deutschssprachigen Literatur der Moderne, Bd. 2, S. 802808. Hier S. 805. 20 Siehe Peter Bürger, „Über die Wirklichkeit der Kunst. Zur Ästhetik in der Ästhetik des Widerstands“, in: Alexander Stephan (Hrsg.), Die Ästhetik des Widerstands, Frankfurt am Main 1983, S. 285-295. Vgl. Yannick Müllender, Jürgen Schutte, Ulrike Weymann (Hrsg.), Peter Weiss: Grenzgänger zwischen den Künsten: Bild – Collage – Text – Film. Vgl. Ulrike Weymann, Intermediale Grenzgänge: Das Gespräch der drei Gehenden von Peter Weiss, Gehen von Thomas Bernhard und Die Lehre der Saint Victoire von Peter Handke, Heidelberg 2007. Während Yannick Müllender et al das Gesamtwerk behandelt, untersucht Weymann Weiss’ Roman Das Gespräch der drei Gehenden aus intermedialer Perspektive. 21 Zur Darstellung von Weiss’ malerischem Werk siehe Raimund Hoffmann, Peter Weiss. Malerei, Zeichnungen, Collagen, Berlin 1984; siehe darin v.a. Hoffmanns Studie über Weiss’ malerisches Werk (S. 8-50). 22 Burkhardt Lindner, „Zwischen Pergamon und Plötzensee oder Die andere Darstellung der Verläufe. Peter Weiss in Gespräch mit Burkhardt Lindner“ (Mai 1981), in: KarlHeinz Götze, Klaus R. Scherpe (Hrsg.), Die Ästhetik des Widerstands lesen, (= Argument Sonderband AS 75), Berlin 1981, S. 150-173, hier S. 166.
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einem anderen Gespräch mit Jürgen Lodemann beschreibt Weiss im Hinblick auf die monolithischen Textblöcke der Romantrilogie: „Ein Maler, der kubistisch malt, kann nichts anders malen als auf diese ganz bestimmte Weise… Und so ist es halt ein Zwang[.]“23 Die Psychologie stellt einen wichtigen Problemkomplex im Roman dar. Dies äußert sich u.a. im Thema der Verdrängung und Befreiung, dem Problem der Autorität, auch im Hinblick auf den Kadavergehorsam innerhalb der kommunistischen Partei, und die Bindung des Ich-Erzählers an seine Eltern. Zudem spielt Massenpsychologie sowie die Genese und Struktur autoritären Denkens eine wichtige Rolle im Widerstandsroman, wie u.a. Alfons Söllner zeigen konnte. Der Widerstandsroman versteht sich, so Söllner, als Erinnerungsarbeit „wider die geschichtliche Verdrängung.“24 Die Romantrilogie nimmt aber auch auf die Individualpsychologie Bezug, was sich nicht zuletzt in der Beschreibung psychischer Vorgänge äußert, auf das Unbewusste und Traumhafte. In wie weit sich Weiss im Roman zu den „Doktrinen der orthodoxen marxistischen Ästhetik“25 bekennt, ist immer wieder in der Weiss-Forschung thematisiert worden. Die ästhetische Theorie des Romans reicht von der Konzeption einer proletarischen Literatur oder eines „Sozialistischen Realismus“ zur ästhetischen Avantgarde der russischen Oktoberrevolution, des Surrealismus von Brecht und Adorno bis hin zur Postmoderne. Besonders aufschlussreich für die vorliegende Untersuchung ist der kulturwissenschaftliche Ansatz, der v.a. von der Frage der Darstellbarkeit der Shoah in der Literatur ausgeht und an neuere Ansätze der Erinnerungskultur und Memoria-Forschung anknüpft.26 Der siebte Forschungsschwerpunkt unter-
23 Jürgen Lodemann, „Jeder Mensch, der denken kann, kann auch weiterdenken. Jürgen Lodemann im Gespräch mit Peter Weiss“, in: Deutsche Volkszeitung Nr. 38, 17. Sept. 1981. Vgl. Robert Cohen, Versuche über Peter Weiss’ „Ästhetik des Widerstands“, S. 29. 24 Alfons Söllner, Peter Weiss und die Deutschen: Die Entstehung einer politischen Ästhetik wider die Verdrängung, S. 145-185. Vgl. Jochen Vogt, Peter Weiss, S. 131. 25 Martin Rector, „Fünfundzwanzig Jahre Die Ästhetik des Widerstands. Prolegomena zu einem Forschungsbericht“, in: Arnd Beise, Jens Birkmeyer, Michael Hofmann (Hrsg.), Diese bebende kühne zähe Hoffnung: 25 Jahre Peter Weiss, ‚Die Ästhetik des Widerstands‘, S. 42f. 26 Zur Poetik der Erinnerung im Werk von Peter Weiss, siehe Waltraud Wiethölter, „Mnemosyne oder Die Höllenfahrt der Erinnerung. Zur Ikono-Graphie von Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands“, in: Gerhard von Graevenitz, (Hrsg.), Zur Ästhetik der Moderne. Für Richard Brinkmann zum 70. Geburtstag. Tübingen 1992, S. 217282. Vgl. auch Karl-Josef Müller, Haltlose Reflexion: Über die Grenzen der Kunst in
150 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT sucht den Roman im Kontext von Intertextualität und Narratologie. Es wurde dabei mehrmals auf die Bedeutung der Mythendeutung und-bildung im Roman hingewiesen, vor allem in Bezug auf Weiss’ Rezeption und Adaption von Dante Alighieris Divina Commedia. Hiermit haben sich u.a. Jürgen Wöhl und Yannick Müllender beschäftigt. Wöhl geht davon aus, dass Weiss’ Adaption von Dantes Divina Commedia gedächtnisstiftend ist.27 Weiss’ Hadeswanderung spiegelt sich in der Auswahl der Todesbilder in der Ästhetik des Widerstands; sie geht vom Berliner Pergamonaltar aus und führt über Picassos Guernica, Brueghels Todestriumph bis hin zu Goyas Erschießung der Aufständischen, sie reicht von Géricaults Floß der Medusa und Studie nach Enthaupteten über Boschs Höllenvisionen, Meryons Das Leichenschauhaus, das Todestanz-Fresko in der Berliner Marienkirche zu Meissoniers Barrikade mit den erschossenen Arbeitern des Pariser
Peter Weiss’ Roman „Die Ästhetik des Widerstands“, S. 138-172, Jean-Michel Chaumont, „Der Stellenwert der Ermittlung im Gedächtnis von Auschwitz“, in: Irene Heidelberger-Leonard (Hrsg.), Peter Weiss. Neue Fragen an alte Texte, Opladen 1994, S. 77-93. Vgl. Günter Butzer, Fehlende Trauer, S. 160-213 und. Michael Hofmann, „Antifaschismus und poetische Erinnerung an die Shoah. Überlegungen zu Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands“, in: PWJ 3 (1994), S. 122-134. Vgl. auch Arnd Beise, Peter Weiss: ‚Verleugnete Erfahrungen lebten in mir auf‘“, in: Norbert Otto Eke, Hartmut Steinecke (Hrsg.), Shoah in der deutschsprachigen Literatur, S. 216225. Zusammenfassend hierzu Martin Rector, „Fünfundzwanzig Jahre Die Ästhetik des Widerstands. Prolegomena zu einem Forschungsbericht“, in: Arnd Beise, Jens Birkmeyer, Michael Hofmann (Hrsg.), Diese bebende kühne zähe Hoffnung: 25 Jahre Peter Weiss, ‚Die Ästhetik des Widerstands‘, S. 44. 27 Zu Weiss’ Rezeption von Dante Alighieris Divina Commedia gibt es in der WeissForschung zahlreiche Beiträge. Vgl. u.a. Jens Birkmeyer, Bilder des Schreckens. Dantes Spuren und die Mythosrezeption in Peter Weiss’ Roman „Die Ästhetik des Widerstands“, Wiesbaden 1994, Jürgen Wöhl, Intertextualität und Gedächtnisstiftung: Die Divina Commedia Dante Alighieris bei Peter Weiss und Pier Paolo Pasolini, Frankfurt am Main (u.a.) 1997, Michael Hofmann, „Peter Weiss’ Dante-Rezeption und die poetische Erinnerung an die Shoah“, in: PWJ 6 (1997), S. 94-109. Vgl. Yannick Müllender, Peter Weiss’ Divina Commedia-Projekt (1964-1969): „lässt sich dies noch beschreiben“ – Prozesse der Selbstverständigung und der Gesellschaftskritik, (= Kunst und Gesellschaft, Bd. 3) St. Ingbert 2007. Siehe hierzu auch Tobias Mandel, Formen und Funktionen von Intertextualität und Intermedialität in der Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss, (= Kunst und Gesellschaft, Bd. 9), St. Ingbert 2013, S. 91282. Mandels Studie konnte bis zur Fertigstellung der vorliegenden Monographie nur ansatzweise berücksichtigt werden.
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Juniaufstands 1848. Die Auswahl der Todessujets lässt sich im Roman beliebig erweitern und gipfelt in der Hinrichtung der Widerstandskämpfer in Plötzensee 1942.28 Der Tod ist ein Thema, das Weiss ständig fasziniert hat; „Daß kaum ein Tag vergeht, ohne daß ich an den Todesgedanken rühre“ notiert der Autor in seinen Notizbüchern, nachdem er einen Eintrag über Altern und Todesnähe in den Tagebüchern Thomas Manns gelesen hat.29 Ergänzt wurden diese intertextuellen Deutungen mit narratologischen Ansätzen. Das Interesse der Forschung galt v.a. der Funktion des Ich-Erzählers (erlebendes vs. erzählendes Ich), der Beschreibungstechnik, der Figurenrede, der filmisch konzipierten Überblendungstechniken, der Montagetechnik von dokumentarischem Material und Fiktionalität und der im Konjunktiv Futur verfassten Schlusspassagen des Romans.30 Ein auffälliges Merkmal der Peter-Weiss-Forschung der 1990er Jahre ist weiterhin der methodenpluralistische Ansatz der Studien zur Ästhetik des Widerstands. Tendenziell tritt der unmittelbare politische Stoffgehalt des Romans nun allmählich in den Hintergrund, zugunsten von Analysen der Erzählweise, Struktur, des Verständnisses von Kunstauffassung und Geschichte sowie Fragen hinsichtlich des Verständnisses von Widerstand und Ästhetik.31 Desiderate der Peter
28 Zu Weiss’ Quellen siehe PWA 3245. Detaillierte Liste der in Plötzensee hingerichteten Personen. Insgesamt fanden während der NS-Diktatur schätzungsweise 2500 Menschen hier ihren Tod. Weiss’ Hauptquelle war Harald Poelchaus Buch Die letzten Stunden. Erinnerungen eines Gefängnispfarrers, Berlin 1949. 29 Zum Todesmotiv bei Weiss, siehe Anja Schnabel, „Nicht ein Tag, an dem ich nicht an den Tod denke“ – Todesvorstellungen und Todesdarstelllungen in Peter Weiss’ Bildern und Schriften, (= Kunst und Gesellschaft, Bd. 5) St. Ingbert 2010. 30 Vgl. hierzu Burkhardt Lindner, „Ich Konjunktiv Futur I oder die Wiederkehr des Exils“, in: Karl-Heinz Götze, Klaus R. Scherpe (Hrsg.), Die Ästhetik des Widerstands lesen, S. 95-111. Vgl. Maria Schmitt, „Die Ästhetik des Widerstands“, S. 77-126. Ludger Classen, Jochen Vogt, „‚Kein Roman überhaupt?‘ Beobachtungen zur Prosaform der „‚Ästhetik des Widerstands‘“. In: Alexander Stephan, (Hrsg.), Die Ästhetik des Widerstands, S. 134-163, Martin Rector, „Örtlichkeit und Phantasie. Zur inneren Konstruktion der ‚Ästhetik des Widerstands‘“, in: Ebd., S. 104-133. Siehe auch Jens Birkmeyer, Bilder des Schreckens, S. 57-104. 31 Bezeichnend hierfür ist Stephan Meyers Arbeit Kunst als Widerstand. Zum Verhältnis von Erzählen und ästhetischer Reflexion in Peter Weiss‘ „Die Ästhetik des Widerstands“, (= Studien zur deutschen Literatur, Bd. 102) Berlin 1989. Vgl. Michael Hofmann, Ästhetische Erfahrung in der historischen Krise: Eine Untersuchung von
152 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Weiss-Forschung bilden u.a. die Passagen in der Ästhetik des Widerstands über den Spanischen Bürgerkrieg32 und die Geschichte der schwedischen Arbeiterbewegung, den Engelbrekt-Mythos33 und das Verhältnis von Raum und Erinnerung.34 Über Weiss’ Werk im Kontext von Stadtdiskurs erschien 2004 und 2011 die zweibändige Studie Peter Weiss und Paris von Günter Schütz, die Weiss’ Aufenthalte in der französischen Hauptstadt akribisch dokumentiert und Paris im Werk des Autors untersucht, auch im Hinblick auf die Ästhetik des Widerstands.35 Weniger erforscht ist die Bedeutung von Berlin und Stockholm in Weiss’ Werk.
3.2 F ORM UND S TRUKTUR DER Ä STHETIK DES W IDERSTANDS Die Ästhetik des Widerstands ist von vielen Kritikern als schwierig aufgefasst worden. Von „der vielleicht komplexeste[n] synthetische[n] Form […] die in der
Kunst- und Literaturverständnis in Peter Weiss’ Roman „Die Ästhetik des Widerstands“. 32 Zur Darstellung des Spanischen Bürgerkriegs in der Ästhetik des Widerstands, siehe Bettina Bannasch, „Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands“, in: Bettina Bannasch, Christiane Holm (Hrsg.), Erinnern und Erzählen: Der spanische Bürgerkrieg in der deutschen und spanischen Literatur und in den Bildmedien, Tübingen 2005, S. 471484. 33 Abgesehen von Cohens Vergleich des Engelbrekt-Aufstands mit Ferdinand Lasalles Franz von Sickingen und Annie Bourguignons zusammenfassender Charakteristik gibt es wenige Beiträge zu diesem Abschnitt, der in der Weiss-Forschung häufig lediglich en passant erwähnt wird. Vgl. Robert Cohen, Versuche über Weiss’ Ästhetik des Widerstands, S. 197-222. Vgl. Annie Bourguignon, Der Schriftsteller Peter Weiss und Schweden, (= Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft, Bd. 54) St. Ingbert 1997, S. 216-232. Ein Desiderat der Forschung bleibt u.a., welche Quellen Weiss benutzt hat. 34 Siehe hierzu Ulrike Weymann, „Zur Semantik räumlicher Strukturen in Literatur und Film: Das surreale Prosastück Der Fremde und dessen filmische Adaption Hägringen“, in: Yannick Müllender, Jürgen Schutte, Ulrike Weymann (Hrsg.), Peter Weiss: Grenzgänger zwischen Künsten. Bild – Collage – Text – Film, S. 51-67. 35 Günter Schütz, Peter Weiss und Paris. Prolegomena zu einer Biographie. Bd. 2: 1967-1982, St. Ingbert 2011, S. 388-452.
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modernen Epik entwickelt wurde“36 schreibt Thomas Metscher im Hinblick auf die Struktur des Romans. Die Ästhetik des Widerstands sei „eine Synthese von Realistik, Dokumentaristik, Surrealismus, theoretischer Reflexion, kunstwissenschaftlicher Analyse, Historiographie“.37 Diese Mischung aus Prosa und eingeschobenen essayistischen Passagen gehört laut Weiss zur „Collage-Technik“ des Romans, indem disparate Elemente miteinander verbunden werden: der Abschnitt mit den Namen der Großindustriellen, problematisch, aber notwendig – gehört ja auch zur Collage-Technik, widerstreitende Elemente werden miteinander verbunden, schreiende Kontraste, bilden letzten Endes eine Ganzheit. Diese Stilbrechungen Bestandteile der ständigen innern Auseinandersetzungen, Zusammenstöße – sollte vielleicht 38
noch weitergetrieben werden, zu groben Dissonanzen
Diese Collage-Technik dürfte ein Reflex des multimedialen Künstlers Weiss sein, der sich sowohl mit dem Film als auch mit dem Medium der Malerei beschäftigt hat. Wenn man Weiss’ eigene Aussage für bare Münze hält, sollte der Roman ursprünglich ausschließlich in Schweden39 spielen, und die Entstehung war laut Weiss spontan: „Die Trilogie ist nach einer Art von spontaneistischem Prinzip geschrieben worden und entstand die ganze Zeit nur aus dem aufgefundenen Material.“40 Trotz dieser Aussage folgen die Erzählblöcke häufig einem gemeinsamen narrativen Prinzip, das auf die klassische Rhetorik zurückgeführt werden
36 Thomas Metscher, „Über die notwendige Pluralität künstlerischer Formen. Anmerkungen zum Problem einer Theorie moderner epischer Dichtung“, in: Weimarer Beiträge 32, (1986) H. 10, S. 1626-1650, hier S. 1643. Vgl. Robert Cohen, Versuche über Weiss’ Ästhetik des Widerstands, S. 11. 37 Ebd. 38 NB 2, S. 888. 39 Dies in einem Gespräch 1972 mit der schwedischen Journalistin Disa Håstad, vgl. hierzu Annie Bourguignon, Der Schriftsteller Peter Weiss und Schweden, S. 215. 40 Vgl. Burkhardt Lindner, „Zwischen Pergamon und Plötzensee“, in: Karl-Heinz Götze, Klaus R. Scherpe (Hrsg.), Die Ästhetik des Widerstands lesen, S. 153. Cohen sieht in der Genese des Romans einen Reflex auf Rosa Luxemburgs Konzeption des Spontaneitätsbegriffs als Paradigma für die Romanstruktur. Vgl. Robert Cohen, Versuche über Weiss’ Ästhetik des Widerstands, S. 42f.
154 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT kann. Dies äußert sich in der grundlegenden rhetorischen Struktur.41 Diese besteht aus fünf Produktionsstadien in der Rede, den partes orationis: inventio, exordium, narratio, argumentatio und peroratio, wobei besonders die enge Verknüpfung von Narration und Argumentation in Weiss’ Widerstandsroman eine bedeutende Rolle spielt. Die explizit sachbezogene, „objektive“ und argumentative Erzählweise des Romans äußert sich nicht zuletzt in der dialogischen Argumentationsstruktur.42 Die Verteilung zwischen narratio und argumentatio, zwischen Narration und rationaler Prüfung eines Sachverhalts tritt sowohl in den rein diegetischen als auch in den Dialogpassagen auf. Ein besonders gutes Beispiel hierfür bietet der Dialog zwischen Vater und Erzähler im Rahmen der Schilderungen der politischen Begebenheiten in Bremen 1919. Die Erzählintention orientiert sich hier an einer argumentativ-logischen Erklärung für die Spaltung der Arbeiterbewegung. Die auf der Bildfindung im Raum beruhenden Erinnerungsbilder, die im Roman häufig evoziert werden, sind rhetorischer Herkunft und dienen als Vergegenwärtigung historischer Ereignisse im Raum. Dieses Aufgreifen der Memoria-Tradition stellt ein wichtiges stilistisches Mittel im Roman dar. Die Komplexität des Romans betrifft nicht nur die vielfältige Thematik, sondern auch die Sprache; die riesigen absatzlosen monolithischen Schriftblöcke erschweren die Lektüre. Abgesehen von Komma und Punkt wird auf Interpunktion weitgehend verzichtet. Die Auslassung von unbetonten Vokalen (Elision) und das Zusammenziehen von Wörtern (z.B. „vorm“ statt „vor dem“) ermöglichen eine äußerst kompakte Form der Darstellung.43 Diese Gedrängtheit und Geschlossenheit der Form trägt maßgeblich zum Blockcharakter des Buches bei und ist Reflex von Weiss’ Studien des Neuhochdeutschen, v.a. der Werke Hölderlins.44 Hinzu kommt eine dokumentarische Aufzählung von Kartellen, historischen Personen, Geldinstituten und Aktienmengen, die an Weiss’ Tätigkeit als Journalist und Dokumentarfilmemacher erinnert. Der Autor verzichtet hier gänzlich auf eine adverbiale Auschmückung und erhebt hier nicht einmal eine „An-
41 Vgl. zum Folgenden Andreas Solbach, Evidentia und Erzähltheorie: die Rhetorik anschaulichen Erzählens in der Frühmoderne und ihre antiken Quellen, München 1994, S. 75ff. et passim. 42 Vgl. hierzu den Eintrag in den Notizbüchern vom 28. Februar 1974 über die monolithische Struktur des Romans; „Riesige Blöcke- schwer, klobig.“ (NB 2, S. 264). 43 Vgl. hierzu Robert Cohen, Versuche über Weiss’ Ästhetik des Widerstands, S. 28. 44 „‚Es ist ja eine Wunschautobiographie.‘ Peter Weiss im Gespräch mit Rolf Michaelis über seinen politischen Gleichnisroman“, in: Rainer Gerlach, Matthias Richter (Hrsg.), Peter Weiss im Gespräch, S. 216- 223, hier S. 220.
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deutung eines Versuchs, Literatur herzustellen.“ 45 Beim Gespräch mit Burckhard Lindner hat Weiss die kompakte Form der Ästhetik des Widerstands mit seiner hermetischen Situation im Exil verglichen.46 Auch die editorische Ausstattung der grauen Bände, die nach Wunsch des Autors „in äusserst einfacher Aufmachung […] und in einem sehr hohen Format“ erschienen, entsprach „dem Blockcharakter“ des Widerstandsromans.47 Die gewaltige Textmasse (955 Seiten) verteilt sich auf drei Bände wie folgt: Band I 361 Seiten: 1. Teil: 16 Kap., II. Teil: 17 Kap. Band II 326 Seiten I. Teil: 19 Kap., II. Teil: 18 Kap. Band III 268 Seiten: I. Teil: 11 Kap., II. Teil: 8 Kap.
Der Roman erschien in beiden deutschen Staaten. Die Lizenz-Ausgabe für die Deutsche Demokratische Republik, die im Henschelverlag erschien, weist was den Umfang des Romans anbelangt, Unterschiede zur Suhrkamp-Ausgabe auf: Beim zweiten Band um fünf, beim dritten Band um beinahe zehn Seiten mehr. Beim genauen philologischen Vergleich erweisen sich die Unterschiede als eine gravierende Veränderung im Sprachduktus.48 Als Weiss 1980 das Manuskript des dritten Bandes dem Suhrkamp Verlag überreichte, wurde er vom Verlag gedrängt, sprachliche „Verbesserungen“ des Textes vorzunehmen. In einem Brief an seinen Verleger Siegfried Unseld klagt Weiss, dessen gesundheitlicher Zustand sich mittlerweile verschlechtert hatte, über die „Entmachtung“ des Autors:
45 NB 2, S. 554: „Das Schreiben als bloßes Reflektieren. Die trockne Berichterstattung. Ohne jegliche literarische Ausschmükkung. Nicht einmal Andeutung eines Versuchs, Literatur herzustellen. Nur Aufzählung von Namen. Genaue Kennzeichnung kleine Vorkommnisse. Kartelle, Geldinstitute. Aktienmengen. Wäre falsch, in diesen Abschnitten nach einer „Form“ zu suchen. Die hier ist der Katalog.“ 46 Vgl. Burkhardt Lindner, „Zwischen Pergamon und Plötzensee oder Die andere Darstellung der Verläufe. Peter Weiss in Gespräch mit Burkhardt Lindner“ (Mai 1981), in: Karl-Heinz Götze, Klaus R. Scherpe (Hrsg.), Die Ästhetik des Widerstands lesen, S. 150-173, hier S. 166f. 47 Brief von Peter Weiss an Siegfried Unseld vom 14.2.1975. Siehe Siegfried Unseld – Peter Weiss, Der Briefwechsel, hrsg. von Rainer Gerlach, Frankfurt am Main 2007, S. 899. 48 Siehe hierzu Dieter Strützel, „Zur Differenz des Wortlauts der Ästhetik des Widerstands im Suhrkamp- und Henschelverlag.“ In: Jens-F. Dwars, Dieter Strützel, Matias Mieth (Hrsg.), Widerstand wahrnehmen: Dokumente eines Dialogs mit Peter Weiss, Köln 1993, S. 256-291, hier S. 256f.
156 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Ein Leser wird die Bearbeitung des Textes vielleicht gar nicht merken, vielleicht wird sogar der Eindruck entstehen, dass der Text in diesem Band besser und leichter läuft – viele Eigenarten, Wendungen, „Widerborstigkeiten“ aber fallen mir in meinem Manuskript immer wieder auf, die jetzt behoben sind, literaturhistorisch von einer „Entmachtung“ meinerseits zeugen werden. Ich habe mich damit abgefunden, weil ja, wie gesagt, an der Situation nichts mehr zu ändern war. Ich sagte mir: der ‚Urtext‘ ist ja vorhanden, ist weiterhin vergleichbar. Das eigentümliche Missverhältnis zwischen Manuskript und Buch aber hält mich weiterhin in einer Unruhe.
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Es gehört zu den Widersprüchen deutsch-deutscher Geschichte, dass Die Ästhetik des Widerstands in der DDR, wo selbst ein Roman wie Umberto Ecos Der Name der Rose (1985) zensuriert wurde, auf eine kritische Masse stieß, die geduldig die Herausgabe der Originalfassung beförderte. In kleinen akademischen Randzonen verbreitet, erschien die DDR-Lizenzausgabe des Romans 1983, der also weitgehend der Originalfassung folgte.50 Trotz der philologischen Fragwürdigkeit der Suhrkamp-Ausgabe vervielfältigt der Verlag bis in die sechsbändige Werk-Ausgabe von 1991 hinein diese Fassung als die einzig gültige, ohne auf die Vorschläge von Weiss-Forschern zu reagieren. Dies obwohl Weiss in einem Brief an Unseld vom 29. August 1981 einräumt, dass die Korrekturen der Suhrkamp-Lektorin Elisabeth Borschers „zum grössten Teil völlig unnötig waren – und in vielem dem Text auch seinen eigentlichen Charakter nahmen.“51 Eine texthistorisch-kritische Ausgabe, die auch die essayistischen Arbeiten des Autors umfasst, scheint weiterhin von Seiten des Verlags unerwünscht zu sein.52 Die Ästhetik des Widerstands stellt ein kompliziertes literarisches Gebilde dar: Es handelt sich um ein eng verwobenes Netz von Erinnerungen, Reflexio-
49 Brief von Peter Weiss an Siegfried Unseld vom 31.1.1981. Siegfried Unseld – Peter Weiss, Der Briefwechsel, S. 1063f. 50 Siehe hierzu Dieter Strützel, „Zur Differenz des Wortlauts der Ästhetik des Widerstands im Suhrkamp- und Henschelverlag.“ In: Widerstand wahrnehmen: Dokumente eines Dialogs mit Peter Weiss, S. 256f. 51 Siegfried Unseld – Peter Weiss, Der Briefwechsel, S. 1080. Zur Frage der Korrekturen des dritten Bandes der Ästhetik des Widerstands siehe auch Rainer Gerlach, Die Bedeutung des Suhrkamp Verlags für das Werk von Peter Weiss (= Studien zur Kunst und Gesellschaft, Bd. 1), St. Ingbert 2005, S. 266-281. 52 Vgl. hierzu u.a. Jürgen Schuttes Plädoyer „Für eine kritische Ausgabe der Ästhetik des Widerstands“, in: Arnd Beise, Jens Birkmeyer, Michael Hofmann (Hrsg.), Diese bebende kühne zähe Hoffnung: 25 Jahre Peter Weiss, ‚Die Ästhetik des Widerstanda‘ , S. 49-76.
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nen und Kunstbetrachtungen, zusammengesetzt aus historischen Tatsachen, Mutmaßungen, Mythen, Erlebtem und Erlesenem und Beobachtungen. Der Text, der von verschiedenen Leitmotiven durchzogen ist, bildet eine vernetzte Struktur: Ohne Kapiteleinteilung und Absätze geschrieben, wirkt der Roman wie ein monolithischer Textblock, ein Erinnerungsstrom, in dem verschiedene diegetische Ebenen und Thematiken häufig nahtlos ineinander übergehen bzw. miteinander verbunden sind. Auffällig ist dabei das Fehlen einer deutlich erkennbaren Romanstruktur; von „einer äusseren Gliederung“ kann im Hinblick auf Die Ästhetik des Widerstands nicht die Rede sein.53 Dies wird nicht zuletzt durch die Simultantechnik bekundet: Das gemeinsame Merkmal der disparaten Textmasse ist, dass die diegetischen Ebenen ständig wechseln.54 Diese Technik der künstlerischen Simultaneität begegnet uns zuvor im Empedokles-Abschnitt in Weiss’ Hölderlin-Drama: Vom erzählerischen Jetzt – Ende der 1960er Jahre – wird ein historischer Bogen gespannt, der bis zur Antike zurückgeht. Vier visionäre Gestalten, die die Hoffnung auf eine bessere Welt symbolisieren, werden im Drama hervorgehoben: Empedokles, Jesus Christus, Friedrich Hölderlin und Che Guevara. Diese Figuren verweisen auf vier historische Schichten, die ähnlich in der Ästhetik des Widerstands miteinander verbunden werden und sich gegenseitig abwechseln.
53 Jochen Vogt, „‚Wie könnte dies alles geschildert werden?‘ Versuch, die ‚Ästhetik des Widerstands‘ mit Hilfe einiger Vorurteile ihrer Kritiker zu verstehen“, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Peter Weiss (= Text + Kritik 37), 2., völlig veränderte Auflage, München 1982, S. 68-94, hier S. 80. 54 Der Begriff der diegetischen Ebenen wird hier in Anlehnung an Gérard Genette verwendet. Genette unterscheidet in Prousts Roman À la Recherche du temps perdu zwischen drei verschiedenen Ebenen des Erzählens, die er folgendermaßen definiert: „Wir wollen den Ebenenunterschied wie folgt definieren: Jedes Ereignis, von dem in einer Erzählung erzählt wird, liegt auf der nächst höheren diegetischen Ebene zu der, auf der der hervorbringende narrative Akt der Erzählung angesiedelt ist. Monsieur de Renoncours Abfassung seiner fiktiven Memoires ist ein (literarischer) Akt, der auf einer ersten Ebene vollzogen wird, die wir extradiegetisch nennen wollen; die Ereignisse, von denen in diesen Memoires erzählt wird […] spielen in dieser ersten Erzählung, wir werden sie daher als diegetische oder intradiegetische Ereignisse bezeichnen; die Ereignisse schließlich, von denen in der Erzählung von des Grieux, einer Erzählung zweiter Stufe also, erzählt wird, wollen wir metadiegetische nennen.“ Gérard Genette, Die Erzählung, 3. durchgesehene und korrigierte Auflage, übersetzt von Andreas Knop, München 2010, S. 148 (Hervorhebungen im Original).
158 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Erzählt wird der Roman von einem Ich-Erzähler, der aus der Retrospektive seine Erinnerungen an die Zeit zwischen 1937 und 1945 26 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges niederschreibt. Die Gegenwartshandlung, die siebendreiviertel Jahre umfasst, wird sowohl äußerst gedehnt als auch stark gerafft erzählt.55 Die historischen Ereignisse, die im Roman vergegenwärtigt werden, erstrecken sich auf die unterschiedlichsten Zeiträume: Sie können zwanzig Jahre umfassen (wie die Geschichte der deutschen Linken), aber auch zweitausendfünfhundert Jahre wie in der Darstellung der Geschichte Spaniens. Die Einheit des Raumes kann in vielen Kapiteln eingehalten werden, um dann plötzlich innerhalb eines Kapitels nach Paris, Zürich und der Sowjetunion verlegt zu werden (ÄdW II, 54-65). Besonders augenfällig sind die langen Passagen über Werke der bildenden Kunst und der Literatur, die ohne eine sichtbare Struktur in den Text eingefügt sind. Der vorherrschende realistische Erzählstil des Romans wird gelegentlich von Traumsequenzen unterbrochen. Anders ausgedrückt: Eine Ästhetik des Widerstands äußert sich nicht nur in der Thematik des Romans, sondern schlägt sich auch im schwer zugänglichen Erzählstil nieder. Nichtdestotrotz weist Die Ästhetik des Widerstands eine sorgfältige und äußerst durchdachte Komposition auf. Es folgt eine kurze Zusammenfassung der Romanhandlung: Der erste Teil des ersten Bandes spielt in Berlin und im tschechoslowakischen Warnsdorf. Die Gegenwartshandlung ist auf einen Tag beschränkt, den 22. September 1937. Der Schwerpunkt dieses Abschnitts liegt allerdings, vom Pergamon-Altar ausgehend, auf den Kunstbetrachtungen der Hauptfiguren, den jungen Arbeitern Horst Heilmann, Hans Coppi und dem anonymen Ich-Erzähler. Dieser Ich-Erzähler trägt unverkennbar Züge von Peter Weiss; er ist am 8. November geboren, seine Eltern haben im tschechoslowakischen Warnsdorf, in Bremen und in Berlin gewohnt, seine Schwester ist tot, er geht ins schwedische Exil.56 Aber es handelt sich auch um eine „Wunschautobiographie. Eine Selbstbiographie, die in sehr vielem meiner eigenen Entwicklung folgt, […] wie wäre ich geworden, wie hätte ich mich entwickelt, wenn ich nicht aus bürgerlich-kleinbürgerlichem Milieu käme, sondern aus proletarischem.“57 Dies bekundet Weiss in einem Interview
55 Vgl. Robert Cohen, Versuche über Weiss’ Ästhetik des Widerstands, S. 37. 56 Siehe hierzu Manfred Haiduk, „Dokument oder Fiktion: Zur autobiographischen Grundlage in Peter Weiss’ Romantrilogie „Die Ästhetik des Widerstands“, in: Alexander Stephan (Hrsg), Die Ästhetik des Widerstands, Frankfurt am Main 1983, S. 5978. Siehe v.a. S. 62f. 57 „‚Es ist ja eine Wunschautobiographie.‘ Peter Weiss im Gespräch mit Rolf Michaelis über seinen politischen Gleichnisroman“, in: Rainer Gerlach, Matthias Richter
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mit Rolf Michaelis 1975, wobei er das Wort „Wunschautobiographie“ hinsichtlich des Ich-Erzählers benutzt. Der Erzähler, dessen Geburtstag mit der Oktoberrevolution in Russland zusammenfällt, ist nicht bürgerlicher sondern proletarischer Herkunft.58 Im Gegensatz zu Weiss nimmt der Erzähler von Anfang an dezidiert am antifaschistischen Kampf teil, auch im Spanischen Bürgerkrieg. Jedoch nimmt er nicht als Kämpfender am Kriegsgeschehen teil, sondern er geht, wie Ingeborg Gerlach gezeigt hat, „als stummer Zeuge […] in eigentümlicher Mittelstellung“ durch „das bewegte Geschehen seiner Tage“ und vermeidet es häufig, Stellung zum politischen Geschehen zu nehmen.59 Beim Erscheinen von Band I hat Weiss den Erzähler der Ästhetik des Widerstands folgendermaßen be-
(Hrsg.), Peter Weiss im Gespräch, hier S. 217. Vgl. Robert Cohen, Versuche über Weiss’ Ästhetik des Widerstands, S. 145. 58 Häufig arbeitet Weiss bei der Inszenierung von Erinnerung in der Ästhetik des Widerstands mit mehreren diegetischen Ebenen, die sich abwechseln. So auch in folgender Passage im Rahmen einer längerer Analepse, die die Geburt des Erzählers behandelt. Der mittlerweile in Albacete angelangte Spanienkämpfer denkt dabei an seine Geburt zurück, die also zeitlich mit der Novemberrevolution zusammenfällt. Als er geboren wurde, fielen die Schüsse der Aurora. Die Inszenierung von Erinnerung erfolgt hier mittels einer Technik der Simultaneität: „Das Datum, zu dessen Feier wir uns in die Halle versammelt hatten, besaß für mich eine besondre Bedeutung, denn vor zwanzig Jahren, als Lenin um acht Uhr abends, in Begleitung des Arbeiters Rachja, maskiert mit Perücke und Brille, eine alte Mütze tief in die Stirn gezogen, einen Schal ums Kinn geschlungen, den Weg zum Smolny antrat, lag meine Mutter in der Frauenklinik am Weserufer in den Wehen, und um die Mitternacht, als Lenin die Vermummung ablegte, im Zimmer am Ende des Korridors, oben im Institut für adlige Mädchen, gleich neben der Aula, wo die Delegierten des Sowjetkongresses, in zerlumpten Soldatenmänteln, zusammengedrängt saßen, und als die Schüsse aus den sechszölligen Kanonen der Aurora zu hören waren, ging mein Vater immer noch unruhig im Wartezimmer auf und ab, und zehn Minuten nach zwei am Morgen zum achten November, als Antonov Ovsejenko, schmalschultrig, mit Schlapphut und randloser Brille, so wie ich ihn, den ich meinen Pater nannte, durchs Caféfenster in Albacete gesehn hatte, die Mitglieder der Provisorischen Regierung im Winterpalais für verhaftet erklärte, kam ich auf die Welt und lag eben gewaschen und gewickelt bei der Ausgabe des Aufrufs, daß alle Macht jetzt übergehe auf die Sowjets der Arbeiter, Soldaten und Bauern, die eine wirkliche revolutionäre Ordnung gewährleisten würden.“ Siehe ÄdW I, S. 252. 59 Ingeborg Gerlach, Die ferne Utopie: Studien zu Peter Weiss’ „Ästhetik des Widerstands“, Aachen 1991, S 41.
160 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT schrieben: „Wer ist dieses Ich? Ich selbst bin es. Das Buch ist eine Suche nach mir selbst.“60 Ich stelle mich also, fiktiv, zwischen wirkliche Menschen; an den Aktionen hätte ich teilnehmen können, wenn ich damals schon so politisch bewusst gewesen wäre wie heute. In diesem Sinn ist es für mich eine philosophische Frage: Wie hätte ich mich betragen zwischen diesen Menschen damals?
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Nach dem achten Kapitel, das in eine Traumsequenz übergeht, (der Vater des Ich-Erzählers erscheint aus dem Boden in der Küche des Erzählers, der Flug des Erzählers über die Stadt) wird die Handlung nach Warnsdorf verlegt. Dort verbringt der Ich-Erzähler einige Tage Ende September 1937 zusammen mit seinen Eltern. Hier spielt die Gegenwartshandlung eine periphere Rolle; stattdessen rücken Rückblendungen und Erinnerungspassagen in den Fokus, etwa der Bericht des Vaters über die Bremer Räterepublik und die Entwicklung der Linken in Deutschland 1919-1937. Die Handlung des zweiten Teils des ersten Bandes ist in Spanien während des Bürgerkriegs angesiedelt, wo sich der Erzähler ein Jahr lang, von Herbst 1937 bis Herbst 1938 in den Krankenstationen Cueva la Potita und in Denia und in Valencia aufhält. Hier überwiegt die Gegenwartsschilderung des Geschehens um den Erzähler und seine Mitkämpfer auf den Krankenstationen. Im Rahmen längerer Rückblendungen wird die Geschichte der Linken in Spanien seit 1850 (ÄdW I, S. 228-244) geschildert. Es folgt die Darstellung der Moskauer Schauprozesse (ÄdW I, S. 288ff.) bis hin zu der 2500-jährige Geschichte Spaniens (ÄdW I, 320-330). Desweiteren kommt es in diesem Abschnitt zu langen Kunstdiskussionen zwischen dem Erzähler und Ayschmann, vor allem über Picassos Gemälde Guernica. Die Gegenwartshandlung des zweiten Bandes der Ästhetik des Widerstands ist in Paris (vom 20. September bis 10. November 1938) und in Stockholm (20. September 1938 bis Juli 1939) angesiedelt. Der Pariser Abschnitt (ÄdW II, 7-77) umfasst etwa zwei Monate und beinhaltet längere Medienreflexionen, vor allem über Géricault, Meryon, Sue, Sassetta und Passagen über Münzenberg und Lenin. Im Stockholmer Abschnitt (ÄdW II, 86-152) ist die etwa sieben Monate lange Gegenwartshandlung stärker als in den anderen Abschnitten profiliert. Beim Besuch im Stockholmer Nationalmuseum wird eine Passage über Meryon
60 NB 2, S. 539. 61 „‚Es ist ja eine Wunschautobiographie.‘ Peter Weiss im Gespräch mit Rolf Michaelis über seinen politischen Gleichnisroman“, in: Rainer Gerlach, Matthias Richter (Hrsg.), Peter Weiss im Gespräch, S. 218.
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und Géricault eingefügt (ÄdW II, 119ff.). Am Ende dieses Abschnitts findet der erste Besuch des Ich-Erzählers bei Brecht auf der Insel Lidingö statt. Wie ein Fremdkörper in den Text integriert steht die Passage über Lotte Bischoff, deren Eindrücke von Stockholm „ohne Bezug auf das erzählte Ich“62 zwischen den Paris- und Stockholm-Kapiteln wiedergegeben werden (ÄdW II, 77-85).63 Ebenso überraschend eingefügt ist das Kapitel über die Fahrt von Gallego und Stahlmann nach Leningrad (ÄdW II, 153-159). Im zweiten Teil des zweiten Bandes – er spielt vom 24. August bis zum 17. April 1940 – nimmt die Gegenwartshandlung wieder einen verhältnismäßig kleinen Raum ein. Stattdessen rücken hier die bereits im ersten Band angefangenen Gespräche mit Brecht in den Fokus, die um das unvollendete Drama über den schwedischen Bauernführer Engelbrekt und die schwedische Geschichte im fünfzehnten Jahrhundert kreisen. Hinzugefügt wird die Geschichte der schwedischen Arbeiterbewegung, die von Ström und Rogeby berichtet wird (ÄdW II, 258-305). Im dritten Band rückt wieder die Gegenwartshandlung ins Zentrum der Darstellung, die Aktivitäten des Erzählers und die anderen Widerstandskämpfer im Stockholmer Untergrund vom Mai 1940 bis zum Sommer 1942. Die Einheit der Handlung wird durch eingefügte Passagen über die Eltern des Erzählers, über den Tod seiner Mutter (ÄdW III, 7-36, 123ff.), über die Nachricht vom Tod der schwedischen Autorin Karin Boye (ÄdW III, 20-42), über die Reisevorbereitungen und die Reise Lotte Bischoffs nach Deutschland (ÄdW III, 67-93) und Arthur Illers Schilderung des Angkor-Wat (III, 93-108) wiederholt verletzt. Im zweiten Teil des dritten Bandes dominiert ohne größere Rückwendungen bis zum Schluss eine einzige Zeitebene. Ohne dass das erzählende Ich zum Vorschein tritt, wird über das Geschehen in Berlin vom 29. August bis zum 22. Dezember 1942 berichtet: Wie die Widerstandskämpfer Lotte Bischoff, Hans Coppi und Horst Heilmann im Untergrund in Berlin gegen das Naziregime kämpfen bis zu deren Festnahme (Lotte Bischoff überlebt allerdings) und Hinrichtung in Plötzensee. Aus der Perspektive der „Erinnerungsfigur“ Lotte Bischoff wird dann die Fortsetzung des Widerstandskampfes in Berlin bis zum September 1944 zusammenfassend dargestellt. Im zweitletzten Kapitel wird dann erneut der
62 Vgl. Robert Cohen, Versuche über Weiss’ Ästhetik des Widerstands, S. 36. 63 Die Tatsache, dass Weiss die Bischoff-Passage unter dem Titel „Besichtigung der Stadt“ als Vorabdruck veröffentlichen wollte, unterstreicht die Selbständigkeit dieses Kapitels. Aus dem zweiten Band wurde tatsächlich eine gekürzte Version des Arbeitsgesprächs mit Brecht über das Engelbrekt-Projekt in der Zeitschrift Der Kürbiskern, H. 3, 1978, S. 10-26 veröffentlicht. Siehe hierzu Robert Cohen, Weiss’ Ästhetik des Widerstands, S. 44.
162 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Bericht des jungen Ich-Erzählers eingeführt, der über das Vorhaben der Emigranten und die Aktivitäten des antifaschistischen Kulturbundes in Schweden berichtet (ÄdW III, 239-257). Der Roman endet mit dem „konjunktivischen Ausund Rückblick“64, in dem der historische Verlauf der dreißig Jahre vom Kriegsschluss in Europa am 6. Mai 1945 bis in die Zeit der Konzipierung des Romans rekapituliert wird.
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Spätestens seit der Veröffentlichung von seinem autobiographischen Roman Fluchtpunkt entdeckte Weiss, wie Peter Hanenberg gezeigt hat, „den Nutzen der Historie für sein Schreiben“. Dies bedeutet, dass historische Stoffe zum zentralen Gegenstand seiner Texte werden, man denke nur an den historischen Hintergrund des Geschichtsdramas Die Ermordung des Jean Paul Marat (1964), dessen Genese mit einem umfassenden und langen Quellenstudium verbunden war. Auch Weiss’ dokumentarisches Drama Die Ermittlung befasst sich mit einem geschichtlichen Stoff und stellt eine kritische Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit dar. Weitere Arbeiten, in denen die Geschichte eine prägnante Rolle spielt, sind u.a. das Agitprop-Stück Gesang vom Lusitanischen Popanz (1967) über die damaligen Vorgänge in den portugiesischen Kolonien und das kontroverse Geschichtsdrama Trotzki im Exil (1970).65 Diese Hinwendung zum historischen Stoff bedeutet gleichzeitig im Hinblick auf Weiss’ Werke, dass autobiographische Bezüge objektiviert werden, und dass diese in gesellschaftliche Kontexte einbezogen werden. In der Rekonstruktion der persönlichen Vergangenheit hat Weiss den Nutzen der Historie für sein Schreiben entdeckt: als Bedingung der Herstellung von Zusammenhängen und als Ausdruck der Notwendigkeit, sich von überlieferten Zwängen zu befreien. Historische Stoffe werden nunmehr zum zentralen Gegenstand von Weiss literarischer Tätigkeit. Die eigene Geschichte ist narrativ gebannt; nun sollte es ihm darum gehen, diese persönliche Angelegenheit zu objektivieren; sie aus dem Kontext der autobiographischen Rekonstruk-
64 Vgl. Robert Cohen, Versuche über Weiss’ Ästhetik des Widerstands, S. 36. 65 Zu Weiss’ Quellen zu Marat, siehe Arnd Beise, Ingo Breuer, Erläuterungen und Dokumente: Peter Weiss. Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, Stuttgart 1995, S. 90ff.
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tion loszulösen und in gesellschaftliche Zusammenhänge zu überführen, ohne dabei aber 66
die praktischen Einsichten preiszugeben, die ihn bis an diesen Punkt geführt hatten.
Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, Weiss’ Widerstandsroman als einen (poly)historischen Roman einzustufen, wie es u.a. Hugo Aust gemacht hat.67 Der historische Roman erlebt im zeitgenössischen Literaturbetrieb einen regelrechten Boom. Dies äußert sich in einer schier endlosen Anzahl an Romanen, die in den letzten Jahrzehnten erschienen sind und die historische Themen zum Gegenstand haben, u.a. Romane wie Umberto Ecos Der Name der Rose (1980), Patrick Süskinds Das Parfüm: Geschichte eines Mörders (1985), Hans Magnus Enzensbergers Hammerstein (2008), Felicitas Hoppes Johanna (2006) und Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt (2005).68 Historische Romane standen in der bundesrepublikanischen Literaturszene zu Beginn der 1970er Jahre allerdings nicht hoch im Kurs. Während der historische Roman in der DDR eine „staatspädagogische“ Funktion übernahm, bedeuteten die 1960er Jahre „einen Exitus der Gattung“ in der BRD.69 Insofern bietet Weiss’ Romantrilogie eine frühe Hinwendung und Wiederbelebung dieser Gattung in der westdeutschen Literaturszene der frühen 1970er Jahre. Etwa zeitgleich entstand Uwe Johnsons Epochenwerk Jahrestage (4 Bde.; 1970-1983)70, welches ähnlich wie Weiss’ Widerstandsroman eine literarische Hinwendung zur historisch-literarischen Darstellung apostrophiert. Mit Johnsons Jahrestagen teilt Weiss’ Roman zudem die Überschneidung mehrerer Zeitebenen, ein Merkmal des historischen Romans.71 Ehe auf Weiss’ Roman im Kon-
66 Peter Hanenberg, Peter Weiss: Vom Nachteil und Nutzen der Historie für das Schreiben, S. 50f. 67 Zur Gattung des historischen Romans in Deutschland siehe Hugo Aust, Der historische Roman, (= Sammlung Metzler, Bd. 278: Realien zur Literatur) Stuttgart 1994, S. 152-167, hier S. 155. 68 Vgl. hierzu Gerhard Scholz, Zeitgemäße Betrachtungen? Zur Wahrnehmung von Gegenwart und Geschichte in Felicitas Hoppes „Johanna“ und Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“, (= Angewandte Literaturwissenschaft, Bd. 15) Innsbruck 2011, S. 9f. 69 Hugo Aust, Der historische Roman, S. 156, S. 162. 70 Einen philologisch-diskursiven Vergleich zwischen diesen Werken bietet Torsten Pflugmann, Die literarische Beschreibung. Studien zum Werk von Uwe Johnson und Peter Weiss, München 2007, S. 341-346. 71 Ansgar Nünning hat eine Typologie des historischen Romans entworfen, wobei folgende Merkmale des historischen Erzählens aufgelistet werden, die in Weiss’ Widerstandsroman zum Vorschein kommen: Der (post)historische Roman zeichnet sich häu-
164 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT text des historischen oder „polyhistorischen“ Romans eingegangen wird, scheint es hier angebracht, kurz die Geschichte des historischen Romans zu skizzieren. Als Begründer des historischen Romans im engeren Sinn gilt Walter Scott, dessen Waverley Novels als Paradigma historischen Erzählens gelten. Seitdem orientiert sich der historische Roman an Scott, sei es durch Nachahmung, Weiterführung, Anknüpfung oder Parodie, Revision oder Neugestaltung. Zu den bedeutendsten Werken zum Genre zählt bis heute Georg Lukács Monographie Der historische Roman (1937), der erst 1955 auf Deutsch erschien.72 Laut Lukács folgt der historische Roman dem Muster von Walter Scott und ist gekennzeichnet von einer Synthese der Begriffe Realismus und Geschichte. Darstellungsziel des historischen Romans sei demgemäß eine genaue Rekonstruktion „historischer Umstände“ mit dichterischen Mitteln.73 Spekulativ ist dagegen Lukács’ Ablehnung von Flauberts Roman Salammbô (1862), der im antiken Karthago spielt. Flaubert bediene sich, so Lukács, einer literarischen Technik der „minutiös beobachteten, exakt beschriebenen Details“. Paradigmatisch für den „Niedergang“ des historischen Romans sei Salammbô, in dem die Geschichte als eine „pompöse Kulisse“ eines rein privaten und subjektiven Geschehens erscheine: Dieser Realismus der minutiös beobachteten, exakt beschriebenen Details soll aber jetzt nicht auf die graue Alltagswirklichkeit des französichen Provinzialismus angewandt werden, sondern es soll vor uns die fremde und ferne, unverständliche, aber malerische, deko-
fig durch eine Semantisierung von Räumen, Gegenständen und Begebenheiten auf. Wichtig ist dabei die Darstellung der Bedeutung, die Orte und Erinnerungsräume „für das Geschichtsbewusstsein und die Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses haben können (z.B. Grenzüberschreitungen, Inversionen, Raum als Palimpsest im metahistorischen Roman)“. Ein weiteres Merkmal bildet die Semantisierung von Erinnerungsprozessen, Zeitstrukturen und Zeiterfahrungen (es kommt dabei häufig – auch in der Ästhetik des Widerstands – zu Überlagerungen von Zeitebenen, anachronischer Montage, zur Durchdringung von Vergangenheit und Gegenwart), Intertextualität (in der Ästhetik des Widerstands häufig durch Anspielungen auf Dantes Divina Commedia manifestiert), die Bevorzugung analytisch-diskursiver Erzählstrukturen, ein hohes Maß an metafiktionalen und selbstreflexiven Elementen. Vgl. Ansgar Nünning, „Literarische Geschichtsdarstellung: Theoretische Grundlagen, fiktionale Privilegien, Gattungstypologie und Funktionen“, in: Bettina Bannasch, Christiane Holm (Hrsg.), Erinnern und Erzählen, S. 35-58, hier S. 50. 72 Zur Gattungsgeschichte des historischen Romans siehe Hugo Aust, Der historische Roman, S. 41. 73 Zitat nach Ebd., S. 42.
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rative, pomphafte, farbenprächtige, grausame und exotische Welt Karthagos entstehen. Daraus entspringt der verzweifelte Kampf Flauberts, den exakt erforschten und exakt wiedergegebenen archäologischen Details ein malerisches Bild des alten Karthago abzugewinnen. […] In ‚Salammbô‘ zeigen sich alle Tendenzen des Niedergangs des historischen Romans in einer konzentrierten Form: eine dekorative Monumentalisierung, eine Entseelung und Enthumanisierung der Geschichte und zugleich deren Privatisierung. Die Geschichte erscheint als eine große und pompöse Kulisse, die als Rahmen zu einem rein privaten, intimen, subjektiven Geschehnis dient. Diese beiden falschen Extreme gehören eng zusammen und treten – unabhängig von Flaubert – bei Conrad Ferdinand Meyer, in einer anderen Mischung hervor.
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Hermann Sottong definiert 1992 den historischen Roman als einen narrativen Text, der drei Bedingungen erfüllen soll: Die Handlung soll in der Vergangenheit angesiedelt sein, d.h. in einer Zeit vor der Gegenwartsebene des Erzählens. Wenn die erzählte Zeit von der Erzählzeit in mindestens einer Hinsicht abweicht und wenn der Text implizit oder explizit geschichtstheoretische Aussagen thematisiert, kann von einem historischen Roman die Rede sein.75 Sottong entwirft auch zwei Typen des historischen Romans, den historischen Initiationsroman und den historischen Zeitroman. Kennzeichnend für den letzteren komplexeren Typus, den historischen Zeitroman, sind u.a. exzessive Gewalt, „Überschreitung von Grenzen“, „faktische Geschichtsentwicklung“,“ Untergang“, „radikale Polarisierung“, „Alt gegen Neu“, „Heterogenität“, „Wandel“ und die „Dominanz eines Kollektivs.“76 Dies sind alle Merkmale, die auf die Ästhetik des Widerstands zutreffen. So heißt es an einer Stelle des Romans: Die Regenten aus der Dynastie der Attaliden ließen sich von ihren Bildhauermeistern das schnell Vergehende, von tausenden mit ihrem Leben bezahlte, auf eine Ebene des zeitlos
74 Georg Lukács, Werke, Bd. 6: Probleme des Realismus III: Der historische Roman, Neuwied und Berlin 1965, S. 225, S. 241. J.H. Reid sieht im Widerstandsroman Affinitäten mit Georg Lukács’ klassischer Definition der Gattung. Dies betrifft v.a. die historische Personengallerie: „There is thus in Die Ästhetik des Widerstands also something of the pattern of the historical novel as described by Georg Lukács: the (fictitious) ‚mediocre‘ character in interaction with ‚world historical personages‘“. Vgl. J.H. Reid, „Aesthetics and Resistance: Böll, Grass, Weiss“, in: Graham Bartram (Hrsg.), The Cambridge Companion the modern German novel, Cambridge 2004, S. 187-201, hier S. 198. 75 Hugo Aust, Der historische Roman, S. 48. 76 Ebd., S. 71.
166 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT bestehenden übertragen und damit ein Denkmal ihrer eigenen Größe und Unsterblichkeit errichten. […] In mythischer Verkleidung erschienen historische Ereignisse, ungeheuer greifbar, Schrecken, Bewundrung erregend[.]
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Dieses Zitat kann den Aufbau dieses annähernd 1000 Seiten langen Romans kaum anschaulich machen. Aber es zeigt, dass die Ästhetik des Widerstands im Grunde genommen eine Poetik des historischen Romans verfolgt. Der IchErzähler reist – ganz im Sinne der historischen Romane Walter Scotts78 – in die Vergangenheit hinein. Das deutlich Experimentelle an dieser Romanform ist die Überblendung und „bedeutungsstiftende ‚diahistorische‘ Interferenz mehrerer Zeitebenen“, was strukturell in der Gattung des polyhistorischen Romans vorgesehen ist.79 Hinter der Gegenwartsebene des Romans zeichnet sich ständig das Vergangene ab, das eine Kulisse und Einrahmung des Geschehens darstellt. Die Vergangenheit erstreckt sich von der Jahrhundertwende 1900 bis September 1937, als der Roman anfängt und umfasst das biographische Gedächtnis der Romanfiguren. Deren Erinnerungen an Geschehnisse und Personen bilden das Gerüst für die nahe Vergangenheit. Darüber hinaus nimmt die Inszenierung von Erinnerung an eine ferne Vergangenheit eine wichtige Funktion im Roman ein. Die erzählte Vergangenheit erstreckt sich von der Antike (Pergamonaltar) bis zum 19. Jahrhundert und zur Zerschlagung der Pariser Kommune 1871. Einen, die Gegenwartshandlung erweiternden, gleichzeitig eigenen Diskurs liefert der Engelbrekt-Abschnitt, der die Geschichte des ausgehenden schwedischen Mittelalters sowie die historische Entwicklung der schwedischen Arbeiterbewegung behandelt. Weiss’ Darstellung der Geschichte in der Ästhetik des Widerstands ist mit einem umfassenden Quellenstudium verbunden, was in einen exzessiven Gebrauch von Jahreszahlen mündet. Dies bedeutet eine Annäherung an den historisirenden Modus der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses, wobei die Literatur „zum Medium der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung“ wird.80 Brechts Arbeit am Engelbrekt-Drama und dessen Konzipierung werden durch eingeschobene Berichte, Bilder und Erzählstränge kommentiert und analysiert. Es handelt sich im Hinblick auf die Ästhetik des Widerstands um einen polyhis-
77 ÄdW I, S. 9. 78 Vgl. analog hierzu am Beispiel von Uwe Johnsons Roman Jahrestage Hans Vilmar Geppert, Der historische Roman: Geschichte umerzählt – von Walter Scott bis zur Gegenwart, Tübingen 2009, S. 290. 79 Ebd., S. 291. 80 Zum historisierenden Modus siehe Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 177f., hier S. 177.
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torischen Roman.81 Zu den Gattungsmerkmalen des polyhistorischen Romans gehören die Überlagerung mehrerer Zeitebenen und Erzählstränge sowie eine große Stimmenvielfalt: Neben der Stimme des Ich-Erzählers gibt es zahlreiche Dialoge, Figurenperspektive (Lotte Bischoff im Stockholmer-Abschnitt, Heilmanns Brief an Unbekannt), neutrale Erzählstimmen und Perspektiven (häufig werden die Figuren von außen beschrieben und sprachlich vorgestellt) bis hin zur Stimme des Autors selbst, etwa am Ende des Romans. Die Tatsache, dass die Rededarstellung geradezu durchgängig mehrstimmig ist, und dass der Autor seine Figuren nicht kritisiert, sondern auch divergierende Meinungen zu Wort kommen lässt, wurde in der Sekundärliteratur als demokratische Form der diskursiven Auseinandersetzung gedeutet.82 Die Differenz zwischen Fiktion und Historie, zwischen surrealistisch-traumhaften Episoden und photographischem Realismus wird in der Ästhetik des Widerstands im Wechsel von „spielerischer avantgardistischer Illusionsbrechung“ und „realistischer Beglaubigung“83 durchaus bewusst erzeugts. Eine offene Erzählstruktur wird nicht nur an den vielen, sich nach allen Zeiten verzweigenden Einzelschicksalen, Städte- und Kunstbeschreibungen, sondern auch durch die politischen Diskurse, die Reflexionen über Politik, Ökonomie, Geschichtsschreibung und Literatur erzeugt. Es wurde in der Sekundärliteratur mehrmals darauf hingewiesen, dass sich Weiss inhaltlich und strukturell an Dantes Divina Commedia orientiert hat.84 Weiss’ Beschäftigung mit Dante Alighieri geht auf die 1960er Jahre zurück: Nach dem internationalen Durchbruch mit Marat/Sade plante er, eine Art Fortsetzung, „ein umfangreiches Stück in drei Teilen“ über die „Frage der Gewalt und der hoffnungslosen Situation des Einzelnen in unserer Zeit“ zu schreiben. Seine Beschäftigung mit Dante mündete in dem unvollendeten dreiteiligen Drama Divina Commedia. Drama in drei Teilen. Teil I: Inferno dessen erster Teil
81 Zum polyhistorischen Roman siehe Hans Vilmar Geppert, Der historische Roman: Geschichte umerzählt – von Walter Scott bis zur Gegenwart, S. 214-270, S. 290ff. 82 Siehe hierzu u.a. Günter Butzer, Fehlende Trauer, S. 163-165. 83 Hans Vilmar Geppert, Der historische Roman: Geschichte umerzählt – von Walter Scott bis zur Gegenwart, S. 292. 84 Vgl. hierzu das Kapitel „Im Inferno“ in Christoph Weiß, Auschwitz in der geteilten Welt. Peter Weiss und „Die Ermittlung“ im kalten Krieg, Bd. 1, (= Literatur im historischen Kontext, Bd. 3) St. Ingbert 2000, S. 55-88.Vgl. Ebd., „Nachwort“, in: Peter Weiss: Inferno: Stück und Materialien, Frankfurt am Main 2003, S. 121-143. Hier S. 121f. Vgl. Arnd Beise, Peter Weiss, S. 110f. Siehe auch Klaus R. Scherpe, „Reading the Aesthetics of Resistance: Ten Working Theses“, translated by James Gussen, in: New German Critique, No. 30, New York 1983, S. 97-105. Hier S. 102.
168 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT 1964 konzipiert wurde, aber erst 2003 erschien. Die zentrale werkgeschichtliche Bedeutung des Dante-Komplexes lässt sich nicht zuletzt anhand der Essays Vorübung zum dreiteiligen Drama Divina Commedia und Gespräch über Dante (beide 1965 veröffentlicht) sowie in mehreren Interviews und in den Notizbüchern beobachten. Das Divina-Commedia-Drama mündet schließlich in der Veröffentlichung von Die Ermittlung, die eine überarbeitete Version des DanteProjekts darstellt.85 Auch in anderen Werken, etwa Trotzki im Exil greift Weiss bestimmte Denkfiguren auf, die auf intertextuelle Anspielungen auf Dantes Konzeption eines „Welttheaters“ schließen lassen. Das Material zum DivinaProjekt aus dem Berliner Weiss-Nachlass besteht aus 86 Mappen mit Materialien, Entwürfen und Fragmenten, deren Umfang im Druck annähernd tausend Seiten ausmachen würden. Im Gespräch über Dante schreibt Weiss über, er wolle „ein Welttheater […], das in der Struktur der Göttlichen Komödie folgte“.86 Es ging Weiss darum, Dante Alighieris mittelalterliche Jenseitswanderung in die Gegenwart zu transponieren. Die intertextuellen Bezüge auf den Dante-Komplex äußern sich in der Ästhetik des Widerstands laut Klaus Scherpe in der „magischen Nummer“ (33) der narrativen Segmente, in der Tier-Allegorie und in der Beatrice-Gestalt. Wichtiger ist aber der strukturelle Aufbau der Romantrilogie nach Dantes Vorlage mit dem triadischen Schema Inferno-Purgatorio-Paradies.87 Diesen Aufbau hat Weiss jedoch nicht wie Dante religiös interpretiert, sondern frei nach seiner politischen und ästhetischen Überzeugung adaptiert. Die Säkularisierung des Dante-Stoffes, die Weiss in seinen oben erwähnten Essays entwickelt hatte, ist in die Ästhetik des Widerstands eingegangen. Das Interesse des Autors an der großen Vielfalt von Kulturen, Schauplätzen und historischen Kontexten als topographische Speicher vergangener Zeit wirkt der Beschreibung an bestimmten Erinnerungsorten, die immer genauer festgehalten werden (das Elternhaus des Erzählers in Bremen und in Berlin, das Haus Jean Paul Marats, die Separator-Werke in Stockholm, usw.) entgegen. Noch deutlicher knüpft Weiss an die Gattung des historischen Romans an, wenn man bedenkt, dass die Handlungs- und Erzählstränge von Fokussierungen geprägt sind, die ganz darauf zielen, Historisches zu zitieren, referieren, rekonstruieren und in die Handlung einzumontieren und/oder wie im Fall der Engelbrekt-
85 Vgl. Christoph Weiß, Auschwitz in der geteilten Welt, S. 55-88. 86 R, S. 168. 87 Klaus R. Scherpe, „Reading the Aesthetics of Resistance: Ten Working Theses“, S. 102.
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Episode, Geschichte in fiktionale Ereignisse umzuwandeln.88 Unverkennbar in den Roman eingegangen ist die lange Tradition privater, gleichzeitig historisch bedingter Traumata, die nicht zuletzt William Faulkner literarisch gestaltet und intensiviert hat. Dass es sich bei der komplexen, aus heterogenen Erzählsträngen bestehenden Handlung, auch um eine Geschichte aus einem traumatisierten, sich durch das Erzählen rettenden Bewusstsein handelt, wird ebenfalls klar. Vor allem das Jahrhunderttrauma der Shoah wird im Roman immer wieder unterschwellig thematisiert. Beispielsweise träumt der Erzähler am Tag der „Reichskristallnacht“ im November 1938, als er im Zug nach Stockholm sitzt, dass seine Mutter von einer Menschenmasse verfolgt wird und gezwungen wird, ein Schild mit der Überschrift „Jidd“ zu tragen. Und als der Erzähler in Berlin im Rahmen einer surrealen Traumepisode über die Stadt fliegt, sieht er einen Haufen mit Menschenleichen. Danach führt er ein längeres Gespräch über die Ursachen des faschistischen Aufstiegs in Deutschland mit seinem Vater, der Sozialdemokrat ist. Diese Episoden sind mehrfach mit den Traumata der deutschen Geschichte verbunden: Der Abscheu des Vaters gegenüber den Nazis und der gescheiterten deutschen Revolution ist mit Schuldgefühlen verbunden. Dieses Erzählen zielt v.a. auf Erkenntnis- und Trauerarbeit der deutschen Geschichte. Programmatisch entwirft Weiss ein Gegenmodell zur Verdrängung geschichtlicher Schuld und ein Festhalten an den Schicksalen der Opfer von nationalsozialistischem und kommunistischem Terror. Diese Poetik des Erinnerns schließt von Anfang an eine durchaus aufklärerische und rhetorisch angelegte Erziehung der Leser mit ein. Es geht Weiss um eine vielfache Vernetzung von Einzelnem mit Einzelnem, um politisch-soziales und künstlerisches Schaffen, um eine Art Erziehung der Leser zu kritischem Hinterfragen der Geschichtsschreibung.89 Die metonymische Vernetzung des Romans äußert sich in bestimmten Denkfiguren, die eine antiautoritäre Grundtendenz gemeinsam haben. Erkennbare, prägende Denkfiguren, die metonymisch miteinander verbunden sind, sind u.a. Toleranz, interkulturelle Kommunikation, künstlerische Kreativität und politische Freiheit. Es geht um ein Unterwegssein zwischen vernetzten Geschichtsebenen auf der Suche nach einer Verbindung von Historie, Gegenwart
88 In Anlehnung an Hans Vilmar Gepperts Untersuchung von Uwe Johnsons Jahrestage (1970-1983) handelt es sich auch im Falle Peter Weiss um eine narrative Technik des „multi-traditionalen“ Romans. Vgl. Geppert, Der historische Roman, S. 293. 89 Der Roman stellt demgemäß eine Art „literarische Rekonstruktion von Geschichte“ dar. Siehe hierzu Arnold Sywottek, „Die ‚Ästhetik des Widerstands‘ als Geschichtsschreibung?“, in: Alexander Stephan (Hrsg.), Die Ästhetik des Widerstands, S. 312341, hier S. 313.
170 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT und Zukunft: „Später einmal würde sie [Lotte Bischoff] Lehrerin werden, gleich nach dem Krieg würde sie sich ausbilden lassen, um den Schülern zu erklären, wie das damals gewesen war.“90 Ein auffallendes Merkmal der Ästhetik des Widerstands ist die Auflistung von Namen sowohl von fortschrittlichen Politikern als auch von avantgardistischen, marxistischen und anderen prominenten Künstlern und Autoren der 1920er Jahre91: Brecht, Piscator, Dudow, Ihering, Jessner und Busch, Grosz, Dix, Kollwitz und Heartfield, Feuchtwanger, Döblin, Toller, Tucholsky, Ossietzky, Kisch, Becher, Seghers und Renn, Gorki, Gladkow und Ehrenburg, Dreiser, Shaw, Sinclair, Nexö, Barbusse und Rolland, Gropius, Taut und van der Rohe, Kerr und Jacobsohn, Pechstein, Muche, Hofer und Klee, Einstein und Freud.
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Hierzu kommen Listen von verbotenen Büchern (ÄdW I, 35), von SPD-Führern der Weimarer Republik (ÄdW I, 115), eine Liste der deutschen Großunternehmen (ÄdW I, 116), Autor- und Bücherlisten (ÄdW I, 183-185), Liste der Intelligenz auf der Seite der spanischen Republik (ÄdW I, 224), Liste der Opfer des stalinistischen Terrors (ÄdW I, 265), Liste der Mitarbeiter von Münzenbergs Zeitschrift (ÄdW II, 56), Liste des Militär-industriellen Komplexes in Schweden (ÄdW II, 224f.) und ein Verzeichnis der Bibliothek Bertolt Brechts (ÄdW II, 312-319). Bei der Auflistung der einzelnen Bände in der Bibliothek Brechts macht der Erzähler penibel bibliographische Angaben. Die Erinnerung des Erzählers an Brechts Bibliothek ist von einer geradezu photographischen Präzision geprägt: In Kafkas Nachbarschaft waren zur einen Seite Goldsmiths Wakefield, in einer Erfurter Ausgabe aus dem Jahr Achtzehnhundert Neununddreißig, das Snobsbuch von Thackerey, im Reclam Verlag, Les Fleurs du Mal, von Baudelaire, Meine Gefängnisse und Meine Spitäler, von Verlaine, Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading, von Wilde, deutsch von Schölermann, das dramatische Gedicht Manfred, von Byron, in Seuberts Übersetzung, Malte Laurids Brigge und das Stundenbuch, von Rilke, Die letzten Tage der Menschheit, von Kraus, im Verlag Die Fackel, der Gedichtband Brennende Erde, von Mühsam, und die Lieder eines tschechischen Bergmanns, von Bezruč, im Kurt Wolff Verlag, zu finden gewesen, zur andren Seite der Versuch über den menschlichen Verstand, von Locke, zwei
90 ÄdW III, S. 236. 91 Vgl. hierzu Robert Cohen, Versuche über Weiss’ Ästhetik des Widerstands, S. 87-97. 92 ÄdW I, S. 159.
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Bände, Das Neue Organon, von Francis Bacon, die Abhandlung über die Verbeßrung des Verstandes, von Spinoza, die Briefe zur Beförderung der Humanität, von Herder, Phädon, oder Gemüthsbewegung bei dem Menschen und den Thieren, von Darwin gedruckt zu Stuttgart, Achtzenhundert Siebenundsiebzig, und ein Band Freud, Zur Technik der Psychoanalyse.
Die Bücherlisten bilden nicht nur einen mnemotechnischen Behelf; die zahlreichen intertextuellen Bezüge des Romans, die auf kanonisierte und klassische Werke der Weltliteratur Bezug nehmen, verleihen dem Erzähler eine Aura von Autorität. Zugleich bilden intertextuelle Bezüge ein konstitutives Merkmal für den monumentalen Modus der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses. 93 Hinzu kommen Herbert Wehners Liste der Schriftsteller und Künstler der Weimarer Republik (III, 84), die vom Vater des Ich-Erzählers vorgebrachte Liste der Großkonzerne (ÄdW III, 126) und schließlich eine Liste der in Plötzensee hingerichteten Widerstandskämpfer (ÄdW III, 231). Außer Brecht wird vor allem Ernst Toller ein Denkmal gesetzt, dessen tragischer Selbstmord im Mayflower Hotel in New York 1939 eine Erschütterung für den Ich-Erzähler ist. Beim Gespräch mit Rosalinde Ossietzky, (Tochter des Friedensnobelpreisträgers Carl von Ossietzsky) in Stockholm wird die traurige Figur des zur Entstehungszeit des Romans inzwischen fast in Vergessenheit geratenen Toller diskutiert, der fünf seiner besten Jahre im Gefängnis im bayrischen Niederschönenfeld geopfert hat: Wenn Rosalinde von Toller sprach, so war es wohl, um mir deutlich zu machen, daß sie von mir nicht die Hilfe erwartete, die sie brauchte. Sie hielt sich an die Idealgestalt dieses Toten, ihre Phantasie war erfüllt von dessen Wärme, Güte, Spontaneität, dessen Verständnis für die Not eines andern. Sie schilderte ihn wie einen Geliebten, verkleidet zum Wunschvater, doch er wußte sich ja nicht mehr zu helfen, sagte ich, er brachte sich um, weil er keinen politischen Ausweg mehr sah. […] Zornig sagte sie, er habe für die Revolu-
93 Vgl. Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 170f. Listen bilden laut Umberto Eco einen wichtigen Bestandteil der (westlichen) Kulturgeschichte. Sie enthalten eine metaphysische Dimension, indem sie versuchen, das Irrationale an der menschlichen Existenz rational „fassbar“ zu machen: „Was will die Kultur? Die Unendlichkeit fassbar machen. Sie will auch Ordnung schaffen, nicht immer, aber oft. Und wie begegnet man als Mensch der Unendlichkeit? Wie versucht man, das Unbegreifliche zu fassen? Durch Listen, durch Kataloge, durch Sammlungen in Museen, durch Enzyklopädien und Wörterbücher.“ Vgl. Umberto Eco, „Unwiderstehlicher Zauber“, in: Der Spiegel 45 (2009), S. 164f., hier S. 164.
172 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT tion gelebt, habe dafür fünf seiner besten Jahre im Gefängnis verbracht, habe gekämpft gegen parteipolitische Engstirnigkeit. Seine ganze Arbeit, sagte sie, sei eine Anklage gewesen gegen die Entmachtung des Einzelnen, krank, psychisch zerrüttet sei er eingetreten für die Schwachen, keinen Tag lang habe er sich geschont, nie habe er versucht, sich den Notlösungen, den Halbheiten anzupassen, ja, sagte sie, er mußte sich zermahlen lassen, und war in seiner Schutzlosigkeit doch ehrlicher als die andern, die sich hinter Beherrschtheit verschanzten. Ich bin gewiß, sagte sie, daß wir einmal, wenn wir durch diese Zeit gegangen sind, in ihm und seinesgleichen die Einsichtigsten erkennen werden.
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Diese Deskriptionstechnik des Katalogisierens und Festhaltens von Namen ist jedoch nicht neu im Werk von Peter Weiss, sondern kommt, wie Robert Cohen bemerkt hat, schon in Fluchtpunkt und später in der Ermittlung vor.95 Während
94 ÄdW II, S. 173f. 95 Robert Cohen, Versuche über Weiss’ Ästhetik des Widerstands, S. 88. Katalogartige Inventuren kommen, wie Magnus Bergh gezeigt hat, in fast allen von Weiss’ Werken vor, sei es in der Form von Buchsammlungen, Museumssammlungen oder als dokumentarisches Aufzählen von Firmen oder bedeutenden Personen. Dieses Sammeln stellt bei Weiss „eine Art Gedächtniskunst oder Gedächtnistechnik“ dar. Siehe hierzu Magnus Bergh, „Peter Weiss, der Sammler“, in: Yannick Müllender, Jürgen Schutte, Ulriker Weymann (Hrsg.), Peter Weiss: Grenzgänger zwischen den Künsten, S. 93104, hier S. 93. Das Motiv des Sammelns ist zudem ein prägnantes Merkmal in der Ästhetik Walter Benjamins. Abgesehen von dem Aufsatz „Eduard Fuchs, Sammler und Historiker“ wird das Motiv des Sammelns in folgender Passage aus dem Passagen-Werk, betitelt „Der Sammler“, näher erörtert. Dort meint Benjamin, dass das Sammeln eine Erinnerungsarbeit ist, die „das völlig Irrationale“ des menschlichen Daseins zu überwinden versucht. Zudem tendiert alles Gesammelte zur Verdinglichung, zur Erstarrung und zur Monumentalisierung, indem es zum Ausstellungsobjekt wird: „Es ist beim Sammeln das Entscheidende, daß der Gegenstand aus allen ursprünglichen Funktionen gelöst wird, um in die denkbar engste Beziehung zu seinesgleichen zu treten. Diese ist der diametrale Gegensatz zum Nutzen und steht unter der merkwürdigen Kategorie der Vollständigkeit. Was soll diese ‚Vollständigkeit‘? Sie ist ein großartiger Versuch, das völlig Irrationale seines bloßen Vorhandenseins durch Einordnung in ein neues historisches System, die Sammlung, zu überwinden. Und für den wahren Sammler wird in diesem Systeme jedwedes einzelne Ding zu einer Enzyklopädie aller Wissenschaft von dem Zeitalter, der Landschaft, der Industrie, dem Besitzer, von dem es herstammt. […] Alles Erinnerte, Gedachte, Bewußte wird Sockel, Rahmen, Postament, Verschluß seines Besitztums. […] Sammeln ist eine Form des praktischen Erinnerns und unter den profanen Manifestationen der ‚Nähe‘ die bün-
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Weiss in seinen beiden autobiographischen Werken Abschied von den Eltern und Fluchtpunkt aus der Erinnerung, dem „aufbewahrenden Gedächtnis“ schöpfen konnte, unter Benutzung einzelner Quellen, wie etwa des Tagebuchs seiner Mutter Frieda Weiss, war die Inszenierung von Erinnerung in der Ästhetik des Widerstands von umfassenden wissenschaftlichen Vorarbeiten geprägt (siehe mehr dazu unten).96 Weiss’ Romantrilogie ist ein Andenken an all jene, die unterlegen waren, in Vergessenheit geraten sind und von der offiziellen deutschen Geschichtsschreibung totgeschwiegen wurden. Daraus ergibt sich für Weiss eine Strategie, aus der eine Poetik der Erinnerung erfolgt: „Nicht einmal Andeutung eines Versuchs, Literatur herzustellen. Nur Aufzählung von Namen.“97 Schreiben erscheint hier mit den Worten von Thomas Metscher als „Erinnerungsarbeit, dem Schmerz über die unzähligen Opfer abgerungen“.98 Etwa gleichzeitig stellte Jochen Vogt fest, der Roman sei „ein Buch der Erinnerung.“99 Aus diesem Grund ist es durchaus logisch, dass die Auflistung von Namen ein wichtiges Anliegen des Autors ist. Weiss will das Andenken an all jene bewahren, deren Namen bisher nur in Museen und Bibliotheken aufbewahrt wurden und in Vergessenheit geraten sind; hierzu gehören die Opfer des Spanischen Bürgerkriegs, der Arbeiterkämpfe der 1920er Jahre und die Opfer des faschistischen und stalinistischen Terrors. Die Inszenierung von Erinnerung im Roman bezieht sich auf große und kleine Ereignisse verschiedener Sprach- und Kulturräume; der spanische Bürgerkrieg, die Moskauer Schauprozesse, die Geschichte der Arbeiterbewegung in Schweden und in Deutschland, die historische Figur Engelbrekts, die fast 4000-jährige Geschichte des Pergamonaltars und das Tempelkomplex des Angkor Wats aus dem 10. Jahrhundert, einzelne Menschen-
digste.“ Vgl. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. 5: Das Passagen-Werk I, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1982, S. 271. 96 Siehe Manfred Haiduk, „Dokument oder Fiktion: Zur autobiographischen Grundlage in Peter Weiss’ Romantrilogie „Die Ästhetik des Widerstands“, in: Alexander Stephan (Hrsg), Die Ästhetik des Widerstands, S. 62. 97 NB 2, S. 554. 98 Thomas Metscher, „Avantgarde – Arbeiterklasse – Erbe: Gespräch zu Peter Weiss’ ‚Die Ästhetik des Widerstands‘“, in: Sinn und Form 36 (1984), Heft 1, S. 68-97, hier S. 78. (Hervorhebungen im Original). 99 Jochen Vogt, „‚Wie könnte dies alles geschildert werden?‘ Versuch, die ‚Ästhetik des Widerstands‘ mit Hilfe einiger Vorurteile ihrer Kritiker zu verstehen“, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Text + Kritik 37 (Peter Weiss), 2., völlig veränderte Auflage, 1982, S. 68-94, hier S. 91. (Hervorhebungen im Original).
174 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT schicksale und vieles mehr. Besonders wichtig scheint in der Ästhetik des Widerstands die historische Figur Rosa Luxemburg zu sein. Schon 1968, als Weiss Luxemburg als Figur für das geplante Divina-Commedia-Projekt in Erwägung zog, scheint ihre Person, wie Robert Cohen feststellt, für Weiss an Bedeutung zu gewinnen. Vorbildlich erschien Weiss Luxemburgs Vorstellung vom Kommunismus ohne „Zwang u Dogmatismus“, wie es in den Notizbüchern heißt.100 Sie gilt dem Vater des Ich-Erzählers als Vorbild (I, 109-114, 188) und Hodann, der im ursprünglich geplanten Romanende von Angstvisionen ihrer Ermordung geplagt wird (NB 2, 910f., 917ff., 924). Außerdem figuriert der Platz ihrer Ermordung, das Lützow Ufer am Landwehrkanal in Berlin, als Erinnerungsort im Roman (III, 182). Jede Erinnerung, so Robert Cohen, fängt mit der Aufzählung von Namen an, so auch Weiss’ Romantrilogie: Allein die Erinnerung hätte meinem Vater genügen müssen, um ihn an die Endgültigkeit der Trennung zu erinnern. Diese Namen waren als Zeichen herausgewachsen aus der Anonymität der Kämpfenden, mit ihnen erschienen all die andern, die aufgestanden waren, wenn mein Vater sich fragte, wie sie aussahn, Fröhlich, Knief und Flieg, Liebknecht, Luxemburg und Jogilsches, Levi und Lévine, Brandler, Pieck und Zetkin, Eberlein, Enderle und Remmele, Ducker und Thalheimer, Eisner oder Landauer, so drängten sich ihm die Gesichter seiner Gefährten auf, seiner Mitarbeiter in den Schmiedewerkstätten, an den 101
Drehbänken, in den Montagehallen.
Die Erinnerung ist der „geheime Motor“,102 aus dem Weiss’ Kunst in der Ästhetik des Widerstands gespeist wird. Nicht umsonst erklärt Horst Heilmann im Roman, dass die „Gesamtkunst“ unter der Obhut der Erinnerungsgöttin Mnemosyne steht, die das „aufgespeicherte“ Gut der Erinnerungen, woraus die Kunst besteht, schützt.103 Denn die Erinnerung ist laut Ernst Robert Curtius das Medium, „in dem der europäische Geist sich seiner selbst über Jahrtausende hinweg versichert.“104
100 NB 2, S. 608. Vgl. Robert Cohen, Versuche über Weiss’ Ästhetik des Widerstands, S. 43. 101 ÄdW I, S. 116. 102 Robert Cohen, Versuche über Weiss’ Ästhetik des Widerstands, S. 88. 103 ÄdW I, S. 77. 104 Vgl. hierzu Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 398.
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Folgende Passage über das Gedächtnis vermittelt den Eindruck, dass Weiss in der Ästhetik des Widerstands bewusst auf die klassische Memoria-Tradition rhetorischer Provenienz rekurriert: Die Kunst, sagte Hodann, setzte dort ein, wo alle Philosophen und Ideologien aufhören, sie entspringe der Entelechie, jener rätselhaften Kraft, die allem Lebenden innewohnt, um es zu steuern und, erleide es Schaden, wieder herzustellen, zu den mnemischen Funktionen gehöre sie, die im Hirn, in den Zentren des Visuellen und Akustischen, der örtlichen und zeitlichen Orientierung, alles Vernommne bewahren und es uns, auf Nervenreize hin, zugänglich machen, ohne daß je, beim Sezieren Spuren dieser aus Erinnrungen bestehenden Denkfähigkeit entdeckt worden wären. Die Mneme, beschützt von der Göttin Mnemosyne, leite uns zu den künstlerischen Handlungen an, und je mehr wir von den Erscheinungen der Welt in uns aufgenommen hätten, zu desto reichern Kombinationen könnten 105
wir sie bringen, zu der Vielfalt eben, aus der sich der Stand unsrer Kultur ablesen lasse.
