Raum- und Zeitreisen: Studien zur Literatur und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts [Reprint 2015 ed.] 9783110940497, 9783484401372

In terms of motion and narration, travel and travel accounts represent a conflation of spatial and temporal experiences.

290 5 11MB

German Pages 194 [196] Year 2003

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Table of contents :
Einleitung
Naturverlust – Raumverlust – Zeitverlust. Überlegungen im Ausgang von den Flug- und Reisebildern in Jean Pauls Titan
Darwins Voyage of the Beagle: Eine Zeitreise zu den Grenzen der Erde
Von Zeit-, Raum- und Photoreise: Francis Frith, der Nahe Osten und das viktorianische Publikum
„Fixed Periods“. Euthanasie als disziplinierte Zeittechnologie in Uchronien und Utopien des ausgehenden 19. Jahrhunderts
Zeit, Raum und der totalisierende Blick in der englischen Literatur um 1900
Maschine und Droge
The Dynamic Sublime: Geschwindigkeit und Ästhetik in der Amerikanischen Moderne
New Conceptions of Space: Experimentation and Crisis of Representation in Modernism
Wunderliche Fiktionen: Gottfried Kellers und Thomans Manns Erfindungen Italiens
After London – Die Metropole als Zukunftsruine bei Richard Jefferies (1885) und Ronald Wright (1997)
Als das Reisen noch geholfen hat: Redmond O’Hanlons retro-viktorianische Erkundungsfahrten
Literarische Reisen und ihre Bifurkation ins Bewußtsein
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Raum- und Zeitreisen: Studien zur Literatur und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts [Reprint 2015 ed.]
 9783110940497, 9783484401372

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Raum- und Zeitreisen Studien zur Literatur und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts

Raum- und Zeitreisen Studien zur Literatur und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts Herausgegeben von Hans Ulrich Seeber und Julika Griem

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2003

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-40137-0 © Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2003 http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Nadele Verlags- und Industriebuchbinderei, Nehren

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1

Christoph Hubig Naturverlust - Raumverlust - Zeitverlust. Überlegungen im Ausgang von den Flug- und Reisebildern in Jean Pauls Titan

13

Stephan Kohl Darwins Voyage of the Beagle: Eine Zeitreise zu den Grenzen der Erde

25

Caecilie Weissen Von Zeit-, Raum- und Photoreise: Francis Frith, der Nahe Osten und das viktorianische Publikum

37

Eckart Voigts-Virchow „Fixed Periods". Euthanasie als disziplinierte Zeittechnologie in Uchronien und Utopien des ausgehenden 19. Jahrhunderts

53

Hans Ulrich Seeber Zeit, Raum und der totalisierende Blick in der englischen Literatur um 1900

73

Elmar Schenkel Maschine und Droge

87

Klaus Benesch The Dynamic Sublime: Geschwindigkeit und Ästhetik in der Amerikanischen Moderne

101

Stefania Michelucci New Conceptions of Space: Experimentation and Crisis of Representation in Modernism

119

VI

Peter Gendolla Wunderliche Fiktionen: Gottfried Kellers und Thomans Manns Erfindungen Italiens

127

Barbara Körte After London - Die Metropole als Zukunftsruine bei Richard Jefferies (1885) und Ronald Wright (1997)

139

Julika Griem Als das Reisen noch geholfen hat: Redmond O'Hanlons retro-viktorianische Erkundungsfahrten

157

Ludwig Pfeiffer Literarische Reisen und ihre Bifurkation ins Bewußtsein

171

Einleitung

Fragestellungen und Problembereiche Was der vorliegende Band, der auf ein Stuttgarter Kolloquium über „Raum- und Zeitreisen in der Literatur und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts" zurückgeht, leisten will, ist nicht so sehr die Bereitstellung neuerer Materialien und Überlegungen zur Gattungsgeschichte des Reiseberichts. Hierzu liegt zumindest für den anglistischen Bereich eine wohlinformierte Darstellung vor.1 Vielmehr geht es im Lichte der Beschleunigungsthese neuerer Moderne-Theorien von Virilio2 bis Koselleck 3 um Analysen der Verschränkung und der Infragestellung von Raum- und Zeitreisen, wie sie in Literatur, Kunst und Medien des 19. und 20. Jahrhunderts beobachtet werden können. Gewiß: wie wir seit Kants transzendentaler Ästhetik (Kritik der reinen Vernunft) wissen, sind Raum und Zeit notwendige Bedingungen jeglicher Anschauung und Erfahrung, bedürfen folglich prinzipiell Reisen im Raum der Zeit und umgekehrt. Ein dualistisches Verständnis von Raum und Zeit wird also schon Kants korrelativer Konzeption nicht gerecht. Der Begriff Erfahrung selbst offenbart, wenn man seinen metaphorischen Kern freilegt, den Zusammenhang von Fahren und Wissen. Im Reisen er-fahre ich die Welt und ihre Geschichte, die andere Kultur, und das Resultat dieses Fahrens ist die Erfahrung. Die Erfahrung des Historikers ist das Reflexionsprodukt einer erfahrungsgesättigten Reise durch Raum und Zeit. Da die Hinterlassenschaft der Zeit in Schichten - sich ändernden Techniken, Werkzeugen, Produktionsweisen, Architekturstilen, Schreibweisen etc. - allenthalben wahrnehmbar ist, zumal dann, wenn diese kulturellen Erzeugnisse und Zeugnisse sich rasch ändern, ist jeder Gang durch die Kulturräume der Moderne zugleich in besonders auffälliger Weise eine Reise in die Vergangenheit. In künstlerischen Interpretationen der nicht zuletzt aufgrund der Transportrevolution des 19. und 20. Jahrhunderts beschleunigten Geschichte und Kultur Europas und Amerikas sind Reisen im Raum deshalb oft gezielt als Reisen in die Zeit angelegt und umgekehrt. Just dieses Verfahren ist nun allerdings neu und nicht auf die Gattung des Reiseberichts beschränkt. George Eliot bringt in Felix Holt, The Radical (1866) mittels einer Kutschenreise die Umwandlung Englands von einem Agrar- in einen Industriestaat sinnfällig zur Anschauung:

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B. Körte, Der englische Reisebericht. Von der Pilgerfahrt bis zur Postmodeme. Darmstadt 1996. P. Virilio, Der negative Horizont. Bewegung, Beschleunigung. Frankfurt/M. 1999. R. Koselleck, Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt/M. 2000, vor allem Kap. Π.

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Einleitung In these midland districts the traveller passed rapidly from one phase of English life to another: after looking down on a village dingy with coal-dust, noisy with the shaking of looms, he might skirt a parish all of fields, high hedges, and deep-rutted lanes; after the coach had rattled over the pavement of a manufacturing town, the scene of riots and tradesunion meetings, it would take him in another ten minutes into a rural region, where the neighbourhood of the town was only felt in the advantages of a near market for corn, cheese, and hay, and where men with a considerable banking account were accustomed to say that 'they never meddled with politics themselves.' The busy scenes of the shuttle and the wheel, of the roaring furnace, of the shaft and the pulley, seemed to make but crowded nests in the midst of the large-spaced, slow-moving life of home-steads and far-away cottages and oak-sheltered parks. Looking at the dwellings scattered amongst the woody flats and the ploughed uplands, under the low grey sky which overhung them with an unchanging stillness as if Time itself were pausing, it was easy for the traveller to conceive that town and country had no pulse in common, except where the handlooms made a farreaching straggling fringe about the great centres of manufacture; that till the agitation about the Catholics in '29, rural Englishmen had hardly known more of Catholics than of the fossil mammals. 4

Spielt schon Eliot mit der Wendung „fossil mammals" auf die Temporalisierung der Naturgeschichte durch die Entdeckungen der Geologie an, so deutet Marlow analog hierzu in Conrads Heart of Darkness (1902) seine Dampfschiffreise den Kongo hinauf als Reise in die primitive Urzeit der menschlichen Rasse: „Going up that river was like travelling back to the earliest beginnings of the world, where vegetation rioted on the earth and the big trees were kings [...] We were wanderers over prehistoric earth that wore the aspect of an unknown planet." 5 Mit dem unbekannten Planeten spielt Conrad wohl auf die Science Fiction des von ihm bewunderten H.G. Wells an. In The Time Machine (1895) erfährt der Zeitreisende die Zukunft Englands als bekannt-unbekannten Raum aus dekadenter Oberwelt und kannibalistischer Unterwelt. Der Illusionismus einer rasend schnellen Zeitreise läßt ihn, analog zur Wirkungsweise eines Zeitraffers, 6 langfristige Entwicklungsverläufe als die impressionistisch verschwimmenden Konturen der Errichtung und des Verschwindens von Gebäuden erleben. Moderne Museen - auch Wells spielt in The Time Machine schon mit diesem Motiv einer räumlichen Zeitbewahrung, die selbst der Zeitlichkeit unterworfen ist - , Weltausstellungen (The Crystal Palace seit 1851), Archive und photographische Dokumentationen erlauben es schließlich im Sinne des Prinzips der repräsentativen Sammlung auf engstem Raum zeitliche Schichten von persönlichen und kollektiven Veränderungsprozessen abzuschreiten. Das in diesen Prozessen Entschwindende wird erst wieder mittels der Betrachtung der zeitgenössischen künstlerischen und medialen Repräsentationen zugänglich, die den bedeutungsvollen Augenblick festgehalten haben. Die um 1900 längst etablierte Geschwindigkeitskultur (Eisenbahn, Telegraph, Telefon, etc.) stürzt allerdings in Verbindung mit der jetzt einsetzenden 4 5 6

G. Eliot, Felix Holt, The Radical. 1866. Harmondsworth 1972. S. 79-80. J. Conrad, Heart of Darkness. 1902. London 1985. S. 66-68. Vgl. W. Oeder,„Die wirklich erste Zeitmaschine: Erkundigungen zu H.G. Wells' The Time Machine". In: Zeitreise. Bilder/Maschinen/Strategien/Rätsel. Hg. von G. C. Tholen u.a. Frankfurt/M. 1993. S. 27-45; hier S. 37.

Einleitung

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Erkenntnisskepsis die herkömmliche Idee der Raum- und Bildungsreise in eine Krise, auch wenn sie, zumeist in touristischer Form, bis heute lebendig geblieben ist. Wie verhält sich die entfesselte Mobilität zu dem, was man sinnvoll Reise - die weitgehend zeitresistente Pragmatik von Geschäftsreisen, Handelsreisen, Forschungsreisen oder diplomatischen Missionen wird hier nicht weiter beachtet - bzw. Bildungsreise nennen kann? Reise in diesem Sinne setzt einen informations- und erlebnishungrigen Reisenden, eine Reiseroute und ein Reiseziel voraus. Wird die Geschwindigkeit der Reise, wie im Zeitalter des Düsenjets und der Hochgeschwindigkeitszüge, so groß, daß die zu überwindende räumliche Entfernung tendenziell zu einem Punkt schrumpft, dann vermag der Reisebericht eigentlich nur noch etwas über den Abfahrtsort, den Zielort und die Modalitäten des Transports zu berichten, nichts aber mehr über die Reise als sinnlich-geistige Wahrnehmung der Menschen, Gebäude und Landschaften, denen man beim Durchreisen begegnet. Was man wahrnimmt und erfährt, sind Technik und Organisation des Transports, auch die Mitreisenden, nicht aber die Alterität dessen, was man geschoßartig durcheilt. Mehr noch: Sind im Zeitalter der Medien und der elektronischen Informationsbeschaffung, aber auch der globalen Nivellierung, für den Reisenden Erkenntniszuwachs und Selbstexpansion durch Reisetätigkeit wie im klassischen Zeitalter der Verbindung von Bildung und Reise, nämlich dem 18. Jahrhundert, überhaupt noch möglich? Ist das kulturell Andere, dem man sich in Reisen aussetzt, dem Verstehen wirklich zugänglich? Solche Infragestellungen der Bildungsfunktion herkömmlicher Raumreisen lassen seit Freuds Die Traumdeutung (1900) das Programm einer Reise nach innen entstehen, das in zahlreichen Romanen von Virginia Wolf bis Doris Lessing verhandelt wird und schon bei Louis Stevenson die Darstellung der äußeren Reise zu verdrängen beginnt. - Die Vertextung und mediale Vermittlung der Welt - fast alle denkbaren Reiserouten liegen in der Regel als Text oder Film schon vor - befördern, in Verbindung mit der Industrialisierung des Reisens, auch jenen Hunger nach Authentizität, der, ohne letztlich befriedigt werden zu können, zur Wiederbelebung der archaischen Reiseform des Gehens (Hillaby, Chatwin) 7 führt. Denn Reisen ohne aktive Körperbeteiligung und konkrete Wahrnehmung wird schon seit der Romantik als Verlust- und Schwundform eingeschätzt.8 Welche Modi der Reise in die Zukunft und in die Vergangenheit eröffnen der wiederbelebte Mythos (Apokalypse) und die Einsteinsche Relativitätstheorie? Manche Astrophysiker halten aufgrund der Einsteinschen Theorie Reisen in die Zukunft im Prinzip für möglich,9 während die Botschaften, die uns das Licht aus dem Weltraum zuträgt, aufgrund der Endlichkeit der Lichtgeschwindigkeit tiefe Blicke in die Vergangenheit des

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J. Hillaby, Journey Through Love (1978); auch Journey Through Britain, Journey Through Europe. B. Chatwin, Patagonia (1977), The Songlines (1987). Vgl. Η. U. Seeber, „Von den Wordsworths zu De Quincey: Gehen und Kutschenfahren in der englischen Romantik oder die Entdeckung der Gewalt der Geschwindigkeit". In: Romantik. Hg. von V. Alexander und M. Fludemik. Trier 2000. S. 7-32. Vgl. J. R. Gott, Zeitreisen in Einsteins Universum. Reinbek 2002.

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Einleitung

Universums erlauben. Die SF spielt deshalb mit Zeitpatrouillen 10 oder spekuliert darüber, welche Zukunft aus Interventionen in die Vergangenheit entsteht, möglicherweise Parallelwelten (Multiversum). Die Aufmerksamkeit des Kolloquiums galt allerdings weniger dem bekannten Inventar der SF-Zeitreisen als Verschiebungen des Raum-Zeit-Gefüges im Gefolge des Modernisierungsprozesses. Während vor allem in den USA der liberale Fortschrittsglaube des 19. und 20. Jahrhunderts die moderne Geschwindigkeitskultur enthusiastisch begrüßt, meldet sich, zunächst vereinzelt (Thoreau, Ruskin, Morris, Henry Adams), auch die Erkenntnis, daß die Zerstörung traditioneller Rituale und Sicherungen die Menschen der Moderne in eine quasinomadische Existenz zurückkatapultiert," sie geistig und oft genug auch physisch in Getriebene, Suchende, Heimatlose verwandelt. Erst die Postmodeme macht aus dieser Not eine Tugend, indem sie (Homi Bhabha) entgegen der traditionellen Abwertung des Nomadischen 12 Migration, entfesselte Mobilität, das Leben im Übergang, die Differenz romantisierend als Bereicherung und Chance deutet. Eine andere Rechnung macht bekanntlich die Tradition der Kulturkritik auf. Welche Formen nimmt z.B. seit der Romantik die kulturkritische, das Ideal der Langsamkeit erst entdeckende Auseinandersetzung mit der modernen Geschwindigkeitskultur an, die zu einem beträchtlichen Teil ja für die Fragmentierung moderner Wahrnehmung, das Vorherrschen des Konstruktionsbegriffs und die zentrale Bedeutung des Montageprinzips verantwortlich zeichnet? Kann man, wie oben angedeutet, seit 1800 von einer Pathologisierung des Reisens sprechen? Erklärt sich die eine langsame Lektüre erzwingende Komplexität modemer Literatur nicht u.a. aus dem Paradox, daß sie die Verfahren der modernen Geschwindigkeitskultur (Montage, perspektivische Brüche und Sprünge) in kulturkritischer Absicht, als Gegengift gegen die rasende Herstellungs- und Verbrauchsgeschwindigkeit oberflächlicher Massenliteratur, nutzt? Erfordert die Sicherung und Vergewisserung kultureller Identität angesichts der Gegenwartsschrumpfung 13 nicht ständiges Arbeiten an der Vergangenheit, eine ständige Vermittlung von Gegenwart und Historie? Dies geschieht u.a. in postmodemer historiographic metafiction auf breiter Front, gerade auch in retro-viktorianischen Romanen, die in der reflektierten Bearbeitung viktorianischer Muster von Reise- und Zukunftsfiktionen Raum- und Zeitreisen verknüpfen. Ist es tatsächlich so, daß die Krise der Geschichtsphilosophie, der großen Erzählung, und die Schrumpfung des Globus zum Punkt im Zeitalter der elektronischen Nachrichtenübertragung Monitor, Fläche und Raum, d.h. die Simultaneität des Verschiedenen, die Zeit und den Historismus des 19. Jahrhun-

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Vgl. P. Anderson, The Time Patrol (1991). Vgl. P.L. Berger, B. Berger und H. Kellner, The Homeless Mind: Modernization and Consciousness. New York 1973. Vgl. Η. Paul, „The Rhetoric and Romance of Mobility: Euro-American Nomadism Past and Present". In: ZAA, 49,2001, 3. S. 216-223. Vgl. Η. Lübbe, Modernisierung und Folgelasten: Trends kultureller und politischer Evolution. Berlin, Heidelberg 1997.

Einleitung

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derts als beherrschendes Paradigma verdrängt haben?14 Sicherlich nicht in jeder Hinsicht, setzt doch die Postmoderne zumindest aus sozialwissenschaftlichem Blickwinkel die technisch-ökonomischen Modernisierungsprozesse ungehemmt fort. Auch hat die regional-räumliche Vielfalt der Kulturen auf dem Globus u.a. mit unterschiedlichen Veränderungsgeschwindigkeiten zu tun, es sei denn, man unterstellt archetypische mentale und kulturelle Differenzen. Eine Folge dieser Verschiebungen dürfte aber doch sein, daß „naive", „klassische", am Modell der Linearität ausgerichtete Raum- und Zeitreisen unter solchen Voraussetzungen einer größeren Reflexivität weichen müssen, die dann auch mit der künstlerischen Postmodeme einsetzt. Weltreise und Weltgeschichte ä la Verne (Around the World in Eighty Days, 1872) und Wells (A Short History of the World, 1922) müssen bei Julian Barnes (A History of the World in 10 ¥2 Chapters, 1995) ihren totalisierenden Gestus aufgeben zugunsten einer ironisch perspektivierten Weltgeschichte aus heterogenen Erzählformen und marginalen Begebenheiten. An die Stelle der sinnvollen teleologischen Einheit und Zielgerichtetheit rückt das Chaos, das nur insofern eine Ordnung aufweist, als es unentwegt das Muster von Kampf ums Überleben und Tod wiederholt. Erkenntnisskepsis, Sinnverlust und die Thematik der Katastrophe bedeuten darüber hinaus, daß Barnes mit seiner immer wieder aus kleinen Reiseerzählungen bestehenden Darstellung der Weltgeschichte die seit der Renaissance gültige Reiselogik des imperialen Reisens, die den besitzergreifend-panoramischen Blick pflegt und politisch, ökonomisch, ideologisch und wissenschaftlich motiviert ist,15 aus den Angeln hebt. Welche Bewandtnis es mit Noahs Arche „tatsächlich" auf sich hat, erfahren wir aus dem Blickpunkt eines Holzwurms. Die seit der industriellen und der Französischen Revolution von allen Beobachtern hervorgehobene Mobilisierung aller Verhältnisse bewirkt eine Verschärfung und Radikalisierung alter Oppositionen in bislang ungeahntem Ausmaß: Geschwindigkeit vs. Langsamkeit, Augenblick vs. Dauer, Gegenwart vs. Vergangenheit, Dynamik vs. Statik, Zeit vs. Raum, Bewegung vs. Ruhe, Zeitlichkeit vs. Zeitlosigkeit. Indem die Mobilisierung notwendig ihr Gegenteil 14

Vgl. zu dieser Problematik E.W. Soja, Postmodern Geographies: The Reassertion of Space in Critical Social Theory. London, New York 1989 und P. Sloterdijk, Tau von den Bermudas: Über einige Regime der Einbildungskraft. Frankfurt/M. 2002. Sloterdijk stellt fest: „Die Joycesche Buchseite ist bereits ein Monitorfeld: auf diesem gibt es nur noch Layoutprobleme und keine Übersetzungsfragen mehr. Wo Weltgeräumigkeit nicht länger durch einen Vektor des Verlangens ausgespannt und von Transportern durchflogen wird, wie es in unsere Neuzeitkunst die Regel war, sondern wo alle Weltpartikel bereitstehen, um auf definierten Erscheinungsfeldern schnell zusammengeführt zu werden, dort löst eine Poesie der zusammentragenden Kombination die Poesie des weitgreifenden Transports ab. Die Joycesche Seite ist hierin die perfekte Antizipation des Bildschirms - sie besitzt bereits die Raumform der monitorialen Fläche ebenso wie die des musealen Kubus" (S. 51). Diesen Paradigmawechsel hat offenbar auch Foucault im Auge, wenn er den Begriff der Fortschritt unterstellenden Utopie durch den der Heterotopie ersetzt. Vgl. M. Foucault, „Of Cither Spaces". In: Diacritics, Spring 1986. S. 22-27.

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Vgl. die Klassiker M. Park, Travels in the Interior District of Africa (1799), D. Livingstone, Missionary Travels and Researches in South Africa (1857), History of the Expedition under the Command of Captains Lewis and Clark to the Pacific Ocean (1814).

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Einleitung

hervortreibt, schafft sie eine konfliktreiche soziale, kulturelle und weltanschauliche Situation, deren Repräsentation und Deutung gerade die moderne Literatur und Kunst entscheidend prägt. Nicht zufällig ist bei Woolf und Joyce nicht nur von „moments of vision" die Rede, nicht nur vom Strom der Erinnerung und der gehenden Erforschung des Großstadtlabyrinths, sondern auch von der Transzendierung des Zeitlichen und - implizit - von raumzeitlicher Simultaneität. Oder anders gewendet: solche Versuche, der Zeitlichkeit ihren zerstörerischen Charakter zu nehmen und durch die Hinwendung zur subjektiven Erlebniszeit der industriell inspirierten Zeitkontrolle zu entgehen, konvergieren in dem Bemühen, die Jetztzeit der Gegenwart wieder mit Sinn anzureichern. Die oft beschworene Spatialisierung16 in der modernen experimentellen Kunst darf aber nicht als bloßes Verdrängen der temporalen Dimension der Moderne mißverstanden werden. Moderne Kunst verhandelt und inszeniert vielmehr, gerade auch mit ihren Reisemotiven, eine ganz neue, durch die Modernisierung erst entstandene Qualität der Beziehung zwischen Raum und Zeit, Statik und Dynamik, die sich schon bei George Eliot17 ankündigt und bei Jane Austen noch nicht zu finden ist. Um die Frage zu beantworten, wie Künste und Medien des 19. und 20. Jahrhunderts auf solche Spannungen antworten, wandte sich das Kolloquium Darstellungen von Raum- und Zeitreisen im weitesten Sinne zu. Ins Blickfeld gerieten also nicht nur Lokomotionen (und zugleich Zeitreisen) und ihre Darstellung in Reiseberichten, von Darwins klassischer Forschungsreise Voyage of the Beagle (1839) bis zu Ronald Wrights Jefferies-Bearbeitung Α Scientific Romance (1997), nicht nur explizite Zeitreisen (Wells, The Time Machine) wie in der Science Fiction, sondern z.B. auch religiös inspirierte Antizipationen der Zukunft (Eschatologie, Apokalypse) in der Moderne und Photographien als Zeugnisse subjektiven und kollektiven vergangenen Erlebens. Mit Reise sind also vorderhand auf das erlebende Subjekt des Reisenden bezogene Arten der Fortbewegung im Raum im Blick, die sich vom bloßen Transport unterscheiden, metaphorisch aber auch Gedächtnisorte (Archiv, Museum) sowie subjektive und kollektive Reisen in die Vergangenheit und in die Zukunft. Die unerschöpfliche Quelle mentaler Zeitreisen ist die Phantasie, d.h. das Gehirn, das, ohne den Science-Fiction-Illusionismus einer wissenschaftlich-technisch durchgeführten Zeitreise zu bemühen, längst verblichene Vorstellungsbilder wiederbelebt, oder qua historischer Roman vergangenen Kulturen den Schein des Lebens verleiht, oder uns qua Erinnerung täglich und stündlich mit der Vergangenheit verbindet. Bei der Interpretation des Begriffs Zeitreise schränkte das Kolloquium die Bedeutung also nicht auf die SF-Konvention (Reisen in die Zukunft, Reisen in die Vergangenheit, Reisen aus der Zukunft) ein, sondern nutzte auch die metaphorische Bedeutung, um beispielsweise die wie auch immer motivierte Verknüpfung von Raumreise und Reise nach innen, die in der Regel eine Reise

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Vgl. J. Frank, The Idea of Spatial Form. New Brunswick 1991. Vgl. G. Bachmann, Philosophische Bewußtseinsformen in George Eliots Ironie - Melancholie - Sympathie. Frankfurt/M. 2000.

„Middlemarch".

Einleitung

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in die Vergangenheit ist - die raumzeitliche Tiefendimension der Ortsbeschreibungen Hardys mit Hilfe eines hypothetischen Reisenden (vgl. den Anfang von The Woodlanders) spiegelt just diese Struktur - , in das Blickfeld zu rücken.

Die Beiträge Die aus dem Kolloquium „Raum- und Zeitreisen in der Literatur und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts" hervorgegangenen Studien beschäftigen sich mit wörtlichen und metaphorischen, mit realen und imaginierten Reisen. Christoph Hubig stimmt mit seinem Beitrag aus philosophischer Perspektive darauf ein, wie Bewegungen in Raum und Zeit unterschiedlich semantisiert und funktionalisiert werden können. Seine Lektüre von Jean Pauls Roman Titan entwirft zudem einen historischen Kontext von Modernisierungsprozessen, der auch für die weiteren Beiträge des vorliegenden Bandes geltend gemacht werden kann: Suchte sich das reisende Subjekt der Aufklärung noch „zum Herrn seines Umgangs mit Raum und Zeit zu ermächtigen", so ist das Zeitalter der Postmodeme nicht nur von den bereits erwähnten Prozessen einer Enträumlichung und Entzeitlichung, Beschleunigung und Popularisierung, sondern auch der Verinnerlichung und Virtualisierung des Erfahrungsmodus des Reisens gekennzeichnet. Diese postmoderne Disposition wird im Titan durch die „seltsam aktuelle Figur" des Luftschiffers Gianozzo antizipiert, der sich aus einer losgelösten Vogel-Perspektive beliebige Bilder der Welt imaginiert. Als negative Kontrastfigur zum Protagonisten Albano stärkt der Luftschiffer vor allem mit seinem finalen Absturz allerdings die aufklärerischen Positionen des Romantextes: Wo Gianozzo sich in einer eskapistischen Virtualität verliert, entwirft Jean Paul in der Flug-Motivik des Romans für Albano einen alternativen Bildungsgang, in dem Natur-, Raum- und Zeitverluste als produktive Perspektivenwechsel genutzt werden. Geht es Hubig um eine kulturphilosophisch zu deutende Metaphorik des Reisens, so wenden sich Stephan Kohl und Caecilie Weissen konkreten und realen Reisen im 19. Jahrhundert zu. In beiden Fällen stellt die Raumreise auch eine Reise in vergangene Zeiten dar: Während Kohl am Beispiel von Darwins Voyage of the Beagle die Exploration unbekannter geographischer Regionen und naturgeschichtlicher Frühzeit diskutiert, erörtert Weissert, wie der englische Photograph Francis Frith den Nahen Osten als archäologischen Erinnerungsraum präsentiert. In beiden Fällen markiert die Raum- und Zeitreise zudem eine exemplarische Umbruchsituation. So zeigt Kohl, wie der junge Darwin seinen Erzähler als Identifikationsfigur aufbaut und die ästhetische Konvention des Erhabenen nutzt, um die viktorianischen Leser mit der durch Charles Lyells geologische Studien eröffneten Vorstellung einer deep time vertraut zu machen, ohne die offene Konfrontation mit den Doktrinen der Schöfpungsgeschichte zu riskieren. Weissert demonstriert, wie auch Francis Frith auf Traditionsbestände zurückgreift, um sich die Akzeptanz des viktorianischen Publikums zu sichern:

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Einleitung

Hier kann sich die Photographie als dokumentarisches Medium nationaler Selbstdarstellung und Geschmacksbildung etablieren, weil Friths Reiseberichte an literarische und malerische Konventionen von Reisedarstellungen der Grand Tour anschließen. Die durch die Geologie und Evolutionstheorie angestoßene Dynamisierung und Fragmentarisierung der Zeiterfahrung ruft insbesondere im viktorianischen England vielfältige Legitimationskonflikte und Kompensationsstrategien hervor. Daß diese in literarischen Texten antizipiert und reflektiert werden, eröffnen die Beiträge von Eckart Voigts-Virchow, Hans Ulrich Seeber, Elmar Schenkel, Stefania Michelucci und Klaus Benesch. Voigts-Virchow beschreibt einerseits mit Blick auf die in Grossbritannien um 1879 einsetzenden Euthanasie-Debatte, wie eine „in gleichmäßige Stücke zerhackte und ökonomisierte Lebenszeit" zur Bewältigung einer problematisch gewordenen Zeiterfahrung genutzt werden kann, indem Lebenszeit und Arbeitsabläufe operationalisierbar und disziplinierbar gemacht werden. Er zeigt andererseits am Beispiel von Trollopes ambivalenter Satire The Fixed Period (1881/82), daß viktorianische Utopien und Uchronien die Handlungsmacht utilitaristischer Zeitvorstellungen auch in Frage stellen. Eine andere Reaktion auf die Beschleunigungs- und FragmentierungsTendenzen des 19. Jahrhunderts stellen totalisierende Panorama-Blicke dar. Seeber diskutiert die panoramische Perspektive als „auf Orientierung abzielenden Zugriff aufs Ganze", der sowohl Befriedigung als auch Schwindel und Erschauern verschaffen kann. Aufgrund dieser ambivalenten Wirkung kann der panoramische Blick, wie am Beispiel des schon von Hubig im Titan verfolgten Motivs des ,,Flug[s] des Geistes" entwickelt wird, in unterschiedlichen Gattungen sowohl kulturkritisch als auch fortschrittsoptimistisch funktionalisiert werden. In modernen Texten wie James Joyces Kurzgeschichte „After the Race" wird der einheitsstiftende Anspruch des panoramischen Blicks allerdings aufgegeben und durch die mikroskopische Konzentration auf Konkretes und perspektivische Brechungen abgelöst: Hier führt der Anlaß eines internationalen Autorennens keinesfalls das Ideal einer kosmopolitisch operierenden Weltkommunikation vor, sondern lenkt unseren Blick auf imperialistische Konflikte und die Unvereinbarkeit nationaler und regionaler Ansprüche. Daß dieser in modernistischen Texten inszenierte mikroskopische Blick über eine viktorianische Vorgeschichte verfügt, zeigt Schenkel in seinem Beitrag. Er deutet Zeitreisen als neuronales Geschehen und skizziert eine Tradition drogeninduzierter Rauscherfahrungen, in denen sich eine Kehrseite von Modernisierungs- und Beschleunigungsprozessen manifestiert: dem utilitaristischen Effizienz-Denken steht eine Kultur der Nervosität gegenüber; neben den zeitraffenden Panoramen kommt es zu einer zeitdehnenden Konzentration auf den Augenblick, die nicht erst bei Ernst Jünger, sondern schon bei de Quincey durchgespielt und von Sherlock Holmes als erkenntnis-stimulierende Methode praktiziert wird. Benesch erweitert die Diagnose einer weitreichenden Veränderung der Zeiterfahrung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts um eine Perspektive, für

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die, wie für Kohls Analyse von Darwins Reisebericht, die Kategorie des Erhabenen eine zentrale Stellung einnimmt. Durch die Übertragung von Kants Kategorie eines „Dynamisch-Erhabenen" von der Natur auf die Technik begründet sich für Benesch in der amerikanischen Kultur bereits in der Romantik eine „Erziehung zur Geschwindigkeit", auf die sich ein „auf Mobilität fixiertes Nationalbewusstsein" stützen kann. Daß diese historische Semantik von Geschwindigkeit bis in die 1960er Jahre Transzendenz und Authentizität verheißt, läßt sich in der amerikanischen Kulturgeschichte seit der Romantik beobachten: Während das Kollektivsymbol Eisenbahn schon für Thoreau und Emerson sehr viel positiver konnotiert ist als beispielsweise für Wordsworth, figuriert das Auto, anders als in der von Seeber angeführten Erzählung „After the Race" oder in E.M. Forsters Roman Howards End, als privilegiertes Vehikel individualisierter und republikanischer amerikanischer Selbsterfahrung. Gerade modernistische Texte führen indessen nicht allein eine veränderte Zeiterfahrung, sondern auch eine innovative Repräsentation des Raumes vor. Stefania Michelucci arbeitet in ihrem Beitrag ausgehend von Joseph Franks berühmten Essay „Spatial Form in Modern Literature" (1945) heraus, wie sich seit der Moderne die Lessingsche Gegenüberstellung von Raum- und Zeitkünsten verschoben hat: Galt in Lessings Laokoon die Literatur noch als Zeitkunst, so entwickeln modernistische Autoren, inspiriert von Malerei und Plastik, Formexperimente, in denen Simultaneität und nicht-lineare Repräsentationsmuster im Vordergrund stehen. Die Beiträge von Peter Gendolla, Barbara Körte und Julika Griem gehen hingegen von der Beobachtung aus, daß Reisen im Verlauf des 20. Jahrhunderts zunehmend zu einem reflexiven Modus der Bewegung wie des Denkens gerät, der sich seiner explorativen Geltungsansprüche durch immer explizitere Rückgriffe auf die Tradition vergewissem muß. Gendolla rekapituliert diese Tendenz zur intensivierten Intertextualität und Selbstreflexivität am Beispiel des literarischen Topos der Italienreise. Als irreführende Fiktion, trügerisches Bild und Erfahrung aus zweiter Hand wird die Italienreise bereits in Gottfried Kellers Der grüne Heinrich expliziert. Die in diesem Roman zu beobachtende Entromantisierung und Desillusionierung des Italien-Bildes verschärft sich in Thomas Manns Tod in Venedig: Hier bilden die konventionellen Referenzen an frühere literarische Italienreisen nur noch Versatzstücke einer Untergangsgeschichte, die auch vom Ende einer Künstlerexistenz sowie einer Gattungstradition erzählt. Das fortbestehende Bedürfnis nach „eingebildeten Italienreisen" wird nach Manns Novelle und spätestens nach Wolfgang Koeppens Roman Tod in Rom von anderen Medien befriedigt. Daß zeitgenössische Literatur allerdings nicht nur Abbruche bilanziert, sondern auch um Kontinuitäten ringt, zeigt sich in den von Körte und Griem behandelten Texten der britischen Gegenwartsliteratur, in der intertextuelle Zeitreisen in die viktorianische Ära nach wie vor sehr beliebt sind. In dem von Körte diskutierten dystopischen Roman Α Scientific Romance von Ronald Wright stößt der Protagonist auf ein Exemplar von Wells' Zeitmaschine und reist mit dieser in eine Zukunft, in der London nur noch als Ruinen-Stadt inmitten eines re-naturierten Englands existiert. Wright rekonstruiert mit dieser Un-

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tergangs-Vision ein Szenario, das Richard Jefferies bereits 1885 in After London entworfen hatte, wo die Kritik an Modernisierungsprozessen ebenfalls eine regressive Zukunft heraufbeschwört. Im Vergleich zeigt sich, daß die RuinenÄsthetik des viktorianischen Autors offenbar problemlos zu aktualisieren ist: So bedienen sich beide Texte einer ökologisch motivierten Kulturkritik und verzichten darauf, den Riickfall in vor-moderne Lebensformen utopisch zu idealisieren. Im Gegensatz zu den hier aufscheinenden Parallelen zwischen viktorianischer und postmoderner Zukunftsvision betonen die von Griem untersuchten Reise-Berichte des englischen Autors Redmond O'Hanlon intertextuelle Verwerfungen und Brüche. Zwar reist auch O'Hanlon in den Fußstapfen viktorianischer Vorgänger. Diese Hommage erzeugt allerdings desillusionierende und ironische Effekte, welche den traditionsverliebten Reisenden als „post-tourist" zeigen, der anstelle von authentischen Erfahrungen nur noch die Allgegenwart von Globalisierungs-Phänomenen antrifft. In O'Hanlons jüngstem Reisebericht Congo Journey verschärft sich diese Strategie der Entmystifizierung zu postkolonialer Kritik: Nun wird nicht nur die traditionelle ethnographische Rhetorik einer räumlichen und zeitlichen Distanzierung der Anderen dekonstruiert, sondern auch mit Hilfe einer afrikanischen Gegenfigur vorgeführt, daß gerade die politisch korrekten Motive des reflektierenden Reisenden nicht vor primitivistischen und exotistischen Projektionen gefeit sind. Im letzten Beitrag dieses Bandes rekapituliert K. Ludwig Pfeiffer schließlich am Beispiel der zeitgenössischen britischen Gegenwartsliteratur noch einmal eine Entwicklung, die Hubig in seinem Eröffnungs-Essay schon andeutet. Die „Handlungskompetenz", die Jean Pauls Albano noch durch verschiedene Verlust-Erfahrungen und Perspektivenwechsel erreicht, sieht Pfeiffer im 18. Jahrhundert durch die Differenz von Stabilität der Ausgangssituation und reisend erfahrener Alterität gewährleistet. Bereits im 19. Jahrhundert wird diese Differenz allerdings destabilisiert: Der unbekannte Raum schrumpft und das scheinbar ganz Andere entpuppt sich als Vorstufe (evolutionstheoretisch) bzw. als Facette (psychoanalytisch) des Eigenen. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts erzeugt der „Dauerbeschuß" touristischer Angebote dann einen „Konflikt von Ruhelosigkeit und Wahrnehmungsverschleiß". Trotz dieser Entwicklung bildet aber der Modus des Reisens nach wie vor eine Kategorie, auf die „Selbstbehauptung und Daseinsprogramme" auch in Form literarischer Texte (so z.B. bei Huxley, Sebald, Durrell und Irvine Welsh) zurückgreifen. Folgt man Pfeiffer, so hat sich allerdings die Semantik und Funktionalität räumlicher und zeitlicher Reise-Bewegungen gewandelt: „Raumund Zeitreisen danken ab; ihre Restformen werden in Konturen eines evolutionären, sowohl biologischen wie kognitiven Schubs umgemünzt." Durch diese Entwicklung verschieben sich die Grenzen von Außen und Innen, Subjekt und Welt: Hatte schon Hubig ein „Nicht-Reisen" anvisiert, das sich nur noch in „unserem ausgefalteten Gehirn" vollzieht, so zielt Schenkels Engführung von Zeitreise und Drogenerfahrung auf einen Punkt, an dem das Gehirn zur Wirklichkeit wird, „indem es sich in Medien und Apparaten veräußerlicht". Für

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Pfeiffer realisieren einige Romane Doris Lessings die hier aufscheinende „Neurophänomenologie" des Reisens: Aus der Reise „ins Bewusstsein" ist eine Reise „im Bewusstsein" geworden. Der vorliegende Band geht auf eine Tagung zurück, die vom 24. - 26. Januar 2002 am Internationalen Begegnungszentrum der Universität Stuttgart stattfand. Dem Internationalen Zentrum für Kultur- und Technikforschung der Universität Stuttgart danken wir für ideelle und finanzielle Hilfe, welche die Durchführung der Veranstaltung überhaupt erst ermöglichte. Dank gebührt auch der Vereinigung von Freunden der Universität Stuttgart für die Finanzierung der Abbildungen. Last but not least danken wir dem Niemeyer Verlag für die Bereitschaft, die Drucklegung des Bandes zu übernehmen.

Stuttgart, im März 2003 Hans Ulrich Seeber und Julika Griem

Christoph Hubig

Naturverlust - Raumverlust - Zeitverlust. Überlegungen im Ausgang von den Flug- und Reisebildern in Jean Pauls Titan

Das Kunstwerk zwingt uns - sozusagen - zu der richtigen Perspektive, ohne die Kunst aber ist der Gegenstand ein Stück Natur, wie jedes andre, und daß wir es durch die Begeisterung erheben können, das berechtigt niemand, es uns vorzusetzen. [...] Nun scheint mir aber, gibt es außer der Arbeit des Künstlers noch eine andere, die Welt sub specie aeterni einzufangen. Es ist - glaube ich - der Weg des Gedankens, der gleichsam über die Welt hinfliege und sie so läßt, wie sie ist - sie von oben vom Fluge betrachtend. (Ludwig Wittgenstein)'

I. Wittgenstein kontrastiert in seinen Überlegungen die perspektivische Arbeit des Künstlers und die totalisierende Arbeit des Philosophen. Es wäre zu fragen, ob der Anspruch des Gedankenfluges einzulösen ist, insbesondere, ob er nicht seinerseits eine jeweils rechtfertigungsbedürftige Perspektive aufweist. Dann wäre die philosophische Arbeit in diesem Sinne ebenfalls künstlerisch. Und sie wäre - wie jede perspektivische Arbeit - in bestimmten Vorstellungen von Raum und Zeit befangen. Solche Vorstellungen können aber ihrerseits nicht Gegenstand eines perspektivischen Zugriffs oder einer „Totale" des Überfliegers sein. Denn beide setzen sie bereits voraus. Freilich wären sie auszuloten auf dem Wege eines „Grenzgangs von Innen" (Wittgenstein). Grenzen werden durch Irritationen erfahrbar. Solche produktiven Irritationen sind Thema prominenter Werke der Bildungs- und Reiseliteratur. Erlebte Perspektivenänderung wird dann als Perspektivenwechsel reflektierbar. Und im Zuge einer solchen Reflexion sucht das Subjekt sich erneut zum Herrn seines Umgangs mit Raum und Zeit zu ermächtigen. Allerdings scheint diese „alteuropäische" Auffassung im Zeitalter der Postmoderne problematisch geworden zu sein. Deren Rede zielt auf die (auch technisch indizierte) Enträumlichung und Entzeitlichung, Omnipräsenz alles Mitgeteilten, Verlust der Geschichte, das „Aufhören, sich nicht zu schreiben" (Friedrich Kittler), den Verlust der Spuren, in denen sich Medialität ( - auch diejenige von Raum und Zeit - ) mitteilt (Paul Virilio), die Vernichtung jeder Widerständigkeit der Bewegung, somit die Etablierung eines „Nicht-Reisens" alter Art,

L. Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen. Werkausgabe. Bd. 8. 4. Aufl. Frankfurt/M. 1990. S. 456.