Weiss knüpft hier an den griechischen Mythos von der Erinnerungsgöttin Mnemosyne als „Mutter aller Künste“ an. In der griechischen Mythologie gehört Mnemosyne als Tochter des Uranos und der Gaia zu den Titanen und gilt zudem als „Göttin“ der Erinnerung. Laut Hesiod ist Mnemosyne mit Zeus zusammen. Sie ist Mutter der neun Musen, die sie am Olymp gebar. Mnemosyne beziehungsweise ihre Tochter Mneme (in der Mythenvariante mit drei Musen) wurden namensgebend für die Gedächtniskunst (ars memoriae), die als Mnemonik bezeichnet wird, und für die innerhalb der Gedächtniskunst verwendeten Gedächtnistechniken, die Mnemotechniken. Vor allem wurde Mnemsosyne für die Poeten zum Vorbild, die aus dem Brunnen des Wassers der Erinnerung schöpfen können.106 Heilmanns Aussage ist insofern von großer Bedeutung, da Die Ästhetik des Widerstands ähnlich wie Prousts Á la Recherche du temps perdu (191327) und Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) ein Roman der Erinnerung ist. Die zentrale Bedeutung der Erinnerung manifestiert sich u.a. in Reflexionen über Kindheitserlebnisse des Ich-Erzählers107, über Tod und Le-
105 ÄdW III, S. 134. 106 Hesiod, Theogonie § 75ff., 915ff. 107 Hier gibt es auch eine Überschneidung zu Rilkes Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, der auch in der Ästhetik des Widerstands aufgelistet wird. (Vgl. ÄdW II, S. 314.) In beiden Romanen spielt die Rekonstruktion von Kindheitserinnerungen eine bedeutende Rolle. So fungiert in Rilkes Roman der säuerliche Geschmack von Äpfeln als Erinnerungsauslöser des Romanprotagonisten, der sich an seine Kindheit im Krankenbett zurück versetzt, als seine Mutter ihn pflegte und ihm
176 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT ben. Vor allem wird aber Erinnerung im Rahmen längerer essayistischer Passagen über Kunstwerke, Gebäude, Künstler, Literatur und Politik inszeniert.108 Einige Beispiele sind, wie Weiss über Leben und Tod Théophile Géricaults erzählt, wie er Lenins Züricher Wohnung und Marats Wohnhaus in Paris anhand von Abbildungen rekonstruiert. Aber auch die biographische Erinnerung des IchErzählers wird thematisiert, wie er seine Mutter und seinen Vater trifft und Erlebnisse seiner Kindheit im Rahmen längerer Traumepisoden wieder erlebt. Die Konzipierung des Widerstandsromans war mit einer historischen Quellenforschung seitens des Autors verbunden. „Überspitzt formuliert“, so Genia Schulz, „ließe sich fast zu jedem Satz des Werks eine Fußnote mit Quellenangabe denken“.109 Die „sinnliche Vergewisserung der Schauplätze“110 wurde durch Reisen ermöglicht, auf denen Weiss die Erinnerungsorte des Romans besucht hat: nach Spanien, Zürich (Spiegelgasse), Paris, Moskau, innerhalb Schwedens, in die BRD und in die DDR. Weiss hat darüber hinaus zahlreiche Museen, Archive und historische Schauplätze besucht, z.B. den Louvre, das Pergamonmuseum, Museen in Amsterdam (Van Gogh Museum), Moskau (TretjakowGalerie), das schwedische Nationalmuseum, das Hodann-Archiv und das BrechtArchiv in Ost-Berlin, das Stadtarchiv in Zürich, das Reichsarchiv und die Königliche Bibliothek, beide in Stockholm. Nach genauen Studien von Photographien hat Weiss viele – der in der Ästhetik des Widerstands figurierenden – Kunstwerke und Gebäude rekonstruiert. Darunter z.B. eine Photographie von Ferm, dem Schiff, das Lotte Bischoff von Schweden nach Deutschland brachte sowie das
Apfelmus gab; „ABER was lang war, das waren die Nachmittage in solchen Krankheiten. […] Da lag man so in dem aufgeräumten Bett und wuchs vielleicht ein wenig in den Gelenken und war viel zu müde, um sich irgend etwas vorzustellen. Der Geschmack von Apfelmus hielt lange vor, und das war schon alles mögliche, wenn man ihn irgendwie auslegte, unwillkürlich, und die reine Säure an Stellen von Gedanken in sich herumgehen ließ.“ Rainer Maria Rilke, Sämtliche Werke VI: Malte Laurids Brigge, Prosa 1906-1926, Frankfurt am Main 1966, S. 798f. 108 Zur Poetik der Erinnerung im Werk von Peter Weiss, siehe Waltraud Wiethölter, „Mnemosyne oder Die Höllenfahrt der Erinnerung. Zur Ikono-Graphie von Peter Weiss` Ästhetik des Widerstands.“ In: Gerhard von Graevenitz, (Hrsg.), Zur Ästhetik der Moderne. Für Richard Brinkmann zum 70. Geburtstag. Tübingen 1992, S. 217282. 109 Genia Schulz, „Die Ästhetik des Widerstands“: Versionen des Indirekten in Peter Weiss’ Roman, Stuttgart 1986, S. 119. 110 Vgl. Burkhardt Lindner, „Halluzinatorischer Realismus“, Alexander Stephan (Hrsg.), Die Ästhetik des Widerstands S. 169. (Hervorhebung im Original).
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abgerissene Haus Jean Paul Marats und das Bateau Lavoir an der Seine, um nur einige Beispiele zu nennen.111 Er hat zahlreiche Zeitzeugen besucht und interviewt, u.a. Romanfiguren wie Herbert Wehner, Rosalinde Ossietzky, Lotte Bischoff sowie die ehemaligen Mitarbeiter der Separator-Werke, Hans Coppis Sohn, die Witwe Hodanns und vielen Andere.112 Wie ein Detektiv bei der Spurensicherung rekonstruiert Weiss realistisch Schauplätze und historische Gebäude. Ein Beispiel für diese realistische Rekonstruktion historischer Erinnerungsorte ist das Haus Ninnan Santessons auf der Insel Lidingö in Stockholm, wo Brecht während seines Exils gewohnt hat. Obwohl das Haus inzwischen abgebrannt war, rekonstruierte es Weiss (wahrscheinlich mittels Photographien) in der Ästhetik des Widerstands:113 Vom Riddarväg war schon das Haus, das Brecht von der Bildhauerin Santesson zur Verfügung gestellt worden war, hinter Felsrücken, zwischen Kiefern und ein paar Birken zu erblicken, es war höher als breit, doch wurde die klobige, unproportionierte Form teilweise vom Buschwerk verborgen. Jasminstauden standen an den weißen Pfosten des Tors, ihr Geruch vermengte sich mit dem Duft von Holunder. Durch ein Flimmern von Laub, Gräsern und Sonnentupfen ging ich auf das Haus zu, gleich halbvergrabnen Elefanten ragten 114
die grauen Steinrundungen aus dem moosigen Boden. Blätter strichen mein Gesicht.
Diese Technik des genauen Rekonstruierens von Gebäuden und Schauplätzen hat Robert Cohen „eine Art literarischen Fotorealismus“ genannt.115 Ein gutes Beispiel hierfür bietet des Weiteren die äußerst penible Schilderung von Jakob Rosners Wohnung in Stockholm in den Notizbüchern: Das Haus befindet sich im Umbau. Die Zimmer-Einrichtung ist schon abgerissen, die Proportionen, Türen, Fenster, Kachelöfen, Nischen usw. aber gerade noch erhalten. […] So
111 Vgl. NB 2, S. 603. 112 Auszüge dieser Gespräche sind nachträglich in den Notizbüchern abgedruckt. Siehe NB 2, S. 64, S. 124, S. 158. 113 Vgl. hierzu den Eintrag in den Notizbüchern: „Den Riddarväg hinauf zum Lövstig, Nr. 1. Vom Weg aus das rote Holzhaus zw. Kiefern u ein paar Birken zu sehn. Felsrücken auf dem Boden ragend. Jasminbüsche. Links vom Haus Wald. Holunder […] die Fassade verkohlt, das Dach von Brand zerstört. Drinnen im Atelier Ruß und Schutt […] Der Raum dunkel, verschattet durch die Bäume draußen. Tot.“ Vgl. NB 2, S. 94f. 114 ÄdW II, 144. 115 Robert Cohen, Versuche über Weiss’ Ästhetik des Widerstands, S. 68.
178 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT bin ich in dem winzigen Zimmer, in dem Rosner jahrelang hauste. Kann ihn mir vorstellen. Blick aus dem Fenster, über die Höfe – Meine Notwendigkeit: die Phantasie auf dem Boden der Wirklichkeit zu errichten, der Erfindung jede nur irgendmögliche Realität zu geben. Ich sehe immer wieder, wie greifbar alles wird, wenn ich die authentischen Plätze gesehn habe, am denen sich die Handlungen abspielten. […] Er sprach von der „Garderobe“, in der Rosner lebte. Verstand jetzt, was er meinte. Diese ungeheure Einsamkeit! Dass er das ertragen konnte, dort mindestens 4 Jahre lang zu arbeiten! Welche Leistung!
116
Noch ein Beispiel für diese narrative Technik der genauen Deskription ist hier zu nennen. Der Ich-Erzähler erinnert sich in einer Passage im ersten Band der Widerstandsromans an einen Museumsbesuch im Übersee-Museum in Bremen, der sich im Gedächtnis des damals sechsjährigen Erzählers „eingeätzt“ habe.117 Der Beschreibung dieser Figurengruppe liegt eine Photographie zugrunde (NB 2, S. 21), die Weiss vermutlich bei seinen Nachforschungen im Bremer FockerMuseum gefunden hat (NB 2, S. 12). Solche „Bildzitate“ dienen einer realistischen Deskriptionstechnik, die sich durch einen ungeheuren Detailreichtum auszeichnet.118 Geschnitzte Pfähle, Masten und Tempeldächer erhoben sich hinter den zusammengedrängten tropischen Gewächsen in Kübeln, ich zog meinen Vater, der mich an der Hand hielt, gleich schräg nach rechts, zu den Pygmäen, die sich vor ihrer niedrigen gerundeten Hütte aufhielten, reglos die nackte Frau, die linke Hand um das Kind gelegt, das auf ihrer Hüfte saß und den Fuß auf den Gurt ihres Lendenschurzes stützte, die rechte Hand angehoben zur Halskette aus Leopardenzähnen, das Gesicht zur Seite gewandt, mit halbgeschlossenen Augen vor sich hinblickend, in sich versunken, auch der Mann, der auf der Spreu kniete und die Arbeit, die er vor den Händen hatte, das Glätten und Zusammenknüpfen von Blättern, vergaß. Ein Affe lag neben ihm, er hatte spielen wollen, war schläfrig geworden, sein Arm war, noch ausgestreckt, niedergesunken. […] Nicht größer als ich, der Sechsjährige, verharrten die Waldbewohner mit angehaltenem Atem in knisternder Stille und merkten nicht, wenn meine Fingerspitzen ihre mattglänzende dunkle Haut be119
rührten.
116 NB 2, S. 701-703. 117 ÄdW I, S. 99. 118 Siehe Manfred Haiduk, „Dokument oder Fiktion: Zur autobiographischen Grundlage in Peter Weiss’ Romantrilogie „Die Ästhetik des Widerstands“, in: Alexander Stephan (Hrsg), Die Ästhetik des Widerstands, S. 66. 119 ÄdW I, S. 98f.
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Eine ähnliche realistische Darstellungstechnik gilt für die Beschreibung der Städte Berlin, Stockholm, Paris, Barcelona und Bremen im Roman, was zu einer kartographischen Textstruktur führt, in welcher die einzelnen Straßennetze eingehend beschrieben werden. Ich fragte meinen Vater nach unserer Straße in Bremen, denn ich wollte seine Eindrücke mit meiner eignen Erinnerung vergleichen, die, aus den ersten Jahren meines Lebens stammend, schärfer, klarer war als das Abbild, das die Pflugstraße in mir hinterlassen hatte. Da gingen wir nun zurück über die Weserbrücke, auf die Alte Neustadt zu, an den Pontons unterhalb der Martinikirche lagen die Dampfschiffe, ein Raddampfer war dabei, die nach Hemelingen und Delmenhorst, zum Hafen und nach Vegesack fuhren. Durch die spitztürmigen Brückentore gehend, an denen die geschwungnen Eisenträger hingen, sahn wir rechter Hand, auf der Landzunge mitten im Fluß, das jahrhundertealte Viertel, das Herrlichkeit hieß, dessen Schuppen und Speicher sich bis zu den burgartigen Gebäuden des Teerhofs erstreckten, an die sich die Kaiserbrücke schloß, mit ihren mächtigen Bögen.
120
Dieses Zitat ist interessant, da zwei gegensätzliche Positionen zum Erinnerten thematisiert werden: Die Erinnerungen des sozialdemokratischen Vaters an das Aussehen der Grünenstraße in Bremen kontrastieren mit denen des kommunistischen Erzählers. Mittels einer Technik, die Klaus Scherpe „poetischen Materialismus“ genannt hat, rekonstruiert Weiss wie ein Fotokünstler die einzelnen Schauplätze des Romans.121 Sporadisch dichtet er etwas dazu, etwa wie Engelbrekt auf die Insel Helgeandsholmen in Stockholm gelang. Das minutiöse Vergewissern der materiellen Wirklichkeit gilt auch der Beschreibung der Figuren im Roman, etwa Géricaults Schaffen, als er an seinem Gemälde Das Floß der Medusa arbeitet: „Er kniete auf dem Boden, über dem Zeichenpapier, hinter verriegelter Tür, völlig allein mit seinen Geheimnissen, ein paar Tage lang aß und trank er nicht, kroch umher auf den Boden.“122 Diese minutiöse Schilderung der Außenwelt, so Peter Hanenberg, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich im Falle des
120 ÄdW I, S. 99. 121 Klaus Scherpe, „Kampf gegen die Selbstaufgabe. Ästhetischer Widerstand und künstlerische Authentizität in Peter Weiss’ Roman“, in: Karl-Heinz Götze, Klaus Scherpe (Hrsg.), Die „Ästhetik des Widerstands“ lesen, (= Argument-Sonderband, Bd. 75) Berlin 1981, S. 57-73, hier S. 69. 122 ÄdW II, S. 17.
180 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Widerstandsromans um „die Literarisierung historischer Begebenheiten handelt.“123 Der zündende Anlass zum Buch war, wie Weiss in einem Gespräch mit Heinz Ludwig Arnold im September 1981 gestand, seine Wiederbegegnung mit dem Pergamonaltar in Berlin. Hier entstand die Idee zum Buch, „der ewige Klassenkampf“,124 ein Kampf der zu allen Zeiten der Welt stattgefunden habe und der sich am Beispiel des Pergamon-Altars entzünde. Die Vorstellung von den Kulturgütern, die bei diesem Gespräch und in der Ästhetik des Widerstands thematisiert wird, weist Affinitäten mit Benjamins Geschichtskritik auf, zumal in dessen Werk Über den Begriff der Geschichte.125 Dort heißt es im Hinblick auf die Funktion der Kunst in der Gesellschaft u.a. Folgendes: Es [das Kunstwerk, G.L.] ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozeß der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den andern gefallen ist. Der historische Materialist rückt daher nach Maßgabe des Möglichen von ihr ab. Er betrachtet es als seine Aufgabe, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten. Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der „Ausnahmezustand“, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustands vor Augen stehen; und dadurch wird unsere Position im Kampf gegen den Faschismus sich verbessern.
126
Das Oszillieren zwischen Gegenwart und Vergangenheit am Beispiel des Berliner Pergamonaltars in der Ästhetik des Widerstands aktualisiert nicht nur die Geschichtsphilosophie Benjamins, sondern auch die Inszenierung von Erinnerung im urbanen Raum, wovon die nächsten Abschnitte handeln sollen.
123 Peter Hanenberg, Peter Weiss: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Schreiben, S. 150. 124 „ ,…ein ständiges Auseinandersetzen mit den Fehlern und mit den Mißgriffen...‘ Heinz Ludwig Arnold im Gespräch mit Peter Weiss (19. September 1981).“ In: Alexander Stephan, (Hrsg.), Die Ästhetik des Widerstands, S. 44. 125 Zur Geschichtsauffassung in der Ästhetik des Widerstands siehe Rainer Koch, Geschichtskritik und ästhetische Wahrheit,: Zur Produktivität des Mythos in moderner Literatur und Philosophie, Bielefeld 1990, S. 117-181. Siehe v.a. S. 122. 126 Walter Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1974, S. 690-708, hier S. 693f.
4. Kapitel: Paris: Die Stadt als Buch
Paris ist nicht nur ein bedeutender Erinnerungsort in der französischen Kultur, sondern auch ein zentraler Gegenstand der modernen französischen Literatur.1 Dies gilt sowohl für die frühe Moderne des 19. Jahrhunderts als auch für die Avantgarden des 20. Jahrhunderts, die ihr Bedürfnis nach künstlerischer Erneuerung häufig mit dem Erlebnis der urbanen Beschleunigung begründen wollen. Dass der Stadtmensch Weiss den Handlungsort der Ästhetik des Widerstands nach Paris verlegt hat, ist kein Zufall. Karsten Witte, der 1980 das Buch Paris: Deutsche Republikaner reisen herausgab, behauptet in seinem Nachwort, dass die französische Hauptstadt für Peter Weiss „unter den deutschen ParisReisenden für das 20. Jahrhundert die Bedeutung einnimmt, die Heine für das 19. und Forster für das 18. Jahrhundert zukam“.2 Das Buch enthält zwei Ausschnitte aus zwei umfangreicheren Prosastücken von Weiss: das Schlusskapitel, betitelt „Allée des Cygnes“, aus dem Roman Fluchtpunkt sowie einen Auszug aus dem Pariser Journal.3 Paris nimmt im Leben des Autors eine herausragende Stellung ein. Weiss soll einmal geäußert haben, Paris sei so etwas wie eine „unglückliche Liebe“ für ihn. Unglücklich war seine Liebe zu Paris, weil Weiss die französische Sprache nie richtig lernte.4 Dies erschwerte den Zugang zur französischen Kultur und war der Grund, warum seine Integration in die französische Metropole von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Einen „Initialwert“ hatte Paris für Weiss den-
1
Siehe hierzu ausführlicher Pierre Nora, François Étienne (Hrsg.), Erinnerungsorte Frankreichs, (Fr.: Les lieux de mémoire), München 2005.
2
Karsten Witte (Hrsg.), Paris: Deutsche Republikaner reisen: Ein Städte-Lesebuch, Frankfurt am Main 1980, S. 408.
3 4
Ebd., S. 365-370, S. 385-392. Vgl. Günter Schütz, Peter Weiss und Paris. Prolegomena zu einer Biographie. Bd. 1: 1947-1966, St. Ingbert 2004, S. 123.
182 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT noch, da „hier alles lebte, was für meine eigene Entwicklung Bedeutung hatte“, wie er in einem Brief an Manfred Haiduk vom 19. März 1978 bekundete.5 Damit meinte er vor allem die Künstler der Moderne des 20. Jahrhunderts, die in Paris ansässig waren und die Weiss, nachdem er seinen frühen neoromantischen Vorbildern den Rücken gekehrt hatte, am meisten beeindruckten: Von Arthur Rimbaud und August Strindberg über Henry Miller und Louis-Ferdinand Céline bis Ernest Hemingway und Samuel Beckett, die Surrealisten um André Breton und Paul Eluard, die avantgardistischen Filmemacher der 1920er Jahre, so unterschiedliche Maler wie Henri Rousseau, Max Ernst oder Pablo Picasso, die Aktionskünstler der 1960er Jahre wie Daniel Spoerri oder Jean Tinguely und viele andere mehr. In Paris drehte Weiss auch zusammen mit Barbro Boman seine erfolglose kommerzielle Produktion Svenska flickor i Paris (1960; Schwedische Mädchen in Paris). Die Arbeit an diesem, in der surrealistischen Tradition Jean Tinguelys geschulten Spielfilm, war von einem grundsätzlichen Dissens zwischen dem Produzenten Lars Burman und dem Drehbuchautor Weiss über die filmische und künstlerische Wirkung überschattet.6 Für Peter Weiss war Paris tatsächlich mit einem künstlerischen Neuanfang verbunden. Seine beiden autobiografischen Bücher Abschied von den Eltern und in einem noch höheren Maße Fluchtpunkt thematisieren den Tiefpunkt der künstlerischen Existenz des Autor-Protagonisten. Fluchtpunkt endet mit einer längeren Auslegung über die verlockende Metropole Paris. Nachdem er sich von seiner Frau getrennt hat und künstlerisch und menschlich am Boden ist, sieht der Ich-Erzähler plötzlich im Schaufenster eines Stockholmer Reisebüros ein Plakat: „Paris als Reiseziel. Am selben Abend noch stieg ich in den Zug, und im Frühlicht, zwei Tage später, tauchten die Vororte von Paris auf“. Seine Ankunft in der „verheißungsvollen Stadt“ kündigt den ersehnten Neuanfang im Leben des gescheiterten Protagonisten an: „der Augenblick der Sprengung, der Augenblick, in dem ich hinausgeschleudert worden war in die absolute Freiheit“.7 Seine künstlerische Emanzipation aus der Randexistenz im Exil vollzieht sich dann an einem „Spätnachmittag […] unter den Bäumen der Allee auf dem Damm in der Mitte der Seine“. Dort gewinnt er blitzartig ein Gefühl von Freiheit, das er früher nicht erlebt hat: „Die Freiheit war noch vorhanden, doch ich hatte Boden in ihr gewonnen, sie war keine Leere mehr, in der ich im Alptraum der Anonymität lag [...], es war eine Freiheit, in der ich jedem Ding einen Namen geben konnte [...].
5
Hier zitiert nach Günter Schütz, Peter Weiss und Paris. Prolegomena zu einer Biographie. Bd. 1, S. 19.
6
Günter Schütz, Peter Weiss und Paris, Bd. 1, S. 182f. et passim.
7
FP, S. 290.
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An diesem Abend, im Frühjahr 1947, auf dem Seinedamm in Paris, im Alter von dreißig Jahren, sah ich, daß ich teilhaben konnte an einem Austausch von Gedanken, der ringsum stattfand, an kein Land gebunden.“ 8 Mit diesem Wortlaut endet der Roman Fluchtpunkt. „Paris ist eine Art Enzyklopädie für mich“.9 Dies bekundet Weiss in dem oben erwähnten Brief an Manfred Haiduk vom 19. März 1978. Damit deutet Weiss eine wichtige Denkfigur an, die in dem Paris-Abschnitt der Ästhetik des Widerstands immer wieder thematisiert wird: Die Stadt als Buch. Die französische Hauptstadt ist, wie Karlheinz Stierle bemerkt, ein „unerschöpflicher Generator der Zeichen, und jene vor allem, die man mit Recht die Hauptstadt der Zeichen nennen darf. Hier ist die Zeichenwirklichkeit der Stadt zuerst euphorisch als das Abenteuer der urbanen Semiose, als eine unendliche Beschäftigung des Zeichensinns erfahren worden.“10 Ausgehend von den großen naturalistischen französischen Stadtromanen des 19. Jahrhunderts konstatiert Stierle Folgendes: Aber Paris ist auch die Stadt vor allen anderen Städten, wo in einer zweiten Bewegung der Riß, der durch die Erscheinungswelt geht, sich wieder schließt, der Blick aus der Zeichenferne zurückkehrt und das Konkrete in seiner eigenen unerschöpflichen Besonderheit als 11
Faszination oder rätselhafte Schönheit erfährt.
Die französische Metropole spielt in der Ästhetik des Widerstands eine bedeutende Rolle, v.a. als Buch der Erinnerung, das durch das Medium des Flaneurs erforscht und „gelesen“ wird. Der Pariser Abschnitt umfasst 70 Seiten oder etwa knapp zehn Prozent des Gesamtumfangs des Romans. Die Beziehung des IchErzählers zu Paris beschränkt sich lediglich auf ein Paar Filmszenen, Fotografien bekannter Gebäude, Farbdrucke und Buchillustrationen.12 Wichtig für seine Kenntnisse der französischen Hauptstadt ist der Paris-Besuch seines Vaters 1936 zusammen mit Herbert Wehner und Erwin Piscator. Zusammen mit seinem „Cicerone“, dem Komintern-Mitglied Otto Katz, erforscht der Erzähler die französische Hauptstadt.
8
FP, S. 293f.
9
Hier zitiert nach Günter Schütz, Peter Weiss und Paris, Bd. 1, S. 19.
10 Karlheinz Stierle, Der Mythos von Paris, S. 38. 11 Ebd. 12 Vgl. Günter Schütz, Peter Weiss und Paris, Bd. 2, S. 391. Ein weiterer Referenztext ist Heines Pariser Tagebuch, das explizit genannt wird. Vgl. ÄdW I, S. 167.
184 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Eine Hauptfigur in der modernen Metropole ist der Flaneur. Aus ästhetischer Neugier erkundet diese Figur verschiedene Stadtteile, um die von ihnen „konstituierte Vielfalt zu genießen.“13 Nach Walter Benjamin verhält sich der Flaneur wie ein Detektiv auf der Spurensuche, der die besondere Physiognomie eines Ortes einschließlich seiner Bewohner deutet und studiert. Der Flaneur verhält sich aber auch wie ein „Priester des Genius Loci“, der die „von ihnen bedrängten oder verdrängten Orte beschwört; sein eigentliches Terrain sind die Schwellen zwischen den einzelnen Orten und den ihnen eingeschriebenen Zeiten.“14 Die Erforschung einzelner Pariser Erinnerungsorte durch das Medium des Flaneurs ist kennzeichnend für den Paris-Abschnitt im Roman. Die Perspektive des Flaneurs macht die Eigenart der Stadtbeschreibung aus, eine Besonderheit, die auch im Stockholmer Abschnitt zum Vorschein kommt. Die Figur des Flaneurs ist der Stadt im Pariser Abschnitt ein „mnemotechnischer Behelf“, der die verschütteten historischen Schichten der Stadt freilegt. Ein prägnantes Beispiel hierfür ist, als Katz und der Erzähler auf der Suche nach den Spuren Vincent van Goghs die Künstlerszene Montmartres erforschen. Die Stadt Paris erscheint in der Ästhetik des Widerstands als ein Buch, dessen Zeitschichten dekodiert und „gelesen“ werden: Es gilt dabei zu lesen, was sich in verschiedenen Gebäuden und Monumenten ereignet hat, im Künstlerhaus des Bateau Lavoir, im abgerissenen Wohnhaus Jean Paul Marats. Um dieses „Buch“ zu lesen gilt es, wie der Erzähler formuliert, sich „durch eine Fülle von Ablagerungen“ hindurch zu kämpfen. Es gilt, „das Herz der Stadt“ zu erforschen, das „verschüttet“ liegt „unter Staub und Müll, ein Berg war darüber angewachsen, Schicht auf Schicht“.15 Weiss interessiert sich vorwiegend für die revolutionäre Geschichte der „Hauptstadt der Moderne“; sein Interesse gilt v.a. der Zerschlagung der Pariser Kommune 1871. Die Inszenierung von Erinnerung erfolgt im Paris-Abschnitt vorwiegend im Rahmen längerer Ekphrasen, v.a. am Beispiel von Géricaults Das Floß der Medusa und den Radierungen von Meryon. Das schreckliche Bild der in Seenot geratenen Seemänner überwältigt plötzlich den Erzähler, der sich auf einer Pariser Straße befindet: „Jetzt, bei Morgengrauen, war die See ruhiger geworden, zehn Mann hatte das Meer verschlungen, weitere zwölf hingen festgesteckt, verendet, zwischen den Bohlen und Brettern.“16
13 Wolfram Nitsch, „Paris ohne Gesicht. Städtische Nicht-Orte in der französischen Prosa der Gegenwart“, in: Andreas Mahler (Hrsg.), Stadt-Bilder, S. 305-321, hier S. 309. 14 Ebd. 15 ÄdW II, S. 35. 16 ÄdW II, S. 13.
P ARIS: DIE S TADT
4.1 H AUSSMANN UND
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V ERGANGENHEIT
Der Ich-Erzähler ist während seines Paris-Aufenthalts an der Rue Casimir Périer in der luxuriösen Villa des schwedischen Bankiers Olof Aschberg untergebracht, ein „Palais, das während des Zweiten Kaiserreichs errichtet worden war für den Marquis d’ Estourmelle“.17 Das Zimmer, in dem sich der Erzähler befindet, wird akribisch beschrieben. Zu den Inventarien gehört u.a. ein „bärtiger“ Zwerg aus Ebenholz: Der bärtige Zwerg aus Ebenholz hielt in seinen Fäusten den Leuchter über mich. Kanapees, riesige gepolsterte Sessel, Tische mit Marmorplatten oder Intarsien verziert, spiegelten sich im Parkettboden, an den mit Damast bespannten Wänden hingen dunkle Gemälde, Seestücke, Landschaften, in schweren Goldrahmen, einem Altar gleich erhob sich der Vorbau des Kamins, und unter dem dreiteiligen Fenster in gotischem Stil führte eine Wendeltreppe hinauf zur Galerie, die, mit einem Geländer voller Chinoiserien, den Saal in 18
halber Höhe umlief.
Die Figur des Zwerges, die hier von Weiss beschrieben wird, ist eine zentrale Metapher in Benjamins Geschichtsphilosophie des historischen Materialismus. Benjamin polemisiert dort gegen die Geschichtsauffassung des Historizismus, etwa Leopold von Rankes, der vom Paradigma ausgeht, wie die Geschichte „eigentlich gewesen“ ist. In Berliner Kindheit um Neunzehnhundert symbolisiert der Zwerg die Art, wie die Vergangenheit in der Erinnerung repräsentiert wird. Das Bild der Vergangenheit wie sie in der Erinnerung erscheint, ist laut Benjamin von Verschränkung geprägt; in der Erinnerung erscheint die Welt kleiner, indem Sachen und Orte geschrumpft sind.19 Die Welt von gestern, wie sie in der Erinnerung erscheint, ist demgemäß eine Welt von Zwergen. Sie sprach vom bucklichten Männlein, welches mich angesehen hatte. Wen dieses Männlein ansieht, gibt nicht acht. […] Wo es [das bucklichte Männlein, G.L.] erschien, da hatte ich das Nachsehn. Ein Nachsehn, dem die Dinge sich entzogen, bis aus dem Garten übers Jahr ein Gärtlein, ein Kämmerlein aus meiner Kammer und ein Bänklein aus der Bank
17 ÄdW II, S. 7. 18 Ebd. 19 Vgl. Marc de Wilde, „Benjamins Politics of Remembrance: A Reading of ‚Über den Begriff der Geschichte‘“, in: Rolf Goebel (Hrsg.), A Companion to the Works of Walter Benjamin, New York 2009, S. 177-194, hier S. 182f.
186 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT geworden war. Sie schrumpften, und es war, als wüchse ihnen ein Buckel, der sie selber 20
nun der Welt des Männleins für sehr lange einverleibte.
Von allen Kunstwerken im Roman wird neben dem Pergamon-Altar Théophile Géricaults Gemälde Das Floß der Medusa am ausführlichsten behandelt. Die Beschreibung des Gemäldes ist eingeflochten in den Pariser-Abschnitt und gibt Auskunft über die sozialen und historischen Bedingungen der „Hauptstadt der Moderne“, in der es entstand. Der hermeneutische Rundgang durch die zeitlichen Stufen des Kunstwerkes, dessen Genese und Rezeption im Kunstsalon, wirft ein Licht auf die Gegenwart und lässt den Erzähler die Zersplitterung, unter der seine eigene Generation leidet, spüren.21 Géricault ging an der modernen Großstadtmetropole zugrunde. Die Erinnerung an die Gewinnsucht und an die imperialen Kriege von damals wirft ein Licht auf die gegenwärtige Situation. Im Rahmen einer längeren Analepse wird über die Entstehungsgeschichte und den historischen Stoff von Géricaults Gemälde erzählt.22 In der Bibliothèque du Cercle des Nations stößt der Erzähler auf Henri Savigny und Alexandre Corréards Buch Der Schiffbruch der Fregatte Medusa in zeitgenössischer deutscher Übersetzung. Das Buch, das über das Geschehen berichtet, hat „eine ungemein beruhigende Wirkung“ auf ihn.23 Ähnlich wie das Stück Madeleine-Kuchen, das so viele Erinnerungen des Erzählers in Prousts À la Recherche du temps perdu wachruft, erfüllt dieses Buch eine erinnerungstechnische Auslöserfunktion, wenn auch nicht biographischer, sondern geschichtlicher Art. Das Buch, das von einigen Überlebenden dieser Katastrophe geschrieben wurde, diente nicht nur als Quelle für Géricaults Vorstudien zu seinem Gemälde, sondern bot auch eine erste Orientierung für Weiss.24 Die Vorgeschichte wird eingehend behandelt: 1815 überlässt England der bourbonischen Restauration die Kronkolonie Senegal. Doch das Hauptschiff der englischen Fregatte, Medusa, läuft auf Grund. Der Stab rettet sich auf Boote, während die Besatzung größtenteils ertrinkt. Unter den Überlebenden befinden sich u.a. eine Frau und ihre acht Kinder, die sich auf ein überfülltes Floß rettet, das zu kentern droht. Ohne Wasser und Essen halten sie sich auf dem Floß auf,
20 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. 4: Kleine Prosa, BaudelaireÜbertragungen, S. 303. 21 ÄdW II, S. 23. 22 Ebd,, S. 253. 23 ÄdW II, S. 9. 24 Klaus Herding, „Arbeit am Bild als Widerstandsleistung“, in: Alexander Stephan (Hrsg.), Die Ästhetik des Widerstands, S. 250.
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bevor sie endlich gerettet werden. Das Dahinsiechen und die Hoffnungslosigkeit auf dem Floß, von quälendem Durst bis hin zum Kannibalismus werden in Géricaults Gemälde thematisiert.25 Das Gemälde wird zum Sinnbild für die französische Restauration, eine Epoche, die von „Engstirnigkeit, Selbstsucht und Habgier“ geprägt ist.26 Weiss schildert dieses Geschehen im Rahmen von drei diegetischen Ebenen: Der Ich-Erzähler liest das Buch in der Nacht vom zwanzigsten auf den einundzwanzigsten September 1938.27 Er rekapituliert sorgfältig das Geschehen und stellt sich vor, wie Géricault sich in das Buch der Geretteten vertieft, als er Das Floß der Medusa malte: „Tagelang mochte sich der Maler mit den Geschehnissen befasst haben, die ihm die folgenden Seiten des Buchs vermittelten. Mit solcher Greifbarkeit waren die Bestürzung und Verzweiflung, die Wirrnis und Erstarrung geschildert, daß der Lesende sich mitten zwischen den Gestrandeten dünkte.“28 Ähnlich penibel, wie Weiss später das Zimmer Lenins oder Marats Wohnung rekonstruiert, beschreibt der Erzähler die Bauweise des Floßes der Schiffbrüchigen, wie die Planken gefügt und die Fässer vertäut sind: Es gilt hier, wie der Autor in seinem Notizbuch schreibt, „etwas nicht Vorhandenes mit äußerster Genauigkeit“ wiederzugeben.29
25 „Die ersten begannen damit, die umherliegenden Leichname mit ihren Messern zu zerteilen. Einige verschlangen das rohe Fleisch auf der Stelle, andre ließen es in der Sonne dörren, um es auf diese Art schmackhafter zu machen, und wer es jetzt noch nicht über sich brachte, die neue Kost zu sich zu nehmen, der wurde am folgenden Tag doch vom Hunger gezwungen. (ÄdW II, S. 16). 26 ÄdW II, S. 9. 27 Zum Wechsel der diegetischen Ebenen in der Ästhetik des Widerstands, siehe Bernard Dieterle, Erzählte Bilder: Zum narrativen Umgang mit Gemälden, (= Artefakt, Bd. 3: Schriften zur Soziosemiotik und Komparatistik) Marburg 1988, S. 146f: „Durch die Radikalisierung des Verfahrens, durch die innigste Verschmelzung unterschiedlicher Ebenen und Perspektiven sowie durch die Parallelisierung von Rezeptions- und Produktionsvorgängen (Lesen, malen, schreiben), schlägt Peter Weiss ein ganz neues Muster für den Umgang mit einem Kunstwerk vor.“ (Zitat, S. 147). Vgl. Jochen Vogt, „Ugolino trifft Medusa. Nochmals über das ‚Hadesbild‘ in der Ästhetik des Widerstands“, in: Margrid Bircken, Dieter Mersch, Hans-Christian Stillmark (Hrsg.), Ein Riss geht durch den Autor: Transmediale Inszenierungen im Werk von Peter Weiss, S. 69-92. 28 Ebd., S. 11. Der Schaffensprozess des Malers Géricault rückt dabei zunehmend in den Vordergrund, um dann in die Ekphrasis des Gemäldes über zu gehen (ÄdW II, S. 21f., S. 27ff.) 29 NB 2, S. 217.
188 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Der Erzähler beschreibt im Rahmen mehrerer diegetischer Ebenen die Entstehung und Rezeption von Géricaults Gemälde: Er bemüht sich, den Arbeitsprozess des Malers zu rekonstruieren, er versucht, sich in die Situation der Schiffbrüchigen zu versetzen und sucht das „Bildnetz“ des Künstlers durch alle Ablagerungen und Schichten zu erfassen.30 Dies veranschaulicht er durch die Metapher des Grabens: Ich wußte zu dieser Stunde nur, daß ich hindurch mußte durch eine Fülle von Ablagerungen, die sich so dicht ineinander verschoben und versponnen hatten, daß jede Bewegung gleichsam ein Knirschen und Bersten hervorrief, und nicht nur Bildnetze, Knäuel von Geschehnissen umgaben mich, es war, als sei auch die Zeit zerborsten, und als hätte ich sie, indem ich mich durch ihre Schichten wühlte, zwischen den Zähnen zu zermahlen.
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Die heterogenen Bildelemente „bewirken einen Zerfall der Synästhesie“, 32 aber zugleich auch deren Konzentration auf einen unbekannten Zustand: Die Sinne des Hörens, Tastens des Sehens richten sich auf das Unbekannte. Eine räumliche Metapher der Archäologie entsteht durch den Satz „eine Fülle von Ablagerungen, die sich so dicht ineinander verschoben und versponnen hatten“, wobei der Ausdruck „verschoben“ auf geologische Ablagerungen von Gesteinsschichten verweist.33 Das Motiv des Freischaufelns historischer Schichten stellt eine wichtige Denkfigur im Werk von Peter Weiss dar. Jede Bewegung des Erzählers ruft ein „Knirschen“ und „Bersten“ der dicht ineinander verschobenen historischen Ablagerungen hervor. Damit wird ein wichtiges Thema angesprochen, nämlich die Stadt Paris als Buch, die aus unendlich vielen Seiten besteht. Es gibt wohl
30 Diese Gedankenfigur kommt zudem in Christa Wolfs Werk vor. Wolf erörtert in einer Diskussion zu Kindheitsmuster aus dem Jahr 1975 das Motiv des Grabens: „Es scheint mir, daß es nötig ist, daß es nützlich sein könnte – abgesehen davon, daß es für mich nützlich ist –, wenn man versucht, die Schichten, die Ablagerungen, die die Ereignisse in uns allen hinterlassen haben, wieder in Bewegung zu bringen. […] Meine Meinung ist jedoch, daß Literatur versuchen sollte, diese Schichten zu zeigen, die in uns liegen – nicht so säuberlich geordnet, nicht katalogisiert und schön ‚bewältigt‘ , wie wir es gern möchten.“ Siehe Christa Wolf, Die Dimension des Autors: Essays und Aufsätze, Reden und Gespräche 1959-1985, Darmstadt 1987, S. 806-843, hier S. 810f. 31 ÄdW II, S. 15. 32 Vgl. hierzu Burkhardt Lindner, „Die Erinnerungspolitik in der ‚Ästhetik des Widerstands‘“, in: Arnd Beise, Jens Birkmeyer, Michael Hofmann, (Hrsg.), Diese bebende kühne zähe Hoffnung, S. 78. 33 Vgl. Ebd., S. 79.
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keine Stadt der Welt, die dermaßen Gegenstand literarischer Beschreibungen geworden ist wie Paris: „Unter allen Städten ist keine, die sich inniger mit dem Buche verband als Paris“ konstatiert Walter Benjamin. Wer an der Seine entlang spaziert, der schlendert „zum Buch ins Buch hinein.“ Über die Seine habe sich „seit Jahrhunderten der Efeu gelehrter Blätter gelegt: Paris ist ein großer Bibliothekssaal, der von der Seine durchströmt wird. Kein Monument dieser Stadt, an dem nicht ein Meisterwerk der Dichtung inspiriert hätte.“34 Durch die Einführung der Metapher der archäologischen Ausgrabung schafft Weiss eine Denkfigur, die ihm erlaubt, metonymische Assoziationsreihen darzustellen, beispielsweise durch die Zeit der Pariser Kommune 1871 und die Gegenwart. Das Motiv des Grabens ist ein wiederkehrendes Leitmotiv im Roman und wird auch im bildkünstlerischen Werk thematisiert, z.B. in der Collage Junge mit Spaten aus dem Jahr 1962.35 Diese Collage stellt den Domplatz (die Piazza dei Miracoli) in Pisa neben modernen Fabrikschloten, aus denen Rauch hervorquillt, dar. Der Zusammenprall zweier Welten, die des Mittelalters und die der industriellen Ära, kennzeichnet das Bild. Dies wird nicht zuletzt dadurch bekundet, dass einer der Fabrikschlote die Höhe der Domkuppel überragt. Die abgebildeten Figuren stellen Kinder und Erwachsene dar, die in der Mode der Jahrhundertwende 1900 gekleidet sind. Auf dem asphaltierten Platz vor dem Dom gräbt ein Junge in einem Matrosenanzug ein Loch in den Boden. Dies symbolisiert die Erinnerung, die von Erdschichten zugedeckt liegt und freigeschaufelt werden muss. Dass diese Collage in Weiss’ Prosaarbeit Abschied von den Eltern Eingang fand, ist wohl kein Zufall. Denn dort wie später in der Ästhetik des Widerstands spielt die Bloßlegung der Erinnerung, die durch die Metapher des Grabens veranschaulicht wird, eine zentrale Rolle. Bedeckt von dem Schutt der Vergangenheit ist auch die Arbeiterbewegung, durch deren Schichten der Erzähler sich veranlasst fühlt zu graben: „Wenn ich versuche, mir klar zu werden über meine Stellung in der Arbeiterbewegung, so ist es, als müsse ich zuerst zu graben anfangen, müsse mich rauswühlen, rauskratzen aus einer Masse von Schutt, die uns zudeckt. Unsre Organisationen sind wie Erdschichten, die abgehoben werden müssen, damit wir uns selbst finden können.“36 Grund für
34 Walter Benjamin, „Paris, die Stadt im Spiegel“ (1929), in: Karsten Witte: Paris: Deutsche Republikaner reisen, S. 297-301, hier S. 297. 35 Vgl. die Abbildung hierzu in: Der Maler Peter Weiss: Bilder, Zeichnungen, Collagen, Filme, S. 266. 36 ÄdW I, S. 227.
190 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT diese Haltung ist die Tatsache, dass die Sozialdemokratie es verfehlt hat, der Arbeiterklasse zu einer kulturellen Identität zu verhelfen.37 Mitten in Paris wird der Erzähler 1938 von „Schwindel und Umnachtung“38 gepackt, und er sieht, wie die Seine sich in den Atlantik der Schiffbrüchigen um 1815 verwandelt. Die Metapher der Welle als Symbol für die Stadt und deren Einwohner als Schiffbrüchige wurde übrigens schon in Abschied von den Eltern thematisiert: „Wie Schiffbrüchige in einem Boot trieben wir durch das sanft rauschende Meer der Stadt.“ 39 Durch diesen „halluzinatorischen Realismus“ wird die Vergangenheit vergegenwärtigt: Eine Stange war aus dem Boden des Floßes gerissen, als Mast aufgerichtet und mit dem Bugsierseil befestigt worden, das Klatschen des Segelfetzens war zu hören, und die Drehung war zu verspüren, die nicht zu behebende Querlage des Floßes, die von einem übermäßig langen seitwärts hinzustoßenden Holzstück herrührte. Die Nichtausliefrung der Schußwaffen an die Matrosen hatte bereits am zweiten Tag ihren Zweck erwiesen. In der ausbrechenden Meuterei […] sah der Maler die Möglichkeit zu einer großen Komposition entstehn.
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Der verwirrte Erzähler versucht sich im Pariser Stadtzentrum zu orientieren, danach vollzieht sich noch ein Perspektivenwechsel zu Géricault und seiner Arbeit am Gemälde nach der Katastrophe, um dann wieder zur Situation der Schiffbrüchigen zu gelangen. Die Gegenwartsebene wird somit von zwei Ebenen der Vergangenheit ergänzt. Beispiele für diese narrative Technik lassen sich im Roman beliebig erweitern, z.B. als der Erzähler einen Bettler an der Straße sieht, den schon der Maler Eugène Sue Mitte des 19. Jahrhunderts gesehen haben soll: Den Zerlumpten, der zuerst abwesend am Straßenrand hockte, dann plötzlich, wie aufgedreht, emporsprang, hatte auch Sue, beim Streifzug durch die Gassen, gesehn, und bestimmt hatte er lange, wie Meryon nach ihm, das Haus mit dem vom ersten Stockwerk an
37 Vgl. dazu den Eintrag ins Notizbuch: „Sozialdem. – Sie haben es versäumt, der Arbeiterklasse zu ihrer Identität zu verhelfen. Deshalb Ausbreitung der Entpolitisierung, des halb Reaktionären, deshalb immer wieder die Vorstöße der Bourgeoisie möglich.“ NB 2, S. 599. 38 ÄdW II, S. 14. 39 Siehe AE, S. 101. 40 ÄdW II, S. 14.
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aufgesetzten Eckturm betrachtet, denn am Innenhof hatte Marat gewohnt und seinen Tod gefunden.
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Die Episode mit dem emporspringenden Bettler findet auch in die Notizbücher Eingang. Darin sieht Weiss bei einem Besuch in Paris 1972 auf dem Friedhof Père Lachaise einen Obdachlosen, der seine Arme in den Himmel streckt und zu dem Erstaunen des Beobachters zu tanzen anfängt.42 Zunächst ist der Erzähler überfordert von den vielen Eindrücken der französischen Metropole. Er schlägt einen von ihm eingekauften Stadtplan auf, um sich in der Stadt orientieren zu können. Er ist sich bewusst, dass er „hindurch mußte durch eine Fülle von Ablagerungen“ aus denen die Stadt Paris besteht. Diese geschichtlichen und kulturellen Ablagerungen sind so dicht ineinander verwoben, dass jeder Schritt auf der Straße ein Knirschen hervorruft. Paris besteht demgemäß aus einem Knäuel von Bildnetzen und Erinnerungen, durch die sich der Erzähler wühlen muss. Erst wenn der Erzähler im „übertragenen Sinne die sedimentierten Eindrücke und Impulse […] in einer Art Archäologie der Erfahrung aus dem Wissensfundus des unbewußten Gedächtnisses der Stadt“43 freilegt und abträgt, können weitere Reflexionen über das kollektive Gedächtnis der Stadt gemacht werden: Auf dem Mauergesims schlug ich den Stadtplan auf, den ich am vergangnen Abend, nach der Ankunft in der Gare de Lyon, gekauft hatte, viel wäre heute zu tun, viele Entscheidungen wären zu treffen gewesen, Schritte, wichtig für mein Weiterkommen, standen bevor, doch ich war hineingeraten in eine Vielfalt, die es mir unmöglich machte, der bisher geltenden Gesetzmäßigkeit zu folgen. […] Ich wußte in dieser Stunde nur, daß ich hindurch mußte durch eine Fülle von Ablagerungen, die sich so dicht ineinander verschoben und versponnen hatten, daß jede Bewegung gleichsam ein Knirschen und Bersten hervorrief, und nicht nur Bildnetze, Knäuel von Geschehnissen umgaben mich, es war, als sei auch die Zeit zerborsten, und als hätte ich sie, indem ich mich durch ihre Schichten wühlte, zwischen den Zähnen zu zermahlen.44
41 ÄdW II, S. 69. 42 Vgl. NB 2, S. 445. 43 Jens Birkmeyer, Bilder des Schreckens, S. 170. 44 ÄdW II, S. 15. Vgl. auch folgenden Eintrag ins Notizbuch, in welchem diese Denkfigur variiert wiederholt wird: „dann kam ich in einen Speicher, angefüllt mit Ablagerungen, so dicht voll, daß jede meiner Bewegungen knirschte u krachte, daß ich die Luft zwischen den Zähnen zu zermahlen hatte, daß jeder Gedanke sich aus Netzen,
192 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Voriges Zitat hat auch Implikationen für die Darstellung von Paris. Ähnlich wie Benjamins Konzeption des Flaneurs, der als „Detektiv“ die verschüttete Vergangenheit freilegt, ist der Erzähler bemüht, die historischen Schichten der Stadt zu rekonstruieren. Diese Inszenierung von Erinnerung im urbanen Raum erfolgt mittels verschiedener Medien: Fast zwanghaft fühlt sich der Erzähler veranlasst, die historische Provenienz von Gebäuden und Kunstwerken abzulesen und zu dekodieren. Es geht ihm darum, die verschiedenen historischen Schichten der Stadt zu vergegenwärtigen, beispielsweise das abgerissene Haus Jean Paul Marats. Damit wird ein Bewusstsein für die Temporalität der Großstadt zwischen Gegenwart und Vergangenheit ermöglicht. Dabei spielt nicht zuletzt, wie Günter Schütz gezeigt hat, das Medium der Fotografie, womit Weiss historische Gebäude detailliert beschreibt, eine bedeutende Rolle. Ein zweites wichtiges Medium ist, wie oben bereits angedeutet, das des Gemäldes: Der Ich-Erzähler besucht während seines Pariser Aufenthalts zweimal den Louvre. Auffällig bei der Beschreibung von Paris ist das Anthropomorphisieren der Stadt, die als Organismus beschrieben wird. Bezeichnend für Weiss’ Beschreibung der Stadt Paris ist eine frühe Fassung des Romans, in welcher in einer Passage der Erzähler den Fuß in den „riesigen Organismus“ der Stadt setzt. Die Begegnung mit Paris ist für ihn mit einem Gefühl von Ehrfurcht verbunden. Die Macht der Architektur wirkt betäubend, und er ist bereit, sich ganz der Macht der architektonischen Erscheinungen zu unterwerfen: Wenn in Erwägung gezogen wurde, dass die Avenuen nur so breit, die Plätze nur so geräumig waren, um der Polizei, der Armee bessere Sicht zu gewähren über aufständische Volksmassen, und dass sich die offene Perspektive vom einen Triumphbogen zum andern nicht der imposanten Grosszügigkeit wegen hinzogen, sondern zur Freilegung des Schussfelds, so ergab sich eine Grundlage zum Verständnis dieser Stadt die uns gleich in ihre Helle und Luftigkeit, ihre imponierende Grosszügigkeit hinreissen wollte. Allein dieser Stadt ihren Namen zu geben, den Fuss in ihren riesigen Organismus zu setzen, war ein Ereignis, das betäubend wirkte, seit jeher waren Ankommende hier in einem Rauschzustand an den ebenmässigen Fassaden und Säulenfluchten entlang, durch die Harmonie der Parkanlagen, über die Brücken und Bastionen getrieben worden, und wenn die Ägypter, Assyrer, Römer, Goten nach sich rufen hörten, wenn sie die geflügelten Pferden Göttinnen, Sphinxen und Obelisken, die Heerführer, Fürsten und Könige rings um sich aufsteigen sahn, so hatten sie die Bereitschaft verspürt, sich ganz den Erscheinungen der architektonischen Gewalt zu unterwerfen und die Tatsache, dass sie hier waren, schon eine Begna-
Blöcken herausarbeiten mußte – jeder Versuch, einen Durchblick zu gewinnen, scheiterte“ [.] Siehe NB 2, S. 462.
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digung zu nennen. Und wurden sie nicht ins Knie gezwungen von den Dynastien der Herrschenden, mit ihren vergoldeten Schwertern und Lanzen, so gerieten sie vor die Grossen aus der Welt der Literatur, der Kunst, der Philosophie, die sie, in Marmor und Erz, sich 45
drehend auf ihren Sockeln, aneinander weiterreichten.
Aus der Stadt steigt ein metallenes Surren, ein schwirrendes Singen. Für die Repräsentation der Stadt ist die Reizüberflutung der modernen Metropole wesentlich. In diesem urbanen Milieu meint der Erzähler nur durch die Mobilisierung seiner mentalen Widerstandskraft bestehen zu können. An die Stelle des Flanierens tritt die Standhaftigkeit gegenüber den Verführungen der Großstadt, die den Exilanten zu verschlingen drohen. Paris wird zum mythologischen Paradigma der Medusa-Gestalt, deren unwiderstehliche ästhetische Reize tödlich sind. 46 Das gewaltige Bauwerk, dem ich mich zuwandte, schien mit seinen Wappentafeln, Helmen und Kronen, seinen von Schutzheiligen und Göttern umschlungenen Fensterbögen, seinen in Kränze, Fruchtkörbe und Füllhörner eingebacknen Uhren, seinen von Harfen und Ankern flankierten immensen Goldbuchstaben das mit Bildern angefüllte Palais drüben übertrumpfen zu wollen. Die Schritte der Menschen, die aus dem Portal kamen, dunkel gekleidet die meisten, Aktenmappe unterm Arm, wurden schon übertönt von einem metallnen Gesurr, einem schwirrenden Singen, das aus der Stadt emporstieg. Verglichen mit den Geschwulsten des industriellen Zeitalters besaßen die Titanen und Musen, die Heroen und Engel, die sich einschmiegten in die Nischen und Turmgiebel des Louvreflügels, immerhin etwas Zurückhaltendes, Keusches, doch ließen sich diese Verfeinerungen des Feudalismus ebensowenig preisen wie das diesseitige Gebirge der pompösen Bildhauereien.
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Selbst stellt sich der Erzähler Paris als eine verlockende Metropole der Malerei, Philosophie und Dichtung vor, deren Volksmassen mehrmals gegen die etablierte Gesellschaft revoltiert haben. Bei der französischen Revolution richtete sich
45 PWA 1697, S. 9. 46 Von Weiss’ eigener Ambivalenz gegenüber Paris zeugt folgende Eintragung im Notizbuch. Seine ästhetische Faszination der französischen Hauptstadt verhindert nicht, dass er die Dekadenz und das soziale Elend dort auf das Schärfste verurteilt: „In Paris die Ambivalenz. Ich muß umlernen, noch einmal von vorn beginnen, dabei ist alles definitiv, fordert äußerst genaue Entscheidungen. Paris von phantastischer, unvorstellbarer Schönheit, u zugleich voll von dem europäischen Verrottetsein, dem Verrat, die Menschen im Elend, u die Gleichgültigkeit ihnen gegenüber.“ (NB 2, S. 412.) 47 ÄdW II, S. 17f.
194 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT die Wut der Massen gegen die „versteinerte Tyrannei“ der Bastille, die gestürmt wurde. Immer wieder evoziert der Erzähler das kollektive Gedächtnis der Stadt Paris mit seiner politisch-kulturellen Widerstandsgeschichte, die auch für seine Biographie maßgeblich ist. In seinem Buch Avantgarde Film schrieb Weiss 1956 über die Stadt als Gegenstand filmischer Darstellung: „Das Thema ist unerschöpflich; die Stadt eröffnet denen, die zu sehen vermögen, täglich neue Perspektiven.“48 Dies gilt erst recht für Weiss’ Darstellung von Paris in der Ästhetik des Widerstands, in der das kulturelle Gedächtnis von Paris aus den Steinmassen immer wieder evoziert wird.49 In den Steinmassen von Paris ist ein Arsenal von kulturellem Gedächtnis gespeichert, das der Erzähler mit seinem „topographischen Gedächtnis“ vergegenwärtigt.50 Ich konnte den Fluß vor mir sehn, die Brücken und Uferstraßen, hörte den Nachklang von Lobpreisungen und Lockungen. Paris, das war die Metropole der Dichtung, der Malerei, der Philosophie. Paris, das waren die Volksmassen, die sich mit Stöcken, Hacken, Brecheisen hermachten über die in Rauch gehüllte Bastille, das war der Triumph der Hände über versteinerte Tyrannei, das war das Gewühl winziger Menschenmassen zwischen dem Aufgetürmten, Gewaltigen. Paris, das war das Niederreißen der napoleonischen Siegessäule auf der Place Vendôme. Ein Fest war dies, jetzt führten sie, die nie eingeladen waren in die Oper, drüben an der Rue de la Paix, ihr eigenes Singspiel auf, zu Ziehharmonika und Blasmusik. Paris, das war ein Spottgesang auf die Potentaten, die geflüchtet waren 51
nach Versailles.
Die Inszenierung von Erinnerung im Paris-Abschnitt fängt in der Ästhetik des Widerstands schon im ersten Band an, als sich der Erzähler an den Paris-Besuch seines Vaters zusammen mit Herbert Wehner 1936 erinnert. Dieses Treffen veranlasst den Erzähler, über sein Verhältnis zu Paris nachzudenken. Dieses Verhältnis ist v.a. geprägt von den Erinnerungen an die großen politischen Revolutionen, die von Paris ausgingen. Eine wichtige Rolle spielen dabei zwei Bauwerke, die Siegessäule Napoleons im Stil eines römischen Imperators und die Bastille. Die Stürmung des berüchtigten Gefängnisses der Bastille am 14. Juli 1789 gilt als Vorstufe der Französischen Revolution. Das Gebäude, welches als Symbol des Ancien Régime galt, wurde 1790 abgerissen. Weiss schlägt dann eine historische Brücke von 1789 zur symbolhaften Handlung des Abreißens der Sie-
48 Siehe Weiss, Avantgarde Film, S. 87. 49 Jens Birkmeyer, Bilder des Schreckens, S. 172. 50 NB 1, S. 108. 51 ÄdW I, S. 152.
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gessäule während der Pariser Kommune 1871. Die Vendôme-Säule, die nach dem Vorbild der römischen Trajan-Säule die Heldentaten der französischen Armee gegen Österreich und Russland 1808 feiert, wurde in der Zeit von 18061810 auf dem Place de Vendôme errichtet.52 Dieses gewaltige Denkmal gilt als Identitätszeichen des modernen nachrevolutionären Paris, das von Napoleon mit imperialen Ansprüchen als das neue Rom stilisiert wurde. Als eine symbolische Verkörperung des Heroisch-Imperialen galt die Vendôme-Säule während der Pariser Kommune 1871 ähnlich wie die Bastille 1789 als Denkmal des Ancien Régime und wurde deswegen abgerissen. Vergegenwärtigt wird dieses Geschehen mittels der „Erinnerungsfigur“ Gustave Courbet, der während des Aufstands Bevollmächtigter in Sachen Kunst war. Courbet ist verantwortlich für den Abriss der Siegessäule; Napoleons „Verrat“ an der Revolution ist damit gebüßt worden. Alles, was an die Erniedrigung des Volkes erinnert, soll dabei vernichtet werden. Die Denkfigur der zerstörten Stadt wird schon im Strindberg-Essay Gegen die Gesetze der Normalität (1962) sowie später in Marat/Sade thematisiert. Im Strindberg-Essay heißt es u.a.: „Er [Strindberg] sieht sich als primitive Aufruhrsgestalt, als Wilder am Waldrand, pyromanisch zur Stadt herüberstarrend, die er angezündet hat. Er arbeitet detaillierte Pläne zur Sprengung des Stockholmer Schlosses aus. Es war ihm ernst mit der Vernichtung der Stadtzivilisation.“53 Medien des kollektiven Gedächtnisses sind Zerfalls- und Zerstörungsprozessen ausgesetzt und daher keine zuverlässigen oder gar beständigen Erinnerungsträger. Dies gilt auch für die Siegessäule, deren identitätsstiftende Stabilität ins Gegenteil gekehrt wird und somit zum Symbol für die Fragmentierung und das Vergessen wird. Sämtliche Versuche – so scheint Weiss zu signalisieren – die instabile und wechselnde Qualität des kollektiven Erinnerns durch den Rückgriff auf Gedächtnismedien zu verankern, sind angesichts der mindestens ebenso konstitutiven Flüchtigkeit zum Scheitern verurteilt. Gedächtnismedien, in diesem Fall Skulpturen und öffentliche Denkmäler, tragen demgemäß nicht zu einer sinn- oder identitätsstiftender Aneignung des Vergangenen bei, sondern werden vielmehr zu Chiffren für die kulturelle Diskontinuität und für die Destabilisierung kollektiver Identität. „Keine Revolution ohne Gedächtnis“ schrieb einst Heiner Müller,54 und diese Sentenz hätte auch Weiss vorbehaltslos unterschreiben können:
52 Vgl. Karlheinz Stierle, Der Mythos von Paris, S. 656. 53 Vgl. R, S. 72-82, hier S. 78. 54 Siehe Heiner Müller, Brief an Robert Wilson. In: Heiner Müller, Material, Texte und Kommentare, hrsg. von Frank Höringk, Götttingen 1989, S. 51. Vgl. Jens Birkmeyer, Bilder des Schreckens, S. 177.
196 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Am sechzehnten Mai Achtzehnhundert Einundsiebzig, um halb sechs Uhr abends, im Klirren der abbrechenden, aus zwölfhundert eroberten Kanonen gegossnen Bronzeplatten, stürzte die Kolonne, beleuchtet von der über den Tuilerien sinkenden Sonne. Im Geröll, in einer Wolke von Staub, lag der Imperator, mit Toga und Lorbeerkranz. Sein Betrug an der Revolution war gesühnt worden. Zwischen den Communarden stand auch Courbet. Er trug eine Schirmmütze mit einem dunklen Bart, wirkte vermummt, zur Flucht, zum Untertauchen bereit. Als Bevollmächtigter für Fragen der Kunst war er verantwortlich gewesen für die Manifestation dieses Tags. Was dem Volk nützlich war, sollte erhalten bleiben, was von dessen Erniedrigung sprach, sollte vernichtet werden. Schon aber, wie in einem rückwärts laufenden Film, erstand die Säule aufs neue, die Bronzeplatten flogen spiralförmig hinauf, die Bruchstücke des Kaisers fügten sich hoch oben zur trajanischen Gestalt zusammen.
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Das Abreißen und Wiederaufrichten der Siegessäule wird mit dem kinetischen Effekt eines „rückwärts laufenden Film[s]“56 verglichen. Spiralförmig werden die Bronzeplatten, aus denen das Denkmal besteht, wieder aufgesetzt und aus den Bruchstücken entsteht die Statue aufs Neue. Die enge Wechselwirkung zwischen Zerstörung und Erhaltung „trifft den Kern des Historismus“57 mit dessen Interesse für die Vergangenheit. Das historische Bewusstsein der Moderne wurzelt in der Französischen Revolution, die unsere Gedächtniskultur maßgeblich beeinflusst hat. So hat dieses historische Ereignis laut Aleida Assmann zu einem „Auseinanderbrechen von Gegenwart und Vergangenheit geführt.“58 Im Zusammenhang mit der Französischen Revolution findet ein paradoxer Spagat zwischen Zertrümmerung und Wiederherstel-
55 ÄdW I, S. 152 f. 56 „Im vollen Tönen des Verkehrs, im Getriebe der Menschen, die ihren Geschäften entgegeneilten, kam ich von der Place Vendôme, auf der ich gesehn hatte, wie sich die Säule neigte, wie sie fiel und zerbarst. Hatte sie sich auch, wie in einem rückwärts gedrehten Film, wieder aufgerichtet, umstoben von ihren Kupferplatten, voller Adler, Brustpanzer, Feldzeichen und Liktorenbündel, die sich schraubenförmig zusammenlegten um den dickgemauerten Stumpf mit der Wendeltreppe im Innern, so war doch die Tatsache, daß sie einmal, mit dem lorbeergekrönten Cesaren auf der Kuppel, gestützt worden war, immer noch Grund genug, den edel gestalteten Platz mit Zuversicht zu verlassen.“ ÄdW II, S. 21. 57 Vgl. Aleida Assmann, „Zur Mediengeschichte des kulturellen Gedächtnisses“, in: Astrid Erll, Ansgar Nünning (Hrsg.), Medien des kollektiven Gedächtnisses, S. 45-60, hier S. 51. 58 Ebd.
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lung von Vergangenheit statt. Denn gerade die Kritik an der Tradition bildet eine Voraussetzung für historische Rekonstruktion und Kulturpflege. Demgemäß wurde ein radikaler Bruch mit der Geschichte nach 1789 vollzogen: Die Bastille sowie zahlreiche Kirchen, öffentliche Monumente, Archive, Grabanlagen und Kloster wurden abgerissen oder zerstört. Was in Jahrtausenden geschaffen wurde, wurde innerhalb kürzester Zeit vernichtet. Gleichzeitig mit dieser ikonoklastischen Zertrümmerung der Vergangenheit vollzog sich ein dialektischer Prozess des Wiederherstellens: Man machte sich wieder an die „Sammlung, Inventarisierung und Konservierung des Zerstörten.“59 Dies wurde von neugegründeten Archiven dokumentiert. Sogar eine Statue von Franz I. wurde wieder aufgestellt.60 Weiss’ Schilderung der Zerstörung der Napoleonischen Siegessäule ist ein Beispiel für das, was Aleida Assmann die „Geburt des Geschichtsbewusstseins aus dem Geist der Zerstörung“61 nennt. Das, was aus der Erinnerungskultur verbannt oder vernichtet wird, geht nicht verloren, sondern findet Eingang in Museen, Archiven oder Bibliotheken.62 Paris, so der Ich-Erzähler, ist auch die Stadt des blutigen Niederschlags der Kommune 1871, dem dreißigtausend Männer, Frauen und Kinder zum Opfer fielen. Ähnlich wie Berlin wird Paris als Stadt der Herrschenden beschrieben mit seinen Tempeln, Obelisken und „Wehrtürmen der Macht“: Paris, das war dieses hoffnungsfrohe Anstürmen, dieser Rausch, allzu schnell beendet, zusammengeschlagen, Paris, das war das Feuer aus den Gewehrmündungen der Verteidiger des Reichtums, das waren die Sterbenden, die versäumt hatten, die Bank von Frankreich in ihren Besitz zu bringen, die zu gutmütig, zu friedlebend gewesen waren, um den Bankiers die Kehle durchzuschneiden. […] Paris, das war ein Dahingehn zwischen den Tempeln, den Obelisken und Wehrtürmen der Macht, vorbei am weiß strahlenden Sacré Cœur, den Hügel überlagernd, wo einst die Kanonen der Nationalgarden standen. Paris, das war ein Verstecken am Saumsteingatter, in zerlumpten, von Abwässern durchtränkten Klei63
dern, Paris, das war die grenzenlose Freiheit der Phantasie.
59 Ebd., S. 50. 60 Ebd. 61 Vgl. Aleida Assmann, „Zur Mediengeschichte des kulturellen Gedächtnisses“, in: Astrid Erll, Ansgar Nünning (Hrsg.), Medien des kollektiven Gedächtnisses, S. 45-60, hier S. 50. 62 Ebd., S. 51. 63 ÄdW I, S. 153.
198 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT In mehreren Passagen wird das, was Karl Heinz Stierle den „Mythos von Paris“ nennt, suggeriert und reproduziert, etwa als der Ich-Erzähler das „Wesen“ der französischen Metropole zu erörtern versucht.64 Dabei wird die Größe der Stadt an mehreren Stellen thematisiert. Der Erzähler rühmt die Leistung der Kommunarden, die Mut gefasst haben, an den Straßen Barrikaden zu errichten; „Ungeheuer türmte die Stadt sich auf, welche Zwerge waren wir darin, was für eine Kühnheit war es gewesen, hier an den Straßen Barrikaden zu errichten, und dahinter einen Tag, ein paar Tage lang den Besitzern der Arsenale standzuhalten.“65 Dass Weiss immer wieder den Mythos vom revolutionären Paris evoziert, v.a. die Kommune 1871, ist keineswegs originell. Schon Walter Benjamin beschreibt im Passagen-Werk, das zur Entstehungszeit des Romans jedoch noch nicht veröffentlicht worden war, eingehend die Geschichte des revolutionären Paris. Dies gilt nicht zuletzt für das umfassende Kapitel über die Rolle der Haussmannschen Boulevards in den Straßenkämpfen 1871, betitelt „Haussmannisierung, Barrikadenkämpfe“. Ein Kapitel widmet Benjamin den Paris-Schilderungen von Karl Marx.66 Bevor auf die Inszenierung von Erinnerung in Paris näher eingegangen wird, scheint es zunächst angebracht, die umfassende städtebauliche Umgestaltung des Stadtzentrums im 19. Jahrhundert kurz zu behandeln. Dazu Folgendes: Der französische Kaiser Napoleon III wollte Paris zur modernen Metropole des Industriezeitalters umgestalten, um sich damit mit den Hauptstädten der anderen europäischen Großmächte, London und Berlin, messen zu können. Ziel der Umgestaltung des kaiserlichen Chefarchitekten George-Eugéne Haussmann war, den hygienischen Standard des engen mittelalterlichen Stadtzentrums durch eine neue Kanalisation zu verbessern. Zudem begünstigten die großen Boulevards die Niederschlagung von Volksaufständen. Zugleich sollte Paris durch den Bau monumentaler Sichtachsen überschaubar strukturiert und den Bedürfnissen des modernen Verkehrs angepasst werden. Außerdem entstanden nach dem englischen Garden-City-Ideal weitläufige Grünanlagen, z.B. Jardin du Luxembourg und Bois de Boulogne.67 Diese radikale Umgestaltung wurde nicht nur in anderen Städten nachgeahmt, sondern stieß zugleich auch auf Kritik, u.a. von Victor Hu-
64 Vgl. Günter Schütz, Peter Weiss und Paris. Bd. 2, S. 388. 65 ÄdW II, S. 39. 66 Siehe Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. 5: Das Passagen-Werk I-II, S. 179-210, S. 800-823, S. 949-956 et passim. 67 Siehe hierzu Walburga Hülk, Gregor Schuhen, „Haussmann und die Folgen. Vom Boulevard zur Boulevardisierung“, in: Walpurga Hülk, (Hrsg.), Haussmann und die Folgen: vom Boulevard zur Boulevardisierung, Tübingen 2012, S. 7-11.
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go und anderen, die die „Haussmannisierung“ von Paris anprangerten und den Verlust der alten Bausubstanz beklagten.68 Jedoch konservierte man die alten Gebäude vor dem Abriss durch das neue Medium Fotografie, und dadurch wurde der Nachwelt zumindest ein fragmentarisches Bild vom alten Stadtkern zugänglich. Insgesamt wurden Straßen von rund 150 Kilometer Länge neu gebaut.69 Das Ergebnis dieser umfassenden Stadtregulierung – das Pariser Zentrum mit seinen breiten Boulevards – zieht den Ich-Erzähler in den Bann; ihm imponiert die weiträumige Perspektive der monumentalen Sichtachsen, die zum Blick ins „Unendliche“ einladen. Zugleich zeigt er sich aber auch empört von der Erinnerungskultur der Hauptstadt. Vor allem die imperialen Denkmäler und die kaiserliche Siegessäule des Haussmannschen Stadtzentrums irritieren ihn. Das Pariser Stadtzentrum deutet der Erzähler als ein Denkmal des Imperialismus, zu großartigen Proportionen verwandelt und die breiten Boulevards dazu dienend, „unbändige Volksmassen“ in die Schranken zu weisen. Wenn auch Paris mit seinen breiten Boulevards „im Bann seiner Oberen“ steht, gibt es für den Erzähler ein anderes Paris, das sich in der Geschichte der Gebäude manifestiert. Jedes Haus trägt Spuren von den jeweilig herrschenden Dynastien, aber auch von Empörung und Rebellion gegen das herrschende System. Die Gebäude geben dem Erzähler eine Empfindung der Gegenwärtigkeit. Ferner seien es die Menschen, die die Steine zu Barrikaden geschichtet haben, die in das Leben der Großstadt mit ihrem „brodelnden, heißen Gewühl“ eingegangen sind. Primär interessiert die Stadt als „gesellschaftlicher Spurenkörper“ und nicht in erster Linie als ästhetisch-sinnliches Erlebnis. Denn nicht die Architektur ist in erster Linie Gegenstand dieser Spurensuche, sondern deren Verknüpfung mit historischen Begebenheiten, mit einem imaginär dynamischen Stadtgeschehen von Revolutionen und Aufständen. Die Rekonstruktion politischer Geschichte anhand der materiellen Topographie der Bauten wirkt identitätsstiftend und gibt dem Erzähler „eine Empfindung des Hierseins, der Gegenwärtigkeit all dieser Bauten“, die hervor-
68 Karlheinz Stierle, „Der Tod der großen Stadt“, in: Manfred Smuda (Hrsg.), Die Großstadt als „Text“, München 1992, S. 101-130, hier S. 109. 69 Die französische Commission des monuments historiques gab 1851 die mission héliographique in Auftrag, die in ganz Frankreich vom Abriss bedrohten bzw. restaurierungsbedürftigen Gebäude und Denkmäler zu fotografieren. Charles Marville fotografiert ab 1858 auf eigene Initiative das mittelalterliche Stadtzentrum von Paris, das wenig später dem Modernisierungseifer Haussmanns zum Opfer fiel. Siehe hierzu Jens Rucharz, „Fotografische Gedächtnisse. Ein Panorama medienwissenschaftlicher Fragestellungen.“ in: Astrid Ell, Ansgar Nünning (Hrsg.), Medien des kollektiven Gedächtnisses, S. 83-105, hier S. 94.
200 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT gerufen wird von den Ereignissen, die sich in ihnen begeben haben. Die Stadt erscheint als Buch, dessen Geschichte in ihre historischen Bauten eingegangen ist und vom Erzähler gelesen wird. Der Erzähler „liest“ in den historischen Monumenten und Bauten die Geschichte der Stadt, wobei jedes einzelne Haus „eine deutlichere Spur von den Zwängen [trägt, G.L.], die erlassen worden waren von den Dynastien“.70 Schönheit erscheint hier als Ausdruck der Herrschaft und Macht, was der Erzähler sofort erkennt. Das Überwältigende an der Architektur der Herrschenden soll „Gefühle aufschwingen und uns den Imperialismus, verwandelt zu großartigen Proportionen“, zeigen. Analog heißt es in einer überlieferten Passage zum Entwurf des Romans im Peter Weiss Archiv über die betäubende Wirkung der Großstadt auf den Erzähler: [B]etäubt von den auf mich einbrechenden Erscheinungen einer architektonischen Gewalt, irrte ich umher zwischen Göttinnen, gepfügelten Pferden, Sphinxen, Obelisken und Triumphbögen, suchend nach Ansätzen eines Bewusstseins, nach Einzelheiten, aus denen sich ein neuer Halt, eine neue Zielrichtung ergeben könnte. Vom stürmischen Atem der Stadt wurde ich durch die Avenuen getrieben, über die Brücke und Plätze, die hohen Flussufer entlang, Ägypter, Assyrer, Römer, Goten riefen nach mir, Könige, Fürsten, Heerführer schreckten mich auf, die Grössen einer Welt der Literatur, der Kunst, der Philosophie, in Marmor und Erz, sich drehend auf ihren Sockeln, gaben mich aneinander weiter, und lehnte mich einen Augenblick lang zurück auf einer steinernen Bank, so vescheuchten mich, mit ausgetreckten Händen, silbergraue Frauen, gespenstisch dastehend in engen Gewändern.
71
Ähnlich wie beispielsweise Uwe Johnson und sein literarisches Vorbild Franz Kafka bedient sich Weiss in der Ästhetik des Widerstands häufig der Parataxe, d.h. der Nebenordnung von Sätzen und Satzgliedern. Die Satzteile werden dabei entweder durch Konjunktionen oder Satzzeichen voneinander getrennt. Parataktisch reiht der Erzähler eine Vielzahl von Eindrücken und Reflexionen aneinander, um die komplexe und faszinierende Weiträumigkeit der französischen Hauptstadt darzustellen: Die Architekturen und Avenuen zogen den Wandrer hinein in ihre Weiträumigkeit, und das Licht, widerspiegelt vom Wasser und von den sandgelben Tönungen der Häuserwände, tat das seine, um ihn in eine Leichtigkeit und Hingabe zu versetzen. Durch die mittlere Wölbung des Tors, aus rotem Marmor, zu Ehren des Siegs von Austerlitz, im Vorhof zum
70 ÄdW II, S. 20. 71 PWA 1697, S. 87.
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Louvre, waren, in grader Linie, der Obelisk auf der Place de la Concorde und das große Denkmal der napoleonischen Armeen am Ende der Champs Elysées zu sehn. Diese Perspektive, gesäumt vom sanften Grün der Baumreihen, lud den Blick zum Flug ins Unendliche ein, vom Merkmal eines kriegerischen Triumphs zum andern verlief sie, alles Streben nach Machtvollkommenheit war in ihr enthalten, ihr Format, dem breiten Aufmarsch der Truppen, der Öffnung der Sicht über unbändige Volksmassen dienend, sollte die Gefühle aufschwingen und uns den Imperialismus, verwandelt zu großartigen Proportionen, als Schönheit empfinden lassen. Erwägend, wie bei der Niederreißung der alten Stadtteile der Barrikadenbau erschwert, das Schußfeld freilegen werden sollte, sah ich Paris im Bann seiner Oberen stehn, sah an allen strategischen Punkten die Auftürmungen des Reichtums die in sich geschloßnen Viertel der Handwerker, Kleinbürger und Arbeiter überragen. Es war aber nicht dieses Muster, das der Stadt ihr Gesicht gab, eher wurde die Empfindung des Hierseins, der Gegenwärtigkeit all dieser Bauten hervorgerufen vom Wissen um die Vorgänge, die ringsum, von unten her, immer wieder in die Wege geleitet worden waren, die Bewegungen der Empörung, des Aufruhrs, die ihre eigne Gewalt, ihre eigne Macht zur Entfaltung brachten. Von solchen Handlungen trug jedes Haus eine deutlichere Spur als von den Zwängen, die erlassen worden waren von den Dynastien, und wenn ich den Namenlosen, die auf den Gassen die Steine zu Barrikaden geschichtet hatten, jene hinzurechnete, die mit ihren Kunstwerken eingegangen waren in das Leben der Stadt, so geriet ich schon in ein brodelndes, heißes Gewühl, das mir den Atem verschlug.
72
Der Erzähldiskurs ist hier durch den intradiegetisch-homodie-getischen Erzähler fokalisiert, wobei die Sprecherinstanz zunächst in der Schwebe gehalten wird. Das Pronomen „ich“ ist einstimmig, wobei die Unterscheidung zwischen erlebendem und erzählendem Ich schwebend bleibt. Hierzu bedarf es einer näheren adverbialen Bestimmung („zu dieser Zeit sah ich“ oder „heute sehe ich“). Mit dem Pronomen „wir“ markiert die Erzählinstanz als pluralis majestatis eine Einheit mit dem Leser, wie in folgender Passage: Diese Perspektive, gesäumt vom sanften Grün der Baumreihen, lud den Blick zum Flug ins Unendliche ein, vom Merkmal eines kriegerischen Triumphs zum andern verlief sie, alles Streben nach Machtvollkommenheit war in ihr enthalten, ihr Format, dem breiten Aufmarsch der Truppen, der Öffnung der Sicht über unbändige Volksmassen dienend, sollte die Gefühle aufschwingen und uns den Imperialismus, verwandelt zu großartigen Proportionen, als Schönheit empfinden lassen.73
72 ÄdW II, S. 20. 73 ÄdW II, S. 20.
202 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Geschildert wird hier eine Stadtmetamorphose, die von den überwältigenden visuellen Eindrücken der Pariser Stadtarchitektur auf den Erzähler ausgelöst wird. Die äußere Welt des Stadtraums als Ort der Wahrnehmungen und Erfahrungen wird in einen imaginierten inneren Bewusstseinsraum verwandelt. In diesem inneren Raum werden die historischen Widerstandsdiskurse verdichtet. Auf eine für Weiss typische Art des Erzählgestus, nämlich den der semantischen Verdichtung, wird der Fernblick in die Boulevards wiedergegeben. Die Wahrnehmungen, die Weiss interessieren, beziehen sich auf die kühne weiträumige Perspektive der Avenuen, das sanfte Grün der Baumreihen und die Wiederspiegelung der Häuserfassaden durch das Wasser der Seine. Den Maler Weiss sprechen die Farben an, das Blau des Wassers, das Grün der Bäume und die sandgelben Tönungen der Häuserwände, ihre Kontraste, ihr Ineinander-Übergehen, ihre Abwägung zum Gesamtbild. Aber auch der Filmemacher Weiss kommt bei der Passage zu Wort: Wie bei einer Kamerabewegung ziehen Gebäude und Denkmäler vorbei; die Perspektive gleitet durch das Tor am Vorhof zum Louvre, verläuft von einem kriegerischen Denkmal zum anderen, bis zum Ende der Champs Elysées. Die Stadt erscheint hier als ein semiotischer Raum, wo nichts unsemiotisiert bleibt. Die Stadt ist ein Text, ein Buch, das durch das Medium des Flaneurs zum lesbaren Text wird. Der Flaneur will das schlafende und träumende Bewusstsein der Stadt erwecken und das Vergangene in Gegenwart verwandeln. Die Stadt erscheint bei Weiss als der Ort der Koexistenz verschiedener Zeiten, als sedimentierte Zeitschichten, wo die im Stein konservierte Vergangenheit „zeichenhaft in immer neue Gegenwarten hineinragt, sich gleichsam semiotisch aufspaltet in gegenwärtige Vergangenheit“. Die Zeitschichten der Stadt werden „zum Bild der Schichtung des Bewußtseins“, dessen Temporalität sich darin äußert, dass die „Versteinerungen“ der Vergangenheit „aus dem Vergessen in das gegenwärtige Bewußtsein ragen“74 und dekodiert, gelesen werden müssen. Diese Denkfigur, die in der Psychoanalyse Sigmund Freuds eine herausragende Bedeutung spielt, wird in den Stadtbeschreibungen der Ästhetik des Widerstands mehrmals aufgegriffen. Ein Beispiel für das Paris, das durch Haussmanns Stadtregulierung verloren ging, war das Haus Rue de Cordeliers 30 an der Rue de l’ Ecole de Médicine, wo Jean Paul Marat ermordet wurde. Dieses Haus wurde vor seinem Abriss von dem Maler Charles Meryon in der Radierung „Tourelle, Rue de l’ Ecole de Médicine“
74 Diese Gedanken formulieren Sigmund Freud in seinen Vorlesungen über die Psychoanalyse (1909). Darin verdeutlicht Freud das Leiden von hysterisch Kranken am Beispiel der Großstadt London und deren Erinnerungsschichten- und Symbole. Siehe hierzu Karlheinz Stierle, Der Mythos von Paris, S. 20.