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kurz: eine Welt, deren Wirklichkeit nur noch diejenige unseres „ausgefalteten Gehirns" ist (Nicholas Negroponte). 2 Für einen Versuch, diesen Bildem auf den Grund zu gehen, dürfte ein Rekurs auf Jean Pauls Titan (III)3 hilfreich sein. Formal als Bildungsroman konzipiert, als Schilderung des Bildungsprozesses seines Helden (Albano, des Weissen, Unbeschriebenen) mit intensiver Reisetätigkeit durch Räume und Zeiten Uber die Stationen klassischer Bildungsromane, ist diese Schrift doch eher als Anti-Bildungsroman angelegt: Als Schilderung hin zu einer reinen Kompetenz ohne vorbildhaftes Bildungsziel bzw. unter dem Ideal einer anderen Bildung als deijenigen, wie sie sich in einem „Abgußsaal" (V, 277) etablieren mag, welcher die Sammlung der maßgeblichen Vorbilder bereithält. Das Ideal einer Entwicklung zu reiner Kompetenz wird hierbei so radikal gedacht, daß mit ihr die Aufhebung aller räumlichen und zeitlichen Bindungen einhergehen soll. Enträumlichung wird suggeriert durch die inflatorisch auftretenden und leitmotivisch durchgehaltenen Bilder des Weißen, gleißenden Sonnen- und silbrigen Mondlichts, von Nebel und dunkler Leere; Entzeitlichung signalisieren die Bilder, in denen in der Regel aufeinander Folgendes vergleichzeitigt wird: die blühenden und gleichzeitig fruchttragenden Orangenbäume, die heilenden und zugleich tötenden Kräuter, der Regenbogen etc. Diese Bilder nun werden nicht in plakativ-suggestiver Absicht präsentiert, sondern illustrieren eher einen Reflexionsgang, der unterschiedliche Naturverhältnisse, Raumverhältnisse und Zeitverhältnisse zum Thema hat. Diese Naturverhältnisse werden in den Charakteren des Romans verkörpert, analog zu ihrer theoretischen Behandlung in der in zeitlicher Überlappung entstandenen „Vorschule der Ästhetik" (V), dort in Abgrenzung zu den Naturvorstellungen Kants, des spinozistischen Goethes, der Romantiker. Seinem philosophischen Mentor Ernst Platner folgend werden deren Argumentationslinien in Aufnahme des Leibnizschens Konzepts der Wechselwirkung ironisch-kritisch weiterreflektiert. Allerdings hätten wir es nicht mit Jean Paul zu tun, wenn diese romanesk-philosophische Arbeit nicht ihrerseits ihre ironische Überhöhung und Vernichtung erfahren würde: In der Gestalt des Luftschiffers Gianozzo, einer - wie wir sehen werden - Variante und Modifikation der Figur des Albano wird genau deijenige vorgeführt, der die Welt „von oben vom Fluge betrachtend" (Wittgenstein s.o.) durch die Lüfte surft und seine Bilder herbei- und wieder wegzappt oder -klickt wie die postmodernen Individuen beim Fernsehen oder der Internetnutzung. Eine seltsam aktuelle Figur. Insgesamt werden aber die Naturverluste des Helden Albano nicht konstatierend beklagt, sondern ihre Herkunft wird im Zusammenhang defizitären Handelns und entsprechender Kompensationsversuche rekonstruiert und in eine Entwicklung gebracht. Sie werden als produktive Verluste dargestellt, die als solche dem Gianozzo (und manchem Heutigen) zunehmend verloren gehen. In diesem Entwicklungsgang nun taucht das Motiv des Fliegens in

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Vgl. hierzu C. Hubig, Mittel. Bielefeld 2002. S. 27-28. Jean Paul wird nachf. zitiert nach der Ausgabe Jean Paul, Sämtliche Werke. Abt. 1. Bde. m-V. 4. Aufl. München 1980.

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unterschiedlicher Rolle und Status immer wieder auf, als radikal verdeutlichendes Bild des jeweiligen Reise- und Bewegungstypus. Es lassen sich hierbei vier Stufen ausmachen, an denen sich die Gliederung der nachfolgenden Überlegungen orientiert: 1. Erfahrung des Verlustes der ersten Natur und Kompensation dieses Verlustes im Konzept einer „Wechselwirkung" zwischen äußerer und innerer Natur als zweiter Natur; deren Konflikte begründen das Fliegen als Fliehen und als Versuch des „Überfliegens". 2. Erfahrung des Verlustes jener zweiten Natur und Versuch seiner Kompensation durch eine Inszenierung jener zweiten Natur (Gartenkunst), durch welche hindurch die erste Natur nunmehr als dritte Natur sprechen soll. Fliegen wird hier als Medium des Perspektivenwechsels eingeführt und soll eine Reflexion innerhalb der zweiten Natur ermöglichen. 3. Erfahrung des Verlustes jener dritten Natur durch Erfahrung einer ersten Natur als Widerständigkeit und Chance zur Kompetenzbildung am Widerstand. Fliegen erscheint hier als Emanzipationsbild, als Bild purer Kraft im Gegensatz zur klassischen „einkräftigen" Bildung. 4. Erfahrung des Verlustes jener Kompetenzerfahrung im Zuge einer Virtualisierung von Wirklichkeit (Gianozzo); Fliegen wird zur Erfahrung der Leere, endend mit dem Absturz. Mit den verschiedenen Formen eines Verlustes von Natur (bzw. seiner Kompensation) gehen verschiedene Formen eines jeweils spezifischen Raum- und Zeitverlustes einher.

II. Infolge des Verlustes einer ersten Natur haben sich typische Naturbezüge etabliert, von denen sich Jean Paul (in der „Vorschule der Ästhetik") und sein Held Albano im Zuge seines Entwicklungsprozesses abgrenzen. Für die „Materialisten" ist die Natur als bloßes Objekt ein Aggregat von Elementen und Relationen, in der Kritik Jean Pauls ein „eingekerkerter Kerker" (III, 35) (da unter den Regeln ihrer Erfassung die Entwicklungskraft ihrer Elemente nicht zugelassen Kerker (1) - und jene insgesamt in diese materialistische Vorstellung eingepreßt wird - Kerker (2)). Kompensiert wird diese Reduktion in der „falschen Andacht" des „Prosaikers", für den die Natur eine „dunkle Kammer" (V, 36) bleibt. Die „poetischen Nihilisten" hingegen stellen die Natur unter die öden Gesetze zufälliger Subjektivität, als Romantiker „liefern [sie entsprechend] lieber einen Dichter als ein Gedicht" (V, 34) und gleichen in den Worten Schoppes .jenem betrunken Kerl, der sein Wasser in einen Springbrunnen hineinließ und die ganze Nacht davor stehen blieb, weil er kein Aufhören hörte und mithin alles, was er fort vernahm, auf seine Rechnung schrieb" (III, 766) es gibt wohl kaum eine schönere Kritik am Fichteianischen Idealismus. Aber auch weitere geläufige Modellierungen von Naturverhältnissen erscheinen

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unbefriedigend: So etwa Friedrich Schillers Annahme eines Gegensatzes zwischen wahrer und wirklicher Natur, der nur als abstrakte Idee zu begründen sei (V, 85-86), Goethes Annahme einer Korrespondenz oder Parallele der Modi von Natur und Subjekt, wie sie etwa im Werther als Parallele von Gefühlsstimmungen und Befindlichkeit der äußeren Natur (Wetter) dogmatisch gesetzt werden (V, 289-91), oder gar Immanuel Kants Unterscheidung zwischen dem Schönen und Erhabenen der Natur, welche nicht per se - so Jean Paul - sich als solche darstellen, sondern der Herstellung eines vom Subjekt vollzogenen anerkennenden Naturbezugs bedürfen, den er als „Liebe" bezeichnet. Jean Pauls Alternative läuft zunächst auf die Behauptung einer aktiven Wechselwirkung zwischen Subjekt und Natur hinaus, in der einerseits die Natur, vermittelt über ihre körperliche Nachbarschaft, zur Beschreibung der „Gefühle der Menschenbrust" notwendigerweise gebraucht wird (V, 290) und andererseits die äußere Natur uns nur insofern zugänglich ist, als sie in „ewiger Menschwerdung" (V, 38) begriffen wird. Diese Wechselwirkung wird in der Eingangsszene zum Isola Bella-Aufenthalt Albanos entwickelt. Zunächst erscheint dieser als „poetischer Nihilist", der den „Umkreis des Auges" und den „Umkreis des Herzens" vermengt (III, 77), also seine subjektive Befindlichkeit auf die Natur projiziert. Der ruhige Lago Maggiore erscheint von einer heftigen Brandung aufgewühlt, und dies nächtens um 23.00 Uhr, wobei das Antlitz des bewegten Helden zugleich im Abendrot glühen soll. Der hier karikierte RaumZeit-Verlust und seine Ursache hat bereits früher den Erzieher des Albano, den Magister Wehmeier („Fluglehrer", III, 73), berührt, der hier auch eine erste Erklärung für die Flugsucht seines Schülers sah: „Woher hatte unser Albano diese unbezwingliche Sehnsucht nach Höhe, nach dem Weberschiffe des Schieferdeckers, nach Bergspitzen, nach dem Luftschiffe, gleichsam als wären diese die Bettaufhelfer vom tiefen Erdenlager?" Eben weil er versuchte, Umkreis des Auges und des Herzens vermengend, „im physischen Himmel dem Idealischen nachzusteigen" (ΙΠ, 77). Zwar erscheint hier der „größte und längste Irrtum" überwunden, daß wir das Leben, d. h. seinen Genuß, wie die Materialisten das Ich, in seiner Zusammensetzung suchen, als könnte das Ganze oder das Verhältnis der Bestandteile uns etwas geben, das nicht jeder einzelne Teil schon hätte. Besteht denn der Himmel unseres Daseins, wie der Blaue über uns, aus öder matter Luft, die in der Nähe und im Kleinen nur ein durchsichtiges Nichts ist und die erst in der Ferne und im Großen blauer Äther wird? Das Jahrhundert wirft den Blumensamen deiner Freude nur aus der porösen Säh-maschine von Minuten; oder vielmehr an der seligen Ewigkeit selber ist keine andere Handhabe als der Augenblick. Das Leben besteht nicht aus 70 Jahren, sondern die 70 Jahre bestehen aus einem fortwehenden Leben, und man hat allemal gelebt und genug gelebt, man sterbe, wenn man will. (ΙΠ, 25)

Aber jener Augenblick, wie er in der Karikatur des Albano am Seeufer erscheint, kann wohl nicht die Lösung sein. Denn daß einerseits „Freudenlieder auf fernen Barken schwammen" und dies andererseits in einer „schäumenden" See, die eine „höhere Brandung in seinem Busen auftrieb", entlarvt sich als pure

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Projektion. Eher verhält es sich umgekehrt. Und so vernimmt man den Kommentator gleich in dieser Szene: Die erste Reise, zumal wenn die Natur nichts als weißen Glanz und orange BiUten und Kastanienschatten auf die lange Straße wirft, beschert dem Jüngling das, was oft die letzte dem Mann entführt - ein träumendes Herz, Flügel über die Eisspalten des Lebens und weit offene Arme für jede Menschenbrust. (ΙΠ, 18)

In dieser Charakterisierung erscheint Natur in der Tat als bloße Projektionsfläche. (Allerdings taucht diese Charakterisierung leitmotivisch im Roman immer wieder auf, jedoch einen unterschiedlichen Status der Natur auf späteren Entwicklungsstufen bezeichnend, bis hin zur Darstellung der Natur mit eben diesen Eigenschaften als offenes Handlungsfeld. Sie ändert ihren Status in Relation zum Subjekt, das sich ihr gegenüber verhält.) Ironisch kontrastiert wird diese Entwicklung von Naturverhältnissen durch Versatzstücke aus Landschaftsschilderungen im Roman, die Jean Paul aus der geläufigen Reiseliteratur seiner Zeit übernimmt (von Volkmann 1770, Keysler 1751, Hirschfeld, der Volkmann wiederholt, 1782),4 Schilderungen, die in betonter Beziehungslosigkeit zu den Naturverhältnissen seines Helden stehen, und von denen Jean Paul in der „Vorschule" schreibt: „Der gemeinste Nachdrucker der Wirklichkeit bekennt doch, [...] daß ein Unterschied sei zwischen den Landschaftsgemälden der Dichter und zwischen den Auen- und Höhenvermessungen des Reisebeschreibers" (V, 35). Das Flugmotiv ist das explizite Gegenmotiv zur „Höhenvermessung". Dian, der ehemalige Landbaumeister, verweist den Albano darauf, daß er doch die Flügel im Kopf und in den Füßen habe, appelliert an ein verstandesgeleitetes Reisen und beendet die emotionale Blindheit des Helden, indem er sie durch eine echte Blindheit ersetzt, einer Binde vor die Augen. Erst auf dem Gipfel der Isola Bella wird bei Sonnenaufgang Albano von seiner Binde befreit, die seine subjektive Emotionalität unterbunden hatte. Nun aber ist er von der äußeren Natur überwältigt, im zeitlichen Nacheinander ihrer Elemente entfaltet sich ein unermeßlicher synästhetischer Raum, in dem Nähe und Ferne als dynamisch, sich ständig verändernde Alternativen erscheinen. Und auf allen Höhen brannten Lärmfeuer der gewaltigen Natur und in allen Tiefen ihr Widerschein - ein schöpferisches Erdbeben schlug wie ein Herz unter der Erde und trieb Gebirge und Meere hervor. - O, als er dann neben der unendlichen Mutter die kleinen wimmelnden Kinder sah, die unter der Welle und unter der Wolke flogen - und als der Morgenwind ferne Schiffe zwischen die Alpen hineinjagte - und als Isola madre gegenüber sieben Gärten auftürmte und ihn von seinem Gipfel zu ihrem in waagerechtem wiegenden Fluge hinüberlockte - und als sich Fasanen von der Madre-Insel in die Wellen warfen: so

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C.C.L. Hirschfeld, Theorie der Gartenkunst. 5 Bde. Frankfurt, Leipzig 1782-85. Nachdruck: Hildesheim/New York 1973; J.G. Keyßler, Neueste Reise durch Teutschland, Böhmen, Ungarn, die Schweiz, Italien und Lothringen. 2 Bde. Hannover 1751; J.J. Volkmann, Historisch-kritische Nachrichten von Italien, welche eine Beschreibung dieses Landes, der Sitten, Regierungsform, Handlung des Zustandes der Wissenschaften und Besonderheit der Werke der Kunst enthalten. 3 Bde. Leipzig 1770/71.

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Hubig stand er wie ein Sturmvogel mit aufgeblättertem Gefieder auf dem blühenden Horst, seine Arme hob der Morgenwind wie Flügel auf [...]. (ΙΠ, 22)

Der Quasi-Flug befreit ihn von sich selbst, wird aber zunächst nur zur Flucht: Denn die „hohe Natur" entbirgt sich ihm nur in Allgemeinheiten, in allgemeinen unkonturierten Vorstellungen, für die der Dichter nur Allgemeinbegriffe vorrätig hat. Im Überflug entsteht kein Naturverhältnis. Schön kontrastiert wird das Fliegen des Himmelstürmers Albano einmal später (III, 322), wenn bemerkt wird, daß seine nüchterne Pflegeschwester Rabette, die sich an eine wirkliche Reise macht, die „Ikarusflügel" eingepackt habe. Den Umkreis des Auges und den Umkreis des Herzens zu vermengen stellt also keine Lösung dar, und dieses durch einen Überflug auszugleichen noch weniger, denn in der Totale vermag das überwältigte Subjekt nicht mehr ein substantiiertes Naturverhältnis einzugehen.

III. Der Held hat die Natur und sich selbst verloren; Schönes und Erhabenes, also der Naturbezug als Wohlgefallen an der Stimmigkeit unserer Erkenntnisvermögen angesichts der Natur oder ein Naturbezug als Selbstvergewisserung über unsere Freiheit in Ansehung der Natur haben sich durchmischt und verflüchtigt: „Vor allen diesen bleibst du, erquickende Natur, mit deinen Blumen und Gebirgen und Katarakten treu und tröstend stehen, und der blutende Göttersohn wirft stumm und kalt den Tropfen der Pein aus den Augen, damit sie hell und weit auf deinen Vulkanen und auf deinen Frühlingen und auf deinen Sonnen liegen!" (III, 23). Welche Alternative bleibt angesichts dieser ironischen Bilanz? Zur gedanklichen Verarbeitung dessen, was mit dem überwältigten Romantiker geschieht, sind Situationen und Umstände aufzusuchen, in denen bereits Naturverhältnisse gestaltet sind. Sie finden sich dort, wo sich solche Verhältnisse in einem geschaffenen Ausgangsraum, einer (im Garten) gestalteten Natur objektiviert sind, in denen sich also Perspektiven bereits ausdrücken und somit erlauben, sich zu ihnen in ein Verhältnis zu setzen, aber auch zu derjenigen Natur, die sich in dieser Gestaltung nicht erfüllt. Relativ zu einem solchen geschaffenen endlichen Ausgangsraum als Garten kann sich dann das Erhabene der Natur („als lindes, leises Wehen", „als Bewegung von Jupiters Augenbrauen" (V, 105106)) in Erscheinung bringen. Eine solche Idylle ist „eine nachgebildete Gegend zur Verstärkung ihrer natürlichen Wirkung", welche erlaubt, hier das „angewandt Unendliche" zu erfahren, und zwar insofern, „als die begrenzte Natur mit der Unendlichkeit umgeben" (V, 43) erscheint. Daher ist letztlich „das Begrenzte Erhaben, nicht das Begrenzende" (V, 108), und daher findet sich hier „das Vollglück in der Beschränkung" (V, 258). Eine perspektivisch gebundene (nämlich an ihren Ausgangspunkt gebundene) Phantasie kann dann die Verbindung von Endlichkeit mit Unendlichkeit (ex negativo) herstellen. Die Idylle ist „der

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Raum, von dem die Natur dem Erhabenen nachfliegt". Gleiches gilt auch für die Zeit, die in der Idylle als angehaltener Augenblick erscheint, etwa als Regenbogen, wie er sich in einer Fontäne präsentiert. Aus diesem Befund erklärt sich die Verehrung Jean Pauls von Rokokogärten gegenüber einem „Zuviel an roher Natur" in englischen Gärten (das Verhältnis beider wird in der Fantaisie bei Bayreuth ersichtlich). Die Idylle der geschaffenen schönen Natur wird zum Regulativ gegenüber der Beliebigkeit und Willkür, mit der eine äußere Natur in jeder inneren eine andere wird. Im Garten Lilar, der der Eremitage bei Bayreuth nachgebildet ist, wird derlei vorgeführt. (Gianozzo hingegen - s. u. - entzieht sich jener Erfahrung, weil er die Eremitage nur von oben, im Überflug seiner Luftschiffahrt, ausmacht.) Allerdings erscheint das „Vollglück in der Beschränkung" trügerisch, angesichts einer Wirklichkeit, die uns mit Minuten berauscht, wo das Innere das Äußere wird und das Ideal die Wirklichkeit - aber dann - nein, über das Dann des Jenseits hat dieses kleine Jetzt keine Stimme; aber wenn hiniden, sag ich, das Dichten lehren würde und unsere Schäferwelt eine Schäferei und jeder Traum ein Tag: ο so würde das unsere Wünsche nur erhöhen, nicht erfüllen, die höhere Wirklichkeit würde nur eine höhere Dichtkunst gebären und höhere Erinnerungen und Hoffnungen - in Arkadien würden wir nach Utopien schmachten, und auf jeder Sonne würden wir einen tiefen Sternenhimmel sich entfernen sehen, und wir würden - seufzen wie hier! (ΠΙ, 222)

Das Problem der Vermittlung zwischen äußerer und innerer Natur ist somit nicht überwunden, und es bleibt die Ahnung: „Wie wäre es, wenn die Eisenräder und Eisen-Achse der schweren Geschichts- und Säkular-Uhr, statt der himmlischen Blumen-Uhr, die nur auf- und zuquillt und immer duftet, die Zeit länger mäße als kürzer?" (V, 48). Ließe sich denn mit einer Inszenierung der Zeit im Garten dieses Problem lösen, analog zu einer Inszenierung des Raums? Solcherlei findet sich zwar im „abgegriffenen Schaugericht" von Ruinen (III, 202), die als Inszenierung des Zeitlich-Erhabenen in die Garten-Berglandschaften eingebaut waren. Ihre Darstellung von Zeit und Ewigkeit wird in der Tartarus-Szene des Romans kritisch beleuchtet, kritisch dahingehend, daß vermittelt wird, daß nicht mehr bloß eine perspektivisch gebändigte erste Natur sich artikuliert, sondern Signale der ersten Natur unvermittelt einbrechen, und als unvermittelte gerade durch die scheiternde Inszenierung ersichtlich werden: Der Eingang trug als Stirnblatt ein altes Zifferblatt, wovon einmal der Donner gerade die Stunde Eins weggeschlagen: „Eins?" (sagte Alban) „Sonderbar! Gerade unsere künftige Stunde? Wie abenteuerlich zieht sich die Katakombe fort! Der lange Totenfluß murmelt verfinstert tief hinein und blitzt zuweilen unter dem silbernen Dampfe, den das Mondlicht durch die Schachtlöcher hereintreibt - feste Tiere, Pferde, Hunde, Vögel stehen saufend am finstem Ufer, nämliche ihre ausgepolsterten Häute - schmale, von der Zeit geschleifte Leichensteine mit wenigen Namen und Gliedern sind das Pflaster - an einer heilern Nische lieset man, daß hier eine Nonne eingemauert gewesen - in einer anderen steht das verzerrte Skelett eines verschütteten Bergmanns mit vergoldeten Rippen und Schenkeln - an zerstreueten Orten waren schwarze Papierherzen arkebusierter Menschen und Blumensträußer armer Sünder gesammelt, die Rute, die einen Begnadigten durch Bestreifen

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Hubig getötet, eine gläsern Büste mit einem Phosphotpunkte im Wasser, Westerhemdchen und andere Kinder-Kleider und Spielwaren und ein Zwergskelett." (ΙΠ, 252)

Durchwirkt ist die Szenerie mit der Schilderung der doppelsinnigen Pflanzen im Tartarus, der Raute und dem Rosmarin, dem faulenden Holz, das ein Phosphorlicht abwirft, fortgeschrieben im Glanz der Silberpappeln, und schließlich dem „Frühlingsrot". Im „Zweifellicht des Romantischen" (V, 88) läßt sich die inszenierte Vergangenheit als Reflexionsbasis nicht erhalten, die inszenierten Kontraste (Hirschfeld) werden durch die Aktivität der ersten Natur unterlaufen. Es erscheint eine „doppelte Nähe so verschiedener Tage", ein gänzlicher Verlust von Zeit. Die Reflexion wird leer, wie es sich im Spiel des Roquairol oder der Potenzierung der Masken bei Schoppe ausdrückt. Die Tür zum Elysium ist versperrt. Angesichts dieser Situation bleiben nur folgende Möglichkeiten: Ich konnte nie mehr als drei Wege, glücklicher (nicht glücklich) zu werden, auskundschaften. Der erste, der in die Höhe geht, ist: so weit Uber das Gewölke des Lebens hinauszudringen, daß man die ganze äußere Welt mit ihren Wolfsgruben, Beinhäusern und Gewitterableitern von weitem unter seinen Füßen nur wie ein eingeschrumpftes Kindergärtchen liegen sieht. - Der zweite ist: - gerade herabzufallen ins Gärtchen und da sich so einheimisch in einer Furche einzunisten, daß, wenn man aus seinem warmen Lerchennest heraussieht, man ebenfalls keine Wolfsgruben, Beinhäuser und Stangen, sondern nur Ähren erblickt, deren jede für den Nestvogel ein Baum und ein Sonnen- und Regenschirm ist. - Der dritte endlich - den ich für den schwersten und klügsten halte - ist der, mit den beiden anderen zu wechseln. (Vorrede zum Quintus Fixlein, IV, 10)

Die ersten beiden Wege haben wir kennengelernt: den Überflug und die Zuflucht zum Ausgangspunkt einer einzigen Perspektive. Der dritte ist der Flug als Medium des Perspektivenwechsels. Und dieser Flug läßt sich aber nicht mehr als reales Vorhaben, welches uns Eindrücke für die Sinne liefert, bewerkstelligen. Es ist ein Flug der Phantasie: Was nun unseren Sinne des Grenzenlosen - so will ich immer der Kürze wegen sagen - die scharf abgeteilten Felder der Natur verweigern, das vergönnen ihm die schwimmenden nebligen Elysischen der Phantasie - Kant setzet schon das Erhabene der Dichtkunst und der Natur in ein angeschauetes Unendliche. Die Natur zwar selber als Sinnengegenstand ist nicht erhaben, d. h. unendlich, weil sie alle ihre Massen wenig-stens mit optischen Grenzen scharf abschneidet, das unabsehliche Meer mit Nebel oder Morgenrot, der unergründliche Himmel mit blau, die AbgrUnde mit schwarz. Gleichwohl sind das Meer, der Himmel, der Abgrund erhaben, aber nicht durch die Gabe der Sinne, sondern der Phantasie, die sich an der optischen Grenze an jene scheinbare Grenzenlosigkeit hinstellt, um eine Ware hinüberzuschauen. (IV, 200-202.)

Denn die Suche nach einem Naturverhältnis, das nicht mehr irritierbar sein soll, das also nicht mehr durch Einbrüche des Unendlichen in ein wohl inszeniertes Naturverhältnis geprägt sein soll, muß eine Suche nach einer Natur als Unendlichem sein. Das ist der Wunsch, dem die Phantasie entsprechen soll, und von dem sie geleitet ist: „Die Arme des Menschen strecken sich nach der Unend-

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lichkeit aus: Alle unsere Begierden sind nur Abteilungen eines großen unendlichen Wunsches" (IV, 200).

IV. Die Erfahrung einer ersten Natur, die sich im Rahmen einer inszenierten zweiten Natur als „dritte Natur" zu Wort meldet, war eine Erfahrung der Irritation, eines Entzugs von etwas, zu dem man überhaupt in ein Verhältnis treten könnte. Es sei denn, es gelänge, sich dieses „Unbegrenzte" irgendwie zu eigen zu machen. Dann wäre dieses Unbegrenzte ein Sinnbild von Offenheit, von Wünschbarkeit, von Chancen möglicher Gestaltung, von Möglichkeit oder purer Kraft. Das würde freilich voraussetzen, daß die im Reisen erlebten und neu eingegangenen Naturverhältnisse, die die Natur auf eine Wirklichkeit fixieren, einen neuen Status erhalten müßten. Sie müßten so angelegt werden, daß eine solchermaßen ersehnte Natur nicht mehr als „dritte Natur" in Relation zu einer inszenierten zweiten Natur, somit ebenfalls als Inszenierung, auftritt, sondern eine irgendwie „wahre" erste Natur zur Erscheinung kommt. Höherstufig entsteht dann für den Dichter das Problem, wie er solcherlei überhaupt beschreiben kann: Es muß ein neuer Typ der Natur- und Landschaftsbeschreibung gefunden werden, wie er sich schon in der Tartarus-Szene, aber nur ex negativo, andeutet, eine Beschreibung, die sich nicht aufs Wirkliche fixiert. Entsprechend bemerkt Jean Paul, daß „aus den Landschaften der Reiseschreiber der Dichter nur lernen kann, was er an den seinigen auszulassen habe" (IV, 280), und, daß er am liebsten schildere, was er nie gesehen, und auch den Anblick vermeiden würde, weil ihn die Wirklichkeit nur stören möchte (Brief an Tieck).5 Im Zuge der Italienreise Albanos (nach Lianens Tod) wird solcherlei nun vorgeführt, und zwar über die Stationen des Forum Romanum, in denen die Konfrontation des Helden mit der Vergangenheit behandelt wird, dem Neapel-Erlebnis, welches den Helden in die Gegenwart stellt und schließlich dem Tivoli-Besuch, in dem sich sein Verhältnis zur Zukunft entfaltet. Auf dem Forum Romanum erscheinen dem Albano die Ruinen nicht mehr als „abgegriffenes Schaugericht", wie sie bereits im Zuge der Tartarus-Szene problematisch geworden sind, sondern als Landschaft, in der die Natur die Kunstanstrengung eingeholt hat. Die erste Natur, deren Bild sich in der Phantasie entfaltet, irritiert nicht bloß die geschaffene Natur, ist nicht bloß ein Einbruch, sondern entfaltet ein „Wunschland negativer Unendlichkeit" (Ernst Bloch),6 indem sie die geschaffene Natur überwuchert und in den Kontext der Ewigkeit zurückstellt, wie es sich etwa in der Situierung der Quelle - deren „Ewigkeit ist geschwätzig" - auf dem Forum Romanum ausdrückt:

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Zit. nach E. Berend, Jean Pauls Persönlichkeit in Berichten der Zeitgenossen. 1956. S. 51. E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung. Bd. 2. Frankfurt/M. 1998. S. 943.

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Gr ging dieser Quelle zu, um die Ebene zu Uberschauen, aus welcher sonst die Donnermonate der Erde aufzogen; aber wie über eine ausgebrannte Sonne ging er darüber, welcher finstere tote Erden umhängen. Ο der Mensch, der Mensch-Traum! riefs unaufhörlich um ihn. Er stand an der Granitschale, gegen das Coliseo gekehrt, dessen Gebirgsrücken hoch im Mondlicht stand, mit den tiefen Kltlften, die ihm die Sense der Zeit eingehauen - scharf standen die zerrissenen Bogen von Neros goldnem Hause wie mörderische Hauer darneben. - Der palatinische Berg grünte voll Gärten, und auf zerbrochnen Tempel-Dächern nagte der blühende Totenkranz aus Efeu, und noch glühten lebendige Ranunkel um eingesenkte Kapitäler. - Die Quelle murmelte geschwätzig und ewig, und die Sterne schauten fest herunter mit unvergänglichen Strahlen auf die stille Walstatt, worüber der Winter der Zeit gegangen, ohne einen Frühling nachzufuhren - die feurige Weltseele war aufgeflogen, und der kalte zerstückte Riese lag umher, auseinandergerissen waren die Riesen-Speichen des Schwungrads, das einmal der Strom der Zeiten selber trieb. - Und noch dazu goß der Mond sein Licht wie ätzendes Silberwasser auf die nackten Säulen und wollte das Coliseo und die Tempel und alles auflösen in ihre eignen Schatten! (ΙΠ, 574)

Nicht die tote Vergangenheit als verflossene Zeit, sondern ihr Verschwinden („Geschwätz") in der Ewigkeit eines Prozesses wird hier vermittelt. Die Perspektiven wechseln beständig, und gerade ihr Wechsel macht die neue Zeiterfahrung möglich. „Neue Räder treibt der Strom der Zeit" und „Dort liegt Raffael zweimal begraben", so die Rede in dieser Situation. Und ähnlich wie es Pindar in seiner 12. Pythischen Ode der Athene zuschrieb (welche durch ihre Verskunst das Wehklagen der Gorgonen erträglich und tanzbar machte), wird hier notiert, daß Dian „Tänze in Trauerspiel" mische, also den nachsinnenden Bezug zum Vergangenen in eine Aktivität überführt. Albano „vergißt die Nachbarschaft zu seiner eigenen Vergänglichkeit", erreicht den Zustand, den Jean Starobinski mit den Worten beschrieb: „Aus Denkmälern vergangener Bedeutung resultiert die Erfindung der Freiheit."7 Nur wenn Vergangenes nicht als Verlust, sondern als Moment von Prozeßualität erfahrbar wird, ist die Voraussetzung zum eigenen Handeln gegeben, welches sich dann eben nicht mehr als „Krankheit zum Tode", als beständige Nichtung begreifen müßte (so wie bei Soren Kierkegaard). Auch das Neapel-Erlebnis ist zunächst durch ein Verhältnis zum Vergangenen initiiert, durch einen fluggeprägten „Femblick auf Ruinen". Diese erscheinen aber nun als Gegenwart, als „Schlachtfeld der Zeit", die weiterläuft, unmittelbar bekleidet vom Eindruck des Vesuv als Inkarnation von Kraft. Diese Kraft ist dasjenige, was den großen synästhetischen Eindruck, der sich anschließt, zusammenhält, einen Eindruck, der nicht mehr überfordernd wirkt wie deijenige des Fluges auf der Isola Bella, in der alles bestimmungslos nebeneinander stand. „Alles ist Blumen, Früchte, Frühling und Herbst" (III, 610), alles erfährt seinen Sinn als Ausdruck ewiger Kraft, die sich in immer wiederkehrenden Impulsen und Erträgen artikuliert. Dieser Eindruck ewiger Gegenwart wird im Tivolo-Besuch durch ein entsprechendes Bild der Zukunft resp. die Öffnung des Zukunftsverhältnisses abgerundet. Der „zerrissene Vesta-Tempel" erscheint nicht mehr als von einer ersten Natur zerstört, sondern als „zugleich bekränzt" von Blumen. An seinen 7

J. Starobinski, Die Erfindung der Freiheit 1700-1784. Genf 1964. S. 180.

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Naturverlust - Raumverlust - Zeitverlust

Füßen entspringt der Katarakt, Sinnbild von Kraft, der seinerseits die Blumen nährt. Nicht mehr ist ein Erhabenes Vorbild und Ideal einer naiven Freiheit, sondern die Funktion seiner Äußerung von Kraft steht im Vordergrund: Auf die Oliven, die Feigen und die Reben wird verwiesen, den Wein und das Öl als Ertrag eines sinnvollen Einsatzes von Kraft. Die Gespräche nehmen die Wendung zum politischen Handeln, die Haltung des Ästhetikers mit seiner Unendlichkeitssucht und seinem phantastischen Willen zum Unbegrenzten wird verabschiedet (so wie der kierkegaardsche Ästhetiker durch den Ethiker oder der Künstler Stiller von Max Frisch durch den Handwerker). Diese Haltung, die Albano schließlich erringt, das Bekenntnis zur Gestaltungskraft und Kompetenz in politischer Absicht, wird von Linda kritisiert, welche fast penetrant geschildert wird als „scharf nach dem Katarakt blickend" - also der puren ungerichteten Kraft: „Ach so wenig ist der Mensch dem Menschen, ein Menschenbild ist ihm mehr und jede kleine Zukunft" (III, 662). Sie sieht in jener Wendung zum Politischen den Verrat, wo doch „nicht große Taten, sondern nur ein großes Leben" maßgeblich sein sollten. Wer aber hier einen Verrat sieht, wird aus der Perspektive Albanos zum Verräter - er betitelt die Linda als „Brutus". Raum-, Zeit- und Naturverluste, die auf ihren verschiedenen Stufen im 77tan-Zitat nachgezeichnet sind, werden als produktive Erfahrungen geschildert, die eine Reflexion ermöglichen: Vergegenständlicht in der Inszenierung der Naturverhältnisse findet diese Reflexion ihren Gegenstand, reagiert auf Defizite und Irritationen, sucht Kompensationen und gelangt über die Erfahrung des Perspektivenwechsels zur Einsicht, daß das eigentliche Vermögen, welches herauszubilden ist, genau dasjenige des Vollziehens von Perspektivenwechseln ist. Vermöge dieser Fähigkeit zum Perspektivenwechsel entsteht Handlungskompetenz, die nicht an der Beschränktheit jeglichen Handelns verzweifelt, sondern bescheidenere Ansprüche verfolgt: angesichts der Unendlichkeit und Offenheit der Natur dasjenige zu gestalten, was politischen Nutzen bringt.

V. Gianozzo, der Luftschiffer, ist m. E. nicht als satirische Überhöhung der Gestalt Albanos zu lesen, sondern als kontrastive Figur, der die elementare Stufe des „Überflugs" repräsentiert, vergleichbar der Haltung des Albano auf der Isola Bella. Am Pfingstfest, das die Vermittlung des Geistes mit der Körperwelt zum Ausdruck bringt, verläßt er in bewußter Gegenbewegung dieses Verhältnis und steigt in seinem „Lederwürfel" hinauf, um sich aleatorisch über die Welt treiben zu lassen und ohne Beteiligung und Identifizierung, ohne Einnahme einer Perspektive, die Bilder dieser Welt zu erfahren. Die Welt erscheint ihm als „Austernbank", als „Ameisenhaufen". Bezüge schwinden, die eigene Stadt erscheint ihm nicht mehr als Filiale eines Zentrums, vielmehr als Punkt in einem Netz, einem „topologischen Raum" im Gegensatz zum metrischen Raum unserer direkten Erfahrung, einem Cyber-Space. Aus der Warte des Voyeurs, geprägt

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durch seine Distanz zur Politik und zu den persönlichen Befindlichkeiten der Menschen, macht er sich über deren Natur- und Liebesverhältnisse lustig. Er sieht den Garten Lilar, die Eremitage oder die Fantaisie von Bayreuth lediglich von oben, betrachtet Wörlitz als einen Garten, „dessen Aussichten Gärten" sind, ohne diese Aussicht einzunehmen oder wie in der Fantaisie aus der begrenzten Perspektive das „leise Wehen" des Unbegrenzten wahrzunehmen. Der Wirkung eines Erhabenen, welche nur „auf dem Lande eintritt", entzieht er sich und taucht ab ins Nachtmeer. Störende Kriegsbilder werden sozusagen weggezappt und durch solche von blühenden Weinbergen ersetzt. Es ist klar, daß das Ganze in einem Absturz enden muß, in einem Gewitter der ersten Natur, die nicht über irgendwelche Inszenierungen indirekt oder ex negativo erfahrbar ist, die nicht mehr als Pol eines Naturverhältnisses gilt, sondern einfach nur da ist und dem lächerlichen Traum vom unbeteiligten Fliegen eine Ende bereitet. Denn der Versuch, zugunsten des Horizonts den Standpunkt aufzuheben, vernichtet die Wirklichkeit und ersetzt sie durch eine Virtualität, die ihres Bezugssubjekts verloren gegangen ist, ja mehr noch: es zerstört hat.

Stephan Kohl

Darwins Voyage of the 'Beagle': Eine Zeitreise zu den Grenzen der Erde

Problemstellung Darwins Voyage of the 'Beagle' (zuerst 1839) berichtet über eine naturkundliche Expedition, die den Autor in der südlichen Hemisphäre zu den Grenzen der Erde führte; zugleich führt dieser Reisebericht auch zu den Grenzen der vergangenen Zeit. Aber während die geographischen Punkte des Unternehmens durch Namen oder Lagebeschreibungen genau lokalisierbar sind, wird von Vergangenheit nie in absoluten Datierungen, sondern ausschließlich im Vergleich zu anderen Punkten der Vergangenheit gesprochen. So heißt es beispielsweise nach langen geologischen Erläuterungen zur Entstehungsgeschichte der Gesteinsformen der Kordilleren: In [...] all parts, of the Cordillera, it may be concluded that each line has been formed by repeated upheavals and injections; and that the several parallel lines are of different ages. Only thus can we gain time, at all sufficient to explain the truly astonishing amount of denudation, which these great, though comparatively with most other ranges recent, mountains have suffered. (322)'

Die Zeitangaben in dieser Passage werden über Relationen definiert („different ages"; „comparatively [...] recent"), und die chronologische Ausdehnung der Zeit in die Vergangenheit bleibt Undefiniert: Es reicht dem Beobachter aus, wenn es nur .genügend Zeit' („time [...] sufficient") gab, um die Erosion der Gebirge oder andere Naturphänomene plausibel erklären zu können. Mit dieser für einen naturwissenschaftlichen Text auffälligen Darstellungsstrategie, beim Reden über die geologische Vergangenheit der Erde ohne die Nutzung einer Zeitskala mit absoluten Zahlen auszukommen, führt der Reisebericht Darwins auch in das Zentrum eines im England des 19. Jahrhunderts aktuellen weltanschaulichen Konflikts, den Dissens zwischen den überlieferten religiösen Anschauungen zur Dauer der Vergangenheit und den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen zur nahezu unbegrenzten Dimension der Vergangenheit. Die Exegeten der biblischen Schöpfungsgeschichte hatten im frühen 19. Jahrhundert ein breites Publikum davon überzeugt, daß die Welt am 23. Oktober des Jahres 4004 vor Christus um neun Uhr morgens geschaffen worden sei. Zitiert wird The Voyage of the 'Beagle' nach der letzten von Darwin durchgesehenen Ausgabe von 1860. C. Darwin, The Voyage of the 'Beagle'. Hg. von. L. Engel. The Natural History Library. New York 1962.

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An dieser Position begann seit Mitte des 18. Jahrhunderts die Geologie öffentlich zu zweifeln, fanden doch die in diesem Fach tätigen Forscher in den von ihnen untersuchten Gesteinsschichten auch Überreste von Lebewesen, deren Existenz innerhalb des engen Zeitrahmens von fünf bis sechs Jahrtausenden nicht erklärt werden konnte; auch die Annahme einer Sintflut im kurzen Verlauf dieser biblisch konzipierten Erdgeschichte war mit den Erkenntnissen der Geologen nicht zu vereinbaren. Mit der Geologie entwickelte sich damit seit der Mitte des 18. Jahrhunderts eine Naturwissenschaft, die vor allem deshalb revolutionär war, weil sie in Konkurrenz zur Theologie und der von ihr abhängigen Geschichtswissenschaft eine eigene historische Methode entwickelte und dabei, wie jede Geschichtswissenschaft, Aussagen zu einmaligen und nicht beobachtbaren Geschehnissen der Vergangenheit traf.2 Daß sich auf der Grundlage dieser neuen Methode, die man „natural history", .Naturgeschichte', nannte, chronologisch neue Dimensionen der Vergangenheit auftaten, war nach der methodischen Revolution wissenschaftsgeschichtlich nicht von zentraler Bedeutung. Indes machte sich am Anspruch der Geologie, die Vergangenheit der Welt über die vom Jahre 4004 gesetzte Grenze hinweg auszudehnen und eine deep time3 anzusetzen, der an der Tradition orientierte Widerstand gegen diese Naturwissenschaft fest. Die Geologie nahm damit im Bewußtsein des 19. Jahrhunderts jene den Anschauungen der Theologie widersprechende Rolle ein, die bei einem früheren Paradigmenwechsel der Astronomie bei der Auseinandersetzung zwischen Überlieferung und Erfahrung zugekommen war. Das geologische Konzept einer deep time mußte die biblische Schöpfungsgeschichte verdrängen, wollte diese Wissenschaft anerkannt werden. Breitere Schichten wurden mit der geologisch-historischen Methode 4 wie mit der These von der langen Vergangenheit der Welt durch Charles Lyells Principles of Geology (1830-33) vertraut.5 Bei der breiten Rezeption dieses wissenschaftlichen Werkes wurden freilich dessen differenzierte Argumentationen auf den Widerspruch zwischen theologischer und naturgeschichtlicher Weltdatierung reduziert,6 und dies in einem stark emotionalisierenden Ausmaß: Vielen wurde die Lektüre der Principles zum Anlass, den Offenbarungscharak2

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Vgl. den Forschungsbericht von C.R. Miller and S.M. Halloran, „Reading Darwin, Reading Nature; Or, On the Ethos of Historical Science". In: Understanding Scientific Prose. Hg. von. J. Selzer. Madison 1993. S. 106-126. S.J. Gould, Time's Arrow, Time's Cycle: Myth and Metaphor in the Discovery of Geological Time. Cambridge, MA 1987. Bes. S. 1-16. Zu Lyell als .Historiker' vgl. J.H. Brooke, Science and Religion: Some Historical Perspectives. Cambridge 1991. Zur Geologie als zentraler Wissenschaft der viktorianischen Zeit vgl. D.R. Dean, .„Through Science to Despair'. Geology and the Victorians". In: Victorian Science and Victorian Values. Literary Perspectives. Hg. von. J. Paradis, T. Postlewait. New York 1981. S. 111-136. Einen Überblick über den Gegensatz von Wissenschaft und Religion im 19. Jh. bietet F.M. Tumer, „The Victorian Conflict Between Science and Religion: Α Professional Dimension". In: Isis, 69, 1978. S. 356-376.