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aus dem Jahr 1861 dokumentiert und figuriert in der Ästhetik des Widerstands.75 Mittels einer Kontrastierung von Vergangenheit und Gegenwart wird berichtet, dass der würzige Geruch von gerösteten Kastanien und der Ruf der Straßenhändler an der Metro immer noch wie zu Lebzeiten Marats geblieben sind. Auf dem Platz wo Marats Haus einst stand, befindet sich jetzt der Bau der Medizinischen Fakultät, und ein Bettler tanzt umher und unterhält ein Paar mit seinen Künsten. Die Häuser bekommen dabei eine „Lebendigkeit“ für den Erzähler, er fühlt wie die Vergangenheit in die Gegenwart übergeht. Das Ästhetisieren der Außenwelt, die bei der van Gogh-Passage so deutlich zum Vorschein kommt, wird bei der Beschreibung von Marats Wohnhaus noch einmal deutlich. Der Anblick dieses Hauses erscheint dem Ich-Erzähler wie „die Erscheinung eines Bilds, einer Statue“: „Durch die Augen, die seit Jahrhunderten betrachtet, die Hände, die betastet hatten, war ihr Äußeres empfindsam geworden wie eine Haut, und von den Atemzügen der Generationen war ihr Inneres gefüllt.“76 Auffällig ist hier das Anthropomorphisieren des Hauses, das wie ein menschlicher Körper beschrieben wird, der Augen und Haut hat. Das Oszillieren zwischen zeitlichen Ebenen äußert sich darin, dass es dem Erzähler so ist, als würden die alten Häuser ihn mit denselben steinernen Augen anblicken, wie zu Marats Lebzeiten. Marats Haus mit seinem charakteristischen Eckturm wird im Rahmen einer Ekphrasis von Meryons Radierung wiedergegeben. Der Erzähler der Ästhetik des Widerstands praktiziert ein intermittierendes Erzählen, das sich durch den ständigen Wechsel zwischen Gegenwarts- und Vergangenheitsebene auszeichnet: Es war am Carré de l’ Odéon, an der Stelle, wo vor der Niederreißung der alten Viertel und dem Durchbruch des Boulevard Saint Germain, die Rue de l’ École de Médecine die Rue Carret kreuzte und auf die Rue de l’ Ancienne Comédie zulief. Geröstete Kastanien mochten auch damals vom Karren gekauft worden sein, wie heute neben der Treppe zur Metro, unverändert war der würzige Geruch, der Ruf des Händlers. Den Zerlumpten, der zuerst abwesend am Straßenrand hockte, dann plötzlich, wie aufgedreht, emporsprang, hatte auch Sue, beim Streifzug durch die Gassen, gesehn, und bestimmt hatte er lange, wie Meryon nach ihm, das Haus mit dem vom ersten Stockwerk an aufgesetzten Eckturm betrachtet, denn am Innenhof hatte Marat gewohnt und seinen Tod gefunden. Ein eigentümliches Gedränge um das Haus war von Meryon dargestellt worden[.] […] Jede Rille, jeder Flecken abgefallnen Putzes, jedes Ladenschild an den Häuserwänden war genau wieder-
75 Vgl. Nana Badenberg, „Kommentiertes Verzeichnis der in der ‚Ästhetik des Widerstands‘ erwähnten bildenden Künstler und Kunstwerke“, in: Alexander Honold, Ulrich Schreiber (Hrsg.), Die Bilderwelt des Peter Weiss, S. 203f. 76 ÄdW II, S. 70.
204 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT gegeben worden, aus dem Himmel aber kamen Göttinnen geflogen, eine Furie, die Fratze vom Schwall des Haars und von Schleiern umwogt, ein Schwert, an einer Waagschale befestigt, hineinschleudernd in das Turmhaus, und eine Grazie, eine Aurora, ein aufgeschlagenes Buch mit der Inschrift FIAT LUX, während der kleine Genius sich, seine Flügel 77
verlierend, in die Höhe warf.
Die erinnerungstechnische Positionierung, die Weiss hier verfolgt, geht in Meryons Radierung von einer Vergegenwärtigung der Vergangenheit aus. Es ist dem Künstler gelungen, jede Rille, jeden Fleck von abgefallenem Putz in seiner Radierung festzuhalten. Der würzige Geruch von Kastanien erinnert den Erzähler an das Paris zu Marats Lebzeiten bevor die Metro gebaut wurde. Der Erzähler stellt sich vor, wie der Zerlumpte, den er sieht, auch zu Meryons Lebzeiten Marats Haus betrachtet hat. Später begibt sich der Erzähler ins Museum Carnavalet, wo er Fotografien von Marats Haus „im Zustand des Abbruchs“ 1876 betrachtet. Diese „verblichene Erinnerung auf knisterndem Papier“ zeigt das Innere von Marats Wohnung.78
4.2 AUF DER S UCHE NACH IN M ONTMARTRE
DEN
S PUREN VAN G OGHS
Wurde die Stadt in Weiss’ frühem Prosastück Der Fremde als „riesige Gebärmutter aus Stein“79 beschrieben, wird Paris in der Ästhetik des Widerstands als „Steinmasse“ bezeichnet, die von den vielen Passanten an den Straßen „zum Dröhnen“ gebracht wird. Das Erzähler-Ich macht dabei ähnlich wie in Stockholm ausgedehnte Spaziergänge, es stößt ins Fremde der Metropole vor. Bei einem Spaziergang am frühen Morgen geht er durch die verlassenen Regierungsviertel und am Palais de la Légion d’ honneur vorbei. Die Repräsentation der Stadt stellt eine bedrohende Reizüberflutung dar. So werden die dröhnenden Schritte der Menschen die Steinmassen „zum Vibrieren“80 bringen: Die Rue de Lille begrenzte die Schlucht der hohen einförmigen Wohnhäuser, es folgte das zweistöckige Gebäude der Légion d’ honneur, mit gerundetem Portal, einer Trikolore an
77 Ebd., S. 69f. 78 Ebd., S. 70. 79 W, Bd. 1, S. 201. 80 ÄdW II, S. 14.
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der schrägen Fahnenstange darüber, und geschloßnen Fensterläden an der mit Putten besetzten gelblich grauen Front. Vereinzelt, oder in kleinen Gruppen, kamen Fußgänger von der Uferallee her, sie gingen gebeugt, eilig, Putzfrauen mochten es sein, Hausdiener, die in Ministerien, in denen bis spät in die Nacht gearbeitet worden war, die gefüllten Aschenbecher und Papierkörbe zu leeren, die Schreibtische abzustauben, die Böden zu wischen hatten, es lag eine verhaltne Stille, eine bleierne Müdigkeit über dem Regierungsviertel, diese farblosen Gestalten, die im Morgendunst noch etwas Fließendes an sich hatten, waren mir bekannt, sie, die mir als erste Stadtbewohner begegneten, erleichterten mir den Weg hinein in die Metropole, die Ankunft der unscheinbaren Helfer gab dem bald zu erwartenden Beginn der Geräusche einen vertrauten Grund, fortan sollten ihre schnellen und weichen Schritte unter dem Dröhnen liegen, das die Steinmassen ringsum zum Vibrieren bringen würde. Der eigentliche Vorstoß ins Fremde begann, als ich die Uferstraße über der Seine erreicht hatte, ich folgte der Mauerbrüstung nach rechts, unter einem Anfall von Schwindel und Umnachtung.
81
Die synästhetischen Eindrücke und Geräusche der Stadt, die in der Passage beschrieben werden, erinnern an die Beschreibung der Stadt im Prosastück Ur en musikers anteckningar (dt.: „Aus den Aufzeichnungen eines Musiker“) aus den 1940er Jahren. Dort wird die Musik der Stadt „intoniert“: „Wir hören die Stadt einen eigenen Klang intonieren: Ein surrendes Geräusch in den elektrischen Leitungen der Straßenbahn, das Gluckern des Wassers, ein Uhrensignal, das abgelegene Brausen der Straße, undefinierbare Holz- und Metalltöne und der Regen wie ein ätherischer Chor, weich und kaum hörbar.“82 Die Geräusche der Großstadt thematisiert Weiss zudem in einem Artikel in Morgon-Tidningen 1954, in welchem er die Bedeutung akustischer Phänomene im Alltag beschreibt: „Sie üben eine starke atmosphärische und erregende Wirkung aus. Ich denke dabei an alle Arten von Maschinengeräusch, an Schiffsirenen, an den Verkehrslärm in der Stadt, an hallende Schritte, ferne, undeutliche Stimmen, an das verschwommene Geklapper, das wir durch die Wände eines Mietshauses hören.“83 Ferner erinnert diese Passage an Paul Valérys Essay Présence de Paris (1937) (Gegenwärtigkeit
81 ÄdW II, S. 14. 82 PWA 1910, Bl. 18: „Vi hör staden intonera en egen klang: ett surrande ljud i järnvägens elektriska ledningar, det skvalpande vattnet, en klocksignal, gatornas avlägsna brus, odefinierbara trä- och metalltoner och regnet är som en eterisk kör, mjuk och knappt hörbar.“ 83 Zitat nach Sverker Ek, „‚Eine Sprache suchen‘. Peter Weiss als Filmemacher“, in: Peter Weiss: Leben und Werk, S. 138-154. hier S. 142. Vgl. hierzu auch Jens Birkmeyer, Bilder des Schreckens, S. 184.
206 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT von Paris). Dort dringt wie bei Weiss zu dem am Morgen erwachenden Menschen ein Rauschen, das an das Meeresrauschen erinnert. Das erwachende Subjekt vernimmt die Geräusche der Stadt, es beginnt zu unterscheiden und zu benennen, was jenseits seines Wahrnehmungshorizontes liegt. Die Stadt erscheint als das Ungreifbare, das sowohl gegenwärtig als auch abwesend ist. Der Erwachende vergegenwärtigt sich die rauschende Totalität der Metropole als action immense, als unermessliche Handlung, die aus zahlreichen Einzelhandlungen besteht, „er nimmt das zusammenhanglos Einzelne wahr, das das Ganze übertönt.“84 Die akustische Wahrnehmung der Stadt fungiert als mnemotechnischer Behelf, mit dem Bilder und Namen aus dem Gedächtnis evoziert werden. Das Verlangen, die Stadt „zu denken“, penser Paris, ist eine Denkfigur, die Valéry aufgreift, indem der Stadtplan zum Bild des menschlichen Bewusstseins, zu einer „inneren Stadt“ zusammenschmilzt: Die Stadt hat die Struktur des Bewusstseins. Analog vermischen sich die Geräusche der Großstadt im Text und werden zum Chiffre für das Dasein des Erzählers im Exil. Die Geräusche, die aus der Stadt emporsteigen, das metallene Rasseln von Motoren und eisernen Rädern, die Stimmen und Schritte der Menschen, vermischen sich zu einem einzigen großen Seufzer und Klagegesang. Und da vernahm ich etwas von dem Schwall der Geräusche, die, in wenigen Versen gebannt, alle Verlorenheit, alles Exil erhielten. In Paris schon war dieses Tönen auf mich zugekommen, ohne daß ich noch dessen Herkunft zu bestimmen vermochte, jetzt, über den knospenden Bäumen, unterschied ich die Einzelheiten in den Lautwirbeln, die durch die Luft trieben. Aus dem Klirren der eisernen Räder, dem Verklingen der Glocke, dem Rasseln der Automobilmotore, dem harten Aufschlagen der Schritte stieg ein Seufzen, ein einzelner Klageruf, an den sich viele gleichartige Stimmen schlossen, ein Schaben und Schlürfen entstand, wie bei einem dichten, endlosen Dahinziehn, zu hören war, die Lippen sich öffneten, Zungen sich regten, Zähne knirschten und aufeinanderstießen, Worte in allen Sprachen suchten sich aus dem Gemurmel hervor, ein Pfiff, ein Zusammenklatschen von Händen, ein Schrei des Schmerzes, des Zorns durchschnitt das Stammeln, Raunen und Singen.
85
In der „Erinnerungsfigur“ Katz, dem ehemaligen Mitarbeiter Münzenbergs, „der in Paris ansässig war“, schafft Weiss einen Freund und Mitspaziergänger des Erzählers. Beim Flanieren erforschen sie Stadtteile und einzelne Gebäude von Paris, mit denen Weiss gut vertraut war und deren Provenienz er zur Konzipierung
84 Vgl. hierzu Karheinz Stiele, Der Mythos von Paris, S. 12. 85 ÄdW II, S. 123.
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des Romans recherchiert hatte. Die Katz-Figur erlaubt Weiss, all sein gesammeltes Wissen über Paris auszubreiten, welches er seit Jahrzehnten angesammelt hatte.86 Auf den Spuren des in Paris recherchierenden Weiss machen die beiden Figuren am 21. September 1938 einen ausgedehnten Spaziergang durch das Pariser Stadtzentrum vom Boulevard Clichy zur Rue de Martyrs und zum Atelier Géricaults. Danach begeben sich die Romanfiguren auf den Spuren Vincent van Goghs nach Montmartre und zur Place Pigalle. Van Goghs Gemälde, wie die Erscheinung des Malers selbst, werden in Montmartre zu tableaux vivants d.h. zu statischen Darstellungen von Gemälden oder plastischen Werken, die von Schauspielern inszeniert werden; oder besser, sie erinnern an die Tradition der Bewegungsbilder der „Attitudes.“87 Diese Bilder werden ins Leben gerufen, was zu einer Ästhetisierung der empirischen Außenwelt führt.88 Zuerst begeben sich Katz und der Erzähler aber zum Atelier Géricaults an der Rue de Martyrs Nummer 23. Weiss hatte das Haus durch Fotografien kennengelernt, aber hatte selbst den Innenhof nie betreten. Trotzdem entsteht in folgender Passage eine überaus lebendige Darstellung, als hätte Weiss das Haus selbst besichtigt.89 Ferner dient das Atelier Géricaults als Inszenierung von Erinnerung an den Maler, der an den Folgen eines Reitunfalls am 26. Januar 1824 in seinem Atelier starb. Dort entstanden auch die ersten Skizzen seines großen Gemäldes, Das Floß der Medusa. Am Nachmittag gingen wir vom Boulevard de Clichy, unterhalb des Montmartre, die schmale, doch verkehrsreiche Rue de Martyrs hinab und traten in das Tor des Hauses Nummer Dreiundzwanzig. Der Gang führte uns auf einen gepflasterten Hof. Die Wände des ehemals vornehmen Gebäudes waren von verschlißnem Grau, Sprünge durchzogen den Putz, Fenster, Türen, und Schwellen saßen schief im Mauerwerk. Die Seitenflügel erstreckten sich bis über den Garten, der sich, mit ein paar hohen Akazien und Ahorngebüsch, und mit einem von Efeu umrankten Zaun an den Hof schloß. Zwischen den Gitter-
86 ÄdW II, S. 25, vgl. hierzu Günter Schütz, Peter Weiss und Paris, Bd. 2, S. 431. 87 Zum Genre der „lebenden“ Bilder, vgl. Kirsten Gram Holmström, Monodrama, Attitudes, Tableaux vivants. Studies on some trends of theatrical fashion 1770-1815 (= Acta Universitatis Stockholmiensis. Stockholm Studies in Theatrical History, Bd. 1), Uppsala 1967, S. 211-239, hier S. 214ff. 88 Vgl. Günter Schütz, Peter Weiss und Paris, Bd. 2, S. 431: „Diese Orte werden vom Romanautor nach bestimmten Gemälden van Goghs geschildert, die ähnlich wie Photographien, ‚verlebendigt‘ werden, die stummen Bilder kommen ins Laufen und mitten drin der Maler selbst, als ‚Gespenst‘“. 89 Vgl. hierzu Günter Schütz, Peter Weiss und Paris, Bd. 2, S. 424.
208 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT türen befand sich ein Brunnen, mit niedriger Tränke, angelegt für die Pferde, deren Stallungen zu Beginn des vorigen Jahrhunderts im Erdgeschoß linkerhand eingebaut worden waren. Katz zeigte auf die beiden Bogenfenster und das höher gelegne viereckige Mittelfenster im Stockwerk darüber, dort hatte Géricault, vom November Achtzehnhundert Siebzehn bis zum Herbst Achtzehn, sein Bild skizziert, zur Ausführung des großen Gemäldes war er in eine Werkstatt an der Rue Louis le Grand, in der Fabourg Roule, übersiedelt, dann, nach der Ausstellung und seinem zweijährigen Aufenthalt in England, wieder zurückgekehrt in das Gartenhaus, wo er am sechsundzwanzigsten Januar Achtzehn90
hundert Vierundzwanzig an den Folgen seiner Reitunfälle starb.
Montmartre, wo nach „Aussagen vieler das Herz der Stadt“ zu spüren sei, verknüpft der Erzähler mit der Pariser Kommune. Schon immer sei Montmartre eine Zuflucht rebellischer Bürger gewesen; sowohl Marat als auch „die Insurgenten von Achtzehnhundervierunddreißig und Achtundvierzig waren in den Erdspalten Martyrium ihren Verfolgern entkommen.“ Deshalb entsteht der Gedanke beim Erzähler, dass „in diesem Geröllhaufen das Herz der Stadt schlug“, da Montmartre stets eine Bastion der Freiheit und Fluchtpunkt der Aufständischen gewesen sei. Es ist also nicht die klischeehaft anmutende bohemische Künstlerszene, die Montmartre in pittoresker Verkleidung umgestaltet hat und zur „vorübergehenden Herrschaftsergreifung der Bourgeoisie“ gehört, wofür sich der Erzähler interessiert, sondern jene „verbißne Gegenwehr“ des Bergs selber, der von den Haussmannschen Umgestaltungen unverändert blieb und mit seinem „geheimen Pochen“ eine geheimnisvolle Wirkung auf ihn ausübt.91 Dem scheinbaren Desinteresse des Ich-Erzählers für die Künstlerszene Montmartres zum Trotz, interessiert er sich für die Künstler und Maler, die hier gewohnt haben: „Die politische Vorhut und die Avantgarde der Kunst hatten auf diesem Berg ihren Standort gehabt.“92 Die Aura der künstlerischen Belle Epoque des Stadtteils wird im Rahmen einer längeren Passage wiedergegeben, in der Katz und der Ich-Erzähler die Figur Vincent van Goghs zu erkennen meinen. Es geht hier um das Evozieren längst verstorbener Künstler, die im Rahmen eines „magischen Realismus“ vom Autor wieder ins Leben gerufen werden. Mit seinem roten Bart kommt er ihnen entgegen in seinem charakteristischen Mantel und mit einem Gemälde, das er in der Place Pigalle gemalt habe. Es wird erzählt, wie sich die Künstlerszene von Montmartre in der Gastwirtschaft Nummer 76 an der Boulevard de Clichy getroffen hat, wo Lautrec, Pissaro und Gauguin zechten. Es
90 ÄdW II, S. 26. 91 ÄdW II, S. 36f. 92 Ebd., S. 37.
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kommt zu einer Schlägerei, bei welcher van Goghs Bild in die Luft empor geschleudert wird. Obwohl diese surrealistisch anmutende Passage auf der Gegenwartsebene geschildert wird, wird die Künstlerszene im Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts vergegenwärtigt: Katz und der Erzähler tauchen „in das Geschäum, den Schlamm der Zeit“ ein. Die Stadt wird hier mit einem menschlichen Organismus verglichen, in dessen Körper aus einem „unförmlichen Haufen aus Scherben und Schrott“ ein Herz pocht. Durch die Schichten der Stadt versuchen die Menschen sich durchzuwühlen. Die Textstelle belegt zugleich, dass das Sujet Stadt mehr als ein literarisches und bildkünstlerisches Motiv bei Weiss ist. Die Stadt ist Inbegriff eines existentiellen Erfahrungsraumes, welche zum Chiffre einer Wahrnehmungsform wird, die mittels einer expressiven Bild- und Körpermetaphorik zum Ausdruck kommt. In einem rauschhaften Zustand erleben die Flaneure die Aura des Künstlerviertels Montmartre. Dabei wird die Stadt nicht als historischer Raum, sondern als eine mythische Landschaft perzipiert: Er [van Gogh, G.L.] kam uns aus einer steilen Gasse entgegen, in seinem Mantel aus Schaffell, mit seiner Mütze aus Kaninchenpelz, mit struppigem rotem Bart, unterm Arm ein farbleuchtendes Bild, das er am Morgen an der Place Pigalle gemalt hatte, und für das er noch einen Platz finden wollte an den überfüllten Wänden des Café Tambourin. Wir strichen dieser Erscheinung nach, diesem Schatten, in dem ein Gesicht aufflackerte und wieder erlosch. Hier, in Montmartre, sollte nach Aussagen vieler, das Herz der Stadt zu spüren sein. Das waren die roten Glühlampen an den Flügeln der kleinen, zwischen Dachgiebeln festgeklebenden Mühle, die Glastüren standen offen zum Tingeltangel ringsum, Gestalten drängten ein und aus als Schwärme von Farbtupfern, die Gläser und Flaschen waren Strahlenbündel, Augen und Münder schwirrten auf, hielten sich sekundenlang prickelnd, wurden verwischt in der Brandung. Wenn ein Herz hier pochte, so war es das Herz eines kreiselnden, dudelnden, künstlichen Markts, das Herz in einem unförmlichen Haufen aus Scherben und Schrott. Menschen umkrochen dessen äußerste Schicht, bohrten sich hinein, nisteten sich ein hier und dort, zwischen Fetzen und Kulissen, selbst flüchtig geschminkt und bemalt. Verlieren wir ihn nicht aus der Sicht, sagte Katz, folgen wir ihm in die Gastwirtschaft dort, Nummer Sechsundsiebzig, Boulevard de Clichy, in all dieses Gelb, Grün, Blau, in diese Spiegelungen, diese Reflexe des Zinks, Emails, Porzellans, schieben wir uns ins Gewühl, nehmen wir ein Glas Wein an der Theke. Van Goghs Gespenst hatte sich verflüchtigt, kein Einblick mehr in das Geschäum, den Schlamm der Zeit, nur Gegenwärtiges umkreiste uns, so schnell und dünn verschob sich alles, was greifbar war, dass auch wir kaum dazwischen vorhanden schienen und zugleich verschwinden, in Vergessenheit geraten könnten. Lautrec, Pissaro, Gauguin aber zechten, schäkerten mit der Wirtin, der fülligen dunklen Römerin, dann entstand mit einem mal ein Wirbel, Bernand, der Freund, hatte sich van Gogh genähert, ihm die Hand auf die Schulter gelegt, da
210 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT war das Bild schon emporgeschleudert worden, flog durch die Luft, eine Schlägerei brach aus, der Kellner, mit flatternder weißer Schürze, hielt den Hals des Fellbekleideten umschlungen, ein rasendes Drehn in Richtung zur Tür, Gauguin, in sein Cape gehüllt, um93
schattet vom breitrandigen Hut, blickte nicht auf.
Die Behauptung, Montmartre sei „das Herz“ der Stadt Paris, wird vom IchErzähler später relativiert, indem er sagt, wenn in Montmartre „das Herz“ der Stadt sei, so läge es „verschüttet unter Staub und Müll“, und ein Riesenberg aus Schutt sei darüber gewachsen. Damit signalisiert der Erzähler, dass auch in Montmartre längst der Lärm des Maschinenzeitalters angekommen sei; so erscheint ihm die Place Blanche, einst Treffpunkt der nächtlichen Flaneure und Künstler, als ein „lärmender, verschmutzter Kessel“, aus dem er flüchten will. Aus der so gedoppelten Erzählperspektive zwischen Vergangenheit und Gegenwart wird die Aussicht vom Haus van Goghs auf die einzige erhaltene Mühle, die Moulin Rouge beschrieben, die zu van Goghs Lebzeiten ganz anders aussah: Wenn dies [Montmartre] das Herz der Stadt war, so lag es verschüttet unter Staub und Müll, ein Berg war darüber angewachsen, Schicht auf Schicht, faulig blies uns von der Höhe ein Zugwind durch die Rinnen und Hohlgänge entgegen. Van Gogh war in den Strom der Fußgänger geworfen worden, stand zuerst benommen, wollte in die Kneipe zurück, besann sich aber, taumelte weiter, in die Arme von Corot, Monet, Seurat, die er nicht erkannte, lief über die Place Blanche, die Rue Lepic hinauf. Diese Place Blanche, dieser Treffpunkt der nächtlichen Flaneure, dieses Rondell, das Sue, Bretonne und Nerval, Hugo, Balzac und Vigny, Baudelaire, Verlaine und Rimbaud hatte vorbeihuschen sehn, dieser Platz, auf dem eilige Geschäfte abgeschlossen wurden […] dieser war jetzt ein lärmender, verschmutzter Kessel, dem wir entflohn, einem Flüchtenden folgend. Dort, wo die Rue Lepic einen Bogen beschrieb, ehe sie sich hinaufzog zur Kuppe, im dritten Stock des Hauses Nummer Vierundfünfzig, wohnte van Gogh bei seinem Bruder. Von seinem Fenster, mit der niedrigen eisernen Brüstung, konnte er hinüberblicken auf die Mühlen der Galette, hinter den Plankenzäunen, zwischen dem Gebüsch, den windschiefen Hütten zu der Böschung. Nur eine der Mühlen noch war, fünfzig Jahre später, übriggeblieben, als Turmschmuck über den Bretterwänden eines Cabarets, in dessen Hof, unter Lampions, getanzt wurde.
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Die Inszenierung der kollektiven Erinnerung der Stadt erfolgt in einer Passage am Beispiel der ältesten erhaltenen Kirche der Stadt Paris, der St. Pierre de
93 ÄdW II, S. 34f. 94 ÄdW II, S. 35f.
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Montmartre.95 Dieses historische Gebäude wird vom Erzähler als ein Buch „gelesen“, wobei die verschiedenen historischen Zeiten ihre jeweiligen Spuren in den Gesteinsschichten hinterlassen haben: „mehr als ein Jahrtausend lag in ihrem Gestein übereinandergestapelt“. In St. Pierre de Montmartre befinden sich nicht nur die historische Wiege der Stadt, das Andenken der Heiden und Römer, sondern auch Spuren der jüngeren Vergangenheit: Während der Französischen Revolution niedergebrannt, wurde die Kirche von den Konterrevolutionären notdürftig repariert. Im Frühling 1871 diente dann die Abtei als Munitionsdepot und Feldlazarett für die Kommunarden. Diese Erinnerung an die ferne Vergangenheit des Gebäudes wird vom Erzähler evoziert, als er das „übereinandergestapelte Gestein“ betrachtet, das noch Spuren von dem Brand trägt. Dieses „Andenken an die Märtyrer“ der Revolutionen und Aufstände wird folgenderweise beschrieben: Die Tür zur ältesten Kirche der Stadt stand offen, ein paar Betende knieten an den Stühlen, mehr als ein Jahrtausend lag in ihrem Gestein übereinandergestapelt. Zum Andenken an die Märtyrer, die sich in den Berghöhlen vor den Römern verborgen hatten, war der Bau des Klosters von Louis dem Dicken und der Königin Abélaide, deren strohgedeckter Landsitz sich in der benachbarten Waldung befand, angeordnet worden. Fußend auf Quadern eines römischen Tempels, gestützt von romanischen Gewölben, gotischen Pfeilern, durchsetzt von Gemäuer, das noch Spuren trug von der Niederbrennung während der großen Revolution, zusammengeflickt aufs neue und unter Dach gebracht von den Handlagern der Konterrevolution, erhob sich die Abtei, die im Frühling Einundsiebzig als Muni96
tionsdepot und Feldlazarett gedient hatte.
Das Ablesen der historischen Schichten von Gebäuden und das, was sich in ihnen ereignet hat, ist ein wiederkehrendes Thema im Roman. Dass die Gebäude eine besondere Rolle bei der Inszenierung von Erinnerung im urbanen Raum spielen, wird am Beispiel des Bateau Lavoir deutlich. Das Gebäude, welches 1970 niederbrannte und völlig zerstört wurde, hatte Weiss durch Fotografien kennen gelernt, auch dessen innere Räume.97 Als Wohn- und Treffpunkt zahlreicher Künstler, unter ihnen Guillaume Apollinaire, Pablo Picasso, Georges Braque, Gertrude Stein und Max Jacob, gilt das Bateau Lavoir als eines der berühmtesten Künstlerhäuser in Paris um 1900. An diesem Ort fanden jene
95 Zu Weiss’ persönlichen Beziehungen zu dieser Kirche und deren kunstgeschichtliche Provenienz, siehe Günter Schütz, Peter Weiss und Paris, Bd. 2, S. 432. 96 ÄdW II, S. 36. 97 Vgl. Günter Schütz, Peter Weiss und Paris, Bd. 2, S. 423.
212 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT „Außenseiter der Kultur“ eine günstige Unterkunft und die Malerei und Poesie des beginnenden 20. Jahrhunderts hat sich dort entfaltet. Hier entstand u.a. Picassos kubistisches Gemälde Demoiselles d’ Avignon (1907), das als Wendepunkt der abendländischen Malerei gilt. An diesem Ort wurde auch ein Bankett zu Ehren des Laienkünstlers Henri Rousseau gehalten. Anlass war der erste Verkauf eines Gemäldes von Rousseau, Portrait de femme, welches Picasso für fünf Francs gekauft hatte. Dieses kulturelle Gedächtnis, mit dem das Gebäude verbunden ist, wird von Weiss ins Leben gerufen. Durch eine enge Gasse waren wir zur Rue Ravignan gekommen, die in den abschüssigen Platz gleichen Namens mündete. Hier standen dürre Bäume um einen dieser Brunnen, wie sie vielfältig in der Stadt zu finden waren, aus grün bemaltem Gußeisen, beschirmt von einer Kuppel, die Nymphen im Reigen über sich hielten. Die Laternen beleuchteten die niedrige Hauswand am Rand des Platzes, sie war zerschabt, fleckenweise war Putz abgefallen, das Tor, mit schief in den Angeln hängenden Flügeln, führte, vorbei an einer Holztreppe, einem rostigen Ausguß, in den winkligen von spärlichen Büschen bewachsenen Hof. Zur Seite der Rue Garreau erstreckte sich ein grob zusammengesetzter Bau, mit schrägen, zu den obern Stockwerken führenden Leitern und blinden, teilweise mit Pappe vernagelten Fenstern. Auf den stufenweise ansteigenden Dächern befanden sich, zwischen hohen blechernen Schornsteinen, Vorsprünge für Oberlichtscheiben. Mürber, morscher, erloschner konnte nichts sein als dieses schuppenartige Gehäuse, das, nach den schwimmenden Wäschereien auf der Seine, Bateau Lavoir genannt worden war und einem zwischen den Klippen der Brandmauern gestrandetem Flußdampfer glich. Einmal war hier auf besondre Weise gewaschen worden, hinter diesen berstenden Holzverschalungen hatte sich, gereinigt von Schlacke, unser Jahrhundert der Malerei, der Poesie entfaltet. Idyllisch konnte der Aufenthalt in den Verschlägen auch damals nicht gewesen sein, im Sommer war es heiß darin wie in Backöfen, eisig kalt, zugig im Winter. Die Außenseiter der Kultur hatten sich in diesen Winkeln verzogen, weil sich hier billiges Obdach finden ließ. Utrillo, Picasso, Gris, Braque, Herbin, Apollinaire, Laurencin, Brancusi, Severini, Modigliani, Derain, Reverdy, Salmon, Gertrude Stein und Max Jacob waren in den Stallungen beherbergt oder zu Gast gewesen, dort unter dem zersprungenen Glas auf dem zuhöchst gelegnen zerfledderten Dach hatten die Demoisselles d’ Avignon den dunstigen Schein der Welt erblickt, und darunter, im scheunengroßen, von rohen Holzpfosten gestützten Erdgeschoß, 98
war das märchenhafte Fest abgehalten worden zu Ehren des Zöllners Rousseau.
In dieser Passage geht es Weiss nicht um eine Vergegenwärtigung des Geschehens, sondern um das Gegenteil, um die Kontrastierung von Vergangenheit und
98 ÄdW II, S. 37f.
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Gegenwart. Das schäbige Gebäude mit dem abgefallenen Putz und teilweise mit Pappe zugenagelten Fenster wird zum Sinnbild für das Morsche und Mürbe der Stadt Paris.99 Ähnlich wie vorher das Berliner Pergamonmuseum und später das Nationalmuseum in Stockholm besichtigt der Erzähler in Paris ein Kunstmuseum, den Louvre. Das Museum, in welchem laut Aleida Assmann „Gedächtnis konstruiert, repräsentiert und eingeübt wird“, ist ein wiederkehrender Ort der Erinnerung in der Ästhetik des Widerstands.100 Der Erzähler fühlt sich hingezogen zum „Arsenal der Bilder“, das er vorher nur „vom Hörensagen oder aus ungewissen Reproduktionen kannte.“101 Schon vor seinem Eintritt in den Louvre stellt er sich vor, wie er vor den Leinwänden der Gemälde der großen Maler Géricault, Delacroix, Courbet und Millet steht. Im Gegensatz zu den hohen Treppen zum Portal der Nationalgalerie in Berlin, die den Protagonisten den Zugang zur „Akropolis“ der Kunst erschwert haben, tritt der Erzähler problemlos über die Schwelle in den Louvre. Wohl ins Museum gelangt, läuft er sofort zu Géricaults Gemälde Das Floß der Medusa, wovon er bisher nur Reproduktionen gesehen hatte.102 Und während das Floß dahinrauschte, im schäumenden blaugrünen Wasser, angehoben von einer Woge, überschüttet vom harten Schwall der nächsten, in fortwährendem Auf und Ab, drang der Tag des einundzwanzigsten September von draußen auf mich ein. Plötzlich kam ich nicht weiter in der Bemühung, das Bild zu verstehn, allzuviel schien es zu enthalten vom persönlichen Wesen des Malers, von der Unruhe, Unzufriedenheit, die ihn selbst zerfraß, es war, als befände er sich irgendwo draußen in der Stadt, als gälte es,
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Otto Katz und der Erzähler sehen aber nicht nur die idyllische Seite von Paris, sondern sie besuchen auch eine menschliche Slum-Siedlung bestehend aus Papp- und Wellblechbuden an der Seine: „Der Weg, dieser Rest der mittelalterlichen Handelsstraße, mündete, am Ende der Friedhofsmauer, in eine Abfallhalde, aus deren Anschwellungen und klotzwürdigen Auswüchsen hier und dort Rauchstreifen aufstiegen. Menschen wohnten in Erdhöhlen, den Buden aus Brettern, Pappe, Wellblech, an Stricken hing Wäsche, Frauen kamen mit Eimern vom Fluß her, eine Gruppe von Arbeitern, Thermosflasche und Eßgeschirr unterm Arm, stampfte zwischen den Hügeln heran, Kinder spielten im Geröll und Schrott am Bahndamm. Die Schienen der Leitungsmaste verloren sich in der dunstigen Ebene von Saint Denis“ Vgl. ÄdW II, S. 50.
100 Vgl. Aleida Assmann, Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, S. 47. 101 ÄdW II, S. 15, S. 19. 102 Ebd., S. 21.
214 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT ihn zu finden, ihn zu befragen über den Sinn, den er in seine Arbeit gelegt hatte, und ich verließ den Palast mit den imaginären Reichtümern.
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Im Louvre sieht der Erzähler das Original-Gemälde, das ihn zutiefst beeindruckt. Unwiderstehlich wird er hineingezogen in den Topos des Bildes, er identifiziert sich mit den Sterbenden auf dem Floß: „Der Beschauer […] sollte […] sich in unmittelbarer Nähe des Floßes wähnen, es sollte ihm scheinen, als hinge er, mit verkrampftem Griff, an einem der vorspringenden Bretter, zu matt schon, um die Rettung noch erleben zu können. Was sich anbahnte hoch über ihm, betraf ihn nicht mehr.“104 Der Erzähler geht ein zweites Mal in den Louvre, wo er diesmal Delacroixs Gemälde Die Freiheit auf der Barrikade und das Gemälde des Heiligen Rainier von Sassetta betrachtet: „Unendlich waren die Reihungen der Bilder“.105 Im Museum sieht er zu, wie die Gemälde evakuiert werden. Jedes Museum ist, so Karlheinz Stierle, ein aufgeschlagenes Buch oder ein „Ort zwischen Buch und Welt.“106 Die Museen mit ihren neuen Organisations- und Ausstellungsformen werden zu Orten der Lesbarkeit der Stadt und der Welt, die zugleich auch in den urbanen Großstadtraum integriert sind. Im Rahmen eines längeren Rückblicks innerhalb des Paris-Abschnitts erzählt der zugestoßene Münzenberg als „Augenzeuge“ über seine Erinnerungen an Lenins Wohnung an der Spiegelgasse in Zürich, wo Lenin seit dem Frühjahr 1916 wohnte. Der Parteiarbeiter und Organisator Münzenberg, oder „der rote Hugenberg“, wie er gelegentlich genannt wird, hat den Vater des Erzählers in den 1920er Jahren in Berlin kennengelernt und versucht, ein marxistisches Medienimperium aufzubauen. Bei der kommunistischen Partei 1937 in Ungnade gefallen, werden die Erinnerungen Münzenbergs an die Anfänge der russischen Revolution besonders hervorgehoben. Auf eine für Weiss charakteristische Weise werden die historischen Schichten des Schweizer Stadtviertels dokumentarisch vergegenwärtigt. Wie ein Reiseführer erzählt Münzenberg, wie der junge Goethe 1775 eine Zeitlang hier wohnhaft war, als er die Französische Revolution noch unterstützte und Hölderlin ihn besuchte. Auch Georg Büchner wohnte in der Spiegelgasse bis zu seinem Tod 1837. Die Spiegelgasse wurde zum Sinnbild der
103 Ebd., S. 22. 104 ÄdW II, S. 27. 105 Ebd., S. 40f. 106 Der Vergleich der Großstadt mit einem Buch, das gelesen und dekodiert werden muss, stammt von Walter Benjamin, der in dem Passagen-Werk dieses Thema darstellt. Siehe Karlheinz Stierle, Der Mythos von Paris, S. 15.
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realpolitischen wie auch der künstlerischen Revolution, da auch das Cabaret Voltaire hier lag, der Geburtsort des Dadaismus. Im Jahr 1916 trafen sich im Cabaret Voltaire Hugo Ball, Emmy Hennings, Hans Arp, Sophie Taeuber-Arp, Richard Huelsenbeck, Tristan Tzara und Marcel Janco, um gegen den damaligen militaristischen Zeitgeist zu rebellieren und eine neue Kunstströmung zu begründen. Dada ging von der Spiegelgasse in die Welt und wurde zum Synonym für den künstlerischen Protest gegen den Ersten Weltkrieg, starre Normen und elitäre Kunst. In einer von Krisen geschüttelten Zeit boten Zürich und die Schweiz ein kulturelles Refugium für avantgardistische Kunst- und Politikströmungen, die für das 20. Jahrhundert prägend sein würden.107 Anders ausgedrückt: Die Spiegelgasse wird als Erinnerungsort der künstlerischen wie politischen Revolution betrachtet. Penibel rekonstruiert Münzenberg auch Lenins kleines Zimmer, dessen frugale Ausstattung mit der großen Revolution, die von hier aus geplant wurde, kontrastiert. Lapidar wird das Mobiliar des spartanisch eingerichteten Zimmers aufgezählt. Die Spiegelgasse wurde zum Sinnbild der gewaltsamen, doppelten, der wachen und der geträumten Revolution. […] Ich sehe noch Radek, sagte er, wie er die Arme seitwärts ausstreckt, um die Wände der schmalen Gassen zu stützen. Steil, auf holprigem Pflaster, ging es den Zürichberg empor, bis zum Platz, wo die Napfgasse einlief, und wo sich das Haus befand, in dem Lavater gelebt hatte. Goethe war dort, ich glaube Siebzehnhundert Fünfundsiebzig, von ihm empfangen worden, und ehe der Anhänger der Französischen Revolution zum Konterrevolutionär wurde, besuchte ihn auch, auf einer Wanderung, der junge Hölderlin. Oft war Büchner über diesen Platz gegangen, war damals Dozent der Anatomie an der Züricher Universität, er wohnte ein Dutzend Schritte weiter oben, im Eckhaus zur Spiegelgasse, dem Brunnenturm, bis zu seinem Tod. Nebenan, Nummer Vierzehn wars, zweiter Stock, die Gasse fiel hier wieder ab, hatten Lenin und Krupskaja ein Zimmer gemietet, beim Schuhmacher Kammerer. […] Ja, rief er, das Zimmer war etwa vier Meter lang, drei Meter breit, die Decke wenig über zwei Meter hoch. Kreuzweise an den Wänden Holzleisten, dunkelgebeizt. Zwei Fenster, die Vorhänge meist zugezogen. Neben der Tür ein eiserner Ofen, mit abgewinkelt verlaufendem Rohr. Eingeklemmt zwischen Ofen und Zimmerecke ein Tisch, an dem gegessen wurde, und ein schmales Sofa. In der Ecke am Fenster ein Waschtisch, mit kleiner Schüssel. Der wurde auch zum Schreiben verwendet. An den Leisten darüber hing ein Spiegel. In der Mitte das Doppelbett. Es beherrschte den Raum. Aufgeplusterte Kissen, riesige Plumeaus. Ein paar Stühle noch, eine Kommode. Sonst kein Platz mehr. Man konnte nur seitwärts gehen. Küchenbenutzung war ausgemacht. Achtundzwanzig Franken Miete pro Monat. […] Morgens wartete Lenin an der
107 Vgl. auch NB 2, S. 481f.
216 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Haustür, damit der Postbote nicht mit den vielen Briefen und Zeitungen die Treppe hinaufsteigen musste. Die Korrespondenz verwahrte er in Pappkartons, die Kammerer ihm gegeben hatte. Unter der Aufschrift Bottines standen die Namen von Gorki, Bucharin, Sinowjew, Luxemburg, Tschitscherin, Schljapnikow, Trotzki. […] Münzenberg sah vor sich noch die Spiegelgasse, die sich, vom Brunnenhof aus, hinabsenkte zu dem Weg, der nach den Zäunen benannt war, die eine Folge von Gärten begrenzten.
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Ähnlich wie Simonides von Keos, der mutmaßliche Erfinder der Gedächtniskunst109, sucht sich Münzenberg bestimmte Erinnerungsbilder (imagines) aus Lenins Zimmer aus. Mit Hilfe dieser Erinnerungsbilder wird dann das Zimmer Lenins rekonstruiert. Quintilian beschreibt dieses Verfahren folgendermaßen: Um im Gedächtnis eine Reihe von Orten zu bilden, sucht man sich ein geräumiges und komplexes Gebäude aus. Danach sucht man sich zwei Bilder aus, beispielsweise einen Anker und eine Waffe, die in der Vorstellung an die Orte in dem Gebäude gestellt werden, die man sich gemerkt hat.110 Der antike Redner ging durch ein virtuelles Erinnerungsgebäude, wo er, ausgehend von bestimmten Bildern, das genaue Aussehen des Zimmers zu rekonstruieren versucht. An diese
108 ÄdW II, S. 59f. 109 Vgl. Frances A. Yates, Gedächtnis und Erinnern, S. 11-13. 110 Vgl. Marcus Fabius Quintilianus, Ausbildung des Redners: zwölf Bücher; lateinisch und deutsch, übersetzt von Helmut Rahn, 5. Aufl., Darmstadt 2011, XI, 2, S. 17. Dieses mnemotechnische Verfahren ist eine Technik in Weiss’ Prosa. Schon in dem frühen Prosastück Das Gespräch der drei Gehenden (1962) wird ein Zimmer mit Hilfe von bestimmten Erinnerungsbildern rekonstruiert. Der Protagonist steht außerhalb seiner Wohnung und inszeniert „eine Vorstellung von den Gegenständen und Räumlichkeiten“. Er vergewissert sich die ihm bekannten Räumlichkeiten anhand von bestimmten Erinnerungsbildern: „Hinter der Tür, deren Schlüssel ich noch in der Tasche trug, war nichts zu hören, und ich inszenierte mir jetzt eine Vorstellung von den Gegenständen und Räumlichkeiten hinter der Tür, von der Fußmatte an, über den Läufer hinweg, über die mit Sackleinen beklebten weißgestrichenen Wände, an den Bildern von Stieren, Sonnen, Blitzen und feuerspeienden Bergen hingen, an den Garderobenhaltern entlang[.] […] Das große Zimmer durchquerte ich schnell, es war jetzt dunkel, sie lag im Schlafzimmer dahinter, unter dem schrägen Fenster, durch das bei klaren Nächten der Mond und die berühmten Sternbilder zu sehen waren. […] Neben der Wohnungstür stand eine Kiste auf der Schwelle, hatte einmal zur Verwahrung von Brennholz gedient, war jetzt seit langem leer, ich hob den Deckel und kroch in die Kiste, in der es nach modriger Rinde roch.“ W, Bd. 2, S. 307.
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klassische Quelle der Mnemotechnik knüpft Weiss bei der Beschreibung von Lenins Zimmer an. Münzenberg erinnert sich auch an die persönliche Bibliothek Lenins, die Bücher von Nexö, Heine, Bebel, Mehring, Lenau, Hugo, Hauptmann, Heinrich Mann und Streitschriften gegen die Sozialdemokratie enthält.111 Münzenberg erinnert sich an scheinbar unbedeutende Details in Lenins Wohnung. Die Erinnerung umfasst nicht umsonst den Ort der proletarischen Küche – ein wiederkehrender Ort des Erinnerns, der eine wichtige Rolle spielt – man denke nur an die Erinnerungen des Ich-Erzählers in der Küche seiner Berliner Wohnung, die einen langen Erinnerungsstrom auslöst. Das Hervorgerufene scheint Münzenberg, so der Erzähler, „gegenwärtiger als alle Bemühungen“ um einen Neuanfang: Die Küche, hier saß man bei einer Tasse Tee, einem Stück Brot, ermahnt von meinem beharrlichen Fragen beschrieb Münzenberg die Holzstühle am Tisch mit dem Wachstusch, den eisernen Herd, den Kohleeimer, den Korb mit Spänen und Scheiten, den Ausguß, die Vitrine, darin einige Tassen, nicht zwei von gleicher Art, ein paar Teller, Töpfchen, Schalen, ein Bügeleisen, auf dem Herd heiß zu machen.112
Gleichzeitig sind die oben angeführten Passagen ein Reflex für die archäologische Rekonstruktion der Vergangenheit, wie sie u.a. Walter Benjamin vertritt. Die Erinnerungstechnik, die Weiss in der Ästhetik des Widerstands benutzt, geht von einer detaillierten, „archäologischen“ Rekonstruktion von Gebäuden und Orten aus. Diese Notwendigkeit der archäologischen Methode überträgt der Autor auf die Struktur der Erinnerung. 113
111 ÄdW II, S. 64: „Neben dem Empfangszimmer befand sich Lenins persönliche Bibliothek, Münzenberg erinnerte sich, einige Bücher von Nexö gesehn zu haben, in englischer Sprache, Heines Werke, einige Bände Bebel, Mehring, Lenaus Gedichte, Hugos Romane, die Weber von Hauptmann, den Untertan von Heinrich Mann“ […]. 112 ÄdW II, S. 64. 113 Wirkliche Erinnerung ist demgemäß zutiefst mit dem erinnernden Subjekt verbunden, dessen Aufgabe es ist, die jeweiligen Erinnerungsschichten bloßzulegen und diese wie ein Archäologe photographisch zu rekonstruieren: „So müssen wahrhafte Erinnerungen viel weniger berichtend verfahren als genau den Ort bezeichnen, an dem der Forscher ihrer habhaft wurde. Im strengsten Sinne episch und rhapsodisch muß daher wirkliche Erinnerung ein Bild zugleich von dem der sich erinnert geben, wie ein guter archäologischer Bericht nicht nur die Schichten angeben muß, aus denen seine Fundobjekte stammen, sondern jene andern, vor allem, welche vorher
218 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Ein Pariser Mythos, der in der Ästhetik des Widerstands reproduziert wird, ist die Vorliebe der Künstler für das Morbide und Dekadente der Stadt, was dagegen Marx und Engels abgestoßen hatte. Diese „Schwäche“ kommt zwar in der Kunst Meryons vor, aber wichtiger sei die „Vertiefung des Realen“ durch das Element des Traumhaften. Eben diese Verbindung des Traumes mit dem exakt wiedergegeben Detail sei nicht möglich gewesen ohne die künstlerische Revolution Rimbauds und Lautrémonts, die es vermocht hat, „Bauwerke durchsichtig zu machen und die Geschehnisse in ihnen zu erkennen“. Dies ist eine künstlerische Strategie, die Weiss selbst in der Ästhetik des Widerstands verfolgt. Das Studium Géricaults und jenes vergeßnen, in Armut und geistiger Umnachtung untergegangenen Zeichners und Kupferstechers hatte mich etwas gelehrt über das Dasein in dieser Stadt, etwas, in dem weniger die Schwäche für das Morbide, Dekadente, die Marx und Engels abgestoßen hatte, zur Sprache kam als eine Vertiefung des Realen, wobei dem exakt und objektiv wiedergegebenem Detail die Eigenschaft des Traumhaften hinzugefügt wurde. Solch äußerst persönliches Sehn, ohne welches die Kunst Lautrémonts und Rimbauds nicht möglich gewesen wäre, gehörte zu dieser Stadt, es mußte, wie Münzenberg bei seinen Erwägungen über die kulturelle Revolution sagte, aus Paris kommen, in seiner Vorstellung von der Zusammengehörigkeit des Sozialen und Politischen mit dem Poetischen, Visionären lag der Hinweis auf die Gedankenwelt derer, die sich nie abfinden wollten mit den gegebnen Mustern und Regeln, die es vermochten, die Bauwerke durchsichtig zu machen und die Geschehnisse in ihnen zu erkennen, die in ein flüchtig geschautes Ge114
sicht zum Spiegel des Verhängnisses, des Unheils eines Zeitalters werden ließen.
Der Pariser Aufenthalt des Ich-Erzählers endet damit, dass er sich in den Zug nach Stockholm setzt. Im Rahmen einer längeren Traumepisode wird ähnlich wie in Berlin über die Bremer Heimat des Erzählers berichtet. Wie das Stück vom Madeleine-Gebäck in Prousts À la Recherche du temps perdu nimmt der urbane Raum hier eine biographische Auslöserfunktion ein: Dem Erzähler träumt, dass die Städte „ineinander zerfließen“: Er befindet sich in einem Bett in einem fremden Hotelzimmer zusammen mit seiner Mutter, die seinen Kopf in ihre Hand gestützt hält. Plötzlich fällt ihm ein, dass er zusammen mit seiner Familie auf dem Weg nach Berlin sei, und dass er sich in Hamburg befinde. Zusammen mit seiner Mutter geht er zum Hamburger Hafen und zum Elbtunnel, um die Schiffe dort zu besichtigen. Auf einem schmalen Fußweg gehen sie eine
zu durchstoßen waren.“ Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. 6: Fragmente vermischten Inhalts. Autobiographische Schriften, S. 488. 114 ÄdW II, S. 66f.
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laute schmale Straße entlang, als plötzlich der Erzähler seine Mutter im Straßengewirr verliert. Zu seinem Entsetzen merkt er dann, dass sie vielleicht von einer brüllenden Horde verschleppt worden sei. Fensterscheiben werden zertrümmert und jemand treibt eine Frau vor sich her, die ein Schild um ihren Hals trägt mit der Aufschrift „Jidd“. Die Mutter des Erzählers wurde, so erfahren wir im ersten Band, zumal wegen ihres „dunklen Haars“ als Jüdin bezeichnet, wobei sie „sich nun selbst zur Jüdin erklärt hatte[.]“115 Diese explizite Identifikation mit den jüdischen Opfern des Nationalsozialismus führt dazu, dass die Mutter des IchErzählers in einem Gestus der Mimesis kurz nach der Ankunft in Schweden stirbt. Diese Anspielung auf die Judenverfolgungen in Deutschland, die mit der „Reichskristallnacht“ im November 1938 ein bis dahin unübertroffenes Maß an Grausamkeit erreichten, fällt in etwa in die Zeit, als der Erzähler in Paris weilt.116 Der Erzähler ist hier ein Fremder in der Stadt, die als bedrohlich dargestellt wird mit ihren Menschenmassen. Die Situation überfordert ihn, sie liegt „außerhalb des Faßbaren“. Er sucht vergeblich nach seiner Mutter in der fremden Stadt, kann sie aber nicht finden.117 Der Erzähler zeichnet das Bild des Elbtunnels und die Hamburger Skyline mit ihren Packhäusern und Türmen, die als eine „Fata Morgana“ beschrieben wird. Dies ist zugleich auch eine Anspielung auf das Hauptwerk des Filmemachers Peter Weiss, Hägringen / Fata Morgana (Schw., 81 Min, 1959).118 Der Film schildert die angstvolle Begegnung eines fremden Jugendlichen mit der großen Stadt und ist ein Beispiel für den Nachkriegssurrealismus amerikanischer und französischer Filme. Surrealistisch und traumhaft anmutend ist die Passage, die sich der Ästhetik des Avantgardefilms annähert:
115 ÄdW I, S. 189. 116 Vgl. die Beschreibung der „Reichskristallnacht“ in Fluchtpunkt: „Du weißt noch nicht, mit welchen Gegnern du es zu tun hast, sagte Hoderer. Und noch bestanden die Lager schon, als du noch drüben lebtest, und als du im letzten Winter vor dem Krieg durch Berlin kamst, mit deinem tschechischen Pass, und Rauchwolken über der Stadt lagen, hatte sich eben die Nacht mit dem schönen Namen Kristallnacht vollzogen.“ Vgl. FP, S. 186. 117 Zur Bedeutung von Weiss’ Mutter Frieda Franziska Weiss, geb. Hummel siehe Åsa Eldh, The mother in the work and life of Peter Weiss, (= American university Studies Ser. 1, Bd. 84), New York [u.a.] 1990., S. 141-155: Eldh vertritt in ihrer biographisch orientierten Studie die methodisch äußerst fragwürdige Verknüpfung zwischen der Mutter des Ich-Erzählers und der Mutter von Peter Weiss. Weiss wäre gern der liebende Sohn gewesen, der in der Ästhetik des Widerstands geschildert werde. 118 Arnd Beise, Peter Weiss, S. 59f.
220 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Nach einem noch wollte ich Münzenberg fragen, ob er meinem Vater begegnet war, damals, als er durch Bremen kam, aber er war schon ebenso schemenhaft geworden wie Hodann, und auch die Städte begannen, ineinander zu zerfließen, ich fragte mich, was ich mit Bremen, mit Hamburg, mit Stockholm zu tun hätte. Nur daß ich auf einem Bett lag, dessen war ich gewiß. Ausgetreckt auf einem Bett lag ich und wußte, daß ich mich in einem Hotelzimmer befand. Ein klobiger, eckiger Vorsprung zog sich vom Fußboden bis zur Decke empor, die Tapeten waren von einem schäbigen, grünlichen Grau, die Spitzengardinen am Fenster waren zurückgezogen, von dicken Kordeln zusammengehalten, draußen war ein gedämpftes, nebliges Licht, und neben mir, auf der Seite, das Gesicht in die Hand gestützt, lag meine Mutter und sah mich an. Jetzt fiel mir ein, daß wir abgereist waren aus Bremen, wir hatten, auf der Reise nach Berlin, einen Tag Aufenthalt gemacht in Hamburg, mein Vater war vorausgefahren, um eine Wohnung zu mieten, gleich würden wir zum Hafen und durch den Elbtunnel gehen, es war mein Wunsch gewesen, diesen Tunnel, tief unter den Wassermassen, den großen Schiffen, zu betreten. Schon gingen wir durch die Halle mit der gläsernen Kuppel, wir gingen die Wendeltreppe hinab und den schmalen Fußweg entlang, auf der Fahrbahn ratterten Automobile und Fuhrwerke, stampften die Hufe der Pferde. Ich zeichnete den Tunnel im Längsschnitt, im Hotelzimmer, oder später im Zug, mit dem Bleistift zeichnete ich die Treppenstufen, den Fahrstuhl, der an riesigen Triebrädern hing, die Autos darin, den Wagen mit dem Kutscher, die hin und hergehenden Männchen im Rohr, die Fregatten und Ozeandampfer darüber und, gleich einer Fata Morgana, die Ufersilhouette mit Türmen und Packhausgiebeln. Ich war versunken in das Zeichnen, versuchte, ein technisches Wunder zu lösen, doch etwas stimmte nicht, ich wußte nicht, wo meine Mutter verblieben war, eben noch hatte sie mich an der Hand gehalten, unten in dem schnurgeraden Gang, eine schreckliche Ungewißheit kam auf, wo ich sie verloren haben mochte, vielleicht war sie verschleppt worden, ich hörte nur ein Geschrei und Jammern, Menschen eilten vorbei, es klirrte, als wären Scheiben zertrümmert worden, die Menge trieb eine Frau vor sich her, man hatte ihr ein Schild um den Hals gehängt, mit der Aufschrift Jidd, in jüdischen Lettern, vielleicht war es meine Mutter, ich schlug mich durch das Gedränge, doch die Frau war nicht mehr zu sehn, was jetzt von mir gefordert wurde, überstieg meine Kräfte, etwas, das außerhalb des Faßbaren lag, sollte in einen Begriff gebracht werden[.]
119
In dieser kafkaesken, alptraumhaften Szene werden die Menschenmassen als bedrohlich dargestellt, die ihre blinde Wut auf die Mutter projiziert, die zum Symbol wird für das Leiden der verfolgten Juden. Die Passage erweist sich als eine unüberhörbare Anspielung auf den „Bestimmungsort“ des Autors, wie er ihn in Meine Ortschaft beschrieben hat, nämlich Auschwitz: „Es ist eine Ortschaft, für
119 ÄdW II, S. 76.
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die ich bestimmt war und der ich entkam. […] Ich habe keine andere Beziehung zu ihr, als dass mein Name auf den Listen derer stand, die dorthin für immer übersiedelt werden sollten.“120 Es ist wohl anzunehmen, dass Weiss selbst nie das Auschwitz-Trauma richtig verarbeiten konnte, und dass er als Halbjude latente Schuldgefühle hatte. 121 Das Thema hat Weiss nicht nur existentiell in seinen Werken (Die Ermittlung) bearbeitet122, sondern findet auch in seine Notizbücher Eingang. Über die Inszenierung von Erinnerung am Beispiel des Spanischen Bürgerkriegs handelt der nächste Abschnitt. Es wird gezeigt, wie Weiss sich in seinem Roman gegen eine pro-franquistische Geschichtsschreibung, wie sie in der frühen BRD üblich war, wendet.
4.3. E XKURS : D AS T RAUMA DES S PANISCHEN B ÜRGERKRIEGS Der Spanische Bürgerkrieg bedeutete für Weiss’ Generation eine Zäsur. Die Zerschlagung der roten Brigaden durch Francos Truppen und die Zerstörung der baskischen Stadt Guernica führten zu einer Lähmung des anti-faschistischen Widerstands. Dem Autor war die historische Bedeutung des umkämpften Spaniens bekannt; bereits in den 1960er Jahren setzte er sich mit den politischen Verhältnissen im franquistischen Spanien kritisch auseinander. Francos Diktatur gehörte
120 Siehe R, S. 114.Vgl. hierzu Michael Hofmann, Ästhetische Erfahrung in der historischen Krise, S 215; Arnd Beise, „Peter Weiss: ‚Verleugnete Erfahrungen lebten in mir auf‘“, in: Norbert Otto Eke, Hartmut Steinecke (Hrsg.), Shoah in der deutschsprachigen Literatur, S. 223. 121 Vgl. hierzu auch Michael Hofmann, Ästhetische Erfahrung in der historischen Krise, S. 215. Wie Manfred Haiduk gezeigt hat, wird dieses latente Schuldgefühl von Peter Weiss bereits in Fluchtpunkt in literarisches Material umgewandelt. Dort mischen sich zwei Schuldmotive: „das anerzogene, kafkaeske, metaphysische Schuldgefühl und ein Schuldgefühl, das der Erkenntnis entspringt, gesellschaftlich nicht wirksam geworden zu sein.“ Vgl. Manfred Haiduk, Der Dramatiker Peter Weiss, S. 33. 122 Vgl. hierzu ausführlicher Robert Cohen, „Identitätspolitik als politische Ästhetik. Peter Weiss’ Ermittlung im amerikanischen Holocaust-Diskurs“, in: Ulrich Baer (Hrsg.), „Niemand zeugt für den Zeugen“. Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoah, Frankfurt am Main 2000, (= Edition Suhrkamp, Bd. 2141) S. 156-172.
222 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT für Weiss zu den Höllenorten im Sinne Dantes.123 Das Beispielhafte am Spanienabschnitt äußert sich nicht zuletzt auch darin, dass der Erzähler dort zum ersten Mal den Wunsch bekundet, die historischen Ereignisse später in einem Buch festhalten zu wollen: „Während der Sommermonate […] festigte sich mir die Grundlage für eine Arbeit, die ich als meine zukünftige ansah, ohne sie noch genau benennen zu können. […] Worte und Bilder würden ihre Medien sein, je nach Bedarf.“124 Der historische Zeitraum des Spanien-Abschnitts im Roman ist sehr umfangreich; er reicht bis in die Antike zurück und umfasst historische, ökonomische und politische Aspekte des Bürgerkrieges sowie die ideologischen Konflikte innerhalb der Volksfront. „Im Zeitalter universalen Erinnerungsverlustes (ein Satz, der vorgestern mit der Post kam) haben wir zu realisieren, daß volle Geistesgegenwart nur auf dem Boden einer lebendigen Vergangenheit möglich ist.“125 Dieser Merksatz aus Christa Wolfs Roman Kindheitsmuster könnte beispielhaft für das Verhältnis zwischen Raum und Erinnerung in der Ästhetik des Widerstands gelten. Dies betrifft nicht zuletzt den Spanien-Abschnitt, in welchem Weiss sich darum bemüht, die tabuisierte und verschüttete republikanische Vergangenheit „in einer nahezu unglaublichen Intensität zu erfassen und zu verdichten.“126 Der Spanische Bürgerkrieg war ein medialer Krieg, der in den Medien eine globale Resonanz fand. Zu den wichtigsten Medienereignissen zu Beginn des Spanischen Bürgerkriegs gehört die republikanische Belagerung von Alcàzar von Toledo, die von Ende Juli bis Ende September 1936 andauerte. Mit diesem „locus memoriae“127 verknüpfte man das katholische Spanien: Nachdem die Araber Toledo im frühen Mittelalter erobert hatten, wurde der Ort von den
123 Siehe hierzu Jürgen Schutte, „‚Die Phantasie auf dem Boden der Wirklichkeit‘. Eine Annäherung an den Spanienteil der Ästhetik des Widerstands“, in: PWJ 21 (2012), S. 21-46, hier S. 27f. 124 ÄdW I, S. 305. 125 Christa Wolf, Kindheitsmuster, S. 202. 126 Vgl. Jürgen Schutte, „‚Die Phantasie auf dem Boden der Wirklichkeit‘. Eine Annäherung an den Spanienteil der Ästhetik des Widerstands“, S. 43. Zur Aufarbeitung des Bürgerkriegs in Spanien, die erst ab den 1990er Jahren erfolgte, siehe Aleida Assmann, „To Remember or to Forget: Which Way out of a Shared History of Violence?“, in: Dies., Linda Shortt (Hrsg.), Memory and Political Change S. 63-68. 127 Siehe hierzu Ansgar Warner, „The Heroes of Toledo – A Case Study in Fascist Radio Play and the Making of National Memory during the Spanish Civil War“, in: Ansgar Nünning, Marion Gymnich, Roy Sommer, (Hrsg.), Literature and Memory: Theoretical Paradigms, Genres, Functions, Tübingen 2006, S. 167-176, hier S. 174.
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Christen im Zuge der reconquista zurückerobert und war bis zum fünfzehnten Jahrhundert die Hauptstadt Spaniens. Die franquistische Eroberung Toledos im September 1936 wurde von der faschistischen Propaganda in Deutschland und Spanien instrumentalisiert. Auch die Bundesrepublik Deutschland ließ sich von diesem faschistischen Mythos vereinnahmen; im Jahr 1955 – im selben Jahr wurde die Bundeswehr gegründet – wurde Oberst José Moscardò, der franquistische ehemalige Befehlshaber Alcàzars, mit dem „Großen Bundesverdienstkreuz“ (die höchste zivile Orden der BRD) ausgezeichnet, ein Zeichen für die restaurativen politischen Tendenzen der Adenauer-Ära.128 Gegen eine solche konservative, pro-faschistische Geschichtsschreibung wendet sich Weiss in seiner Schilderung des spanischen Bürgerkriegs in der Ästhetik des Widerstands.129 Der Spanische Bürgerkrieg nimmt in Weiss’ Roman eine prominente Stellung ein: Ihm ist mit 170 Seiten der gesamte zweite Teil des ersten Bandes gewidmet.130 Die Handlung des Spanien-Abschnitts beginnt mit der Ankunft des
128 Siehe Petra Maria Weber, Spanische Deutschlandpolitik 1945-1958: Entsorgung der Vergangenheit, Saarbrücken 1992, S. 201. Vgl. Ansgar Warner, „The Heroes of Toledo“, in: Ansgar Nünning, Marion Gymnich, Roy Sommer, (Hrsg.), Literature and Memory: Theoretical Paradigms, Genres, Functions, S. 176. 129 Zur Darstellung des spanischen Bürgerkriegs in der Ästhetik des Widerstands, siehe Bettina Bannasch, „Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands“, in: Bettina Bannasch, Christiane Holm (Hrsg.), Erinnern und Erzählen: Der spanische Bürgerkrieg in der deutschen und spanischen Literatur und in den Bildmedien, Tübingen 2005, S. 471-484. 130 Zum Spanienkomplex im weiteren Sinne gehört das Gedicht „Dreiundzwanzigster September Neunzehnhundert Dreiundsiebzig“ anlässlich des Todes von Pablo Neruda, das 1973 in Neues Deutschland veröffentlicht wurde. Nerudas Werke werden dort zum Sinnbild für den antifaschistischen Widerstandkampf stilisiert. Das Dichter-Ich berichtet über den Spanienkämpfer Marcos Ana, der 23 Jahre in franquistischer Gefangenschaft geriet, und der Nerudas Gedichte in der Gefangenschaft gelesen hat. Auch Che Guevara hat Nerudas Canto General mit sich gehabt bei seiner Erschießung in Bolivien. „Als Marcos Ana nach dreiundzwanzig Jahren der Einkerkerung/ aus dem Zuchthaus von Burgos entlassen wurde, / trug er ein Buch bei sich, getarnt unter religiösem Einband: / die Gedichte Nerudas. / Marcos, einer der zehntausenden, die nach dem Volkskrieg in Spanien / in die Gefängnisse der Falangisten gerieten, war ein junger Mann, / als Genossen ihm den Band zusteckten, mit den abgegriffnen Seiten, / versehen mit dem Namenszeichen vieler, / die zur Erschiessung geführt worden waren. / Immer wieder hatte er, wie alle die andern, die Worte Nerudas, die Stimme der Hoffnung, der Befreiung, in sich aufgenommen. / Als Che Gue-
224 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Erzählers in Barcelona. Hier besichtigt er zusammen mit Ayschmann die berühmten Bauten Gaudis, Paseo de Gracia, die Sagrada Familia, Casa Battlò und Casa Milà. Ayschmann erklärt dabei, wie Gaudi auf den Straßenbahnschienen Barcelonas im Juni 1926 seinen Tod fand. Die Beschreibung der Sagrada Familia erfolgt aus der Perspektive des Erzählers. Dieser versteht sich als Besucher in Barcelona und nicht als Spanienkämpfer, sondern als „Flaneur und Tourist“, der untersucht, was in den Steinen der Sagrada Familia an „Schönheitswert hineinzulesen“ ist.131 Das Deuten des Kunstwerks wird zur Aufgabe, es erscheint als eine Hieroglyphe, die vom Betrachter entziffert werden muss: Gerüste, Leitern standen am Gemäuer, als sollte der Bau weitergeführt werden. In mit Brettern vernagelten Schuppen waren durch die Ritzen Gipsformen, Büsten, durcheinandergeworfne Leiber zu sehen, aus Gestängen streckten sich Beine und Arme vor, im Gerümpel, zwischen flatternden Blättern voll mathematischer Formeln, standen Modelle von Konstruktionselementen, perforiert, Rippen, Armknochen, Schenkelknochen gleich, zeigten die Grundlage der Tragfähigkeit des Gebäudes, wandten wir uns um, erkannten wir unter den tumultarischen Außenformen das Skelett, den Organismus mit seinen Sehnen und Muskeln.
132
Der unvollendete Dom wird zum „Bruchstück“, zum „überwirklichen Allkunstwerk“, das längst den sakralen Anlass des Bauens verloren hat. Und der Kirchenbau soll unvollendet bleiben, ansonsten würde er seine traumhafte Wirkung nicht mehr ausstrahlen, so der Erzähler. Galten die Bauten des „Facteur“ Cheval zu Lebzeiten des Briefträgers als reine Skurrilität, wurden sie von den Surrealis-
vara in der Quebrada del Yuro von den Handlangern / der bolivianischen Landherrn ermordet wurde, / trug er im Gepäck seine letzte Lektüre: / den grossen Gesang, den Canto General, von Neruda. / Als Pablo Neruda krank lag, in diesen schwarzen Tagen des Septembers, / brachen sich die Henker ein in sein Haus in Santiago, / auf dem Hügel Dan Christòbal, / zerschlugen, was sie fanden, verwüsteten den Garten, doch / als er kurz vor Mitternacht, Sonntag, den dreiundzwanzigsten dieses Monats / mit offnen Augen dalag, denn er wollte sein, begreifen, / seinen eigenen Tod, / standen viele versammelt, um weiterzugeben/ seine Worte von Hoffnung, von Befreiung. / Und als die ihn zu Grabe trugen, waren schon hunderte um ihn, / und tausend bald, umringt von den schwerbewaffneten Söldnern, / und leise zuerst, dann laut und fest, / erklang die Internationale in Santiago, / in dem vorübergehend vom Faschismus, vom Imperialismus / besetzten Chile.“ Vgl. NB 2, S. 230f. 131 ÄdW I, S. 199 132 ÄdW I, S. 195f.
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ten, v.a. von André Breton sehr hoch eingeschätzt.133 Als fragmentarischem, aus organischen Fragmenten bestehendes Kunstwerk, erinnert die Sagrada Familia an den Pergamonaltar, wenn auch in größerem Format. Günter Schütz sieht in dieser Beschreibung deutliche Affinitäten mit einem kunsthistorischen Buch, das Weiss offensichtlich gelesen hatte. Doch die Beschreibung der Kathedrale erinnert auch an den frühen surrealistischen Essay Der große Traum des Briefträgers Cheval (1960). Dort wird das fantastische organische Bauwerk des Briefträgers Cheval als ein „aufgetürmter Termitenbau, wie aus Sekreten zusammengeleimt“ beschrieben.134 Was Weiss besonders beeindruckt, ist die Vergegenständlichung der Traumvorstellungen durch den Raum: In unbeirrter Folgerichtigkeit gräbt, wühlt, schaufelt, mauert er an seinen Visionen, festigt er sie mit einem plasmaartigen Arbeitsmaterial, kratzt, schabt, schleift an ihnen in unermüdlicher Hingabe.
135
Dieser Bau besteht aus den verschiedensten Formen, wobei der Blick des Betrachters über „Gesichter, Gestalten, Glieder, Tiere“ gleitet. Der Traum bildet laut Weiss den Antrieb des Künstlers beim Errichten dieses „mächtigen, wuchtigen Organismus“.136 Das Materialisieren der Traumvorstellungen, die Weiss im Bauwerk des Briefträgers Cheval sieht, erscheint als eine Traumwelt, in deren Räume der Autor hineintritt. Das Raumgebilde wird mit einer Körpermetaphorik verglichen, eine deskriptive Technik, die in Weiss’ Werken häufig benutzt wird. Die Innere Welt, ich liefere mich ihr aus. Jetzt bin ich in ihr, sie umschließt mich. Hier bin ich durch irgendein Tor, irgendeine Öffnung hineingeraten, in das Innere der Gedanken, in das Innere der Impulse. Überall drehen, senken sich die Formen, steigen an, breiten sich aus, werden zu Ornamenten, Gewächsen, Früchten, haben Augen, strecken Glieder aus, schieben sich vor, ziehen mich tiefer hinein in Gänge, Schächte, Alkoven. […] Ich bin im 137
Innern eines Traums. Verstehe die Sprache dieses Traums.
133 Vgl. hierzu auch Ulrike Weymann, „Zur Semantik räumlicher Strukturen in Literatur und Film“, in: Yannick Müllender, Jürgen Schutte, Ulrike Weymann, Peter Weiss: Grenzgänger zwischen den Künsten, S. 64. 134 R, S. 36-50, hier S. 36. 135 Ebd., S. 39. 136 R, S. 43. 137 Ebd., S. 37.
226 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Wie oben schon bemerkt, gilt der Spanische Bürgerkrieg als der erste große moderne Medienkrieg, in welchem auch die neuen Medien Rundfunk und Film zum Einsatz kamen. Diese mediale Inszenierung des Spanischen Bürgerkriegs hat auch in die Ästhetik des Widerstands Eingang gefunden. Die Internationalen Brigadisten verfügen über einen Nachrichtendienst, dessen Redaktionskomitee aus sechs Mann besteht. Sie besitzen ein Rundfunkgerät der „Marke Telefunken“, die von Technikern mit „einer Dachantenne“ versehen worden ist. Das Problem des Redaktionskomitees besteht hauptsächlich darin, aus dem Nachrichtenstrom, aus der „Überfülle des Stimmengebrauses“, Wesentliches hervorzuheben. Als Norm für die Blätter, die die Redaktion jeden Morgen herausgibt, gelten die republikanischen Berichte auf der Kurzwelle Neunundzwanzig Acht. Von Madrid aus strömen die jüngsten republikanischen Nachrichten von den Fronten ein, wie z.B. Berichte über internationale Hilfeleistungen und die Unterstützung der republikanischen Sache durch zahlreiche internationale Künstler sowie Kulturträger der untergegangenen Weimarer Republik wie die Gebrüder Mann, Toller, Brecht und Piscator. Dieser medial inszenierte Krieg wird von Weiss zeitgemäß dargestellt. In seinen Erinnerungen an den Spanischen Bürgerkrieg kann der anonyme Ich-Erzähler, der etwa eine Generation nach den historischen Begebenheiten den Roman niederschreibt, sich auch auf zahlreiche Kulturträger der deutschen und internationalen antifaschistischen Erinnerungskultur berufen, die aufgelistet werden. Was sollten wir auswählen, fragten wir uns, wie waren die Bekanntgaben des Gegners am eindringlichsten zu kontrastieren mit den republikanischen Rapporten, wie konnten Auslassungen, dunkle Darlegungen in verständliche Tatsachen übersetzt werden, was war überhaupt in der Überfülle des Stimmengebrauses wichtig, haltbar, richtungweisend. Als Norm für die Blätter, die wir jeden Morgen ans Wandbrett in der Halle hefteten, galten die Berichte, die wir vom Sender der Brigaden auf der Kurzwelle Neunundzwanzig Acht empfingen. Hier, von Madrid aus, vernahmen wir, was alle im gleichen Maß anging, vom Stand der internationalen Hilfeleistungen, von den weitergeführten Einheitsbestrebungen, von der Lage in Deutschland. Und wieder kamen die Namen derer auf uns zu, die den spanischen Kampf unterstützten, die hier waren, wie Renn, Uhse, Weinert, Bredel, Regler, Busch, Marchwitza, Seghers, Kisch, Alfred Neumann, Alberti, Hemingway, Ivens, Ehrenburg, Malraux, Saint-Exupéry, Branting, Toller, Spender, Dos Passos, Neruda, Siqueiros, oder die, wie Heinrich Mann, Thomas Mann, Arnold Zweig, Feuchtwanger, Brecht, Wolf, 138
Piscator, Rolland, Shaw, sich von außen an die Öffentlichkeit wandten.
138 ÄdW I, S. 224.
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Diese Auflistung kanonischer Autoren der dient der Autorität des Erzählers und etabliert somit einen monumentalen Modus der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses. Durch das im Zitat fünf Mal wiederholte Pronomen „wir“ ergibt sich eine kollektive Erinnerungsgemeinschaft, die sich als dezidiert antifaschistisch und republikanisch versteht. Diese commual voice ist als rhetorisches Mittel des Autors im Kampf um die Erinnerungshoheit des Spanischen Bürgerkriegs zu verstehen: Es geht hier neben dem monumentalen Modus zudem um einen antagonistischen Modus der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses zur Stärkung der marginalisierten republikanischen Erinnerungskultur. Gleichzeitig mit den Schauprozessen in Moskau und dem Anschluss Österreichs hören die Protagonisten am fünfzehnten März die jüngsten Rundfunkmeldungen: „Wir überwachten, für unsern Nachrichtendienst, die englischen, französischen, tschechoslowakischen Radiomeldungen, skandinavische Kurzwellensender unterrichteten uns, und die deutschen Rundfunkstationen, deren tönendes Triumphieren von Grieg zu Worten übersetzt wurde, aus denen der Sachverhalt andeutungsweise hervorging.“ 139 Gegen seine Erwartungen wird der Erzähler als Sanitäter in die Krankenstation Cueva la Potita bei Albacete eingesetzt. Dort ist er dem exilierten deutschjüdischen Arzt Max Hodann unterstellt, der die Krankenstation leitet. Hodann gerät dann wegen seiner undogmatischen Einstellung gegenüber den Führungskadern der Internationalen Brigaden zunehmend in Schwierigkeiten. Er wird von dem Generalinspekteur der Internationalen Brigaden André Martys verhört, doch ist es seine Mitarbeiterin Käte Hamburger (Marcauer), die wegen kritischen Äußerungen hinsichtlich der Moskauer Prozesse und zu den „Säuberungsaktionen“ innerhalb der Internationalen Brigaden verhaftet wird. Den „Säuberungsaktionen“ innerhalb der Internationalen Brigaden wird bei Weiss „mehr Platz eingeräumt als in jedem anderen antifaschistischen Roman“.140 Der Erzähler und Hodann werden zu einer Krankenstation in Denia versetzt, wo es an allem mangelt. Eine weitere wichtige Person im Spanien-Abschnitt ist der in Gelsenkirchen geborene Wilhelm Zaisser (genannt Gomez), der später in der DDR Minister für Staatsicherheit wurde. Der Abschnitt endet mit einer langen Auslegung über die „Möglichkeiten einer spezifischen Ästhetik des Widerstands“ ausgehend von Picassos Gemälde Guernica.141 Etwa zehn Seiten widmet dann Weiss der 2500-
139 ÄdW I, S. 288f. 140 Vgl. Bettina Bannasch, „Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands“, in: Bettina Bannasch, Christiane Holm (Hrsg.), Erinnern und Erzählen: Der spanische Bürgerkrieg in der deutschen und spanischen Literatur und in den Bildmedien, S. 472. 141 Ebd.
228 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT jährigen Geschichte Spaniens, die er als Kampf gegen Unterdrückung stilisiert.142 Der Spanien-Abschnitt enthält zudem intertextuelle Anspielungen, v.a. auf Miguel de Cervantes Roman Don Quijote (1605/15), auf den sich der Erzähler mehrmals beruft. Schon im ersten Satz des Spanien-Abschnitts freut sich der Erzähler, einen Brief Max Hodanns zitierend, „in der Landschaft des Don Quijote“ gelandet zu sein.143 Die Figur Don Quijotes wird auch an Wandfresken in Cueva la Potita dargestellt, die mit den idealistischen Visionen Hodanns in Verbindung gesetzt werden. Cervantes literarische Figur figuriert des Weiteren in einer Amateurschauspielgruppe bei den Brigadisten in Albacete. Gomez vergleicht das Schicksal der schlecht organisierten Anarchisten, die dem republikanischen Feuer zum Opfer fallen, mit der tragischen Gestalt Don Quijotes: „Im Geist Don Quijotes, mit dem gleichen blinden Enthusiasmus, der auch uns früher zu eigen gewesen war, sagte Gomez, warfen sie sich, in programmatischer Unordnung, dem feindlichen Feuer entgegen.“144 Am deutlichsten kommt die Funktion Don Quijotes in der pantomimischen Theater-Inszenierung der Amateurschauspielgruppe zum Vorschein. Die tragische herumtreibende Gestalt Sancho Panchas wird zum Chiffre für die hoffnungslose Zerrissenheit Spaniens: „dieses Epos eines Spaniens, in dem frenetisch nach der Überwindung des Bösen, nach Gerechtigkeit Menschenwürde gesucht wurde und in dem stets das Scheitern an der Falschheit, der Bosheit, dem Betrug überwog“[.]145 Die Inszenierung von Cervantes Roman im Militärlager kreist um Vernunft und Irrationalität, die Phan-
142 ÄdW I, 320-330. Vgl. S. 228: „Gomez und Hodann machten sich nun daran, die von uns oft gestellten Fragen nach den Auseinandersetzungen in Spanien auf ihren Grundkonflikt zurückzuführen. Von den Sklavenaufständen an gegen die römische Herrschaft, den Revolten der Leibeignen gegen die Feudalherrn, dem Kampf der landlosen Bauern gegen die Oligarchen der Gutsbesitzer, bis zu den Kleinkriegen gegen die napoleonischen Okkupanten und die Dynastie der Carlisten hatte es in diesem Land Erhebungen gegeben, bei denen nach Lösungen gesucht wurde, die den Eigenschaften, der Lebensweise des Volks entsprachen. Mit Stöcken, Sensen und Heugabeln oder mit Schießeisen, wie es grade kam, dem Feind stets an Waffen unterlegen, doch immer mit einem Kampfwillen ausgerüstet, der an Todesverachtung grenzte, gingen die Arbeitenden gegen ihre Unterdrückter vor, ihr Stolz, ihre Empörung war ihnen genug und ließ sich nie zerschlagen von den Söldnerheeren der Granden.“ ÄdW I, S. 228f. 143 ÄdW I, S. 193. 144 ÄdW I, S. 237. 145 Ebd., S. 209.
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tasmagorien des Edelmanns, der Windmühlen zu bekämpfen sucht. Der Spanische Bürgerkrieg ist Teil des ewigen Kampfes zwischen weltfremdem Idealismus und Realismus, der auch Don Quijote darstellt. Sancho Pansa erscheint demgemäß als Inkarnation des gesunden spanischen Volkes während der Ritter Don Quijote eher als Exponent für die Anarchisten und internationale Brigadisten gedeutet werden kann. Wichtiger erscheint jedoch die Anspielung auf die menschliche Vernunft, die in Spanien über den irrationalen Idealismus triumphieren soll damit eine effiziente Gegenwehr zum Faschismus zu Stande kommen kann: den Ritter von La Mancha sahn wir auf Stelzen hüpfen und fechten, seine Kappe, dick mit Kissen ausgestopft, schien zu versuchen, ihn zur Vernunft zu bringen. Alles Weltfremde, Irrationale verkörperte der Edelmann, und Sancho Pansa die Ruhe, die Gewitztheit des Volks, dies war wieder eine Zurechtlegung, simpel vielleicht, doch einleuchtend, die Pantomime zeigte, wie immer nur ein geringer Anstoß gebraucht wurde, um einen Fehlschluß aufzuheben, sicher würde der Held aus seinen Phantasmagorien zur Einsicht in die Lage und zur effektiven Gegenwehr finden. Früher hatte er sich durch ironische Ränke, durch Verstellungen und ominöse Possen zu seinen Taten verleiten lassen, jetzt war er dem unverhohlnen Spott seines Publikums ausgesetzt, baumlang, klapprig irrte er umher, alles Traurige und Tragische wich von ihm, unter den Zurufen begann er schon zu zweifeln, mit Gewalt war es aus der Zeit der fahrenden Sänger und Träumer in die kriegerische Gegenwart gerissen worden.
146
Der Auftakt der Spanien-Episode wird in erster Person Plural erzählt und schildert den Eintritt der Widerstandskämpfer in die Stadt Albacete bei Madrid als Teil einer kollektiven Totalität. Der Wechsel der Erzählinstanz artikuliert sich im Roman zwischen „ich“ und „wir“. Auf der Vergangenheitsebene signalisiert die Erzählinstanz hier durch den Wechsel des Pronomens und zur direkten Rede die Verlagerung des Sprechens auf weitere Figuren in einem gemeinsamen Bezugsrahmen: Mit unserm Eintritt in die Stadt waren wir in eine Totalität gelangt, die alle Konflikte in sich enthalten mußte und in der die Lösung stets die bewaffnete Aktion an der Front war. Nicht mehr als einzelne nahmen wir die Erscheinungen wahr, was wir sahn, wurde ergänzt durch die Blicke viele andrer, jeder unsrer Schritte war Bewegung in einer organischen Gesamtheit. In Albacete empfingen wir die ersten Eindrücke von der Kraft, die uns lenken würde. Ehe wir weitergeleitet wurden zu unsern Bestimmungsorten, unsern Truppenteilen,
146 ÄdW I, S. 208f.