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ter der Bibel zu bezweifeln und den letzten Schritt zum Agnostizismus zu gehen.7 Am Rande sei vermerkt, daß die Schmerzen, die sich mit dem Abschied vom Gedanken einer plötzlichen Erschaffung der Welt verbanden, durch die optimistisch stimmende Botschaft gelindert wurden, die das naturgeschichtliche Konzept einer prozessualen Weltentstehung implizierte: Wenn die geologischen Funde bewiesen, daß die Geschichte der Menschheit als eine Geschichte des kontinuierlichen Fortschritts der Zivilisation - vom Feuerstein zu den Errungenschaften des viktorianischen Zeitalters - begriffen werden konnte, dann war dachte man in den Argumentationsmustern der neuen Naturgeschichte - auch die zukünftige Entwicklung der Zivilisation als Fortschritt zu denken. Die Kategorie .Ewigkeit' war nun in vereinfacht säkularer Form auf die materielle Welt Ubergegangen.8 Vor dem Hintergrund des Streits um die Tiefe der Vergangenheit wird deutlich, daß hinter Darwins Entscheidung, The Voyage of the 'Beagle' ohne chronologische Datierungen der Vergangenheit vorzulegen, die Absicht steht, über Geologie und Artenreichtum der Welt zu berichten, ohne in die Debatte über die zeitliche Dimension der Vergangenheit verwickelt zu werden. Es läßt sich nicht entscheiden, ob die Vermeidung dieser Streitfrage individuell motiviert war und eine gewisse Unentschlossenheit des jungen Darwin bei der Lösung dieses Problems spiegelte oder dem Kalkül folgte, ein weltanschaulich neutrales Buch könne eine größere Leserschaft ansprechen als ein Text, der für eine der rivalisierenden Zeitvorstellungen Partei nähme. Wesentlich für die hier interessierende Frage ist nur die Beobachtung, daß sich Darwins Voyage offensichtlich einer literarischen Strategie bedient, die den Umgang mit der Vergangenheit so gestaltet, daß religiös geprägte Zeitvorstellungen und wissenschaftliche Erkenntnisse zum Alter der Erde nicht unversöhnlich aufeinandertreffen. Die Beobachtung, daß The Voyage den Streit um die Dauer der Vergangenheit der Erde unentschieden lässt, provoziert drei Fragen, auf die im folgenden eingegangen werden soll: Welche Aussagen macht dieser Text zum Wert des methodischen Vorgehens der Geologie, ohne mit dem Schöpfungsbericht der Bibel zu kollidieren? Welche literarische Strategie ermöglicht es, einen langen naturgeschichtlichen Text ohne innere Widersprüche zu verfassen, der die zentrale Frage nach dem Alter der Erde offen lässt? Können verborgene Grundannahmen zur Tiefe der Vergangenheit entdeckt werden, die die deskriptiven Passagen des Textes strukturieren?

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Vgl. E. Jay, Faith and Doubt in Victorian Britain. Context and Commentary. London 1986. Bes. S. 105-108. Vgl. L.G. Wilson, „The Intellectual Background to Charles Lyell's Principles of Geology, 1830-1833". In: Toward a History of Geology: Proceedings of the New Hampshire InterDisciplinary Conference on the History of Geology. September 7-12, 1967. Hg. von C.J. Schneer. Cambridge, MA 1969. S. 426-443, hier S. 430.

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28 Die geologische Methode

Es ist belegt, daß Darwin Lyells mehrbändige Principles während seiner Reise auf der Beagle mit großem Interesse las9 und daß ihm die Lektüre dieses Werkes den Gedanken plausibel erscheinen ließ, die Entstehung der Welt sei in unüberschaubar großen Zeiträumen abgelaufen:10 Zwar ist nicht belegt, daß schon der Darwin der Beagle-Reise eine Evolutionstheorie auf naturgeschichtlicher Methode entwickelte - immerhin begann er aber unmittelbar nach Abschluß der Reise 1837 seine Aufzeichnungen, die er erst 22 Jahre später in Form der Monographie On the Origin of Species veröffentlichte" - , unter dem Eindruck von Lyells Interpretation geologischer Funde erklärte er aber schon auf der Reise seine Beobachtungen an Flora und Fauna tentativ auf der Basis einer prozessualen, langen Entstehungsgeschichte, übertrug also das wissenschaftliche Vorgehen der Geologie auf die Biologie. Er selbst wertet rückblikkend die Wirkung seiner Lektüre der Principles als entscheidende Prägung seines Blicks auf die Welt: ,,[W]hen seeing a thing never seen by Lyell, one yet saw it partially through his eyes."12 Wie manifestiert sich nun der experimentelle Umgang mit der geologischen Methode in der Voyage? Vor die Wahl zwischen zwei Erklärungsmuster gestellt, sah sich der Verfasser der Voyage mutatis mutandis mit einer Aufgabe konfrontiert, die europäische Reisende in unbekannte Länder stets beschäftigte: Angesichts der Flora und Fauna exotischer Welten stellte sich die Frage, welches Beschreibungsmodell am ehesten zur Aufzeichnung der neuen Beobachtungen geeignet sei. Es mutet wie ein Reflex dieser insbesondere für das 18. Jahrhundert typischen Unsicherheiten an,13 wenn Darwin den neuen Naturphänomenen regelmäßig zum einen mit der emotional geprägten Sprache der Ästhetik des Erhabenen gerecht werden will, zum anderen aber die botanische und zoologische Taxonomie der Zeit bemüht.14 Unvermittelt stehen die beiden Beschreibungstypen schon im ersten Eintrag (vom 16. Januar 1832) nebeneinander: The neighbourhood of Porto Praya, viewed from the sea, wears a desolate aspect. [...] [T]o any one accustomed only to an English landscape, the novel aspect of an utterly sterile land possesses a grandeur which more vegetation might spoil. [...] The commonest bird is a

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Vgl. J. Browne und Μ. Neve, „Introduction". In: Darwin, Voyage of the 'Beagle'. Hg. von J. Browne und Μ. Neve. Harmondsworth 1989. S. 12. Vgl. M.T. Greene, Geology in the Nineteenth Century: Changing Views of a Changing World. Ithaca 1982. S. 25, und Browne, Neve 1989, S. 12-18. Vgl. R.M. Young, Darwin's Metaphor: Nature's Place in Victorian Culture. Cambridge 1985. S. 1. Brief vom 29. August 1844; zit. nach J.A. Secord, „Introduction". In: C. Lyell, Principles of Geology. Hg.von J. A. Secord. Harmondsworth 1997. S. ix. Vgl. A. Bermingham, Landscape and Ideology: The English Rustic Tradition, 1740-1860. Berkeley 1986. Zur genaueren Bestimmung dieser beiden Erfahrungsformen von Natur vgl. N. Carroll, „On Being Moved by Nature: Between Religion and Natural History". In: Landscape, Natural Beauty and the Arts. Hg. von. S. Kemal und I. Gaskell. Cambridge 1993. S. 244-266.

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kingfisher (Dacelo Iagoensis), which tamely sits on the branches of the castor-oil plant, and thence darts on grasshoppers and lizards. It is brightly coloured, but not so beautiful as the European species [...]. (2-3)

Trostlosigkeit („desolation") und erhabene Würde („grandeur") sind gängige Begriffe sublimer Landschaftserfahrung, die Identifizierung des am häufigsten zu beobachtenden Vogels dagegen bedient sich der beschreibenden Sprache des Biologen. Beachtenswert bei dieser Dichotomie des visuellen Erfassens ist, daß sie auf eine Weise formuliert wird, die die Unterscheidung zwischen unverbindlicher subjektiver Erfahrung des beeindruckten Reisenden und objektiver tradierter Wahrheit der Autoritäten, der Handbücher niederreißt: „Desolation" und „grandeur" werden ebenso als Ergebnisse eines genau erfaßten subjektiven Blicks charakterisiert wie die naturkundliche Beschreibung. „Viewed from the sea" bzw. ,mit europäischen Augen gesehen' stellen sie Bedingungen dar, unter denen die ästhetische Einordnung gilt; der Reisende relativiert hier die Gültigkeit seiner Aussagen, indem er sie nur für die eigenen Explorationsbedingungen gelten läßt. Die sich als autoritätsgestützt ausweisende naturwissenschaftlich-deskriptive Aussage wird in ihrer Allgemeingültigkeit erschüttert, wenn sie - wie die ästhetischen Erfahrungen - explizit auf den Eindruck eines Europäers bezogen wird: Die Vorstellung vom exotischen Eisvogel („not so beautiful") entfaltet ihren vollen Informationsgehalt nur vor dem Hintergrund eines durch Beobachtungen oder Lektüre erworbenen Wissens über das Aussehen dieser Gattung auf dem alten Kontinent. Naturkundliches wie Emotionen des Reisenden sind nur nachvollziehbar, wenn sie als Reaktion der Annäherung an das Neue, wie es sich außerhalb Europas findet („the novel aspect"), nachvollzogen werden. Subjektivität des Urteils und Objektivität des Vergleichs verlieren damit ihre Gegensätzlichkeit; stellt man in Rechnung, daß für alle anreisenden Europäer die Erfahrungsmodalitäten bei der Begegnung mit dem Neuen identisch sind, gewinnt die Erfahrung des Sublimen im selben Maße an objektiver Gesetzmäßigkeit wie das Ergebnis eines Vergleichs der beiden Eisvogeltypen an voraussetzungsloser Objektivität verliert: Wäre die Abwertung „not so beautiful" im Rahmen eines naturkundlichen Texts informativ, hätte nicht zufällig die erste Begegnung mit diesem Tier in Europa zu dessen normsetzender Beschreibung geführt? Gleich mit dem erstem Eintrag seines Reiseberichts, dem Ort für eine programmatische Positionsbestimmung also, verwischt der Reisende die Unterschiede im Gültigkeitsanspruch, wie sie nach der Konvention zwischen der Autorität von exakter naturwissenschaftlicher Beschreibung und emotional geprägtem ästhetischen Urteil bestehen. Funktion des Nebeneinander von zwei unterschiedlichen Beschreibungsmodellen ist es also, Wahrheitsgehalt auch dem ästhetischen Urteil zuzuschreiben und Zweifel an der voraussetzungslosen Gültigkeit einer Deskription nach europäischen naturkundlichen Konventionen zu säen. In ihrer Gültigkeit nähern sich Erfahrungswissen und tradiertes Wissen einander bis zur Aufgabe jeden Unterschieds weitgehend an.

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Über diesem epistemologischen Positionsbezug gerät freilich der zentrale Unterschied zwischen den Inhalten der beiden Wissens- und Erfahrungsformen in den Hintergrund: Die Lehrbücher tradieren die Ansicht von einer nicht zu weit zurückliegenden plötzlichen Schöpfung, die Erfahrung dagegen bezieht sich auf sublime Erlebnisse, die einen weiteren Zeitrahmen implizieren.

Literarische Gestaltung der Vergangenheitstiefe Es ist nun sicher eine interessante Frage, wie es unter diesen Voraussetzungen gelingt, die Unterschiedlichkeit der inhaltlichen Ergebnisse der beiden historischen Methoden zu vernachlässigen und doch einen mit Naturgeschichte befaßten Text zu verfassen, der nicht an seinen inneren Widersprüchen scheitert. Voraussetzung für ein erfolgreiches Überspielen aller textinternen Inkompatibilitäten war die Wahl der Gattung: Nicht ein wissenschaftlich argumentierendes Werk sollte mit der Voyage vorgelegt werden, sondern ein Reisebericht. Innerhalb der Gattungskonventionen des travelogue ließ sich ein Text verfassen, in dem der inhaltliche Widerspruch zwischen den beiden historischen Erklärungsmodellen ohne verbindliche Entscheidung für ein bestimmtes Paradigma thematisiert werden konnte. The Voyage of the 'Beagle' ist in der Tat der am wenigsten wissenschaftliche Text, den Darwin auf der Grundlage seiner Aufzeichnungen während der Reise schrieb. Seine ursprüngliche Publikationsmodalität als Zusatzband zum offiziellen Expeditionsbericht von 1839 betont auch das eher Beiläufige des Textes, der den wissenschaftlichen Gehalt auf ausgewählte geologische und biologische Entdeckungen beschränkte: „This volume contains, in the form of a Journal, [...] a sketch of those observations in Natural History and Geology, which I think will possess some interest for the general reader" (xxiii). Mit dieser Wahl der Tagebuchform und skizzenhafter Darstellung („a sketch of those observations") verzichtete Darwin bei Abfassung der Voyage bewußt auf eine wissenschaftlich-systematische Gliederung und Ausarbeitung seiner Beobachtungen; zudem konnte nun die Auswahl des wissenschaftlichen Materials nach den Maßstäben des breiten Interesses erfolgen. Die Gestaltung der Voyage nach den narrativen Konventionen des literarischen Reiseberichts 15 bot zum einen die Möglichkeit, eine Handlung, die abenteuerliche Reise eben, zu entwerfen und diese auch zu semantisieren. Ein Vergleich mit Darwins Tagebüchern erweist, daß Darwin im Zuge dieser literarischen Bearbeitung den tatsächlichen Reiseverlauf in der Tat auf eine im aristotelischen Sinne wahrscheinliche Handlung hin änderte.16 Als eine zentrale rhetorische Strategie, das breite Publikum vor einem unmittelbaren Kontakt mit

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Vgl. J. Tallmadge, „From Chronicle to Quest: The Shaping of Darwin's Voyage of the Beagle". In: Victorian Studies, 23,1979/80. S. 325-345, hier S. 327-328. Vgl. Tallmadge 1979/80, S. 331-334.

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dem erschreckenden Konzept einer langen Vergangenheit der Welt zu bewahren, erweist sich des Erzählers Verschränkung von Raum und Zeit. Indem er den bei der großen Seefahremation so positiv besetzten Gedanken einer fortlaufenden Eroberung und Erforschung ferner - nahezu unendlicher - Räume implizit auch auf die Dimension der Zeit überträgt, verliert der Gedanke einer nahezu unendlichen zeitlichen Dimension der Vergangenheit die bei der Leserschaft vorhandenen negativen Konnotationen. Die Gestaltung der Voyage nach den narrativen Konventionen des literarischen Reiseberichts eröffnete zum zweiten alle jene Freiräume, die eine Darstellung aus der beschränkten Perspektive eines bestimmten Erzähler-Charakters bieten. Der Erzähler der Voyage ist dabei so angelegt, daß sich die zahlreichen viktorianischen Leser, die unter dem Einfluß der kirchlichen Exegese der biblischen Schöpfungsgeschichte groß geworden waren, mit ihm identifizieren konnten. Sie konnten diesen Text wie ein fiktionales Werk lesen, das ihre eigene Unsicherheit bei der Frage nach der Dauer der Vergangenheit im Porträt eines naturbegeisterten Reisenden spiegelte. Mit der Wahl des Reiseberichts als literarischer Form, in der auch über die Zeitentiefe gehandelt wird, war es Darwin also möglich, einen reisenden Erzähler zu entwerfen, der die Nöte der heimatlichen Leserschaft verkörperte; in diesem literarischen Verfahren liegt sicher der Schlüssel zur großen Popularität des Textes. Kontinuierlich nutzt der Text die Naturbegeisterung seiner immer wieder vom Gefühl der Erhabenheit überkommenen Erzählerfigur, um die Leserschaft langsam und behutsam mit der Möglichkeit einer deep time vertraut zu machen. Dabei orientiert er sich ganz an der damals populär gewordenen Vorstellung des Sublimen. Als ersten Punkt seiner zusammenfassenden Unterscheidung von Erhabenheit und Schönheit hatte Edmund Burke in seiner Enquiry Into the Origin of Our Ideas of the Sublime (1759) festgehalten: ,,[S]ublime objects are vast in their dimensions." 17 In der Tat erlebt auch Darwins Reisender die Gefühle des Erhabenen angesichts unüberschaubarer Wüsten jeder Art. Ozeane, Felsformationen, Urwald und Sandwüsten lösen in ihm regelmäßig sublime Erfahrungen aus. Mit großer Regelmäßigkeit bringt er dabei bei der Wiedergabe seines erhabenen Eindrucks einen Hinweis darauf unter, daß die Erfahrung des Erhabenen auch den Gedanken an eine Undefinierte Zeittiefe („the lapse of ages") impliziert. Als Beispiel sei aus einer Passage von der Überquerung der Anden zitiert: When we reached the crest and looked backwards, a glorious view was presented. The atmosphere resplendently clear; the sky an intense blue; the profound valleys; the wild broken forms; the heaps of ruins, piled up during the lapse of ages; the bright-coloured rocks [.·.]. (324)

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E. Burke, A Philosophical Enquiry Into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful. In: The Sublime: A Reader in British Eighteenth-Century Aesthetic Theory. Hg. von A. Ashfield und P. de Bolla. Cambridge 1996. S. 140.

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Bevor der Reisende solche Szenen zum Anlaß nimmt, die unüberschaubaren Räume mit einer unüberschaubaren Vergangenheit der Welt in Verbindung zu setzen, wiederholt er freilich gerne den Hinweis auf die methodische Relativierung der Eindrücke, indem er besondere Sensibilität für Erhabenheit dem Europäer zuschreibt, der das Glück habe, in der .schönsten' Region der Welt zu leben: [T)he picturesque beauty of many parts of Europe exceeds anything which we beheld. But there is a growing pleasure in comparing the character of the scenery in different countries, which to a certain degree is distinct from merely admiring its beauty. (499-500)

Das Ausspielen einer heimatlichen Schönheit gegen die Erhabenheit der Fremde kann als Topos der Explorationsliteratur gesehen werden.18 Aber in der Voyage wird Erhabenheit über eine kontinuierliche Aufweitung des geographischen Horizonts erreicht: „Growing pleasure" stellt sich über den Vergleich von immer mehr besuchten Naturszenarien „in different countries" ein. Mit dieser Behauptung wird die Aussage zu Bedingungen des Erhabenen wieder in den Rang einer allgemeingültigen Schlußfolgerung erhoben. Die Erfahrung dieses einen Reisenden beansprucht den Status der Wahrheit, wie er umgekehrt das erworbene konventionelle Wissen in seiner Richtigkeit nicht absolut setzt, sondern am Ende der Passage in vorsichtigen Worten für die Förderung der Entwicklung sublimen Empfindens instrumentalisiert: I am strongly induced to believe that, as in music, the person who understands every note will [...] more thoroughly enjoy the whole, so he who examines each part of a fine view, may also thoroughly comprehend the full and combined effect. Hence, a traveller should be a botanist, for in all views plants form the chief embellishment. (500)

Die alte Wissenschaft, so scheint es, steht nun im Dienst einer neuen Erfahrung. Den Grund für Darwins Insistenz auf der Wichtigkeit sublimen Empfindens enthüllen die anschließenden - wieder in tentativem Ton vorgebrachten („I can scarcely analyze these feelings") - Reflektionen über den Eindruck der Wüsten Patagoniens: Why then, and the case is not peculiar to myself, have these arid wastes taken so firm a hold on my memory? [...] I can scarcely analyze these feelings: but it must be partly owing to the free scope given to the imagination. The plains of Patagonia are boundless, for they are scarcely passable, and hence unknown: they bear the stamp of having lasted, as they are now, for ages, and there appears no limit to their duration through future time. If, as the ancients supposed, the flat earth was surrounded by an impassable breadth of water, or by deserts heated to an intolerable excess, who would not look at these last boundaries to man's knowledge with deep but ill-defined sensations? (500/501)

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Vgl. den historischen Überblick von Y. Tuan, „Desert and Ice: Ambivalent Aesthetics". In: Kemal, Gaskell 1993, S. 139-157.

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Als überindividuelle Erfahrung („the case is not peculiar to myself') 19 der Wüste wird hier eine ganz bestimmte Anregung der Vorstellungskraft durch räumliche Grenzenlosigkeit („boundless") identifiziert; der Kausalität suggerierende Doppelpunkt führt vorsichtig den Gedanken ein, daß Grenzenlosigkeit und Unbekanntheit des Territoriums zwangsläufig die Vorstellung einer unbekannt langen zeitlichen Vergangenheit („for ages") hervorbringen.20 Damit ist der Inhalt sublimen Empfindens auf den Punkt gebracht: Räumliche wie zeitliche Unendlichkeit. Der Reisende formuliert hier freilich vorsichtig: Der Blick in eine unbegrenzte Zukunft wird durch „there appears" eingeschränkt; mit „for ages" können die bekannten Epochen der Menschheitsgeschichte ebenso gemeint sein wie ein vages „a very long time"; eine direkte Polemik gegen die von den Bibelexegeten gesetzte Zeitgrenze wird so vermieden. Aus dem letzten zitierten Satz aber ist die Versuchung des Reisenden zu lesen, die im Zustand erhabener Affekte imaginierte deep time, die zeitlich offene Tiefe der Vergangenheit als wahre Tatsache anerkennen zu wollen: Nur vom Standpunkt einer überholten Naturphilosophie aus („as the ancients supposed") nämlich würde man sich am Rande der Grenzen des Wissens in vagen Gefühlen der Erhabenheit verlieren. Indes zählt sich der Berichtende mit seinen sublimen Empfindungen in Patagonien selbst noch zu diesen dem alten Vergangenheitsbild Verhafteten; er meint aber auch, daß - recht besehen - der Schauer vor einer unendlich tief scheinenden Vergangenheit nicht zu rechtfertigen sei. Das Fragezeichen des Schlußsatzes wird so zur Aufforderung, die jenseits der bekannten Grenzen verborgenen Tiefen der Zeit als Gegenstand des Forschens anzuerkennen. Wer will sich schließlich schon sagen lassen, auf dem Stand jener zu verharren, die die Erde noch für eine Scheibe halten?

Verborgene Beschreibungsmuster Auch jene zahlreichen deskriptiven Passagen der Voyage of the 'Beagle', die einer sublimen Ästhetisierung nicht unterworfen werden, lesen sich unter der Prämisse einer deep time stimmig. Die im Text verborgene Grundannahme einer nahezu grenzenlosen Zeitentiefe prägt seine deskriptiven Teile, ohne mit der traditionellen Datierung der Schöpfungsgeschichte offen zu kollidieren. Auch wenn der Erzähler alle rhetorischen Möglichkeiten ausschöpft, die Grundlage seines Beschreibungsmodells zu verbergen, gibt dieser empirisch beobachtende Reisende doch zu, deep time als Bedingung für das Zustandekommen der beschriebenen Landschaften zu postulieren: „Who can avoid wondering [...] at

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In der Tat werden diese Sätze von zahlreichen Texten der jüngeren Zeit wiederholt oder paraphrasiert. Vgl. B. Chatwin und P. Theroux, Patagonia Revisited. London 1985. Vgl. auch J. Paradis, „Darwin and Landscape". In: Victorian Science and Victorian Values: Literary Perspectives. Hg. von J. Paradis und T. Postlewait. New York 1981. S. 85-110, hier S. 94.

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the countless ages which it must have required, to have broken through, removed, and levelled whole masses of them [i. e. mountains]?" (260). Vom Schluss her gelesen, erweist sich so das in der Voyage häufig verwendete Vokabular erhabenen Empfindens als kontinuierlich wiederholte Aufforderung, die auf der ununterbrochen betriebenen räumlichen Exploration getroffenen Beobachtungen auch auf die Ebene der Zeitvorstellungen zu übertragen bis Uber die Grenzen der Vergangenheit hinaus, die die wörtlich verstandene Bibel setzte. In vielen Belegen wird Erhabenheit mit der imaginativen Ausdehnung der Vergangenheit verbunden, wie eine Szene aus Patagonien zeigt: „AH was stillness and desolation. [...] One asked how many ages the plain had thus lasted, and how many more it was doomed thus to continue" (169). Dieser imaginative Abschied von den Vergangenheitsgrenzen der Bibel impliziert auch, sich wenigstens in der Vorstellungskraft liber die Auffassung zu erheben, daß eine Sintflut einmal nahezu alles Leben zerstört habe. Auf den Galapagos-Inseln jedenfalls .scheint sich' („seemed to my fancy") ein Blick auf die Vorgeschichte der Schöpfung aufzutun, 21 drängt sich ein Wechsel der Zeitvorstellung geradezu auf: As I was walking along I met two large tortoises [...]. These huge reptiles, surrounded by the black lava, the leafless shrubs, and large cacti, seemed to my fancy like some antediluvian animals. (375-376)

Unterstützt wird eine Lektüre der Voyage als Reisebericht auch in die bislang nicht anerkannten Tiefen der Vergangenheit durch eine hinreichend große Zahl explizit vorgebrachter - wenn auch mit bekannter Vorsicht formulierter - Aufforderungen, sich deep time vorzustellen. So schließt beispielsweise eine Betrachtung über die Küstenform in der Umgebung Salvadors mit den Worten: „Can we believe that any power, acting for a time short of infinity, could have denuded the granite over so many thousand square leagues?" (13). Mit der Wahl des Fragesatzes wird die Aufforderung, die konventionellen Ansichten zur Zeit zu überdenken, wieder relativiert. Und obwohl Raum und Zeit bei einer Betrachtung von Tier- und Pflanzenwelt der Galapagos-Inseln in aller wünschenswerten Klarheit einander gleichgesetzt werden, läßt die vage Rede von einer „period geologically recent" wieder an einer Frontstellung gegen die geschlossene Zeitvorstellung der Bibel zweifeln: [W]e are led to believe that within a period, geologically recent, the unbroken ocean was here spread out. Hence, both in space and time, we seem to be brought somewhat near to that great fact - that mystery of mysteries - the first appearance of new beings on this earth. (379)

Als zumindest suspekt erweist sich nach dem Eindruck des Reisenden auch die tradierte Vorstellung einer Sintflut, wie sie als Teil der biblischen Schöpfungs„The excitement of the encounter is in the destabilizing thrill of the return to the prehistory of the Creation." Vgl. D. Porter, Haunted Journeys: Desire and Transgression in European Travel Writing. Princeton 1991. S. 158.

Darwins Voyage of the 'Beagle'

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geschichte auch von historischen Wissenschaftlern zur Erklärung bestimmter Naturphänomene genutzt wurde. In der Nähe von Buenos Aires stellt der Reisende angesichts eines Knochenfelds mit reichen Funden die Frage: What would be the opinion of a geologist, viewing such an enormous collection of bones, of alt kinds of animals and of alt ages, thus embedded in one thick earthy mass? Would he not attribute it to a flood having swept over the surface of the land, rather than to the common order of things? (135)

In der Tat wird dieser künftige Geologe als irre geleiteter Wissenschaftler vorgeführt, der seine Hypothese nur aus der Bibellektüre bezieht, nicht aber aus Beobachtung und Einvernehmung der Zeugen: Zur Ansammlung der Knochen war es durch vergiftetes Rußwasser gekommen, das die Herden der Bauern getrunken hatten.

Zusammenfassung Darwin konzipierte sein Buch The Voyage of the 'Beagle' als Text, in dem sich alle jene wieder erkannten, die zwischen der Alternative biblischer oder naturwissenschaftlicher Vergangenheitstiefe unentschlossen blieben. Indem sich der Erzähler an das Konzept einer nahezu unendlichen Vergangenheit einmal mit der Empfindung des Erhabenen in der Natur nähert, ein andermal mit fragend vorgebrachten naturhistorischen Überlegungen, präsentiert er sich als literarische Figur im Spannungsfeld zweier rivalisierender historischer Methoden, als Figur, die einen wissenschaftlichen Paradigmenwechsel durchlebt. Die von ihm gepflegte ästhetische Terminologie des Erhabenen wird zum Medium, eine mögliche Alternative zur herrschenden biblischen Zeitkonzeption literarisch zu vermitteln, ja experimentell einen Eindruck zu gewinnen, mit welchen Empfindungen es sich mit diesem neuen Zeitverständnis leben ließe. Der unschlüssige Umgang dieses Erzählers mit den Grenzen der Vergangenheit spiegelt die Situation der Leserschaft, die Texte mit „general interest" zur Hand nimmt. Individualgeschichtlich gesehen reflektiert die Voyage auch jene Phase in Darwins Leben, in der er unter dem Eindruck Lyells eine eigene fundierte Ansicht über die Dauer der Vergangenheit erreichen wollte. Keineswegs aber ist die Lektüre der Voyage ein dramatisches Zeitdokument in dem Sinne, daß wir hier Zeuge eines naturwissenschaftlichen Paradigmenwechsels von einer geschlossenen Zeit zur offenen Vergangenheit würden.22 Vielmehr begnügt sich der Erzähler dieses Texts damit, der hergebrachten Zeitauffassung experimentell eine Alternative zur Seite zu stellen. Was nicht in den Rahmen einer die wörtliche Wahrheit der Schöpfungsgeschichte ernst nehmenden systematischen Biologie paßt, bietet immer nur Anlaß zu tentativ aufgelösten Zeitgrenzen, nicht zur Verkündung einer neuen Wahrheit: 22

Vgl. Secord 1997, S. xxiv-xxix.

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Kohl This small family of birds [...] although at present offering only difficulties to the systematic naturalist, ultimately may assist in revealing the grand scheme, common to the present and past ages, on which organized beings have been created. (95-96)

So läßt sich die Voyage auch als Beleg dafür lesen, wie undeutlich, wie tastend, wie widersprüchlich auch jene Wechsel von Erklärungsmustern verlaufen, die im Rückblick als dramatisch erkannt werden: In der Voyage wird die zukünftig gültige Wahrheit der Wissenschaft in der ästhetischen Terminologie des Sublimen angedeutet, die ersten Blicke auf die Evolutionsgeschichte sind in die konventionelle Sprache der deskriptiven Biologie jener Zeit eingebettet.

Caecilie

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Von Raum-, Zeit- und Photoreise: Francis Frith, der Nahe Osten und das viktorianische Publikum

I have chosen as a beginning of my labours, the two most interesting lands of the globe Egypt and Palestine. (Francis Frith) Im September 1856 brach der englische Photograph Francis Frith auf seine erste R e i s e nach Ägypten auf. 1 B i s Juli 1857 reiste er von Abu Simbel bis nach Kairo den Nil entlang. Seine zweite Reise, i m N o v e m b e r 1857 bis Mai 1858, führte ihn von Palästina nach Syrien, in den Libanon und in das Heilige Land: nach Jaffa, Damaskus, Baalbek und Jerusalem. V o n Sommer 1 8 5 9 bis A n f a n g 1 8 6 0 f o l g t e die dritte und letzte Reise, in der er Ägypten v o m sechsten Katarakt aus besuchte, s o w i e die Sinaihalbinsel, Gaza und nochmals Jerusalem. D i e von den R e i s e n nach L o n d o n mitgebrachten Photographien wurden dort ab 1 8 5 7 publiziert. 2 Ihr Erfolg war durchschlagend, bereits 1859 erreichte das A l b u m and Palestine

photographed

and described

by F. [rancis]

Egypt

Frith, jun., das s o w o h l

einen einführenden Text als auch zu jeder Photographie einen erläuternden Kommentar v o n Frith hat, eine A u f l a g e von 2 0 0 0 Exemplaren. 3 Friths Reise-

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Francis Frith (1822-1898) in Chesterfield, Derbyshire, als Sohn von Quäkern geboren, wurde 1853 als „professional" und Gründungsmitglied auf der ersten Sitzung der Liverpool Photographie Society eingeschrieben. 1860 gründete er die Firma F. Frith & Co. in Reigate in der Region Devonshire. Diese wurde zur größten Herstellerfirma für photographische Massenware. Erst 1971 wurde sie liquidiert und ist heute eine „picture research collection". Vgl. J. Talbot, Francis Frith, 1822-1898. London 1985; J. van Haaften, J.E. Manchip White, Egypt and the Holy Land. Historic Photographs. 77 Views by Francis Frith. London 1980. S. Vn. Frith bereiste den Nahen Osten mit zwei Kameras, die Abzüge von 40 χ 50 cm und 20 χ 25 cm ermöglichten, und einer Dualen Linse für dreidimensionale stereoskopische Bilder. Begleitet wurde er von Francis Herbert Wenham, optischer Ingenieur und Berater der Firma Negretti & Zambra. Erste Stereoskopien von der Reise wurden wohl bereits im Herbst 1857 von Negretti & Zambra verkauft. Im Juli 1857 arrangierte Frith, daß Thomas Agnew & Son einzelne Abzüge von der großen Platte verkaufen sollten, während der Verleger James S. Virtue Photoalben herausgab. Vgl. Talbot 1985. Zu der Vermarktung der stereoskopischen Serien vgl. H.C. Adam, „Architektur-, Landschafts- und Reisefotografie. Anmerkungen zur Bildwelt des 19. Jahrhunderts". In: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie 3,1983,9. S. 57-78, hier S. 72-73. Zur Verbindung von Stereoskopie und Panorama vgl. M.L. von Plessen, U. Giersch, Hgg., Sehnsucht. Das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts. Basel, Frankfurt/M. 1993. Zu Francis Frith in seiner Zeit vgl. A. Briggs. Victorian Things. London 1988. Kapitel 3. F. Frith, Egypt and Palestine Photographed and Described. 1858/1859. London, New York, o. J., Nachwort. Das Werk erschien in 25 Lieferungen zu je drei Photos mit begleitendem Text von 1858 bis 1859. Der ersten Lieferung wurde eine Photographie von Fran-

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Photographien wurden zum Bestseller für eine ganze Generation. Was war an diesen Photographien so faszinierend? Francis Frith war weder der erste Reisende, der den Nahen Osten besuchte, noch der erste Photograph, der eine solche Reise unternahm. 4 Auch sind seine Motive und Blickwinkel größtenteils nicht ungewöhnlich. Häufig folgt er recht wörtlich seinen Vorgängern. Auch die Publikation seiner Photographien als Einzelphotos und Lieferungswerke auf Subskriptionsbasis war nicht neu. Da das Faszinierende also wohl weder im gewählten Sujet noch in der Art der Publikation lag, muß es an der Ausführung liegen. Diesem möchte ich im Folgenden nachgehen.

Ägyptenreise als Raum- und Zeiterfahrung Nicht nur Ägypten trat als Reiseland gebildeter Schichten Anfang des 19. Jahrhunderts neben die Grand Tour, sondern auch die Länder, die zu der Eastern Tour gerechnet wurden: Palästina, Libanon und Syrien.5 Diese wurden zumeist auf einer Reise besucht, da der organisatorische Aufwand beträchtlich war. So kann man in diesem Sinne von einer Raumreise sprechen. Diese Raumreise ist von den Reisenden als eine körperlich und mental mit vielen Schwierigkeiten verbundene, strapaziöse Erfahrung beschrieben worden, die in unterschiedlichen Situationen - im Boot auf dem Nil, vor den Denkmälern, im Hotel in Kairo - mit durchaus gravierenden Unterschieden erlebt wurde, die aber im Hinblick auf das Leben in England vernachlässigbar erscheinen, so daß die innerhalb der Reise erlebbaren Qualitätsunterschiede als Einheit betrachtet werden können.6

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cis Frith in the Turkish Summer Costume beigegeben. Jede Lieferung konnte für zehn Schillinge erworben werden. Vgl. dazu auch C. Armstrong, Scenes in α Library: Reading the Photograph in the Book, 1843-1875. Cambridge, London 1998, Kapitel 4, S. 287-359. Armstrong untersucht die Frith'schen Publikationen unter dem Aspekt des Positivismus und des Verhältnisses von Photographie und Text. Vgl. zu den Reisen mit der Kamera den Ausstellungskatalog Excursions along the Nile: The Photographie Discovery of Ancient Egypt. Santa Barbara 1974. Vlg. dazu: N.N. Perez, Focus East: Early Photography in the Near East (1839-1885). New York 1988. Zur Haltung der westlichen Welt gegenüber dem Nahen und Femen Osten vgl. E.W. Said, Orientalism. London 1978. Zu dem Komplex der Ägyptomanie und des Orientalismus in der bildenden Kunst vgl. u.a. W. Seipel, Hg., Ägyptomanie. Ägypten in der europäischen Kunst 1730-1930. Wien: Kunsthistorisches Museum 1994; G. Sievernich, H. Budde, Hg., Europa und der Orient 800-1900. Berlin 1989; Μ. A. Stevens, Hg., The Orientalists: Delacroix to Matisse. European Painters in North Africa and the Near East. London 1984. Speziell zum Problem der Türkenmode: M.E. Pape, Die Turquerie in der bildenden Kunst des 18. Jahrhunderts. Köln 1987. Siehe D. Gregory, „Scripting Egypt. Orientalism and the Culture of Travel". In: Writes of Passage: Reading Travel Writing. Hg. von. J. Duncan, D. Gregory. London, New York 1999. S. 114-150.

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Anders sieht es aus, wenn man den Aspekt einer Zeitreise heranzieht. Hier taucht eine komplizierte, sich teilweise überschneidende Schichtung verschiedener Zeiten in Form von Epochen, Kulturkreisen und kulturellen Leistungen auf: Das Ägypten der oberägyptischen Könige mit Pyramiden und Sphinxen, die Tempel der thebanischen Könige in Unterägypten und Nubien, die ptolemäische Herrschaft in Ägypten, die römischen Kaiser, die osmanische Herrschaft über den Orient mit den großen Moscheen, das Heilige Land, Palästina und die Halbinsel des Sinai als Zeugnis der christlichen Frühgeschichte, das moderne Ägypten und Palästina, die Präsenz der Engländer in diesen Ländern.7 Erlebbar und rekonstruierbar sind diese Zeiten an den Denkmälern, an den zeitgenössischen Städten, an der Wirkungsstätte bedeutender Persönlichkeiten, d.h. in der Landschaft und im Porträt der Zeitgenossen. Die Zeit der Reise selbst und der Standpunkt des Reisenden dem Bereisten gegenüber ist dann allen literarischen und bildlichen Endprodukten eingeschrieben. Daß die Zerlegung des Raumes Naher Osten in Schichten nicht nur retrospektiv wahrgenommen werden kann, sondern eine von den Reisenden intendierte ist, zeigt sich an dem 1842 schriftlich formulierten Programm der ersten großen Publikation, die das britische Publikum mit Bildmaterial versorgte, den fünf Folio-Bänden nach Zeichnungen David Roberts The Holy Land, Syria, Idumea, Arabia, Egypt ά Nubia,8 Das Werk umfaßt drei Abteilungen: The Holy Land, Palestine and Edom, Ancient Egypt and Nubia, Modern Egypt mit insgesamt 300 Lithographien. Der Text historische und beschreibende Notizen - wurden von George Croly verfaßt.9 In seiner Einleitung zu Ägypten heißt es ganz im Sinne einer Schichtung: How remote - how vast, are the historical associations which this word [Ägypten] calls forth! It not only embraces the entire period of sacred history, from Abraham for the Christian dispensation, but Egypt, in her profane history, issues at once from the mists of Time a great and powerful nation. To us she has no historical infancy. Evidence remains in the vast structures of the Valley of the Nile of her maturity four thousand years ago; they are the records of her social condition at that period; and the earliest historians, and the latest and most profound inquirers, confirm the claim which her imperishable pyramids and temples offer to her ancient greatness. [...] The present condition of Egypt is one of the

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1806 übernahm der Offizier Mehmet Ali die Regierung von Ägypten und leitete dessen Modernisierung ein. Der moderne Suezkanal wurde von dem französischen Diplomaten und Ingenieur Ferdinand de Lesseps (1805-1894) geplant, der auch die 1859-69 dauernden Bauarbeiten leitete. D. Roberts, The Holy Land, Egypt, Arabia, and Syria. London 1842-1849. Zu Roberts vgl. F. Bourbon, Ägypten und Das Heilige Land. Gestern und Heute. David Roberts' Reisetagebuch. Mit Photographien von Antonio Attini. 2 Bde. Köln 2001; G. Rächet, J. Simon, Voyage en tgypte. David Roberts. Paris 1995; K. Sim, David Roberts R. A. 1796-1864. London, Melbourne, New York 1984. Reverend George Croly (1785-1860) war als Poet und Bibelkritiker sehr bekannt. Er war Mitherausgeber des Universal Review und fester Autor des Blackwood Magazine. Zu seinen populärsten Novellen zählen Tales of the Great St. Bernard und Salathiel.

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greatest importance to us, since the establishment of a communication by the Nile, and transit by the Isthmus of Suez to the Red Sea, with our vast possessions in India.10 D i e kleine A u s g a b e v o n 1855 wiederholt diese A u f f a s s u n g , und die Werbung für die Frith'sehen R e i s e p h o t o s klingt ähnlich: There is, and ever will be, an enduring charm attached to those eastern lands which have been the birthplace of science and the cradle of Christianity. The colossal monuments and massive architecture of the Pharaohs and Ptolemy's excite the admiration of every reader, and awaken in the mind ardent desires to realize the magnificent description of ancient historians and modern travellers. Jerusalem, Nazareth, Tiberias, and the ruined cities of Palestine have also claims upon the Christian student, which surpass those of any other part of the globe." A u c h die Ä g y p t o l o g i n Sophia Poole und ihr Sohn Reginald Poole, A r c h ä o l o g e und Orientalist a m Britischen Museum, Verfasser der T e x t e der A u s g a b e n Frith'scher Photographien v o n 1859 und 1860/61, sehen die historische T i e f e n schichtung als ein besonderes Charakteristikum dieser Länder: In Egypt we have records of each of the great periods of its history, and each of its remarkable schools of art. The series begins with the vast monument of the Pyramid-age, the oldest of which were raised full four thousand years ago; it continues with the Temples of Thebes, founded under the Empire, and those of Ombos and Philae, monuments of the Greek and Roman dominions; it closes with the most beautiful works of Arab architecture.12 Frith selbst geht n o c h einen Schritt weiter. Ihm bietet nicht nur der Ort als Ganz e s ein Tableau verschiedener Zeitstufen, sondern auch einzelne Denkmäler können zur faszinierenden Zeitreise werden: A striking feature in the ancient monuments of Egypt is the very large proportion of unfinished works which they present, - indicating the long periods of time which were occupied in their construction and execution. [...] When one enters a stupendous temple whose foundations were laid three thousand years ago, and after passing from hall to hall and from chamber to chamber, whose wall areas all vocal with the quaint language of forgotten time, an apartment is reached in which the artist's hand seems but that instant to have laid aside his chalk - how powerful and strange is the appreciation, as it were, of the momentary lapse of ages'. How difficult to realize the fact, that two thousand years ago that hand was stayed, and that the work will never be resumed! These remarks are suggested by the subject of my present picture. 13 10

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Zitiert nach der zweiten Auflage von 1855, die sich im Text von der ersten nicht unterscheidet. D. Roberts, G. Croly, The Holy Land, Egypt, Arabia, and Syria. Bd. IV. London 1856. S. 3-4, Einleitung zu Ägypten. F. Frith, R. Stuart Poole, Cairo, Sinai, Jerusalem, and the Pyramids of Egypt. 1860/1861. London, ο. J. S. 2. Lieferung, hinterer Umschlag. F. Frith, R. Stuart Poole, Egypt, Sinai, and Jerusalem: A Series of Twenty Photographic Views by Francis Frith. With Description. 1859. London o. J., Einleitung. Frith 1858/1859, Text zu Lieferung 25, Photo 1, The Temple of Maharraka, Nubia. Bezeichnet: Frith Ε No 11. 1857.