230 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT unsern Übungsplätzen, wurde unsre Vorstellung vom Kampf einer Volksarmee auf die Probe gestellt. […] Wir waren Bestandteile eines Kollektivs, doch was da an ungeordneter Vielstimmigkeit auf uns zukam, mußte erst wieder durch persönliche Erkundung in Einklang gebracht werden. Zu unserer Aufgabe würde gehören, ständig das Bewußtsein zu mobilisieren. Unsre Freiwilligkeit, die untrennbar war von unsrer Grundeinstellung, würde nach einem Verständnis der widersprüchlichen Eindrücke verlangen, nicht um Zweifel zu nähren, sondern um dem auf der Lauer liegenden Defätismus begegnen zu können.
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Wird das Kollektiv der Internationalen Brigade durchaus positiv dargestellt, werden die faschistischen Massenkundgebungen in Berlin als ein „Aufgehn im Tod“148 beschrieben, was maßgeblich zum tragischen Selbstmord der schwedischen Schriftstellerin Karin Boye beigetragen hat.149 Die internationalen Truppen werden in einem Landhaus einquartiert. Die Wahl dieses pseudo-feudalen Raumes ist durchaus verständlich. In Anlehnung an Georg Lukács, der in dem Essay Die Grablegung des alten Deutschland den Untergang der „alten“ deutschen Literatur beschreibt, sieht der Erzähler in der Einquartierung der republikanischen Truppen in das ehemalige Landhaus des Großgrundbesitzers Nieto „die Grablegung“ einer alten untergehenden sozialen Ordnung.150 Zugleich knüpft das Thema an das Leitmotiv des Romans an, die Metaphorik des Grabens. Der Großgrundbesitzer des Hauses, selbst im republikanischen Gefängnis eingeliefert, ist auf einmal zur anachronistischen Figur geworden. Denn durch die Wahl des Raumes, die die „Ablagerung“ eines feudalen Zeitalters darstellt, wird klar, dass diese Ordnung gestürzt worden ist. Diese alte Ordnung steht einer neuen Massenbewegung gegenüber, die auch in der spanischen Provinz bereits Abdrücke hinterlassen hat. So stößt der Erzähler in Alba-
147 ÄdW I, S. 203f. 148 ÄdW III, S. 40. 149 In extenso wird Boyes Besuch einer Massenkundgebung der NSDAP in Berlin von dem Erzähler wiedergegeben: „Sie [Karin Boye, G.L.] habe nicht widerstehn können, habe mit einstimmen müssen in den Jubel, habe eins werden wollen mit der Masse, und dazu habe sie nicht der Wunsch nach Leben getrieben, sondern nach dem Verschwinden im Tod. Dann das Aufgehn in der Masse, das sei wie ein Aufgehn im Tod, im Tod sammelten sich die Myriaden, aus allen Zeitaltern, nur im Tod sei das Maßlose des menschlichen Lebens zu begreifen.“ Vgl. ÄdW III, S. 40. 150 Die Wahl des Raumes „überträgt die motivische Opposition von sozialistischer und faschistischer Parteilichkeit“ und stellt somit „eine literarische Topographie des Kampfes“ dar. Vgl. Steffen Groscurth, Fluchtpunkte widerständiger Ästhetik: Zur Entstehung von Peter Weiss’ ästhetischer Theorie, S. 71.
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cete auf Wandmalereien im Stil des sozialistischen Realismus, die eine „silbergraue“ Zukunftsmetropole sowjetischen Musters mit einer Metro darstellen.151 Die geflügelten Löwen auf den Porzellanplatten, die Jungfrau von Llanos an der Hauswand, Schutzheilige von Albacete, unterm Strahlenkranz mit weißem Puppengesicht und violettem goldbesticktem Umhang, die ziselierten Gitter vor den Fenstern, die Säulen in dorischem Stil an der Vortreppe, dies alles war Ablagerung einer Zivilisation, die nichts andres mehr zu tun hatte, als ihrer eignen Grablegung beizuwohnen.
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Zur erinnerungstechnischen Positionierung im Roman gehört aber auch das Festhalten an den Schicksalen einzelner Individuen. Ein Freiheitskämpfer, dem Weiss ein Denkmal setzt, ist der Anarchist und Freiheitskämpfer Buenaventura Durruti Dumange, der 1936 bei den Kämpfen um Madrid fiel. Bereits 1972 hatte Hans Magnus Enzensberger (WDR; Buch, Regie, Produktion) durch seinen Film-Roman Durruti – Biographie einer Legende die Erinnerung an den Freiheitskämpfer der breiten bundesrepublikanischen Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Fünf Jahre später erschien Enzensbergers Collage-Roman Der kurze Sommer der Anarchie: Buenaventura Durrutis Leben und Tod. Dort rekonstruiert Enzensberger ausgehend von Broschüren, Flugblättern, Reportagen, Memoiren, Reden und Interviews mit Zeitzeugen das widersprüchliche Leben Durrutis. Das Buch, das aus acht Glossen besteht, die in die Handlung eingesprengt sind, wird zur Recherche auf den Spuren halb vergessener, halb verdrängter Kämpfe. Die Niederlage der spanischen Revolution, so Enzensberger in der siebten Glosse, hat Durruti vom Los des Nationalhelden bewahrt. Stattdessen gehört der Metallarbeiter und Anarchist der Gegen-Geschichte an: Er ist geblieben, was er immer war: ein proletarischer Held, ein Mann der Ausgebeuteten, der Unterdrückten und Verfolgten. Er gehört der Gegen-Geschichte an, die nicht im Lesebuch steht. Sein Grab liegt am Stadtrand von Barcelona, im Schatten einer Fabrik. Auf der
151 ÄdW I, S. 210: „Ein Mann mit einem Patronengurt über der Schulter und einem quer darübergehängten Gewehr, eine Frau und ein Arbeiter, alle im blaugrauen Overall, blickten, als straff stilisierte, stufenweise aufgebaute Gruppe, einer Zukunftsstadt entgegen, einer silbergrauen Metropole, durch das große M überm Eingang zur Metro an Moskau erinnernd, gipfelnd im Stern mit Hammer und Sichel am spitzen Turm.“ 152 ÄdW I, S. 213.
232 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT leeren Steinplatte findet man immer ein paar Blumen. Kein Steinmetz hat seinen Namen eingemeißelt.
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Für den Erzähler verkörpert Durruti ähnlich wie für Enzensberger den „Helden“ des Spanischen Bürgerkriegs. Er ist Stellvertreter des spanischen Volkswillens. Hodann bezeichnet ihn als gescheiten Strategen, der die militärische Lage an der Front richtig einzuschätzen weiß: Durruti, der Held der ersten Offensive, die Verkörperung des ungezähmten, von keinen Parteistreitigkeiten behelligten Volkswillens, war in den Kämpfen um die Universitätsstadt von Madrid im November Sechsunddreißig gefallen, rechtzeitig, meinten viele, um nicht ausgeschaltet zu werden wie die Führer der Marxistischen Vereinigung, zu früh, sagten andre, denn nur ihm wäre es vielleicht möglich gewesen, die Ideale der Revolution, die mitreißende Solidarität der Initialzeit mit der zentralisierten Staatsführung, dem effektiven Militärapparat zu verbinden. Hodann sagte, Durrati habe gewußt, daß seine Miliztruppen dem Gegner nicht gewachsen waren, vor seinem Tod habe er die Forderung auf eine einheitliche Militärverwaltung gestellt und die sowjetischen Waffenlieferungen begrüßt, auch 154
wenn er, seinem ganzen Wesen nach, Anarchist blieb.
Aber nicht nur an die bekannten „Helden“ des Spanischen Bürgerkriegs, auch an die Opfer der anonymen Massen der Internationalen Brigaden erinnert der IchErzähler. Stellvertretend für die zehntausend freiwilligen Freiheitskämpfer werden einige im Roman genannt, die ihr Leben für das republikanische Spanien geopfert haben. Es quält Lise Lindbaek, dass es nicht möglich ist, an jedem einzelnen Schicksal der anonymen Massen der getöteten Spanienkämpfer festzuhalten. Ergreifend ist das Schicksal Aage Larsens, dessen Vater Lindbaek auffordert, das Grab des bei der entscheidenden Schlacht um Teruel gefallenen jungen Dänen aufzusuchen. Doch dies erweist sich als unmöglich, da die Gefallenen einfach in anonymen Massengräbern bestattet wurden. Nur einzelne Namen lassen sich hervorheben, stellverstretend für die vielen, die mir an den verschiedenen Kriegsabschnitten, in den vordersten Linien, begegneten. Gleichzeitig mit Beimler kamen andre Führungskräfte der Bataillon Thälmann um, die Namen Adler, Wille, Schuster sind mir bekannt. Als Geisen beim Angriff auf Santa Quiteria verwundet wurde, fielen auch der Zugführer Preuß und der Fahnenträger der Centuria, er hieß Pukal-
153 Hans Magnus Enzensberger, Der kurze Sommer der Anarchie: Buenaventura Durrutis Leben und Tod, Frankfurt am Main 1977, S. 260. (Kursivierungen im Original). 154 ÄdW I, S. 242.
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lus, und zu ihren Nachfolgern wurden die drei dänischen Brüder Nielsen ernannt. Dies ist es, was mich quält, sagte sie, daß ich nicht mehr weiß, wer sie waren, sie alle, deren hervorragendste Eigenschaft darin bestand, daß sie für Spanien ihr Leben ließen. […] Ich hatte nach den Verlusten bei der Eroberung der Klosterhöhe gefragt, und sie hatte nach den Verlusten bei der Eroberung der Klosterhöhe gefragt, und sie hatte zu rechnen begonnen, nannte neunzehn Tote, Gummel, Wagner, Schwindling, Hirsel, Engelmann, Pfordt, Lösch, Mayer, Baumgarten, Heras, Vigier, stockte dann, wußte die Namen der andern zu nennen, sprach dann von zweiundfünfzig Verwundeten.
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Gegen die Geschichtsschreibung der Falangisten und der bürgerlichen Presse in Amerika und Europa, die den Einsatz der Internationalen Brigaden übertreibt, rückt Weiss mit seinem Sprachrohr Lindbaek die Perspektive zurecht. Die Internationale Brigade hat sich zwar maßgeblich am Bürgerkrieg beteiligt, aber aus internationaler Solidarität. Darüber hinaus besteht die überwiegende Mehrheit der republikanischen Truppen aus Spaniern, die die Lücken der gefallenen internationalen Brigadisten ersetzen: „Ebenso fälschlich aber wie die Bezichtigung einer kommunistischen Infiltration wäre es, wenn wir den Einsatz der Internationalen Brigaden verringerten. Die Hälfte von Ihnen ist in der Erde geblieben, zu deren Verteidigung sie kamen.“ 156 Am Ende des Spanien-Abschnitts evoziert Weiss erneut die antike Welt am Bespiel der antiken katalanischen Stadt Denia, wo der Erzähler und der Arzt Max Hodann in dem republikanischen Feldlazarett arbeiten. Beteiligt an der Ausgrabung der historischen Schichten des ehemaligen griechischen Stützpunkts des Sklavenhandels Denia ist die gelernte Archäologin Lotte Lindbaek.157 Früher war Denia ein kommerzieller und militärischer Stützpunkt – archäologische Ausgrabungen zeugen von der Größe und Wichtigkeit der Stadt. Mit Lindbaek als Sprachrohr beschreibt der Erzähler in einer Passage ein paar Fischkutter mit roten Segeln in Denia. Diese Schiffe, die die Romanfiguren 1938 betrachten, haben schon die griechischen Eroberer ein paar Jahrhunderte v. Chr. gesehen. Lindbaeks Beschreibung bewirkt somit eine Überblendung mehrerer Zeit- und Raumebenen zu einem einzigen, homogenen und verdichteten historischen
155 ÄdW I, S. 280f. 156 ÄdW I, S. 280. 157 Ebd., S. 314ff. Vgl. Alfons Söllner, Peter Weiss und die Deutschen, S. 207. Vgl. hierzu auch Lars Wendelius, Form och tematik i Peter Weiss‘ Motståndets Estetik (= Skrifter utgivna av Litteraturvetenskapliga institutionen i Uppsala Nr. 25), Uppsala 1991, S. 98.
234 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Raum. Die Romanfiguren tauchen bei ihren Gesprächen „so allmählich hinein in die Geschichte“:158 Die gekalkten Häuser, mit Dächern aus rotbraunen Ziegeln, drängten sich übereinander an gewundnen Gassen, im Becken, an den schmalen, zum Auslauf abbiegenden Molen, lagen Fischerboote, schwarz und weiß und blau bemalt, das rötliche Segel gerefft an der langen leicht geschwungnen schräggestellten Rah. Sie glichen noch den Booten, die den Kolonisatoren, mit ihren Trieren von der Ägäis gekommen, den Fischfang eingebracht hatten. […] Sie war im ehemaligen Phokaia gewesen, fast auf dem gleichen Breitengrad wie Denia gelegen, und ihre Erinnerung an diese ärmliche verlaßne Ortschaft, in der vor zweieinhalb Jahrtausenden emsiges Leben um die großen Werften und Handelshäuser geherrscht hatte, verband sich mit dem Panorama vor uns.
159
Der Erzähler und seine Freunde meinen sogar die Konturen der antiken Stadt langsam erkennen zu können: „Wir dachten uns das Getriebe am Kai, an den Landestegen, um die Speicher und Werkstätten. Maulesel zogen die zweirädrigen, vollbeladnen Karren herbei, über die Planken eilten die Träger hinauf zu den Schiffen, gebeugt unter den prallen geflochtnen Säcken, den schweren Kisten.“160 Dieses Oszillieren von Gegenwart und Vergangenheit, ist ein auffallendes Merkmal des Romans. Rasch vollzieht sich dann der Perspektivenwechsel von der antiken Stadt Denia zur Gegenwartsebene, wobei das kollektive Gedächtnis der Stadt in stark geraffter Form wiedergegeben wird. Dies mündet in einer Aufhebung der zeitlichen Ebenen, die nebeneinander gestellt werden: Gegen die Römer rebellierten die Bauern, Vandalen, Sueben und Alanen überfluteten während der Völkerwanderung das Land, die Westgoten ließen hier ein Königreich entstehn, vom Süden drangen die berberischen Mauren ein, arabische Kalifen errichteten ihre Herrschaft und wurden abgelöst von christlichen Königen in Kastilien, Asturien […] Neunzehnhundert Vierunddreißig erster gemeinsamer Schlag einer proletarischer Front. Welche Mühen, welche unerrechenbare Opfer, und welche Stille über den Gärten, die wir bald verlassen würden.
161
Abgesehen von einer Reise nach dem franquistischen Spanien vom 28. März bis zum 4. April 1974 zusammen mit dem spanischen Journalisten, Übersetzer und
158 ÄdW I, S. 321. 159 Ebd., S. 322. 160 ÄdW I, S. 322f., S. 325. 161 ÄdW I, S. 329f.
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Historiker Paco J. Uriz, die Weiss akribisch dokumentiert hat, war der Autor bei seinen Recherchen auf ein reichhaltiges Material über den Spanischen Bürgerkrieg gestoßen.162 Diese dokumentarische Arbeit betrifft nicht nur das Festhalten der historischen Erinnerungsräume der spanischen Widerstandskämpfer, sondern umfasst auch penible Landschaftsbeschreibungen, bis hin zu scheinbar trivialen Details, wie etwa die Theater- und Kinovorführungen, die zwischen dem 1. November und dem 2. Dezember 1937 in Albacete gezeigt wurden. Es ging Weiss bei der Konzipierung des Spanien-Abschnitts nicht nur um eine „objektive“ und genaue Beschreibung der geografischen, ökonomischen, geschichtlichen und politischen Begebenheiten in Spanien, sondern auch um eine physische Vergewisserung von synästhetischen Wahrnehmungen vor Ort, etwa den nächtlichen Geruch einer Orangenblüte. Die historische Mission der Internationalen Brigade wird an einer Stelle mit der Erschießung der Insurgenten in Madrid 1808 verglichen.163 Der Topos der zerstörten Stadt begegnet uns in der Reproduktion von Picassos Gemälde Guernica, die die Romanprotagonisten in der Zeitschrift Cahiers d’ Art betrachten164: Am 26. April 1937 bombardierte die „Legion Condor“, ein Geschwader der deutschen Luftwaffe, die baskische Stadt Guernica. Im Auftrag der republikanischen spanischen Regierung malte Pablo Picasso kurz danach sein Ölgemälde Guernica für den Pavillon der Weltausstellung in Paris 1937. Das große Gemälde von 3,50 x 7,80 Meter erregte mit seiner äußerst „expressiven, kreatürlichen und anspielungsreichen Bildsprache“ große Aufmerksamkeit.165 Seit der Fertig-
162 Vgl. NB 2, S. 278-312. Weiss benutzte mehrere Notizbücher für seine Spanienreise, und seine dokumentarische Arbeit am Ort sowie seine Reise-Erlebnisse sind in den Roman eingegangen. Vgl. hierzu Jürgen Schutte, „‚Die Phantasie auf dem Boden der Wirklichkeit‘. Eine Annäherung an den Spanienteil der Ästhetik des Widerstands“, in: PWJ 21, (2012), S. 21-46. 163 Vgl. ÄdW I, S. 340: „Immer war die Zahl derer nicht groß genug, die sich zur Wehr setzten, und hunderttausende hatten darum mit ihrem Leben zahlen müssen. Dennoch war in Spanien fortgesetzt worden, was die Insurgenten von Madrid Achtzehnhundert Dreißig, die Kommunarden und die Kämpfer des Oktober begonnen hatten“ 164 Bezeichnenderweise findet dies in dem beengten Raum der proletarischen Küche statt, wobei „der Küchenraum zum Bedeutungsgehalt des Gemäldes wie Vollzugsort von Erkenntnis wird“. Vgl. Steffen Groscurth, Fluchtpunkte widerständiger Ästhetik: Zur Entstehung von Peter Weiss’ ästhetischer Theorie, S. 73. 165 Rolf Reichardt, „Expressivität und Wiederholung: Bildsprachliche Erinnerungsstrategien in der Revolutionsgraphik nach 1789“, in: Astrid Erll, Ansgar Nünning (Hrsg.), Medien des kollektiven Gedächtnisses, S. 125-157, hier S. 126. Vgl. Karl-
236 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT stellung gehört ds Bild zu den meistreproduzierten Gemälden der Kunstgeschichte. Bereits während der Pariser Weltausstellung wurde es auf Karten kopiert und global vermarktet. Häufig wird Guernica im Rahmen öffentlicher Kundgebungen und Demonstrationen verwendet und aktualisiert, z.B. 1966 in New York gegen den Krieg in Vietnam, 1969 in Valencia gegen das FrancoRegime. Im Jahr 1977 wurde das Gemälde in Guernica selbst zum Andenken an den vierzigsten Jahrestag des faschistischen Bombardements ausgestellt. Die franquistisch gesinnten Spanier waren außerordentlich aufgebracht und wütend, als das Gemälde 1981 im Prado Madrid ausgestellt wurde, so dass man sich veranlasst fühlte, es hinter Panzerglas vor Attacken zu schützen. Darüber hinaus ist Guernica gekennzeichnet von einer geradezu „inflationären Omnipotenz“166 in den digitalen Bild- und Printmedien sowie im Internet. Bereits 1967, also vor der Niederschreibung der Ästhetik des Widerstands konstatiert deswegen Joseph Mashek im Hinblick auf die Verankerung des Gemäldes im kollektiven Bildgedächtnis Folgendes: Also, it is an over-exposed image. It is the modern Mona Lisa, and is used in the grossest ways, as an illustration for generalizations about the history and culture in books of all kinds. A photograph in New York Times Magazine a couple of years ago showed a print 167
of it, cut in half and pasted into the doors of a kitchen cabinet.
Picassos Gemälde, so der Erzähler, fügt sich in eine Erinnerungskultur ein, die von den Höhlenzeichnungen der Steinzeit bis zu Delacroix reicht. Besonders aufschlussreich erscheint ihm die „Erinnerung an Medusa“, deren Blick er sowohl im Kopf des Pferdes als auch im Gesicht des Kriegers zu erkennen glaubt. Weiss verfolgt dabei eine poetologische Strategie der Vergegenwärtigung des Geschehens im Medium der bildenden Kunst. Die „tiefer liegende“ Erkenntniskraft der Bilder, die er in seinem Lessing-Aufsatz rühmt, bildet dabei einen zen-
Josef Müller, Haltlose Reflexion: Über die Grenzen der Kunst in Peter Weiss’ Roman „Die Ästhetik des Widerstands“, S. 79. Zur Beschreibung von Picassos Guernica im Roman siehe u.a. Kurt Oesterle, Das mythische Muster: Untersuchungen zu Peter Weiss’ Grundlegung einer Ästhetik des Widerstands, Tübingen 1989, S. 137168 sowie Michael Hofmann, Ästhetische Erfahrung in der historischen Krise, S. 46-78. 166 Ebd. 167 Zitat nach Reichardt, „Expressivität und Wiederholung: Bildsprachliche Erinnerungsstrategien in der Revolutionsgraphik nach 1789“, in: Astrid Erll, Ansgar Nünning (Hrsg.), Medien des kollektiven Gedächtnisses, S. 127.
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tralen, wenn auch nur ersten Schritt „auf dem Weg der Aneignung von Erinnerung“.168 Aufschlussreich ist dabei folgendes Zitat aus dem dritten Band des Romans: „Die Kunst […] zu den mnestischen Funktionen gehöre sie, die im Hirn, in den Zentren Orientierung, alles Vernommne bewahren und es uns, auf Nervenreize hin, zugänglich machen, ohne daß je, beim Sezieren, Spuren dieser aus Erinnerungen bestehenden Denkfähigkeiten entdeckt worden wäre.“169 Die Ekphrasis des Gemäldes wird dann abgelöst von der Thematisierung des kulturellen Gedächtnisses, mit dem der Erzähler Guernica verknüpft. Raum und Erinnerung sind eng aufeinander bezogen auf dem Bild, in dem das „apokalyptische Geschehn“ in einem „langgestreckten kargen Raum“ stattfindet. Die Ikonographie des Gemäldes verknüpften die Romanfiguren mit der westlichen Kunstgeschichte von Pièta des Mantegna und des Meisters von Avignon, bis zur Apokalypse des Beatus von Liebana und den Höhlenzeichnungen der Steinzeit: Ohne die Erscheinung noch ganz zu begreifen, sahn wir, was in Spanien geschah. Gehämmert zu einer Sprache von wenigen Zeichen, enthielt das Bild Zerschmettrung und Erneurung, Verzweiflung und Hoffnung. Die Körper waren nackt, zusammengeschlagen und deformiert von den Kräften, die auf sie einbrachen. […] Dies waren andeutungsweise die ersten Züge des Bilds, die sich erkennen ließen, gleich aber wieder anders ausgelegt werden konnten, jede Einzelheit war vieldeutig, wie die Bausteine der Poesie. War die Geste der zur Mitte geneigten Frau nicht eher demütig, fragten wir uns, drückten die flatternden Hände in ihrer Leere nicht aus, daß sie eben einen Toten hingelegt hatten, und erinnerten die ausgebreiteten abgehackten Arme nicht an die Haltung dessen, der vom Kreuz gehoben war. […] Männliches und Weibliches ging in einander über, da war Erinnerung an Medusa, aus deren Leib Pegasus sprang. Ihr schauerliches Gesicht mit dem versteinernden Blick war sowohl im Kopf des Pferds als auch in dem des Kriegers zu erkennen. Sich abwendend von der Gorgo, nur in einem Spiegel ihr fratzenhaftes Anlitz auffangend, hatte Perseus sie getötet, und dieses Ausweichen war auch Picasso zu eigen. Die angreifende Gewalt blieb unsichtbar in seinem Bild, nur die Überwältigung war da, nur die Betroffnen zeigten sich. Entblößt, schutzlos waren sie dem nicht sichtbaren Feind ausgesetzt, dessen Stärke sich ins Unermeßliche wuchs. Perseus, Dante, Picasso blieben heil und überlieferten, was ihr Spiegel aufgefangen hatte, das Haupt der Medusa, die Kreise des Inferno, das Zersprengen Guernicas. […] Bis zu Pièta des Mantegna und des Meisters von Avignon, bis zur Apokalypse des Beatus von Liebana und den Höhlenzeichnungen der
168 Bettina Bannasch, „Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands“, in: Bettina Bannasch, Christiane Holm (Hrsg.), Erinnern und Erzählen: Der spanische Bürgerkrieg in der deutschen und spanischen Literatur und in den Bildmedien, S. 480. 169 ÄdW III, S. 134.
238 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Steinzeit führte Picassos Werk zurück. […] Wie Guernica war auch die Barrikade von Delacroix, mit der Gestalt der Freiheit, nach dem Pyramidenmuster komponiert, in dem 170
sich das Aufgewühlte als gebändigte Einheit darstellte.
In Cueva la Potita begegnet der Ich-Erzähler einer spanischen Bauernfamilie, die republikanisch gesinnt ist. Hier erfährt er den eigentlichen Grund des Kampfes gegen den Faschismus. Gemeinsam mit seinem Freund und Mentor Hodann sieht er zu, wie der Sohn der Familie eine letzte Mahlzeit einnimmt, bevor er zur Front geschickt wird, wo ihn ein unsicheres Schicksal erwartet. Der Besuch beeindruckt den Erzähler sehr, nicht zuletzt die Küche erinnert ihn an sein Berliner Domizil: Nicht etwas Fremdartiges hatte der Besuch im Gehöft wachgerufen, vielmehr Bekanntes anklingen lassen. Der Kreis um den Tisch erinnerte mich an den Raum, in dem ich, von Kindheit an, zu Hause war, so hatten wir auch immer gesessen, in der Nähe des Herds, auf hölzernen Stühlen. In der Wohnküche der Bauern hatte sich meine Zusammengehörigkeit mit dem Land mehr gefestigt als während der Monate im Herrensitz in Cueva, wo ständig 171
das Wirken einer andern Klasse gegenwärtig war.
Die mögliche Schaffung einer Einheit zwischen Kommunisten und Anarchisten im Kampf gegen den Faschismus wird nicht durch diskursives Denken in politischen Theorien erfahrbar, sondern durch sinnliches Erleben des Vertrauten. Die Vertrautheit, die die Küche beim Erzähler auslöst, hilft ihm auch, seine politische Entwurzelung zu überbrücken und eine existentielle Vertrautheit mit dem Kampf der spanischen Republikaner zu gewinnen. Aus der Perspektive des republikanischen Spanienkämpfers Ignacio Gallego, der auf dem Weg zur Sowjetunion über Schweden ist, werden im StockholmerAbschnitt noch die Bilder des Schreckens evoziert. Gallego berichtet, wie er Zeuge der faschistischen Gräueltaten geworden ist, von zerschossenen Städten, plündernden faschistischen Truppen und Haufen von erschossenen Soldaten und Zivilisten: Durchs Fenster der Ambulanz sahn sie die zerschoßnen Städte, die Ströme der Flüchtlinge, die italienischen Tanks, die plündernden faschistischen Truppen. Einmal fuhren sie langsam vorbei an einem Zug gefangner republikanischer Soldaten. In einem brennenden Dorf lief ein kleines Kind immer im Kreis. Gehenkte am Ast eines Baums. Ein Haufen
170 ÄdW I, S. 332f., S. 339, S. 341. 171 Ebd., S. 268.
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Arkebusierter auf offenem Feld. Zusammengedrängt lagen sie in dem durchschüttelten 172
Wagen. Am Rand eines Feldweges Halt.
Die Bilder, die hier evoziert werden – ein brennendes Dorf mit einem Kind, das davonläuft – erinnern an die zeitgenössischen Fotos vom Vietnam-Krieg, laut Weiss „das / Spanien / unseres Jahrzehnts.“173
4.4 Z USAMMENFASSUNG „Das Vergangene ist nicht tot. Es ist nicht einmal vergangen.“174 Dieses Faulkner-Zitat, mit dem Christa Wolfs Roman Kindheitsmuster beginnt, könnte beispielhaft für die Poetik der Vergegenwärtigung der Vergangenheit im Pariser Abschnitt der Ästhetik des Widerstands gelesen werden. Weiss’ Vergegenwärtigung des Erinnerungsraumes Paris zielt auf eine penible Rekonstruktion einzelner Plätze und Häuser, wie etwa die Beschreibung des Ateliers Géricaults, des Bateau Lavoir und des Eckhauses Jean Paul Marats, das der Erzähler sich mittels einer Photographie vergegenwärtigt. Sein Haus wird mit den Augen der Zeitgenossen Marats vergegenwärtigt: „Durch die Augen, die seit Jahrhunderten betrachtet, die Hände, die betastet hatten, war ihr Äußeres empfindsam geworden wie eine Haut, und von den Atemzügen der Generationen war ihr Inneres gefüllt.“175 Wie so viele andere Gebäude fiel dieses Haus der Haussmannschen Umgestaltung des Stadtkerns zum Opfer. Das Haussmmannsche Paris wirkt mit seiner royalistischen Erinnerungskultur zwar respekteinflößend, aber es ist Montmartre, wo laut dem Erzähler „das Herz“ der Stadt zu finden ist. Hier hat sich das revolutionäre Geschehen 1871 ereignet, wobei dieser Stadtteil der letzte Zufluchtsort der verzweifelten Kommunarden war. Vergegenwärtigt wird im Erinnerungsraum Paris das revolutionäre Ereignis, als die Vendôme-Säule als Paradebesispiel der Napoleonischen Erinnerungskultur u.a. von Gustave Courbet abmontiert wurde. Zu dieser Beschreibungstechnik gehört auch die penible Rekonstruktion von Lenins Zürcher Wohnung an der Spiegelgasse, wo sich auf engstem Raum sowohl die geträumte Revolution der Dadaisten als auch die wa-
172 ÄdW II, S. 156. 173 Zitiert nach Rüdiger Sareika, „Peter Weiss’ Engagement für die ‚Dritte Welt‘: Lusitanischer Popanz und Viet Nam Diskurs“, in: Rainer Gerlach (Hrsg.), Peter Weiss, Frankfurt am Main 1984, S. 249-267, hier S. 252. 174 Christa Wolf, Kindheitsmuster, S. 9. 175 ÄdW II, S. 70.
240 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT che russische Revolution ereignete. Der Erinnerungsraum erscheint hier als Palimpsest, wobei berichtet wird, dass auch Büchner und Goethe hier gewohnt haben. Dabei bedient sich der Erzähler eines räumlichen Gedächtnismodells der rhetorischen Memoria-Tradition, die von der Bildfindung im Raum ausgeht. Zudiesem Zweck werden Inhalte in Bilder (imagines) gefasst, die an verschiedenen Orten (loci) innerhalb des Gedächtnisraumes miteinander verknüpft werden. Zeichnet sich die Ästhetik des Widerstands durch eine Vergegenwärtigung der Vergangenheit aus, stellt Fluchtpunkt eine Problematisierung des Erinnerungsaktes, vor allem in den explizierten Erinnerungsdiskursen, dar. In Anlehnung an Prousts Unterscheidung zwischen willkürlicher und unwillkürlicher Erinnerung (mémoire volontaire, mémoire involontaire) thematisiert Weiss in Fluchtpunkt ähnlich wie etwa Uwe Johnson in Jahrestage das Problem der Vergegenwärtigung des Erinnerten. In Meine Ortschaft scheitert ebenso das Vergegenwärtigen der Shoah, der Erzähler steht dort „zwischen den fossilen Mauern, höre keine Stiefelschritte, kein Stöhnen und Wimmern.“176 Das Motiv des Grabens stellt eine wichtige Denkfigur im Werk von Peter Weiss dar. Bereits im bildkünstlerschen Werk und in Abschied von den Eltern wird das Freischaufeln historischer Schichten thematisiert. In der Ästhetik des Widerstands wird dieses Motiv in der geschichtsträchtigen Stadt Paris immer wieder aufgegriffen, wo jeder Schritt des Erzählers ein „Knirschen“ und „Bersten“ von den dicht ineinander verschobenen historischen Ablagerungen hervorruft. Damit wird ein wichtiges Thema angesprochen, nämlich die Stadt Paris als Buch, die aus unendlich vielen Seiten besteht. Die Stadt wird hier zum Buch, welches durch das Medium des Flaneurs dekodiert bzw. entziffert wird. Dies wird u.a. in der surrealistischen Passage als Vincent van Goghs bohemisches Künstlerviertel Montmartre rekonstruiert wird, deutlich. Die etwas überraschend eingefügte Textstelle zeichnet sich durch eine Überschneidung mehrerer Zeitebenen aus und bietet einen Einblick in die Kunstszene Montmartres und in den Mythos Paris. Die Passage zeichnet sich durch eine Ästhetisierung der Außenwelt aus, die vom Erzähler wie ein Kunstwerk wahrgenommen wird. Ein anderer Pariser Mythos, den Weiss aufgreift, ist der von Paris als der „Hauptstadt der Moderne“. Im Bilderarsenal des Louvre-Museums sieht der Erzähler Géricaults Gemälde Das Floß der Medusa zum ersten Mal im Original. Das Todessujet dieses Bildes erinnert an das Bedrohliche und Gefährliche der Großstadt, was der Erzähler am eigenen Leib erfährt, als er im Zug nach Stockholm von seiner Mutter träumt. In einer Ortlosigkeit, die auch Géricaults Medusa-Gemälde kennzeichnet, wird sie im Traum von einer Menschenmasse bedroht und gezwungen,
176 Ebd., S. 120. Vgl. Jochen Vogt, Peter Weiss, S. 91.
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ein Schild mit dem Titel „Jidd“ zu tragen. Diese unterschwellige Erinnerung an die Shoah ist ein Thema, auf das Weiss im Roman immer wieder implizit anspielt. Der Spanische Bürgerkrieg war für Weiss’ Generation das Pendant zum Vietnam-Krieg der 68er-Generation. Der Spanien-Abschnitt stellt eine Aneignung und Aufarbeitung von Geschichte dar und richtet sich implizit gegen eine profranquistische Geschichtsschreibung in der BRD. Die erzählerische Thematisierung von Geschichte schlägt sich hier wie im Rest des Romans in der Vergegenwärtigung von Vergangenheit nieder: Ein Beispiel dieser peniblen Kleinarbeit bietet ein scheinbar unbedeutendes Detail, etwa die Marke des Rundfunks der Brigadisten, Telefunken. Dass der Ich-Erzähler im Gegensatz zum Autor an diesem Krieg teilnimmt, ist angesichts des Stichworts „Wunschautobiographie“ durchaus verständlich. In Spanien gelangt der Erzähler „in eine Totalität […], die alle Konflikte in sich enthalten mußte und in der die Lösung stets die bewaffnete Aktion an der Front war.“ Im Zentrum der Bildanalyse steht das omnipräsente Gemälde Guernica von Picasso, worauf die Romanfiguren als Reproduktion in einem Kunstbuch stoßen.
5. Kapitel: Berlin: Einblicke in den Abgrund
Geboren in Nowawes bei Potsdam an der Bahnstrecke nach Berlin blieb die deutsche Metropole auch nach ihrer endgültigen Teilung 1961 die biographische und sprachliche Heimat von Peter Weiss. Bereits 1930 zog Weiss’ Familie von Bremen nach Berlin, wo sich die Familie in dem bürgerlichen Westteil in der Preußenstraße 42 niederließ. Hier besuchte Weiss das Kleist-Gymnasium in Berlin-Schmargendorf und suchte durch seine ersten Malversuche – Selbstporträts und Straßenszenerien – in der Kunst ein Refugium. Eugen Weiss war hellsichtig genug, die Gefahr, die die Machtübernahme Hitlers bedeutete, zu erkennen und plante bereits 1933 die Emigration seiner Familie. Doch die entscheidende Umwälzung kam im August 1934, als Weiss’ Schwester Margit am Bahnhof Heerstraße von einem Auto überfahren wurde und im Alter von dreizehn Jahren starb.1 Kurz nach diesem traumatischen Ereignis ging die Familie ins englische, tschechische und schließlich ins schwedische Exil. Es würde über dreizehn Jahre dauern, bis der Autor Berlin wiedersah, diesmal als Kriegsreporter für die schwedische Zeitung Stockholms-Tidningen. Neben Berlin gehörte Dresden zu den deutschen Städten, die die schwersten Kriegszerstörungen hinnehmen musste. Das Kriegstrauma, der Holocaust und die Vernichtung der deutschen Städte waren Themen, die zu Zeiten des Wirtschaftswunders in Deutschland verdrängt wurden. Die Erfahrungen des Abgründigen, der Bodenlosigkeit der menschlichen Existenz blieben im Hintergrund des wirtschaftlichen Aufschwungs verborgen. Die alliierten Bomben schienen die Zerstörung des Stadtzentrums, die Albert Speer und die NS-Stadtarchitekten planten, vorwegzunehmen. Die Zerstörung Berlins war nicht nur physisch, sondern bezog sich auch auf das kulturelle Leben der Stadt: Der kulturelle Niedergang Berlins veranlasste beispielsweise Gottfried Benn Mitte der 1950er Jahre, die ehemalige Hauptstadt mit der unter Sand versunkenen Stadt Palmyra zu ver-
1
NB 2, S. 427.
244 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT gleichen: „Westdeutschland geht kulturell daran zugrunde, daß es Berlin nicht mehr gibt. […] Berlin ist überhaupt kein Begriff mehr, es ist unbekannt, vergessen, im märkischen Sand versunken wie Palmyra in der Wüste.“2 Denn „Berlin“ gab es nach der Teilung der beiden deutschen Staaten nicht, wie Uwe Johnson nach dem Bau der Berliner Mauer 1961 treffend feststellte: Es gibt nicht: Berlin. Es sind zwei Städte Berlin, die nach der bebauten Fläche und der Einwohnerzahl vergleichbar sind. Berlin zu sagen ist vage und vielmehr eine politische Forderung, wie die östliche und die westliche Staatenkoalition sie seit einiger Zeit aufstellen, indem sie der von ihnen beeinflußten Hälfte den Namen des ganzen Gebietes geben 3
als sei die andere nicht vorhanden oder bereits in der eigenen enthalten.
Die Rolle als kulturelle Metropole, die die Stadt in den 1920er Jahren einnahm, verlor Berlin trotz Zerstörung und Teilung jedoch nicht: Bertolt Brecht, Uwe Johnson, Günter Grass, Christa Wolf, Peter Schneider und Günter Born sind nur einige Beispiele der Autoren, die nach 1945 in Berlin wirksam waren. In Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus (1980) schildert Günter Grass das intellektuelle Milieu der Stadt in den 1970er Jahren durch Autorentreffen in Osterberlin, ein Milieu, das auch Peter Weiss zu schätzen wusste.4 In der geteilten Stadt wohnte Weiss gelegentlich in Westberlin, „in dem großen, gespenstischen Atelier der Akademie der Künste“ am Hanseatenweg.5 Als Vermittler zwischen der DDR und der BRD – Weiss war Mitglied im Vorstand der Freundschaftsgesellschaft Schweden-DDR – weilte er aber häufig auch in Ostberlin, zu dem er freilich kein unkompliziertes Verhältnis hatte. Nicht nur aufgrund seiner kompromisslosen Verteidigung von Wolf Biermann und seinem Plädoyer für die künstlerische Freiheit im Sozialismus, sondern vor allem wegen seines Dramas Trotzki im Exil (1970), war Peter Weiss dem SED-Regime ein Dorn im Auge.
2
Gottfried Benn, „Berlin zwischen Ost und West“, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 4: Autobiograhische und vermische Schriften, Wiesbaden [u.a.] 1977, S. 350-52. Vgl. Keith Bullivant, „The Divided City“: Berlin in Post-War German Literature“, in: Derek Glass, Dietmar Rösler und John J. White, (Hrsg.), Berlin. Literary Images of a City: Eine Großstadt im Spiegel der Literatur, Berlin 1989, S. 168.
3 4
Uwe Johnson, Berliner Sachen: Aufsätze, Frankfurt am Main 1975, S. 9. Keith Bullivant, „The Divided City“: Berlin in Post-War German Literature“. In: Derek Glass, Dietmar Rösler und John J. White, (Hrsg.), Berlin. Literary Images of a City: Eine Großstadt im Spiegel der Literatur, Berlin 1989, S. 166, S. 170.
5
NB 2, S. 16.
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Nach der Uraufführung seines Trotzki-Dramas wurde dem Autor im Oktober 1971 am Bahnhof Friedrichstraße die Einreise nach Ostberlin verweigert.6 Für Weiss war Berlin der Ort des Faschismus, des Krieges und der Teilung Europas. Es ist kein Zufall, dass die Ästhetik des Widerstands u.a. in Berlin spielt. Denn abgesehen von den autobiographischen Aspekten, sind im Lande der „Täter“ die Städte, allen voran Berlin, „ein einzigartiges Erinnerungsdepot“.7 Bevor die Schilderung des Erinnerungsorts Berlin in der Ästhetik des Widerstands behandelt wird, scheint es zunächst angebracht, auf Weiss’ frühe Darstellung des zerstörten Berlin in Die Besiegten einzugehen.
5.1 D IE
ZERSTÖRTE
S TADT : D IE B ESIEGTEN
Das zerstörte Berlin war der erste Ort, den Weiss im besiegten Deutschland nach einer Diaspora von dreizehn Jahren 1947 besuchte. Im Auftrag der schwedischen Zeitung Stockholms-Tidningen schrieb Weiss sieben Reportagen über das Leben im zerstörten Berlin, die portionsweise veröffentlicht wurden. Die Berliner Reportagen-Serie mündete in dem Prosastück Die Besiegten. Der Text, der 1948 auf Schwedisch unter dem Titel De Besegrade erschien, hat einen fragmentarischen Charakter, der an Tagebucheinträge erinnert. Schauplatz ist die „zerklüftete, verworrene Steinlandschaft“, die „zerstörte Stadt der Vergangenheit“.8 Hier schildert Weiss aus der Sicht eines unbekannten Ich-Erzählers eine Nekropole, die auf einen quasi vorzivilisatorischen Zustand herabgesunken ist.9 Der Text
6 7
Ebd., S. 24. Bogdan, Bogdanovic, Die Stadt und der Tod. Essays, Klagenfurt, Salzburg 1993, S. 22. Vgl. Aleida Assmann, Erinnerungsräume, S. 334.
8 9
W, Bd. 1, S. 55, S. 58. Der Topos der zerstörten Stadt begegnet uns schon in Weiss’ frühem Prosastück Von Insel zu Insel (1947). Dort begegnet der Ich-Erzähler einer Nekropole, die verlassen und zerstört ist. Sogar die Bäume sind zerstört, Baumskelette liegen verstreut zwischen den mit lehmigem Wasser gefüllten Kratern. Der Erzähler läuft einen ganzen Tag durch die Verwüstung, ohne einen einzigen Menschen zu treffen. Die Stadt erscheint hier wie in Den Besiegten als eine Nekropole, doch mit dem Unterschied, dass alle Menschen diesen Platz bereits verlassen haben: „Gegen Abend erschien am Horizont eine große Stadt, als ich hinkam, sah ich, daß die Bewohner sie verlassen hatten. Aber alles war noch so, als wäre es eben erst geschehen. Autos und Busse parkten am Straßenrand oder mitten auf der Straße; die Türen standen offen, Koffer, Mäntel und Hüte waren ringsum verstreut. Zeitungsblätter trieben in den Wind. Ich blieb und be-
246 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT besteht aus zahlreichen Prosa-Miniaturen, die von wechselnder Perspektive aus die Jahrhundertkatastrophe schildern. Zunächst scheint die Nähe des ErzählerIchs zu Peter Weiss unübersehbar, etwa wenn der Erzähler die Stadt seiner Kindheit zu evozieren versucht oder auf dem Friedhof das Grab seiner Schwester sucht. Aber das Ich verwandelt sich von Abschnitt zu Abschnitt: Es ist mal ein deutscher Soldat, mal ein Besatzungsoffizier, ein Mitglied des Widerstands, ein Überlebender, der sich an die Vorkriegs-Idylle erinnert, ein Vergewaltigter und ein ausgebombtes Haus. Die Besiegten stellt ein „komplexes literarisches Gebilde“10 dar und gehört zu den frühen Texten der Nachkriegsjahre – hierzu gehören beispielsweise auch Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür (1947), Paul Celans Todesfuge (1945) und Arno Schmidts Schwarze Spiegel (1951) – die gekennzeichnet sind von der Berührung „mit dem absoluten Nichts“ und die sich mit den traumatischen Themen Genozid, Bombenkrieg und der nuklearen Auslöschung befassen.11 Ähnlich wie Draußen vor der Tür ist Die Besiegten ein allegorischer Stadttext: Eine Allegorie des Verfalls, des Untergangs und der Hoffnungslosigkeit im besiegten Deutschland der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die Zerstörung der Stadt bezieht sich auf die gesamte Kultur: „Gleichzeitig folgte ich den tiefsten Dimensionen des Untergangs: nicht der Zerstörung der Städte, sondern der Zerstörung des Geistes. Der Geist, der die Städte erbaut hatte und die Kathedralen, ist zerstört worden, die Musik und die Dichtung sind in Trümmer gegangen.“12 In Die Besiegten interessiert sich der Ich-Erzähler vor allem für das Ruinöse, das ihn zugleich anzieht als auch abschreckt. Für Viele der Nachkriegsgeneration war die Stadt synonym mit Trümmern, so auch für den Erzähler. Die Buchmetapher wird hier von Weiss aufgegriffen. Berlin ist ein Buch, das nicht mehr „entziffert“ werden kann, da die Buchstaben gelöscht worden sind: „Der Weg führt durch eine Welt, deren einzig denkbare Ganzheit sich zusammenfügt von Trümmern, Trümmern aus verschiedenartigem Material, schwer zu entziffern; […] Wer bin ich in der dunklen Tyrannei dieser Steinwelt?“13 Es handelt sich
saß Paläste, Villen, Museen, Schatzkammern, große schweigende Maschinenhallen, doch nichts von all dem hielt mich. Ich ging durch das lastende Schweigen, die angstvolle Verlassenheit.“ (W, Bd. 1, S. 35.) 10 Vgl. Robert Cohen, Peter Weiss in seiner Zeit: Leben und Werk, S. 63. 11 Zu diesem literarischen Topos siehe Götz Grossklaus, „Das zerstörte Gesicht der Städte“, in: Andreas Böhn, Christine Mielke (Hrsg.), Die zerstörte Stadt, S. 109-111. Vgl. W, Bd. 1, S. 55, S. 86. 12 W, Bd. 1, S. 55, S. 86. 13 Ebd., S. 121.
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hier um eine Ästhetisierung des Ruinösen und des Schreckens: „zerrissene Pferde, die großen blutigen Köpfe emporgewandt in einem stummen Schrei“, in ausgebombten Häusern ertönt „die Flöte des Windes kristallen unterm Dach“, auf dem Friedhof „siedet“ aus jedem Kreuz „eine weiße Flamme heraus, die sich ins blauweiße Lichtermeer des Himmels schweißt.“14 Mit schwarzer Ironie vergleicht der Erzähler die Ruinen der zerbombten Stadt mit den „erhabenen“ Ruinen Hellas.15 Die sich durch die Erzählung hindurchziehende Körpermetaphorik – „jungfräuliche Körper“, „ehrwürdige Leichen“, „stolze Brüste“ – finden sich auch bei anderen zeitgenössischen Augenzeugen und Berichterstattern wieder.16 Komm und besichtige unsere schöne Stadt. Unter den Ruinen findest du alle Stilarten. Manche streben empor in schmaler kühner Gotik, andere winden sich in schwerfälliggraziösem Barock, manche stehen unbeholfen in einem aufgewärmten Jugendstil. Die prunkenden protzenden alten Paläste sind durch ihre Verwundung cäsarisch geworden, ihre umgestürzten, von reicher Ornamentik geschmückten Säulen haben sich durch ihre Zerstörung den Nimbus von Hellas erworben. Und ihre Skulpturen, die einmal eitel und hochmütig über ihre Brunnen und Altane herrschten, liegen wie antike, ehrwürdige Leichen mitten unter Autowracks auf Steinhügeln. Gewehrkugeln haben die stolzen Brüste der Göttinnen gestreichelt, Granaten haben die Münder und Stirnen geküßt, die Lohen der Flammenwerfer haben ihre jungfräulichen Körper umarmt, die Leidenschaft der Explosio17
nen hat ihre Kleider zu Fetzen gerissen.
14 Vgl. Robert Cohen, Peter Weiss in seiner Zeit, S. 64. 15 Eine ähnliche Ästhetisierung der Ruinen begegnet uns in Wolfgang Koeppens Roman Tauben im Gras (1951), in welchem die Trümmer Münchens beschrieben werden: „Auf der Straße lag damals noch der Schutt der zerbombten Gebäude. Der Wind wehte Staub auf. Die Ruinen waren wie ein Totenfeld, außerhalb jeder Wirklichkeit des Abends, waren Pompeji, Herkulaneum, Troja, versunkene Welt.“ Vgl. Wolfgang Koeppen: Drei Romane: Tauben im Gras, Das Treibhaus, Der Tod in Rom, Frankfurt am Main 1972, S. 47. Zum Topos der Ruinenästhetisierung in der Nachkriegsliteratur, siehe auch Götz Grossklaus, „Das zerstörte Gesicht der Städte“, in: Andreas Böhn, Christine Mielke (Hrsg.), Die zerstörte Stadt, S. 109-111. 16 Beispielsweise schreibt der schwedische Autor Stig Dagerman in seiner Reportagesammlung Tysk Höst (1946, dt.: Deutscher Herbst) von dem zerstörten „Gesicht“ und dem gequälten „Körper“ der zerstörten deutschen Städte. Vgl. hierzu Claudia Pinkas. „Trümmermosaike: Zerstörte Städte in den Zeitungen und Zeitschriften der Nachkriegszeit 1945-1948“, in: Andreas Böhn, Christine Mielke (Hrsg.), Die zerstörte Stadt, S. 204. 17 W, Bd. 1, S. 55, S. 61.
248 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Diese Ästhetisierung des Ruinösen, die Wahrnehmung und Darstellung der Trümmer greift bewusst auf tradierte Motive der Ruinenikonographie des 18. Jahrhunderts zurück und reproduziert einen bestimmten Diskurs der Ästhetisierung der Trümmer im Nachkriegsdeutschland: So schrieb Eberhard Hempel in der Zeitschrift für Kunst 1948 von einer „Ruinenschönheit“ angesichts der noch existierenden Trümmer in den Städten.18 Durch die Doppelperspektive Vergangenheit-Gegenwart wird eine Spannung erzeugt: Der Ruinenwelt der Gegenwart steht die Erinnerung des Erzählers an die heile Stadt seiner Kindheit und Jugend entgegen. Auf dem Weg zu dem Haus, in dem er aufwuchs und seine Jugend verbrachte, sieht der Erzähler die Ruine einer Kirche. Es stehen nur noch die Türme, die Mauer und das Dach sind „aufgeschlitzt wie Fleisch und Muskelgewebe bei einem Obduzierten.“19 Das Sujet erinnert zudem an Weiss’ Ölgemälde Obduktion (1944) und an das Temperagemälde Anatomie (1946). Vor seinem ausgebombten Elternhaus, wo nur das „Gerippe“ des Hauses steht, evoziert der Erzähler die Aura seiner Kindheit. Die Mnemotechnik, die bei der Rekonstruktion des Inneren des ausgebombten Haus benutzt wird, erinnert an das Verfahren in der Ästhetik des Widerstands. Durch Erinnerungsbilder wird das alte Wohnzimmer beschrieben: „Ich gehe um das Gerippe des Hauses. Aber gleichzeitig bewege ich mich frei in seinem Innern. Die Tapeten sind noch da. Manche Ecken sind in den Dämmernebel des Vergessens gehüllt, manche sind beleuchtet vom Scheinwerfer der Erinnerung.“20 Hier erscheint die Stadt als Erinnerungsraum des Erlebten. Diese Poetik der Erinnerung, des Evozierens des Vergangenen ist eine Technik, die später in der Ästhetik des Widerstands benutzt wird. In einem Prosaabschnitt ist der Erzähler ein ausgebombtes Haus, dessen Trümmer verstreut herumliegen. Mittels kühner Wortneuschöpfungen wie „Augenfester“ wird das Haus anthropomorphisierend mittels einer Körpermetaphorik beschrieben: Mein Dach ist weggerissen von den Granaten, eine Mine hat meinen Grund gesprengt. Mein Inneres ist ausgeräuchert von den Brandbomben. Meine Augenfenster sind einge-
18 Vgl. Silke Arnold-de Simine, „Die Konstanz der Ruine. Zur Rezeption traditioneller ästhetischer Funktionen der Ruine in städtischer Baugeschichte und im Trümmerfilm nach 1945“, in: Andreas Böhn, Christine Mielke (Hrsg.), Die zerstörte Stadt, S. 259. 19 Vgl. die Abbildungen hierzu in: Der Maler Peter Weiss: Bilder, Zeichnungen, Collagen, Filme, S. 197, S. 199. 20 W, Bd. 1, S. 66.
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drückt vom Luftdruck. Entblößt hängen meine Nervenstränge herab, schmerzhaft abgenutzt vom rauhen Wind. […] Rings um mich herum liegen meine Trümmer: Steinstücke, Eisenzakken, Holzsplitter. Meine Gedanken steigern sich wie eine Treppe hinauf ins 21
Nichts.
Die Abneigung gegenüber Menschenmassen und Technik sind Themen, mit denen sich der Maler Weiss häufig beschäftigt hat, z.B. in seinem Öl-Diptychon Menschen in der Straßenbahn, das bereits während seiner Berliner Zeit 1934 entstand.22 Die Gemälde stellen jeweils vier Figuren dar, die nebeneinander sitzen und abgestumpft oder teilnahmslos blicken. Zwei Ausnahmen bilden eine Prostituierte, die mit bunt bemalten Lippen den Betrachter herausfordernd fixiert und der Junge auf der zweiten Tafel, ein Selbstporträt von Weiss. Die Farbskala der beiden Gemälde ist matt, ziemlich dunkel und unterstreicht die monotone Stimmung des Ganzen.23 In Die Besiegten wird erneut das Motiv der Straßenbahnfahrt aufgegriffen. Hier wird der Körpergeruch der Fahrgäste in dem schwülen Waggon beschrieben, der bei dem Erzähler-Ich ein Gefühl von Ekel erregt: Die Straßenbahnen mit ihren zugenagelten Fenstern sind wie klappernde Särge. Wo kommen diese Menschen her, was haben sie hier zu tun? Warum müssen wir unsere schweißigen Körper zu einem einzelnen Haufen zusammenkleben? Wie es stinkt. (Es sind vor allem die Füße; dieses säuerliche Gemisch aus Schmutz und Schweiß. Dann der Schweiß in den Achselhöhlen, männlich herb und weiblich süß. Dann der Geruch der Frauenbrüste. Der scharfe Geruch der Geschlechtsteile. Die nie gewaschene Unterwäsche. Die Urin- und Exkrementflecken. Schlechter Atem. Jemand rülpst, jemand hustet, und die verbrauchte, schlechte Luft breitet sich zwischen uns aus. Und der Staub riecht, die Kleider riechen, die Straßenbahn riecht. Es riecht, als liege ein toter Hund unter einer der Bänke und verwe24
se.)
21 Ebd., S. 63. 22 Auch die negative Einstellung gegenüber der Technik in Die Besiegten erinnert thematisch an manche Gemälde des Bildkünstlers Peter Weiss, z.B. Die Maschinen greifen die Menschen an (1935), das während dessen Londoner Zeit entstand: „Ich hasse dich, Zeitgeist, da wo du in deinem großen Palast mit den überdimensionierten Bildern deiner Maschinensäle und Kasernen prahlst. Ich hasse dich, Stahlgott mit dem kalten Blick, Herrscher über Turbinenhallen und Exerzierplätze.“ W, Bd. 1, S. 115. 23 Vgl. Arnd Beise, Peter Weiss, S. 23-25. 24 W, Bd. 1, S. 75.
250 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Die Reise in die Stadt bietet für den Ich-Erzähler keine Fluchtmöglichkeit: Seine Begegnung mit der Stadt ist eine Begegnung mit der trostlosen Zone des Verfalls, der Ruinen und Höhlen, in welchen die Menschen „geschichtslos“ und erinnerungslos, gefangen in absurd-zirkulären Verrichtungen, sinnlos dahinvegetieren. In Die Besiegten wird ein totaler Identitäts- und Erinnerungsverlust thematisiert, der sich darin äußert, dass alle Spuren des Menschlichen verschwunden sind. Die Stadt fällt in ein vorzivilisatorischens Stadium „Wüstenei“ zurück. Die Zertrümmerung des Raums entspricht der inneren Zertrümmerung des geschichtlichen Sinns. Der Text steht beispielhaft für den Untergang der deutschen Städte bis zum Kriegsende und die Auslöschung des kollektiven Gedächtnisses, „das sich innerhalb eines räumlichen Rahmens bewegt.“25 Mit der Vernichtung dieses räumlichen Rahmens geht auch die Möglichkeit des Sich-Wiedererkennens verloren.
5.2 K ULTURELLES G EDÄCHTNIS : D ER P ERGAMONALTAR Das Museum ist in der Ästhetik des Widerstands ein wiederkehrender Ort des Erinnerns und spielt eine vielschichtige Rolle: In jeder Stadt, in der der IchErzähler weilt, besucht er mindestens ein Museum. Im Erinnerungsort des Berliner Pergamonmuseums fängt der Roman an. Dort betrachtet der anonyme IchErzähler am 22.9.1937 mit seinen Freunden, dem fünfzehnjährigen Gymnasiasten Horst Heilmann und dem Siemens-Lehrling Hans Coppi den berühmten, aus der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr. stammenden Pergamonaltar. Um diesen Anfang gänzlich zu verstehen, muss man allerdings die ersten 53 Seiten lesen, was den Einstieg in den Roman erschwert. Dieser Abschnitt ist explizit als Galeriebeschreibung angelegt: Die Gespräche der Romanfiguren über Entstehung und Geschichte des Altars sind an die Bildbeschreibung angelehnt.26 Durch die lange ekphrastische Passage bekommt der Text eine räumliche Qualität, er wird zum „Bilderkabinett.“ Gleichzeitig dient der Erinnerungsort des Museums
25 Zitat nach Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, S. 142. Vgl. Götz Grossklaus, „Das zerstörte Gesicht der Städte“, in: Andreas Böhn, Christine Mielke (Hrsg.), Die zerstörte Stadt, S. 104f. 26 Siehe hierzu auch Armin Bernhard, Edukative Grundlagen und Bildungsprozesse in Peter Weiss’ „Ästhetik des Widerstands“, S. 233: „Das am Pergamonfries entfaltete Bildungskonzept intendiert, Geschichte in allen möglichen Ausfächerungen und Dimensionen über einen komplizierten Bildungsgang in den Bewußtseinshorizont der aneignenden Individuen zu heben.“
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den Romanfiguren als mnemotechnisches Hilfsmittel; die räumliche Präsenz der Vergangenheit soll den Protagonisten ein Bild ihrer eigenen Situation vermitteln und somit eine Kontinuität zwischen Gegenwart und Vergangenheit suggerieren. Desweiteren dient das Museum der Vergewisserung und Konstituierung von Identität. Vor allem die im 19. Jahrhundert errichteten historischen Museen sind eine Art Rahmen, innerhalb dessen Menschen mit Gedächtnis umgehen: „Im Bildersaal der Geschichte wird die Zeit zum Raum, genauer: zum Erinnerungsraum, in dem Gedächtnis konstruiert, repräsentiert und eingeübt wird.“27 In den Notizbüchern entwickelt Weiss ein intermediales Modell zur Bildanalyse, das in den Roman eingegangen ist. Dies gilt besonders für die Darstellung des Pergamonaltars, der neben Géricaults Floß der Medusa am ausführlichsten beschrieben wird. Weiss unterscheidet demnach zwischen sechs wichtigen Aspekten der Bildinterpretation: Motiv, Aufbau, Adressat, Absender, dems Anliegen des Bildes und seinem Verhältnis zur Sprache. Grundsätzlich thematisieren sämtliche längere ekphrastische Passagen der Romantrilogie diese Aspekte. Bildanalyse: 1. Was stellt das Bild dar 2. Wie ist das Bild aufgebaut 3. An wen wendet sich das Bild 4. Wer ist der Absender des Bildes 5. Welches Anliegen hat das Bild 28
6. Welche Grundeinstellung bringt das Bild zur Sprache
Was nun die Wirkung des Bildes auf den Rezipienten anbelangt, unterscheidet Weiss zwischen Zeichen, Signalen, Warnungen, Bildern, die vermitteltes Wissen behandeln, authentische Reportage-Aufnahmen, Propaganda ideologischer, religiöser Art mit dem rhetorischen Ziel der Überzeugung durch emotionale Überredung, movere. Ferner nennt er artifizielle Bilder der Reklame- und Unterhaltungswelt und der Widerstand gegen diese kommerzielle Vereinnahmung der modernen Medien- und Bilderkultur durch den Entwurf von Gegenbildern. Bilder: 1. Zeichen, Signale, Warnungen
27 Aleida Assmann, Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, S. 47. 28 NB 1, S. 18.
252 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT 2. Vermitteltes Wissen, pädagogische Karten, Diagramme, Gebrauchsanweisungen, Konstruktionszeichnungen 3. Reportage, authentische Augenblickserscheinungen 4. Propaganda, ideologischer, religiöser, politischer Art, Argumentation oft emotional. Sachverhalte oft ungenügend beschrieben 5. Reklame, kommerziell 6. Unterhaltungszwecke. Diskriminierungen. Soziale Schablonen. Artifizielle Milieus. Oberklasse, Luxus. Extrem, exklusiv – Entwurf von Gegenbildern. Reklame mit gegensätzlichem Text, der den Inhalt seines Scheins beraubt – 29
So wie Picasso einen Goya, Poussin oder Manet als Vorlage, als Ausgangspunkt benutzt
Mit Hilfe eines kunsthistorischen Buchs, das über die Entstehung und Geschichte des Altars näher Auskunft gibt, interpretieren die Romanfiguren das Kunstwerk.30 Weiss bedient sich hier dem oben erwähnten intermedialen Modell der Bildbeschreibung, wobei er in diesem Fall besonderen Wert auf den authentischen Reportagecharakter des Pergamonfrieses legt. Ausführlich wird die Geschichte des Kunstwerks beschrieben – eine Geschichte der Unterdrückung durch die Herrschenden – vom Bau 180 Jahre v. Chr. bis zur Ausgrabung des Altars in den 1870er Jahren durch den deutschen Archäologen Carl Humann und die Überführung des Kunstwerks aus der Türkei zu Friedrich Schinkels neugebautem Museum in Berlin.31 Es ist laut dem Erzähler durchaus kein Zufall, dass die Ausgrabungen mit der Gründung des deutschen Kaiserreiches zusammenfallen. Der Fries soll demnach nicht nur die ideologische Herrschaft des Kaisers legitimieren, sondern ist zugleich auch ein Ausdruck für dessen koloniale Aspirationen. Die Darstellung ist ein Meisterstück der sich durchsetzenden persuasio
29 Ebd, S. 20. 30 Zur Funktion des Pergamon-Altars im Roman, siehe auch Michael Hofmann, Ästhetische Erfahrung in der historischen Krise, S. 37-46. 31 ÄdW I, S. 51f. Martin Rector schreibt über die Bedeutung des Raumes für die Romankonzeption, etwa die Verlegung des Gesprächs in das Pergamon-Museum Folgendes: „Es ist die Rückbindung der abstrakten Reflexion an die konkrete Situation, die der Erzähler anstrebt, wenn er solche Gespräche in einen Gang durch die Stadt oder auch an einen proletarischen Küchentisch verlegt. Der Ort ist hier mehr als nur Schauplatz, er hat eine Bedeutung für die Aneignung und das Verstehen des Besprochenen.“ Vgl. Martin Rector, „Örtlichkeit und Phantasie: Zur inneren Konstruktion der ‚Ästhetik des Widerstands‘“, in: Alexander Stephan, (Hrsg.), Die Ästhetik des Widerstands, S. 109-133, hier S. 109.
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und seiner Gründe, die koloniale Ausbeutung durch die Industrieländer und die Einverleibung fremder Kulturgüter in das Kolonialreich als kulturelle Legitimierung des Kaisers32: Im September Achtzehnhundert Einundsiebzig, an einem klaren Morgen, […] wischte Humann den Sand aus dem gekräuseltem Haar, den Augenhöhlen, dem qualvoll geöffneten Mund des Sohns der Ge, der in der vertrockneten Erde eingebettet lag. Er verbrachte Jahre mit Vorbereitungen und kleineren Ausgrabungen, ehe er im Juni Achtzehnhundertsiebzig mit der eigentlichen Arbeit beginnen konnte. […] Nach dem Sieg über Frankreich […] stand eine Zeit der industriellen Expansion, der Kontrolle über Kontinente bevor, und die Hauptstadt, Sitz des Hofs, verlangte nach Schätzen, die den musischen Sinn des Mo33
narchen und Kolonialherrn hervorheben konnten.
Das Leitmotiv des Grabens wird an dieser Textstelle noch einmal thematisiert. Indem Humann den Sand aus dem gekräuselten Haar des Sohns der Ge wegwischt, holt er das verschüttete kulturelle Gedächtnis, mit dem das Kunstwerk verbunden ist, hervor. Einst zu den Weltwundern gezählt, versank der Pergamonaltar zu einer „Steinmasse“ „im Schutt eines Jahrtausends.“34 Diese Bemerkung unterstreicht das oben dokumentierte Interesse für das Ruinöse, das für Weiss so bedeutend erscheint35 und antizipiert zugleich die spätere Zerstörung der „tausendjährigen Reichshauptstadt“ Berlin durch die alliierten Bomben. An-
32 Die erinnerungstechnische Positionierung könnte hier in Anlehnung an Astrid Erll als „antagonistischer Modus“ der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses eingestuft werden, wobei sich der Erzähler in der Erinnerungskonkurrenz um die Geschichte des Pergamonaltars kritisch positioniert. Vgl. hierzu Gwang-Hun Moon, Schreiben als Anders-Lesen: Avantgardismus, Politik und Kultursemantik in Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands, (= Europäische Hochschulschriften, Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 1738) Frankfurt am Main 1999, S. 177: „Der Pergamonaltar übernimmt hier die Funktion, die antagonistischen Machtverhältnisse ideologisch zu bestätigen.“ 33 ÄdW I, S. 51. 34 Ebd., S. 12. 35 Karl Josef-Müller behauptet, der Altar trete nicht als ein „dem Romanganzen dienender Bedeutungsträger“ in Erscheinung. Dennoch stellt sich die Frage, ob nicht gerade das Ruinöse, Zerstörte und Fragmentarische, was für den Altar so bezeichnend ist, die Zerstörungen des Krieges und den Untergang der „Reichshauptstadt“ Berlin antizipieren, die später im Roman thematisiert werden. Vgl. Karl-Josef Müller, Haltlose Reflexion: Über die Grenzen der Kunst in Peter Weiss’ Roman „Die Ästhetik des Widerstands“, S. 44.
254 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT ders ausgedrückt: Hier erscheint die Bilderbetrachtung als Chiffre für den Untergang der Weltreiche und für den wechselnden Lauf der Weltgeschichte.36 Das Motiv des Betrachters im Museum kann – wie das Beispiel der Ästhetik des Widerstands zeigt – den Wunsch nach Weltaneignung dienen, die Schaffung eines Abbildes der Welt im Kleinen.37 Besondere Aktualität gewinnt diese Perspektive, als der Erzähler über die Eroberungszüge der herrschenden Klasse der Stadt Pergamon berichtet. Durch diese Kriege gelang es den Herrschenden der Stadt, ihr Gebiet auszuweiten und in Asien einzudringen. Das unterdrückte Volk war gezwungen diese Kriege zu führen; wegen seines mangelnden Wissens vermochte es sich letztendlich nicht dagegen zu wehren. Hier zieht der Erzähler Parallelen zu den imperialistischen Eroberungskriegen der Gegenwart: „Die Gesetze der antiken Sklavenhaltergesellschaft bestanden fort. Trotz aller Revolten mußte die Vielzahl des Volks immer wieder für die Elite ins Feld ziehn. […] Vor zwanzig Jahren erst waren unsre Väter aus ihren Massakern gekommen[.]“38 Die arme Hirtenbevölkerung wird durch die Überführung des Frieses nach Berlin einer ihrer Lebensgrundlagen beraubt, da sie aus purer Not den Altar als Material für Mörtel und Marmorherstellung benutzen. Der Erzähler stellt zudem fest, dass „die Bildhauereien des Frieses“ den heutigen Menschen einen Einblick in „die Ursprünge der Gesellschaft, in deren letzten Auswüchsen wir uns befinden“, verschafft.39 Als die Bildbrocken, die unter den Ablagerungen vorderasiatischen Machtwechsels vergraben gelegen hatten, ans Tageslicht kamen, waren es wieder die Überlegnen, die Aufgeklärten, die das Wertvolle zu nutzen wußten, während die Viehhüter und Nomaden, die Nachfahren der Erbauer des Tempels, von Pergamons Größe nicht mehr besaßen als 40
Staub.
Trotz dieser und ähnlichen Aussagen ist der Erzähler nicht bereit, das hellenistische Kunstwerk als Herrschaftskunst zu bezeichnen: Im Gegenteil gibt es in jedem Kunstwerk Aspekte, die das Herrschaftsprinzip zu transzendieren vermögen. Im Pergamonaltar ist es beispielsweise die feine Abbildung der Unterdrück-
36 ÄdW III, S. 107f. 37 Siehe hierzu Anne-Katrin Hillebrand, Erinnerung und Raum: Friedhöfe und Museen in der Literatur, S. 227. 38 ÄdW I, S. 43. 39 ÄdW I, S. 37. Vgl. Michael Hofmann, Ästhetische Erfahrung in der historischen Krise, S. 43. 40 ÄdW I, S. 13.
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ten, die detaillierter dargestellt werden als die summarisch abgebildeten Herrscher.41 Die Inszenierung von Erinnerung greift im ersten Teil des Bandes am längsten zurück, zur Antike. Von der Analyse des Pergamon-Altars aus wird die Perspektive erweitert und mündet in einem Exkurs über die Geschichte der antiken Gesellschaft. Der Mensch der Antike, so erfahren wir, hat sein Wissen ständig durch empirische Untersuchungen und Reisen erweitert und ist dadurch Herr seines Daseins geworden: „Die Dynamik des ganzen, so hieß es, wenn nach dem Zweck des Daseins gefragt wurde, sei das Gesetz der Notwendigkeit, und wer dieses Gesetz erkannt hatte, der meisterte es auch, mit seinem freien Willen.“42 Ziel des antiken wie des heutigen Menschen ist, „seinen Besitz zu vermehren“, was zu einer Klassengesellschaft führt.43 Es ist allerdings nicht eine vergangene Welt, in der Weiss’ Darstellung der Antike mündet, sondern die Antike wird eingerahmt vom aktuellen politischen Geschehen in Berlin und in der Welt 1937. Denn die etwa 20 Seiten, die Weiss der Welt der Antike im Rahmen seiner Beschreibung des Pergamon-Altars widmet, ergänzen und erhellen die Gegenwartsebene: „Untrennbar von der ökonomischen Begünstigung war die Überlegenheit des Wissens. Zum Besitz gehörte der Geiz, und die Bevorteilten versuchten, den Unbemittelten den Weg zur Bildung so lange wie möglich zu verwehren.“44 Der Grundgedanke ist hier, in erster Linie die kulturelle und in zweiter Linie die materielle Unterlegenheit des Proletariats gegenüber den Herrschenden hervorzuheben. In Anlehnung an Aristoteles könnte man die Haltung des IchErzählers, der bei seinen langen Auslegungen, die viel Wert auf eine logischargumentative Beweisführung legt, als eine Annäherung an den logos bezeichnen.45 Seine Ausführungen folgen dem klassischen rhetorischen Modell und werden mit einer These (exordium) eingeleitet gefolgt von der Auslegung des Sachverhalts (narratio), die in einer Schlussfolgerung (conclusio) mündet:
41 Vgl. Ebd., S. 7ff. Siehe auch Michael Hofmann, Ästhetische Erfahrung in der historischen Krise, S. 39. 42 ÄdW I, S. 43. 43 Ebd. 44 ÄdW I, S. 53. 45 Aristoteles unterscheidet, wie bekannt, in seinem klassischen dreiteiligen Kommunkationsmodell: Sprecher, Rede, Hörer und listet dabei drei Überzeugungsgründe (pisteis) auf, die den guten Redner auszeichnet: ethos, logos und pathos. Der logos ist dabei das bevorzugte Überzeugungsmittel; auch das ethos ist von zentraler Bedeutung. Das pahos genießt dagegen als Überzeugungsmittel geringeres Ansehen. Vgl. Aristoteles, Rhetorik. Übers. und hrsg. von Gernot Krapinger, Stuttgart 2007, S. 77 (1378a).
256 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Der Gebundene saß auf der Ruderbank, unten in der Galeere, ihm war nichts gegeben als das einförmige Vorbeugen, das kurze harte Zurückschnellen zum Paukenschlag des Antreibers, auf Deck der Navigator besaß die Weiten der Meere mit ihren Strömungen, Monsunen und Passatwinden, die er sich dienstbar machte auf seinen zyklischen Reisen, seine Position nach den Sternbildern bestimmend. Für den Unfreien gab es immer nur das, was unmittelbar vor ihm war, und sein ganzes Mühn hatte sich zu verbrauchen, um damit fertig zu werden. Für den Freien gab es ständig die Spannung des Neuen, er zeichnete Küstenlinien und geographische Formationen auf, ermittelte Schiffahrtsrouten, Fundstellen von Rohstoffen, Austauschmöglichkeiten. Die zum Dienen Verurteilten welkten schnell dahin in der Monotonie, er aber, für den es Initiative und Abwechslung gab, verjüngte sich. […] Ehe wir uns Einblick in die Verhältnisse verschafft und grundlegende Kenntnisse gewonnen hatten, konnten die Privilegien der Herrschenden nicht aufgehoben werden. Immer wieder wurden wir zurückgeworfen, weil unser Vermögen des Denkens, des Kombinierens und Folgerns noch nicht genügend entwickelt war. Der Beginn einer Verändrung dieses Zustands lag in der Einsicht, daß sich die Hauptkraft der oberen Klassen gegen unsern Wissensdrang richtete.
46
Der Altar, so erfährt man bereits im ersten Satz, besteht aus Fragmenten, aus mürben Bruchstücken und leeren Flächen, aus einem verwirrenden Getümmel von Torsos, Resten von Waffen, Gliedern, Gesichtern. Mit einer Mischung aus genauer Betrachtung, kunstgeschichtlichem Studium und Phantasie rekonstruieren die drei Figuren den pergamenischen Altar aus den Ruinen.47 Nur eine Figur fehlt völlig auf dem Altar, von ihr bleibt nichts als die „Tatze eines Löwenfells, das er als Umhang getragen hatte“.48 Es handelt sich um Herakles, dessen Figur verloren gegangen ist. Herakles symbolisiert im Roman die groteske Diskrepanz zwischen Realität und Utopie.49 Er verkörpert ähnlich wie Hölderlin die Sehn-
46 ÄdW I, S. 40, S. 53. 47 Das Interesse für das Fragmentarische und Ruinöse begegnet uns auch in Weiss’ Schilderung von Gaudis Sagrada Familia in Barcelona; „von den Eindrücken dieses Tags in dieser Stadt aber hoben sich immer wieder die Bilder des ruinenhaften, zerklüfteten Baus ab, vor dem wir uns, aus der Schlucht einer Avenue kommend, plötzlich befanden.“ ÄdW I, S. 193. 48 Vgl. Robert Cohen, Peter Weiss in seiner Zeit, S. 253. 49 Wie Berthold Brunner zeigen konnte, stellt die „Verabschiedung von Heroismus“ am Beispiel der Heraklesfigur eine Auseinandersetzung des Autors mit der in „der DDR gepflegten Geschichtsschreibung“ dar. Diese Erinnerungskultur ging von einer „Stilisierung“ der Toten „zum Martyrium“ der „‚Widerstandshelden‘“ aus. Siehe Berthold Brunner, Der Herakles/Stahlmann-Komplex in Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands,
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sucht des Menschen nach einer besseren Welt, die aber an der krassen Realität des Lebens scheitert. Weiss hat nachweislich ein intensives Quellenstudium zum mythologischen Herakles-Komplex betrieben. Unter den Büchern, die er für die Konzipierung dieser Gestalt las, gehören M. Nilssons Cults, Myths, Oracles (New York 1972), F. Stoessel, Der Tod des Herakles (Zürich 1945) und F. Brommers Herakles, die zwölf Taten (Münster/Köln 1953) und G. Galinsky, The Herakles Theme (Oxford 1972).50 Dass Weiss gerade Herakles als mythologische Gestalt für den Widerstandsroman gewählt hat, ist wohl kein Zufall.51 Herakles ist sowohl menschlich als auch göttlich, er kann durchaus Schmerz spüren und hat menschliche Schwächen; dies trägt dazu beim, dass die Romanfiguren sich mit ihm identifizieren können. Nicht zuletzt benutzt Weiss die mythologische Herakles-Figur als Erinnerungsfigur, als Exponent der kulturellen Erinnerung an die untergegangene Pergamon-Kultur.52 Die Einkreisung der Beobachter durch das Kunstwerk und
St. Ingbert 1999, S. 235. In dem schwedischen Interview Herkules und der Klassenkampf verdeutlicht Weiss seine Deutung der Herakles-Figur. Dabei wird klar, dass Weiss den Personenkult ablehnt, der häufig eine politisch reaktionäre Funktion übernehmen könne: „Herakles repräsentiert auch das, was das Volk gelernt hat anzubeten und zu bewundern, die großen Herrscherfiguren. In deren Gestalten wird dem Glauben an einen Retter gefrönt. […] Wie ich es sehe, bekommen sowohl die Heraklesgestalt als auch die meisten revolutionären Führergestalten leicht eine ideologisch reaktionäre Funktion. Sie werden die Ideologie der Oberklasse ausdrücken, die besagt, dass das Volk nicht Kraft genug hat, ihr Schicksal in seine Hände zu nehmen, dass es Figuren haben muss, die es lenkt. Die Frage dieses Mangels an Vertrauen in die eigene Kraft wird im ganzen Buch durchgehend diskutiert, vor allem im zweiten Teil.“ Siehe Eva Adolfsson/Lars Bjurman: „Herkules och klasskampen. Ett samtal med Peter Weiss.“ („Eva Adolfsson, Lars Bjurman: Herkules und der Klassenkampf: Ein Gespräch mit Peter Weiss“), in: Ord och Bild (1977), H. 2-3, S. 198-208. (Übersetzung: G.L.) 50 NB 2, S. 401. Vgl. Lars Wendelius, Form och tematik i Peter Weiss‘ Motståndets Estetik, S. 111. 51 Ebd., S. 52. 52 Wie u.a. Jan Assmann gezeigt hat, gibt es einen engen Zusammenhang zwischen Erinnerung und Mythos, wobei er Erinnerungsfiguren mit Mythen gleichstellt: „Auch Mythen sind Erinnerungsfiguren: Der Unterschied zwischen Mythos und Geschichte wird hier hinfällig. […] Man könnte sagen, daß im kulturellen Gedächtnis faktische Geschichte in erinnerte und damit in Mythos transformiert wird.“ Vgl. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 52. Zu Mythos und Erinnerung siehe auch Stephanie
258 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT die Verlegung der Erzählperspektive auf die kollektive Fokalisierung verleihen der Passage einen dynamischen Charakter: Rings um uns hoben sich die Leiber aus dem Stein, zusammengedrängt zu Gruppen, ineinander verschlungen oder zu Fragmenten zersprengt, mit einem Torso, einem aufgestütztem Arm, einer geborstnen Hüfte, einem verschorften Brocken ihre Gestalt andeutend, immer in den Gebärden des Kampfs, ausweichend, zurückschnellend, angreifend, sich deckend, hochgestreckt oder gekrümmt, hier und da ausgelöscht, doch noch mit einem freistehenden vorgestemmten Fuß, einem gedrehten Rücken, der Kontur einer Wade eingespannt in eine einzige gemeinsame Bewegung.
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Gerade die Betonung des Kampfes ist vielleicht das wichtigste Merkmal des Pergamonaltars und spielt schon in dem Laokoon-Essay eine wichtige Rolle. Zur Erhellung dieser Passage gehört der Ausstellungskatalog Der Altar von Pergamon (1967) im Peter Weiss-Archiv. Darin hat Weiss zahlreiche Einträge und Notizen gemacht. Weiss’ Interesse richtet sich vor allem auf den erbitterten, leidenschaftlichen Kampf, der auf dem Altar dargestellt wird. Ins Mythische transponiert, adaptiert Weiss im Roman die Vorstellung von der zentralen Bedeutung Herakles, der laut dem Mythos dabei sein muss, um den Kampf der Götter gegen die Giganten gewinnen zu können. Dieser fehlt aber am Altar, und dementsprechend bleibt der Kampf der Widerstandskämpfer aussichtslos. Es ist deswegen kein Zufall, dass sich Heilmann explizit auf die fehlende Figur Herakles um Beistand im Kampf gegen die Faschisten beruft, als die Romanfiguren ihre „Hadeswanderung“54 durch das zerbombte und brennende Berlin machen: „O Herakles, sagte Heilmann, wie sollen wir uns behaupten können ohne deinen Beistand“. Im Ausstellungskatalog ist vor allem diese Passage für die Konzipierung des Romans relevant: Es ist dabei zu bemerken, dass der Grieche im Gegensatz zum orientalischen Menschen und zum Römer sich stets gescheut hat, ein historisches Geschehen in seiner tatsächlichen Form darzustellen, er ließ es nur in der Sprache des Mythos in die Kunst eingehen. Die Giganten, Söhne der Erde, der Ge, hatten sich frevelnd gegen die Herrschaft der olympi-
Wodianka, „Mythos und Erinnerung. Mythentheoretische Modelle und ihre gedächtnistheoretischen Implikationen“, in: Günter Oesterle (Hrsg.), Erinnerung, Gedächtnis, Wissen: Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, S. 211-230. 53 ÄdW I, S. 7. 54 Vgl. hierzu Tobias Mandel, Formen und Funktionen von Intertextualität und Intermedialität in der Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss, S. 243-247.
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schen Götter erhoben. Nach einem Orakel können die Götter in diesem Kampfe nur siegen, wenn ein Sterblicher auf ihrer Seite kämpft. So wird Herakles zur Teilnahme am Kampfe aufgerufen. […] Verloren ist auch die einst eingefügt gewesenen Metallzutaten und die farbige Bemalung des Frieses. – Ein erbittertes, von leidenschaftlicher Erregung erfülltes Ringen spielte sich in dramatischem Geschehen vor den Augen derjenigen ab, die 55
in feierlicher Prozession den Altar umschritten, um der Gottheit das Opfer zu bringen.
Der aus „mürbe[n] Bruchstücke[n]“ bestehende Fries stellt die Geschichte der Menschheit dar, die als ein ewig sich wiederholender Kampf um Überleben und Macht erscheint. Der grüblerische Blick des Erzählers gilt nicht nur der Stadt an sich, sondern auch ihren verschiedenen historischen Schichten. Ewig gleich bleibt nur das Leiden der Menschen, das der Fries darstellt. Das kulturelle Gedächtnis, für das der Altar ein Exponent ist, wird in einer längeren Passage über die Rolle der Kunst in der Gesellschaft thematisiert. Dort erklärt Heilmann, dass die „Gesamtkunst“ – darunter auch der Altar – unter der Obhut der Erinnerungsgöttin Mnemosyne steht, die das „aufgespeicherte“ Gut der Erinnerungen, woraus die Kunst besteht, schützt.56 Die Gesamtkunst, fuhr er [Heilmann] fort, die Gesamtliteratur ist in uns vorhanden, unter der Obhut der einen Göttin, die wir noch gelten lassen, Mnemosyne. Sie, die Mutter aller Künste, heißt Erinnerung. Sie schützt das, was in den Gesamtleistungen unser eigenes Erkennen anmaßt, dieses aufgespeicherte Gut zu schützen, das was in den Gesamtleistungen unser eigenes Erkennen enthält. Sie flüstert uns zu, was unsre Regungen verlangen. Wer sich anmaßt, dieses aufgespeicherte Gut zu züchten, zu züchtigen, der greift uns selbst an und verurteilt unser Unterscheidungsvermögen.