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Hier verbindet das Denkmal die Gegenwart von Generation zu Generation mit einer dreitausend Jahre alten Vergangenheit. Medium der Vermittlung dieser vor Ort erlebten Zeiterfahrung ist die Photographie. Anders als eine Graphik, deren Endprodukt immer ein Gemachtes, Komponiertes ist, nimmt die Photographie durch den Prozeß der Belichtung das Vorhandene unverändert auf, wird Zeuge der ablaufenden Zeit, die so dem Betrachter ansichtig gemacht wird.

Reisen mit der Kamera Das Interesse an der Zeiterfahrung und deren Vermittlung unterscheidet diese Reisen von wissenschaftlichen Publikationen wie Napoleons großer Ägyptenexpedition oder den archäologischen Expeditionsergebnissen wie Lepsius' Prachtwerk Denkmäler aus Ägypten und Aethiopien.14 Frith, wie vor ihm bereits David Roberts, geht es nicht um eine dokumentierende Erfassung eines Landes und dessen Denkmälern. Beide zielen vielmehr auf die Vermittlung des Erlebnisses der Reise, der Begegnung mit einer fremden aber zeitgenössischen Kultur, mit Kulturen aus vergangenen Zeiten, der Stimmung im Nahen Osten, so z. B. des Lichtes Ägyptens, der Monumentalität, Schönheit oder Zerstörung der Denkmäler. Ziel der Reise ist bei beiden das visuelle Festhalten des Gesehenen, dessen textliche Erläuterung und Paraphrase. Das primäre Anliegen, die visuelle Berichterstattung, sicherte den Werken ihren Erfolg. Der kapitale Unterschied liegt in der Wahl des Mediums: der Lithographie bei David Roberts, der Photographie bei Francis Frith. Erscheinen die Motive der Zeichnungen David Roberts' dem Autor der Rubrik Chit Chat in der Zeitschrift Art-Union noch vor ihrer Veröffentlichung 1839 nicht besonders neu und spannend, da bereits durch viel Bildmaterial bekannt und damit nur für Antiquare und Bibelfreunde von Interesse,15 so befriedigen die Photographien fast zwanzig Jahre später ein ge14

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Zur Methode der Archäologie und dem Archäologischen als Erinnerungsfunktion vgl. B. Körte, „ ,The Reassuring Science'? Archäologie als Sujet und Metapher in der Literatur Britanniens", Poetica, 32, 2000. S. 125-150. Zum archäologischen Umgang mit der Rekonstruktion der Vergangenheit vgl. M. Shanks, C. Tilley, Re-Constructing Archaeology: Theory and Practice. Cambridge 1987; vgl. auch P. Levine, The Amateur and the Professional. Antiquarians, Historians and Archaeologists in Victorian England, 1838-1886. Cambridge 1986. , A selection from the Portfolio of Mr. Roberts' Sketches in Egypt and the Holy Land, has been exhibited during the last few days at Mr. Rainy's Auction Rooms, in Regent-street. Although many of the subjects are familiar to us from the large works of Denon and Belzoni; and the more recent publications of Wilkinson, Bartlett, Purser, and Allom, still they will possess great interest with the Antiquarian and lover of Biblical research. It is proposed to publish by subscription the whole series, or appear in parts at intervals; and we believe Mr. Harding has undertaken the difficult task of reproducing the Sketches in lithography; the estimate cost to the subscribers will be, for the entire work, about 100 guineas coloured, and 50 guineas plain - a sum which we fear may prevent it from receiving

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seilschaftlich umfassendes Interesse nach „absolutely truthful representation of the sacred places of Sinai and the Holy Land", „the monuments of Egypt", „the decay or demolition of ancient remains".16 Die zu diesem Zeitpunkt nur der Photographie mögliche ungeschönte Aufnahme eines Zustandes im Detail, wodurch eine andere Erfahrung von Zeit möglich wird als sie ein Text, eine archäologische Aufnahme im Medium der Graphik oder ein komponiertes Bild vermitteln kann, ist daher ein zentrales Anliegen der Frith'schen Publikationen. Gleichzeitig wendet sich Frith aber gegen den Totalitätsanspruch des Topos der Objektivität und Zuverlässigkeit der Photographie. In seiner Einleitung zitiert er Albert Smith, der den Unterschied zwischen Zeichner, Schriftsteller und Photograph beschreibt: Artists and writers will study effect, rather than graphic truth. The florid description of some modem book of travel is as different from the actual impressions of ninety-nine people out of a hundred, allowing all these persons to possess average education, perception, and intellect, when painting in their minds the same subjects, as the artfully tinted lithographs, or picturesque engraving of the portfolio, or annual, is from the faithful photograph. 17

Obwohl Frith Smiths Ansicht teilt, daß keiner der Reiseberichte vom Nil „graphic truth" spiegele, widerspricht er der Ansicht, die Photographie könne tatsächlich ein wahres („faithful") Bild vermitteln, da auch die Photographie den „spiritual charms" dieser Länder nicht gerecht werden könne. Aber auch die umfassende und getreue Vermittlung von dem Auge ungewohnten Szenen hält er für unmöglich. Ein Substitut für eine Reise können seine Photos daher nicht sein. Sie können nur für die Menschen, die sich den Luxus einer solchen Reise nicht leisten können und an Bildmaterial, wie durch David Roberts zur Verfügung gestellt, gewohnt waren, möglichst genaue Wiedergaben der Orte sein, die er besucht hat.18 Nur indem er den Stationen der klassischen Reiseroute folgt, kann er eine Aktualisierung des Ägyptenbildes bewirken. Dies gibt in seinen Augen seiner Publikation auch den Vorzug vor den Lithographien David Ro-

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that extended sale, which the interest of the work is entitled to." The Art-Union. A monthly Journal of the fine Arts, volume 1 for the year ending December 1839. London. Januar 1840 unter der Rubrik „Chit Chat", S. 96. Frith, Poole 1860/1861, S. 1. Lieferung, hinterer Umschlag. Frith 1858/59, Einführung, S. 1. - Albert Smith (1816-1860) ist bekannt als populärer Autor von Reiseliteratur, wie A Month at Constantinople (1951). „Nobody that has ever floated in a dahibich will argue that any existing Nile book conveys .graphic truth'. Yet it does not follow, Ο Albert Smith, that a photograph, because it is not .over-coloured', is therefore faithful. I am too deeply enamoured of the gorgeous, sunny East, to feign that my insipid, colourless pictures are by any means just to her spiritual charms. But, indeed, I hold it to be impossible, by any means, fully and truthfully to inform the mind of scenes which are wholly foreign to the eye. There is no effectual substitute for actual travel; but it is my ambition to provide for those to whom circumstances forbid that luxury; faithful representations of the scenes I have witnessed, and I shall endeavour to make the simple truthfulness of the Camera a guide to my Pen." Frith 1858/59, S. 1.

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berts'. 19 Gleichzeitig wendet er eine i m Vergleich z u m entwerfenden Künstler eingeschränkte Disposition der Kamera in ein werbewirksames Argument für d i e Photographie: Nur diese hält den tatsächlichen, ungeschönten Erhaltungszustand der Denkmäler fest. 2 0 D a s ist dann auch das Argument, das die Herausgeber des z w e i t e n Photoalbums als Werbung anfuhren: To gratify the feeling thus excited, and to bring home to English libraries life-like presentations of these wonders - in their actual condition - is a task which is pre-eminently the province of the photographer; and in the work now announced, the artist trusts that more has been done to effect that object than has been accomplished by all who have made the illustration of those countries their study. These photographs will be prepared under Mr. Frith's superintendence, and upon principles which are new and expensive, but which will ensure both unexampled richness and beauty of tone, and undoubted permanence. 2 ' S o vermittelt in den A u g e n der Zeitgenossen j e d e Photographie zunächst ein authentisches und getreues Bild, auf d e s s e n Inhalt der Photograph

keinen

Einfluß n e h m e n kann. D i e s wird als Verkaufsargument immer wieder benutzt und damit den Zeitgenossen geradezu aufgezwungen: The value of photography - its principal charm at least - is its infallible truthfulness. We may have long revelled in the poetry of the East; but this work enables us to look, as it were, upon its realities. We have reason to be grateful to the men whose genius has entertained and delighted us (from the author of the .Arabian Nights' downwards), but it is satisfactory and interesting now to have the silken veil withdrawn, and allow the sun himself to reveal to us the sculptured mysteries of grand old Egypt, and the desolation of modern Palestine.22 Gleichzeitig schwärmt der Verlag von der technischen Schönheit und hohen Haltbarkeit der Photographien, die sie graphischen Produkten gleichstelle, da jeder A b z u g , w i e ein graphischer, ein „Original" sei. 2 3 Frith verbindet dazu das Kollodiumnegativ-Verfahren mit e i n e m Albumin-Papier als Positiv. 2 4 Durch Tonungsbäder des Positivs kann er seinen A b z ü g e n eine mehr graue, grünliche oder gelbliche T o n u n g geben. Für die Ägyptenbilder nutzt er die Goldtonung, die zu einer erhöhten Haltbarkeit führt. 25 D i e g o l d e n e Tonung, die bei einigen "

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„David Roberts, in his splendid work, has bestowed upon it a very respectable and recognisable profile; but my picture shows that the face is so mutilated as scarcely to leave a feature traceable. Its proportion, however, are the marvel." Frith 1858/59, Text zu Lieferung 6, Photo 1: Osiridae pillars and fallen Colossus at the Memnotium, Theben. Bezeichnet: Frith Ε. no 18, 1857. Frith 1858/1859, Text zu Lieferung 13, Photo 2: View to Karnac, from the granite Pylon. Bezeichnet: Frith Ε No 49. 1857. Frith, Poole 1860/61, S. 2. Lieferung, hinterer Umschlag. Auf einer Ankündigung zu dem zweiten Werk von 1860 in der letzten Lieferung von Frith 1858/1859. Frith 1858/1859, Nachwort. Frith arbeitete nach dem von dem Engländer Frederick Scott Archer erfundenen und 1851 veröffentlichten Kollodium-Naplatten-Verfahren. Frith 1858/1859, Lieferung 2, technische Erklärung auf hinterem Umschlag.

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Ägyptenphotos ganz hell ist und einen gelblichen Grundton erreicht, basiert auf der den graphischen Verfahren parallelen stufenweisen Abfolge eines einzigen Farbtones im ganzen Bild. Frith gelingt dadurch eine besonders brillant glänzende Oberfläche, die das Motiv in lichterfüllter Klarheit wiedergibt. Erstaunlich ist die so erzeugte optische Bezugnahme auf Roberts' Lithographien, die, abgesehen von der Vorzugsausgabe, auf ockerfarbigem Papier gedruckt in Schwarz- und Weiß ausgeführt sind. Diese Bezugnahme verstärkt sich bei der Betrachtung der gewählten „views". Frith folgt hier sehr genau seinen Vorgängern David Roberts und Maxime du Camp. Er folgt damit aber auch deren Konzepten, die sich in der Wahl der Standpunkte, der Bildausschnitte, in der Gebundenheit an ästhetische Kategorien wie des Pittoresken, des Erhabenen oder der Ruinenästhetik widerspiegelt.26 So wird dann auch die „Unbestechlichkeit" der Kamera für bestimmte Sujets zu einer künstlichen. Frith liefert damit dem viktorianischen Publikum ein der Photographie angepaßtes, an ästhetische und mentale Konzepte gebundenes Bild des Nahen Ostens. Er bewegt sich in den Bahnen des Bekannten und kann dadurch die betonten Vorzüge des neuen, modernen Mediums Photographie - Unbestechlichkeit des Aufzeichnungsprozesses, Wahrhaftigkeit - besonders wirkungsvoll einsetzen, ja geradezu inszenieren. Besonders deutlich wird das daran, daß er seinen Blick auf die Dinge je nach Objektgruppe variiert: Ägypten wird z.B. anders ins Bild gesetzt als das Heilige Land. Damit konstruiert er nicht nur verschiedene Räume, sondern auch eine differenzierte, jeweils in sich geschlossene Wahrnehmung auf einzelne Epochen.

Strukturierung der Wahrnehmung Bei der photographischen Aufnahme des Heiligen Landes, Palästinas und ihrer historischen Stätten ist das künstlerische Können sekundär, hier liegt der Verdienst der Photographie nicht in der Schönheit der Form, der Varietät des Effekts oder der Wahrheit des Details. Allein auf die historischen Assoziationen kommt es an, die von der Abbildung eines Ortes beim Betrachter ausgelöst werden können: etwa daß die Photographie ζ. B. des Berges Horeb diesen nicht nur in seinem gegenwärtigen Zustand zeigt, sondern darüber hinaus den Ort, an dem sich Geschichte vollzogen hat, die auf das gegenwärtige Leben immer noch 26

Vgl. E. Burke, A philosophical enquiry into the origin of our ideas of sublime and beautiful (1756) und W. Gilpin, Observation on the River Wye, and several parts of South Wales, etc., relative chiefly to picturesque beauty (2. Auflage 1789) sowie Gilpin, Three Essays (1792). Zur Ruinenästhetik vgl. G. Simmel, „Die Ruine. Ein ästhetischer Versuch". In: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908. Hg. von. A. Cavalli. Frankfurt/M. 1993. S. 124130; B. Wyss, .Jenseits des Kunstwollens. Anmerkungen zum Historismus". In: Beiträge zu Kunst und Kunstgeschichte um 1900. Hg. von. E. Hüttinger. Zürich 1986. S. 27-37; A. Assmann, M. Gomille, G. Rippl, Hg., Ruinenbilder. München 2002.

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ihren Einfluß ausübt, 2 7 daß Hebron die Wirkungsstätte D a v i d s , Abrahams, Isaaks und Jakobs war, der Ort, v o n d e m die Heilige Familie nach Ägypten aufgebrochen ist. 2 8 S o b e w e i s t die Photographie von Nablus nicht nur den Ort, an den Abraham reiste, an d e m Teile der Geschichte Jakobs und Josephs sich zutrugen, sondern auch den guten Geschmack und das Urteilsvermögen der Patriarchen bei der Wahl ihres Handlungsraumes. 2 9 Hier geht es nicht u m das einzelne Denkmal, sondern u m die Wirkungsstätte, gleichzeitig u m die Korrektur des bestehenden B i l d e s von diesen Stätten. S o korrigiert die Photographie d e s Toten Meeres „ s o m e of the unsubstantial images". 3 0 D i e gleiche A u f g a b e sieht Poole bei den Photos von Jerusalem: Korrektheit und Sicherheit über die Stätte muß an die erste Stelle treten, denn nur s o kann Geschichte wirklich nachvollzogen werden. 3 1 D i e A u f n a h m e n des Heiligen Landes zeigen w e i t e Landschaftsausschnitte, meist von e i n e m erhöhten, panoramatischen Standpunkt aus aufgen o m m e n . 3 2 D i e B e t o n u n g der Stätte wirkte nich nur auf das „coffee-tablebook"-Publikum, sondern hatte eine große Wirkung auf die Bibelforschung und biblische Altertumskunde. A b 1 8 6 0 erscheint eine große n e u e Bibelausgabe mit z w a n z i g Photographien v o n Frith. 33 D i e s e b e l e g e n j e w e i l s topographisch eine

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„With most persons the photographs will derive their chief interest from their relation to history. Certainly, in many, this constitutes the first claim to our attraction. In the view of Jerusalem its artistic excellence is a second consideration; we are first stuck by the feeling that the very reflection of the Holy City is here before us. This historical associations of the view give it an interest that no beauty of form, variety of effect, or truth of detail, could ever awaken. So, too, with the view of Horeb and Serbäl, rival claimants to be the Holy Mount, the first thought is that, as we gaze at one of these, we probably see the very height beneath which the Israelite nation was assembled to receive the Law." Frith, Poole 1859, Einleitung. Egypt. Frith 1858/1859, Lieferung 6, Photo2: View at Hebron. Bezeichnet 1857, Frith Ρ 123. Frith 1858/1859, Lieferung 4, Photo 3: Nablous. „Perhaps there is not a spot upon earth which is popularly invested with more ill-defined and mysterious interest than the Dead Sea: and although a practical aquaintance with ist peculiarities may dispel some of the unsubstantial images [...]." Frith 1858/1859, Text zu Lieferung 12, Photo 2: The northern shore of the Dead Sea. Bezeichnet: Frith ρ 113. ,.Nowhere in this series do we so fully recognise the peculiar excellence of photography as in the view before us. In it we have the very reflection of Jerusalem. Artists have represented the Holy City, but while we have admired their works, we have lamented an inevitable want of perfect exactness. The first feeling in looking at them with those who had seen what they purport to portray has been disappointment; with those who had not, distrust. Here the first feeling is the satisfaction produced by confidence; and as with a much-loved face, such a truthful record is of more value than the most elaborately beautiful picture. [...] The associations of this view bring before us the great events of the history of the Holy City." Frith, Poole, 1860/1861, Text zu Lieferung 1, Photo 1: Jerusalem, from the Mount of Olives, bezeichnet: Frith 194. Auf einen Konzeptionswandel innerhalb der drei Riesen kann im Rahmen dieses Beitrags nicht weiter eingegangen werden. The Holy Bible, containing the Old and New Testament: translated out of the original tongues; and with the former translations diligently compared and reserved, by his Ma-

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Textstelle und Zeitstufe der biblischen Geschichte.34 Frith folgt bei der Wahl seiner Photographien der bekannten Tour durch das Heilige Land mit ihren klassischen Bildern. Aber auch hier zielt er auf eine Modernisierung, die in dem momentanen Festhalten des akturellen Zustandes zum Zeitpunkt der Aufnahme besteht, denn er zeigt nicht nur ein biblisches, sondern auch ein desolates Heiliges Land and Palästina, womit er sich gegen Photographen wie Beato, Salzmann oder Robertson absetzt, die ein eher glorifiziertes Bild geben.35 Ganz anders sieht das Bild aus, das Frith von „grand old Egypt" zeigt [Abb. 2]. Hier geht es um das einzelne Monument, hier sind die Denkmäler die Zeugen der verschiedenen historischen Epochen und Kunstschulen.36 Die Pyramiden werden bewundert, da sie die ältesten Monumente menschlicher Kultur in der Welt darstellen und Uber fünftausend Jahre alt sind.37 Dieser Zeitwahrnehmung unterliegen auch die Sphinxen, die Gräber im Tal der Könige,38 ein Teil der Tempel, die Obelisken und als letzter lebender Überrest dieser Epoche das Krokodil: It is very doubtful whether the banks of the Nile present to most travellers any object of greater interest than the monster which we have here depicted. The Crocodile is almost as essentially one of the wonders of the .fathers of rivers", as the temple ruins. I confess that I regard him as an essential ornament to its banks; it is one - almost the only living one of the venerable „institutions" of ancient Egypt."

So wird auch das Krokodil nicht anders behandelt als ein Denkmal, groß und monumental ins Bild gesetzt. Die photographische Umsetzung der Denkmäler des alten Ägyptens unterscheidet sich ihrerseits wiederum deutlich von der der griechischen und römischen Zeit, wie des Trajans-Kiosks der Insel Philae [Abb. 3] oder des Kiosks von Kertassi. Hier geht es weder um Geschichte noch um den Beweis des Alters, dessen Ehrwürdigkeit und Erhabenheit, sondern um einen ästhetischen Diskurs, der seine Wurzeln in der Verehrung der griechischen und römischen

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jesty 's special command. Illustrated with photographic views of biblical scenery from nature by Francis Frith. London 1860. Frith beschreite hier ein relativ neues Feld, denn die reine Landschaft wurde selten abgelichtet. Vgl. H.C. Adam, „Architektur-, Landschafts- und Reisefotografie. Anmerkungen zur Bildwelt des 19. Jahrhunderts". In: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie 3, 1983, 9. S. 57-78. Vgl. dazu und zur Geschichte der Photographie in Palästina Y. Nir, The Bible and the Image. The History of Photography in the Holy Land 1839-1899. Philadelphia 1985. Vgl. Frith, Poole 1859, Einleitung. Vgl. Frith 1858/1859, Text zu Lieferung 1, Photo 2: The Sphynx and Great Pyramide, Gezeh. Bezeichnet: Frith 1857. Frith 1858/1859, Lieferung 21, Photo 2, Valley of the Tombs of the Kings, Thebes. Bezeichnet Frith Ε No 65, 1857. 87-118. Frith 1858/1859, Text zu Lieferung 23, Photo 1, Crocodile on a Sand-bank.