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Hier knüpft Weiss an eine Vorstellung von Erinnerung an, die philosophisch an Martin Heideggers Gedächtniskonzpetion erinnert. In Was heißt Denken? (1954) beschreibt Heidegger wie Weiss die mythologische Ursprünge der Gedächtnis-
55 PWA 5337: Der Altar von Pergamon. Herausgegeben von den Staatlichen Museen zu Berlin, Antikensammung, Berlin 1967. 56 ÄdW I, S. 77. Mnemosyne taucht auch sporadisch in den Notizbüchern auf, wobei Weiss’ lakonische Bemerkungen über die Erinnerung als Gesamtkunst macht: „Lang ist die Zeit es ereignet sich aber das wahre (Mnemosyne) […] Die Gesamtkunst ist unser Erinnern (Mnemosyne). Wenn die Lektüre Dantes uns untersagt wäre, weil er Gestalten des Feudalismus auftreten läßt! […] Heilmann über Mnemosyne u Tod“. Vgl. NB 2, S. 12, S. 223, S. 546. 57 ÄdW I, S. 77.
260 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT kunst. Laut Heidegger ist die Erinnerung auch der Ursprung der Dichtung – eine Vorstellung, die Weiss bewusst oder unbewusst adaptiert hat. Erinnerung und Dichtung sind für sowohl Weiss als auch für Heidegger eng miteinander verbunden: Mnemosyne, die Tochter von Himmel und Erde, wird als Braut des Zeus in neun Nächten die Mutter der Musen. Spiel und Musik, Tanz und Dichtung gehören dem Schoß der Mnemosyne, der Gedächtnis. […] Gedächtnis ist die Versammlung des Andenkens. Sie birgt bei sich und verbirgt in sich das, woran jeweils zuvor zu denken ist bei allem, was west und sich als Wesendes, Gewesendes zuspricht: Gedächtnis, die Mutter der Musen: das Andenken an das zu-Denkende ist der Quellgrund des Dichtens. Das Dichten ist darum das Gewässer, das bisweilen rückwärts fließt der Quelle zu, zum Denken als Andenken.
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Erinnerung, so Heidegger, ist das was Erinnerte mit der Gegenwart zusammenhält; die Erinnerung wird zum Vehikel, das sowohl bloßlegt als auch verbirgt. 59 Gespräche über Kunst und Literatur nehmen eine prominente Stellung im ersten Band des Romans ein. Streitpunkt zwischen den Romanfiguren bildet v.a. die Stellung der nicht-mimetischen, abstrakten Kunst in der Gesellschaft. Diskursiver Hintergrund ist die so genannte Expressionismus-Debatte, in welcher Georg Lukács tongebend war. Coppi stellt, ganz im Sinne von Lukács, die Berechtigung der künstlerischen Avantgarde in der sozialistischen Kunstszene in Frage. Er begründet seine Stellungnahme damit, dass die avantgardistische Kunst „von den westeuropäischen Ländern“ kommt, und „den russischen Arbeitern unverständlich bleiben“ müsse: „Das Modernistische, das Abstrakte mußte vorläufig Privileg derer bleiben, die sich mit künstlerischen Problemen beschäftigen“.60 Über die Stellung des Kunstwerks im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit äußert Coppi Folgendes:
58 Martin Heidegger, Was heißt Denken?, in: Ebd. Gesamtausgabe, 1. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910-1976, Bd. 8: Was heisst denken?, Frankfurt am Main 2002, S. 13. 59 Zur Funktion der Erinnerung bei Heidegger, siehe Bram Ieven, „Mnemosyne´s Well: Derrida (on Heidegger) on Memory“, in: Ansgar Nünning, Marion Gymnich, Roy Sommer (Hrsg.), Literature and Memory: Theoretical Paradigms – Genres – Functions, Tübingen 2006, S. 41-51, hier S. 46. 60 ÄdW I, S. 67.
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Warum, fragte er, zerlegten die Impressionisten, die Kubisten und Futuristen denn das, was sich dem Auge darbot, doch nicht, um wegzukommen vom Faßlichen, sondern um dem, was unbegreifbar blieb, neue Festigkeit zu verleihn. Seitdem die Photographie den Bereich des Authentischen, Dokumentarischen sichtbar macht für unser Geschichtsbild, seitdem das Licht, das von den Gegenständen ausgeht, direkt aufgefangen und konserviert werden kann, ist die Malerei weniger denn je dazu befähigt, durch emsige Überführung eines bestimmten Ausschnitts des Räumlichen auf eine Fläche der Wirklichkeit vorzutäuschen.
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Die Textstelle aktualisiert Walter Benjamins Theorien über die „Zertrümmerung“ des auratischen Prinzips in der Kunst. Seitdem die Wirklichkeit durch die Erfindung der Photographie mechanisch reproduzierbar geworden ist, erscheint das mimetische Paradigma in der Malerei als obsolet. Die Reproduzierbarkeit des Kunstwerks hat auch Folgen für die Darstellung der Stadt: Nicht zuletzt wird im dritten Band der Ästhetik des Widerstands neben Alfred Döblin auch der Filmemacher Walther Ruttmann erwähnt, bekannt für seinen Film Berlin. Sinfonie einer Großstadt (1927): Weder Döblin, noch Ruttmann hätten die ganze Fülle der Impressionen Berlins schildern können, sondern nur „Ahnungen“ vermittelt von der „klapprige[n] Bahn […] Königsheide und [der] Gebirge der Industrien und Mietskasernen von Neukölln, […] [der] Dichte der Innenstadt“. Die Reproduzierbarkeit der Stadt hat für die Erzählbarkeit der Stadt in der Ästhetik des Widerstands die Konsequenz, dass Weiss die Wahrnehmung der Stadt durch die Verkleinerung des Wahrnehmungsobjekts auf die Großstadtminiatur intensiviert. Dies äußert sich nicht zuletzt in den vielen Panoramaaussichten der Stadtbeschreibungen Stockholms, gilt aber auch für Berlin: „Dies war es wieder, dieses Kaleidoskopische das zur Verlockung wurde, einzutauchen ins Gewühl, in diesen Geruch von Ruß und Staub, Fett und Schweiß, dies war die Welt gewesen, in der ich gelebt hatte mit Heilmann und Coppi.“62 Auffallend bei der Beschreibung von Berlin ist die Tatsache, dass die Romanfiguren ausgedehnte Spaziergänge eher meiden und sich am liebsten in Gebäuden aufhalten. Am liebsten hocken sie entweder in der engen Küche von Coppis Eltern an der Pflugstraße, sie halten sich in Museen auf oder fahren mit der Straßenbahn. Die Enge und Geschlossenheit der proletarischen Küche kontrastiert wirkungsvoll mit den internationalen Debatten, die dort geführt werden. Die Wahl des Raumes, die Wohnküche, erfüllt gleichzeitig mehrere Funktionen: Zum Einen wird hier Klassenidentität konstituiert, indem die Zugehörigkeit des
61 Ebd., S. 68. 62 ÄdW III, S. 117.
262 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Erzählers zum Kollektiv der internationalen Arbeiterklasse gefestigt wird. So hat auch die Expansion der „Kulturarbeit“ des proletarischen Subjekts ihren Ausgangspunkt in der Küche. Die Aufklärung des Proletariats, so wird deutlich, fängt in der Küche an: „Unter der Küchenlampe erhellte sich uns die Welt“63 Die Bildung des Erzählers, die er in der Küche (und nicht im bürgerlich behafteten Ort der Bibliothek) erworben hat, verdankt er seinen Eltern: Statt einer Spitzendecke, einer Porzellanvase hatten meine Eltern immer diese kleinen Blöcke aus dicht geschichtetem, eng mit Kenntnissen, Vorschlägen, Anleitungen bedrucktem Papier gekauft […] und wir saßen abends unter der Küchenlampe, lasen abwechselnd 64
daraus vor und besprachen untereinander den Inhalt.
Die Erfahrung der Enge65, der den Küchenraum prägt, in dem der Erzähler sich aufhält, verweist auch auf den beschränkten Bildungshorizont, der das proletarische Dasein demzufolge hat: „Der Küchenraum, der sich langsam verschattete, während die Glühfäden der Lampe schärfer wurden, stellte eine Eingeschlossenheit dar, die uns, die wir um den Tisch saßen, das Gefühl einer überwältigenden Niederlage aufzwingen wollte. Außerhalb dieser Zelle, hinter den bröckelnden Mauern, dem Treppengebälk, dem Hofschacht, war nur Feindlichkeit[.]“66 Der Topos Küche wird hier mit einer Gefängniszelle verglichen, die den Erzähler an die Küche seiner Eltern erinnert. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die verhakten Fensterhälften. Die Eingeschlossenheit der Küche korrespondiert mit den äußeren Umständen der repressiven „Reichshauptstadt“, reproduziert aber zugleich auch ein bestimmtes Klischee von Berlin, nämlich dass diese Stadt ein Ort ist, in dem ein öffentlichkeitsfeindliches Klima herrscht: In Berlin stoßen sie dich, trampeln dich beiseite, boxen sie“, beklagte Alfred Goldschmidt 1928. Für Kurt Tucholsky waren die Berliner „einander spinnefeind“, sie knurren sich „in der Straße und den Bahnen an, denn sie haben miteinander nicht viel Gemeinsa-
63 ÄdW I, S. 339. Zur Funktion der Küche im Roman, siehe auch Andreas Huber, Mythos und Utopie: Eine Studie zur Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss, (= Reihe Siegen, Bd. 96: Germanistische Abteilung) Heidelberg 1990, S. 95-98. 64 ÄdW I, S. 35. 65 Steffen Groscurth sieht in der Küche „ein strukturstiftendes Element der narrativen Binnenorganisation des Romans“, welche „die ideelle Eingebundenheit des Ich in die proletarische Gemeinschaft zu einem wesentlichen Merkmal der Raumstruktur des Romans macht.“ Vgl. Steffen Groscurth, Fluchtpunkte widerständiger Ästhetik: Zur Entstehung von Peter Weiss’ ästhetischer Theorie, S. 64f. 66 ÄdW I, S. 26.
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mes. Sie wollen voneinander nichts wissen, und jeder lebt ganz für sich.“67 Noch ein Berliner Stereotyp, das auffällt, ist, dass die Stadt keinen bedeutenden Eindruck mache. Dies äußert sich zum Einen darin – und dies im Gegensatz zur Stadtbeschreibung Stockholms – dass einzelne Gebäude gar nicht oder nur am Rande beschrieben werden, zum Anderen in der Unbestimmtheit der Darstellung einzelner Plätze. Zu den Gebäuden Berlins, die in dem Roman erwähnt werden, gehören Schloss Monbijou, der Dom, das Restaurant „Zum schwarzen Ferkel“ an der Wilhelmsstraße nahe dem Boulevard Unter den Linden, einst E.T.A. Hoffmanns und August Strindbergs Stammlokal, das Museum für Naturkunde und die gotische Marienkirche (mehr dazu unten).68 Eine prägnante Textstelle im dritten Band des Widerstandsromans ist Gert Nymans Bericht über den Holocaust. Der mit Peter Weiss befreundete Ingenieur und Schriftsteller Gert Nyman, (1912-1984) geboren in der nordschwedischen Stadt Umeå ist eine in der Forschung bisher stiefmütterlich behandelte Person. Dabei spielt er als indirekter Augenzeuge des Holocaust eine wichtige Rolle. Im Folgenden soll den Inhalt des auf Schwedisch verfassten Typoskripts „Förslag till kronologi“ (Vorschlag einer Chronologie) im Peter Weiss Archiv über den Werdegang von Gert Nyman kurz rekapituliert werden. Das Typoskript gibt näher Auskunft über den geschichtlichen Hintergrund dieser historischen Figur. 1940 bekam Nyman, der damals in der schwedischen Industriestadt Norrköping in der Färberei einer Baumwollweberei arbeitete, das Angebot des deutschen IGFarben-Konzerns an einer Großwäscherei in Magdeburg zu arbeiten. Dort blieb er etwa ein Jahr und ging danach nach Berlin, wo er bei einer Witwe namens Kühner hauste. Im Völkischen Beobachter, dem Hauptorgan der Nazis, erfuhr er über ein Jobangebot in Grünau als Chemiker im nordöstlichen Teil Berlins. Er telefoniert mit dem Personalchef, Herrn Gruber. Am nächsten Tag nimmt Nyman die S-Bahn vom Bahnhof Zoo nach Grünau und trifft Herrn Gruber und zwei weitere Angestellten der Fabrik, den Laborchef Dr. Habermann und den Fabrikvorsitzenden Dr. Schmidt. Beide haben starke Ressentiments gegenüber den Nazis. Nach einem kurzen Bewerbungsgespräch, das auch in den Roman
67 Zitat nach Hans Dieter Schäfer, „Berlin – Modernität und Zivilisationslosigkeit“, in: Derek Glass, Dietmar Rösler John D. White (Hrsg.), Literary Images of a City: Eine Großstadt im Spiegel der Literatur, S. 114f. 68 Das zwischen 1703 und 1706 im Stil des Spätbarocks errichtete Schloss Monbijou lag auf der nördlichen Seite der Spree gegenüber der heutigen Museumsinsel in Berlin. Ende der dreißiger Jahre beherbergte es noch die staatlichen königlichen Kunstsammlungen der Hohenzollern bis es nach schweren Kriegszerstörungen 1959 von der SEDRegierung endgültig abgerissen wurde.
264 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT eingegangen ist, bekommt Nyman den Job. Inzwischen verkehrt er in Kreisen der Berliner Sozietät um den berühmten Tänzer Harald Kreuzberger und trifft die achtzehnjährige Tänzerin Erika Ciolina, Schülerin der Deutschen Tanzschule. Mit ihr unterhält er sich u.a. über Literatur, Kunst und Tanz. Die junge Tänzerin ist aber keineswegs an Politik interessiert, sondern bevorzugt Tanz. Im Restaurant Kempinski am Kurfürstendamm lernt Nyman den „nazihassenden, halbverrückten Grafen v. Seidlitz“ kennen.69 Graf von Seidlitz spielt eine bedeutende Rolle im Roman als Zeuge des Holocaust. Beim Gespräch mit Nyman gesteht der Graf, er habe gesehen, wie Juden im Osten mittels eines Insektenpulvers ausgerottet werden. Der Bericht des Grafen teilt Nyman später dem Ich-Erzähler und seinen Genossen mit. Dass diese der Geschichte wenig Glaubwürdigkeit schenken, weist, wie Michael Hofmann bemerkt hat, auf eine unterschwellige Kritik an der linken Verarbeitung der Shoah hin.70 Die Beschreibung des Grafen von Seidlitz, die also in indirekter Rede wiedergegeben wird, zeichnet sich durch eine syntaktische Wechselwirkung zwischen einfachen Hauptsätzen und hektischen Hypotaxen aus: Noch nicht lange hatten sie sich miteinander unterhalten, als der Graf unvermittelt von Ausrottung sprach. Es war Nyman gleich klar gewesen, dass er damit nicht die Vernichtung der sowjetischen Armeen meinte, […] nein, diese Ausrottung galt einer ganzen Rasse, der jüdischen Rasse, man sei ja schon lange dabei, doch auf umständliche Weise, jetzt sei es zu Ende mit dem ungeordneten Gemetzel, von dem immer nur einige Dutzende, Hunderte betroffen wurden, jetzt habe man ein System hineingebracht, jetzt konnten sie ausgerottet werden, wie man Ungeziefer ausrottet, seitdem man auf das Insektenpulver gekommen sei, so ein bröckliger Stoff, der entwickle, wenn man ihn ausschütte, ein tödliches Gift. […] Er rückte an Nyman heran, sein Gesicht war verzerrt, als er ihm beschrieb, was er durch das Guckloch gesehn hatte. Die Menschen stehn drinnen zusammengepfercht, arbeitsuntaugliche alte Männer, Frauen und Kinder. Die Gesichter strecken sie
69 Vgl. PWA 2448, „Förslag till kronologi“ (4 Bl.). 70 Michael Hofmann, „Antifaschismus und poetische Erinnerung an die Shoah“, in: PWJ 3 (1994), S. 127. Karin Hvidtfeldt Madsen schreibt analog vom „indirekten Umgang“ des Romans mit der Shoah, die sie allerdings in Anlehnung an Adorno deutet; „Um der von Adorno aufgezeigten Gefahr zu entgehen, die Erfahrung von Auschwitz ‚abzumildern‘, geht die Ästhetik des Widerstands auf ihr Thema, die Schrecken des Zweiten Weltkriegs, nicht direkt an, sondern umkreist es systematisch.“ Vgl. Karin Hvidtfeldt Madsen, Widerstand als Ästhetik: Peter Weiss und Die Ästhetik des Widerstands. Aus dem Dänischen von Ursula Kleinen und Monika Wesemann, Wiesbaden 2003, S. 157.
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nach oben, wo eine kleine Luke geöffnet wird. Dicht aneinander diese weißen emporgewunden Gesichter. Die Augen angstvoll aufgerissen. Die Kinder hängen sich an die Mütter. […] Über ihnen wird die Büchse entleert. Eine Wolke von grauem Staub. Sie beginnen zu husten, ein einziges Gewühl von Leibern, bläulich verfärbt, in Konvulsionen, besudelt von Erbrochenem, von Exkrementen, das dauert bis zu fünf Minuten, es wird eine Viertelstunde gewartet, dann wird entlüftet, sie liegen so verschlungen, daß sie mit Stan71
gen voneinander losgebrochen werden müssen.
Die Bemühung des Autors um „einen objektiven Realismus“ bildete eine poetische Grundlage für die Darstellung des Holocaust im Widerstandsroman.72 Im Gegensatz zu den suggestiven Bildern der Shoah in der Lyrik Paul Celans’ und Nelly Sachs’, ist Weiss’ Auseinandersetzung mit dem Jahrhundertverbrechen von nüchterner Sachlichkeit geprägt. Dennoch bildet die Shoah eine Projektionsfläche in seinem Werk, wenn auch zumeist unterschwellig. Innerhalb des Berlin-Abschnitts wird im Rahmen einer längeren Traumsequenz das Bremen der Kindheit des Ich-Erzählers vergegenwärtigt.
5.3 D ER E RINNERUNGSORT B REMEN UND DIE R ÄTEREPUBLIK 1919 Der erste Teil des ersten Bandes der Ästhetik des Widerstands gibt, vor allem aus der Perspektive des sozialdemokratischen Vaters des Ich-Erzählers, einen Einblick in die geschichtliche Entwicklung der deutschen Linken von 1918-1937. Interessant ist diese Passage auch insofern, als dass sich Weiss hier seinen früheren autobiographischen Prosaarbeiten thematisch annähert, Abschied von den Eltern und Fluchtpunkt. Es geht hier um eine Verarbeitung des Vater-SohnVerhältnisses, das für das Verständnis des Buches laut dem Autor „sehr wichtig“ ist. Die Traumszene, so Weiss beim Gespräch mit Rolf Michaelis, sei „sehr stark verflochten mit Autobiographischem.“73 Schwerpunkt der Diskussion liegt auf der Spaltung der deutschen Linken und auf der gescheiterten Revolution in Bremen, über die der Vater im Rahmen einer längeren onirischen Passage berichtet. Diese surrealistisch angehauchte Szene transzendiert den realistischen Erzählstil
71 ÄdW III, S. 119f. 72 NB 2, S. 171. 73 „‚Es ist ja eine Wunschautobiographie.‘ Peter Weiss im Gespräch mit Rolf Michaelis über seinen politischen Gleichnisroman“, in: Rainer Gerlach, Matthias Richter (Hrsg.), Peter Weiss im Gespräch, S. 221.
266 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT und ist wie ein Fremdkörper in den Text integriert. Die Einheit des Ortes (Berlin), die das erste Viertel von Band 1 auszeichnet, wird durch die Einführung des Erinnerungsraumes Bremen verletzt. Die Szene stellt eine Art dialektischen Traktats über den Bankrott der Arbeiterbewegung dar und ist gekennzeichnet von einem Stimmenwechsel; sowohl der Vater als auch der Erzähler dürfen zu Wort kommen. Der Vater des Erzählers, der überzeugter Sozialdemokrat ist, stellt eine Kontrastfigur zum Ich-Erzähler als Sympathisant der KPD dar. Das Scheitern einer Volksfront und die Zerrissenheit der Linken werden als Voraussetzung für die nationalsozialistische „Machtergreifung“ in Deutschland interpretiert. Diese unglückliche Kette von Kausalverhältnissen hat letztendlich zum Niedergang der Demokratie in Deutschland beigetragen. Die Rekonstruktion von historischen Ereignissen wird mittels Erinnerungsbildern evoziert, die durch ihre exakte realistische Rekonstruktion von Plätzen und Menschen eine beinahe kinetische Dimension bekommen.74 In seiner leeren Wohnung in Warnsdorf sitzend, die er mit seinen Eltern bewohnt, bilanziert der Erzähler seine bisherigen politischen Erkenntnisse. Dies geschieht kurz vor seiner Überfahrt nach Spanien, wo er am Bürgerkrieg teilnehmen will. In seiner ausgeräumten Wohnung erinnert er sich an eine Kunstführung im Kaiser Friedrich Museum, und daran, wie die Wohnung aussah als sie noch möbliert war: „Links von mir, in der Ecke, hatte sich das Wandbrett befunden mit den Büchern, über der Schlafbank, auch den runden Tisch, in der Mitte der Küche, versuchte ich mir zu vergegenwärtigen, die verschiedenen geformten Stühle, den Schrank mit dem Geschirr, der Wäsche“[.]75 Diese Erinnerungstechnik, die mittels Erinnerungsbildern (imagines) Räume und Gebäude zu rekonstruieren versucht, wurzelt in der Ars Memorae des Simonides von Keos. Die Bilder, die der Erzähler mit der Wohnung seiner Eltern verbindet, werden demgemäß an bestimmte loci angebracht.76 Tief versunken in seine Gedanken hört der Ich-Erzähler plötzlich ein leichtes Knarren im Boden und erkennt sofort, dass jemand dort vergraben liegt. Als eine Planke des Linoleumbodens losbricht und seitwärts aufklappt, meint er intuitiv den staubigen Arm seines Vaters mit seinem breiten Gelenk zu erkennen. Er ver-
74 Ein Beispiel hierfür ist das plastische Erinnerungsbild des Vaters an den Matrosen, der sich während der gescheiterten Bremer Revolution an eine Gasleitung stürzt und verbrennt: „[…] sah ich, wie ein Matrose sich auf die zerplatzte Gasleitung warf, er hielt sie mit seinem Leib zusammen, warum eigentlich, fragte ich mich, seine Uniform brannte schon, er verbrannte“. ÄdW I, S. 101. 75 ÄdW I, S. 92. 76 Siehe Ebd. Vgl. hierzu Frances A. Yates, Gedächtnis und Erinnern, S. 11-15.
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sucht, seinem Vater zu helfen, aber gerät selbst ins Schwanken und wird aus dem Fenster seiner Wohnung hinausgeworfen. Über der Straße seiner Wohnung hängend, erinnert sich der Ich-Erzähler an das Gesicht des Vaters. Dies nimmt er zum Anlass, über das menschliche Erinnerungsvermögen zu philosophieren: „Indem ich mich mit den Füßen vom Fenstersims abstieß und über den Schienenschacht wegflog, dachte ich daran, wie eigentümlich es war, daß wir immer mit so viel Gewißheit zwischen den Dingen gelebt hatten, als seien sie tatsächlich das, wofür sie sich ausgaben.“ Erörtert wird des Weiteren das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit. Der Erzähler reflektiert über die Problematik des „Übergangs vom Denken in Kausalzusammenhängen zur visionären Erfassung von Zuständen“. Damit verbunden ist eine Sprachkritik, dadurch bekundet, dass der Erzähler „dieses einzigartige und kühne Abkommen […] alles zu benennen und zu bewerten“ in Frage stellt. Dieser Sprachverlust wird zu Beginn als negativ eingestuft: „Da ich die Sprache verloren hatte, ließ sich nichts mehr feststellen von dem, was jetzt, eigentlich mit Bestimmtheit, hätte kommen müssen.“ Später vollzieht sich jedoch eine Umwertung dieser Aussage, wobei das Erzählte „in einen Zustand des Unberechenbaren“ übergeht.77 Zugleich weist die Hinterfragung von Zeit und Raum, die bei der Flug-Episode thematisiert wird, Reminiszenzen an Strindbergs Vorwort zum Traumspiel auf, welches „die Nachbildung der unzusammenhängenden, aber scheinbar logischen Form des Traumes nachzuahmen versucht.“78 Die Gesetze von Raum und Zeit sind aufgehoben: das „Eindeutige und Gegenständliche“ ist umgeben von „einem Gewühl, von einem Lauern und Würgen“, wobei von der Sprache nur noch „ein Lallen“ übrig bleibt.79 Die Textstelle wird mittels einer Mischung von Parataxe und Hypotaxe wiedergegeben:
77 Vgl. ÄdW I, S. 93f. 78 Vgl. August Strindberg, Ein Traumspiel. Deutsch von Peter Weiss, Frankfurt am Main 1965, S. 7. Das „ikonographische Grundmuster von Flug und Sturz“ stellt zudem ein konstituierendes Merkmal in Weiss’ früher Prosa dar. Vgl. Karl Heinz Götze, Poetik des Abgrunds und Kunst des Widerstands. Grundmuster der Bildwelt von Peter Weiss, S. 14. 79 Bereits in seiner Laokoon-Rede 1965 bezeichnet Weiss die Sprache als ein „Stammen und Lallen“; hinter dem phonetischen Bestandteil der Sprache verbergen sich „unartikulierte“ Geräusche: „[E]s liegt Stammeln und Lallen in jedem Wort, und tiefer darunter noch sind unartikulierte Geräusche herauszuhören, ein Zungenschlagen, ein Lippenklappern, und in der Machtlosigkeit ist der Schrei und dann nur noch die Stille.“ Siehe R, S. 170.
268 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Vom ersten Knacken an wußte ich schon, daß jemand dort vergraben lag, und als die losgebrochne Planke seitwärts aufklappte, erkannte ich sogleich die über und über verstaubte Hand meines Vaters, mit dem breiten Gelenk, den kräftigen Knöcheln, sein Arm tauchte auf aus dem Mörtel, sein Gesicht lag noch im Werk, das zwischen die Bohlen gestopft war, ich wollte ihm helfen, ich hing so weit aus dem Fenster, daß die nächste Regung mich hinauswerfen würde. Wie mochte er aussehn, dachte ich, nach solch langer Zeit unterm Boden, fast drei Jahre lang, welche Anstrengung mußte es ihn gekostet haben, bis er endlich die vernagelten Bretter und den drauf geklebten Linoleumbelag zu sprengen vermochte. […] Ich konnte noch, kurz, den Triumph spüren, der damit zusammenhing, daß wir uns auf eine Wirklichkeit geeinigt hatten, daß wir dieses einzigartige und kühne Abkommen getroffen hatten, alles zu benennen und zu bewerten und in unser Bewußtsein einzuschließen, doch dann sah ich, rückwärts ausgestreckt fliegend, daß dies gar nicht stimmte, daß das Eindeutige und Gegenständliche umgeben war von einem Gewühl, von einem Lauern und Würgen, und unmittelbar darunter war von Namen und Bezeichnungen nur noch ein Lallen zu finden. Ich war weggesunken aus dem Wissen, was das dort unten für ein Bahnhof war, es war unmöglich, sich alle Einzelheiten in Erinnerung zu rufen, aus denen sich dieses Bauwerk ergab, ich wußte nur, daß ich es oft gesehen hatte, und da kam ein leicht gerundeter Vorplatz, mit Droschken und Taxis, da kam eine Freitreppe, ein Portal, da kamen gelbe Klinkersteine, maurische Bogenornamente und Rosetten, da kamen Schalterhallen, Sperren, Bahnsteige, Puffer stießen aufeinander, Menschen liefen hin und her mit Koffern, ein Gebilde war da, das ein Bahnhof sein konnte, doch der Hinweis, wo der Bahnhof lag, wohin die Reise von dort führen sollte, fehlte, nicht einmal die Zeit ließ sich bestimmen, Kleidungsstücke, Fahrzeuge hatten zuweilen den Anschein, als stammten sie aus früheren Jahrzehnten.
80
Diese Passage beschreibt den Übergang von der Ebene des Bekannten zur Ebene des Fremden, Surrealen. Eingeleitet wird dieser Wechsel der diegetischen Ebenen mit der Verkündigung des neuen Landesverratsgesetzes im Radio. Die Metapher des Grabens, die als ein Leitmotiv der Romantrilogie erscheint, wird hier zum Chiffre für den Kampf des unterdrückten Proletariats um politische Freiheit. Wie der Vater des Ich-Erzählers, der von kräftiger körperlicher Konstitution ist, sich freischaufeln muss, muss auch die Arbeiterbewegung sich freikämpfen. Die Metapher des Grabens veranschaulicht somit die Ausgangslage der Arbeiterbewegung, die ungeheuren Anstrengungen, die sie bereits auf sich genommen hat und noch auf sich nehmen muss, um Deutschland vom Faschismus zu befreien. Auf einer zweiten Ebene symbolisiert das Freischaufeln das Streben nach einer kulturellen und intellektuellen Emanzipation der Arbeiterbewegung. Wie Mün-
80 ÄdW I, 3, S. 92-94.
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zer in einer anderen Passage behauptet, müsse er „zuerst zu graben anfangen“, sich „rauswühlen, rauskratzen aus einer Masse von Schutt“, um Hierarchien abzuschaffen und das historische Herz der Arbeiterbewegung zu finden.81 Wie sehr das Aussehen des Vaters, dessen „kurzgeschnittnes borstiges Haar“ voll von Kalkbrocken ist, an den Gigantenkampf des Pergamon-Frieses in der SchlussSzene des Romans erinnert, hat Michael Hofmann behandelt.82 Die Metapher des Grabens erscheint in diesem Kontext als eine kulturelle Emanzipation der Arbeiterbewegung, indem ein Zustand imaginiert wird, in welchem alle Fesseln gesprengt werden, die die Artikulations- und Gestaltungsmöglichkeiten des Menschen behindern. In dieser Passage wird die Arbitrarität des Erinnerungsakts thematisiert; der Erzähler erkennt den Bahnhof nicht, weiß aber intuitiv, dass er ihn oft gesehen hat. Dies wird noch verstärkt dadurch, dass nicht einmal die Zeit festzustellen ist, sondern als beliebig erscheint. Die Kleidungsstücke der Fahrgäste und die Fahrzeuge scheinen aus früheren Jahrzehnten zu stammen. Man hat beinahe das Gefühl, als würde hier das Berlin um 1900 mit Droschken und Taxen evoziert, das Walter Benjamin in seinem Buch Berliner Kindheit um Neunzehnhundert beschrieben hat.83 Bei seinem surrealen Flug über Berlin sieht der über die Dächer fliegende Ich-Erzähler aus der Vogelperspektive das Glasdach eines Bahnhofs und die „Säulenfassade eines Museums, voll von vorzeitlichen Knochen, versteinerten Gewächsen und Muscheln“. 84 Im Museum weist die Hand des Vaters auf ein
81 Michael Hofmann deutet die Passage darüber hinaus als „das Streben nach einer Vereinigung von politischer und kultureller Utopie, von geglückter historischer und ästhetischer Erfahrung, weil ein Zustand imaginiert wird, in dem alle Fesseln überwunden sind, welche die Artikulations- und Gestaltungsfähigkeit des Menschen behindern.“ Michael Hofmann, Ästhetische Erfahrung in der historischen Krise, S. 209. 82 Michael Hofmann, Ästhetische Erfahrung in der historischen Krise, S. 208. So ist auch die beinahe pygmalionische Verwandlung des Vaters kunstgeschichtlicher Provenienz. Aus einem Lehmklumpen werden seine Gesichtszüge zusammengesetzt: „Ich wollte mich nur, sagte ich zu ihm, nun des Sprechens fähig, vergewissern, wie es draußen aussah, […] weil ich das, was in der Küche geschah, nicht für wahr halten konnte […]. Und weil nun jeder Zweifel verschwunden war. konnte der Lehmklumpen die ihm zugedachten Gesichtszüge annehmen. Mein Vater richtete sich auf.“ ÄdW I, S. 95. 83 Für eine ausführlichere Deutung dieser Passage, siehe Rainer Koch, Geschichtskritik und ästhetische Wahrheit, S. 132-137 und S. 164-168. 84 ÄdW I, S. 94.
270 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Knochengerüst, „und schon entstand die Landschaft ringsum.“85 Es handelt sich hier um das Museum für Naturkunde an der Invalidenstraße 43 in Berlin, welches der Erzähler als Kind mit seinem Vater besucht hat. Nun schaut er erneut auf den mit Portalfiguren, Rosetten, Söllern und Säulen geschmückten klassizistischen Bau, ehe er zusammen mit seinem Vater ins Vestibül tritt und in die glasgedeckte Halle blickt, in der sich die Dinosaurier erheben. Zusammen sehen sie das größte der Tiere, ein dreiundzwanzig Meter langer und zwölf Meter hoher Brachiosaurus und philosophieren über das Leben dieses Tieres vor hundert Millionen Jahren bis zu dessen Ausrottung durch die kleineren Fleischfresser. Dass der Erinnerungsort des Museums für Naturkunde in diesem Zusammenhang erwähnt wird, ist durchaus verständlich. Weiss’ Interesse für Archäologie, für die Ausgrabung seiner eigenen Erinnerungen manifestiert sich schon in seinem Prosastück Fluchtpunkt, dessen ursprünglicher Titel Dinosaurus lautete.86 Die Vergegenwärtigung der biographischen Zeit wird hier durch eine zweite Zeitschicht ergänzt: die paläontologische Vorzeit der Menschheit, die die Deixis des Vaters auslöst. Die narrative Parallelität mit dem ersten Satz des Romans „Rings um uns hoben sich die Leiber aus dem Stein“87 ist unübersehbar. Diese Beschreibung zielt laut Günter Butzer auf eine „Vergegenwärtigungsbewegung“ der Einkreisung des Betrachters durch die im Kunstwerk aufbewahrte Erinnerung, die als verlebendigte Zeit erscheint.88 Das Motiv des Fliegens begegnet uns schon in Weiss’ frühem Prosastück Von Insel zu Insel. Dort erreicht der Protagonist die Schwerelosigkeit, die auch auf den Erzählraum übertragen wird: „ich fiel und fiel, und das Zimmer, das Haus, alles fiel mit, bis das Stadium der Schwerelosigkeit erreicht war, da flog ich herum, hinaus, hinunter, in einem einzigen Sprung durch fünf Stockwerke, die Gasse entlang[.]“89 In Abschied von den Eltern fliegt der ErzählerProtagonist in einem somnambulen Glückzustand im Rahmen einer traumhaften Passage aus dem Fenster des elterlichen Hauses heraus. Das Flug-Motiv erscheint dort wie in der Ästhetik des Widerstands als eine befreiende Sprengung der Konventionen der Realität.
85 Ebd, S. 97. 86 Siehe hierzu Jens-Fietje Dwars, Und dennoch Hoffnung. Peter Weiss: Eine Biographie, S. 131. 87 ÄdW I, S. 13. 88 Vgl. Günter Butzer, Fehlende Trauer, S. 168. 89 Vgl. W, Bd. 2, hier S. 308. Vgl. AE, S. 82. Zum Flug und Sturz-Motiv in Weiss’ Frühwerk, siehe Karl-Heinz Götze, Poetik des Abgrunds und Kunst des Widerstands. Grundmuster der Bildwelt von Peter Weiss.
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Aus der Vogelperspektive sieht der Erzähler eine Reihe von Gefangenen, die verwundet oder tot sind, sie liegen im Krankenhaus und auf einem Feld. Diese Bilder des Schreckens sind eine unüberhörbare Anspielung auf die bevorstehende Entwicklung in Deutschland und auf den Holocaust. Die Passage lässt sich als einen ersten Einblick in die Methoden und Konsequenzen des Faschismus deuten, dessen Grausamkeit sich in rational-diskursiven Begriffen nicht darstellen lässt. Die Schockwirkung dieses Schreckensbildes und ihre sprachliche Realisierung (die klare, konzise eindringliche Sprache) erinnern an die Ekphrasen des Romans, den Pergamon-Fries und Guernica. Zugleich antizipiert die Passage die Hinrichtungs-Szene am Ende des Romans, als Coppi und Heilmann im Gefängnis in Plötzensee zusammen mit anderen Widerstandskämpfern gefoltert und erhängt werden. Die Körper liegen zerfleischt, blutüberströmt, nebeneinander, übereinander, hingeworfen auf dem Boden […] die Straßen waren so voller Schwärze, der Himmel so niedrig und schwelend, etwas anderes als dieses Schwimmen in der Luft, dieses Sichentlangtasten an Mauern, Pfählen, Dachrinnen war nicht möglich, nicht wegzuleugnen waren die Haufen der Toten auf dem Feld, vorangeschaufelt von der unendlich langsam sich verschiebenden Reihe metallner Beine, deren Mechanismus aufgezogen war, und das Krankenhaus lag dort, ohne Stöhnen und Jammern, wie auch die Maschinerie draußen ohne geringstes Rasseln und Ticken sich bewegte, und es wäre unbeschreibbar gewesen wo, in welchen Straßen, in welcher Stadt, 90
zu welchem Zeitpunkt, dies sich abspielte[.]
Auch in dieser Passage bedient sich Weiss des hypotaktischen Erzählstils. Hier spiegelt die Wahl der Satzkonstruktion eher den emotional aufgeladenen Zustand des Erzählers, der erstmals einen Einblick in die faschistischen Gräueltaten bekommt. Die Textstelle zeichnet sich durch Arbitrarität aus, durch eine grundsätzliche Unsicherheit dessen, wo und wann sich das Erzählte begeben hat. Desweiteren wird durch diese Traumsequenz Klaus Scherpes Bemerkung über die Darstellung der Stadt im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit aktualisiert. In diesem Fall wird die Wahrnehmung der Stadt durch die Verkleinerung des Wahrnehmungsobjekts auf die Großstadtminiatur mittels der Vogelperspektive intensiviert. Im Gegenteil zum Vater-Sohn-Verhältnis in Abschied von den Eltern, welches von einer gestörten Kommunikation geprägt ist, gelingt diese Kommunikation in der Ästhetik des Widerstands. Beim Gespräch mit seinem Vater redet der Ich-Erzähler über die Städte, in denen er aufgewachsen ist. In der Pflugstraße in
90 ÄdW I, S. 94.
272 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Berlin wohnte er zusammen eine Zeitlang in einer bürgerlichen Gegend, die der Familie nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 ein Refugium bot. Dort wohnte die kommunistische Familie mit Polizisten und mittleren Beamten und wurde von der Gestapo in Ruhe gelassen. Mit der deiktischen Frage „erinnerst du dich an das Aussehn der Pflugstraße“91 erfolgt aus der Erzählperspektive des Vaters die Inszenierung von Erinnerung an die Stadt Bremen zur Zeit der Räterepublik 1919. Zunächst erfolgt aber eine Vergegenwärtigung des Berliner Stadtviertels, in dem die Familie gewohnt hat. Intuitiv erinnert sich der Vater an bestimmte Objekte und Bilder, die er mit der Wohnung verbindet, etwa die Haustür der Familie, die mit ihrem vergitterten Aussehen auf die eingeengte Lage der Familie verweist. Dieses mnemotechnisch organisierte Erzählmuster fußt auf Orten und Bildern im Sinne von „Bild-Erinnerungszellen“.92 Die unterschiedliche Positionierung des Betrachters und der Stimmenwechsel verleihen der Textstelle einen dynamischen Charakter. Weiss bedient sich hier weitgehend der Parataxe, deren rhetorische Funktion darin besteht, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Die parataktisch aneinandergereihten Sätze wirken zwar trocken und distanziert, aber bieten die Möglichkeit, eine möglichst präzise Beschreibung des Erinnerungsraumes darzustellen. Erinnerst du dich an das Aussehn der Pflugstraße, fragte ich meinen Vater, und kannst du die Viertel beschreiben, die sie umgaben. Mein Vater dachte sich zuerst unsre Haustür, mit der Nummer Sieben. Sie bestand aus zwei schweren, im Flur mit langen Eisenhaken von der Wand abgestützten Hälften und war mit vergitterten Glasscheiben versehn. Wandte er sich von den wellenförmig geschnitzten Profilen der Außenfläche ab, so fiel sein Blick auf den roten Ziegelsteinbau an der gegenüberliegenden Straßenseite. Es war das freistehende Haus der Volksschule, dreistöckig, wie er glaubte, mit Gesimsen unter den Fenstern, und ein paar Stufen, die zum Eingang hinaufführten. Daneben erstreckte sich, auf steinernem Sockel, ein gußeiserner Zaun vorm schmalen Teil des Hofs, auf dem, zwischen Gebüsch, ein Gemüsebeet angelegt war. Daran schloß sich, zur Rückseite des Gebäudes verlaufend, der größere, mit Kies bestreute Hof. Zu den Seiten ragten Brandmauern auf, höher als die Schule, am Ende des Hofs lagen Werkstätten und kleinere Fabriken, mit Schornsteinen und Reihen rußiger Fenster. Drehte er sich um, nachdem er über das Pflaster der Straße gegangen war, wieder unserm Haus zu, so sah er den großen Block, der sich links anschloß. Die Fassade, mit ihren eingelassenen Balkons, ihren breitgeschwungnen Stuckverzierungen, hob sich von den übrigen Mietskasernen ab. Hier wohnten Polizisten mit ihren Familien, zumeist mittlere Beamte, die ihre Dienststelle in den Kanzleien
91 ÄdW I, S. 95. 92 NB 2, S. 682.
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und Kasernen an der Chausseestraße hatten. Das Haus schloß unsre Straße am Winkel zur Wöhlerstraße ab. Nach den grünen Uniformen seiner Bewohner Maikäferhaus genannt, gab es uns, sagte mein Vater, Sicherheit, denn niemand kam auf den Gedanken, daß in unmittelbarer Nähe solcher Bewachung Genossen aus und eingehn und sich nach Drei93
unddreißig hier oft wochenlang verstecken würden.
Die Beschreibung des Viertels wird hier verzeitlicht und somit strukturiert. Sie bekommt dadurch den Charakter einer Wegbeschreibung, die das Aussehen der Pflugstraße vergegenwärtigt. Es geht aber nicht einfach um eine Vergegenwärtigung des Erinnerungsorts, sondern die Figuren bewegen sich innerhalb dieses Erinnerungsraus und überschreiten somit die Grenze zweier diegetischen Ebenen. Damit orientiert sich Weissʼ Beschreibungstechnik an Lessings Modell der homerischen Schildherstellung, die ebenfalls eine zeitliche Abfolge beschreibt. Schrittweise wird die Fokalisierung auf die Wahrnehmungsperspektive des Vaters gelenkt. Zuerst fragt ihn der Ich-Erzähler über das Aussehen des Wohnviertels, danach setzt ein Prozess des schrittweisen Übergangs der Perspektive ein, und es folgen die Verben „dachte sich“, „wandte er sich“ und „fiel sein Blick auf“. Plötzlich erinnert sich der Erzähler dann an das Übersee-Museum in Bremen mit „rauchgeschwärzten Klinkergemäuern“, das er am großen Bahnhofsplatz gegenüber vom Hotel Columbus in Bremen als Kind besucht hat. Zu diesem Museum führt der Weg über die Weserbrücke und den Domshof, am Bremer Rathaus vorbei, durch den Schlüsselkorb und die Wallanlagen, „links stieg der Park zur Baumschule an, mit der Windmühle überm Stadtgraben, vom Herdentor, neben dem Hillmann Hotel, ging es durch das Gedränge der Automobile und Straßenbahnen auf die schon sichtbaren hinausgepufften Dampfwolken der Lokomotiven zu, und dann traten wir in die Halle, vor die Pfeilerriehen, die, unterm hohen Glasdach, weit in die Tiefe der Kontinente führte.“94 Vergegenwärtigt wird die Kindheit des Erzählers, als dieser zusammen mit seinem Vater, der ihn an der Hand hält, in einem Museum Pygmäen-Puppen besichtigt, die nicht größer als er selbst sind.95 Der Ich-Erzähler vergleicht dabei den urbanen Raum seiner Kindheit mit der kleinen Fläche des Bremer Museums, in dem die Pygmäen zur Schau gestellt wurden. „Was ich von meiner Kindheit besaß, glich dem Revier, das den Pygmäen zugemessen wurde.“96 Alles was ihm widerfahren ist,
93 ÄdW I, S. 95f. 94 Ebd., S. 96. 95 Vgl. die Abbildung in NB 2, S. 21. 96 Siehe ÄdW I, S. 100.
274 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT wird somit zu einem kleinen Raum verdichtet. Die Stadt als Erinnerungsraum ist für den Protagonisten an Bremen und Berlin gekoppelt, zwei Städte, in denen Weiss aufgewachsen ist. Die Familie Weiss zog 1923 an die vornehme Adresse Marcus Allee 45, wo sie in einer Villa wohnte.97 Die Erinnerungen des Erzählers an Bremen sind jedoch stärker als die an Berlin. Beschrieben wird die Hafenstadt Bremen mit ihren Brauereien und Kaffee-Röstereien – eine überschaubare Stadt mit ihren Brücken, Schuppen und Jahrmarktsbuden. In der heutigen Gesellschaft koexistieren und konkurrieren verschiedene kulturelle, soziale, politische und ethnische Gruppen, deren Erinnerungskulturen als intern und heterogen betrachtet werden müssen. Verschiedene Gruppierungen in der Gesellschaft aktualisieren und adaptieren demgemäß zum Zwecke ihrer Geschichtsschreibung häufig unterschiedliche Aspekte der kollektiven Vergangenheit. Innerhalb einer gesellschaftlichen Erinnerungskultur überschneiden sich mehrere Erinnerungsgruppen mit ihren jeweils spezifisch konstituierten Identitäten: Kollektive Identitäten müssen nicht nur geschaffen und konsolidiert werden, sondern sie brauchen auch eine politische Anerkennung in der Gesellschaft.98 Diese Vielfalt der Erinnerungskulturen führt zugleich auch zu Kämpfen um Legitimation und um die kulturelle Erinnerungshoheit. Denn kollektive Erinnerungen sind umkämpft, „sie unterliegen Umdeutungs-, Delegitimations- und Auslöschungsversuchen“99 und müssen ihre Deutungshoheit immer wieder neu legitimieren. Im Lichte dieser Erinnerungskonkurrenz kann auch Die Ästhetik des Widerstands gelesen werden, in welcher Weiss durch eine alternative Geschichtsschreibung die politische und kulturelle Anerkennung der linken anti-faschis-
97 Die Inszenierung der Stadt Bremen als Erinnerungsraum wird in den Notizbüchern thematisiert. Darin versucht Weiss sich das Elternhaus an der Grünenstraße zu vergegenwärtigen. Doch wird er überwältigt von einem Gefühl der inneren Leere beim Wiedersehen der einst bekannten Straße: „Immer vor der Leere stehend, in der sich einmal unser Haus befunden hat. Hin u her auf der Grünenstraße, um irgendwas wiederzuerkennen. Konnte mich nicht einmal mehr an diese kleine Quergasse erinnern, mit dem Namen Papagyenboom. Und doch muß hier, an der Ecke, nach den Traumempfindungen von Richtungen, Schustermeister Stahlhut seine Werkstatt gehabt haben. Grünenkamp, Große Allee, Kaiser-Brücke, Teerhof, wieder zurück, zum Neustadt Wall, wo auch die Kasernen verschwunden sind.“ Vgl. NB 2, S. 12. 98 Vgl. hierzu Birgit Neumann, „Literarische Inszenierungen und Interventionen: Mediale Erinnerungskonkurrenz in Guy Vanderhaeghes The Englishma’s Boy and Michael Ondaatjes Running in the Family“, in: Astrid Erll, Ansgar Nünning (Hrsg.), Medien des kollektiven Gedächtnisses, S. 195-215. Siehe insbesondere S. 200. 99 Ebd., S. 200.
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tischen Widerstandsbewegung sowohl in der BRD als auch in der DDR zu legitimieren versucht. Im ersten Buch der Ästhetik des Widerstands ist die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung bis 1933 zentral. Prägend für die politische Orientierung des Ich-Erzählers ist die Zerspaltung der Arbeiterbewegung ab 1918 in einen reformistischen und einen revolutionären Flügel. Sowohl die KPD als auch die SPD kämpften um politische Erinnerungshoheit. Diese politische Konkurrenz wird auf einer höheren Ebene im Vater-Sohn-Verhältnis verdichtet. Der Vater-Sohn-Konflikt gipfelt in der vorwurfsvollen Frage des Erzählers: „Und warum […] hast du dich dann doch wieder der Partei angeschlossen, die sich für immer gegen die Revolution gestellt hatte?“ Der Vater kontert mit den Verbrechen gegen die Menschheit, die im Namen des Kommunismus begangen wurden und mit dem „Wahnsystem“ der dogmatischen Stalin-Ära, die den „Kult um die höchste Person der Partei aufgebaut [hat] und den heroischen Realismus als allein gültige sozialistische Kumnstform propagiert.“100 Rhetorisch begründet der Erzähler seine Stellungnahme gegen die Sozialdemokratie mit der Figur der argumentatio: Die Kluft zwischen der SPD und der KPD, die einander während der Weimarer Republik bekämpften, statt sich zusammen der Volksfront anzuschließen, hat laut dem Erzähler mit der Verbürgerlichung der Sozialdemokraten zu tun. Die SPD trägt laut ihm maßgeblich zum Scheitern der Weimarer Republik bei, da sie mit den Totengräbern der Republik, mit dem Finanzkapitalismus und den reaktionären Kräften kollaboriert hat. Folgende Passage, die die blutige Niederschlagung der Bremer Räterevolution durch die Freikorps der sozialdemokratischen Reichsregierung thematisiert, fingiert im Erinnerungsraum des Vaters. Dort figuriert ein Bild, das narrativ wie ein Gemälde im Stile von Georg Grosz oder Otto Dix arrangiert ist.101 Aus der Perspektive des Vaters des Erzählers werden die Karikaturen der Fratzen und Stiernacken der reaktionären Kräfte der Weimarer Republik gezeichnet. Bezeichnenderweise werden die Erinnerungen des Vaters an die Februartage in Bremen von einem „Gedächtnisschwund“ getrübt. Im Rahmen einer „erlebten Rede“ sieht der Vater die verschwommenen Gestalten der Weimarer Republik „aufsteigen“: Und warum, fragte ich, hast du dich dann doch wieder der Partei angeschlossen, die sich für immer gegen die Revolution gestellt hatte. Sein Suchen nach Erklärungen zeigte mir, daß bei aller Gegenwärtigkeit der Februartage des Jahrs Neunzehn diese Zeit doch einen
100 ÄdW I, S. 115, S. 124. Vgl. hierzu Alfons Söllner, Peter Weiss und die Deutschen, S. 201. 101 Vgl. hierzu Alfons Söllner, Peter Weiss und die Deutschen, S. 201.
276 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Gedächtnisschwund, einen blinden Fleck in ihm hinterlassen hatte. Natürlich war früher bei uns oft über die Periode der Parteikämpfe zu Beginn der Zwanzigerjahre gesprochen worden, doch mir wurde erst jetzt bewußt, wie wenig mir über diese Vorgeschichte bekannt war, […] die Berichte meines Vaters hatten etwas Fremdartiges an sich, sein Zögern deutete an, daß er spürte, wie schwierig auch mir die Annäherung an dieses Gedankenmaterial war, in dem doch die Wurzeln lagen für ein Verständnis der heutigen Geschehnisse. Über dem Kadaver der Bebelschen Sozialdemokratie sah er die Gestalten von Ebert, Haase und Noske, Scheidemann und Severing, Legien, Landsberg und Wissel aufsteigen. Sie hatten zerfließende Gesichter, Speckbacken, Stiernacken, Hängebäuche. […] Zu den Totengräbern der Zweiten Internationale traten die Jüngeren, die den Bankrott der Arbeiterbewegung in die Gegenwart trugen, und rings um sie war ein dumpfer bleicher Haufen angewachsen, Groener, Hindenburg und Seeckt waren zwischen den Fratzen mit Schmissen, Schnurrbärten, schiefen Mündern zu erkennen, und Stinnes und Hugenberg, und Kapp, Sklarz und Tamschik, und Lüttwitz, Epp und Escherisch, und Erhard, Lettow, Vorbeck und Hülsen, und all die andern Schieber und Fememörder, die Führer der Freikorps […] Thyssen und Krupp, Blessing und Blohm[.]
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Der Erzähler entwirft hier zwei Rezeptionsmodi, die sich aufeinander beziehen und so ausdrücklich wie an keiner anderen Stelle die politische Selbsteinschätzung des Autors belegen. Die von Weiss intendierte Leserhermeneutik bemüht sich um eine Belehrung des Lesers durch die rhetorische Figur der persuasio. Diese politische Gesinnung geht davon aus, den reformistischen Teil der Arbeiterbewegung, die Sozialdemokratie, politisch zu diskreditieren. Nur der KPD ist es gelungen, gegen den Faschismus Widerstand zu leisten, während die SPD mit den reaktionären Kräften der Weimarer Republik kollaboriert hat.103 Erst wenn man die Vorgeschichte kennt, kann man in vollem Maße die „Machtergreifung“ der Nazis und die Zerschlagung der Demokratie in Deutschland verstehen. Auf der zweiten Ebene spiegelt das Zitat Weiss’ eigene politische Entwicklung und seine Bestrebung, eine alternative „Wunschautobiographie“ zu schreiben. Die Erinnerungsfigur des Vaters erfüllt insofern eine wichtige Kontrastfunktion im Roman. Die Erinnerungen des kommunistischen Erzählers an die Grünenstraße unterscheiden sich aber von denen des sozialdemokratischen Vaters, so dass zwei Erin-
102 ÄdW I, S. 115f. 103 Auch die KPD bleibt allerdings nicht von Kritik verschont. Diese Partei wird als dogmatisch angeprangert, die die „absolute Opferbereitschaft“ von ihren Mitgliedern fordert. Später wird der für die KPD sehr heikle Hitler-Stalin-Pakt mit durchaus kritischen Obertönen beschrieben. Vgl. ÄdW I, S. 119.
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nerungsakte miteinander in Konkurrenz treten. Dies manifestiert sich nicht zuletzt darin, dass der Stadtteil, an den der Vater zurückdenkt, ein anderer ist, als derjenige des Erzählers. Hier erscheint die Stadt als ein Buch, das „gelesen“ wird: Das Skelett der Straßen lässt sich rekonstruieren, und die Straßen und Häuser sind mit „rebusartigen Andeutungen“ erfüllt, die dekodiert werden müssen; sie nehmen Leben an, wenn der Betrachter sie sich vergegenwärtigt. Dem Erzähler erscheint es, als ob alles, was ihm widerfahren ist, sich auf einem kleinen Raum verdichtet. Die Fokalisierung erfolgt zunächst aus der Perspektive des Ich-Erzählers, um dann auf den Wahrnehmungsraum des Vaters zu wechseln und sich kollektiv auf beiden Figuren zu überlappen. Die sprachliche Realisierung der Passage mittels der Aneinanderreihung selbstständiger Sätze (Parataxe) durch koordinierende Konjunktionen bzw. durch Satzzeichen dient der detaillierten Klarheit der Darstellung des Erinnerten und sorgt für eine Konzentration auf das Wesentliche des Inhalts. Ich versuchte, mir die Grünenstraße zu vergegenwärtigen. Stieg sie nicht an, von der Brautstraße, fragte ich. Mir war, als sei ich von unserm Haus hinuntergelaufen zum Krämerladen Kempe, gegenüber dem Straßenansatz, neben der Volksschule mit dem Säulenvorbau. Dessen entsann sich mein Vater nicht, für ihn zog sich die Grünenstraße grade hin, rechts Ziehms Schlachterei, Mertens Milchhandlung, die schmale, zum Deich abbiegende Gasse, die Kurze Straße hieß, dann ein paar Schänken, Packhäuser, Pferdeställe, die Werkstatt des Glasmeisters Bachmann, und hinter unserm Haus, Nummer Dreiundzwanzig, die ummauerten Höfe der Schieferfabrik, der Kaffeerösterei, das Gebäude des Eichamts. Ehe wir eintraten in die Grünenstraße, sah ich vor mir, jenseits der Weserstraße, am Neuen Markt, die Pferdetränke, die abgeschabte Brunnenkante, den langen Pumpenschwengel, die steinernen Pfosten, an denen die Brauereikutscher die Zügel befestigten, und als sie in die Kneipe gingen, tauchten die Gäule, in ihrem mit Kupfer beschlagnen Geschirr, die Mäuler ins Wasser. Der Stadtteil, der in mir nachlebte, war ein anderer als der, an den mein Vater jetzt dachte. Das Skelett der Straßen ließ sich errichten. Wir gingen auf unser Haus zu. Das Geviert wurde abgeschlossen von der Häschenstraße, mit Bestenbostels Maschinenfabrik und Haakes Bierbrauerei, weiter entfernt war die Große Allee, die zur Kaiserbrücke führte und zum Grünenkamp, wo im Herbst der Freimarkt abgehalten wurde, ganz am Ende der Straße befand sich der Neustadtbahnhof, da sah mein Vater sich auf dem Rad fahren, vorbei am Gelände der Kaiser Brauerei, der großen Brauerei Haake Beck, der Reismühle, über die Eisenbahnbrücke, auf dem Holzsteig neben den Güterzügen, zur Weserwerft. […] Alles, was mir hier widerfahren war, hatte sich zu einem kleinen Raum verdichtet, angefüllt mit einem Gespür für Richtungen, Volumen und mit rebusartigen Andeutungen, die Leben annahmen, wenn der Blick sich in sie versenkte. Wie die riesigen Wälder mit ihrem Dickicht, ihren Wassergüssen, ihren wilden Tieren hinter einem Haufen zusammengerafften Blattwerks zu ahnen waren, so schlossen sich die Höfe
278 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT und Brücken, Schuppen und Jahrmarktsbuden und Straßenecken zu einem Gewebe zusammen, aus dem eine Stadt sich deuten ließ, hier gab es keine Abstände, alles war beherrscht von der Empfindung der Nähe und ließ sich, durch geringe Verschiebungen des Blickwinkels, zur Vorstellung bringen. Ständig hingen um uns die Gerüche von Malz und 104
Kaffee, vermischt mit den Dünsten aus der Seifenfabrik an der andern Seite der Straße.
Durch diesen „virtuellen“ Spaziergang durch das Bremen seiner Kindheit vergegenwärtigt sich der Erzähler das Skelett des Straßennetzes, wo sein Vater mit dem Fahrrad zur Arbeit gefahren ist. Zudem fällt die Körpermetaphorik der Stadt auf: das „Skelett“ des Straßennetzes schließt sich zu einem „Gewebe“ zusammen. Die Rekonstruktion zeichnet sich durch eine akribische, beinahe fotografische Exaktheit aus, die von synästhetischen Eindrücken auszeichnet; gegenwärtig sind dem Erzähler die „Gerüche von Malz und Kaffee, vermischt mit den Dünsten aus der Seifenfabrik“. Ein wichtiges Ereignis in der Geschichte der Freien Hansestadt Bremen ist die blutige Zerschlagung der Räterepublik am vierten Februar 1919 durch die sozialdemokratische Reichsregierung unter Friedrich Ebert. Eine besonders prägnante Erinnerung des Vaters ist eben dieses Ereignis.105 Im Radio wird auf der Erzählebene angekündigt, dass Hitler sich in Berlin mit Mussolini getroffen hat, was den Vater veranlasst, an die schmerzsamen Erinnerungen an das blutige Niederschlagen der Bremer Räterepublik 1918-1919 zu denken. Zunächst deutlich das Landesverratsgesetz verkündigend, wird Hitlers Massentreffen auf dem Maifeld wiedergegeben, wovon der Erzähler allerdings nur Sprachbrocken aufzufassen vermag: „von nebenan drang die Rundfunkstimme wieder ein, jetzt mit schriller Deutlichkeit, kundgebend das Landesverratsgesetz, das den Tod durchs Beil des Scharfrichters vorsah […] gurrend war die Stimme jetzt, die heiser, gröhlend sein konnte, die sich schrill überschlagen konnte, beherrscht war sie sozusagen von der Feierlichkeit der geschichtlichen Konstellation, ein einzelner Satz trat aus dem gutturalen Gebrodel vor“.106 Die Radiostimme verweist auf die
104 Ebd., S. 99f. 105 Zur feindlichen Einstellung der revisionistischen SPD gegenüber der KPD äußert der Erzähler Folgendes: „Immer wieder, ehe wir noch einsahn, sagte mein Vater, mit welchem Zynismus, welcher Skrupellosigkeit sich die rechten Führer der Sozialdemokratie zu den Verteidigern der Reaktion und des Chauvinismus machten, hoben wir hervor, daß die Herstellung des Friedens […] auf dem Boden und nach den Bedingungen der Arbeiterklasse stattfinden müsse.“ ÄdW I, S. 110. 106 ÄdW I, S. 92. Siehe zu dieser Passage auch Günter Butzer, Fehlende Trauer, S. 171173.
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Todesgefahr, in der die Widerstandskämpfer schweben und greift die Hinrichtung der Mitglieder der Roten Kapelle voraus. Das Medium Radio erfüllt zudem eine biographische Auslöserfunktion. Denn das Treffen der beiden Diktatoren geht letztendlich auf das Scheitern der deutschen Revolution 1919 zurück. Die historische Last der gescheiterten Revolution liegt immer noch wie eine Bürde auf den Schultern des Vaters. Ihm und seiner Klasse ist es nicht gelungen, zum Träger gesellschaftlichen Wandels und zum handelnden Subjekt der Geschichte zu werden. Dieser Kampf um die Identitätsfindung der Arbeiterbewegung wird u.a. mit der Metapher des Grabens veranschaulicht. Das, was die Arbeiterbewegung und die Gremien der Gewerkschaften versäumt haben, ist laut dem Vater, dass sie die kulturelle Emanzipation des Proletariats nicht genügend vorangetrieben haben. Doch sowohl die politische als auch die kulturelle Revolution, von der in den 1920er Jahren die Rede war, blieb aus.107 Als historischen Fehler der Arbeiterbewegung bezeichnet es der Vater des Erzählers, dass es die organisierte Arbeiterbewegung versäumt habe, „die großen Möglichkeiten zur Schulungsarbeit innerhalb der Gewerkschaften auszunutzen. Unzählige sozialdemokratische Arbeiter habe es gegeben, die zu einer Erweiterung ihres Bewußtseins fähig gewesen wären, hätten sie nur den Antrieb, die Unterstützung dazu erhalten.“108 Die Beschreibung des Vaters zielt auf eine Vergegenwärtigung des gewaltsamen Geschehens, so dass der Erzähler sich buchstäblich zurückversetzt in die Begebenheiten. Folgende Textstelle zeichnet sich durch seine sparsame adverbiale Ausschmückung aus, durch Verzicht auf Adjektive bei der Beschreibung des Geschehens. Bei Sankt Pauli, am Neuen Markt, in der Johannis Straße, wurde geschossen, aus den Seitenstraßen, über die Dächer, die Gartenmauern, kamen die Aufständischen, die abgeschnittenen Revolutionäre, ich sah es jetzt deutlich, vom Fenster unsrer Wohnung aus hatte ich es einmal schon in mich aufgenommen, ohne es zu erfassen, mein Vater war unter denen, die dort über die Schindeln krochen, in den Schneeböen, sich in die Bäume warfen, hinunterkletterten zum Deichweg, und als er beschrieb, wie sie sich von der Uferfeste langsam vorschoben zur Großen Allee, zum Ansatz der Brücke, wie sie sich am Geländer
107 Von dieser Kulturrevolution sagt Münzer Folgendes: „Wir haben noch vor uns, sagte er, die Kulturrevolution, von der am Anfang der Zwanzigerjahre die Rede war. Diese würde nicht nur uns, sondern alle, die für den Druck der Geschichte empfänglich waren, verwandeln.“ ÄdW I, S. 188. Vgl. hierzu auch Michael Hofmann, Ästhetischer Erfahrung in der historischen Krise, S. 206. 108 Vgl. Ebd., S. 206; ÄdW I, S. 139.
280 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT entlangdrückten, gedeckt vom Feuer der Cuxhavener Matrosen, hingen über mir die genieteten Brückengewölbe mit ihrem dichten Kreuzwerk von Balken, Minen schlugen in den Boden ein, eine blaue Stichflamme schoss aus einer zersprengten Gasleitung hervor, die Arbeiter drüben auf der Weserbrücke, sagte mein Vater, waren überwältigt worden, von ihren Barrikaden, zusammengetragen aus Karren, Kisten, Brettern, Matratzen, stieg schwarzer Qualm auf, die Domglocken läuteten bereits den Sieg der Konterrevolution ein, als wir noch mitten auf der Kaiserbrücke lagen, dort am Fuß des Eisenbogens, wo der Weg zum Teerhof abzweigte. […] Wenn mein Vater jetzt, hin und hergehend in der Küche, die Hände vor die Ohren legte, so war es wohl auch der wieder heraufdringende Lärm der Februarkämpfe, den er abwehren wollte, vor allem aber setzte uns das Dröhnen zu, aus den Lautsprechern, von der Straße her. Es wurde uns allen, ob wir es hören wollten oder nicht, jede Phase des Ereignisses nahgebracht, das in Berlin stattfand. Unaufhörlich stürzten die Bekanntmachungen aus den Fenstern der Nachbarschaft auf uns ein, unterbrochen von Marschmusik und Gebrüll. […] Wenn mein Vater an die Februartage in Bremen dachte, so war spürbar, daß eine Last auf ihm lag, mit der er nicht fertig wurde. Da war dieser Schuppen, ein ausgeräumter Pferdestall der Speditionsfirma Neukirch, da war der von Blut klebrige Verband um die Schulter, aus der der Feldarzt, der einzige, der auf der 109
Seite der Arbeiter stand, ihm die Gewehrkugel geschnitten hatte.
Der Marsch der Reaktion in der Radiosendung 1937 vereint sich hier mit dem Marsch der reaktionären weißen Truppen unter Major Caspari in Bremen 1919 zu einer höllischen Kakophonie. Mittels eines radikalen Perspektivenwechsels gelingt es Weiss, drei zeitliche Ebenen miteinander zu verbinden: Die Erinnerung an die Zeit mit seiner Familie im böhmischen Warnsdorf, die beiden Diktatoren, die sich in Berlin umarmen und der Niedergang der Revolution in Bremen 18 Jahre früher.110 Der Erzähler vergegenwärtigt eine Situation, in der sein Vater, der auf der Seite der Arbeiter gekämpft hat, von diesen Ereignissen erzählt. Hier wird das kollektive Gedächtnis der Arbeiterbewegung am Beispiel des Er-
109 ÄdW I, S. 101f. 110 Bezeichnenderweise fängt der Abschnitt über das Münchener Abkommen und die Vernichtung der tschechoslowakischen Demokratie mit einem Satz synoptischen Charakters an: „Oh I am tired, rief Chamberlain, und warf sich in den Klubsessel in der Downingstreet, steifer Hut, Regenschirm fielen zu Boden, den Stehkragen riß er sich auf, Henderson, Halifax sprachen ermunternde Worte.“ Die Müdigkeit des Premiers Lord Chamberlain verweist auf den Niedergang der westlichen Demokratien und greift dem kommenden Scheitern des Viermächte-Abkommens in München am 29. September 1938 zwischen Chamberlain, Daladier, Hitler und Mussolini vorweg. ÄdW II, S. 33.
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innerungsorts Bremen evoziert. Auffällig bei dieser Beschreibung sind die synästhetischen Effekte, die eingesetzt werden. Der Erzähler seinerseits versucht sich, in die Zeitstimmung 1919 zurückzuversetzen. Dabei benutzt er bestimmte Bilder, die er besonders deutlich vor sich sieht. Er meint sogar die Sirenen der Fabrik zu hören: „Während des Berichts meines Vaters sah ich die Kaserne vor mir, die roten Ziegelsteingebäude um den Exerzierplatz, die gestutzten schwarzen Bäume am Gitterzaun, das Tor mit den Schilderhäusern, ich sah die Große Allee, mit dem Promenadenweg in der Mitte, den Straßenbahnschienen zu den Seiten, hörte die Fabriksirenen vom Hafengebiet unaufhörlich rufen, zur Ermutigung der Kämpfenden.“111 In Weiss’ autobiographischem Prosastück Abschied von den Eltern spielt der Erinnerungsort Bremen ebenfalls eine wichtige Rolle. Der Ich-Erzähler dort, der zur Zeit der Bremer Räterepublik nur drei Jahre alt war, meint sich an die Begebenheiten von 1919 zu erinnern. Ein Revolutionärer klettert über das Dach der Familie, er wird von den weißen Garden niedergeschossen und stürzt ab. Doch im Gegensatz zum Bericht des Vaters in der Ästhetik des Widerstands werden die Februarkämpfe in Abschied von den Eltern mittels der Perspektive des erlebenden Ichs, des kleinen Kindes, wiedergegeben. Schmal und eingeklemmt zwischen Packhäusern und der Mauer eines Fabrikhofs lag unser hochgiebliges Haus, auf dessen Dachfirst ich mit dem Mond um die Wette ritt, und von dessen Schornstein ich mit einem Satz in den Himmel sprang. Einmal kam ein Mann über unser Dach geklettert, es waren Unruhen in den Straßen, und Schüsse krachten, und meine Brüder stürmten durch das Haus und riefen, jemand sei auf unser Dach geflohen, und von der Straße her warfen sich Männer in unser Haus, und die Männer hielten Gewehre in den Händen, und alle liefen in den Garten und ließen Taschenlampen aufflammen und schossen hinauf zum Dach, und vom Dach fiel der Getroffene zu den Männern im 112
Garten hinab.
In Abschied von den Eltern wird der Erinnerungsort Bremen mit seinen charakteristischen Düften nach Teer und Malz auf eine Weise vergegenwärtigt, die an die synästhetische Auslöserfunktion des Madeleine-Kuchens bei Proust erinnert. Mit Auguste, der alten Haushälterin der Familie, erforscht der Erzähler Bremen. Seine ersten Erinnerungen an diese Stadt sind mit den Duft- und Höreindrücken der kosmopolitischen Handelsstadt verbunden. Der Erzähler erinnert sich an die Seemänner aus der fernen Welt, die in fremden Sprachen einander zurufen und
111 Ebd., S. 101. 112 AE, S. 64.
282 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT an das kreischende Geräusch der Lastkräne. Ähnlich wie im Frühwerk von Weiss, etwa Der Fremde, wird in Abschied von den Eltern das „Eindringen in die Stadt“ als erotisch aufgeladener Akt beschrieben. Die weiblich und sexuell konnotierten Adjektive, die dabei benutzt werden, „feucht“, „eindringen“ kontrastieren mit der „rußgeschwärzten, zerschorften, bekritzelten“ Welt der Werftund Brauereiarbeiter: Die Entdeckung der Stadt ist verbunden mit dem Druck von Augustes Hand. Vor mir stiegen die Straßen auf, mit ihren knirschenden, eisenbeschlagenen Rädern, mit ihrem Dunst von Teer und Malz und feuchtem Staub, mit ihren Packhäusern, an deren Fassaden die Ketten der Hebebäume rasseln, und in deren Lasträumen zwischen Kisten und Säcken Gestalten sich im ungewissen Licht bewegen. Immer tiefer drangen wir ein in die Gassen, Arkaden und verborgenen Plätze, vorbei an rußgeschwärzten, zerschorften, bekritzelten Mauerwänden, bis wir durch Torgewölbe und hinab über ausgetretene Treppen an die Deichanlagen und in den Hafen gerieten, wo die Maste der Schiffe vor dem rauchigen Himmel standen, […] wo schwarze und gelbe Gesichter sich aus den runden Luken streckten und fremdartige Wörter riefen, wo die Wimpel an den straffen Takelagen flatter113
ten und die Lastkräne kreischend ihre langen Hälse drehten.
Auf dem Marktplatz in Bremen steht seit 1404 die Rolandstatue, die einen Teil des kulturellen Gedächtnisses der Stadt bildet. Von der größten freistehenden Plastik des deutschen Mittelalters interessiert sich der Erzähler nur für ein Detail, der Zwerg an den Füßen des steinernen Riesen, dessen Bedeutung ihm rätselhaft erscheint. Mit einer Sinneswahrnehmung, dem Geschmack von Schokolade im Mund, der seifig nach dem Tascheninnern der Haushälterin schmeckt, wird die Erinnerung an die Statue ausgelöst. Von allen Seiten her besichtigen der Erzähler und Auguste die Rolandstatue. Auch erfolgt die Beschreibung aus der Perspektive des kleinen Kindes, die sich dessen nicht völlig bewusst ist, was er sieht: Ich stand mit Auguste am Ufer des Flusses, ein Schleppzug fuhr vorüber, flatternde Wäsche auf einem der Kähne, und ein kleiner, weißer, bellender Hund, und aus ihrer Handtasche, aus brüchigem schwarzen Leder, nahm Auguste ein Stück Schokolade und steckte es mir in den Mund, es schmeckte seifig nach dem Innern der Tasche. […] Von allen Seiten betrachteten wir den steinernen Riesen auf dem Marktplatz und fragten uns nach der Be-
113 AE, S. 66.
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deutung des Zwerges, dessen Kopf und Arme zertreten zwischen den Füßen des Riesen lagen.
114
Das Zitat aktualisiert die Frage nach der „Lesbarkeit der Stadt“. Die Stadt, wie groß sie nun sein mag, ist ein begrenzter Ort, dessen gesellschaftliche Realität sich „in der Signatur seiner Straßen, Plätze und Bauwerke“ manifestiert.115 Die große Stadt ist demgemäß ein semiotischer Raum, der dekodiert oder wie ein Buch gelesen und interpretiert werden muss: keine Materialität bleibt unsemiotisiert. Dies äußert sich hier in der Unfähigkeit des Erzählers, die Stadt zu lesen. Charakteristisch für die Sujets des frühen Malers Peter Weiss waren bunt gemalte Jahrmarktmotive und Karussells. Dieses Motiv taucht noch einmal in Abschied von den Eltern auf, als sich der Erzähler an einen Jahrmarktsbesuch seiner Kindheit erinnert. Die synästhetische Mischung von Gerüchen, Farben und Geräuschen bildet eine „einzige kreiselnde Bewegung“, wobei der Erzähler in die Masse eintaucht und mit ihr Eins wird. Er spürt den Duft von heißen Würstchen, Brezeln und von gesponnenem Honig. Er fährt auch Karussell und blickt auf die Häuserdächer mit ihren rauchenden Schornsteinen und die Schiffe im Hafen der Hansestadt nieder. Die Positionierung des Protagonisten erlaubt eine Panoramaaussicht und führt zugleich zu einer Verkleinerung des Wahrnehmungsobjekts auf die Großstadtminiatur. Und da war ich schon verstrickt ins Dasein, war schon mitten drinnen in der Masse des Lebens und trieb auf das Dudeln und Brausen des Jahrmarkts zu, in wachsendem Gedränge, der Boden war weich von Konfetti und Papierschlangen, in Buden wurden heiße Würstchen, Brezeln und gesponnener Honig ausgeboten, Trompetenstöße, Schüsse und Orgelläufe wurden immer greller, Ellbogen stießen mich, Füße streiften mich, und dann war alles eine einzige kreiselnde Bewegung von Leibern, ein einziges Johlen und Brodeln von Stimmen, und ich gehörte dazu, trieb umher zwischen den Gesichtern, Hüten und Armen, zwischen den schwankenden Trauben bunter Ballons, zwischen den großen, knatternden Fahnen, zwischen den wunderbar bemalten schnurrenden Karussellen, und auf die heisere Frage aus dem Kaspertheater[.] […] Im Gewirr von Balkengerüsten stieg ich in einem kleinen Wagen auf, und die bunte Brandung des Lebens schlug hinter mir zurück, immer mehr entfernte ich mich von dem Gedröhne und Getriebe, bis nur noch das Rollen der kleinen, stämmigen Räder und den Schienen zu hören war, und höher und höher geriet
114 AE, S. 67. 115 Vgl. Karlheinz Stierle, Der Mythos von Paris, S. 14.
284 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT ich, bis die Kuppel erreicht war, von der aus ich den ganzen Jahrmarkt und die Stadt weit116
hin überblicken konnte.
Die Auslöschung des kulturellen Gedächtnisses im Berlin der unmittelbaren Nachkriegszeit hatte Weiss bereits als Reporter im Auftrag der schwedischen Zeitung Stockholms-Tidningen dokumentiert. In der Ästhetik des Widerstands wird die Zerstörung der „Reichshauptstadt“ Berlin dargestellt.
5.4 S ODOM
UND
G OMORRHA: D ER U NTERGANG B ERLINS
Der Untergang Berlins ist ein Thema, das die Autoren des Expressionismus immer wieder thematisiert haben. Besonders suggestiv hat dies Bertolt Brecht in seinem apokalyptischen Gedicht Untergang der Städte Sodom und Gomorrha geschildert. An diese Tradition knüpft Weiss an, wenn er im dritten Band der Ästhetik des Widerstands das brennende Inferno der „Reichshauptstadt“ 1942 darstellt. In einer Anhäufung verschiedener Schreckensbilder wird die Topographie Berlins als infernalische Todeszone dargestellt.117 Bischoff, Heilmann und Coppi, die inzwischen via Göteborg und Bremen in Berlin untergetaucht sind, befinden sich am 29. August 1942 während eines alliierten Luftangriffs in der gotischen Marienkirche, wo sie zusammen mit anderen Berlinern Schutz gesucht haben. In der Marienkirche betrachten die Romanfiguren das aus dem Ende des 15. Jahrhundert stammende Totentanzfresko, das in der Turmhalle steht. Das 22 Meter lange und 2 Meter hohe Fresko zeigt einen Reigen aus geistlichen und weltlichen Ständevertretern, die sich in einem Schreittanz mit jeweils einer Todesgestalt befinden. Das Kunstwerk spiegelt die prekäre Situation der Widerstandskämpfer wieder. Im künstlerischen Motiv des Todestanzes spiegelt sich laut Margot Pennington die „Integration des Todes in den Alltag.“118 Das Sujet der Kirche, in der die Menschen Flucht suchen, finden wir schon in dem Motiv eines Gemäldes von Weiss aus den 1940er Jahren. Das Gemälde stellt eine zerstörte und brennende Stadt dar, unversehrt bleibt allerdings eine gotische Kirche, ein „hoher gotischer Dom“ in der Mitte der verwüs-
116 AE, S. 68f. 117 Laut Jens Birkmeyer erreicht die Passage über das brennende Berlin die „Inkarnation der Danteschen Hölle“. Vgl. Birkmeyer, Bilder des Schreckens, S. 212. 118 Margot Pennington, Memento Mori: Eine Kulturgeschichte des Todes, Stuttgart 2001, S. 57.
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teten Stadt. Die Menschen stürzen durch das Portal ins Innere des Mittelschiffes hinein, umgeben von „Rauch und Flammen“.119 Die Romanfiguren, deren „Hadeswanderung“ durch das zerbombte und brennende Berlin führt, berufen sich explizit auf Herakles: „O Herakles, sagte Heilmann, wie sollen wir uns behaupten können ohne deinen Beistand“. Coppi widerspricht aber Heilmanns Hoffen auf einen außerirdischen Erlöser: „[…] in uns ist der, der aus dem Götterfries fiel, wir brauchen keinen Leitstern, wir brauchen die Mythen nicht“.120 Unter dem Eindruck von ohrenbetäubenden Detonationen und vom Lärm einstürzender Häuser und brennender Bäume feiert im Inferno des untergehenden Faschismus die Vernichtung ihren grausamen Triumph. Die erstarrten Menschen in der Kirche werden mit dem Todestanzfresko verglichen. Es geht dabei um eine Ästhetisierung des Schreckens: Bei dem dröhnenden Schlag, der die Kirche traf, zogen sie den Kopf ein, als wollten sie sich in sich verkriechen, und glichen so, in ihrer Erstarrung, den Figuren, die, zum Gedenken derer, die Ende des fünfzehnten Jahrhunderts in Berlin die Pest hinweggerafft hatte, an die Wand gemalt worden waren. […] Die mit dünner Haut bespannten Skelette hielten Abt und Kaplan, Kaiser und Kaiserin, Herzog, Ritter und Junker, Kaufmann, Bauern, Geldwechsler und Narren am Arm, und auch der Doktor, der prüfend die Retorte hob, wußte kein Kraut, das jenem gewachsen war, der ihn im Griff hatte, und mußte sich, zu den Tönen der beinernen Flöte, weiter im Kreis bewegen. Die Tür der Marienkirche wurde aufgestoßen, und der löchrige Kopf eines Engels rollte, von Splittern umstoben, in die Halle, lag, noch wackelnd und bebend, auf dem Ziegelboden. Draußen stand alles im Feuerschein. Während die andren Schutzsuchenden rückwärts ins Kirchenschiff wichen, schoben Heilmann und Coppi sich zur Schwelle des Eingangs vor, schräg gegenüber schossen die Flammen aus den Kupferplatten der Domkuppel, rechter Hand barst, mit ungeheurem Geklirr, das gläserne Dach des Bahnhofs Alexanderplatz, Qualm lagerte auf den dunklen Gebäuden hinterm Lustgarten, sie liegen geborgen in den Kellern, sagte Heilmann, Zeus und Athene, Helios mit seinem Gespann, Ge und Alkyoneus, und auch die 121
Tatze vom Löwenfell des Herakles.
Die Zerstörung des Kulturraums Stadt durch die Bomben entzündet sich hier am Beispiel der mittelalterlichen Marienkirche. Die Einführung des Vanitas- und Memento-Mori-Motivs des Todestanzes antizipiert den bevorstehenden Tod von
119 Siehe Peter Weiss, Briefe an Hermann Levin Goldschmidt und Robert Jungk 19381980, S. 157. 120 ÄdW III, S. 169. Vgl. Robert Cohen, Peter Weiss in seiner Zeit, S. 254. 121 ÄdW III, S. 170-172.
286 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Coppi und Heilmann und ist eine Mahnung an die Toten, die der Krieg gefordert hat. Die Rückkehr an den traumatischen Punkt der Katastrophe – hier die Auslöschung der kulturellen Identität am Beispiel der Zerstörung Berlins – stellt eine literarische „Archivierung“ der epochalen Traumata und Schrecken dar, die für die deutsche Literatur der Nachkriegszeit ein bezeichnendes Merkmal ist.122 Dennoch gibt es Hoffnung: Der Pergamonfries liegt geborgen in den Luftschutzbunkern. Es ist nicht der Anblick der einstürzenden Häuser, Paläste und Denkmäler, die Heilmann berührt – sie sind nur Reliquien der Nationalgeschichte, „das Ehrenmal der Kriege", Waffenarsenale der Historie oder Standbilder der Kaiser und Könige. Die Vernichtung des kulturellen Gedächtnisses dieser Denkmäler, die für preußischen Militarismus und die Verherrlichung der Herrschenden stehen, wird von Heilmann nicht beklagt.123 Was ihn dagegen bewegt, sind die brennenden Bäume an der Paradestraße Unter den Linden, die um „Hilfe schreien“, die „befreit“ werden wollen. Mit dem eindringlichen Bild des brennenden Baumes schafft Weiss eine Allegorie, die zur universellen Metapher der Widerstandskämpfer ausgebaut wird: Der Mut des brennenden Baumes, der der Gewalt stand hält, und sich nach Befreiung sehnt, erinnert an die Situation der Widerstandskämpfer. Erinnert sei in diesem Kontext an Weiss’ Laokoon-Aufsatz, der die Ästhetisierung des Untergangs der Figurengruppe zum Gegenstand hat. Hier wie dort wird ein „totaler“ Untergang dargestellt, der Mensch und die Natur sind der Gewalt hilflos ausgeliefert: „Laokoon und sein jüngster Sohn setzen keinen Beschauer mehr voraus. Sie bilden nur noch ein Monument über ihren eigenen
122 Siehe hierzu Götz Grossklaus, „Das zerstörte Gesicht der Städte“, in: Andreas Böhn, Christine Mielke (Hrsg.), Die zerstörte Stadt, S. 107. Bezeichnenderweise heißt es in einer apokalyptischen Zukunftsvision im Roman über die Zerstörung der Städte: „Alle Menschen und Tiere, alle Gewächse und Städte würden verdorren. Der weiße Sand würde sich schließen über den Gebeinen, den Wurzeln und Steinen. Ihre Augen ließen sich nicht mehr öffnen. Die Sonne drang durch die verklebten Lider. Heller und dunkler wurde es, zum Takt des pumpenden Herzens.“ Vgl. ÄdW III, S. 75. 123 Vgl. Weiss’ Kritik an der preußischen Erinnerungskultur in Die Besiegten: „Wandle durch die Allee, wo die Besiegten einmal von Siegen träumten, wo sie marmorne Monumente ihrer ruhmvollen Herrscher errichteten. Lausche den fernen gebrochenen Fanfaren, den gedämpften Trommeln, besichtige den Weg der Helden, an dem sie strammstehen, von Orden geschmückt, mit weggeschossenen Armen, weggeschossenen Beinen, gespaltenen Leibern, durchbohrten Hälsen, abgehauenen Köpfen.“ W, Bd. 1, S. 62.
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Untergang.“124 Heilmann versucht, die brennenden Bäume aus ihrer Gefangenschaft zu „retten“.125 Dabei ästhetisiert der Erzähler auch das Geschehen: „die Äste schüttelten das rotglühende Laub von sich, die Stämme drehten und wandten sich, als wollten sie mitsamt den Wurzeln hinausschrauben aus der verhaßten Erde.“ Das Brummen der Flugzeugmotore hatte sich entfernt, sie drückten die Gesichter an den kühlenden Stein, eine Hitzewoge rauschte vorbei und entzündete sich an den Linden, rasend schnell lief der Brand den Mittelweg der breiten Allee entlang, die Bäume reckten sich auf, in Sekundenschnelle war an diesem neunundzwanzigsten August der Herbst gekommen, die Äste schüttelten das rotglühende Laub von sich, die Stämme drehten und wandten sich, als wollten sie sich mitsamt den Wurzeln hinausschrauben aus der verhaßten Erde. Die brennenden Bäume ergriffen Heilmann mehr als die stürzenden Mauern und Säulen der Paläste zu den Seiten, er wollte hinaus, Coppi hielt ihn zurück, mahnte ihn zur Geduld, doch wie sollte es jetzt Geduld geben, da die Bäume um Hilfe schrien und versuchten, sich aus der Gefangenschaft in den Himmel zu erheben. Feuerwehrwagen schrillten heran, Kaskaden entfuhren den Schläuchen, was gab es hier alles zu schützen, das Ehrenmal der Kriege, das Arsenal der historischen Waffen, die Standbilder der Heerführer, 126
den Sitz der Kaiser und Könige, den Platz der Siegesparaden[.]
Die Lesbarkeit der Stadt äußert sich hier konkret in der architektonischen Struktur, in der sich der „Geist“ der Stadt ausdrückt, in der Sprache der sich überlagernden Baustile sowie in den Ornamenten, Emblemen und Allegorien, mit denen die öffentlichen, sakralen und profanen Bauten versehen sind. Denkmäler bilden bewusste Kristallationspunkte der kollektiven Erinnerung der Stadt; in ih-
124 Weiss, R, S. 180f., hier S. 180. 125 Die Metapher des Baumes wird mehrmals im Roman aufgegriffen. So auch im Stockholmer Abschnitt. Hier symbolisiert er sowohl die zunehmende Verwurzelung des Exilanten in der schwedischer Erde als auch die „Eroberung von sinnkonstituierenden Zusammenhängen“ (Birkmeyer, Bilder des Schreckens, S. 185): „In den Bäumen war ein Wachsen. Säfte stiegen durch die Verästlungen zu den Knoten, in denen die Keime der Blätter verborgen lagen. Die Zweige zitterten, regten sich im leichten Wind. […] Morgen würden sich die Zweige der Helligkeit entgegenstrecken. In einigen Wochen würden sich die Knospen an ihnen öffnen. Die Bäume ertasteten die Luft, die Offenheit, sie waren aufnahmefähig, wie der Vogel, der sich aus dem Schatten erhob, höher hinaufschwebte, hinter den Dächern verschwand.“ (ÄdW II, S. 109). 126 ÄdW III, S. 172.
288 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT nen ist die Stadtgeschichte gegenwärtig in unabsichtlichen Spuren und Verweisungen. In der Stadt ist die Geschichte erfahrbar als „materielle Kopräsenz des Ungleichzeitigen“, als historische Schichten, Bruchstücke, Fragmente, Reste, Abtragungen, Überlagerungen. Diese Schichten sprechen die Sprache des Vergangenen, sie führen semiotisch durch die historischen Ebenen der Stadt.127 Heilmann verweigert sich aber, die Stadt zu lesen, er kann und will nicht die Prachtbauten und Denkmäler „lesen“; sie erscheinen ihm obsolet. Das faschistische Berlin wird als „ein dichtes Gestrüpp“ beschrieben, als eine „wüste Urwelt“, als „eine brennende „Ruine“ durch die die Widerstandskämpfer Bischoff, Coppi und Heilmann laufen müssen.128 In einer Passage wird Berlin aus der schnell wechselnden Perspektive der jeweiligen Romanfigur geschildert; Heilmann läuft in Richtung Rathaus, Bischoff die Klosterstraße hinunter und Coppi befindet sich im historischen Herzen Berlins, an der Friedrich-WilhelmsUniversität unter den Linden. Andere Gebäude, die bei dem virtuellen Spaziergang durch Berlin erwähnt werden, sind das geschichtsträchtige Reichstagsgebäude mit seinem abgebrannten Dachstuhl und die Herkulesbrücke am LützowUfer, wo die Leiche Rosa Luxemburgs gefunden wurde. Diese Orte fungieren als Medien des kollektiven Gedächtnisses: So symbolisiert das verkohlte Reichstagsgebäude nicht nur den Tod der Demokratie in Deutschland nach der Machtergreifung durch die Nazis, sondern zugleich auch die Hoffnung auf die Wiederbelebung demokratischer Traditionen. Durch den raschen Perspektivenwechsel gewinnt die Passage mit ihren zahlreichen kurzen Schnitten beinahe eine kinetische Dimension. Diese Schnitt-Technik kannte der Filmemacher Weiss von den Experimentalfilmen der 1920er Jahre, etwa Ruttmanns Berlin – Die Sinfonie einer Großstadt, in welchem zahlreiche kurze Schnitte eingesetzt werden, um die Lebendigkeit und Hektik der Stadt plastischer werden zu lassen. Mittels der Figurenperspektive gewinnt die Passage eine besondere Dynamik. Durch diese Multiperspektivität ensteht ein Erinnerungsgewebe von antagonistischen, ergänzenden und einander komplettierenden Vergangenheitsperspektiven, die um Erinnerungsherrschaft konkurrieren. Die inszenierten Gedächtnisse werden so als zweckorientierte, „auf die Herstellung einer ‚usable past‘ ausgerichtete Konstrukte ausgewiesen“129, die nicht nur kollektive Deutungsmodelle
127 Karlheinz Stierle, Der Mythos von Paris, S. 45. 128 ÄdW III, S. 176f., S. 220. 129 Vgl. hierzu Birgit Neumann, „Literarische Inszenierungen und Interventionen: Mediale Erinnerungskonkurrenz in Guy Vanderhaeghes The Englishman’ s Boy and Michael Ondaatjes Running in the Family“, in: Astrid Erll, Ansgar Nünning (Hrsg.), Medien des kollektiven Gedächtnisses, S. 206.
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und Identitäten gestalten, sondern diese auch stabilisieren. „Traumumfangen“ blicken die Gebrüder Humboldt in die Verwüstung rund um sie herum hinein. Diese Ästhetisierung des Ruinösen begegnet uns schon in den Besiegten. Ähnlich wie in den Besiegten vollzieht sich zudem die unerwartete Verlagerung der Perspektivierung auf ein Denkmal. In Weiss’ frühem Prosastück figuriert eine Diana-Statue, die die Vernichtung überlebt hat, und „in Verwunderung erstarrt […] hinaus über die seltsam veränderten Jagdgebiete“ blickt, wo jetzt Höhlenmenschen vegetieren.130 Die vorwiegend parataktisch konstruierten Satzglieder sind aneinandergereiht in einem Erzählstrom, der das hektische Geschehen wiedergibt. Die Häufung der Kommata verweist auf die gehetzte Schnelligkeit, mit welcher die Widerstandskämpfer durch das brennende Berlin jagen. Darüber hinaus wird eine zweite Zeitebene eingeführt, da sich der „Totenschädel“ Coppis als Fratze in Bischoffs Netzhaut „noch eingeätzt“ ist: Der Alarm war noch nicht abgeblasen worden, die Bahnen und Omnibusse fuhren nicht, sie mußten durch die Wildnis laufen, vorbei an den Löschwagen, den Räumungskommandos, Heilmann in Richtung Rathaus, Bischoff die Klosterstraße hinunter, Coppi den Fackeln der Linden entgegen, da saßen sie zusammengesunken in ihren Sesseln, die Brüder Humboldt, der eine auf die Erdkugel gestützt, der andere das aufgeschlagne Buch im Schoß, und starrten traumumfangen in die Verwüstung, über ihnen, die Gesimse der Universität entlang, kletterten Gestalten mit glänzenden Helmen und Äxten, von Feuer umflackert, Wasserbögen sprühten hinauf, Lichtstrahlen griffen rings in den Himmel, […] am Neptunbrunnen eilte jemand schattenhaft an ihm vorbei, wie die Kolben einer Lokomotive schwangen Coppis gewinkelte Arme vor und zurück, lautlos flog Bischoff auf die Jannowitz Brücke zu, in Strümpfen war sie, wußte nicht, wo sie die Schuhe verloren hatte. Von der Französischen Straße drehte Heilmann sich den beiden Domkirchen zu, diesen Spiegelbildern am Gendarmenmarkt, weg von der brennenden Allee, vor sich den langen schwarzen Boten seines Körpers, nahm Coppi, der in den Tiergarten wollte, den Umweg durch die verlaßne Dorotheenstraße, jagte vorüber am dunklen Koloß des Reichstagsgebäudes, mit dem verkohlten Dachgestühl, und dann hinein in die Siegesallee, wo, auf ihren Sockeln, die Götzen der preußischen Traditionen ihn empfingen. Die Schlucht der Leipziger Straße nahm Heilmann auf, Coppis Atem fauchte, ein Riese war er, ein vorzeitliches Ungeheuer, brach durchs Gestrüpp, schnellte vor über Erdhaufen und Gras, hinter der Brille mit dünnem Stahlrand waren die Augen zusammengekniffen, sein Gesicht, dieser Totenschädel, war in Bischoffs Netzhaut noch eingeätzt. […] Die Schläge seiner Füße, die den Potsdamer Platz trafen, verlangsamten sich, hinter den steinförmig ausgreifenden Straßen sah Heilmann im Dunst die Mattheus Kirche, und Coppi krümmte sich, von einer
130 W, Bd. 1, S. 62.
290 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT schrecklichen Mattheit überkommen, mit stechendem Schmerz in der Seite, überm Geländer, am Lützow Ufer zusammen. Immer noch schwamm im trägen Wasser des Landwehr Kanals Rosas Leiche. […] Er schleppte sich über die Herkules Brücke. Da schwappte es in den Sümpfen von Stymphalos, da schlängelte die Hydra sich am Sockel empor, da 131
streiften ihn die Fittiche des Adlers.
Coppis Körperbewegungen werden hier mit einer machine hydraulique verglichen, seine Arme schwingen wie die „Kolben einer Lokomotive“ vor und zurück. Dies ist eine Denkfigur, die bereits in Marat/Sade aufgegriffen wird.132 Auffällig an dieser Textstelle ist außerdem die Häufung der Termini, welche Schnelligkeit und Plötzlichkeit andeuten. Die Inszenierung von Gedächtnis ist hier an einem konkreten Erinnerungsort gebunden, dem Lützow Ufer, wo Rosa Luxemburgs Leiche am 15. Januar 1919 nach ihrer Ermordung durch eine „Bürgerwehr“ in den Landwehrkanal geworfen wurde. Für das politische Selbstverständnis der Kommunisten zentral, symbolisiert dieser Ort die gescheiterte deutsche Revolution und ist somit ein Ort des kollektiven Gedächtnisses. Wie Rosa Luxemburg damals, ist das Leben der kommunistischen Widerstandskämpfer durch die Nationalsozialisten gefährdet. Dabei wird noch einmal das HeraklesMotiv aufgegriffen, als Coppi über die Herkules Brücke läuft, auf der zu dieser Zeit zwei überlebensgroße Sandstein-Skulpturen nach Motiven der griechischen Mythologie standen, die im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört wurden. Sie waren über den Mittelpfeilern der Brücke platziert – Herkules im Kampf mit einem Kentauren, von Johann Gottfried Schadow entworfen, und Herkules im Kampf mit dem nemëischen Löwen, nach einem Entwurf von Schadow von Conrad Nicolas Boy (1753-1793) ausgeführt. Coppi läuft über die Herkulesbrücke am Landwehrkanal als ihn „die Fittiche des Adlers“ greifen, eine Anspielung auf den Stymphalos-Mythos. Die Stymphalischen Vögel – im Roman offenbar als Metapher für den bedrohlichen Reichsadler der Faschisten – konnten in der griechischen Mythologie Menschen mit ihren Schnäbeln zu Tode hacken bevor sie von Herakles getötet wurden. Diese emblematische Naturallegorie verweist auf die spätere Festnahme der Widerstandskämpfer durch die „langen Klauen“ des Faschismus. Die Hadeswanderung der Widerstandskämpfer findet ihr grausames Ende in Plötzensee, wo Coppi und Heilmann hingerichtet werden, nachdem sie von der Gestapo verhaftet worden sind. Die Inszenierung von kommunikativem Ge-
131 ÄdW III, S. 180-182. 132 Vgl. Arnd Beise, Ingo Breuer, Peter Weiss: Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats. Erläuterungen und Dokumente, S. 50.
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dächtnis im urbanen Raum ist hier mit einem bestimmten Erinnerungsort verbunden: Die Hinrichtung der Widerstandskämpfer der Roten Kapelle Horst Heilmann, Hans Coppi, Libertas, Harro Schulze-Boysen, Arvid Harnack, und vielen Anderen, wurde am 22. Dezember 1942 im Strafgefängnis Plötzensee durch Enthauptung vollstreckt.133 Dass Weiss somit den Widerstandskämpfern in der Ästhetik des Widerstands ein Denkmal setzt, ist durchaus verständlich; Denkmäler sind, wie der Bielefelder Historiker R. Koselleck schreibt, „Identitätsstiftungen der Überlebenden“.134 Denn das Gedenken an den Toten ist ein paradigmatisches gemeinschaftsstiftendes Gedächtnis: „In der Verpflichtung auf bestimmte Namen steckt immer auch das Bekenntnis zu einer soziopolitischen Identität.“135 Das identifikatorische Moment einer gemeinschaftsstiftenden Gedächtniskultur steht bei der Inszenierung der Erinnerung an Coppi und Heilmanns Tod im Vordergrund. Mit eiskalter Präzision wird der „Opfertod“ der Romanfiguren und ihrer Mithäftlinge beschrieben. Hier erscheint Gedächtnis als Trauerarbeit, als Revolte angesichts des bevorstehenden Todes der Widerstandskämpfer.136 Der Erzähler versucht hier, gerade durch seine trockene und scheinbar objektive Darstellung des Geschehens, den Leser zur indignatio, zur Empö-
133 Zu Weiss’ Quellen, siehe PWA 3245: Literatur: Grundlach/Panzer, Peter Buchholz. Der Seelsorger von Plötzensee, Meitingen 1964. Poelchau, Harald, Die letzten Stunden. Erinnerungen eines Gefängnispfarrers, Berlin 1949. Ders. Ordnung der Bedrängten, Berlin 1963. v. Gostomski/Loch, Der Tod von Plötzensee, Freising 1969. WVN-Westberlin, Ehrenbuch der Opfer von Berlin-Plötzensee, Berlin 1974. Dokument vom SPD-Pressedienst PXXIV/133 „Aufstand für Deutschland“, Fritz Sänger, MdB, Vorsitzender des Kuratoriums der Stiftung „Hilfswerk“ 20. Juli 1944. Dr. Fritz Teichel, „An die Redaktion Der Spiegel“, 1. November 1966. Brief an Herrn Kurt Rossa von Wilhelm Rost vom 1. November 1966. Der Spiegel Redaktion zur gefl. Kenntnisnahme. Gostomski, Victor u. Walter Loch Der Tod von Plötzensee. Erinnerungen, Ereignise, Dokumente 1942-1945, Meitingen, Freisingen 1969. Friedrich Zipfel, Plötzensee, Berlin 1960. 134 Hier zitiert nach Jan Assmann, Das Kulturelle Gedächtnis, S. 63. 135 Ebd. 136 Zu dieser engen Verbindung zwischen Tod und Gedächtnis, siehe Renate Lachmann, Gedächtnis und Literatur: Intertextualität in der russischen Moderne, Frankfurt am Main 1990, S. 18ff.
292 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT rung und zur Auflehnung zu reizen. Dies wird nicht zuletzt durch den Sprachduktus der hektischen Parataxen bekundet, der die Passage kennzeichnet: Die Gesellen ließen den Körper fallen. Sie hängten sich an die um sich stoßenden Beine. Das Knacken der Wirbelknochen war zu vernehmen. Das Gesicht wurde schwärzlich blau. Die Augäpfel traten hervor. Einige Sekunden lang schlug die Zunge rasend im weit aufgerißnen Mund hin und her. Immer noch betete Poelchau. Konvulsionen durchfuhren den Körper und die Beine des Gehenkten. […] Zwanzig Uhr, einundzwanzig Minuten, vermeldete der Arzt, bei der Angabe der Todeszeit von Hans Coppi. […] Als der Vorhang, und auch die Gardine dahinter, aufgezogen wurden, breitete sich ein dicker Gestank aus. Da hingen sie alle, unter der Schiene, der Hals lang gezerrt, der Kopf abgeknickt, zu erkennen waren sie alle nicht mehr, nur ihrer Reihenfolge nach hätte Schwarz ihre Namen 137
noch kennen können, doch die verloren sich auch schon in ihrer Leere.
Die Textstelle schildert nicht nur den „absoluten Augenblick des Todes“,138 sondern stellt auch im Gegensatz zu Weiss’ Hauptquelle, der Bericht des Gefängnispfarrers Poelchau, eine Ästhetisierung des Geschehens dar. Ausdrücke wie der „kreuzförmige“ Gefängnisbau, die mit „Stacheldraht gekrönte[r] Mauer“139 sind dagegen eindeutig religiös konnotiert und könnten sogar durch die Figur des Pfarrers selbst fokalisiert sein.140 Das Verhältnis zwischen Erinnerung und Körper/Schmerz, das kennzeichnend für die Ästhetik des Widerstands ist, knüpft an eine Denkfigur an, den Friedrich Nietzsche in seiner Schrift Zur Genealogie der Moral (1887) postuliert. Dort heißt es, das Gedächtnis entstehe dadurch, dass dem Menschen „etwas eingebrannt“ werde, denn „nur was nicht aufhört, weh zu tun, bleibt im Gedächtniss“.141 Die zentrale Bedeutung der Erinnerung kommt nicht zuletzt am Ende des Romans zum Vorschein, als die Zukunft von Lotte Bischoff als Lehrerin im Rahmen einer Prolepse vorausgesagt wird.142 Ihre Aufgabe wird es sein, an die
137 ÄdW III, S. 219f. 138 Michael Hofmann, Ästhetische Erfahrung in der historischen Krise, S. 284. 139 ÄdW III, S. 212, S. 215. 140 Vgl. Karl-Josef Müller, Haltlose Reflexion, S. 168. Vgl. auch Günter Butzer, Fehlende Trauer, S. 200. 141 Friedrich Nietzsche, „Zur Genealogie der Moral“, in: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hrsg. v. Giorgio Colli, Mazzino Montinari, Bd. 5, München 1988, S. 295. 142 Eine zentrale Gestalt im dritten Band der Ästhetik des Widerstands ist die Widerstandskämpferin Lotti Bischoff, die im Kreis um die Rote Kapelle verkehrt. Durch
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Widerstandskämpfer zu erinnern, ihre Gesichter und Gestalten sichtbar zu machen, jedes einzelne Schicksal lebendig darzustellen. Ganz im Sinne der antiken rhetorischen Memoria-Tradition wird in Bischoffs Totenrede auf die Gefahr des Vergessens hingewiesen. Bischoff verweist zudem auf die Gefahr, dass das Andenken an die Widerstandskämpfer vom politischen Gegner verfälscht werden könnte. Die Textstelle, die auf Hypotaxe beruht, erweist sich syntaktisch als eine Unterordnung von Nebensätzen. Das Anliegen Bischoffs ist es, die Geschichte zu erklären, „wie es damals gewesen war“: Schnell, es eilte, es mußte etwas über sie gesagt werden, daß sie nie in Vergessenheit geraten ließ. […] Später einmal würde sie Lehrerin werden, gleich nach dem Krieg würde sie sich ausbilden lassen, um den Schülern zu erklären, wie das damals gewesen war. Die Schüler würden vor der großen Gedenktafel aus Marmor stehn, und sie würde versuchen, ihnen etwas von dem deutlich zu machen, was sich hinter den goldnen Namen verbarg. Vielleicht mußten die Namen herausgesucht werden aus den langen alphabetischen Reihen. Sie hoffte, daß die Schüler, wenn sie sich hindurchbuchstabierten, die Namen nicht, vom einen zum andern, wieder vergaßen. Die Gestalt, das Gesicht, die Taten jedes einzelnen müßten so greifbar hervortreten, daß die Schüler sich die Namen merken konnten. 143
[…] Damit wäre schon viel erreicht.
Das Epitaph mit den Namen der Ermordeten bietet allerdings keine Garantie für das Andenken der Toten, es bedarf einer Ergänzung durch die Vergegenwärtigung der toten Gesichter. Damit knüpft Weiss an die klassische rhetorische Tradition der Prosopopöie an, die auf „der Fiktion der Stimme-von-jenseits-desGrabens“ beruht.144 Die Mutterfigur am Pergamonfries wird später vom Erzähler, ebenso halluzinatorisch wie explizit, mit der sterbenden Mutter des Erzählers
ihre umgangssprachliche und stark dialektale Lexik verkehrt sie unauffällig im Berliner Untergrund. Ihre Mitmenschlichkeit mit den ausgebombten Berlinern kommt in folgender Passage zum Ausdruck: „Kommense, ick helf Ihnen, hatte Bischoff zu der Frau gesagt, und ihr, die sich überdies noch mit Bündeln abschleppte, das Kind abgenommen. Im Gedränge aus der Endstation der Untergrundbahn an der Leinestraße hinaufgekommen, gingen sie vorbei an der Mauer des Sankt Thomas Friedhofs, auf die Jonasstraße zu, nur das Schlürfen der Schritte war zu hören, die Menschen waren grau von Staub, niemand war imstande zu sprechen, die Angst, während der Stunden im Bunker, war von der Furcht vor dem, was sie bei der Rückkehr erwarten könnte, abgelöst worden.“ ÄdW III, S. 188. 143 ÄdW III, S. 226, S. 236. 144 Vgl. Günter Butzer, Fehlende Trauer, S. 193.
294 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT identifiziert. Einen winzigen Augenblick bleibt das „Erinnerungsgewebe“ im Gesicht der Mutter, um dann schnell wieder zu erlöschen. Im Zug zurück nach Stockholm evoziert der Erzähler das Gesicht der Mutter, die jetzt die Züge der Dämonin der Erde, Ge, angenommen hat. Einige Augenblicke lang war das Erinnerungsgewebe, das uns umgab, wahrzunehmen, doch gleich verlor es sich wieder, nichts im Gesicht meiner Mutter deutete darauf hin, daß sie auch nur ein einziges meiner Worte in sich aufgenommen hätte. Im Zug, während der Rückfahrt nach Stockholm, sah ich, aus dem Fenster blickend, dieses Gesicht, groß, grau, abgenutzt von den Bildern, die sich darüber hergemacht hatten, eine steinerne Maske, die Augen blind in der Bruchfläche. Es war das Gesicht der Ge, der Dämonin der Erde, ihre linke Hand, mit den zerborstenen Fingern, ragte auf, die abendlichem Landschaften flogen vorbei, Alkyoneus fiel, von der Schlange in die Brust gebissen, schräg von ihr weg.
145
Ziel der Kunst ist ihre gedächtnisstiftende Funktion wahrzunehmen: Allein in der Kunst wird das Andenken an die Ermordeten gewährleistet und somit eine Kontinuität zwischen Leben und Tod geschaffen. In dieser Kontinuität erhellen sich Tod und Leben wechselseitig. Dementsprechend trägt der Lebende die „Toten in sich“146 und solange diese Kontinuität zwischen Leben und Tod möglich ist, ist ein Dialog mit den Toten möglich. Demgemäß heißt es im Essay Gespräch über Dante (1965) Folgendes über das Verhältnis von Tod und Leben: „Aber wir leben ja auch mit unsern Toten. Jeder von uns trägt seine Erinnerungen an Menschen, die nicht mehr da sind. Solange wir vorhanden sind, bestehen auch sie fort. Wir geraten immer in Zwiesprache mit ihnen. Unsre Existenz baut sich ja noch aus ihrem Wirken auf.“147
5.5 Z USAMMENFASSUNG Ähnlich wie im Pariser Abschnitt spielt der Erinnerungsort des Museums bei der Darstellung von Berlin eine bedeutende Rolle. Das Museum fungiert nicht nur identitätskonstituierend, indem es einen Teil des Kampfes um proletarische Subjektwerdung bildet. Das Museum ist auch Kontrastort zum proletarisch behafteten Ort der Küche und bildet den Ort des Lernens und der Aneignung kultureller Erinnerung. Beispiele hierfür liefern die Eingangspassage, als die Protagonisten
145 ÄdW III, S. 20. 146 ÄdW I, S. 81. Vgl. Günter Butzer. Fehlende Trauer, S 190f. 147 R, S. 152.
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in den Anblick des Pergamonaltars versunken sind und später die Situation im Übersee-Museum in Bremen, wo sich der Erzähler an einen gemeinsamen Besuch mit seinem Vater erinnert und sich in die Zeit zurück versetzt. Dabei wird der Erinnerungsraum der Kindheit mit dem kleinen Museumsraum der Pygmäen verglichen: „Was ich von meiner Kindheit besaß, glich dem Revier, das den Pygmäen zugemessen wurde.“148 Bereits in seiner frühen Reportageserie, die Weiss im Auftrag der schwedischen Tageszeitung Stockholms-Tidningen 1947 veröffentlichte, spielen das Museum bzw. die Bibliothek, die Reservoirs menschlichen Wissens bilden, eine große Rolle.149 Die Reportage „Die Bibliothek in Berlin“ thematisiert den Erinnerungsraum, in welchem das menschliche Wissen gespeichert wird und wo „Bücher und Zeitschriften aller Ideologien im selben Raum beherbergt werden.“150 Auf eine für Weiss charakteristische Weise wird das Gebäude der ausgebrannten Bibliothek mittels Körpermetaphern verglichen: In der großen Kuppelhalle steht der ehemalige ausgebombte Hauptsaal der Bibliothek mit einem „Dachskelett mit aufgerissener Wunde, wo die große Bombe niedergegangen ist, herabhängende Eisenträger, leere und zerfetzte Reihen von ringförmig angeordneten Bücherreihen längs der Galerien[.]“ Wie im Berliner Abschnitt der Ästhetik des Widerstands setzt sich Weiss in seiner Reportage-Serie mit der Zerstörung des Kulturraums Stadt am Beispiel des Erinnerungsorts der Bibliothek auseinander. Viele Bücher gelten dabei als verschollen, sie liegen begraben und durchtränkt in Kellern, befinden sich im Ausland oder in anderen Teilen Deutschlands. Doch Hoffnung erweckt bei dem Berichterstatter eine BeethovenAusstellung in der Bibliothek, wo die Noten zur Neunten Symphonie durchblättert werden. Auch ein authentisches historisches Dokument, Beethovens Tagebuch vom 1. bis zum 26. Juni 1824 wird durchblättert: Unmittelbar nach Kriegsende begann man, sich nach dem alten Buchbestand umzusehen; er lag begraben und durchtränkt in den Kellern, er lag evakuiert in fernen Berghöhlen, er war entführt nach Polen und Rußland, er lag verpackt in Güterwagen, deren Aufenthaltsort niemand kannte. […] Wir kommen in einen kleinen Raum: eine Ausstellung von Beethoven-Manuskripten, wir blättern in den Noten zur fünften Symphonie, folgend dem Kampf um den Schluß: „Schluß! Nein, noch nicht! Schluß! Nein, weiter! Es muß Schluß sein! Weiter!“ Und hier: Am 7. Mai 1824 um 7 Uhr abends wird zum ersten Mal die Neunte
148 Siehe ÄdW I, S. 100. 149 Siehe Weiss, „Sieben Reportagen aus Deutschland für Stockholms Tidningen (JuniAugust 1947)“, in: W, Bd. 1, S.122-143. 150 Ebd., S. 125.
296 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Symphonie von Herrn Ludwig van Beethoven gespielt. Der Komponist ist persönlich anwesend. Der taube Beethoven steht neben Kapellmeister Umlauf, er dirigiert mit, hört die Musik in seinem Inneren, er hört den Chor: Seid umschlungen, Millionen! Und aus seinem 151
Tagebuch vom 1. Bis 26. Juni: Elende Zeit, nichts zu essen!
Ein anderes poetisches Verfahren in der Berliner Reportagen-Serie, das auch in der Ästhetik des Widerstands häufig vorkommt, ist die Aufzählung historisch prominenter Personen durch Namenlisten. Wie Lotte Bischoffs Epitaph der toten Widerstandskämpfer am Ende des Romans bietet die Reportage „Eine Buchausstellung in Berlin“ eine Aufzählung der im Exil toten Kulturträger der Weimarer Republik: Die Emigrationsliteratur fehlt noch, aber auch viele Namen stehen auf Erinnerungstafeln an der Wand. Selbstmord, Tod im Exil, Tod in Gefangenschaft steht dahinter: Ernst Ballach, Franz Blei, Carl Einstein, Bruno Frank, Sigmund Freud, Egon Friedell, Walter Hasenclever, Artur Hollitscher, Georg Kaiser, Rudolf Olden, Carl von Ossietzky, René Schickele, Carl Sternheim, Ernst Toller, Jakob Wassermann, Ernst Weiss, Franz Werfel, Theodor Wolff, Alfred Wolfenstein, Stefan Zweig.“152
Diese dokumentarischen Merkmale historischen Erzählens – die Benutzung authentischer historischer Dokumente und die Einbeziehung historischer Personen – kommen in der Ästhetik des Widerstands zum Ausdruck. Wichtige Erinnerungsorte im Berliner Abschnitt sind die Hinrichtungsstätte in Plötzensee und die Herkulesbrücke am Lützow Ufer, wo Rosa Luxemburgs Leiche gefunden wurde. Der Berliner Abschnitt zeichnet sich zudem ähnlich wie der Pariser Abschnitt durch die Einführung von Traumelementen aus. Dieses Oszillieren zwischen Traum und Wirklichkeit kommt im Erinnerungsraum der Berliner Küche zum Ausdruck. Dort befindet sich der Erzähler zusammen mit seinem Vater, der sich im Rahmen einer onirischen Passage aus dem Fußbodenlinoleum, unter welchem er begraben liegt, befreit. Der Erzähler versetzt sich mittels Erinnerungsbildern (imagines) in das Bremen seiner Kindheit und in den Erinnerungsraum seines Vaters. Dabei sind die Gesetze von Raum und Zeit aufgehoben: Der Erzähler fliegt durch das Küchenfenster der Berliner Wohnung und betrachtet die Hauptstadt zunächst aus der Makro-Perspektive. Dabei wird ihm klar, dass das „Eindeutige und Gegenständliche“ umgeben ist von „einem Gewühl, von einem Lauern und Würgen“, wobei von der Sprache nur noch „ein Lallen“ übrig
151 Ebd., S. 127-129. 152 W, Bd. 1, S. 123.
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bleibt. Die kritische Hinterfragung von Zeit und Raum, wie sie Weiss am Beispiel von Cocteaus Film Le sang d’ un poète fasziniert hatte, schlägt sich bei der Flug-Passage nieder. Hier ist der Autor in der surrealistischen Bilderwelt seiner Frühphase angelangt, „in einem tranceähnlichen Zustand, außerhalb des gewohnten Zeitkontinuums“.153
153 Weiss, Avantgarde Film, S. 59.
6. Kapitel: Erinnerungsraum Stockholm
War Berlin alte biographische und sprachliche Heimat von Peter Weiss, der Ort des Faschismus und des Krieges, Paris sein künstlerisches Zentrum, wo er mit dem Surrealismus in Verbindung kam, blieb Stockholm seine Wahlheimat. Erschien ihm das Stadtzentrum von Ost-Berlin „für Menschen erbaut“, anstatt wie in Stockholm „für das Kapital“,1 blieb die schwedische Hauptstadt trotzdem sein lebenslanger Kokon. Geboren in Nowawes bei Potsdam an der Bahnstrecke nach Berlin, über die Städte Bremen, Berlin, in denen er seine Kindheit verbrachte, bis zu den Städten London, Prag, Zürich, Stockholm und Paris nahmen alle seine Aufenthaltsorte etwas Provisorisches an. Über die oben erwähnten Städte, in denen er weilte und über seine Heimatlosigkeit schreibt Weiss u.a. in dem Essay Meine Ortschaft: Es waren Durchgangsstellen, sie boten Eindrücke, deren wesentliches Element das Unhaltbare, schnell Verschwindende war, und wenn ich jetzt daraus hervorgehoben und für wert befunden werden könnte, einen festen Punkt in der Topographie meines Lebens zu bilden, so gerate ich immer wieder an das Zurückweichende, alle diese Städte werden zu blinden Flecken, […] sie sind vorhanden im Grundmuster meines Umherwanderns, im Bruchteil einer Sekunde sind sie zu erreichen und wieder zu verlassen, und ihre Eigenschaften müssen jedesmal neu erfunden werden.
2
Dieser Aussage zum Trotz blieb Weiss – trotz rastloser Umzugspläne – mehr als die Hälfte seines Lebens in Stockholm, wo er als 24-jähriger Jüngling 1940 ankam. Verglichen mit der schwedischen Provinzstadt Alingsås, wo seine Eltern seit der Ankunft im Jahr 1938 lebten, war Stockholm eine pulsierende Metropole und bot für den jungen Künstler intellektuelle Impulse und Anregungen. Hiever-
1
NB 1, S. 173.
2
R, S. 114.
300 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT kehrte Weiss mit anderen deutschen Emigranten und mit schwedischen Künstlern, u.a. Max Barth und Max Hodann. In der schwedischen Hauptstadt begegnete Weiss auch Endre Nemes, dem Malerkollegen aus seiner Prager-Zeit, der sich in Stockholm bereits durch Ausstellungen einen Namen gemacht hatte.3 Zunehmend integrierte sich Weiss in die schwedische Künstlerszene, er beteiligte sich mehrfach an Malerausstellungen und begann, auch in schwedischer Sprache zu schreiben.4 Auf Schwedisch erschienen zwischen 1946-53 die Prosastücke Från ö till ö (Von Insel zu Insel), De besegrade (Die Besiegten), Dokument I, Rotundan und Duellen (Die Duelle). Seit 1956 mietete Weiss ein Atelier in der Västerlånggatan 44 in der Stockholmer Altstadt.5 In der schwedischen Hauptstadt traf er zudem die Diplomatentochter Gunilla Palmstierna, mit der er seit 1952 zusammenlebte und die er später heiratete.6 Weiss, seit 1946 schwedischer Staatsbürger, wohnte weit mehr als die Hälfte seines Lebens in Schweden, zu dem er ein zwiespältiges Verhältnis hatte. Einerseits bewunderte er die demokratischen Traditionen und die politischen Errungenschaften der schwedischen Arbeiterbewegung, andererseits blieb er ein Fremdling in seinem nordischen Wohnort, den er stets als „Provisorium“ bezeichnete.7 Bis zu seinem Tod 1982 blieb Weiss, trotz rastlosen Umzugsplänen nach Westberlin, in Stockholm und hat beobachtet, wie die Topographie der Stadt sich
3
Siehe hierzu Jens-Fietje Dwars, Und dennoch Hoffnung. Peter Weiss: Eine Biographie, S. 67ff.
4 5
Vgl. hierzu Sture Packalén, „‚Som om det under varje ord låg en skugga.‘ Peter Weiss – författare mellan två språk“, in: Samlaren 113, 1992, S. 27. Weiss schreibt dazu in Rekonvaleszenz: „Mein Atelier in der Stockholmer Altstadt, in der ich seit dem 6. Juni dieses Jahres nicht mehr war, beginnt, die gleichen merkwürdigen Entstellungen und Verfremdungen anzunehmen, wie meine früheren Arbeitsquartiere. Heute nacht fand ich es nicht mehr an seiner schmalen mittelalterlichen Geschäftsstraße, sondern zwischen den Bauplätzen, Ruinen und Ausgrabungen um die Fleminggata. Dieses Atelier, das ich mir 1956 einrichtet, und in dem, mit dem Blick über die Dächer auf den südlichen Stadtteil, ein Jahrzehnt lang meine Bücherproduktion stattgefunden hatte, war hineingeschoben, hineingeschmolzen in die Behausung, zu der ich zum ersten Mal während des Krieges hinaufgestiegen war.“ W, Bd. 2, S. 500.
6
Siehe hierzu Peter Weiss, „Die Stadt. Ein Filmskript“, hrsg., übersetzt und kommentiert von Axel Schmolke“, in: PWJ 17 (2008), S. 63.
7
Vgl. NB 1, S. 658. Vgl. Helmut Müssener, „‚Ich lebte eben da‘. Peter Weiss im schwedischen Exil“, in: Gunilla Palmstierna-Weiss, Jürgen Schutte (Hrsg.), Peter Weiss: Leben und Werk, S. 39-62, hier S. 39.
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in den 1960er Jahren verändert hat. Aus diesem Grund mag es nicht verwundern, dass Stockholm ein Referenzpunkt in Weiss’ Dichtung ist: Vor allem in seinen längeren Prosastücken Rekonvaleszenz, Fluchtpunkt, in den Notizbüchern und in der Ästhetik des Widerstands steht die schwedische Hauptstadt im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit und Darstellungsfreude.8 Zudem wurde Weiss wohl einflussreichster Experimentalfilm Hägringen (1959) in Stockholm gedreht.9 Das Filmfragment Staden (Die Stadt) das vor kurzem von Axel Schmolke ins Deutsche übersetzt wurde, spielt ebenso in Stockholm.10 Im Folgenden wird erläutert, wie Weiss Stockholm schildert und wie er die tiefgreifende Veränderung des Stadtzentrums in den 1960er Jahren in seinen Notizbüchern und in Rekonvaleszenz darstellt. Raum und Erinnerung kommen hier paradigmatisch zum Ausdruck und sind eng mit dem Verlust seiner Erinnerungen an das Stockholm der 1940er Jahre verbunden. Die hier vertretene These geht davon aus, dass die tiefgreifende Veränderung des Stadtzentrums eine diskursive Folie zur Beschreibung Stockholms in der Ästhetik des Widerstands darstellt. Demnach wird das alte Stadtzentrum von Weiss rekonstruiert und es ergibt sich daraus eine Erinnerungstechnik, die darum bemüht ist, das kollektive und kulturelle Gedächtnis der Stadt zu vergegenwärtigen. Dabei bedient sich Weiss ähnlich wie in der Darstellung von Paris und Berlin der Erinnerungsfigur des Flaneurs. Vorliegende Analyse scheint mir insofern angebracht, da die Stadtbeschreibung Stockholms in der Ästhetik des Widerstands ein relativ unerforschtes Thema geblieben ist.11
8
Helmut Müssener, „‚Ich lebte eben da‘. Peter Weiss im schwedischen Exil“, in: Gunilla Palmstierna-Weiss, Jürgen Schutte (Hrsg.), Peter Weiss: Leben und Werk, S. 41.
9
In Weiss’ Spielfilmen Dokument I / Der Fremde und Hägringen erscheint die Stadt in surrealistischen Bildern als bedrohlicher, alles verzehrender Moloch. Vgl. hierzu Magnus Bergh, „Durch die Herkulesgatan. Stockholmer Ortsbegehung zur Ästhetik des Widerstands“, in: Gunilla Palmstierna-Weiss, Jürgen Schutte (Hrsg.), Peter Weiss: Leben und Werk, S. 302.
10 Vgl. „Peter Weiss, „Die Stadt. Ein Filmskript“, hrsg., übersetzt und kommentiert von Axel Schmolke“, in: PWJ 17 (2008), S. 9-65. 11 Weiss’ Verhältnis zu Stockholm ist ein Desiderat der Weiss-Forschung geblieben. In seinem aufschlussreichen Aufsatz „‚Die fremde Stadt.‘ Neoromantische Stadtflucht und surrealistische Rückeroberung des Stadtraums bei Peter Weiss“ erwähnt Arnd Beise die Citysanierung Stockholms, allerdings ohne das Thema näher zu erörtern. Lediglich verweist er auf Weiss Film Hägringen, der in Stockholm spielt. Des Weiteren weist er auf das „Entsetzen des dem zweiten Weltkrieg knapp entkommenen ‚halbjüdischen‘ Emigranten Peter Weiss über die scheinbare Grundlosigkeit und Ra-
302 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Im neutralen Schweden blieb Stockholm von Kriegszerstörungen völlig verschont. Allerdings beschäftigten sich Politiker und Stadtarchitekten schon seit den 1930er Jahren mit radikalen Plänen, die davon ausgingen, dass große Teile der Stadt abgerissen werden sollten.12 Bereits 1932 wurde ein internationaler Wettbewerb zur Umgestaltung von Stockholms Stadtkern ins Leben gerufen, an dem unter anderem Le Corbusier und Alvar Aalto teilnahmen. Aaltos und Corbusiers Vorschläge gingen davon aus, große Teile des Stadtzentrums abzureißen und mit funktionalistischen Hochhäusern zu ersetzen. Vom Bauhaus und vor allem von amerikanischen Architekten beeinflusst, wurden diese Pläne ab den 1950er Jahren umgesetzt, ein Prozess der 20 Jahre dauern sollte. Dabei musste ein großer Teil der alten Bausubstanz der Stadt modernistischen Einkaufszentren, Büros, Parkhäusern und Bankhäusern weichen. Zudem forderten die zunehmende Motorisierung und der Ausbau der U-Bahn breitere Straßen als die schmalen Gassen des Stadtzentrums. Ziel war ein funktionalistischer Stadtkern, wo die Mitbürger Einkaufsmöglichkeiten bequem mit dem Auto erreichen konnten sowie die Behebung der sozialen Probleme in den oft baufälligen Altbauwohnungen des Stadtteils. Betroffen war vor allem das so genannte „Citygebiet“ in dem Stadtteil Norrmalm (im Volksmund „Klara“ genannt), das aus einem Konglomerat von verschiedenen Gebäuden aus drei Jahrhunderten bestand, darunter viele Bürgerhäuser aus dem 17. Jahrhundert. Diese äußerst radikale architektonische Umgestaltung eines ganzen Stadtteils hatte zur Folge, dass hunderte von Altbauten abgerissen wurden.13 Von diesem Prozess verschont blieb aller-
sanz des Abrisses und Neubaus des historischen Zentrums von Stockholm“ hin. Siehe Arnd Beise, „‚Die fremde Stadt.‘ Neoromantische Stadtflucht und surrealistische Rückeroberung des Stadtraums bei Peter Weiss“ in: PWJ 14, (2005), S. 47-68. Siehe insbesondere S. 62-64, hier S. 62. Vgl. Gustav Landgren, „‚Auch hier wären ein paar Bomben am besten, die Altstadt soll weg, hier soll Neues gebaut werden‘. Peter Weiss’ Verhältnis zu Stockholm“, in: PWJ 21 (2012), S. 93-110. Siehe auch Magnus Bergh, „Durch die Herkulesgatan. Stockholmer Ortsbegehung zur Ästhetik des Widerstands“, in: Gunilla Palmstierna-Weiss, Jürgen Schutte (Hrsg.), Peter Weiss: Leben und Werk, S. 294-306. Vgl. Anne Bourguignon, Der Schriftsteller Peter Weiss und Schweden, S. 261f. 12 Bereits 1928 hatte der schwedische Architekt Arthur von Schmalensee die Skizze zu einem 30 geschossigen Hochhaus entworfen, das allerdings nicht verwirklicht wurde. 13 Vgl. Lars Nilsson, „Main trends in modern Nordic urbanization“, in: Friedrich Lenge, Klaus Tenfelde (Hrsg.) Die europäische Stadt im 20. Jahrhundert: Wahrnehmung – Entwicklung – Erosion, Köln 2006, S. 117f.
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dings das älteste Stadtgebiet „Gamla Stan“ (die Altstadt), wo Peter Weiss sein Atelier hatte, das seit 1965 unter staatlichem Denkmalschutz steht. Die politische Entscheidung zur Umgestaltung des Citygebiets wurde 1945 im Rahmen eines Prinzip-Entwurfs zur Umgestaltung des Stadtzentrums von den regierenden Sozialdemokraten getroffen und stoß auf geringen politischen Widerstand. Dieser Entwurf wurde 1962 und 1967 modifiziert. Führend war dabei der Sozialdemokrat Hjalmar Mehr (1910-1979), der in den 1960er und 1970er Jahren die Stockholmer Kommunalpolitik verwaltete. Architektonisches Zentrum bildeten die fünf Hochhäuser am Sergels Torg, die 1964 fertig waren. Das Stadtgebiet südlich davon wurde im Rahmen eines Architektenwettbewerbs in den 1960er- und 1970er Jahren saniert, der von der Stadt und der Reichsbank organisiert wurde. Diese Neubauten wurden zum Teil von Architektenfirmen übernommen. Prominente Neubauten waren das von Peter Celsing entworfene Kulturhuset („Kulturhaus“, 1974) am Sergels Torg, das Einkaufszentrum Åhléns an der Klarabergsgatan (Arch. Backström & Reinius, 1964), das Bankhaus, das für die schwedische Bank SEB am Sergels Torg (Arch. Kjell Ödeen, 1963-66) errichtet wurde; Götabanken (Arch. Anders Tengbom 1963-67) im Sveavägen, Sverigehuset (das „Schwedenhaus“ 1969) in Kungsträdgården, Sparbankshuset (Arch. Karl Nyrén, 1975) in der Hamngata und das Einkaufszentrum Gallerian in der Hamngata (Arch. Malmqvist und Skoog, 1976-77). Bis zum heutigen Tag bleibt die architektonische Erneuerung des alten Stadtzentrums höchst umstritten: Während die Kritiker den funktionalistischen Baustil als „seelenlose Konservenbüchsenarchitektur“14 anprangern, wird die Umgestaltung von Befürwortern als soziale und verkehrstechnische Leistung anerkannt. Diese Veränderung des urbanen Stadtraums erlebte Weiss als Stockholmer Bürger hautnah. Wie viele Intellektuelle der schwedischen Künstlerszene, darunter Verleger und Autoren wie Kaj Bonnier, Karl Vennberg, Lars Gyllensten und der Nobelpreisträger Eyvind Johnson, setzte sich Weiss zunehmend polemisch mit der Stadtsanierung auseinander. In einer Passage in Fluchtpunkt wird das neu entstehende Stockholm beschrieben. Der Protagonist und Ich-Erzähler steht dort vor dem 1957 abgerissenen Hotel Continental und fasst seine Eindrücke über die Veränderung des Stadtraums folgendermaßen zusammen: Ich gehe durch den gesteigerten Verkehr, die aufgerissenen Straßen entlang, vorbei an den gläsernen Hochhäusern, im Lärm der Rammklötze und Pressluftbohrer, im Rasseln der Zementmischer. Vom Bahnhof aus blicke ich auf die Neubauten, die Gerüste, die Über-
14 Siehe hierzu Henrik O. Andersson, Fredric Bedoire, Stockholms Byggnader: En bok om arkitektur och stadsbild i Stockholm, Stockholm 1991, S. 132-153, hier S. 152.
304 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT brückungen und erweiterten Straßenzüge. Das Hotel Continental, mit seinen Jugendstilranken, seinem fließenden Stuckwerk, seinen schweren Draperien hinter den gewölbten Fenstern, ist abgerissen. Ringsum liegen die Einstiegschächte zur neugelegten Untergrundbahn und die Plattformen der Haltestellen, vom Wald der Verkehrszeichen umgeben. Hinüber zur Altstadt und zum südlichen Stadtteil strecken sich neue Brücken, breite 15
Einfahrtstraßen.
Wie Peter Weiss die topographische Veränderung der Stadtlandschaft Stockholms in den Notizbüchern und in Rekonvaleszenz darstellt, soll im nächsten Abschnitt behandelt werden.
6.1 D IE R EKONSTRUKTION DES V ERGANGENEN AM B EISPIEL VON N ORRMALM Schon in seinem Dokumentarfilm Bag de ens facader (1960, Hinter den Fassaden) kritisiert Weiss die Monotonie und Einförmigkeit in den modernen funktionalistischen Plattenbausiedlungen, die er mit „graue[n], harte[n] Gefängniskorridoren“ vergleicht.16 Gerade diese Veränderung des städtischen Charakters im Zuge der Citysanierung und der Umzug der Vermieter nach monotonen Vororten wird Gegenstand seiner Kritik. Die natürliche Zusammengehörigkeit der Menschen, das pulsierende Leben in dem Citygebiet, mit seinen Bierkneipen, Bohemiens und Zeitungsvierteln, all das wird laut dem Autor von den Stadtarchitekten und Politikern preisgegeben. Dieser „Raubmord, der am Allgemeingut“, laut Weiss begangen wird, hat zur Folge, dass die Stadt ihre Vitalität und Seele verliert und dass die Menschen nach den sterilen Außenbezirken hinziehen müssen.17 Die alten Häuser, so Weiss, hätten restauriert und saniert werden können, damit ihr geschichtlicher Wert nicht verloren geht. Stattdessen werden sie abgerissen und die Menschen Opfer dieser Bauspekulation. Bezeichnend ist dabei, dass er die Stadt ähnlich wie in seiner frühen Prosa (Die Besiegten, Der große Traum des Briefträgers Cheval) mittels Körpermetaphern vergleicht; man habe das Zentrum „lobotomiert“ und mit „Prothesen“ ersetzt: Es ist die besinnungslose wütende Unterbrechung eines organisch wachsenden Prozesses, die mich reagieren lässt. [...] Es sind die Amputationen, die am bewußten Körper der Stadt
15 W ,Bd .2 ,S .159 . 16 Vgl. Weiss, Kopenhagener Journal. Kritische Ausgabe, S. 137. 17 W. Bd. 2, S. 520.
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vorgenommen werden, es ist die klobige Lobotomie, die an ihr durchgeführt wird, es ist die Ablehnung des natürlichen Verlaufs, in dem Generationen von Stadtbewohnern allmählich ihre Lebensformen verändern, und dessen Ersetzung durch roboterhaft aufgepfropfte Prothesen und den hohlen Kopf eines Molochs, was das Grauen in mir hervor18
treibt.
Eine ähnliche Kritik am Umgang mit der historisch wertvollen Architektur begegnet uns in Uwe Johnsons Romantetralogie Jahrestage. Dort prangert die Protagonistin Gesine Cresspahl bei der Besichtigung einer Baustelle die Zerstörungswut in New York an, die sie als „Mord“ am Vergangenen bezeichnet. Ähnlich wie Weiss bedient sich Johnson dabei einer Körpermetapher, indem er das Haus mit einem menschlichen Skelett vergleicht: „Zwei Kranichkräne waren auf dem Schuttfeld zu Gange. […] Das Skelett des umgebrachten Hauses war nun fast ganz nackt. Das wird nicht wieder. Nach einer Weile werden sie die wertvollen Teile vom Abfall gesondert und beides abgefahren haben, die Fläche planieren, fertig ist die Zukunft.“19 Nur noch „trockene Gedächtniskonserven“ bleiben von den Häuserskeletten übrig, wenn die Amerikaner mit ihrer Geschichte tabula rasa machen. New York erscheint bei Johnson als ein Ort des Vergessens; die „zugeschüttete Vergangenheit“ der Stadt liegt […] „wüst, eingefaßt von Schmutz, Abfall, Schrott und Industrie“.20 In seinen Notizen aus den 1970er Jahren äußert Weiss häufig seine Abneigung gegen das Abreißen ganzer Stadtteile im Rahmen der oben erwähnten Erneuerung der Stockholmer Innenstadt. Seine Kritik ist z.T., wie Anne Bourgignon bemerkt hat21, marxistisch geprägt, aber zeugt zugleich auch von seiner Abneigung gegenüber dem funktionalistischen Baustil. Mehrmals geißelt er die Stadtarchitekten als „Totengräber“, die die Schönheit des „Venedig des Nordens“ zu zerstören drohen. Eine Tagebucheintragung aus dem Jahr 1978 hat folgenden Wortlaut: Die Totengräber von Stockholm, die jungen Architekten, Stadtplaner, Stadtverordneten, Technokraten, die (bei einem Gang durch die Neujahrsnacht) von Stockholms Verwandlung sprechen: sie werden alles Alte niederreißen, d.h. sie werden die Stadt dem Ausver-
18 Ebd., S. 521f. 19 Uwe Johnson, Jahrestage: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl, Bd. 1, S. 421. Vgl. Günter Butzer, Fehlende Trauer, S. 125. 20 Uwe Johnson, Jahrestage: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl, Bd. 1, S. 151. 21 Annie Bourguignon, Der Schriftsteller Peter Weiss und Schweden, S. 261.
306 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT kauf überliefern, werden ihren Charakter vernichten, sie ihres Herzens berauben und das 22 Abgerissene durch Bankpaläste, Warenhäuser, Parkhäuser ersetzen –
In dieser und anderen Passagen kritisiert Weiss die Nachteile der Citysanierung, die Vertreibung der Menschen aus dem alten Stadtkern zugunsten einer leblosen Konsum- und Geschäftsstadt, das Kalte und Unmenschliche an der funktionalistischen Architektur und die mit der Sanierung verbundenen Kosten. Resigniert konstatiert Weiss in Rekonvaleszenz, dass die „Entscheidungen“, die „vor Jahren schon getroffen“ wurden, nicht mehr aufzuhalten seien, dass die Bürokraten und Politiker schon den Ausverkauf des historischen Stadtkerns an „das Großkapital“ beschlossen haben. Es sei sinnlos, diesen Prozess, der seit Jahren schon geplant sei, aufzuhalten, meint Weiss: „Überwiegend für uns alle, beim Weg durch die Stadt, deren gesamtes Zentrum nunmehr dem Erdboden gleichgemacht wird, ist jedoch die Empfindung der Machtlosigkeit.“23 Die „funktionalistische Modellstadt“, die schon im Filmfragment Staden als „Zukunftsvision“ mit „breiten Straßen, blendend weißen Hauswänden“24 prognostiziert wird, ist jetzt Wirklichkeit geworden: Der Gang durch die Stadt in der Neujahrsnacht mit den Architekten und Stadtplanern. Es sind Verrückte. Ihre Visionen geben sich als fortschrittlich aus, sie stehn aber im Dienst der Großunternehmer, die, mit ihren Geldern, dem Staat behilflich sein können. Das Alte muß weg, um die neuen Paläste zu errichten, das bedeutet, es werden Milliarden in die Kassen der Kommunalpolitiker u der Regierung fließen. Die Menschen werden aus dem natürlichen, lebendigen Zentrum der Stadt vertrieben, daß dort Bürohäuser, Banken, usw erbaut werden können. Der Idealist Mehr (Sozialdemokr.) träumt von einer modernen, funktionalistischen Stadt, will nicht sehn, daß eine kalte, unmenschliche Stadt, ein Denkmal des Kapitalismus, aus Stockholm werden wird.
25
22 NB 2, S. 212. 23 W, Bd. 2, S. 518. 24 Siehe hierzu Peter Weiss, „Die Stadt. Ein Filmskript“, hrsg., übersetzt und kommentiert von Axel Schmolke.“ In: PWJ 17 (2008), S. 21. 25 NB 2, S. 869. Diese Einschätzung teilt Weiss mit Jan Myrdal. Myrdals und Gun Kessles Ausstellungsprospekt Folket och maktens murar. Bilder av Gun Kessle. Text av Jan Myrdal. Moderna Museet, Filialen Stockholm 2. Juli-29. augusti 1971, Moderna Museets kataolg nr. 95, Malmö 1971. „Ty redan när man sedan kommit upp på backen kan man se in över bron mot Stockholms centrum. Där reser sig illa ritade husklossar som monumentala gravstenar över en döende stad. Det går att känna igen denna arkitektur. Det är monopolkapitalets och byråkratins arkitekur. Men man bör lära
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Der Sozialdemokrat Hjalmar Mehr, der in diesem Zusammenhang explizit erwähnt wird, wird zum Sinnbild des Technokraten. Stockholm wird für Weiss „zum Abbild völliger Entfremdung“: Die Innenstadt, einmal atmend, voll von Assoziationen, reich an Begegnungen und Ausblicken, ständig visuellen Halt bietend, ist verschwunden, und aus den Kratern emporgewachsen sind Bankpaläste […] Festungen der Industrie, des Handels, mit ihren Kontoren, ihren Sitzungsräumen, mit ihren Sklaven, Stockwerk über Maschinen zum Rechnen des ansteigenden Profits, [...] die babylonischen Gehäuse für Automobile, in denen unaufhörlich ein Stinken und Donnern sich hinauf und hinabschraubt, denn es soll kein Zweifel daran bleiben, dass dies jetzt eine Stadt ist, die bewohnt wird von Automobilen, von toten kalten Apparaten und von ebenso metallischen Zweibeinern, mit programmierten Gehir26
nen, nur von fern noch an Menschen erinnernd.“
Weiss’ Auseinandersetzung mit der Citysanierung Stockholms ist nicht nur marxistischer Provenienz. Die Kritik des „Traditionalisten“ Weiss27 an dem Abriss des alten Stockholm knüpft auch beispielsweise an Hermann Hesses Modernitätskritik an. Diese Anprangerung der modernen Maschinenkultur zieht sich wie ein roter Faden durch Weiss’ Werk, man denke etwa an sein Ölgemälde Die Maschinen greifen die Menschen an (1935), das thematisch an die phantasmagorische Episode „Hochjagd auf Automobile“ in Hesses Roman Der Steppenwolf (1927) erinnert.28 In Hesses autobiographischer Erzählung Die Nürnberger Reise (1927) setzt sich der Autor mit der Modernisierung im mittelalterlichen Stadtkern Nürnbergs auseinander. In einem Brief an Franz Schall 1925 fasst er seine
känna igen dess lagbundenhet; dess tradition.“ PWA 3265. „Denn schon vom Hügel aus kann man über der Brücke das Zentrum Stockholms sehen. Dort ragen schlecht gezeichnete Bauklötze wie monumentale Grabsteine einer sterbenden Stadt herauf. Diese Architektur ist bekannt. Es ist die Architektur des Monopolkapitalismus und der Bürokratie. Dabei soll man lernen, ihre Gesetze, ihre Tradition zu erkennen.“ 26 W, Bd. 2, S. 522. 27 In seinem Prosastück Rekonvaleszenz (1970) beklagt Weiss die Zerstörung der Innenstadt Stockholms und begründet seine Kritik folgenderweise: „Ich bin Traditionalist, weil ich nicht das Entscheidende in einem einzelnen Werke sehe, sondern weil das eigentlich Vitale für mich in dem verflochtenen Muster liegt, in dem alles aufeinander einwirkt und sich gegenseitig zu neuen Inhalten und Formen anregt.“ (W, Bd. 2, S. 522.) 28 Jochen Vogt, Peter Weiss mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt, 3. Auflage, Reinbek bei Hamburg 2005, S. 30.
308 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Eindrücke von dieser Reise zusammen. Ähnlich wie Weiss setzt sich Hesse dort mit der zunehmenden Motorisierung in der Altstadt auseinander. Nürnberg habe ihn durch seine Industrie und seinen „ungewöhnlich lärmenden Straßenverkehr“ einen „beinahe schauerlichen Eindruck gemacht“. Es ist dem modernen Menschen gelungen, Nürnberg mittels einer „vollkommenen geistlosen Technik vollends zu zerstören.“29 Statt einer alten Kulturstadt sieht Hesse eine öde Geschäftsstadt, „umknattert von Motoren, umschlängelt von Automobilen“, alles vibrierend von einem modernen und geistlosen Leben ohne Zweck.30 Das alte Nürnberg, das „in der nächsten Stunde einstürzen“ könne, wird hier zum Sinnbild für den Untergang des Abendlandes. Ein ähnlicher Tenor begegnet uns in Rekonvaleszenz, in welchem das Erzähler-Ich das ausgestorbene Stadtzentrum mit einem Friedhof vergleicht. Die Stadt wird als Nekropole dargestellt; aus der Asche der abgerissenen Häuser ragen die neuen Monumente wie riesige „Grabsteine“ auf: Nach Geschäftsschluss beginnt das neuerbaute Stadtzentrum sogleich abzusterben. Abends liegt es in völliger Leere, nicht einmal gähnend, steintot. Die Monumente zur Verherrlichung des Kapitals ragen eisig auf, riesige Grabsteine über der Asche der vergangenen Stadt. […] Selbst die Erinnerungen an die Stadt von früher erstarren hier, die gläsernen Fassaden sind so erloschen, daß jede Empfindung vor ihnen vergeht, in diesem Friedhof hörst du nur noch das immer schneller werdende Pochen deiner fliehenden 31
Schritte.
Sinnbild für die von Weiss verhasste funktionalistische Architektur32 wird das neuerrichtete „Kulturhaus“ am Sergelstorg, dessen große Glasfenster die „Dekorateure der Mausoleen“ mit Puppen in der Kleidung des 18. Jahrhunderts ausgeschmückt haben. Diese Puppen werden für Weiss zum Symbol der letzten „Spiegelungen des Hinweggefegten“. Sie stehen beispielhaft für den Ausverkauf
29 Hermann Hesse, Gesammelte Briefe. Zweiter Band: 1922-1935. In Zusammenarbeit mit Heiner Hesse hrsg. von Ursula und Volker Michels, Frankfurt am Main 1979, S. 124f. Hier S. 125. 30 Hermann Hesse, Sämtliche Werke, Bd. 11: Autobiographische Schriften 1. Wanderung, Kurgast. Die Nürnberger Reise. Tagebücher, hrsg. von Volker Michels, Frankfurt am Main 2003, S. 177. 31 W, Bd. 2, S. 535. 32 Vgl. NB 2, S. 97: „Unsere Stadt der Herrschenden. Architektur kalt, tot, aus Beton Glas, Metall, ohne Spur von Schönheit . Architektur der Epoche der Funktionäre und Technokraten. Jede Zeit ihre Architektur. Unsre Architektur: Denkmal von Zynismus, Unmenschlichkeit.“
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der Stadt: „Diese hinter Glas gestellten Attrappen werben noch in der Nacht für den vollständigen Ausverkauf, von dem die Stadt Stockholm betroffen wurde.“ Als Beispiel für den kalten Zynismus der Politiker und deren falsche Visionen der Urbanität nennt Weiss charakteristischerweise die Behandlung der Jugendlichen, die vom Stadtzentrum verscheucht werden. Weiss, der schon in seinen schwedischen Dokumentarfilmen Vad ska vi göra nu då? (1958, dt.: Was machen wir jetzt?) und Enligt lag (1957, dt.: Im Namen des Gesetzes) die Situation der Jugendlichen geschildert hatte, ergreift in Rekonvaleszenz erneut Partei für die „unbehauste Jugend“, die in der Nähe des „Hundertmillionenbaus für Kultur und Parlament“ (das Kulturhaus) ein Aufenthaltslokal hatte. Dieses Lokal wurde aber ausgeräumt, und diejenigen, die sich weigerten, das Haus zu verlassen, wurden von der Polizei an „Haaren und Beinen herausgerissen.“33 Die herumstreunenden Vagabunden, die nachts herumsitzen, musizieren und diskutieren, werden aus dem Stadtkern entfernt; tauchen noch Gruppen von ihnen auf, werden sie von der Polizei verscheucht. Eben dieser Zynismus der Politiker bei der Umgestaltung des alten Stadtzentrums erregt bei dem Erzähler-Ich Hass-Tiraden. Sympathie erwecken allerdings die Jugendlichen, laut Weiss die „Originalbewohner“ der Stadt: Sie, die Abweichenden, die Originalbewohner der Stadt, dürfen nicht mehr in Erscheinung treten, ebenso wie die Bauherrn die schmalen, krummen, unregelmäßigen, verschachtelten dichtbesiedelten, farbigen, überaus bewohnbaren, überaus anziehenden, überaus vergangenheitsvollen und zukunftsfrohen Straßen und Gassen nicht dulden in ihrem korrupten Bild von Urbanität. Raserei überkommt dich beim Gedanken an die Menschenfeindlichkeit dieser Gesellschaft, die sich in ihrem Dünkel noch „Volksheim“ nennt, und die rasend schnell immer tiefer hineingeraten ist in einen Mechanismus, in dem es gilt, allen lebendigen Austausch, alle Verbindungen zwischen Berufsgruppen, Interessen- und Altersgrup34
pen, zwischen kritischen Konzentrationen zu unterbinden und zu zerstückeln.
Diese kritische Demontage des politischen und sozialen Wohlfahrtsstaats („Volksheim“) Schweden hatte Weiss ebenso in seinem Dokumentarfilm Ansikten i Skugga (1956, dt.: Gesichter im Schatten) dargestellt, der die Randfiguren und Außenseiter Stockholms zeigt. In einer Eintragung des Notizbuchs wirft Weiss den Stadtarchitekten und Politikern Heuchelei vor. Während sie die Erhaltung der alten Bausubstanz als
33 W, Bd. 2, S. 536. 34 Ebd.
310 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT reaktionär bezeichnen, wohnen sie selbst in schönen Palästen oder idyllischen Vororten Stockholms. Stadtbaumeister Sidenbladh: Die Kämpfer für die Erhaltung der Umwelt sind reaktionär – weil sie das Alte erhalten wollen (d.h. die historischen Traditionen). Er wohnt selbst in einem besonders schönen Haus aus dem frühen 18. Jahrh. – oben auf dem südl. Stadtteil, mit Blick über den Mälaren. Die Architekten Lallerstedt, Tengbom, Cellsing, Tesch, wohnen – fast alle – in Drottningholm (dem fürstlichsten aller Vororte). Hjalmar Mehr wohnt in Tessins Palast (gegenüber dem Schloß). Sie, und einige Herrn im Stadthaus, tragen die Verantwortung für die Ermordung Stockholms. Für die Verwandlung des Herzens der 35
Stadt zu einem Banktresor.
Laut Weiss tragen also die Politiker und Architekten die Schuld für die „Ermordung“ Stockholms, die wegen Profitinteressen das Zentrum der Stadt zu einem „Banktresor“ verwandeln. Durchaus bezeichnend für seine Abneigung gegen die Stadterneuerung ist Weiss’ Vergleich der Stadtarchitekten mit Hitlers radikalen Plänen einer völligen architektonischen Neugestaltung Berlins: „Die schwedischen Stadt-Architekten, ausgehend von den Hitler-Plänen: die Städte ‚von Grund auf neu erbauen.’ (Das Abreißen des alten Stockholm).“36 Es scheint in diesem Kontext angebracht, Weiss Anspielung auf Hitlers Vorstellung von „Germania“ kurz zu erläutern. Das von Albert Speer zwischen 1935 und 1943 entworfene Projekt „Germania“ ging davon aus, die Reichshauptstadt mit einem Kreuz von zwei breiten Verkehrsachsen zu versehen, die an die Autobahn angeschlossen werden sollten. Anfänglich zwei, später vier Ringe sollten den Verkehr in der Stadt verteilen. An dem Schnittpunkt der Monumentalachsen sollte eine „Große Halle“ als zentraler Orientierungspunkt liegen. Die Nord-Süd-Achse sollte als Monumentalstraße ausgebaut werden. Dabei wurde geplant, die meisten Mietkasernen in der Innenstadt abzureißen und durch Prachtbauten oder Straßen zu ersetzen. Für die Stadtbevölkerung wurde eine neue Siedlung außerhalb der Innenstadt geplant. Weiss’ Engagement für städtebauliche Fragen und für die Erhaltung des alten Stadtkerns Stockholms wird auch in den Mappen mit Zeitungsausschnitten von Abrisshäusern deutlich, die im Peter Weiss Archiv aufbewahrt worden sind.37
35 NB 2, S. 89. 36 Ebd., S. 216. 37 Siehe PWA, Signaturen 3186, 3187, 3191. Weiss scheint sich u.a. für das ökologische linke Konzept „Alternativ stad“ (Alternative Stadt) engagiert zu haben, die 1969 ins Leben gerufen wurde.
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Der Verlust der alten Bausubstanz ist für Weiss ein Verlust der eigenen Identität, der Verlust seiner Erinnerungen an das Stockholm der 1930er und 1940er Jahre. Die abgerissenen Gebäude, Straßen und Plätze werden „zum Resonanzboden des eigenen Wesens“.38 Dieser Identitätsverlust, gekoppelt an die Veränderung des Stadtraums, kommt besonders deutlich in Fluchtpunkt zum Ausdruck, wo sich das Erzähler-Ich seine Jugendjahre in Stockholm zu vergegenwärtigen versucht. Mittels einer archäologischen Metapher vergleicht Weiss die architektonische Neugestaltung des Zentrums: Nur noch „fossile Reste“ der alten Bausubstanz seien im Stadtbild da, die den ersten Eindrücken des Erzählers entsprechen. Der Vergleich der Stadt mit einem organisch gewachsenen Kunstwerk wird hier thematisiert. Die Entfremdung des erzählenden Ichs vor seiner Heimatstadt korrespondiert mit der Entfremdung des Erzählers gegenüber einer Fotografie seiner selbst aus den 1940er Jahren.39 So wie der Raum sich verändert hat, hat er sich selbst verwandelt: Über einen Abstand von zwei Jahrzehnten versuche ich, mir das Stockholm der ersten Kriegsjahre zu vergegenwärtigen. Doch auf der Suche nach den Wegen, die wir damals gemeinsam gingen, drängt sich mir das Bild einer neuen, gewaltsam wachsenden Großstadt auf. Damals konnten wir noch Stadtteile finden, in denen die Atmosphäre des vorigen Jahrhunderts zu spüren war. Heute besteht kaum mehr ein Häuserviertel, in dem die Fassaden nicht ihr Aussehen geändert haben, kaum eine Straße, ein Platz, die unseren ers-
38 Dies bekundet u.a. folgende Passage aus dem Prosastück Rekonvaleszenz: „Immerhin ist mir diese Stadt, in die es mich vor 30 Jahren verschlug, zu einem Bestandteil meiner Existenz geworden, und ich habe ihre atmosphärischen Eigenschaften und ihre Materialien in meine Gedanken aufgenommen, wie alle andern, die hier zuhause waren. Und vielleicht stand mir die Stadt deshalb so nah, weil ich in andern Städten stärker die totale Vernichtung aller Beziehungen unterm Exil erlebte. Ich sehe jetzt, beim Weg durch die Trümmer, wie sehr ich an ihre Straßen, Plätze und Häuser, ihre Anhöhen, Ufer, Silhouetten und Ausblicke gebunden war, und wie sehr, ohne daß ich früher daran gedacht hätte, dies alles zum Resonanzboden des eigenen Wesens gehörte.“ W, Bd. 2, S. 522. 39 Der erzählte Raum korrespondiert hier mit dem Zustand des Erzählers. Dies ist auch in dem etwa gleichzeitig enstandenen Kopenhagener Journal der Fall: „Der Begriff dieses eigenen Zimmers hat sich während des letzten Jahres, in dem es für mich nur geliehene Zimmer, oder gemietete Hotelzimmer, in ständig wechselnden Städten, gab, aktualisiert. Der Gedanke an das Umziehen in ein kleineres Zimmer bedeutet, dass ich mich begrenzen will, dass zur Zeit zu viel Verwirrendes um mich herum ist.“ Siehe hierzu Peter Weiss, Das Kopenhagener Journal. Kritische Ausgabe, S. 50.
312 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT ten Eindrücken entsprechen. Nur hier und da stoße ich auf einen Torgang, einen Hof, eine Ufermauer, die wie fossile Reste im heutigen Stadtbild liegen. Und so wie die Stadt sich verwandelt hat, so habe ich mich selbst verändert. Befremdet sehe ich meine Erscheinung auf einem Bild, von einem Straßenphotographen vor zwanzig Jahren aufgenommen, am 40
Rande des Tiergartens, auf dem Platz vor dem Zirkusgebäude.
Das Stockholm seiner Jugend, das in der Ästhetik des Widerstands geschildert wird, existiert zum großen Teil nicht mehr. Dieses Stockholm zu rekonstruieren ist laut Weiss „eine archäologische Arbeit.“41 Die Herstellung des Stockholms der 1940er Jahre, die Erinnerung an die alten Straßen und Häuser müssen „ausgegraben werden unter den Banken und Parkpalästen, den Wolkenkratzern der Versicherungsgesellschaften u Industriemagnaten.“42 Ähnlich wie seine Protagonisten das „unter Staub und Müll“43 verschüttete Paris vor der Stadtregulierung Haussmanns in der Ästhetik des Widerstands zu rekonstruieren versuchen, rekonstruiert Weiss in der Ästhetik des Widerstands wie ein Archäologe das Stockholm der 1940er Jahre, das unter den modernen Parkhäusern und Büros verschüttet liegt. Mit Haussmanns Umgestaltung des Pariser Zentrums vergleicht Weiss in den Notizbüchern die Stadtregulierung Stockholms: Paris die breiten Boulevards – Ausblick u Überblick – vom Kolonialismus zum Imperialismus – die Breite erleichterte Truppentransporte von den Kasernen zu Unruheherden – Perspektive für Kanonenschüsse u Salven Stockholm Deportation der zentralen Stadtbevölkerung – das Zentrum wird abgerissen – diese schmalen Straßen, diese Schlupfwinkel – Hort für Unruhe, Misere, Düsterkeit – bohemisiert – abenteuerlich“[.]
44
40 W, Bd. 2, S. 158f. 41 Diese archäologische Arbeit begegnet uns auch in Fluchtpunkt, in welchem das Erzähler-Ich die früheren Spaziergänge zusammen mit dem verstorbenen Freund Max Bernsdorf zu rekapitulieren versucht. Dies erweist sich als eine archäologische Arbeit, da die meisten Häuser abgerissen worden sind: „Ich […] hatte mich damit begnügt, an ihn zu denken, wenn ich in den Straßen und Vororten Stockholms auf Überreste von Bauwerken stieß, die wir einmal auf unseren Wanderungen wahrgenommen hatten, und die zwischen den Bruchstellen, Ausschachtungen, Auftürmungen immer seltener wurden.“ (W, Bd. 2, S. 404.) 42 NB 2, S. 173. 43 ÄdW II, S. 35. Vgl. Ebd., S. 69. 44 Vgl. NB 2, S. 630.
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Gerade das archäologische Interesse für das Ruinöse begegnet uns ebenfalls in Weiss’ oben erwähntem Prosastück De Besegrade (1948, dt.: Die Besiegten), das die Kriegstrümmer im Berlin der unmittelbaren Nachkriegszeit beschreibt. Berlin wird in Die Besiegten zum Symbol für das modrige und untergegangene Europa. In Anlehnung an Hölderlins Ode Die Götter Griechenlands beschwört das Erzähler-Ich eine untergegangene Kultur; die Ruinen, die er beschreibt, haben den Nimbus von Hellas erworben. Aber Weiss’ Symbolisierung der Stadt ist alles andere als eine Idylle. Es handelt sich vielmehr um ein apokalyptisches Inferno, das Weiss mit unverkennbarer Ironie schildert.45 Die Stadtsanierung Stockholms mag Weiss an das zerstörte Zentrum Berlins und die Zerstörungen der europäischen Städte im Zweiten Weltkrieg erinnert haben (siehe unten). Das archäologische Interesse für das Ruinöse ist allerdings ein Thema, das Weiss zur Entstehungszeit der Ästhetik des Widerstands beschäftigt. Mit Interesse verfolgt er in den Notizbüchern die archäologischen Ausgrabungen in der Stockholmer Altstadt „Helgeandsholmen“ neben dem Reichstagsgebäude. Die Ausgrabungen, die 1978 in der Nähe vom Reichstagshaus gemacht wurden, interessierten Weiss insofern, als sie ein genaueres Bild davon zeigen konnten, wie Stockholm zu Zeiten des schwedischen Bauernführers Engelbrekt46, den Weiss in der Ästhetik des Widerstands als Freiheitskämpfer stilisiert, um 1434 aussah. Zugleich wird das kollektive Gedächtnis der Stadt, die auf der Insel gegründet wurde, evoziert: Der Anblick der Proportionen der Mauer, das Wissen um die Richtung, nach der sie sich erstreckte, die Lokalisierung des Stadttors, die Vorstellung von der Größe der Insel, ihrer Lage im Verhältnis zu den innern Befestigungstürmen, der Stadtbrücke, der Fassade der Burg Tre Kronor: dies alles macht die Situation gegenwärtig, in der Engelbrekt sich be47
fand, als er Kröpelin herausrief.
Weiss’ Aufzeichnungen über die Ausgrabungsstätte sind knapp, aber präzise. Eine Stadtmauer umgab die Insel, die bei den Ausgrabungen zum Vorschein
45 W, Bd. 1, S. 55, S. 61. 46 Zu Weiss’ Adaption des Engelbrekts-Mythos in der Ästhetik des Widerstands, siehe Annie Bourgignon, Der Schriftsteller Peter Weiss und Schweden, S. 216-232. 47 NB 2, S. 737. Weiss besaß übrigens über eine gut ausgestattete Bibliothek einschließlich Büchern über die Geschichte der Stadt Stockholm in seiner Arbeitsbibliothek. Vgl. Jürgen Schutte, „‚Die Bücher waren unsre Verbündeten im Kampf gegen die feindlichen Gewalten‘. Die Arbeitsbibliothek des Peter Weiss“, in: PWJ 19 (2010), S. 33.
314 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT kam, und eine Brücke verband die Altstadt mit Norrmalm. Hinter der Stadtmauer erhob sich das Stift zum Heiligen Geist, errichtet nach dem Vorbild des Stifts zu Lübeck. Über die Reste der äußeren Stadtmauer wurden im 17. Jahrhundert Paläste und Hofställe erbaut. Weiss besuchte nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus am 19. Juli 1978 selbst die Ausgrabungsstätte, die er in den Zeitungen gesehen hatte. Die Metapher des Grabens ist ein zurückkommendes Thema im Roman.48 Bereits kurz vor seiner Reise nach Spanien erörtert der Erzähler den missglückten Kampf der Arbeiterbewegung in Deutschland, den reaktionären Kräften standzuhalten und zum Subjekt der Geschichte zu werden. Dieser Kampf um die Identitätsstiftung wird mit der Metapher des Grabens veranschaulicht: „Es war, als gäbe es noch keine Sprache für dieses Wühlen und Graben, für das stundenlange Liegen mit angehaltnem Atem, das langsame Sichvortasten[.]“49 In Paris sagt der Erzähler über Montmartre, wenn dies das historische Herz der Stadt sei, läge es „verschüttet unter Staub und Müll, ein Berg war darüber angewachsen, Schicht auf Schicht“.50 Und dem Spanienkämpfer Münzer ist es, als müsse er „zuerst zu graben anfangen“, sich „rauswühlen, rauskratzen aus einer Masse von Schutt“, um Hierarchien abzuschaffen und das historische Herz der Arbeiterbewegung zu finden. In diesem Kontext schein es angebracht zu erwähnen, dass Weiss’ Interesse an der Archäologie und die Denkfigur des grabenden Menschen, die in der Ästhetik der Widerstands thematisiert wird, Reminiszenzen zu Walter Benjamins Ästhetik aufweist.51 In einer oft zitierten Passage mit der Überschrift „Ausgraben und Erinnern“ seiner autobiographischen Arbeit Berliner Chronik bezeichnet Benjamin die Sprache als „Medium des Erlebten“. Wer sich seiner eigenen verschütteten Vergangenheit nähern will, so Benjamin, muss sich „verhalten, wie
48 Dementsprechend wird der dritte Band des Romans von einer Vision der Mutter eingeleitet, in der diese gräbt. Dieses „Graben könnte nicht ewig weitergehn“, aber sie kann fast nicht aufhören mit dem „fast tröstlichen Graben“. ÄdW III, S. 7. 49 ÄdW I, S. 151f. 50 ÄdW II, S. 35. 51 Die Metapher des Ausgrabens ist zudem in der Psychoanalyse Sigmund Freuds zu finden. Freud vergleicht mehrmals die Arbeit des Psychoanalytikers mit der des Archäologen. Siehe hierzu Claudia Öhlschläger, „Gender/Körper, Gedächtnis und Literatur“, in: Ansgar Nünning, Astrid Erll (Hrsg.), Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, S. 227-248, hier S. 235. Zur Affinität der Ästhetik Benjamins mit der Ästhetik des Widerstands, siehe Rainer Koch, Geschichtskritik und ästhetische Wahrheit: Zur Produktivität des Mythos in moderner Literatur und Philosophie, Bielefeld 1990, S. 117-183.
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ein Mann, der gräbt“.52 Gedächtnis als Medium des Verdrängens wird bei Benjamin analog gesetzt zur Erde als Medium der Verschüttung. Besonders aufschlussreich im Hinblick auf Weiss’ Stadtdarstellung ist die Metapher des Grabens im Hinblick auf die „toten Städte“, die unter der Erde verschüttet liegen: Die Sprache hat es unmißverständlich gedeutet, daß das Gedächtnis nicht ein Instrument zur Erkundung der Vergangenheit ist sondern deren Schauplatz. Es ist das Medium des Erlebten wie das Erdreich das Medium ist, in dem die toten Städte verschüttet liegen. Wer sich der eigenen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muß sich verhalten wie ein Mann, der gräbt. Das bestimmt den Ton, die Haltung seiner Erinnerungen. Sie dürfen sich nicht scheuen, immer wieder auf einen und denselben Sachverhalt zurückzukommen; ihn auszustreuen wie man Erde ausstreut, ihn umzuwühlen wie man Erdreich umwühlt. Denn Sachverhalte sind nur Lagerungen, Schichten, die erst der sorgsamsten Durchforschung das ausliefern, was die wahren Werte, die im Erdinnern stecken, ausmacht: die Bilder, die aus allen früheren Zusammenhängen losgebrochen als Kostbarkeiten in den nüchternen Gemächern unserer späten Einsicht – wie Trümmer oder Torsi in der Galerie des Sammlers – stehen. Und gewiß bedarf es, Grabungen mit Erfolg zu unternehmen, eines Plans. Doch ebenso ist unerläßlich der behutsame, tastende Spatenstich ins dunkle Erdreich und der betrügt sich selber um das Beste, der nur das Inventar der Funde und nicht auch dies dunkle Glück von Ort und Stelle des Findens selbst in seiner Niederschrift 53
bewahrt.
Benjamin vergleicht hier mittels der Metapher der Ausgrabung die Erinnerungsstränge mit Erdschichten bzw. Ablagerungen, die einer sorgfältigen archäologischen Untersuchung bedürfen, um die jeweiligen Schichten untersuchen zu können. Diese Schichtenmetapher ist die zentrale Bildstruktur, mit der Weiss die Phänomenologie des Erinnerns erfasst. Gemäß der „archäologischen“ Geschichtsphilosophie Benjamins fasst Weiss die Biographie seiner Stockholmer Jahre als eine „archäologische Arbeit“54 auf: Dies bezieht sich zum einen, wie oben angedeutet, auf den Kontext der Stadterneuerung der 1960er Jahre. Zum anderen gibt es aber eine deutliche Tendenz in der Ästhetik des Widerstands, die historischen Schichten von bestimmten geographischen Plätzen im urbanen
52 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. 6: Fragmente vermischten Inhalts. Autobiographische Schriften, S. 486f. 53 Ebd. 54 NB 2, S. 173.
316 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Großstadtraum hervorzuholen, diese mit früheren Ereignissen, Gebäuden und Menschen zu verbinden und sie somit „archäologisch“ zu rekonstruieren.55 Immer wieder wird der Autor in den Notizbüchern von Angstvisionen eines zerstörten Stockholms geplagt. Das Inferno, das er in dem kriegsbeschädigten Berlin zu erkennen glaubt, betrifft auch die schwedische Hauptstadt. Auch hier, so Weiss, wären den Stadtarchitekten und „Monopolkapitalisten“ ein paar Bomben am liebsten gewesen: 2. Teil: Besuch in Berlin – das Niedersteigen in den Hades (dies mit Lockung eines Gesangs) Die Jungen Architekten im Kriegsstockholm: auch hier wären ein paar Bomben am besten, die Altstadt soll weg, hier soll Neues gebaut werden. Gut: diese Zerstörung der Städte. Die Aasgeier. – Schreckensvision des zerstörten Stockholm, auf daß das Monopol56
kapital hier seine Türme errichten kann –
Im Prosastück Rekonvaleszenz beschreibt Weiss Stockholm als eine Stadt des Flanierens, die im Zuge der Motorisierung und Modernisierung des Stadtkerns vom Untergang bedroht ist. Das Stockholm der 1940er Jahre mit seinen alten Gassen, Höfen, Plätzen und den Zeitungsvierteln im Stadtteil „Klara“, das Weiss kennen lernte, existiert zum großen Teil nicht mehr. Gerade diesen Verlust der historischen Identität des Stadtkerns prangert der Autor immer wieder an. Als er 1940 in Stockholm ankam, lernte er „eine stille Stadt, von provinzieller Prägung“ kennen, deren Fassaden noch an Strindberg erinnerten: Auf unsern Spaziergängen lernten wir alle Teile der Stadt kennen, im Spätherbst, im Winter, in den Schmelzwassern des Frühjahrs. An den Baugeländen des Flugplatzes gingen wir hinüber zu Råsunda, damals eine Kleinstadt in ländlicher Umgebung, heute umlagert von Industrien, funktionalistischen Wohnkollektiven. Vom südlichen Stadtufer stiegen wir hinauf zu den Holzhäusern aus dem siebzehnten Jahrhundert, mit ihren verwachsenen
55 Waltraud Wiethölter bezeichnet Weiss’ Technik als „zähe Gedächtnisarbeit, oder noch besser: als eine durchaus aggressive Archäologie […] die gegen die eingeübten Mechanismen des Verdrängens und Vegessens und vor allem gegen die Historiographie der Mächtigen mobil macht, um den Blick auf die weniger verheißungsvollen Traditionsbildungen, auf die Geschichte der Gewalt, der Grausamkeiten, der Niederlagen und Katastrophen zu lenken.“ Waltraud Wiethölter, „Mnemosyne oder Die Höllenfahrt der Erinnerung. Zur Ikono-Graphie von Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands.“ In: Gerhard von Graevenitz, (Hrsg.), Zur Ästhetik der Moderne, S. 220. 56 Ebd., S. 212.
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Gärten, ihren Scheunen und Höfen, wir gingen weiter zum Hammarbyhafen, wo damals 57
kahle Klippen und Waldungen die Stadt begrenzten.
Gerade das Leben des Flaneurs ist im Zuge der Modernisierung und Sanierung des Stadtzentrums vom Aussterben bedroht, was Weiss in Rekonvaleszenz beklagt: [...] „in dieser ehemals ergreifenden Stadt, in der du flanieren konntest, in der du einen Namen besaßt“ sieht Weiss durch die zunehmende Motorisierung und Kommerzialisierung des Stadtraumes den Flaneur zur anachronistischen Figur verurteilt. Gerade das Flanieren spielte in der schwedischen „flanörlitteratur“ um die Jahrhundertwende mit August Strindberg und Hjalmar Söderberg eine bedeutende Rolle. Weiss verband Stockholm vor allem mit August Strindberg, dessen Spuren, als er 1940 in der schwedischen Hauptstadt ankam, noch allgegenwärtig waren. Obwohl die Gegend wo Strindberg aufwuchs unmittelbar von der Stadterneuerung betroffen war, ist er laut Weiss immer noch gegenwärtig: Immer ist er mir gegenwärtig, da oben auf der Anhöhe des Südufers. Und die Stadt ist noch Strindbergs Stadt, obgleich die alten Viertel, in denen er aufwuchs, abgerissen sind, um Platz für die modernen Hochhäuser zu machen. Damals, während der Kriegsjahre, waren die Veränderungen noch gering. Wir konnten durch die Straßen der östlichen Stadtteile gehen, die am Sonntagmorgen in einer provinziellen Leere lagen, wir konnten Häuser ausfindig machen, in denen er gewohnt hatte, und uns hinter einem Fenster sein Gesicht 58
denken, mit dem bösen, gesträubten Bärtchen.
Dieses alte Stockholm, das an die Epoche der Flaneure „eines Bellman, eines Strindberg, Blanche oder Söderberg“ erinnert, scheint unmittelbar zum Abbruch verurteilt zu sein: „Überall wo der Putz von einer Hausfront bröckelt, wo die Farbe im Treppenhaus zerspringt, die Risse im Mauerfall klaffen, wissen wir, daß drinnen, zwischen faulenden Tapeten, berstenden Wasserröhren, schadhaften elektrischen Leitungen, die Bewohner der langsamen Zermürbung ausgesetzt sind.“59 Dieses alte Stockholm Strindbergs, Almqvists und Söderbergs mit seinen aus Granit und Holz gebauten Häusern, so schreibt Weiss in den Notizbüchern, muss für kommende Generationen erhalten werden:
57 W, Bd. 2, S. 160. 58 R, S. 75. 59 W, Bd. 2, S. 521.
318 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Ich wünsche an diesem Abend, daß Stockholm nie einer Zerstörung anheimfallen würde, daß es seine einzigartige Schönheit behalten, nie einer sogenannten modernen Zeit angepasst, sondern in einer wie aus einer Landschaft heraus skulptierten Form erhalten bleiben würde – eine Architektur, natürlich gewachsen, aus Granit, schwerem Holz, durchleuchtet von Wasser – eine Zusammengesetztheit, in der die Schatten Bellmans, Almqvists, Strindbergs, Söderbergs enthalten waren –
60
Der Flaneur weist nicht nur auf Strindberg, sondern auch auf die Ästhetik Walter Benjamins hin. Im Passagenwerk und in seinen Baudelaire-Studien beispielsweise räumt Benjamin dem Flaneur einen großen Raum ein. Der Flaneur, der in der Dichtung Baudelaires und der Dandy-Ästhetik des 19. Jahrhunderts seinen Ursprung hat, ist für Benjamin ein entwurzeltes Wahrnehmungssubjekt im urbanen kapitalistischen Milieu.61 So sieht Benjamin den Flaneur als Medium, der das kollektive Gedächtnis der Stadt anhand von Gebäuden und Pflastersteinen abliest. In dem Passagen-Werk bezeichnet Benjamin den Flaneur folgenderweise: Aber die großen Reminiszenzen, der historische Schauer – sie sind ein Bettel, den er [der Flaneur G.L.] dem Reisenden überläßt, der da glaubt, mit einem militärischen Paßwort den genius loci angehen zu können. Unser Freund darf schweigen. Beim Nahen seiner Tritte ist der Ort schon rege geworden, sprachlos, geistlos gibt seine bloße innige Nähe ihm Winke und Weisungen. Er steht vor Notre Dame de Lorette und seine Sohlen erinnern: hier ist die Stelle, wo man ehemals das Zusatzpferd - das cheval de renfort - vor den Omnibus schirrte, der die rue des Martyrs nach Montmartre hinaufstieg. Noch oft gäbe er all sein Wissen um das Domizil von Balzac oder Gavarni, um den Ort eines Überfalls und selbst einer Barrikade für die Witterung einer Schwelle oder das Tastbewußtsein einer 62
Fliese dahin, wie der erstbeste Haushund es mit davonträgt.
Gerade dieses Ablesen von Gebäuden63 durch das Medium des Flaneurs ist, wie im Folgenden dargestellt werden soll, ein auffallendes Merkmal in der Ästhetik
60 NB 2, S. 160. 61 Rolf J. Goebel, Benjamin Heute: Großstadtdiskurs, Postkolonialität und Flanerie zwischen den Kulturen, München 2001, S. 13. 62 Vgl. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. 5: Das Passagen-Werk I, S. 524. 63 Franz Hessel schreibt bezüglich des Flanierens analog von der „Lektüre der Straße“: „Flanieren ist eine Art Lektüre der Straße, wobei Menschengesichter, Auslagen, Schaufenster, Café-Terrassen, Bahnen, Autos, Bäume zu lauter gleichberechtigten Buchstaben werden, die zusammen Worte, Sätze und Seiten eines immer neuen Bu-
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des Widerstands. Weiss beschreibt das Anschauen eines Gebäudes in den Notizbüchern in Anlehnung an die Interpretation eines Gemäldes als einen hermeneutischen Akt des Deutens. Aber im Gegensatz zum statischen Kunstwerk ist ein Gebäude ein „lebendiger“ Organismus, der aus Eingeweiden, Haut und Augen besteht: „[D]as Ansehn eines Hauses ist wie das Ansehn eines Bilds, einer Statue, es setzt dein Denken u Fühlen in Bewegung, fordert dich zu Deutungsversuchen heraus. Gleichzeitig auch etwas anderes als die Konfrontation mit einem Kunstwerk, es ähnelt eher einem Organismus, hat Eingeweide, Haut, Augen. Es ist wohl Werk von Menschenhand, hat aber, indem es Obdach gewährt, dieses Fluidum des Schutzerbietenden, Beschirmenden angenommen“.64
6.2 S TRINDBERG UND
DIE
R ÜCKKEHR
DES
F LANEURS
Während die Protagonisten in der Ästhetik des Widerstands sich vorwiegend in geschlossenen Räumen, in Kirchen, Museen, Arbeitszimmern, Wohnungen aufhalten, legen sie in Stockholm lange Strecken zurück, was zu ausführlichen Stadtschilderungen führt.65 Dies mag mit der topographischen Struktur der Stadt zu tun haben, die aus Inseln und Hügeln besteht. Wie Annie Bourguignon in ihrer Studie Der Schriftsteller Peter Weiss und Schweden bemerkt hat, dominiert das Licht in fast allen Stadtschilderungen Stockholms in der Ästhetik des Widerstands.66 Auffallend sind des Weiteren die vielen Beschreibungen von Gebäuden, deren Geschichte mittels des Mediums des Flaneurs erforscht wird. In der Ästhetik des Widerstands werden zahlreiche Milieus, die im Zuge der oben erwähnten Stadtsanierung vernichtet wurden, pietätsvoll rekonstruiert: Das Arbeiterviertel in der Flemminggata, wo der anonyme Ich-Erzähler wohnt, die Hinterhöfe des Armenviertels „Sibirien“, wo der Kominternagent Rosner sein Versteck hat, die Zeitungsviertel und Bierkaschemmen in Klara, die Lotte Bischoff be-
ches ergeben.“ (Franz Hessel, „Spazieren in Berlin“, in: Ebd., Sämtliche Werke in fünf Bänden, Bd. 3: Städte und Porträts, hrsg. von Bernhard Echte, Oldenburg 1999, S. 103). 64 Vgl. NB 2, S. 473. 65 Magnus Bergh, „Durch die Herkulesgatan. Stockholmer Ortsbegehung zur Ästhetik des Widerstands“, in: Gunilla Palmstierna-Weiss, Jürgen Schutte (Hrsg.), Peter Weiss: Leben und Werk, S. 294. 66 Annie Bourguignon, Der Schriftsteller Peter Weiss und Schweden, S. 262.
320 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT sichtigt.67 Jakob Rosners Wohnung in der Upplandsgata ist ähnlich wie Lenins Domizil von extremer Enge gekennzeichnet. Dieses Raummodell entspricht der Bedrängung durch die physische und psychische Belastung des Exildaseins. Rosners Tätigkeit als Herausgeber der antifaschistischen Zeitschrift Die Welt hat allerdings das Potential, die räumliche Bedrängtheit zu transzendieren. Die Überwindung des engen Raumes wird zudem durch die „zerknitterten Landkarten Europas“ angedeutet, die an den Wänden des Zimmers hängen: Die Kammer, in der er hauste, war nicht länger als dreieinhalb Meter, und zwei Meter breit. Sie lag neben der Küche, Glasscheiben waren in die Türen eingelassen. In der vordern Ecke, neben der Tür zum Flur, stand ein weißer Kachelofen, zerknitterte Landkarten Europas hingen an den Wänden mit grünlichen Tapeten. Zeitungen, Bücher lagen gesta68
pelt auf dem Fußboden, den Stühlen, dem Sofa.
Die Beschreibung verschiedener Stadtviertel Stockholms in der Ästhetik des Widerstands umfasst die Erwähnung einzelner Gebäude, z.B. das Restaurant Tysta Mari (Leise Mari), das zwischen 1902 und 1905 im Jugendstil errichtete Schwimmbad Centralbadet, der Telefonturm am Brunkebergstorg, das Vergnügungsetablissement Brända Tomten am Stureplan, die Cafés Ogo an der Kungsgata69 und Tranan, Treffpunkt der Exilanten am Odenplan bis hin zur Darstellung des Verwaltungssystems eines großen Konzerns (Separator-Werke) und zur Beschreibung der Verkehrsströme wie von der Höhe eines Aussichtsturms herab: Aus einem Dickicht von breit auslangenden verknorpelten Weiden stiegen die riesigen Sockel der Sankt Eriks Brücke auf, hoch oben rauschte ein Omnibus über die Schwärze und Stille hinweg. Zwei massive Bauwerke, gleich Wehrtürmen aus der Steilklippe emporwachsend, flankierten die Brücke an der Einfahrt zum Kungsholm.
70
So wird das von Ragnar Östberg zwischen 1911 bis 1923 errichtete Stadthaus als Gebäude beschrieben, „dessen Turm Venedig hinauf in den Norden beschwören wollte“.71 Andere Gebäude, die bei den Stadtbeschreibungen vorkommen, sind
67 ÄdW II, S. 176. Vgl. hierzu Magnus Bergh, „Durch die Herkulesgatan. Stockholmer Ortsbegehung zur Ästhetik des Widerstands“, in: Gunilla Palmstierna-Weiss, Jürgen Schutte (Hrsg.), Peter Weiss: Leben und Werk, S. 303. 68 ÄdW II, S. 174. 69 ÄdW II, S. 174, S. 203. 70 Ebd., S. 110. 71 Ebd., S. 81.
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das im Barockstil errichtete Stadtschloss, das „imperatorisch“ wirkende Reichstagsgebäude und das ägyptische Säulenportal „zu dem vorn schmal zulaufenden Bau, in dem die Regierung ihren Sitz hatte“.72 Gemeint ist hier das so genannte Mynthuset (das „Münzenhaus“), in dem die schwedische Regierung seit 1937 ihren Sitz hat. Somit konstruiert Weiss das filigrane Gespinst der Stadt. Die Aufzählung von Straßennamen, Kreuzungen und Häusern konstruieren eine kartographische Textstruktur.73 Die einzelnen Gebäude, Straßen und Namen an den Häusern werden zum „Inbegriff“ des Lebens der Protagonisten, zu einem Gedächtnisraum, in dem sie sich bestens auskennen und den sie wie ein Buch ablesen können. Um die Bedeutung der Stadtzeichen hervorzuheben, wird die Anapher (durch die wiederholte Benutzung des Demonstrativpronomens „dieses“) künstlerisch verwendet, was zum Rhythmisieren und zur Strukturierung der Textmasse führt. Zudem wird die Botschaft der Widerstandskämpfer durch die Wiederholung desselben Wortes eingehämmert: Die Nummern und Namen an den Häusern, die Kennzeichen der Straßen, die Uhrzeiger waren zum Inbegriff unsres Lebens geworden, wir bewegten uns von einem Merkmal zum andern, eine Verabredung zu versäumen, eine Adresse zu vergessen oder preiszugeben, wäre der Zerstörung unsrer Existenz gleichgekommen, dieses Abwarten und Berechnen, dieses Zählen, diese Blicke auf die Uhr, dieses Schielen aus den Augenwinkeln, um das Verhalten der Menschen in der Nähe wahrzunehmen, dieses Hintertreten nebeneinander, zur Übergabe einer Mappe, dieser Gang über die Straße, dieses Betreten eines Hauses, Verlassen einer Tür, dies alles, so gleichgültig, so langweilig für andre, war für uns voll unmäßiger Spannung.
74
Ähnlich wie in seiner frühen Erzählung Der Fremde fühlt sich der Ich-Erzähler veranlasst, in die Stadt „einzudringen“, ein Beispiel für Weiss’ Vorstellung der Stadt als weiblicher Schoß, als eine „riesige Gebärmutter aus Stein“.75 Als der Protagonist in Stockholm ankommt, sieht er von dem Zug aus die Topographie der Stadtlandschaft:
72 Ebd., S. 82f. 73 Ein ähnliches Verfahren begegnet uns in Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz. Vgl. hierzu Harald Jähner, „Stadtraum – Textraum. Die Stadt als Megaphon des Unbewußten“, in: Thomas Steinfeld, Heidrun Suhr, In der großen Stadt: Die Metropole als kulturtheoretische Kategorie, S. 97-107, hier S. 103. 74 ÄdW III, S. 154. 75 W, Bd. 1, S. 201.
322 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Langsam fuhr der Zug auf der schmalen Brücke zum Bahnhof ein, mit hellem Tuten des Signalhorns war er aus dem Tunnel unter der südlichen Stadthöhe hervorgekommen, über das Bollwerk an der Schleuse gerollt, vorbei am Fischereihafen, an der schwimmenden Fischmarkthalle, an den zusammengedrängten Giebelhäusern der Altstadt, am Kanal und am Steil aufsteigenden Gemäuer des Riddarholms entlang, am Klarakai waren die rotweiß gestreiften Schranken herabgelassen worden, zwischen dem Stadthaus und Tegelbacken stauten sich Automobile und Straßenbahnen, […] das Wasser schien schwarz, schmutziger Matsch bedeckte das Pflaster der Straße, die hinunter zum Platz mit dem Haus der Stillen 76
Mari führte.
Auffallend ist bei dieser Beschreibung die Konzentration des Ich-Erzählers auf die Altstadt mit ihren zusammendrängten Giebelhäusern und die alten Gemäuer Riddarholmens – das historische Herz der Stadt.77
76 ÄdW II, S. 77. 77 Bei einer längeren Beschreibung des Stadtgebiets Riddarholmen in der Altstadt beschäftigt sich der Ich-Erzähler vor allem mit der historischen Aura der Adelspaläste des 17. Jahrhunderts, die das Stadtbild prägt. In diesem Stadtteil war in den 1940er Jahren das Ausländeramt gelegen, wo Emigranten hin mussten, um Aufenthaltsgenehmigungsanträge zu stellen. Das historische Herz Stockholms, wo die Stadt gegründet wurde, wird zum Inbegriff von Angst und Macht. Das kollektive Gedächtnis der Stadt an die Könige, die Adeligen des 17. Jahrhunderts und an die Graumönche, die dort im Mittelalter lebten, dient hier als Vergleich mit der jetzigen Situation der Protagonisten: „Die imponierenden Gebäude aus dem sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert, mit ihren edlen Fassaden, ihren Terrassen und Rundtürmen, die, rings um die Kirche des Gustav Vasa, die Insel säumten, hoben den für die Unbeheimateten bestimmten Baustil besonders hervor. […] Und hoch über uns lagen die Fenster offen fürs Licht, das, widerstrahlend von den Wassern des Mälaren, in die kunstvoll ausgemalten Räume fiel, in denen die Sparres, Bondes und Wrangels, die Rosenhanes, Hessensteins, Stenbocks und Oxenstiernas einst ihren Sitz hatten. Es könnte uns trösten, sagte Bischoff, daß früher hier nur Ziegen um ein Kloster der Graumönche grasten, und sie bemerkte dies mit einem Blick auf den Zug der erbärmlichen Gestalten, der von der Munkbro heranrückte.“ (ÄdW II, S. 116f.) Auch hier wird die Topographie des mittelalterlichen Stockholms archäologisch ans Licht gerückt: auf dem Platz der Adelspaläste stand im Mittelalter ein Graubrüderkloster, das Magnus Ladulås 1270 gegründet hatte. Ein Teil dieses Komplexes war die Riddarholms Kirche, die Weiss oben „Gustav Vasas Kirche“ nennt – wahrscheinlich weil viele Verwandte des Schwedenkönigs in der Kirche bestattet sind.
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Ähnlich wie in den Stadtbeschreibungen von Paris oder Berlin werden die Spaziergänge, die die Protagonisten des Romans in Stockholm unternehmen, detailliert beschrieben. Eines der ersten Gebäude, die ausführlich beschrieben werden, ist das Separator-Werk, wo der anonyme Ich-Erzähler als „Gastarbeiter“ seiner Arbeit nachgeht. Es wird berichtet, wie der Erzähler sich in das falsche Zimmer verirrt und zwar in ein Zimmer des Verwaltungsgebäudes des Fabrikkomplexes mit klassizistischen Säulen und Mahagoni. Ähnlich wie die Zwerge aus Ebenholz in Aschbergs Residenz in Paris die Romanfiguren betrachten, fühlt sich der Erzähler in der Empfangshalle der Separator-Werke beobachtet von „Jungfrauen, deren Brustwarzen spitz unter dünner Bekleidung vortraten, aus ihren Nischen, an Zentrifugen gelehnt, einen Palmenzweig, einen Lorbeerkranz in der Hand“. Die Feststellung, von anderen in jedem Moment beobachtet zu werden, führt zum Gefühl eines latenten präsenten Verfolgtseins. Interessant ist zudem die Beschreibung der Fabrik, die an Kafkas Darstellung des Schlosses in seinem gleichnamigen Roman erinnert; „Diese riesige altertümliche Fabrik glich einer Zwingburg. Die Bauten innerhalb des Gevierts waren labyrinthisch angelegt, die schmalen, durch Torgänge zu erreichenden Höfe dazwischen unterteilt von Schuppen und Verbindungsflügeln.“78 Mehrmals beschreibt der Erzähler das zur Entstehungszeit des Romans schon abgerissene Zeitungsviertel „Klara“, wo einst Tysta Mari stand. Tysta Mari (Leise Mari) war bis zu seiner Schließung 1954 ein beliebtes Café, das im Zuge der Stadtsanierung 1966 abgerissen wurde. In Weiss’ Betrachtung bildet es eine schlummernde Idylle und kontrastiert mit dem Verkehrslärm des Stadtzentrums. Von diesem Café ausgehend bekommt der Leser durch einen Spaziergang der Romanfiguren einen Einblick in das Leben des Zeitungsviertels mit seinen Bierkaschemmen und Druckereien. Eben dieses Milieu hatte Weiss schon 1956 in seinem Dokumentarfilm Ansikten i skugga (Gesichter im Schatten) dargestellt. Der 14-Minuten-Film stellt, teils mit versteckter Kamera, das Leben der Randfiguren und Obdachlosen im Wohlfahrtstaat Schweden in den Bierkaschemmen dar.79 Wie ein Fremdkörper in den Text integriert ist der Lotte Bischoff-Abschnitt im ersten Teil des zweiten Bandes. Aus der Perspektive der Widerstandskämpferin wird Stockholm beschrieben. Zusammen mit einer Polizeischwester nimmt Bischoff einen Spaziergang, der sich von Tegelbacken bei der Altstadt (Gamla Stan) bis zum Brunkebergstorg erstreckt. Dort angelangt wird das kollektive Ge-
78 ÄdW II, S. 92f. 79 Vgl. hierzu Jens-Fietje Dwars, Und dennoch Hoffnung. Peter Weiss: Eine Biographie, S. 103f.
324 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT dächtnis der so genannten Brunkebergsschlacht, die am 10. Oktober 1471 stattfand, evoziert. Die Gegner der nordischen Union unter Führung von Sten Sture dem Älteren besiegten dort die unionstreuen Truppen des dänischen Königs Kristian I bei dieser Schlacht, die hier (fälschlicherweise) als patriotischer Befreiungskrieg der schwedischen Bauern stilisiert wird: Auf dem Weg zum Brunkeberg sprach sie [die Aufpasserin] von einer Schlacht, die dort ausgefochten worden war zwischen den schwedischen Bauern und den dänischen Besatzungstruppen. Da mußten wohl viele Skelette und Helme und Waffen drinnen in der Erde unter den Häusern liegen, dachte Bischoff. Der Name des Heerführers, Sten Sture, sagte 80
ihr nichts.
Ähnlich wie der Flaneur Benjamins in dem Passagen-Werk die Aura des alten Notre Dame de Lorette mit seinen Pferdekutschen vor der Zeit der Omnibusse vergegenwärtigt, wird das kollektive Gedächtnis Stockholms hier evoziert. Dies ist eine Technik, die mehrmals in der Ästhetik des Widerstands erprobt wird.81 Gerade das Abreißen der Häuser am Brunkebergstorg, laut Weiss das typographische Zentrum der Stadt, beschreibt er in Rekonvaleszenz als Verlust der eigenen historischen Verwurzelung in der Stadt: Grauenhaft wachsen aus den klaffenden Gruben, wo sich einmal Brunkeberg erhob, und dem Zentrum seine Silhouette gab, Stahlbolzen auf, in die sich die Fundamente neuer Burgen für die Plutokratien ergießen, und bald ist das letzte Stück lebendiger Zusammenhänge niedergerissen, der letzte zerschundene Baum entwurzelt, die letzte Möglichkeit
80 ÄdW II, S. 82. 81 So auch in den Stadtbeschreibungen von Paris: „Es war am Carré de l’ Odéon, an der Stelle, wo vor der Niederreißung der alten Viertel und dem Durchbruch des Boulevard Saint Germain, die Rue de l’ École de Médecine die Rue Carret kreuzte und auf die Rue de l’ Ancienne Comédie zulief. Geröstete Kastanien mochten auch damals vom Karren gekauft worden sein, wie heute neben der Treppe zur Metro, unverändert war der würzige Geruch, der Ruf des Händlers. Den Zerlumpten, der zuerst abwesend am Straßenrand hockte, dann plötzlich, wie aufgedreht, emporsprang, hatte auch Sue, beim Streifzug durch die Gassen, gesehn, und bestimmt hatte er lange, wie Meryon nach ihm, das Haus mit dem vom ersten Stockwerk an aufgesetzten Eckturm betrachtet, denn am Innenhof hatte Marat gewohnt und seinen Tod gefunden.“ (ÄdW II, S. 69).
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einer Begegnung mit dir selbst vergangen, und was einmal deine Stadt war, zum Abbild völliger Entfremdung geworden.
82
In der Ästhetik des Widerstands rekonstruiert Weiss das alte Stadtzentrum am Brunkebergstorg. Mit Faszination wird die Eisenkonstruktion des Telefonturms von der personalen Erzählperspektive Lotte Bischoffs geschildert.83 Die Faszination für Eisenkonstruktionen teilt Bischoff mit Walter Benjamin, der dem Thema ein Kapitel im Passagen-Werk widmet. Für Benjamin ist die Gusseisenkonstruktion der Inbegriff einer neuen Zeit, wobei sich hier „erstmals in der Geschichte der Architektur“ ein „künstlicher Baustoff“ auftritt, der „zum Emblem des hereinbrechenden technischen Zeitalters“ wird.84 Während die Polizeischwester als gebürtige Schwedin mit der Erinnerungskultur Stockholms „verbunden“ ist, betrachtet Bischoff die Stadt mit den Augen der misstrauischen Exilantin. Dieses Misstrauen drückt sich nicht zuletzt in der Wahl der Adjektive aus: „kahl, unfreundlich, schäbig, unzugehörig, vermummt.“ […] zum Tegelbacken waren sie gekommen, betrachteten die Aushängeblätter des Zeitungsstands am Haus der Tysta Mari, Bischoff wollte wissen, was die Rubriken besagten, hörte aber geduldig zu, als ihr die Schwester erklärte, die Mari habe Lindström geheißen und zu Beginn des vorigen Jahrhunderts dort in der Straße, die zur Jakobs Kirche führte,
82 W, Bd. 2, S. 139. 83 Vgl. Hierzu auch Weiss’ Aufzeichnungen zum Interview mit Lotte Bischoff in Ostberlin am 22.7.1972, die im PWA unter der Signatur 2291 zu finden sind. 12 Bl, hier Bl. 6: „Eine Schwester des Roten Kreuzes trat zu ihr in die Zelle. Sie müssen ja nun nach Deutschland zurück, sagte sie, da sollen Sie sich vorher noch einmal unsre schöne Stadt ansehn. Sie gingen die Polhemsgata hinunter zum Norr Mälarstrand. Schnee. Das Wasser gefroren. Klarer Himmel. Auf dem gegenüberliegenden Ufer der südliche Sadtteil, mit hoch ansteigenden Felswänden, Türmen, Zinnen. Rechts der Bogen der neuen Västerbrücke, links das Stadthaus, die mittelalterlichen Mauern des Riddarholmen. Sie gingen die Uferstrasse entlang, auf den Bahnhof zu. Warteten eng an der Strassenschranke und sahen einen Zug einfahren. Mit kleinstädtischem Klingeln hob sich der Sperrbaum. Gingen auf dem schmalen Brettersteig der Eisenbahnbrücke zur Altstadt. Hier war eine Stadt im zwölften Jahrhundert errichtet worden. Eine befestigte Insel in einem bewaldeten Archipel. Schloss, Kirchen, mittelalterliche Strassen. Dann zurück zur Innenstadt. Betrachtung von Schaufenstern. Rast in einem Café.“ 84 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. 5: Das Passagen-Werk I, S. 46, S. 212. Der alte Brunkebergstorg mit dem Telephonturm ist zudem in den Notizbüchern abgebildet. Vgl. NB 2, S. 473.
326 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT ein Gasthaus besessen. […] Während sie neben ihr herging, durch die Straßen des Zeitungsviertels, vorbei an den großen Fenstern, hinter denen die Papierbänder durch Walzen jagten, konnte sie sich vorstellen, was die Stadt war für jemanden, der hier wohnte und arbeitete. Die Schwester war mit diesen Bauwerken, diesen Gassen und Plätzen, mit all diesen Schildern, Zeichen und Denkmälern verbunden, die Stadt war Bestandteil ihres Lebens, sie enthielt ihre eigene Vergangenheit, und sie war angefüllt für sie mit Geschichte. […] Sie blickte an der Schwester vorbei in eine dieser kahlen, unfreundlichen Bierstuben, deren es zahlreiche im Viertel gab, und in der Druckereiarbeiter mit geschwärzten Händen, ein paar Alte, Männer in schäbiger Kleidung, an den hölzernen Tischen saßen, unzugehörig, mit einem Ausdruck von Leere, wie im Wartesaal eines Bahnhofs. […] Der Anblick des Telephonturms dagegen, der die Dächer hoch überragte, und des Gemüsemarkts auf dem Platz, rückte ihr die Stadt nah und ließ sie die Flüchtigkeit ihres Besuchs vergessen. Die mächtige Eisenkonstruktion, mit Masten in Körben aus Filigranwerk an den vier Ecken, und unten, am Brunnen mit den weit auslangenden Schwengeln, im zertretenen Schnee, die vermummten Händlerinnen an den Ständen, dies enthielt für sie etwas von dem, was den Charakter der Stadt ausmachte, sie versuchte, es der Schwester zu erklären.
85
Auffällig ist bei dieser Stadtbeschreibung die Faszination, die der Telefonturm bei Bischoff erweckt. Der Telefonturm, der 1887 eingeweiht wurde, gilt als eine der ersten Eisenkonstruktionen in Schweden und dominierte eine Zeitlang das Stadtbild am Brunkebergstorg. Weiss rekonstruiert hier die Aura des Telephonturms, der nach einem Brand 1953 abgerissenen wurde. Nicht nur die Eisenkonstruktion, sondern auch die phantasmagorische Wirkung des Gebäudes, die die Stadtperspektive näher rückt, fasziniert die Erzählfigur. Das Gebäude am Gemüsemarkt macht für sie etwas von dem wahren Charakter der Stadt aus. Eben diese verschwundene Aura der Stadt, deren Vernichtung Weiss, wie oben erwähnt, in den 1970er Jahren so empört hat, rekonstruiert der Autor in dieser Stadtbeschreibung.86 Das topographische Zentrum des zweiten Buches der Ästhetik des Widerstands bilden die in dem Stadtteil Kungsholmen angesiedelten Separator-Werke,
85 ÄdW II, S. 81f. 86 Nicht zuletzt schreibt Weiss in einer Passage in der Ästhetik des Widerstands über die Entwicklung Stockholms Folgendes: „Das Wachstum der Stadt, das Niederreißen des Alten, die ständige Rüstung zum Neuen, das Fortleben einer nur noch in traumartigen Bildern vorhandnen Welt und die selbstverständliche Vorherrschaft des Gegenwärtigen, dies alles ließ sich bedenken, nun aber kam das andre hinzu, das, was sich schwer faßbar machen ließ, was nur in das eigene Nachdenken gehörte.“ (ÄdW II, S. 109).
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wo der Ich-Erzähler arbeitet. Im Rahmen einer längeren Passage wird die Entwicklung des Stadtteils von königlichem Jagdgebiet zum Proletarierstadtteil geschildert. Bis zum Beginn des vorigen Jahrhunderts eine Insel der Ziergärten, Landschlösser und Jagdreviere, ein Ausflugsort für Stadtbewohner, wurde Kungsholmen allmählich zum Sitz der Handwerker und Fabrikanten. Nach dem späten Niedergang des Feudalismus siedelten sich Gerber und Segelmacher, Töpfer und Ziegelbrenner an den Ufern an, einige ihrer kleinen Holzhäuser standen noch lange zwischen den aufwachsenden mechanisierten Werkstätten, Gießereien, Waffenschmieden und Brauereien. Die Kastanienwaldungen, die Lindenalleen wurden abgeholzt, an der Ecke des Mälarstrands, dort wo die Steinbrücke zu Tegelbacken führte, erhob sich der Prachtbau der modernen Industrie, die Dampfmühle, die Feuermühle, und auf den noch übriggebliebenen Grundstücken wurden Kasernen, Lazarette errichtet. […] Aus dem Reservat des Adels war ein Bezirk des Proletariats geworden, in Notzeiten wurde die frühre Insel des Wohllebens Hungerholmen genannt. Am längsten hielten sich ein paar Schrebergärten und Feldstücke am Rand der Piperschen Besitzung, bis hier, in den Jahren vorm Weltkrieg, das Rathaus, das Polizeihaus mit dem Untersuchungsgefängnis erbaut wurden, und die letzte Mühle stand auf der Anhöhe der Grundbergschen Metallfabrik, als diese um die Jahrhundertwende zu den Separator Werken erweitert wurde.
87
Ständig gegenwärtig in der Darstellung Stockholms ist die Verknüpfung der Stadt mit Strindberg. Der Übergang von „Vergangenem ins Zukünftige“ überkommt dem Erzähler als er sich vorstellt, wie Stockholm aussah als Strindberg noch nicht zu schreiben angefangen hatte. Die Wahl des Raumes, „Haga Park“, an der nördlichen Peripherie der Stadt, entspricht der Unzugehörigkeit, die Strindbergs Leben bis zum Tod prägte: Hier, an der Haltestelle der Straßenbahn Nummer Drei, hinter mir die Schlucht, die, als Strindberg noch nicht mit dem Schreiben begonnen hatte, mit Linden bepflanzt worden war, vor mir in der Ferne der Haga Park und der Friedhof, wo Strindberg lag, überkam mich diese Empfindung des Lebensflusses, des Übergehns von Vergangnem in Zukünftiges, hier, an der Stadtgrenze, am Eisenbahndamm, entstand auch für mich eine jener Si88
tuationen, in die der Dichter seinen Weg eingeteilt hatte[.]
87 ÄdW II, S. 105f. 88 ÄdW 155f.
328 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Mit einer ähnlichen Technik, wie ein Detail des alten Paris des 19. Jahrhunderts aus Sues Blick rekonstruiert wird, ruft der Erzähler das Stockholm des 19. Jahrhunderts wie die Stadt zu Strindbergs Lebzeiten aussah, ins Leben zurück. Es ist der Ptolemäerblick des Außenseiters Strindbergs, mit dem sich der Erzähler identifiziert: „Jenseits des Odenplans war zur Zeit, als Strindberg hier, in den Gehöften am Rand der Anhöhe, seine Jugendjahre verbrachte, der Blick frei über Gärten und Weidenplätze geglitten, ehe die großen Ziegelsteingebäude längs des Wegs zu den Zollhäusern errichtet wurden, heute noch die gleichen, die Strindberg, auf seinen Wanderungen, gesehn hatte.“89 Der zweite Teil des zweiten Buches des Romans beginnt mit einer Panoramabeschreibung des Mälarsees, die an Strindbergs Beschreibung Stockholms aus der Vogelperspektive in dessen Roman Röda Rummet (1879, dt.: Das rote Zimmer) erinnert. Auf der ersten Reise nach Stockholm 1940 las Weiss zum ersten Mal Strindbergs großen naturalistischen Roman, der 1879 erschien. In seinem Essay Gegen die Gesetze der Normalität (1962) beschreibt Weiss diese Lektüre als geeignet für seine Konfrontierung mit der neuen Stadt: „Auf den ersten Seiten wird die Stadt aus der Vogelschau geschildert, in einem breiten, luftigen Panorama.“90 Vor allem fasziniert Weiss die ambivalente Darstellung Stockholms in Röda Rummet mit seiner synästhetischen „Symphonie von Farben und Geräuschen, und dann eine Geste des Hasses.“91 Gerade der Hass des jungen Strindberg auf die Stadtzivilisation, seine Vernichtungsphantasien, die in einer „Sprengung des Stockholmer Schlosses“92 gipfeln, beeindrucken Weiss noch 1962: „Es war ihm ernst mit der Vernichtung der Stadtzivilisation.“ In seinem Spätwerk Einsam schildert Strindberg wieder die gleiche Panoramaaussicht aus dem südlichen Stadtteil Södermalm wie in Röda Rummet. Jetzt ist es aber die Stadtaussicht aus der Perspektive des verfolgten Außenseiters, mit dem sich Weiss identifiziert: „Die Stadt da unten erscheint ihm öde und lauernd, sie beherbergt keinen einzigen Freund, die Stadt ist wie eine Armee, mit Lagerfeuern und Sturmglocken, und er weiß, daß man ihn aushungern wird.“93 Die Strindbergsche Schilde-
89 ÄdW III, S. 154f. Vgl. ÄdW II, S. 69: „Den Zerlumpten, der zuerst abwesend am Straßenrand hockte, dann plötzlich, wie aufgedreht, emporsprang, hatte auch Sue, beim Streifzug durch die Gassen, gesehn, und bestimmt hatte er lange, wie Meryon nach ihm, das Haus mit dem vom ersten Stockwerk an aufgesetzten Eckturm betrachtet“[.] 90 R, S. 74. 91 Ebd., S. 75. 92 Ebd., S. 78. 93 Ebd., S. 75.
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rung Stockholms aus der Vogelperspektive ist auch in Die Ästhetik des Widerstands eingegangen. Zusammen mit der Polizistin besichtigt Bischoff die Stadt von dem „Mariafahrstuhl“ aus, was eine Panoramaaussicht über die Stadt ermöglicht. Die Polizistin versucht anhand von bestimmten Erinnerungsbildern ein schneefreies Stockholm aus dem Schneetreiben zu vergegenwärtigen. Doch zunächst erfolgt die Beschreibung der Stadt aus Bischoffs Perspektive, die mit der Erinnerungskultur der Stadt nicht vertraut ist. Sie erkennt nicht die von Bengt Erland Folgelberg entworfene und 1854 eingeweihte Ritterstatue, die den Einmarsch des schwedischen Königs Karl XIV Johan in Stockholm darstellt und anlässlich des 40 jährigen Bestehens der norwegisch-schwedischen Doppelmonarchie konzipiert wurde. Weit wird die Aussicht nicht reichen, sagte die Schwester, sie fuhren aber trotzdem im Fahrstuhl hinauf, das Verkehrsrondell an der Schleuse sank zurück, die Querbalken des Eisenturms glitten vorbei, zuerst waren unten noch Straßenbahnen, Automobile, Omnibusse, auf hohem Sockel ein Reiter mit vorgestreckter Hand zu sehn, dann verschoben sich im Flimmern nur noch formlose Schatten. […] Sie müsse sich vorstellen, wie sich bei freier Sicht die Gewässer und Inseln hier ausbreiten, sagte die Schwester, als sie den zugigen Laufgang erreicht hatten. Bischoff hörte schweigend zu, wie die Schwester das Panorama aus dem Schneetreiben hervorzurufen versuchte, und je mehr sie beide umfangen wurden von der Blindheit, desto prachtvoller wollte die Schwester das Bild ihrer Stadt vor der Gefangenen erstehn lassen. Bischoff dankte ihr, es war fast, als sei sie es, die nun trösten müsse, ja, sagte sie, sie könne alles deutlich vor sich sehn, linkerhand die Bögen der Västerbrücke, rechts die bewaldeten Berge von Hammarby, hinter dem Holm mit dem Kastell den Tiergarten, das Ladugardsland, die Industriegebiete am Värta See, Lidingö. […] Blendend leer erstreckte sich vor ihr der Uferweg, spiegelglatt lag das Wasser des Mälaren, mit den Barken, Schleppkähnchen und kleinen Dampfern rings an den Kais. Die Sonne, eben aufgegangen überm Kastellholm, bestrahlte den Turm des Stadthauses, die Kuppel des Rathauses, die von schwarzen Kluften zerteilten Häuserfronten an der nördlichen Seite der Bucht. Die Altstadt, hinter dem Eisenbahnbollwerk, befand sich in dunstigem Schatten. […] Rechts, am Berghang, erstreckten sich die Ziegelsteinbauten der Mü nchner Brauerei, mit Treppengiebeln, Söllern und Zinnen, mit der Kathedrale des Kesselhauses und dem riesigen Schornstein. […] Steil erhob sich rechterhand die dunkelgraue, hier und da vom Grundwasser feuchte Felswand, in die hinein sich das Haus des Mariafahrstuhls drängte, auch dieses versehen mit Spitzbogenfenstern, Arkaden, Erkern und Türmchen. Darüber, aus dem Grün der Bergkuppe, stieg das schloßähnliche Gebäude auf, 94
das das alte Viertel am Südhang krönte.
94 ÄdW II S, S. 84 . S, 163. .
330 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Auffallend ist hier die Faszination für die Gusseisenkonstruktion des 1935 errichteten Mariafahrstuhls, die Weiss auch in Fluchtpunkt als „ein altertümliches Denkmal“ zwischen den neu errichteten Geschäftshäusern des Südufers beschreibt.95 Wie eine Kathedrale mit Spitzbogenfenstern, Arkaden, Erkern und Türmchen wird der Fahrstuhl vom Erzähler-Ich wahrgenommen. In seinem beinahe filmischen Aufbau erinnert diese Passage zudem an Weiss’ Filmfragment Staden, in welchem eine ähnliche Technik der Überblendung von Bilderfolgen benutzt wird. Es wird in dem Drehbuch ähnlich wie in der oben zitierten Passage berichtet, wie die Sonne über dem Dächermeer der Stadt aufgeht.96 Wie in Paris und Berlin besucht der Ich-Erzähler auch in Stockholm ein Kunstmuseum, das Nationalmuseum in der Innenstadt. Dort besichtigt er Anfang Mai 1939 erneut ein Gemälde von Géricault in Original, Studie nach Enthaupteten (1818), das „an der Seitenwand eines kleinen Nebenraums im Nationalmuseum“ hängt. Dieses „Schreckensbild“ erfüllt eine biographische Auslöserfunktion bei dem Ich-Erzähler, der sich an seinen Pariser Aufenthalt erinnert. Er stellt sich vor, wie Géricault die Toten im Pariser Leichenschauhaus besichtigt hat, um herauszufinden, wie der Mensch nach seiner Auslöschung aussieht. Die Vorstellung, das Gedächtnis durch besonders verblüffende, grässliche, komische oder ekelerregende Bilder zu unterstützen, ist nicht neu. Schon der Autor der ältesten erhaltenen rhetorischen Prosaschrift Rhetorica ad Herennium beschreibt die imagines agentes als Bilder von „außerordentlicher Schönheit“ oder aber auch von „einzigartiger Hässlichkeit“.97 Die Idee ist, dass besonders schöne oder hässliche Bilder, die z.B. mit Blut oder Lehm beschmiert sind, länger im Gedächtnis haften bleiben. Danach geht der Bericht in eine längere Ekphrasis über, in dem ein anderes Bild des Schreckens gedeutet wird, Meryons Radierung Das Leichenschauhaus (La Morgue, 1854). Im kalten Innern dieses Hauses wird „der schreckliche Gegensatz […] zur Zivilisation, mit der die Stadt prahlte“ anschaulich. Der Paris-Kenner Karlheinz Stierle nennt analog zu Weiss’ Darstellung das
95 W, Bd. 2, S. 160. 96 Vgl. Siehe hierzu Peter Weiss, „Die Stadt. Ein Filmskript“, hrsg., übersetzt und kommentiert von Axel Schmolke.“ In: PWJ 17 (2008), S. 54f.: „Langsame Aufblende: Sonnenaufgang über der Stadt. Ein Dächermeer im Morgendunst. Türme, Schornsteine. Die Sonne steigt zwischen ein paar Schornsteinen auf – bis ein blendendes Gegenlicht entsteht.“ […] Aufblende: Karl unterwegs. (Aufnahmen: hinter der Katarinakirche – Nytorgsgatan – Lilla Glasbrukargatan – Fiskargatan – der Wasserturm in Richtung Mosebacketorg – die Terrasse unter Södra Teatern – die Treppe von Mosebacke – Klevgränd“. 97 Hier zitiert nach Frances A. Yates, Gedächtnis und Erinnern, S. 18.
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Pariser Leichenschauhaus, in dem die nicht identifizierten Leichen zur Schau gestellt werden, sogar einen „der unheimlichsten Orte der Stadt, die das Stadtbewußstein verdrängt.“ Dort begegnet man nicht dem Anblick der stillen Gräber, sondern „Bildern des Schreckens“, dem „schrecklichen Anblick eines Schlachtfelds: es sind die nackten und blutigen Bilder des Selbstmords, des Mords, des Totschlags oder der Verzweiflung; es ist der Tod in seinem ganzen Schrecken.“98 Rauch quillt aus dem Schornstein des Leichenschauhauses, wo Menschen verbrannt werden, wie der Erzähler mutmaßt. Meryons Radierung stellt u.a. die Bergung eines Toten aus der Seine dar. Der Erzähler hat dieses Bild während seines Pariser-Aufenthalts in Ermangelung einer Reproduktion abgezeichnet. Das Bild hing an der Seitenwand eines kleinen Nebenraums im Nationalmuseum. Durch das Fenster fiel der Blick über den Strom auf das Schloß und die breite Auffahrtsstraße zum Obelisk. Der Verkehr flutete hin und her auf der Skeppsbro. Bei der Wendung zurück zu der kleinen Leinwand wurde die Qual, die dort lag, noch eindringlicher. An diesem Sonntag, in den ersten Tagen des Mai, ein halbes Jahr nach meiner Ankunft in Stockholm, stieg, überwältigend, Paris in mir auf. Wieder folgte ich Géricault, in das Hospital Beaujon in der Vorstadt Roule, in die Salpêtrière, in die Morgue, wohin es ihn zum Studium des Definitiven getrieben hatte. Die Faszination, die der Tod auf ihn ausgeübt hatte, entsprach seinem Trieb, sich mit dem Augenblick zu konfrontieren, an dem alles zu Ende ist. Ich begann zu verstehn, warum er nach diesem Gegenpol zu seiner Aktivität verlangte. Er stellte dabei sein Verlangen nach Wahrheit auf die Probe. Vor dem Schlußpunkt, dem Unabänderlichen, hatte sein Werk standzuhalten. Beim Anblick der Toten verwitterte in ihm jeder Rest von Eitelkeit und Selbsttäuschung. Ich war auf dem schmalen Weg unter der Ufermauer zwischen dem Pont Michel und dem Petit Pont entlanggegangen. Dort, wo sich der viereckige Bau der Morgue überm Kai neben einer steilen, vom Deich aufsteigenden Treppe befunden hatte, erhob sich nun, am Quai du Marché Neuf, der große Palast der Polizeipräfektur. Zu Géricaults Zeit lag der Petit Pont noch zwischen hohen Befestigungsmauern, und von der Brücke, die auf Gewölben aus großen Steinquadern ruhte, führte ein Torgang hinein in das Gedränge hoher schmaler Häuser, die von der Kathedrale überragt wurden. In einem sehr sonderbaren Stiche hatte Meryon die alte Leichenhalle, das ehemalige Schlachthaus am Markt, festgehalten. Auch ihn hatte dieses Gebäude angezogen, weil sich in dessen kalten Innern der schreckliche Gegensatz darbot zur Zivilisation, mit der die Stadt prahlte. Aus den beiden Schornsteinen des Leichenhauses quoll schwarzer Rauch, als würden drinnen in den Öfen Lumpen, feuchte Kleider, vielleicht auch verweste Körperteile, Leiber verbrannt. […] Links, hinter dem Schiff. an der Ecke des Kaisockels, stiegen Stufen aus dem Wasser empor, von hier aus bahnt sich die Szene
98 Vgl. Karlheinz Stierle, Der Mythos von Paris, S. 170ff.
332 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT der Totenbergung an, mit ihren Bewegungen und Gesten ineinandergreifend, hinweisend auf den weitern Verlauf nach oben. […] Auf verschiedenen Schichten verteilt, Wasser, Kahn, Deich, Mauer, Hausfassaden, Rauchschwaden, Dachgeschosse, spielte sich ein Ereignis ab, das beim ersten Anblick in einen gewöhnlichen Stadtausschnitt zu passen schien 99
und erst allmählich seine komplizierte Dramatik enthüllte.
Bezeichnend ist bei dieser Beschreibung die für Weiss typische Kontrastierung von Gegenwart und Vergangenheit, der rasche Wechsel der zeitlichen und diegetischen Ebenen. Wie eine Zwiebel häutet der Erzähler die komplizierten Schichten in Meryons Radierung. Er stellt sich vor wie der Tote, auf einem der steinernen Tische in der Morgue liegen wird neben zahllosen anderen Selbstmördern, Verhungerten, Hingerichteten, durch Rauschgift Umgekommenen. Meryons Radierung stellt zwar einen kleinen Stadtausschnitt dar, wird aber für den Erzähler in Anlehnung an Dante Alighieris Divina Commedia als ein „Einblick in die Vorhölle“ interpretiert. Bezeichnend für Weiss’ Spiel mit diegetischen Ebenen ist die Weise, wie Arthur Iller (oder Stahlmann, wie er sich nennt) sich beim Gespräch mit dem Erzähler in Stockholm im Sommer 1942 an seinen Besuch in der Tempelstadt Angkor Wat erinnert.100 Angkor Wat, einst Zentrum der khmerischen Kultur im heutigen Kambodscha wird in der Ästhetik des Widerstands als eine Millionenstadt geschildert, die zerfällt, untergeht und vom Urwald in „wilde Natur“ verwandelt wird. Illers Bericht kreist um Totalitarismus, Ästhetizismus und Dekadenz. Angkor Wat gilt als „die erste totalitäre Stadt“, die von einer kleinen Plutokratie regiert wurde, die das Volk gnadenlos ausbeutete. Die Kunst, die hier geschaffen wird, so Iller, ist für eine kleine Elite gedacht und kann letztendlich als l’ art pour l’ art bezeichnet werden: „Die Baumeister, mit ihren während eines Jahrtausends im Geiste Vishnus, Schiwas und Buddhas gewonnenen meditativen Fertigkeiten, schufen eine Kunst, die nur für die Eingeweihtem und schließlich nur für sich selbst da war.“101 Die thematische Überschneidung zur Gegenwartsebene ist offensichtlich. Durch seinen Besuch in Angkor Wat in den 1920er Jahren bekommt Iller eine Vorahnung vom Aufstieg totalitärer Regime in den 1930er Jahren. Interessant ist die Art, wie Erinnerung hier inszeniert wird. Der Ich-Erzähler berichtet von dem „Epos“, das Iller in sich trägt und schildert,
99
ÄdW II, S. S. 84, S. 120-122.
100 Im Laufe des Spaziergangs wird Stockholm zunehmend zum Sinnbild des Schreckens, wobei „die lange karge Upplandsgata mit den Erscheinungen der Unterwelt“ gefüllt wird. Vgl. ÄdW III, S. 105. 101 ÄdW III, S. 108.
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wie „der Durst“ den Erinnerungsprozess auslöst und das „flimmernde Bild der Südchinesischen See“ heraufbeschwört.102 Dass sich Iller mit einem Archäologen in Kambodscha unterhält, der ihn ins Innere des Landes begleitet, ist symptomatisch. Weiss’ Interesse für Archäologie schlägt sich hier in der zentralen Metapher des Grabens nieder. Die aufgetürmten Bauwerke an der Sankt Eriksgata, die Mengen der Menschen, die nach Geschäftsschluß aus Büros und Läden kamen, gingen ein in das Epos, das er in sich trug. Er sah hinunter in die lange, von Fahrzeugen und Gehenden durchflutete Flemminggata, meine Straße, an deren Ende sich der Schornstein der Separator Werke erhob, und deutete wieder eine Erinnrung an.
103
Ähnlich wie bei Rilke und Proust ist es also eine scheinbar unbedeutende Sinneswahrnehmung – bei Rilke der Geschmack von Apfelmus, bei Weiss das Durstgefühl, das den Erinnerungsakt der Romanfigur auslöst. Erinnerungsbilder von der Reise nach Kambodscha und zur Tempelstadt Angkor Wat werden evoziert.104 Dabei wechselt die Erzählebene ständig zwischen Gegenwart und naher
102 ÄdW III, S. 97. 103 ÄdW III, S. 97. 104 In diesem Kontext scheint es angebracht, Weissʼ Interesse für Jan Myrdals und Gun Kessles Ausstellungskatalog Folket och Maktens Murar zu nennen. In einer Passage, die Weiss unterstrichen hat, heißt es darin über Angkor Wat Folgendes: Maktens Murar: (Überschrift betitelt Ansikten ur sten „Gesichter aus Stein“): „Künstler wurden bezahlt um die Ausschmückung zu gestalten. Aber die Ausschmückung konnte nicht bloß Dekor sein. Die Kunst sollte ein Spiegel der Herrschenden sein, aber um diesen Spiegel herzustellen, mussten sie Künstler engagieren. Die Figuren auf den Wänden Bayons oder in Angkor werden zu Selbstständigkeit gehauen und erzählen über das Leben des Volkes. Die starken Figuren in Polonnaruva durchschauen lächelnd die Herrschenden. Die Revolution ist nicht geschichtslos. Wir, die die Arbeit unserer Hände nicht verachten, verachten auch nicht die Arbeit längst verstorbener Künstler und Handwerker.“ („Konstnärer har lejts för att forma dekoren. Men dekoren kunde inte förbli blott utsmyckning. Konsten skulle vara en spegel åt de härskande men för att forma dessa spegelbilder tvangs de härsande använda konstnärer. Figurerna på Bayons väggar i Angkor huggs till självständighet och berättar om folkets liv. De starka figurerna i Polonnaruva genomskådar – leende – de härskande. […] Revolutionen är inte traditionslös. Vi som inte föraktar våra händers arbete föraktar heller inte de längesedan döda konstnärernas och hantverkarnas arbete.“) PWA 3265.
334 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Vergangenheit.105 Iller schlägt einen ausgedehnten Spaziergang vor, da er seine Erinnerungen an den Angkor Wat-Komplex zu Ende erzählen möchte bevor er und der Erzähler in Rosners Wohnung ankommen: „[Er] zog mich weiter, in Richtung Vanadisväg, er wollte mir, ehe wir zu Rosner gingen, noch das Schlußbild schildern.“106 Die Stadt Angkor Thom, im Geviert der Hauptkanäle und Befestigungen, durchzogen von Wasserrinnen und Straßen, an denen dicht die Pfahlbauten standen, war vergangen, nichts mehr zeugte von den Einwohnern, die mit zarter, erfahrener Hand in den porösen Sandstein geschlagnen Annalen. […] Denke dir zunächst, sagte er, das Durchschreiten der Höfe, die nach innen zu schmaler werden zwischen den Pfeilergängen, immer wieder eine kreuzförmige Mittelhalle und Stufen zu höher gelegnen Kolonnaden hinauf, bis aus den im Viereck verlaufenden Fluchten quadratische Schächte werden, von denen aus es hi107
naufgeht zum Hauptturm.
Illers Beschreibung von Angkor Wat stellt im Sinne der klassischen Gedächtnislehre eine Vergegenwärtigung des Raumes mittels Erinnerungsbildern dar.
6.3 D IE I NSZENIERUNG VON E RINNERUNG DES E NGELBREKT -M YTHOS
AM
B EISPIEL
Die Mitarbeit des Ich-Erzählers in der Arbeitsgruppe um Bertolt Brecht stellt „die entscheidende Station“ seiner Entwicklung als Schriftsteller dar.108 Brecht, der ein Jahr lang zwischen 1939 und 1940 auf der Insel Lidingö bei Stockholm wohnte, spielt eine prominente Rolle im zweiten Teil des zweiten Bandes der Ästhetik des Widerstands. Dort hatte ihm die schwedische Bildhauerin Ninnan Santesson (1891-1969) ihre Villa zur Verfügung gestellt. In Schweden angelangt, schrieb Brecht einen Entwurf zu einem historischen Drama über den schwedi-
105 „[Als] wir, ohne daß ich es gemerkt hatte, durch den Vasapark gekommen waren, am Odenplan standen, sagte er, in dieser Nacht sei er verrückt geworden.“ (ÄdW III, S. 103). 106 Ebd., S. 106. 107 ÄdW III, S. 102, S. 106. 108 Zur Bedeutung Brechts in der Ästhetik des Widerstands, siehe Jost Müller, Literatur und Politik bei Peter Weiss: Die „Ästhetik des Widerstands“ und die Krise des Marxismus, Wiesbaden 1991, S. 189-196, hier S. 189. Vgl. Robert Cohen, Versuche über Weiss’ Ästhetik des Widerstands, S. 155-195.
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schen Bauernführer Engelbrekt Engelbreksson, das unvollendet blieb. Jahrzehntelang kaum von der Brecht-Forschung beachtet, „entdeckte“ Weiss Brechts Dramafragment in der Königlichen Bibliothek in Stockholm und entschied sich dafür, es in literarisches Material in der Ästhetik des Widerstands umzuwandeln.109 Einige Quellen für die Konzipierung der Brecht-Passagen lassen sich im Peter Weiss Archiv an der Akademie der Künste in Berlin nachweisen. Darunter gehört ein vierseitiges Manuskript betitelt „Nachtrag zu Brechts schwedischem Exil“ über Brechts Aufenthalt in Schweden von Dr. Günter Schmidt, Lektor am DDR-Kulturzentrum in Stockholm. Darin gibt Schmidt u.a. über die private Bibliothek Brechts Auskunft sowie über dessen Haus auf der Insel Lindingö, vermittelt durch die Bildhauerin Ninnan Santesson.110 Der Engelbrekt-Abschnitt bildet im Roman eine „relativ selbstständige narrative Sequenz“ 111 und stellt laut Weiss ein Pendant zum Pergamon-Komplex dar.112 Dabei steht nicht so sehr das Engelbrekt-Stück an sich im Mittelpunkt,
109 Das Manuskript zu Brechts Entwurf umfasst nur etwa eine Dutzend Seiten. Vgl. hierzu den Eintrag in die Notizbuchücher im Mai 1964: „In der Königlichen Bibliothek: Studium der Manuskripte Brechts. / Die Engelbrekt-Skizzen.“ NB 1, S. 243. Siehe hierzu auch Tobias Mandel, Formen und Funktionen von Intertextualität und Intermedialität in der Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss, S. 409-410. 110 PWA 3241. Eine weitere Quelle ist das Manuskript „Den landsflyktige Brecht i Norden ABF Stockholm 28.11 och 1.12.1964. (Foto von der Villa Lidingö in PWA 3241: Manfred Gobbhardt, „Fahdnung nach John Kent. Eine Begegnung mit Brecht in Schweden“, S. 36-40. Foto S. 37. 111 Zitat nach Cohen, Versuche über Weiss’ Ästhetik des Widerstands, S. 200. Zum Engelbrekt-Aufschnitt siehe zudem Tobias Mandel, Formen und Funktionen von Intertextualität und Intermedialität in der Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss, S. 406-466. 112 Dies bekundet Weiss in einem Interview mit Eva Adolfsson und Lars Bjurman für die schwedische Zeitschrift Ord och Bild 1977. „Im zweiten Teil des Romans entspricht das Pergamonmotiv einem sehr großen Komplex, der von Engelbrekt handelt. Er basiert auf Brechts Plänen, ein Engelbrektdrama zu konzipieren. Ich traf ihn während seiner Zeit in Schweden, damals sammelte er Material über Engelbrekt. Dann gab Brecht ja die Idee auf. Die Arbeit an Mutter Courage kam dazwischen. Ich benutzte meine Erinnerung an die Zeit und habe die Literatur über Engelbrekt von Grimberg bis Per Nyström studiert. Ausgehend von diesem Rohmaterial habe ich ein imaginäres Drama aufgebaut, das von Brecht und seinem Kreis entwickelt wurde und ungefähr den Ideen, die Brecht hatte, entspricht.“ Eva Adolfsson/Lars Bjurman: „Herkules och klasskampen. Ett samtal med Peter Weiss.“ („Eva Adolfsson, Lars
336 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT sondern eher dessen Genese und der geschichtliche Hintergrund des Dramas. Dass die Engelbrekt-Episode ein Desiderat in der Weiss-Forschung geblieben ist, mag damit zusammenhängen, dass die meisten nicht-schwedischen Leser der Ästhetik des Widerstands nicht mit dem Thema der Unionskämpfe zwischen Königin Margaretha von Dänemark und Albrecht von Mecklenburg vertraut sind.113 Dagegen sind Engelbrekt und die Bauernaufstände am Ausgang des schwedischen Mittelalters als Teil des kollektiven Gedächtnisses der Schweden verwurzelt und somit auch eine literarische Geste an Weiss’ schwedisches Publikum. Engelbrekts Wirkung kann mit seinen Zeitgenossen Hans Huis und Jeanne D’ Arc verglichen werden. Unverkennbar knüpft Weiss im Engelbrekt-Abschnitt an die Darstellungstechnik des historischen Romans an. Dies betrifft nicht zuletzt die sorgfältige Rekonstruktion geschichtlicher Ereignisse, die Weiss mittels eines umfassenden Quellenstudiums bearbeitet hat.114 Der Abschnitt ist offensichtlich auch gegen die schwedische akademische Geschichtsschreibung gerichtet, die die ersten Jahrzehnte des 15. Jahrhunderts als „die seit langem ruhigsten, friedlichsten geschildert“ hat.115 In Kürze soll die Vorgeschichte des Engelbrekt-Mythos hier rekapituliert werden. Engelbrekt Engelbrektsson war ursprünglich deutscher Herkunft; seine Familie war in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts nach Schweden in die Gruben-Provinz „Kopparberg“ nordwestlich von Stockholm eingewandert. Engelbrekts Vater Engelbrekt Englikoson gehörte spätestens 1392 dem schwedischen Adel an. 1426 taucht Engelbrekt zum ersten Mal in den Quellen auf und ein Dezennium später wird er Anführer der Bauernaufstände, die in die Geschichte als der „Engelbrechtsaufstand“ eingingen. Der geschichtliche Hintergrund greift auf die Gründung der Kalmarer Union zwischen den nordischen Ländern im Jahr 1397 unter dänischer Obhut zurück. Spätestens seit der missglückten Politik des deutsch-schwedischen hansetreuen Unionskönigs Erich II
Bjurman: Herkules und der Klassenkampf: Ein Gespräch mit Peter Weiss“), in: Ord och Bild (1977), H. 2-3, S. 198-208. (Übersetzung: G.L.) 113 Abgesehen von Cohens Vergleich des Engelbrekt-Aufstands mit Ferdinand Lasalles Franz von Sickingen und Anne Bourgignons zusammenfassende Charakteristik gibt es wenige Beiträge zu diesem Abschnitt, der in der Sekundärliteratur wenn überhaupt häufig nur en passant erwähnt wird. Siehe Robert Cohen, Versuche über Weiss’ Ästhetik des Widerstands, S. 197-222. Vgl. Anne Bourgignon, Der Schriftsteller Peter Weiss und Schweden, S. 216-232. Ein Desiderat der Forschung bildet die Quellen, die Weiss zur Konzeption des Engelbrekt-Abschnitts benutzt hat. 114 Für Weiss’ Quellen, siehe u.a. NB 2, S. 573. 115 NB 2, S. 519.
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(aus Pommern) brodelte das Ressentiment gegenüber der herrschenden Zentralmacht in Stockholm, vor allem unter den Bauern. 1433 wurde Engelbrekt als Bauernführer in der historisch wichtigen Provinz „Dalarna“ gewählt; nachdem die diplomatischen Versuche mit dem dänischen König in Kopenhagen gescheitert waren, brach ein Aufstand aus, der im Jahr 1434 seinen Höhepunkt erreichte. Die Truppen Engelbrekts beherrschten dann beinahe das ganze Reichsgebiet des heutigen Schweden. Der schwedische Adel schloss sich dem Aufstand an und Erich aus Pommern musste abdanken. Das Treffen in Arboga war eher ein Versuch, das politische Chaos, das nach den von Engelbrekt geführten Bauernaufständen herrschte, zu lösen. Anwesend war eine Gruppe von Bischöfen, Rittern und Soldaten, deren Anzahl auf etwa 30-40 Personen geschätzt wird. Ziel war, einen neuen Reichsrat zu konstituieren, der die Regierungsmacht an sich reißen konnte. Das Treffen war eines von vielen, wo Engelbrekt anwesend war. Die politische Dominanz Engelbrekts wurde erst 1436 in Stockholm gebrochen. Kurz danach wurde der Bauernführer am vierten Mai auf einer Insel im Hjälmaren-See bei Örebro ermordet und die Aufstände fanden damit ein Ende. Engelbrekt wurde in der Kirche zu Örebro bestattet und wurde im Laufe der nächsten Jahrzehnte zur regelrechten Kultfigur. Schon Engelbrektsvisan (das „Engelbrechtslied“, 1439) verwies darauf, wie Leute zu seinem Grab pilgerten. Dieser Kult nahm spätestens mit der Reformation ein abruptes Ende. An seine Stelle trat eine proto-nationalistische Geschichtsschreibung: Engelbrekt wurde als Nationalheld stilisiert, der zusammen mit den Bauern die dänische Besatzungsmacht aus Schweden vertrieb. Die nationalistische Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts übernahm kritiklos das stereotype und falsche Bild der mittelalterlichen Chroniken. Engelbrekt wurde jetzt auch zum Vorbild des aufstrebenden liberalen Bürgertums, das in Engelbrekt den Begründer des schwedischen parlamentarischen Systems sah. Das Heiland-Klischee des 15. Jahrhunderts und der liberale Kult um die Person Engelbrekt des 19. Jahrhunderts schmolzen zusammen und wurden Teil eines Mythos, wie der schwedische Historiker Erik Lönnroth 1934 schrieb.116 Engelbrekt wurde demgemäß in der schwedischen nationalen/kollektiven Erinnerung als der Beschützer der Bauern und Unionsfeind stilisiert. Als nationales Symbol war er einer der ersten, der die Bauern als militärisches Machtmittel instrumentalisierte. Der Kult um Engelbrekt kulminierte 1935 erneut, als die Eröffnung des schwedischen Reichstags 1435 in Arboga gefeiert wurde. Seit der Niederschrift von „Engelbrektsvisan“ (das Engelbrechtslied) wurde der Mythos von Engelbrekt literarisch verarbeitet und immer wieder als literarischer Stoff der Autoren
116 Erik Lönnroth, Från svensk Medeltid [1934], Stockholm, 1959, S. 111f.
338 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT benutzt. So behandelte August Blanche 1846 den historischen Stoff in Engelbrekt och hans dalkarlar (1846), Carl Georg Starbäck gab zwischen 1868–69 den Roman Engelbrekt Engelbrektsson heraus, und August Strindberg behandelte die historische Person Engelbrekts in seinem Drama Engelbrekt (1901). Teil dieser Erinnerungskultur sind auch die Statuen, die zu Ehren Engelbrekts in vielen schwedischen Städten errichtet wurden, z.B. Carl Gustaf Qvarnströms Statue vor dem Rathaus in Örebro (1865). Dies ist ein Beispiel für die Einverleibung Engelbrekts in die bürgerlich-liberale Erinnerungskultur – Qvarnströms Statue ist eine politische Geste der Liberalen und wurde ein Jahr vor der Abschaffung der Adelsprivilegien im schwedischen Parlament errichtet. In den 1930er Jahren wurde Engelbrekt auch als politische Figur von den Sozialisten instrumentalisiert; eine Statue von dem schwedischen Bildhauer Bror Hjort aus dem Jahr 1934 stellte den „Arbeiterführer“ Engelbrekt mit Bart und geballter Faust dar.117 Drei Jahre später schuf derselbe Künstler für das Kanzleihaus in Stockholm ein Granitrelief, auf welchem Engelbrekt links zusammen an der Spitze der Bauern abgebildet worden ist, rechts der erste sozialdemokratische Staatsminister Hjalmar Branting mit den Arbeitern an seiner Seite. Darüber hinaus wurde Engelbrekt zum Symbol des antifaschistischen Widerstands gegen die Nazis während des Zweiten Weltkriegs. Besonders Wert hat Weiss in Anlehnung an Brecht auf die proto-demokratische Verwurzelung Engelbrekts gelegt. Davon zeugen beispielsweise zahlreiche Passagen in den Notizbüchern: „Schweden nicht unbedingt ein autoritäres Land. Haben es Engelbrekt zu verdanken, daß der Feudalismus nicht seinen letzten Zweck erreichte, Leibeigenschaft einzuführen, die Bauern konnten sich freier entwickeln[.]“ Als Weiss 1964 den Engelbrekt-Stoff studierte, übernahm er Brechts Satz vom Mythos der Rolle Engelbrekts bei der Eröffnung des ersten schwedischen Reichtags in Arboga im Januar 1435: „Der Bauernführer Engelbrekt, der Vater des schwed. Reichtags (Begründer).“118 In älterer nationalisti-
117 Annie Bourguignon, Der Schriftsteller Peter Weiss und Schweden, S. 230. 118 NB 1, 243. Vgl. hierzu auch Weiss skizzenhaften Notzien über Engelbrekt in PWA 1731. Dort heißt es u.a. in einer Mischung zwischen Schwedisch und Deutsch Folgendes über die Person Engelbrekts: „Engelbrekt liten till kroppen ein wohlgeborner Mann selbstbewusst seine Reise nach Kopenhagen kann sich ausdrücken versteht zu reden erfahren geachtet bemittelt Anteil in Grube
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scher Geschichtsschreibung wurde dieser Reichstag als die erste demokratische Nationalversammlung gedeutet, wo auch die Bauern vertreten waren, was von der kritisch-historischen Schule der 1930er Jahre mit Forschern wie Gottfrid Carlsson, Erik Lönnroth und Herman Schück widerlegt wurde.119 Dass Weiss mit den Darstellungen Engelbrekts von Carlsson, Lönnroth und Schück bekannt war, geht aus der Ästhetik des Widerstands hervor. Brecht versteht sich bei der Konzipierung des Engelbrekt-Stoffes lediglich als „Wissenschaftler“, der „in einer Art Montage“ die Arbeit von schwedischen Historikern wie „Grimberg, Schück, Lönnroth, Kumlien, Carlsson oder Nyström“ weiterführt und zur szenischen Transponierung bringt.120 In der Ästhetik des Widerstands wird Engelbrekt als revolutionärer Bauernführer stilisiert; im Hintergrund der Annexion Norwegens und Dänemarks durch die deutschen Truppen 1940 wird er aber auch zum Antifaschisten: „Engelbrekt sei „so weit Revolutionär, wie er es für seine Zeit sein konnte“.121 Immerhin zieht der Erzähler in Anlehnung an die schwedische Geschichtsforschung der 1970er Jahre eine positive Bilanz von Engelbrekts Aufstand; die schwedischen Bauern blieben dadurch von Leibeigenschaft verschont. Von der Leibeigenschaft aber blieben die schwedischen Bauern verschont. Nie mehr konnten sie zurückgeworfen werden in die Erniedrigung, die vor Engelbrekts großem Heerzug galt. Was in Vergessenheit geriet, verschüttet lag, stieg immer wieder auf, als Zuversicht, als Stärkung des Bewußtseins, bis es zum Grund der Arbeiterbewegung wurde.
122
Zur Erhellung dieser Passage ist der Aufsatz „Adelns Huvudfiende: Bondeklassen“ („Der Hauptfeind des Adels: Die Bauernklasse“) im Peter Weiss Archiv
[…] Sprachkenntnisse Besass das volle Vertrauen der Volksmassen persönlig pondus keine persönliche begäran insinuationer ryktessmiderier smädelser osv frimodig överlägsen human vidsynthet“. 119 Für die Darstellung Engelbrekts und die Geschichte Schwedens hat Weiss Henrik Schücks Studie Engelbrekt (1915) als Quelle benutzt. Vgl. Jürgen Schutte, „‚Die Bücher waren unsre Verbündeten im Kampf gegen die feindlichen Gewalten‘. Die Arbeitsbibliothek des Peter Weiss“, in: PWJ 19 (2010), S. 33. 120 Siehe ÄdW II, S. 272. 121 ÄdW II, S. 238. 122 ÄdW II, S. 310.
340 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT hervorzuheben, in welchem die Verfasser Garnert und Myrdal die gleiche Bilanz wie der Ich-Erzähler im Roman ziehen, nämlich dass der Engelbrekt-Aufstand die Einführung der schwedischen Leibeigenschaft verhinderte. Folgende Passage hat Weiss unterstrichen: „Das wichtigste Ergebnis des Engelbrektsaufstandes war, dass die Steuern im 15. Jahrhundert gesenkt wurden, und dass der Versuch der herrschenden Klasse, die Leibeigenschaft einzuführen, scheiterte.”123 Die Frage, wie der Reichstag 1435 konzipiert wurde, diskutiert der IchErzähler mit Brecht, der vorschlägt, „die Tagung nach draußen [zu] verlegen“; man solle „nicht die Sprecher drinnen, sondern die Kommentierenden draußen zeigen.124 Im Zentrum um die Konzipierung des Stoffes steht Brechts Suche nach einer angemessenen Inszenierung des Engelbrekt-Komplexes. Es geht Brecht bei der Konzipierung der historischen Engelbrekt-Gestalt darum, „historische Tatsachen“ zu ermitteln, „aus denen sich die zwiespältige Person herausschälen ließ.“125 Das Engelbrekt-Drama, so viel steht fest, soll aus zwei Stücken bestehen; „vorherrschend im ersten die Kräfte von oben, im zweiten die Kräfte von unten“.126 Das erste Stück soll die Vorgeschichte des Bauernaufstands zeigen, die Ausbeutung des Bauerntums und die Machtkämpfe um die Märkte im Ostseeraum zwischen den hanseatisch kontrollierten Vasallen in den Provinzen und deren Anführer, Albrecht von Mecklenburg und Königin Margaretha von Dänemark. Im zweiten Stück soll der Kampf der Bauern und Bergarbeiter in „einem Jahr und zehn Monate“ dargestellt werden. Ziel ist hier, „von den Niedrigen auszugehen“, die in den Geschichtsannalen selten erwähnt werden. Dies fällt allerdings Brecht schwer, da die Geschichtsschreibung von den Herrschenden ausgeht: „Doch es drängten sich uns, beim Planen der Szenen, wieder die Gestalten der Herrschenden auf, denn sie nahmen den Hauptteil aller Chroniken ein, überschatteten mit ihren Ränken alles, was sich unten, im Erdigen, Felsigen zutrug und der Erwähnung nur selten für würdig befunden worden war.“127 Eine wichtige Quelle bei der Konzipierung des Engelbrekt-Stoffes scheint Hans Vallentins Aufsatz Der Klassencharakter des Engelbrektaufstandes (Engelbrektsup-
123 Vgl. PWA 3242: Svar av Eva Garnert, Jan Garnert, Janken Myrdal, „Adelns Huvudfiende: Bondeklassen“, in: Meddeladen från Folkets Historia, Årgång 3, Nr. 3 1975, S. 24-31, hier S. 28. („Engelbrektsupprorets främsta resultat var att skatterna sjönk under 1400-talet och överklassens försök att införa livegenskapen aldrig lyckades.)“ 124 ÄdW II, S. 243. 125 Ebd., S. 212. 126 ÄdW II, S. 179, S. 218. 127 Ebd., S. 211, S. 218.
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prorets klasskaraktär) zu sein. Im Peter Weiss-Archiv, wo das Dokument aufbewahrt wird, hat Weiss folgende Passage unterstrichen: Der Engelbrekt-Aufstand war der konkrete Ausdruck eines Klassenkampfes, vielleicht einer der konkretesten Ausdrücke hierfür in der gesamten schwedischen Geschichte. Bei einer Analyse des Klassencharakters des Engelbrektaufstandes muss man jedoch diesen konkreten Ausdruck verlassen. Man sieht dann die allgemeinen und besonderen Lager und 128
die Verhältnisse der schwedischen Klassen untereinander.
Brechts episch konzipierte Szenenentwürfe konzentrieren sich auf Königin Margaretha: In einer Anfangsszene soll die 10-jährige Margaretha gezeigt werden, als sie für ihre Hochzeit mit dem norwegischen Prinzen Haakon vorbereitet wird. Eine andere Szene stellt die unmenschlich harte „christliche“ Erziehung der zukünftigen Unionskönigin dar. Die Schlussszene des ersten Stückes zeigt die grausame Darstellung von Margarethas Tod.129 Bezeichnenderweise ist von „Abschnitten“ und nicht von Szenen die Rede. Allein die szenische Realisierung des Dramas, das an verschiedenen Orten spielt (Örebro, Stockholm, Västerås, Kopenhagen, Kalmar) und zahlreiche Statisten benötigt, bleibt offen und ist einer anti-aristotelischen Tradition verpflichtet. Brecht zieht verschiedene Lösungen in Betracht, eine mittelalterliche „Reimchronik“, ein „Mysterienspiel“, oder „die simultane Szene im Stil des mittelalterlichen Dramas“.130 All diese Versuche sind zum Scheitern verurteilt: Von dem heterogenen Stoff bleibt wie von Brechts Entwurf nur ein Fragment. Das komplexe literarische Gebilde der EngelbrektPassage enthält all die Merkmale der Weisschen Prosa, die Thomas Metscher festgestellt hat: „eine Synthese von Realistik, Dokumentaristik, Surrealismus,
128 Siehe PWA 3242: Hans Vallentin, „Engelbrektsupprorets klasskaraktär“, in: Meddelanden från arkivet för Folkets Historia, Årgång 3, Nr.2 1975, S. 14-18. (Übersetzung, G.L.) Folgende Passage auf S. 15 hat Weiss unterstrichen: „Engelbrektupproret var ett konkret uttryck för klasskamp, kanske ett av de mest betydelsefulla uttrycken under hela den svenska historien. Vid en analys av Engelbrektsupprorets klasskaraktär måste man dock lämna detta konkreta uttryck. Man ser då i stället till de olika klassernas allmänna och speciella lägen liksom de inbördes förhållandena“ 129 Ebd., S. 180, S. 200f. 130 ÄdW II, S. 181, 184, 191. Vgl. hierzu auch Robert Cohen, Versuche über Weiss’ Ästhetik des Widerstands, S. 201.
342 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT theoretischer Reflexion, kunstwissenschaftlicher Analyse, Historiographie“.131 Lakonische Faktenhäufung wird mit Namenslisten, den ultrarealistischen Beschreibungen von Örtlichkeiten, Räumen, Bekleidung, Waffen und surrealen Traumsequenzen gepaart, etwa als sich die heilige Brigitta bei der Niederschrift ihrer Revelationes in die blutige Ekstase des gekreuzigten Christus hineinversetzt.132 Der Mythos von Engelbrekts Tod im Mai 1436 an einer Insel im HjälmarenSee in der Nähe von Örebro wird von Weiss vergegenwärtigt. Auf dem Weg zu einem Treffen mit dem Reichsrat in Stockholm wurde Engelbrekt mutmaßlich von dem Adelsmann Måns Bengtsson (vom Geschlecht Natt och Dag) mit einer Axt ermordet. Der Erzähler stellt sich vor, wie Engelbrekt während eines „unendlich langen Augenblicks“, kurz vor dem Zerspalten der Zeit durch den Eintritt des Todes, seine Krücke hochhebt, um sich gegen den Schlag von Måns Bengtsson zu wehren. Sein Tod erscheint hier als kulturelles Gedächtnis, ein „kollektiv geteiltes Wissen“.133 Die dramatische Situation wird mittels der Anapher dargestellt, wobei Engebrekt vor seinem Tod dreimal das Substantiv „Frieden“ wiederholt: Måns Bengtsson erschien, gepanzert, eine Streitaxt in der Hand, von Armbrustschützen gefolgt. Engelbrekt erhob sich mühsam, stand vorgebeugt, auf die Krücken gelehnt, bereit, den Knappen freundlich zu begrüßen. Da dieser schwieg, dankte Engelbrekt ihm für den Besuch und erklärte noch einmal, daß er bei ihm und seinem Vater nicht einkehren könne, da er morgen zeitig aufbrechen müsse. Ich bin gekommen, sagte Bengtsson, um deiner Fahrt ein Ende zu machen, und Engelbrekts Frau, ihn anstarrend, legte vor Entsetzen die Hand über den Mund. Denn sonst, rief Bengtsson, wird es nie Frieden geben vor dir, und hob die Axt. Frieden, sagte Engelbrekt noch, während eines unendlich langen Augenblicks, Frieden haben wir geschlossen, und da wurde die Zeit zerspalten vom Hieb der Axt. Die Krücke hob Engelbrekt zur Abwehr, das geschliffene Eisen traf seine Hand, schlug ihr drei Finger ab- Seiner aufschreienden Frau wandte Engelbrekt sich zu, auf neue holte Måns Bengtsson zum Schlag aus, die Waffe sauste nieder auf Engelbrekts Hals.
131 Thomas Metscher, „Über die notwendige Pluralität künstlerischer Formen. Anmerkungen zum Problem einer Theorie moderner epischer Dichtung“, in: Weimarer Beiträge 32, (1986) H. 10, S. 1643. 132 ÄdW II, S. 195, S. 244, S. 180f., S. 187. Vgl. Robert Cohen, Versuche über Weiss’ Ästhetik des Widerstands, S. 202. 133 Jan, Assmann, „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität“, in: Jan Assmann und Tonio Hölscher (Hrsg.), Kultur und Gedächtnis. Frankfurt am Main 1988, S. 9– 19, hier S. 15.
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Vornüberstürzend wurde er vom dritten Hieb, auf das unbedeckte Haupt, getroffen. Auf eine kleine Schar schossen die Kriegsknechte ein, auch Engelbrekts Körper lag von Pfeilen durchbohrt.
134
Für die Konzipierung dieser Szene hat Weiss offensichtlich die Quelle „Var dödades Engelbrekt“ („Wo wurde Engelbrekt getötet“) von Kjell Kumlien, Dozent der Geschichtswissenschaften an der Hochschule Stockholm, benutzt. Kumliens Beschreibung des Geschehens wird teilweise wörtlich im Text übernommen und Weiss hat mit einem roten Filzstift Kumliens Beschreibung der Todesszene unterstrichen. Kumlien zitiert dabei die Karlschronik, in welcher der mutmaßliche Täter Engelbrekts Magnus (Måns) Bengtsson heißt: „Nach einem kurzen Wortwechsel mit Engelbrekt nahm er [Magnus Bengtsson, G.L.] eine Axt, schlug zuerst drei Finger von Engelbrekt ab, der sich mit der Krücke zu wehren versuchte. Als Engelbrekt sich dann umdrehte, schlug Magnus einen tiefen Schnitt in seinen Hals und zerspaltete dann das Gehirn. Der gefallene Körper wurde dann mit Pfeilen durchbohrt.”135 Ein auffallendes Merkmal der Ästhetik des Widerstands ist, wie mehrmals beobachtet, der rapide Wechsel zwischen zeitlichen und diegetischen Ebenen. Dies gilt auch für die Engelbrekt-Episode, in welcher Weiss rasch zwischen Gegenwart, dem aktuellen Kriegsgeschehen im Herbst 1939 und dem schwedischen Mittelalter pendelt: „Wir sollen […] vorbereitet werden auf die beschloss-
134 ÄdW II, S. 307f. 135 Vgl. PWA 3242. Kjell Kumlien „Var dödades Engelbrekt. 542-549. 204.1953, S. 543: „Efter kort ordväxling med Engelbrekt tog han en yxa, högg först tre fingrar av Engelbrekt, som sökte värja sig med kryckan. Då Engelbrekt sedan vände sig om, högg Magnus ett djupt sår i halsen på honom och klöv med ett tredje hugg hjärnan. Den fallna kroppen genomskjöts därefter med pilar.“ Kumlien zitiert dabei den Engelbrektsabschnitt der Karlschronik. (S. 549.) Die Tat wurde an der Insel Valen im Hjälmaren-See begangen. Vgl. auch Gottfried Carlsson, „Det Engelbrektska Upprorets Begynnelseskede.“ In: Historisk Tidskrift 1934, S. 241-257. S. 256. In Carlssons Artikel scheint Weiss sich dafür interessiert zu haben, dass „der Freiheitsheld aus Norberg“ in erster Linie „Geschäftsmann“ und „industrieller Unternehmer“ war: „Det bör icke glömmas, att frihetshjälten från Norberg till sitt vitae genus var affärsidkare, industriell företagare. Han var delägare i den mellansvenska gruvhantering, som under Eriks långa krigiska kraftmätning med hansestäderna led svårt avbräck därigenom, att kopparens och järnets utskeppning och försäljning, under normala omständigheter väsentligen förmedlad av hanseatiska, främst lybska köpmän, i betydande mån omöjliggjordes.“
344 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT ne Zerteilung des Lands“136 bezeichnet Brecht lakonisch die bevorstehende Aufteilung Polens im Rahmen des Molotow-Ribbentrop-Pakts. Danach wird der Leser abrupt ins Mittelalter zurückgeführt, ins Jahr 1389 als die Truppen der Königin Margaretha von Dänemark Albrecht von Mecklenburgs Heer begegnen: „Dreizehnhundert Neunundachtzig, am fünfundzwanzigsten Februar, in Västergötland, auf der Ebene Falan, näherten sie einander, quadratisch geordnet, die Hauptmassen der gepanzerten Reiter, hinter ihnen stampfte das Fußvolk durch den Schnee.“137 Dieser Wechsel der zeitlichen Ebenen dient hauptsächlich dazu, eine thematische Parallelität zwischen der politischen Situation der Gegenwart und dem Mittelalter zu zeigen: Der Zynismus der Herrscher, wenn sie Länder und Völker untereinander aufteilen. Ein noch radikalerer Perspektivenwechsel findet im Neujahr 1940 statt, als Brecht kränklich ist und die repressiven Maßnahmen der schwedischen Koalitionsregierung in der Kampagne gegen die Kommunisten gipfeln. Nach einer Motorradtour mit Brechts Freundin Ruth Berlau wird dann der Reichstag in Arboga plötzlich erwähnt: „Arboga, den dreizehnten Januar Vierzehnhundert Vierunddreißig.“138 Der Rest dieses Blocks, etwa zehn Seiten, wird ausschließlich dem Engelbrekt-Komplex gewidmet. Bezeichnenderweise konstatiert der Erzähler dann im nächsten Abschnitt, dass er und seine Genossen sich in einem „Zweifrontenkrieg“ befinden, d.h. dass sie Engelbrekt „durchs Schneegestöber“ folgen und sich gleichzeitig dabei „in unserer belagerten Stadt“ verschanzen.139 Diese narrative Simultaneität fußt auf der Doppelperspektivierung von Erinnerung und Gegenwartsebene, die – so scheint Weiss zu signalisieren – miteinander korrelieren und in Verbindung gebracht werden. Der Darstellung der Engelbrechts-Episode folgt eine umfassende Vorgeschichte des historischen Geschehens mit den Streitigkeiten zwischen Königin Margaretha und dem schwedischen König Albrecht von Mecklenburg bei der Unionsgründung der nordischen Länder in Kalmar. Dieser große Block bildet den Auftakt zum Engelbrekt-Stück und endet mit dem Tod der Königin Margaretha. Im Rahmen einer von Brecht suggerierten Szene versetzt sich der Dramatiker in die heilige Brigitta bei der Abfassung der Revelationes. Die mnemotechnischen Merkbilder, die dabei entstehen, können als eine Art imagines agentes bezeichnet werden: Es sind „handelnde Bilder“, welche eine „affektprovozierende,
136 ÄdW II, S. 194. 137 Ebd. 138 ÄdW II, S. 243. 139 ÄdW II, S. 248.
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theatralische Kraft entfalten“.140 Vor allem die Vita und die Passion Christi wurden in der Memoria-Tradition erinnernd nachvollzogen und regelrecht miterlebt. Das erinnernde Ich (Brecht) wird hier zum Medium des Erlebten, indem er sich selbst unmittelbar in die Leiden der gekreuzigten Christus-Gestalt hineinversetzt. Völlig nackt sah sie ihn vor sich, den Geliebten, dem die Peitsche das Fleisch zerschnitt, bis auf die Rippen. Brecht stellte sich Birgitta vor, bei der Abfassung der Revelationes. Wie sie auf steinernem Boden kniete, sich befingernd beim Anblick der blaubleichen Haut des Gekreuzigten, der ihr nichts anhaben konnte. Sein Gesicht naß von Speichelfladen, seine Zunge blutig im offenen Mund, sein Bauch platt ans Rückgrat gedrückt, weil alle Flüssigkeit aus dem Eingeweiden gewichen, seine Hände und Füße von den Nägeln bis zum Zerreißen auseinandergezogen, die Löcher im Todesaugenblick noch durch die Kör141
perschwere erweitert, die Schulterblätter hart an den Holz gepreßt.
„Dann kamen die Krähen“: Mit diesem unerwarteten Satz fängt der nächste Abschnitt an, der wieder in Stockholm angelegt ist. Diesen ganzen Abschnitt widmet Weiss der Gegenwartsebene, vor allem der Person der Rosalinde von Ossietzky, die dann in den Hintergrund tritt zugunsten Brechts und dessen Konzipierung des Engelbrekt-Dramas. Gerade zu diesem Zeitpunkt ist der Hitler-StalinPakt soeben verkündet worden, was die Arbeiterbewegung polarisiert. Vor diesem politischen Hintergrund beginnt Brecht die Arbeit am Engelbrekt-Drama. Das Geschehen wird dabei auf viele verschiedene Zeitebenen verlagert; Mittelalter und Erzählgegenwart ergänzen einander abwechselnd. Das längst Vergangene wird dadurch Teil der Gegenwart. Ziel ist dabei nicht in erster Linie eine historische Kontinuität des Jahres 1939 mit dem schwedischen Mittelalter festzustellen, sondern eher allgemeine Analogien zwischen der Gegenwartsebene und der Zeit Engelbrekts hervorzuheben.142 Dies betrifft nicht zuletzt das Ende des Engelbrekt-Abschnitts, in dem Weiss in vier Blöcken die revisionistische Entwicklung der schwedischen Arbeiterbewegung behandelt. Die Analogie zum Engelbrekt-Abschnitt ist hier offensichtlich; nämlich das Scheitern zweier revo-
140 Siehe hierzu Günter Butzer, „Gedächtnismetaphorik“, in: Astrid Erll, Ansgar Nünning (Hrsg.), Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft, S. 21. 141 ÄdW II, S. 187. 142 Vgl. ÄdW II, S. 213: „In der Einsicht, daß es anders nicht hatte sein können, wandten wir uns, wieder einmal geschlagen, umringt von weltweiter Übermacht, dieser Geschichtsperiode zu, um in der Wechselwirkung zwischen vergangenen und gegenwärtigen Erfahrungen etwas ausfindig zu machen von den Wurzeln der Verläufe, die heute noch gültig waren.“
346 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT lutionärer Verläufe darzustellen. Oder wie es der Erzähler ausdrückt: „Gleichzeitig mit dem Heranfahren der Zinnbarren, dem Anheizen der Öfen, dem Herabsenken der Zentrifugen in die Säurebäder, fügte ich Stücke der schwedischen Gegenwartsgeschichte zusammen, spürte Engelbrekt nach und umriss, auch wenn Brecht nichts mehr davon wissen wollte, die abschließenden Szenen des Epos.“143 Besprochen wird im Zusammenhang mit der Darstellung der Arbeit der Brecht’schen Arbeitsgruppe am Engelbrekt-Drama Jacob Elbfas Gemälde Vädersolstavlan („Wettersonnenbild“; um 1630, nach einem Gemälde von Urban dem Maler 1535). Das Gemälde gilt als die älteste bekannte Darstellung Stockholms und zeigt eine Sonnenspiegelung, die am 20. April 1535 beobachtet wurde. Brecht ist fasziniert vom Bild, dessen Darstellung Stockholms er für sein Engelbrekt-Drama verwenden will. Die kosmischen Phänomene des Gemäldes, so Brecht, verweisen dialektisch „auf die großen Zeiträume“ revolutionärer Augenblicke. Die Ekphrasis wird abgelöst vom Zeitgeschehen Engelbrekts: Brecht aber ließ das Bild nicht los, auf das wir, beim Entwerfen einer Szene, gestoßen waren, jene mittelalterliche Stadtansicht mit der astronomischen Darstellung der Sonnenspiegelung. Auf der Tafel war Stockholm ein Schmuckstück, gläsern, überdeutlich gemalt, umgeben von anmutig schäumenden Wellen, grünbewachsenen Inseln, darüber am hohen klaren Himmel Sonnenringe und Nebensonnen, Kreise der Laufbahnen, Kometenspuren und nordlichtähnliche Bögen. Brecht wollte nicht verzichten auf die kosmischen Phänomene, die, hinweisend auf große Zeiträume, mit dem revolutionären Augenblick kontrastierten, und diesen zugleich einordneten in eine Kontinuität. Vielleicht, sagte er, könne ein Prospekt der Stadt mit den Gestirnen, dem Nordlicht über der Trüber erscheinen. Immer waren die Vorburgen, die Bollwerke, die Brücken und Mauern zu bewältigen, ehe die Aufständischen Besitz ergreifen konnten von den schönen Bauten drinnen. Dem Näherrükken weitläufiger Zusammenhänge entsprechend, sagte Brecht, müsse sich auch die Perspektive des Schauplatzes, wie beim Blick durch ein Fernrohr, verkürzen, dergestalt, dass die Gemäuer und die flimmernden Häuserwände dahinter auf einer Ebene zu liegen schienen, und flächig der wuchtige Turm davor, der sich wiederum, als sei kein Laufgang dazwischen, dicht heranschob an den vordern Befestigungsturm, vor dem sich unmittelbar die Felskuppe erhob, von der Engelbrekt und seine Begleiter herabstiegen.
144
Das endgülige Scheitern Brechts am Engelbrekt-Stück wird vom Erzähler damit begründet, dass das Geschichtsdrama seinem eigenen Gesetzmäßigkeit unterliegt
143 ÄdW II, S. 306. 144 Ebd., S. 251f.
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und deswegen nicht in der Lage sei, den Widerstandskämpfern in ihrer krisenhaften Situation zu helfen: „Daß Brecht Mitte März die Arbeit am Ceasar Roman, als auch am Stück über Engelbrekt aufgab, hing mit der Einsicht zusammen, daß jene Modelle ihrer eignen geschichtlichen Gesetzmäßigkeit unterstanden und uns über unsre Krisensituation nicht hinweghelfen konnten.“145 Von Engelbrekt und dem zu Ende gehenden schwedischen Mittelalter zur revolutionären Situation in Stockholm 1917 ist der Sprung groß. Absichtlich wird der Bauernaufstand des schwedischen Spätmittelalters mit der Geschichte der Arbeiterbewegung „fugenartig verknüpft“.146 Auch der faschistische Angriff auf Dänemark und Norwegen wird mit Engelbrekt in Verbindung gesetzt, was nicht unerwartet ist angesichts seines Kultstatus innerhalb des antifaschistischen Widerstands. In mehreren Passagen wird die Diegese unterbrochen, indem eingeschobene essayistische Passagen eingefügt werden. Sie nehmen immer mehr Raum ein, letztendlich ganze Kapitel, bis der Engelbrekt-Komplex schließlich von der Geschichte über die Entwicklung der schwedischen Arbeiterbewegung ersetzt wird.147 Der Abschnitt ist in der Form eines imaginären Dialogs konzipiert und die Sprachrohre sind der sozialdemokratische Abgeordnete Fredrik Ström148 und der Kommunist Sixten Rogeby. Den ersten Abschnitt dieser Szene – die Zeit zwischen 1845 und 1917 – erzählt Ström. Rogeby ergänzt dann seine Geschichte. Es handelt sich hier um zwei räumlich und zeitlich voneinander getrennten Erzählebenen: Ström befindet sich in Brechts Atelier während Rogeby in seiner Wohnung weilt oder mit dem Erzähler durch Stockholm flaniert. Der dritte Abschnitt über die Geschichte der schwedischen Arbeiterbewegung der zwanziger und dreißiger Jahre, wird abwechselnd von Rogeby und Ström erzählt, so dass zwei unterschiedliche Perspektiven ineinander projiziert werden. Drei zeitliche Ebenen ergänzen dabei einander, die Gegenwart, die nahe Vergangenheit und die ferne Vergangenheit. Zentral für die Entwicklung Schwedens ist laut Ström und Rogeby der Übergang der schwedischen Sozialdemokraten von Revolutionären zu Reformisten. Durch das Exposee über die Entwicklung der schwedischen Arbeiterbewegung will Weiss einen diskursiven Hintergrund zur politi-
145 ÄdW II, S. 257. 146 Robert Cohen, Versuche über Weiss’ Ästhetik des Widerstands, S. 202. 147 Siehe ÄdW II, S. 201-211, S. 222-227, S. 239-243. Vgl. Robert Cohen, Versuche über Weiss’ Ästhetik des Widerstands, S. 202. Vgl. Günter Butzer, Fehlende Trauer, S. 210. 148 PWA 3228, Fredrik Ström, „Lenin i Stockolm“, „Lenins möbliertes Zimmer“, S. 196-207.
348 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT schen Lage Schwedens um 1940 geben. Gleichzeitig dient die Partie als Veranschaulichung der Zerrissenheit der Arbeiterbewegung zwischen Revisionisten und Kommunisten. Das kollektive Gedächtnis der schwedischen Arbeiterbewegung wird dabei ausgehend vom ersten sozialistischen Theoretiker, dem Buchdrucker und Privatgelehrten Per Götrek evoziert.149 Götrek übersetzte schon 1848 Marx’ und Engels’ Kommunistisches Manifest ins Schwedische; seine Übersetzung ist teilweise von seinem christlichen Glauben beeinflusst, beispielsweise ersetzte er die Devise „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch“ mit dem Satz „die Stimme des Volkes ist die Stimme Gottes“ („Folkets röst är Guds röst“.) In der christlichen Lehre der Brüderlichkeit sah Götrek den wahren Kommunismus verwirklicht. Doch seine Lehren erscheinen Fredrik Ström suspekt, sie seien „allzu utopisch“, um die Macht des aufstrebenden liberalen Bürgertums einzudämmen: Die von Frankreich ausgehenden Impulse brachten einen Bund der Gerechten auch nach Stockholm, doch das Icarien des Cabet, das Reich des friedlichen Kommunismus, in dem alles allen gehörte, vollständige Gleichheit herrschte, das Volk selbst die Hoheit ausübte, alle zu allen Stellungen wählbar waren, in dem sich die Brüderlichkeit des wahren Christentums verwirklichte war, wie Götrek, der Buchdrucker, es propagiert hatte, allzu utopisch, um die vorgeschlagenen Grundlagen der Liberalen zu gefährden. So weit es ihm, in dem noch halb feudalistischen Agrarland möglich war, näherte Götrek sich den Umwälzungen an, die Europa Achtzehnhundert Achtundvierzig erschütterten, er war es, der in diesem Jahr bereits das Kommunistische Manifest übersetzte und herausgab […] und war der erste auch, der eintretend für die Rechte der Arbeiterklasse, den Schlägen der Polizei, 150
der Gefängnishaft ausgesetzt wurde.
Eine prägnante Textstelle im Hinblick auf das Verhältnis von Raum und Erinnerung bildet Fredrik Ströms Bericht über den Besuch Lenins in Stockholm am 13. April 1917. Von Zürich aus reisend, auf dem Weg nach Russland, wo die MärzRevolution bereits ausgebrochen war, machte Lenin einen kurzen Stopp in Stockholm bevor er via Finnland weiterreiste. Dort empfingen ihn der sozialdemokratische Bürgermeister Carl Lindhagen, der Redakteur Ture Nerman und der
149 Götrek ist eine in der Weiss-Forschung kaum beachtete Person. Zwar wird er in Robert Cohens Bio-Bibliographisches Handbuch zu Peter Weiss’ „Ästhetik des Widerstands“ aufgelistet, doch in der grundlegenden Monographie zu Peter Weiss und Schweden von Annie Bourgignon wird er nicht einmal erwähnt. Vgl. Ebd., Der Schriftsteller Peter Weiss und Schweden. 150 ÄdW II, S. 260.
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Reichstagsabgeordnete Fredrik Ström. In Stockholm kaufte sich Lenin einen neuen Anzug im Warenhaus Bergström ein. All dies wird von Weiss im Rahmen einer längeren Betrachtung der Romanfigur Ström wiedergegeben, der sich an den Besuch des Revolutionärs erinnert: Ström kam zurück auf seine Rolle als Catilina. Auch in das verelendete Stockholm von Neunzehnhundert Siebzehn wären die römischen Geschäftsleute und Militärs, bestechlichen Regierungsbeamten und Demagogen, Sklaventrupps und Sterbekassenvereine zu versetzen gewesen. Im Senat wurde Ström, Catilina, nun aufs heftigste bekämpft von Cicero, Branting. […] Mit seiner Milde und Gewissenhaftigkeit, seinen philosophischen Neigungen und seinem republikanischen Freimut hätte Lindhagen einen Cato abgeben können, während Nerman, als Cinna, sich in den Kreis der neoterischen Dichter um Catull versetzen ließe. Auch ein Sulla wäre zu finden gewesen, in Kilbom, und so gingen die vier Verschwörer, am Morgen des dreizehnten April Neunzehnhundert Siebzehn, zum Stockholmer Bahnhof, um Lenin, der aus Zürich kam, abzuholen. Über die Vasagata geleiteten sie ihn und sein Gefolge zur Drottninggata, wo Ström im Hotel Regina Zimmer für die Gäste gemietet hatte. Zwischen den etwa zwanzig Personen habe er, sagte der Abgeordnete, Krupskaja, Inessa Armand, Sinowjew, Sokolnkikow und Radek erkannt. Überraschend klein sei Lenin gewesen, er trug einen schäbigen, fast bis zum Boden reichenden Mantel, einen zerschlißnen Filzhut, einen Schirm und grobe Wanderschuhe. Lenin trieb zur Eile an, wollte abends noch weiter, die Gruppe weckte keine Aufmerksamkeit, man war gewohnt, Scharen abgerißner Menschen auf den Straßen zu sehen, die irgendwohin zogen, zur Ausgabe von Brot, zur Verteilung von Milch für die Kinder, zu einem Hungermarsch, mißtraurisch war nur der Portier beim Anblick der Reisenden, mit ihren Bündeln, ihren altmodischen Koffern, das Geld verlangte er im voraus, Lenin hatte keins bei sich, Ström zahlte, alarmierte den Parteidistrikt, ließ einige hundert Kronen sammeln für den Kauf der Fahrkarten zur finnischen Grenze, lud zum Frühstück ein, saß dann mit dem Führer der 151
Bolschewiki im kleinen Zimmer beim Zwiegespräch.
Die Historisierung der sozialdemokratischen Politiker Ström, Branting, Lindhagen, Nerman und Kilbom bewirkt die Einführung einer zweiten Zeitebene, das antike Rom. Der definitive Bruch der Sozialdemokratie, deren Gedankengut eine „pragmatisch reformistische Form“ annahm und zu „Werkzeugen des Revisionismus“ wurde152, wird hier mit der Catilinarischen Verschwörung verglichen, dem misslungenen Putschversuch des römischen Senators im Jahr 63 v. Chr., mit dem dieser die Macht des römischen Reiches an sich reißen wollte. Fredrik
151 ÄdW II, S. 273. 152 ÄdW II, S. 259.
350 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Ström war 1917 zusammen mit Zeth Höglund einer der Gründer der schwedischen kommunistischen Bewegung. Beeinflusst von der russischen Revolution im März forderten die Arbeiter angemessene Entlohnung, die Einführung des achtstündigen Arbeitstags und die Abdankung der nationalkonservativen Regierung unter Hjalmar Hammarskjöld, im Volksmund „Hungerskjöld“ genannt. Zwei Gruppierungen wurden herauskristallisiert: eine reformistisch-sozialdemokratische und eine revolutionäre. Fredrik Ström, der von Weiss als „Catilina“ stilisiert wird, trug maßgeblich dazu bei, mit der sozialdemokratischen Mutterpartei 1917 unter Hjalmar Branting, dem Cicero der schwedischen Politik, zu brechen. Der Weltkrieg traf das neutrale Schweden besonders hart, nicht zuletzt wegen der Lebensmittelblockade der Entente- und Achsen-Mächte. Besonders prekär wurde die Lage im Frühling 1917; ab April 1917 kam es immer wieder zu Hungerdemonstrationen in den Städten: „Im Juni kam es dann zu den letzten großen Demonstrationen in Stockholm am Gustav Adolfs Torg (Gustav Adolfs Markt). Anlass war die neue Wahlreform, die im naheliegenden Reichstagsgebäude debattiert wurde. Gleichzeitig hatten radikale Linkssozialisten versucht, einen politischen Streik in Stockholm durchzuführen, was die Situation komplizierte. Viele Menschen wollten sich die Interpellation des sozialdemokratischen Oppositionsführers Hjalmar Branting im Reichstag anhören; etliche waren neugierig auf die Ereignisse. Die Volksmasse wurde am Gustav Adolfs Markt von berittenen Polizisten mit Gewalt zum Stehen gebracht. Weiss umschreibt aber die Geschichte, indem er die Demonstrationen als einen organisierten linksrevolutionären Putschversuch stilisiert. Dies stimmt allerdings nicht mit den historischen Begebenheiten überein. Aus der Perspektive Fredrik Ströms werden die Begebenheiten des 5. Juni 1917 beschrieben. Das Zitat zeichnet sich durch Parataxe aus und der Erzähler benutzt kunstvoll die rhetorische Figur der Anapher (durch die wiederholte Benutzung des Demonstrativpronomens „diese[r])“, um die revolutionäre Stimmung wiederzugeben: Im Juni Siebzehn, sagte er, habe es die objektiven Voraussetzungen für das Entstehn einer revolutionären Situation gegeben. Die Linkssozialisten hatten zum Generalstreik aufgerufen, aus den Vorstädten waren die Arbeitenden zum Reichstagsgebäude gezogen, es war zur Verbrüderung zwischen Arbeitern und Soldaten gekommen, die Gelegenheit zur Absetzung gegenüber der sozialdemokratischen Politik war da, doch schon vor ihrer ersten Kraftprobe versagte die neue Partei. Die Massen waren zum Handeln bereit, nur die Führung fehlte […] Zehntausende standen auf dem Helgeandsholm und den umliegenden Straßen und Plätzen, in Sprechchören fordernd die Abschaffung der ersten Kammer und der Monarchie, die Bildung von Arbeiterräten. […] Kadettenverbände zerteilten die Menge und sperrten, das Bajonett aufgepflanzt, die Reichtagsbrücke vom Gustav Adolfs Platz
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ab, oben, auf dem Schloßhof, wartete Graf Douglas, der bereits Neunzehnhundert Neun, als Kompaniechef, Reserven bereitgehalten hatte, mit kriegsmäßig ausgerüsteten Truppen, und jetzt kam die berittne Polizei hinzu, sprengte in die Versammelten hinein. Diese Sekunden des fünften Juni, diese im Niedersausen verwischten Säbelklingen, diese tänzelnden Pferde, mit kurzgestutztem Schweif, diese nach allen Richtungen hin flüchtenden Haufen, diese Fenster, in der Fassade des Außenministeriums, voller Zuschauer, dieser Gestürzte, die Beine an den Leib gezogen, die Arme noch schutzsuchend ums Haupt gestülpt, das Pflaster ringsum geräumt, entfernt Gendarme, die sich um ihn nicht mehr bekümmerten, dieses Gedränge am Brückengeländer, ein Junge hinaufkletternd am Laternenpfahl, gleich würde der Peitschenhieb ihn treffen, und der verhaftete Arbeiter zwischen den beiden Uniformierten, die Hände auf dem Rücken zusammengehalten, rechts und links die langen Mäntel, die Reihen der glänzenden Knöpfe, die blanken Säbel, Quaste am Griff, die verbißnen grauen Gesichter, unter Pickelhaube, Sturmriemen ums Kinn, und in der Mitte das helle Gesicht, hoch emporgestreckt, der Hals aus offnem Hemd ragend, der Stolz in den Zügen über die atemlose Überraschtheit siegend.
153
Der Wechsel zwischen Erzählebenen, zwischen Dialogen und einer konsistenten Narrationsebene bewirkt im Engelbrekt-Abschnitt eine zunehmende Verlagerung des Sprechens auf die Figuren. Diese durchgängige Dialogizität des Erzähldiskurses entspricht einer anti-hierarchischen Erzählstrategie des Autors.
6.4 Z USAMMENFASSUNG Die architektonische Umgestaltung der Stockholmer Innenstadt in den 1960er Jahren verstörte Peter Weiss. Bereits in seinem filmischen Werk, etwa im frühen Experimentalfilm Fata Morgana und im Dokumentarfilm Hinter den Fassaden hatte er die Zerstörungswut und die menschliche Entfremdung durch die Entstehung funktionalistischer Wohnblöcke gegeißelt. Die Zerstörung der alten Gebäude des Stadtteils Norrmalm bedeutet für den Exilanten nicht nur einen Verlust der Erinnerungen, die auf die Altbauten projiziert werden. Sie erinnert ihn zudem an die traumatischen kriegsbedingten Zerstörungen der Städte, in denen er aufgewachsen ist. Bezeichnend für diese Haltung ist der Vergleich der Abrisse mit Hitlers geplanter Neugestaltung Berlins, „Germania“: „Die schwedischen Stadt-Architekten, ausgehend von den Hitler-Plänen: die Städte ‚von Grund auf neu erbauen.‘ (Das Abreißen des alten Stockholm).“154 Ähnlich wie beispiels-
153 ÄdW II, S. 283. 154 NB 2, S. 216.
352 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT weise Uwe Johnson in der Tetralogie Jahrestage prangert Weiss den ahistorischen, geschichtszerstörenden Umgang mit der historischen Bausubstanz der Stadt an. Erscheint bei Johnson New York und die ganze USA als Ort des Vergessens, bedeutet das Verschwinden der alten Bausubstanz für Weiss eher einen Verlust der Identität und der Verwurzelung in der Stadt. Auffällig ist bei beiden Autoren der anthropomorphische Vergleich der Stadt mit dem menschlichen Körper. Erregt bei Gesine Cresspahl das „Skelett des umgebrachten Hauses“ Abscheu, so bedeutet für Weiss das Abreißen der alten Bausubstanz Stockholms „eine klobige Anatomie“ bzw. „Amputationen, die am bewußten Körper der Stadt“ vorgenommen werden. Die Materialität der Stadt erscheint hier als hochmodern, variabel und provisorisch. Bei Weiss wird der Vergleich der Stadt mit dem menschlichen Körper bereits im Frühwerk thematisiert. Das Haus, so Weiss, „ähnelt eher einem Organismus, hat Eingeweide, Haut, Augen.“155 Der erste Stockholm-Abschnitt ist wie ein Fremdkörper in den Text integriert und erfolgt aus der Sicht Lotte Bischoffs. Diese Verschiebung der Fokalisierung äußert sich konkret in einer grundsätzlichen Verunsicherung der Erzählerin, die die fremde Stadt nicht „lesen“ kann. Dabei wird die Aura des zur Entstehungszeit des Romans größtenteils bereits abgerissenen Stadtteils Norrmalm vergegenwärtigt. Auch die Metapher des Grabens kommt im Stockholmer Abschnitt zum Ausdruck, als Bischoff von der schwedisch-dänischen Schlacht am Brunkeberg erfährt, die 1471 stattfand. Weiss hat nachweislich zur Entstehung des Romans die archäologischen Ausgrabungen in der Altstadt verfolgt, was in den Roman eingegangen ist. Die kartographische Textstruktur, die Weiss’ Stadtdarstellung in der Ästhetik des Widerstands auszeichnet, wird im Stockholmer Abschnitt erprobt. Dabei werden sowohl Gebäude als auch einzelne Straßennetze eingehend beschrieben. Ein Beispiel hierfür ist der Telephonturm, der die Erzählerin mit seiner filigranen Eisenkonstruktion in den Bann zieht. Eine intertextuelle Folie im Stockholm-Abschnitt bildet August Strindbergs Beschreibung der Stadt. So wird Strindbergs Darstellung Stockholms von der Vogelschau aus der Eingangspassage des Roten Zimmers von Weiss aufgegriffen. Mit zunehmender Verstörtheit betrachtet Weiss, wie die Figur des Flaneurs, die für die schwedische Literatur des 19. Jahrhunderts so wichtig erscheint, im Zuge der Stadtmodernisierung zur anachronistischen Figur verurteilt wird. In Stockholm besucht der Erzähler das Nationalmuseum, wo er Géricaults Gemälde Studie nach Enthaupteten betrachtet. Das Gemälde fungiert als Erinnerungsauslöser, indem „überwältigend“ das Paris des frühen 19. Jahrhunderts, so wie es zu Lebzeiten Géricaults aussah, beim Erzähler wieder auflebt. Eingehend
155 Vgl. NB 2, S. 473.
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wird die Ekphrasis von Géricaults Gemälde Das Leichenschauhaus beschrieben, welches „de[n] schreckliche[n] Gegensatz […] zur Zivilisation, mit der die Stadt prahlte“ darstellt. Ein ähnlicher Erinnerungsauslöser im Stockholmer Abschnitt ist das Durstgefühl, das bei Arthur Iller Erinnerungen an seinen Besuch in der Tempelstadt Angkor Wat in Kambodscha in den 1930er Jahren auslöst. Hier orientiert sich Weiss an einem Erinnerungsdiskurs Proustscher Provenienz, indem synästhetische Eindrücke die Erinnerungen an die Vergangenheit wachrufen. Der Engelbrekt-Abschnitt liefert vielleicht das deutlichste Beispiel dafür, dass die Ästhetik des Widerstands als ein historischer Roman interpretiert werden kann. Anhand von verschiedenen historischen Dokumenten, die in den Text eingegangen sind, wird der widersprüchliche Bauernführer Engelbrekt, der am Ende des schwedischen Mittelalters lebte, dargestellt. Ein Blick auf das Engelbrekt-Material im Peter Weiss-Archiv lässt erkennen, dass sich der Autor in der zeitgenössischen Engelbrekt-Forschung auf dem Laufenden gehalten hat. Eine wichtige Quelle ist Hans Vallentins Aufsatz Der Klassencharakter des Engelbrektaufstandes. Vallentins Stilisierung der Bauernkriege Engelbrekts als Paradebeispiel historischer Klassenkämpfe, „vielleicht einer der konkretesten Ausdrücke hierfür in der gesamten schwedischen Geschichte“ 156 ist in den Engelbrekt-Abschnitt eingegangen. Ein wichtiges Anliegen des Autors im Roman generell und im Engelbrekt-Abschnitt im Besonderen ist es, die Dialogizität der Erzählstruktur hervorzuheben. Die explizit problemorientierte, sachliche und argumentative Erzählweise des Romans, die sich durch einen Stimmenwechsel auszeichnet, entspricht einer demokratischen und anti-dogmatischen Erzählstrategie des Autors. Der Roman führt verschiedene Standpunkte vor, die einander widersprechen, um den Leser zu einer eigenständigen Meinungsbildung anzuregen. Die mit dieser Erzählweise verbundenen erzieherischen Intentionen des Autors kommen paradigmatisch im Engelbrekt-Abschnitt zum Ausdruck.
156 Siehe PWA 3242: Hans Vallentin, „Engelbrektsupprorets klasskaraktär“, in: Meddelanden från arkivet för Folkets Historia, Årgång 3, Nr.2 1975, S. 14-18. (Übersetzung, G.L.) Folgende Passage auf S. 15 hat Weiss unterstrichen: „Engelbrektupproret var ett konkret uttryck för klasskamp, kanske ett av de mest betydelsefulla uttrycken under hela den svenska historien. Vid en analys av Engelbrektsupprorets klasskaraktär måste man dock lämna detta konkreta uttryck. Man ser då i stället till de olika klassernas allmänna och speciella lägen liksom de inbördes förhållandena.“
Abschließende Bemerkungen
Die Poetik des Erinnerns, die Weiss in der Ästhetik des Widerstands dezidiert verfolgt, erweist sich als ein literarisches Verfahren, als eine Summe historischer Anschauungs- und Darstellungsweisen. Dass Weiss in seinem letzten Prosawerk ausgerechnet einen polyhistorischen Roman entwirft, mag mit dem „rapiden Niedergang“ und der „Lethargie“ der 68er Generation zusammenhängen, mit der Weiss’ politisches Engagement in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre eng zusammenhängt.1 Demgemäß schreibt Weiss in den Notizbüchern über das vermeintlich Obsolete an seiner politisch engagierten Schriftstellergeneration, dass diese Einstellung auf eine Lüge zurückzuführen sei, die durch den „Mechanismus der Verbrauchergesellschaft“ entstanden ist. Um eine Veränderung dieser Ansicht herbeizuführen, so Weiss, muss an eine literarische Tradition angeknüpft werden. Das Gerede, daß die Autoren, die während der sechziger Jahre bekannt wurden, ins Hintertreffen geraten seien, daß sie nichts mehr zu sagen, nichts mehr anzubieten hätten, ist eine Lüge. Erklärlich ist diese Lüge auch nur durch den Mechanismus der Verbrauchergesellschaft. Um zu einer Veränderung dieser Attitüde zu gelangen, müßten wir anknüpfen an eine Tradition, in der die Theater es sich zur Aufgabe machen, dem Entwicklungsgang-
1
Vgl. hierzu NB 2, S. 672f. Als den intellektuellen Höhepunkt und zugleich Zenit der 68er Bewegung sieht Weiss Bernward Vespers Buch Die Reise: „Mit dem Buch von Bernward Vesper (Die Reise) war der intellektuelle Höhepunkt der Bewegung des Jahrs 1968 erreicht worden. Sein Selbstmord stand bereits unterm Zeichen des rapiden Niedergangs, der Verzweiflung. Die aufrührerische Generation geriet jetzt, z. gr. Teil, in die Lethargie, und die Desperatesten gerieten in die Raserei. (Ein Jahrzehnt wird es noch dauern, bis die Opposition wieder zu konstruktiven Handlungen kommen kann)“.
356 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT tatsächlich zu folgen, sich nicht nur eines seiner Produkte anzunehmen, um ihn sodann, 2
der Abwechslung wegen, in der Falluke verschwinden zu lassen.
Die Hinwendung zum geschichtlichen Stoff, die Weiss’ Werk seit Marat/Sade prägt, gipfelt in der Ästhetik des Widerstands. Historische Stoffe werden hier zum zentralen Gegenstand des literarischen Textes und sind zugleich Teil seines poetologischen Selbstverständnisses. Damit knüpft Weiss früh an eine Tradition historischen Erzählens an, die bis heute Konjunktur hat. Nicht umsonst trägt das Kapitel zu den 1980er Jahren in Ralf Schnells Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945 in Anlehnung an Weiss’ Roman den Titel „Widerstand der Ästhetik“.3 Dies ist ein Zeichen dafür, dass der Roman eines der repräsentativsten Werke der Gegenwartsliteratur ist und dass der Erinnerungsdiskurs, den Weiss thematisiert, ein Paradigma der zeitgenössischen Literatur darstellt. Die Idee, historische Stoffe als Modell für die Gegenwart zu nutzen, kommt in der Ästhetik des Widerstands programmatisch zum Einsatz. Dies zeigt sich exemplarisch im Engelbrekt-Abschnitt, der mit einem dialektischen Bezug zwischen Gegenwart und Mittelalter auf den vorbildhaften Charakter jahrhundertelanger Widerstandskämpfe verweist. Ähnlich wie im Dokumentartheater gestaltet Weiss in seinem Widerstandsroman die Geschichte als „dokumentarische Anstalt“4: die Ereignisse, von denen er erzählt, sind in historischen Dokumenten aufgehoben. Ziel ist, die Geschichte genau „zu erklären, wie das damals gewesen war.“5 Damit knüpft Weiss – zumindest ansatzweise – an eine ältere Tradition der Geschichtsschreibung an, die von Leopold von Rankes berühmtem Diktum ausgeht, die Geschichte zu rekonstruieren, „wie es eigentlich gewesen [ist]“. Die literarische Arbeit am kulturellen Gedächtnis droht in Weiss’ Erinnerungsprosa dem Historismus anheimzufallen. So kann Die Ästhetik des Widerstands als Geschichtsbuch gelesen werden, in welchem Geschichte zur narrativen Tätigkeit wird, die vergangene Ereignisse bewahrt. Nichtdestotrotz handelt es sich im Hinblick auf den Widerstandsroman nicht um einen historischen Tatsachenbericht, sondern um eine Literarisierung von historischen Begebenheiten, um eine Umwandlung von historischen Dokumenten in literarisches Material. Der Autor knüpft scheinbar an die Tradition der Erinnerungsromane des 19. Jahrhunderts
2
NB 2, S. 530f.
3
Ralf Schnell, Die Literatur der Bundesrepublik: Autoren, Geschichte, Literaturbetrieb, Stuttgart 1986, S. 304-357.
4
Peter Hanenberg, Peter Weiss: Vom Nachteil und Nutzen der Historie für das Schreiben, S. 213.
5
ÄdW III, S. 236.
A BSCHLIESSENDE B EMERKUNGEN | 357
an, als dessen Paradigma Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit gilt. Dies äußert sich konkret in den Sinneswahrnehmungen der Figuren, die ähnlich wie bei Proust als Erinnerungsauslöser fungieren. Im Gegensatz zu Proust und den großen Romanen des 19. Jahrhunderts geht es Weiss aber um eine historisch und politisch fundierte Trauerarbeit in Bezug auf die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung mittels des eigensinnigen Erinnerungswillens seines IchErzählers. Die Problematisierung von Erinnerung, die in den expliziten Erinnerungsdiskursen im Fluchtpunkt zum Ausdruck kommt, wird im Widerstandsroman nicht wieder aufgegriffen. „Madame Bovary, das bin ich“, hat einst Gustave Flaubert im Hinblick auf seine berühmte Romanfigur behauptet. Weiss häufig diskutiertes und wohl missverstandenes Diktum einer „Wunschautobiographie“6, d.h. der Ich-Erzähler als camouflierter Ausdruck des Autor-Ichs, greift zu kurz. Diese Interpretation droht einem stereotypen Biografismus anheimzufallen und bedarf der erzähltechnischen Ergänzung durch die Stimmenvielfalt im Text. Dieser Stimmenwechsel schafft eine Distanz zur autobiographischen Bezugsmöglichkeit und damit zur Deutung der Biographie des Ich-Erzählers im Roman als bloße Wunschprojektion des Autors. Im Gegenteil zum späten essayistischen Werk, in welchem häufig die rhetorische Stringenz fehlt, bemüht sich Weiss in der Ästhetik des Widerstands um eine logisch-argumentative Diskussionsstruktur. Wichtig ist auch, dass Weiss die Ekphrasis-Tradition wieder belebt und damit Peter Suhrkamps frühem literarischem Ratschlag folgt, nämlich „die Übersetzung [seiner Prosa, G.L.] ins Sichtbare.“7 Die zahlreichen Beschreibungen von Kunstwerken im Roman, die strukturell als historische Verdichtung der Erinnerungsblöcke dienen, fungieren auf poetologischer Ebene als Andenken an die Toten. Das Museum, in welchem laut Aleida Assmann „Gedächtnis konstruiert, repräsentiert und eingeübt wird“, ist ein wiederkehrender Ort der Erinnerung in der Ästhetik des Widerstands.8 Es ist vor allem im Erinnerungsort des Museums, wo der Erzähler Kunst begegnet: Das Pergamonmuseum, die naturkundlichen Museen in Berlin und Bremen im ersten Band, der Louvre und das
6
Manfred Durzak betitelte bezeichnenderweise seine Rezension des ersten Bandes der Romantrilogie (erschienen in der Welt, 25.10.1975) „Revolution als Nostalgie-Trip“. Durzaks Rezension enthält allerdings gravierende Fehler und Missverständnisse. Vgl. hierzu Volker Lilienthal, Literaturkritik als politische Lektüre. Am Beispiel der „Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss, S. 116.
7 8
Siehe Siegfried Unseld – Peter Weiss: Der Briefwechsel, S. 13-16, hier S. 15. Vgl. Aleida Assmann, Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, S. 47.
358 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT schwedische Nationalmuseum im zweiten Band, beide mit Gemälden von Géricault, das Musée Carnavalet (ebenfalls im zweiten Band) und das riesige Freilichtmuseum Angkor Wat im dritten Band. Jedes Museum ist, so Karlheinz Stierle, ein aufgeschlagenes Buch oder ein „Ort zwischen Buch und Welt.“9 Die Museen mit ihren neuen Organisations- und Ausstellungsformen werden zu Orten der Lesbarkeit der Stadt und der Welt, die zugleich auch in den urbanen Großstadtraum integriert sind. Spätestens nach der Veröffentlichung von Abschied von den Eltern, wo der entwurzelte und gehänselte Erzähler in einer Schlüsselpassage erfährt, dass er Jude ist, nimmt der Autor dezidiert für die Unterdrückten, Verfolgten und Ausgebeuteten Partei. Im späten essayistischen Werk, vor allem in den VietnamSchriften aus den 1960er Jahren, ist die Erinnerung an die Shoah ständig präsent. Auch in der Ästhetik des Widerstands gibt es deutliche Anspielungen an den Holocaust, v.a. im Zusammenhang mit Nymans Bericht. Tendenziell steht allerdings, wie Arnd Beise bemerkt hat, der Widerstandsroman „vor allem in der Tradition des antifaschistischen Erinnerungsdiskurses, der die Spezifik des jüdischen Holocaust tendenziell leugnete“.10 Dennoch wird die Einzigartigkeit des Verbrechens gegenüber den Juden im Roman durch die Identifizierung der Mutter mit dem Schicksal der Juden impliziert. Die Bemühung des Autors um „einen objektiven Realismus“ bildete eine poetische Grundlage für seine Darstellung des Holocaust im Widerstandsroman:11 „Die Shoah als das einzigartige Geschehen der Vernichtung der Juden könnte nämlich in den suggestiven Bildern des Schreckens zu einem Faszinosum werden, wenn nicht der rationale Diskurs die Bedingungen des Schreckens so weit wie irgend möglich benennen würde.“12 Die Darstellung der Stadt in der Ästhetik des Widerstands weist ähnlich wie Alfred Döblins großer Stadtroman Berlin Alexanderplatz durch die Aufzählung von real existierenden Straßen, Gebäuden und Erinnerungsräumen eine kartographische Struktur auf. Doch Weiss’ Darstellung der Stadt ist keineswegs ein-
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Der Vergleich der Großstadt mit einem Buch, das gelesen und dekodiert werden muss, stammt von Walter Benjamin, der in dem Passagen-Werk dieses Thema darstellt. Siehe Karlheinz Stierle, Der Mythos von Paris, S. 15.
10 Arnd Beise, „Peter Weiss: ‚Verleugnete Erfahrungen lebten in mir auf‘“, in: Norbert Otto Eke, Hartmut Steinecke (Hrsg.), Shoah in der deutschsprachigen Literatur, S. 223. 11 NB 2, S. 171. 12 Michael Hofmann, „Antifaschismus und poetische Erinnerung der Shoah. Überlegungen zu Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands“, in: PWJ 3 (1994), S. 122-134, hier S. 129.
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fach Abbild mimetischer Art, sondern stellt im Sinne Freuds und Benjamins eine komplexe und vielfältige Struktur dar. Dies wird nicht zuletzt durch die irreal, surrealistisch wirkende Flugszene deutlich, welche im Sinne Strindbergs die „Nachbildung der unzusammenhängenden, aber scheinbar logischen Form des Traumes“ darstellt. Dargestellt wird die Erinnerungsarbeit des Ich-Erzählers häufig mittels einer geologischen Metaphorik als eine Art Durcharbeitung der sedimentierten Schichten der Geschichte. Weiss’ Metaphorik der Geolologie- und Paläontlogie ist nicht zufällig. Im Denkmodell des Autors entsprechen die geologischen Gesteine mit ihren organischen Ablagerungsschichten Phasen der Vergangenheit, durch die der Verlauf der Geschichte durch muss und die von den Menschen nur bedingt korrigiert werden können. Die Freilegung des Vergangenen hat die Verlebendigung der Geschichte zum Ziel. In Anlehnung an die Ästhetik Freuds und Benjamins, die Weiss in eine geologische Metaphorik überträgt, heißt dies: „ich [müsse] zuerst zu graben anfangen, müsse mich rauswühlen, rauskratzen aus einer Masse von Schutt, die uns zudeckt. Unsere Organisationen sind wie Erdschichten, die abgehoben werden müssen, damit wir uns selbst finden können.13 Dies heißt, dass die Erinnerung vom Schutthaufen der Geschichte, die von Zensur, Verdrängen und Vergessen geprägt ist bis an den eigenen sedimentierten Kern Schicht für Schicht freigelegt werden muss, um ein Gedächtnis freilegen zu können, das wahre unverfälschte Bilder der Vergangenheit zu produzieren vermag. Die Metapher der abzutragenden Gesteinsschichten wäre in diesem Kontext analog mit Freuds psychoanalytischen ArchäologieMetaphern zu verstehen. Ein anderer Gewährsmann ist Walter Benjamin, dessen Erinnerungskonzept davon augeht, den Kern verschütteter und verspielter Möglichkeiten der Geschichte freizulegen. Die Ästhetik des Widerstands erzeugt auf der Narrationsebene einen heterogenen Erinnerungsraum. Was Weiss narrativ gestaltet, entpuppt sich bei näherem Anblick als ein Zeit und Raum übergreifendes Kontinuum der Gegenwärtigkeit der Vergangenheit. Die erzählte Zeit umfasst die biographische Zeit der Hauptfiguren über die Weltgeschichte bis hin zum Mythos. Es ist vor allem die Figur des Herakles, der auf dem Pergamonaltar fehlt, der ins Mythische transponiert wird: Seine Abwesenheit ist ein Vorausgreifen auf die grausame Niederlage der Widerstandskämpfer. Analog beruft sich Horst Heilmann vergeblich auf den Beifall des Herakles im Kampf gegen den Faschismus. Weiss rekonstruiert sorgfältig einzelne Erinnerungsräume, in denen sich geschichtliche Begebenheiten ereignet haben. Dabei bedient er sich eines räumlichen Gedächtnismodells der rhetorischen Memoria-Tradition, die von der Bildfindung im Raum ausgeht. Zu
13 ÄdW I, S. 227.
360 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT diesem Zweck werden Inhalte in Bilder (imagines) gefasst, die an verschiedenen Orten (loci) innerhalb des Gedächtnisraumes miteinander verknüpft werden. Medium des Erinnerns ist in der Ästhetik des Widerstands häufig der Flaneur, der den kulturellen Raum der Stadt „liest“ und somit die Gebäude zum „Sprechen“ bringt. Paradebeispiel hierfür ist die detaillierte Rekonstruktion von Lenins Züricher Wohnung an der Spiegelgasse, in der große geschichtliche Ereignisse in einer winzigen Wohnung stattfanden. Es geht Weiss bei dieser Beschreibung darum, Erfahrungen im historischen Erinnerungsraum zu vergegenwärtigen. Das Erinnerungskonzept im Widerstandsroman hat seinen Ausgangspunkt in der sinnlichen Vergewisserung des Raumes. Es werden nicht autonom innere Gedächtnisbilder evoziert, sondern die Erinnerung ist angewiesen auf einen Anstoß durch die Wirklichkeit, die die Romanfigur umgibt. Es liegt mit anderen Worten eine Verbindung zwischen Wahrnehmung und Erinnerung vor. Die Wahrnehmung der Welt provoziert bei der Erzählinstanz Bilder. Die besondere Eignung des Raumes besteht in der Bewahrung und Wiedererweckung von Erinnerungen.
Abkürzungen und Siglen
AE
Peter Weiss: Abschied von den Eltern, in: Werke in sechs Bänden. Zweiter Band. Prosa 2: Der Schatten des Körpers des Kutschers, Abschied von den Eltern, Fluchtpunkt, Das Gespräch der drei Gehenden. Hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zsarb. mit Gunilla Palmstierna-Weiss. Frankfurt am Main 1991.
ÄdW Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands. Roman. In: Werke in sechs Bänden: Dritter Band: Hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zsarb. mit Gunilla Palmstierna-Weiss. Frankfurt am Main 1991. AF
Peter Weiss, Avantgade Film. Aus dem Schwedischen von Beat Mazenauer, Frankfurt am Main 1995.
FP
Peter Weiss: Fluchtpunkt, in: Werke in sechs Bänden. Zweiter Band. Prosa 2: Der Schatten des Körpers des Kutschers, Abschied von den Eltern, Fluchtpunkt, Das Gespräch der drei Gehenden. Hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zsarb. mit Gunilla Palmstierna-Weiss. Frankfurt am Main 1991.
NB 1 Peter Weiss, Notizbücher 1960-1971, Frankfurt am Main 1982, 2 Bde. NB 2 Peter Weiss, Notizbücher 1971-1980, Frankfurt am Main 1981, 2 Bde. PWA Peter Weiss-Archiv, Berlin. PWJ
Peter Weiss Jahrbuch. Begründet von Martin Rector und Jochen Vogt. Hrsg. von Arnd Beise und Michael Hofmann in Verbindung mit der Internationalen Peter Weiss-Gesellschaft, Bd. 1, Opladen 1992, Bd. 3,
362 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Opladen 1993, Bd. 6, Opladen 1997, Bd. 14 St. Ingbert, Bd. 17, St. Ingbert, 2008, Bd. 21 St. Ingbert, 2012. R
Peter Weiss, Rapporte, Frankfurt am Main 1968.
R2
Peter Weiss, Rapporte 2, Frankfurt am Main 1971.
W
Peter Weiss, Werke in sechs Bänden. Hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zsarb. mit Gunilla Palmstierna-Weiss. Frankfurt am Main 1991.
Quellen- und Literaturverzeichnis
U NVERÖFFENTLICHTES M ATERIAL Folgendes Material befindet sich im Peter Weiss-Archiv, Akademie der Künste, Robert Koch-Platz 10, Berlin unter der jeweils angegebenen Signatur. PWA 2291: Aufzeichnungen zum Interview mit Lotte Bischoff in Osterlin am 22. Juni 1972, 12 Bl. PWA 2530: „Där jag blir ställd, där sköter jag min tjänst“. Interview mit Peter Weiss von Ingegerd Lundgren vom 8.4.1979 (26 Bl.) PWA 5337: Der Altar von Pergamon. Herausgegeben von den Staatlichen Museen zu Berlin, Antikensammung, Berlin 1967. PWA 2327: „Die restlose Wiedergabe der Wahrheit ist möglich“ (undatiert). PWA 3265: Folket och maktens murar. Bilder av Gun Kessle. Text av Jan Myrdal. Moderna Museet, Filialen Stockholm 2. Juli-29 augusti 1971. PWA 2164: „Författaren och kritikern.“ (Entgegnung auf einen Artikel Harry Järvs über Weiss’ Aufführung von Kafkas Roman Der Prozess 1976 in Stockholm.) PWA 2448: „Förslag till kronologi“ (4 Bl.). PWA 2268: „In der Stadt legt sich gleich wieder der alte Druck über einen“ (undatiert). PWA 2005: „Skulle jag vara riktigt konsekvent…“ (undatiert). PWA 2021: „Stadt“ (undatiert). PWA 1910: „Ur en musikers anteckningar“ (undatiert). PWA 1731: Notzien über Engelbrekt (undatiert). PWA 3242: Quellen zum Engelbrekt-Abschnitt. PWA 3245: Zeitungsauschnitte und Quellen zur Hinrichtung der Roten Kapelle.
364 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT
T EXTE
VON
P ETER W EISS
Weiss’ Werke werden, so weit wie es möglich ist, nach der Suhrkamp-Ausgabe Werke in sechs Bänden mit Angabe von Band und Seitenzahl, zitiert. Dies betrifft auch Die Ästhetik des Widerstands, die mit der Sigle ÄdW nach der Werkausgabe zitiert wird. Die zahlreichen essayistischen Schriften, die nicht in dieser Ausgabe enthalten sind, werden durch den am leichtesten zugänglichen Druck zitiert. Abschied von den Eltern, in: Werke in sechs Bänden. Zweiter Band. Prosa 2: Der Schatten des Körpers des Kutschers, Abschied von den Eltern, Fluchtpunkt, Das Gespräch der drei Gehenden, Rekonvaleszenz. Hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zsarb. mit Gunilla Palmstierna-Weiss. Frankfurt am Main 1991, S. 57-142. Adolfsson, Eva, Lars Bjurman: „Herkules och klasskampen. Ett samtal med Peter Weiss.“ („Eva Adolfsson, Lars Bjurman: Herkules und der Klassenkampf: Ein Gespräch mit Peter Weiss“), in: Ord och Bild (1977), H. 2-3, S. 198-208. „Antwort auf Kritiken zum ‚Vietnam‘ -Aufsatz“, in: Rapporte 2, Frankfurt am Main 1971, S. 63-69. „Aus dem Kopenhagener Journal“, in: Rapporte, Frankfurt am Main 1968, S. 5171. „Aus dem Pariser Journal“, in: Rapporte, Frankfurt am Main 1968, S. 83-112. Avantgarde Film. Aus dem Schwedischen von Beat Mazenauer, Frankfurt am Main 1995. Das Kopenhagener Journal. Kritische Ausgabe, hrsg. von Rainer Gerlach und Jürgen Schutte, Göttingen 2006. „Den frågande människan“, in: Expessen, (Stockholm), 7.12.1953, S. 4. Der Fremde, in: Werke in sechs Bänden. Erster Band. Prosa 1: Von Insel zu Insel, Die Besiegten, Der Fremde, Das Duell. Hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zsarb. mit Gunilla Palmstierna-Weiss. Frankfurt am Main 1991, S. 145220. „Der große Traum des Briefträgers Cheval“, in: Rapporte, Frankfurt am Main 1968, S. 36-50. Der Maler Peter Weiss. Bilder Zeichnungen, Collagen, Filme. Katalog des Museums Bochum. Redaktion und Gestaltung: Peter Spielmann. Berlin 1982. „Der Sieg, der sich selbst bedroht“, in: Rapporte 2, Frankfurt am Main 1971, S. 70-72.
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Anhang: „Skulle jag vara riktigt konsekvent…“ („Wäre ich ganz konsequent …“)1
Wäre ich jetzt ganz konsequent und handelte ganz meinem Thema entsprechend, würde ich diese Papiere zerreißen. Dann würde ich mir von einem von Ihnen einen Hut ausleihen und die Papierfetzen meines Manuskripts in den Hut schmeißen und dann einige Fetzen aus dem Hut ziehen und meinen Vortrag halten, wie es dann käme, ein Fetzen da und ein Fetzen dort, ohne irgendwelche Ordnung, damit Sie und ich den roten Faden völlig verlieren. Oder ich würde ganz frei und ohne Manuskript reden, was mir zum Thema einfällt, ohne die Ambition zu haben, irgendwelche Kenntnisse zu vermitteln. Am liebsten sollte ich hier nicht auf dem Podium stehen, und Sie sollten nicht in ordentlichen Reihen sitzen, sondern wir sollten hier und da sitzen, natürlich mit einigen Flaschen Wein, und wir könnten eine kleine Maskerade aufführen. Aber – wenn es darauf ankommt, das Papier zu zerreißen – dieses Papier ist meine kleine Sicherheit – und diese kleine Sicherheit geben wir nicht gerne preis – obwohl der Surrealismus dies von mir verlangen würde. Wissen Sie, wie einst Dali einen Vortrag hielt, als er über den Surrealismus reden wollte? Er erschien in einem Taucheranzug auf dem Podium und es stand dort ein großes Aquarium als er hereinkam. Er las seinen Vortrag unter dem Wasser /Blubber/Blubber/Blubber/, während seine Frau Luft zu ihm pumpte. Es gehört zur Anekdote, dass es so unruhig im Saal wurde, dass sie vergaß zu pumpen, so dass er fast ertrank – in letzter Minute wurde er gerettet. Aber dies war vor 25 Jahren, als der Surrealismus noch jung war und noch Aufsehen erregen konnte. Der Surrealismus, das war damals eine Art Revolution
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Das vorliegende undatierte Typoskript besteht aus zehn paginierten Seiten und ist im Peter Weiss-Archiv unter der Signatur 2005 archiviert. (Übersetzung, G.L.) Sämtliche Hervorhebungen und Unterstreichungen sind im Original vorhanden.
388 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT innerhalb der Kunst, er wollte mit konventionellen Formen brechen. Eigentlich war das Ziel des Surrealismus nicht, eine neue Kunstform zu werden, sondern eine neue Lebensform. Der Surrealismus wollte den Menschen aus den erstarrten Konventionen ziehen, er wollte den Zwang und die Gesetze, die unser Leben einengen, zersprengen, er wollte etwas Neues ins Leben rufen, etwas Magisches, Primitives, Rebellisches. Um das Wesen des Surrealismus völlig verstehen zu können, müssen wir allerdings noch zehn Jahre zurückgehen, zum Ende des Ersten Weltkriegs. Damals entstand nämlich eine Bewegung, die sich Dadaismus nannte. Dieses Wort Dadaismus geht auf das kindische Wort dada zurück. Eigentlich ist es kein richtiges Wort, sondern lediglich ein Laut für verschiedene Dinge, es ist einer der ersten Laute, die das Kind macht und kann Papa, Mama, Puppe oder Essen bedeuten. Es liegt also außerhalb der Sprache, es ist nur ein Laut, der ein Gefühl vermittelt. Und dieser Laut passte hervorragend zu einer Kunstform, die keine Kunst machen wollte, sondern stattdessen alles, was mit Kunst zu tun hatte, zertrümmern wollte. Dada, das war als wäre man wieder ein Kind, das reden lernte, dada das bedeutete einen Neuanfang. Wie entstand nun diese Idee? Ist es etwas völlig Verrücktes? Sind es einige Wahnsinnige, die dies erfunden haben? Oder hat es einen Sinn? Im Grunde genommen war die Zeit vor dem Ende des vorherigen Weltkrieges ähnlich wie unsere Gegenwart. Vielleicht mit dem Unterschied, dass die Zerstörung damals nicht so umfassend war wie nach dem Zweiten Weltkrieg. Und es gab noch einen Hauch Optimismus, ein bisschen mehr Lust am Experimentieren als heute. Während wir heutzutage bloß eine allgemeine Aufrüstung sehen, gab es damals zumindest einen Spielraum für den Gedanken eines allgemeinen Abrüstens und einer Verbrüderung der Völker – der Kommunismus, wie man ihn damals sah, war etwas anderes als der Kommunismus von heute – er war eine radikale Erneuerung. Diese Dadaisten – das war zu Beginn eine Gruppe von Emigranten, Kriegsgegnern – die sich im neutralen Zürich, in der Schweiz versammelt hatte. Sie waren zu der Schlussfolgerung gekommen, dass unsere ganze Zivilisation bankrott geworden ist. Dass die Menschen immer noch imstande seien, sich gegenseitig massenweise totzuschlagen, das bedeutet, dass unsere Lebensform falsch sein muss. Nichts von alldem, was wir als die großen Vorteile unserer Kultur betrachtet haben – nicht einmal die Religion oder die Kunst – hat uns geholfen. Die Kunst, sie ist ein Spekulationsobjekt geworden und im Christentum gibt es keine Erlösung mehr – die christliche Religion ist in moralischen und sozialen Konventionen erstarrt. Das Beste wäre, unsere vollständige Niederlage zu akzeptieren und hinzunehmen und die letzten Reste zu zerstören, damit der Boden vor uns wieder freigelegt wird – erst dann können wir vielleicht etwas Neues bauen.
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Dies war vielleicht der Gedanke, dem die dadaistische Bewegung zugrunde lag, aber deren Ausdruck war viel chaotischer. Es war eine Art grotesker Hexensabbat, der in einem Stammlokal in Zürich stattfand, einem Nachtclub namens Cabaré Voltaire, jemand rezitierte dort Verse während ein anderer trommelte, jemand schrie unartikulierte Wörter, Models zeigten neue Kleider – von Sicherheitsnadeln zusammengehalten, die aus Zeitungspapier gemacht worden waren. Dazu wurde eine schrille atonale Musik gespielt während man gleichzeitig die neuen Rhythmen des Negerjazz importierte. Aus Verzweiflung versteckte man sich hinter diesen Clownerien, aber gerade die Tatsache, dass der Dadaismus diese grotesken, fantastischen Formen annahm und keine Klagelieder anstimmte, fand sehr bald in der ganzen Welt Resonanz, in Berlin, Paris und New York. Überall tauchten nun Namen auf, die während der nächsten Jahrzehnte eine ausschlaggebende Rolle in der Poesie und in der Malerei spielen sollten. Hier seien nur einige genannt: Apollinaire und Tzara, Picasso, Klee, Kandinsky, Arp, Max Ernst, Picabia. In den ersten so genannten Ausstellungen des Dadaismus konnte man Maschinenteile, alte Nachttöpfe, Kohlenschaufeln, Gemälde mit aufgeklebten Papierfetzen und Stahldraht, Skulpturen aus Glasscherben, Nadeln und Steinen besichtigen. Ein Kunstwerk in einem breiten Goldrahmen bestand nur aus einem Spiegel und darunter wie auf den Tafelbeschreibungen der Museen stand zu lesen: Porträt eines Unbekannten. Der Zuschauer sah sich also selbst im Spiegel. Fürs Publikum erschien dies alles natürlich als eine Blasphemie und wenn Tumult entstand, war dies durchaus im Sinne der Aussteller. Am fröhlichsten wurden sie, wenn die indignierten Zuschauer die „Kunstwerke“ angriffen und sie demolierten. Gleichzeitig entstand schon hier vieles von dem, was im Surrealismus Bestand haben sollte. Zum Beispiel stellte Max Ernst Bilder her, die er „Collagen“ nannte, wobei er verschiedene Bildstücke zusammenschnitt, am liebsten aus alten Zeitschriften. Diese Fragmente bildeten dann eine neue irrationale Einheit, so dass man ein Segelboot sehen kann, wo das eine Segel die langen Haare einer Frau darstellt oder wo ein Löwe zwischen normalen Menschen in einem Eisenbahnwaggon abgebildet worden ist. Er nimmt also verschiedene Fragmente der Wirklichkeit und stellt sie in einem neuen Kontext dar. Und dann erscheinen diese Fragmente der Wirklichkeit als subversiv und provokativ. Oder er arbeitet mit etwas, was er „Frottage“ nennt, d.h. er legt ein dünnes Blatt Papier und verschiedene Gegenstände der Wirklichkeit, z.B. ein Brett oder ein körniges Papier oder ein Blatt oder ein Stück Linnen und überträgt diese Gegenstände auf das Papier durch Grafit, das er auf dem Papier reibt, ungefähr so, wie wir es als Kinder mit der Münze machten. Dann spielte man auch ein anderes Spielchen, was wohl die meisten von uns mal gespielt haben – man nimmt ein Papierstück und zeichnet
390 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT einen Kopf, dann faltet man das Papier zusammen damit nur der Ansatz des Halses sichtbar wird, und der nächste zeichnet den Oberkörper, und dann macht der nächste weiter usw. bis man das Papier auseinanderfaltet und eine Figur vor sich hat, die zwar eine Einheit bildet, die aber aus fünf, sechs gänzlich verschiedenen Teilen besteht, halb Tier, halb Mensch von erstaunlichem Charakter. Und da gab es noch die Darstellung von etwas, was er Objekt nannte. Auch diese Objekte waren Gegenstände der Wirklichkeit, Gegenstände, die wir jeden Tag vor uns sehen, die aber aus einem Teil bestehen, das gar nicht dazu passt, z.B. eine Kaffeetasse, die in Kaninchenhaut eingekleidet ist, oder eine Rattenfalle voller Zuckerwürfel oder die Reproduktion eines Auges, das in einem Metronom hin und her pendelt. Derartige kleine Veränderungen der Wirklichkeit sorgen für Unmut unter uns – und das ist schon mal was. Eine Tasse ist an sich nichts Merkwürdiges, auch nicht ein Stück Fell. Aber eine Tasse, eingekleidet in ein Stück Fell, zusammen wirken sie wie ein ziemlich grausamer Aufschrei, der vielleicht folgenden Sinn ergibt: Halt ein, bevor du deinen Kaffee trinkst, warte ein bisschen, wie lebst du eigentlich? Dies verdirbt uns den Appetit, es stellt unsere Geborgenheit in Frage. Nun kann man sich ja fragen: Warum sollte unsere Geborgenheit in Frage gestellt werden, warum sollten wir uns überhaupt solche Schocks antun? Aber dann antwortet der Dadaist und der Surrealist: Ihr seid gar nicht so geborgen, wie ihr euch einbildet, seht euch nur an, wie die Welt um euch herum beschaffen ist (und dies ist, wie gesagt, mindestens so aktuell heute wie vor dreißig Jahren), ihr seid im Grunde genommen ängstlich, ohne Fantasie und Spontaneität, eigentlich führt ihr ein ziemlich langweiliges und armes Leben. Dieses Gefühl von Sicherheit, das lähmt euch nur noch, es wäre besser, ihr würdet dieses Gefühl verwerfen und stattdessen das Leben als etwas Veränderliches, Fantastisches und Mannigfaltiges sehen! Und dann – wenn wir so weit wären, dann sind wir auf den Kern des Surrealismus gestoßen. Surrealismus, das ist also ein Lebensgefühl, das sich aus dem Dadaismus entwickelt hat, ist aber im Grunde etwas, was es schon immer gegeben hat seit dem der Mensch existiert. Dadaismus war eine Periode der vollständigen Auflösung; es war ein Tanz auf dem Grab der Kunst und eine Zertrümmerung aller Werte, aber als Künstler konnte man auf die Dauer nicht mit dieser Kunstform zufrieden sein, sondern man wollte etwas Neues schaffen, man wollte das Bild vom neuen Menschen weiter entwickeln. Dass man die bestehende Ordnung angegriffen hatte, das war wesentlich, denn diese Ordnung lähmte und verzerrte das Leben. Von nun an sollte der Mensch das untersuchen, was jenseits dieser Ordnung existierte. Das Irrationale, der Traum, die primitive Lust am Spielen sollte von nun an im Vordergrund stehen. Wir müssen daran erinnern, dass dies
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sich Anfang der zwanziger Jahre ereignete, als der Krieg zu Ende war und sich überall ein ungeheures Verlangen nach einem neuen kulturellen Ausdruck ankündigte. Dieser neue künstlerische Ausdruck war überall gleich spürbar, in der Musik, in der Literatur, im Theater und im Film. Der erste, der den neuen Namen Surrealismus – also Überwirklichkeit – verwendete, war André Breton. Breton war während des Krieges Arzt gewesen und dort kam er mit etlichen SchockVerwundeten in Verbindung. Er entdeckte, dass es sie erleichterte, falls sie ausreden durften, wenn sie nur dalagen und wirres Zeug redeten, ohne Kontrolle und ohne Angst, das Teuflische in sich zu verstellen. Breton war nur ein Arzt, der seinen Patienten zuhörte. Und in diesem verworrenen, unartikulierten Wortgestammel tauchten immer wieder entzückende Bilder und Vorstellungen auf, es war, als läge man da und träumte in wachem Zustand. Er machte ähnliche Versuche mit sich selbst – er schrieb genau auf, was ihm einfiel – die Vernunft und sämtliche ästhetische und moralische Bedingungen waren dabei ausgeschaltet – und ließ das Bild seines Unterbewusstseins hervortreten. Breton war der Meinung, dass hinter jedem Menschen ein Dichter oder Maler steckt, denn jeder Mensch kann träumen. Ich glaube, dass jeder von Ihnen diesen Zustand erlebt hat, wenn man sich selbst plötzlich in einer anderen Welt verliert. Man kann dabei in einem Bus sitzen oder hinter einer Maschine oder hinter einem Schreibtisch. Dann entsteht plötzlich das Gefühl, als wäre man weit weg, man sinkt in sich selbst hinein und dann wacht man häufig ziemlich abrupt wieder auf und versucht, das Geträumte wieder von sich zu schieben und hofft, dass keiner es gemerkt hat. Aber eigentlich ist man in Verbindung mit etwas ganz Wertvollem in sich getreten – vielleicht sogar dem Besten, was man hat. Aber dies verneint man stur. Für den Surrealismus dagegen ist gerade dieser Zustand das Fruchtbarste. Und hier, in diesem halb träumenden, lauschenden Zustand ist man nicht nur Surrealist, also einem „Ismus“ zugehörend. So lange es Kunst gegeben hat, gab es diese enge Verbindung mit dem Traum, mit dem Fantastischen und Eigentümlichen im Leben. Das Traumelement gibt es schon in den alten Höhlenbildern, in der ägyptischen und in der mittelalterlichen Kunst. Nur dass es sich bei dem Surrealisten um ein durchaus bewusstes Element seiner Arbeit handelt. Der Traum, was ist ein Traum? Es sind unsere heimlichsten Gefühle, Impulse, Reaktionen, die wir im wachen Zustand verdrängen, es ist alles, wie es Leonardo da Vinci in seinen Tagebüchern beschreibt, wie die Ritzen und Flecken einer alten Mauer ihn inspirieren können. Wenn er auf die Mauer starrt, sieht er in ihr Landschaften, Gesichter und Ritter, und wenn er das Läuten der Glocken hört, so ist es, als hörte er Stimmen, die seinen Namen sangen und riefen. Wenn wir uns Kunstreproduktionen alter Meister anschauen, finden wir immer wieder unwirkliche Be-
392 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT gebenheiten in diesem äußerst sorgfältigen und realistischen Malstil. Das Bild, wie es der Künstler gemalt hat, wird viel mehr als eine Szenerie der Wirklichkeit – es wird zu einer Vision, die Begebenheit, die wir sehen, wird zum Symbol. Ähnlich ist es mit alten Märchen und volkstümlichen Vorstellungen. Denken Sie nur an die Waldnymphe. Sie ist der einsame Traum des Mannes von der Frau, seine Liebessehnsucht – und die Kehrseite dieser Sehnsucht: Das Verbotene, die Warnung vor dem Unerlaubten. In allen Zeiten hat man solche Fabeltiere erfunden, und in Sundsvall auf dem Museum haben wir ja das surrealistische Tier, das Skvader heißt und das irgendein Gaukler aus einem Hasen und einem Waldvogel geschaffen hat – ein sehr fantasievolles Tier. Es gilt also, die Wirklichkeit zu bereichern, ihr zusätzliche Elemente aus unserem Unbewusstseins hinzuzufügen und dadurch ein vielfältigeres Menschenbild zu schaffen. Der Mensch soll demgemäß nicht nur als Vernunftwesen betrachtet werden, als rationales Rad der Gesellschaft, sondern auch als ein Traumwesen. Strindberg schrieb bereits 1902 als Vorwort zu seinem TRAUMSPIEL Folgendes: Der Autor hat in diesem Traumspiel die Nachbildung der unzusammenhängenden, aber scheinbar logischen Form des Traumes nachzuahmen versucht. Alles kann geschehen, alles ist möglich und wahrscheinlich. Die Gesetze von Raum und Zeit sind aufgehoben; die Wirklichkeit steuert nur eine geringfügige Grundlage bei, auf der die Phantasie weiter schafft und neue Muster webt, ein Gemisch von Erinnerungen, Erlebnissen, freien Erfindungen, Ungereimtheiten und Improvisationen. Die Personen spalten sich, verdoppeln sich, vertreten einander, gehen in Luft auf, verdichten sich, zerfließen, fügen sich wieder zusammen. Noch vor Strindberg gab es zwei Poeten in Frankreich, Lautréamont und Rimbaud. Sie verkörperten schon damals und auf eine visionäre Art und Weise die Ideen des Surrealismus. Rimbauds Motto lautete: Man muss sich zum Prophezeier machen! Und von Lautréamont stammt folgender Satz: Wunderbar, wie das Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch. – Dieses wunderbaren Zusammentreffens war man sich jetzt bewusst geworden. Die einfachsten Dinge konnten plötzlich fantastische Elemente enthüllen. Nehmen Sie irgendetwas – eine Kaffeemühle, einen Spielball, eine Schaufensterpuppe und stellen Sie diese Gegenstände auf einen verlassenen Marktplatz – und Sie bekommen ein Sinnbild unserer Zivilisation. Oder – etwas Ähnliches wie die Waldnymphe – ein Mensch sitzt bequem in seinem Sessel und liest die Zeitung, und hinter ihm breitet sich eine Wüste aus. Dies sind Bilder, die dem Menschen seine Situation bewusst machen. Es waren bald viele Maler und Autoren, die sich Breton angeschlossen hatten, viele der alten Dadaisten,
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viele neue Namen. 1924 schrieb Breton sein berühmtes Manifest, mit einer jugendlichen Besessenheit und mit romantischen Träumen über das Wunderbare und Außerordentliche einer neuen Freiheit des Geistes und über eine neue Poesie im Besitz aller, die zusammenfließen würde mit dem reellen Leben und die dem Dasein eine neue Dimension verleihen kann. Nichts außer dem Wunderbaren ist schön, schrieb er. Und so fing diese Entdeckungsreise jenseits der Grenzen der menschlichen Vernunft an. – Am Anfang gab es diese Periode, die fast ausschließlich schlafwandlerisch war, in welcher nur der Traum ausgegraben werden und unbearbeitet dargestellt werden sollte. In der Poesie wurde nur das akzeptiert, was völlig unkritisch und automatisch ist, wie innere Monologe. Es galt das hervorzuheben, was lange versäumt worden war; aber dann kam man zu einer Synthese, zu einer Mischung zwischen der Traumstimme und bewussten Beobachtungen der Wirklichkeit. Und hier fand der Surrealismus seine wahre Stärke. Er sah den Menschen als Ganzheit, er sah sowohl die versteckte nächtliche Seite und die Probleme des wachen täglichen Lebens. Hier ist der Ausdruck des Surrealismus noch jung, hier steht er noch am Anfang. Die Reise ins Unterbewusste wird nie vollendet. Wir haben immer dieses kompakte Gebäude vor uns, das Wirklichkeit heißt mit unseren Gesellschaftsnormen, unseren Pflichten und Sicherheitsmechanismen. Wir können nicht über unsere Erziehung hinweg denken, die uns seit Generationen einseitig das Rationale und Praktische gepredigt hat. Es fordert immer wieder eine Anstrengung, wenn man etwas erobern möchte, das jenseits der rationalen Welt greifbar ist. Und es ist, wie jedes Verständnis der Bildwelt, der Musik und der Dichtung, eine äußerst individuelle Angelegenheit. Der Künstler muss immer einen Impuls geben, einen Tritt, und dann kann auch der Zuschauer, der Zuhörer versuchen, ihm zu folgen. Das war ja das, nämlich das Eitle an allen Kunstvorträgen, was Dali zeigen wollte, als er ins Aquarium hüpfte und da unten im Wasser blubberte. Er wollte nicht mehr als ein Beispiel nennen, er zeigte die Situation des surrealistischen Künstlers: Da unten in einem fremden Element, mit einem Taucheranzug. Dass die surrealistischen Werke so viel Indignation erwecken, bedeutet nicht, dass sie kontrovers sind? Nie wird ein schönes Landschaftsgemälde, ein wohl komponiertes Stillleben solchen Attacken ausgesetzt, aber ein surrealistischer Film oder ein Gemälde oder ein Buch provozieren. Der Zuschauer, der an sein Wirklichkeitsbild gewöhnt ist, betrachtet es als einen Hohn, wenn er mit einer umgedrehten Welt konfrontiert wird. Er will diese Verrücktheiten oder Fieberträume nicht wahr haben. Und im Grunde war ihm noch nie eine Kunst näher. Es gab nie eine Kunst, die sich ausschließlich mit dem Menschen beschäftigt hat. Aber es ist der unbekannte Mensch, mit dem sie sich beschäftigt.
394 | R AUSWÜHLEN, RAUSKRATZEN AUS EINER M ASSE VON SCHUTT Es gibt nicht viele Menschen, die sich trauen, in sich selbst hinein zu gehen. Jeder hat in sich seine besondere psychische Landschaft, mit bedrohlichen Figuren oder Göttern, jeder trägt Gestalten in sich, die er hasst oder liebt, jeder kann einerseits eine unbegrenzte Freiheit spüren und andererseits auch diese Barrieren, die entstehen. Jeder hat seine Schnörkel in sich und seine Luftschlösser. Trotzdem gibt es viele, die behaupten, dass dies Belanglosigkeiten sind; die Kunst soll sich nicht damit beschäftigen, sondern mit dem Großen und Objektiven. Der Surrealist sagt: Du irrst dich. Dies sind keine Belanglosigkeiten, im Gegenteil, es ist das Einzige, was Belang hat, es geht dich an, es ist dein Leben. Wenn du vor einem Gemälde stehst, siehst du einen Menschen, der allein zwischen kalten toten Gegenständen steht, so überlege, ob du nicht das auch mal erlebt hast. Erkennst du dich nicht, wie du so allein in deinem Büro stehen kannst, in deiner Werkstatt, ja, sogar in deinem eigenen Zuhause? Wenn du dieses Gefühl zulässt, kannst du vielleicht eine Möglichkeit finden, diesem Gefühl der Einsamkeit entgegenzuwirken, und du kannst nachspüren, ob es nicht irgendetwas in dir gibt, das dich Herr machen kann über den sterilen und leeren Raum, der dich umgibt. Lass die Fantasie leben! Es gab einen Postboten um 1900, der hieß Cheval. Er ist beinahe ein Schutzheiliger der Surrealisten geworden, denn er verwirklichte in seinem Leben dieses surrealistische Ideal, von seinen Träumen zu leben. In vielen Jahrzehnten, bis zu seinem Tod baute er in seiner Freizeit an einem fantastischen Palast aus Lehm, Steinen und Muschelschalen. Man konnte in diesem Palast nicht wohnen, er stand nur als Dekoration auf seinem Grundstück[.]2 […] [W] ir sehen z.B. Uhren, die wegschmelzen und somit ein Gefühl der entrinnenden Zeit von der Ewigkeit vermitteln, oder wir sehen deformierte Menschen auf Krücken, sie vermitteln ein Gefühl von Hilflosigkeit und innerer Lähmung. Immer wieder finden wir alltägliche Begebenheiten, umgeben von einer geheimnisvollen und manchmal auch ziemlich grausamen Atmosphäre. Es ist selten so, dass wir eine Idylle finden – immer spielt unsere Gegenwart mit, mit ihrer Unsicherheit und Unruhe – keine Kunst will uns etwas vortäuschen, sie will uns nur unser eigenes Leben zeigen. Dem Besonderen, was wir in der surrealistischen Malerei begegnen, das ist also die Dualität des Lebens, die Vielfalt des Lebens, es sind Bruchstücke der Wirklichkeit, die in einer inneren Welt geordnet sind: Gefühle und auch banale Sachen wie Uhren, Gabeln, Hüte, Instrumente, Werkzeuge, sie bekommen in der surrealistischen Kunst ein Leben und sie stehen uns sehr nahe. Diese Dinge be-
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Hier fehlt eine Passage im Typoskript, das lückenhaft wieder fortgesetzt wird.
A NHANG : „S KULLE JAG
VARA RIKTIGT KONSEKVENT …“
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kommen hier ihr eigenes Leben, eine eigene Poesie und häufig erhalten sie eine Art kosmischen Hintergrunds.
Lettre Sebastian Thede Hasard-Schicksale Der literarische Zufall und das Glücksspiel im 19. Jahrhundert Februar 2017, ca. 430 Seiten, kart., Abb., ca. 47,99 €, ISBN 978-3-8376-3521-8
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Erhard Schüttpelz, Martin Zillinger (Hg.)
Begeisterung und Blasphemie Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2015 Dezember 2015, 304 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-3162-3 E-Book: 14,99 €, ISBN 978-3-8394-3162-7 Begeisterung und Verdammung, Zivilisierung und Verwilderung liegen nah beieinander. In Heft 2/2015 der ZfK schildern die Beiträger_innen ihre Erlebnisse mit erregenden Zuständen und verletzenden Ereignissen. Die Kultivierung von »anderen Zuständen« der Trance bei Kölner Karnevalisten und italienischen Neo-Faschisten sowie begeisternde Erfahrungen im madagassischen Heavy Metal werden ebenso untersucht wie die Begegnung mit Fremdem in religiösen Feiern, im globalen Kunstbetrieb und bei kolonialen Expeditionen. Der Debattenteil widmet sich der Frage, wie wir in Europa mit Blasphemie-Vorwürfen umgehen – und diskutiert hierfür die Arbeit der französischen Ethnologin Jeanne Favret-Saada. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 18 Ausgaben vor. Die ZfK kann – als print oder E-Journal – auch im Jahresabonnement für den Preis von 20,00 € bezogen werden. Der Preis für ein Jahresabonnement des Bundles (inkl. Versand) beträgt 25,00 €. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Gesine Lenore Schiewer, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 6. Jahrgang, 2015, Heft 2
Dezember 2015, 204 S., kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-3212-5 E-Book: 12,80 €, ISBN 978-3-8394-3212-9 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht. Lust auf mehr? Die ZiG erscheint zweimal jährlich. Bisher liegen 12 Ausgaben vor. Die ZiG - als print oder E-Journal - kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 22,00 € bezogen werden. Der Preis für ein Jahresabonnement des Bundles (inkl. Versand) beträgt 27,00 €. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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