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Antike hat und in England besonders fruchtbare Ergebnisse zeigte. 4 0 T h e m a ist die a n g e m e s s e n e U m s e t z u n g des Denkmals in eine g e l u n g e n e Komposition. Gerade zu d i e s e n Sujets nimmt Frith dann auch unter ästhetischen Gesichtspunkten Stellung, vergleicht die Möglichkeiten des Photographen mit denen des entwerfenden Künstlers. 4 1 B e i der Wiedergabe von Damaskus können die V o r z ü g e der Photographie besonders drastisch inszeniert werden: Ihre R o l l e besteht diesmal darin, ein völlig falsches, von romantischen Vorstellungen überformtes Bild in eine in Friths A u g e n durchaus schockierende, da äußerst häßliche Realität zu überführen [Abb. 4], D a m a s k u s verführt ihn zu einer kurzen philosophischen R e f l e x i o n über die in erster Linie literarischen Rezeptionsgewohnheiten seiner Zeit, den sich einprägenden Bildern von bestimmten Orten, deren Erinnerung vor Ort s o w i e den A b g l e i c h dieser erinnerten Bilder mit der Realität: Permit me, Ο gentle Public, a short and pertinent philosophical disquisition. It is sometimes with me a subject of amusing reflection to compare the well-remembered pictures, which the description of travellers had painted upon my fancy, with the impressions which the realities themselves have subsequently produced. Damascus for instance, still retains in my memory the two aspects almost equally vivid, but how different! I do not know that it would be quite fair to estimate the graphic power or the truthfulness of a writer's descriptions by the amount of coincidence between these two pictures, because the colour and much of the form of the imaginary landscape must necessarily be due, to a great extent, to the peculiar tone of the reader's mind: but I can scarcely believe that all the false colouring in the present instance is changeable to myself. Probably we must look for the cause, not so much in the actual falsity of what travellers have written, which is too often the pleasant and romantic view of the subject, as in the studied suppression of that large portion perhaps often one-half of the entire coup d'oeil - which is either commonplace or positively displeasing. And is it not because this latter element is revealed by Photography to an extent to which we are unaccustomed in art, that its effect is rarely quite gratifying the eye? [...] Again, „the oldest city in the world" presents few or no traces of high antiquity.42 Entsprechend desaströs inszeniert er dann auch den photographischen Blick auf Damaskus. In einer späteren Photographie wählt er aus eben diesen Gründen nicht mehr den nahen Detailblick auf die Stadt, sondern folgt der bildlichen und literarischen Tradition und photographiert Damaskus von den H ö h e n d e s Libanon aus. 4 3 Eine ähnlich enttäuschende und abschreckende Wirkung hat das

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Vgl. u. a. die berühmte Publikation The Antiquities of Athens von James Stuart und Nicolas Revett. Vgl. Frith 1858/1859 den kunsttheoretischen Text zu Lieferung 6, Photo 3, "Pharaoh's bed", Island of Philae. Frith 1858/1859, Text zu Lieferung 7, Photo 3: Damaskus. Bezeichnet: Frith Ρ 133. „It has been stated in a previous article upon Damascus that its details are likely to disappoint the traveller, and in presenting this attempt at the celebrated view of the city and plain from the slope of Lebanon, we must qualify the disappointment for our friends who have read the glowing descriptions of this scene given by a score of travellers, by acknowledging that the camera does very scanty justice - we might almost say does an injustice to subjects so distant, and so minute and indistinct in their details as this is; but had we not

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moderne Ägypten auf Frith. Dies zeigt sich z.B. in seiner Beschreibung der arabischen Ansiedlungen rund um die Tempel: Around many of the stupendous ruins of Old Egypt are now heaped mountains of the debris of deserted towns; or else modem Arab hovels of mud cluster round the columns, one of which, with its vast circumference and overhanging capital, affords support and shelter to several of these human dens. But no temple ruin - Edfou perhaps excepted - is so grievously infested and polluted as the Great Temple at Luxor.44

Aber auch der Rest des Landes und der zeitgenössische Ägypter erscheinen in wenig vorteilhafter Weise: It is true that the natural features of the country are, for the most part, monotonous and comparatively uninteresting - that the towns are paltry and dirty in the extreme, - that the Turkish Mohammedans' population is ignorant and bigoted, - that the Arabs who infest its solitudes, are the laziest, the most cowardly, and worthless set of fellows - in a word, and in every sense of it, the greatest vagabonds in existence.45

In dieser Erfassung des modernen Ägypten unterscheidet er sich deutlich von seinen Vorgängern: Roberts hatte ζ. B. die Größe und Schönheit der moslemischen Bauten herausgestellt, für die Frith kaum ein Auge hat. Hier wählt Frith einen eigenen Weg, der sich in der Konfrontation des konstruierten Orientalismus des 19. Jahrhunderts mit der Realität abzeichnet. Einen Ausweg findet er, indem ihn, in all dem Elend, plötzlich die faszinierende und aufregende Erinnerung und Wahrnehmung wieder gefangen nimmt, die einen Zirkelschlag zu den Anfängen macht und allem Sinn gibt: that this was the country of Abraham and the Prophets! - these the cities of David! and, first of all, and mingling with every line of its eventful history, - that this was the spot of His earth chosen by its Creator from the beginning, upon which the plan of His salvation should be finished. It was in Palestine that we made flesh and dwelt among men. 46

In diesem Bewußtsein zeichnet die Kamera jeden dieser Orte ungeschönt, ja den desolaten Zustand geradezu betonend auf. Was der Photograph und die Photographie hier leisten, ist eine Strukturierung der visuellen Exploration. Die körperlich vollzogene Reise ist etwas vollkommen anderes als das vom Photographen geschaffene Ergebnis dieser Reise, die den Bedingungen des Mediums streng unterworfen ist. Ob zweidimensiona-

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attempted it." Frith 1858/1859, Text zu Lieferung 14, Photo 3: Distant View of Damascus, from Salihiyeh. Bezeichnet: Frith Ρ 140. Frith 1858/1859. Text zu Lieferung 10, Photo 3: Portion of the great temple. Luxor. (The government corn stores). Bezeichnet: Frith Ε No 44. 1857. Frith 1858/1859, Text zu Lieferung 1, Photo 4: The Pool ofHezekaih, Church of the Holy Supulchre, etc. from the tower of Hippicus, Jerusalem. Bezeichnet: 1857. Frith 1858/1859, Text zu Lieferung 1, Photo 4: The Pool ofHezekaih, Church of the Holy Sepulchre, etc. from the tower of Hippicus, Jerusalem. Bezeichnet: 1857.

Raum-, Zeit- und Photoreise

le Photographie oder auf Dreidimensionalität

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die

Faszination liegt dabei nicht nur in der „Anwesenheit abwesender Räume und Zeiten", 4 7 sondern auch im M e d i u m selbst. Erst dieses konstruiert und rekonstruiert historische Räume und Zeiten und schützt diese vor den störenden Einf l ü s s e n vor Ort. Frith m ö c h t e w o h l kaum das englische Publikum z u einer R e i s e in den Nahen Osten auffordern, denn er verurteilt das Verhalten ausländischer Touristen aufs schärfste. Er wendet sich g e g e n deren Gewohnheit, ihre S a m m l u n g e n und M u s e e n mit exportierten Werken aufzufüllen. Genauso verurteilt er die ägyptis c h e Regierung, die dies zuläßt. Aber auch die Rezeptionsform d e s britischen Publikums daheim empfindet er als verfehlt: I may here remark, that I believe there is not now known to exist in Egypt a single statue or sphinx of movable proportions which is in any tolerable state of preservation. What can we think of a government which has systematically authorized travellers of all nations to mutilate or carry off its proudest specimens of ancient art? - an irreparable injury, which can indicate only the most barbarous carelessness of these unique treasures. Hundreds of these beautiful sculptures now enrich the museums and private collections of all Europe, but only the intelligent Egyptian traveller can fully appreciate their loss to Egypt. Methinks it were better that a few men who will be at the pains of seeking them in their legitimate places should enjoy them as they can only there be enjoyed, rather than that the hordes of careless people who throng the British Museum even should smile thoughtlessly at their incongruous quaintness, and, in England, their unintelligible grandeur.48 Immer wieder wettert er gegen ungebildete Touristen, die unfähig sind, vers c h i e d e n e Altersstufen der Denkmäler zu erkennen, 4 9 uninteressiert vor Ort erscheinen, sich v o n ahnungslosen Einheimischen z u m Kauf v o n Trödel überreden lassen und dabei vergessen, den Denkmälern denen ihnen a n g e m e s s e n e n Respekt entgegenzubringen. 5 0 D i e s e n Respekt vor d e m D e n k m a l , vor d e m

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Vgl. dazu auch G. Schmidt, . f o r t - Da: Zum Verhältnis von Raum-Zeit und BildWahrnehmung". In: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie 7, 1987, 23. S. 13-22, hier S. 21. Frith 1858/1859, Lieferung 16, Photo 3: The Granite Pyplon, &c„ Kamac. Bezeichnet: Frith Ε No 50, 1857. , Λ work which does not boast of at least three thousand years is .degenerate'. [...] Lutus struggles against this prejudice: admitting the old adage, .that all things must be judged by comparison', we will, if you please, compare Cleopatra's Temple at Ermet, not with the older monuments of Egypt, but with antiquities which are regarded at home as interesting and important." Frith 1858/1859, Text zu Lieferung 2, Photo 1: Cleopatra's temple at Ermet, bezeichnet: 1857. „Whilst I was arranging my apparatus to take this picture, a party of some five or six travellers rode up, accompanied by a rabble of Arabs, who offered pieces of mummy cloths, &c., for sale. I have reason to know that what I am about to write is literally correct, for I had to suspend my operations whilst the party was moving about the bases of the statues, and had nothing to do at the moment but watch anxiously for signs of their departure. But how true so ever my story, it will scarcely be believed, that at least two or three of the party spent their whole time on the spot in haggling with the Arabs over paltry purchases, and the moment they were concluded - my word for it - they threw themselves upon their

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Wirkungsort vorbiblischer und biblischer Geschichte vermitteln seine Photographien und Stereoskopien eindrucksvoll. Gleichzeitig informieren sie über den desolaten gegenwärtigen Zustand, was ihnen den Charakter der Reportage und höchste Aktualität zukommen läßt und das Eingreifen der britischen Regierung in den Augen des Publikums als äußerst sinnvoll und notwendig erscheinen lassen muß. So erscheint der Nahe Osten als ein Raum mit unterschiedlichen historisch hoch interessanten Zeitstufen, der sich in seinem aktuellen Zustand aber als ruinös und hilfsbedürftig darstellt. Unter diesem Gesichtspunkt wirken die Frith'schen Photographien aufklärerisch und stellen ein durchaus hilfreiches .Propagandamaterial' für die Aktivitäten der britischen Regierung im Nahen Osten dar. Das viktorianische Publikum benutzte sie nicht nur zur virtuellen Raum- und Zeitreise, sondern auch als Medium der Information und Meinungsbildung. Frith zeigt verschiedene Kultur- und Zeitkreise des Nahen Ostens, wie auch deren Verbindung von den frühen Hochkulturen bis zur Gegenwart, die sich ihm als desolat und dekadent darstellt. Dadurch regt er zum direkten Vergleich mit England an, das er im Rahmen der zeitgenössischen Diskussion von Fortschritt und Verfall auf der aufsteigenden Seite wahrnimmt und als neue Hochkultur erlebt.51

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donkeys, and rode off the next .sight', without ever having raised their eyes to the glorious old statues ofMemnon\" Frith 1858/1859, Text zu Lieferung 23, Photo 2: The broken obelisk, etc. Karnac, bezeichnet: Frith Ε No 46. 1857. Zu den Zeitkonzepten im viktorianischen England siehe: J. Hamilton Buckley, The Triumph of Time. A Study of the Victorian Concepts of Time, History, Progress, and Decadence. Cambridge 1966.

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Abb. 2: F. Frith. The Pyramids of Gizeh. Stereoskopische Aufnahme. Photo: Kollektion Dr. R. H. Krauss, Stuttgart.

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Abb. 3: F. Frith. The Smaller Temple of Philae. Stereoskopische Aufnahme. Photo: Kollektion Dr. R. H. Krauss, Stuttgart.

Abb. 4: F. Frith. Bird's Eye View of Damascus. Photo: Kollektion Dr. R. H. Krauss, Stuttgart.

Eckart

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„Fixed Periods". Euthanasie als disziplinierte Zeittechnologie in Uchronien und Utopien des ausgehenden 19. Jahrhunderts

Disziplinierte Zeittechnologie im 19. Jahrhundert In E.M. Forsters Kurzgeschichte „The Machine Stops" (1908) hält die Musikologin Vashti eine Vorlesung über „Music during the Australian Period", die über eine Art Bildtelefon übertragen wird. Diese Vorform webbasierter Lehre ist nur ein Beispiel des multiplen Kommunikationsterrors in Forsters dystopischer technologischer Projektion, dem sich die Figuren per Knopfdruck durch einen „isolation switch" entziehen können. Forsters Erzähler erwähnt daher eine proliferierende Irritation durch Beschleunigung in „that accelerated age".1 Ist Vashti einmal nicht zufrieden mit ihrer Vorlesung, so kann es passieren, dass sie um den Gnadentod bittet: At times, a friend was granted Euthanasia [...]. Vashti did not much mind. After an unsuccessful lecture, she would sometimes ask for Euthanasia herself. But the death-rate was not permitted to exceed the birth-rate, and the Machine had hitherto refused it to her.2

Neben der Intensivierung seines Bildes technologieinduzierter Dekadenz und mangelnden Lebenswillens zeichnet Forster hier auch zwei konfligierende Begründungen der Euthanasie nach: Vashtis Wunsch rekurriert auf die ältere, geprägt von individuellen Bedürfnissen, und die Antwort der Maschine auf eine jüngere, determiniert von den volkswirtschaftlichen Interessen gesamtgesellschaftlicher Planung. In diesem Beitrag wird es um die anthropozentrische Lebens- und Todeszeit gehen - im engeren Sinn um eine als „industriell-ökonomisch" zu bezeichnende Haltung zum Tod als Beendigung einer individuellen Zeitspanne von Lebensdauer.3 Der Titel des hier besonders betrachteten Romans von Anthony Trollope 1

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E.M. Forster, „The Machine Stops". In: Forster, The Machine Stops and Other Stories. The Abinger Edition. Bd. 7. Hg. von. R. Mengham. 1908. London 1997. S. 87-118, hierS. 90. Forster 1908, S. 112. Betrachten wir mit Kant Zeit als Form der sinnlichen Anschauung, dann folgt daraus, daß der Mensch für die Zeit kein Sinnesorgan besitzt, sie also in eine erfahrbare Form gebracht werden muß. Zeit ist insofern an die je verschiedenen Empfindungsformen gebunden, sie ist subjektiv und relational bzw. medial. Der verräumlichte Begriff (Spanne, aber auch kurz, lang, geraum) setzt ein lineares Zeitverständnis voraus. Diese Verräumlichung entsteht nach Lockes Essay Concerning Human Understanding aus der Verknüpfung einer inneren Zeit (duration) mit dem Bezugsmedium der Gestirne. Vgl. hierzu J. Mecke, „Zeit-

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bringt diese Spanne als „Fixed Period" pointiert zur Geltung. Ein solches linear verräumlichtes und quantifiziertes, später bei Bergson 4 und den Existenzphilosophen attackiertes Zeitverständnis gibt von der Mitte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts der Euthanasie-Diskussion die bei E.M. Forster angedeutete Wendung. Nach dem hermeneutisch unterfütterten Urteil von Jean-Pierre Wils zeigen sich in der Euthanasie-Diskussion Ende des 19. Jahrhunderts neue symbolische Felder, die bislang nicht thematisierte „Hintergrundannahmen" einer Gesellschaft und Kultur explizit werden lassen, ein „Paradigmenwechsel" im Kuhnschen Sinn, oder ein Wechsel der „Episteme" nach Foucault. Am Ende dieses Wechsels steht eine angesichts genominspirierter Bioethik-Debatten heute offenbar immer noch intakte biologistische und zunehmend auch explizit ökonomistische Sichtweise der Euthanasie. Nach Wils ist aus der negativen Eugenik - der Ausmerzung von Kranken - [...] eine positive Eugenik, die genetische Herbeiführung von Gesunden geworden. Damit ist keineswegs behauptet, dass ökonomische Faktoren in gesundheitspolitischen Überlegungen zu keiner Zeit eine Rolle spielen dürfen. Solches zu verlangen wäre naiv. [...] Aber die weitaus gefährlichere Naivität bestünde darin, in den Euthanasie-Debatten keine ökonomischen oder eugenischen Motive zu vermuten. 5

Die Euthanasie-Diskussion in Großbritannien seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts ist eine Diskussion der Zeitökonomie, und der Wechsel von zeitphilosophischen „Hintergrundannahmen" ist aus den Uchronien und Utopien dieser Zeit prägnant herauszulesen. Einerseits ist die Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts geprägt von der kompletten Erschließung des Planeten, die eine Raumexpansion hin von der Region zum Globalen oder Extraplanetaren befördert. 6 Andererseits zeitigte eine dynamisierte Erfahrungswelt eine dynamisierte Literatur, eben Forsters im Jahr 1908 durchaus nicht neue Diagnose eines „accelerated age". Der Schock der Umwälzung wird zur Norm der instabilen, industrialisierten Existenz. Was als geschlossene Systemutopie beginnt, endet bei Wells als dystopische Science Fiction. Schon mit der Industriellen Revolution nimmt die Zeitutopie oder Uchronie ihren Aufschwung. Sie markiert nicht

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theorie, Zeit-Medien und Medien-Zeit". In: Zeit -Zeilenwechsel - Endzeit. Hg. von U.G. Leinsle und J. Mecke. Regensburg 2000. S. 17-36, hier S. 21-22. Der Begriff der Dauer als individuell erlebter Zeit ist zentral für Bergsons Attacke auf meßbare, verräumlichte Zeit. J.P. Wils, Sterben: Zur Ethik der Euthanasie. Paderborn 1999. S. 133, vgl. auch S. 122, 131-132. Wils weist auf das intakte biologistische Paradigma hin, das aus dem Zerfall der harmoniösen oeconomica naturae zu eugenischer Handlungs- und Steuermacht erwächst, sowie auch auf die Konsequenz, sich völlig von naturalistischen Moralstrategien zu verabschieden, also auch von sozialdarwinistischen und deterministischen Vorstellungen. Alkon zitiert Blaise Pascals Reaktion auf die teleskopische Erweiterung des Blicks: „The silence of these infinite spaces terrifies me". P. Alkon, Science Fiction before 1900. New York 1994. S. 20. Hinzu kommen Weiterentwicklungen des Mikroskops und von Meßinstrumenten seit Ende des 16. Jahrhunderts, die insgesamt die Welt der Erscheinungen expandieren läßt.

Euthanasie als disziplinierte Zeittechnologie

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nur eine andere Welt, sondern eine mit der Gegenwart konkret verknüpfte, gestaltbare Zukunft, mit Wells' The Time Machine erstmals auch als Industriemaschinenreise beschrieben.7 Die Utopien werden weniger gegenbildlich, erscheinen verknüpfter, prozeßhafter, setzen die maschinell-industriellen Veränderungen als entscheidendes Wandelkriterium an. Auf diese Weise amalgamieren sie mit Vorformen der Science Fiction, die zu dieser Zeit noch weitgehend an den gesellschaftlichen Auswirkungen von Technologie interessiert ist und nicht selbstzweckhaft technologisch extrapoliert. Sie tendieren zu einem „egalitären Massenhedonismus", 8 aber mit dem Ende des geschlossenen Idealsystems auch zur Dystopie. Die Evolution erweist die Verknüpfung der Jetztzeit mit Vergangenheit und Zukunft. Sie erhärtet die Vorstellung permanenten, minutiösen, unberechenbaren Wandels, bleibt allerdings gegenüber dem Fortschrittsdenken zufällig, irrational und ziellos.9 Paradigmatisch umgesetzt ist dies in The Time Machine (1895), auf deren Zeitreise Carlyles „Age of Machinery" Darwins Daseinskampf begegnet. Verschiedene Ansätze zeigen die Modernisierungsprozesse im 19. Jahrhundert kulturanthropologisch auf. Der schon aus Kants permanenter Schöpfung und seiner später widerrufenen These von der „Unendlichkeit der zukünftigen Zeitenfolge" oder aus Charles Bonnets Theorie der Entwicklung präformierter Individuen herauszulesende kosmologische und ontologische Evolutionsgedanke weitete sich durch Charles Lyells Principles of Geology (1830-33) auf die phylogenetische Entwicklung der Lebewesen in großen Zeiträumen aus.10 Die Evolutionstheorie im Gefolge von Darwins Origin of Species brach die bis dato weitgehend monolithische christliche Teleologie und die Vorstellung einer unveränderlich stabilen Ordnung auf und setzte pro- und retrospektives Zeitund Verlaufsdenken in Gang. Darwin eliminierte die Schöpfung und legitimierte die langgezogene Entwicklung und den Zufall. Die fundamentale vitalistische

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Als Zeitutopie avant la lettre gilt S. Merciers Van 2440 (1770 oder 1772), die jedoch trotz naturwissenschaftlichen Fortschritts noch keine umfassende techno-soziale Neuerung projiziert. In dieser Hinsicht gelten schon Schwonke eher Thomas Erskines Schwesterplanet Armata (1817), wo Maschinenkraft Handarbeit ersetzt und Etienne Cabets Voyage en Icarie (1842), wo die Dampfkraft die Macht der Aristokratie sprengt: „La vapeur fera sauter l'aristocracie!" als dynamische, „kinetische" (H.G. Wells) Zeitutopien. Vgl. M. Schwonke, Vom Staatsroman zur Science Fiction. Eine Untersuchung über Geschichte und Funktion der naturwissenschaftlich-technischen Utopie. Stuttgart 1957. S. 28-29, 33-36. Vgl. die Diskussion bei R. Saage, Utopieforschung. Darmstadt 1997. S. 36, der nachzeichnet, wie H. Jonas dem Bloch'schen „Prinzip Hoffnung" die extrapolierende und projizierende Science Fiction wegen ihrer Nähe zur Verantwortungsethik vorzieht, hier S. 78. R. Wendorff, Zeit und Kultur: Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa. 3. Aufl. Opladen 1985. S. 407. Vgl. hierzu Wendorff 1985, S. 318. G. Beer, Darwin's Plots: Evolutionary Narrative in Darwin, George Eliot, and Nineteenth-Century Fiction. London 1983. S. 15; und G. Braungart, „Apokalypse in der Urzeit. Die Entdeckung der Tiefenzeit in der Geologie um 1800 und ihre Literarischen Nachbeben". In: Leinsle, Mecke 2000, S. 107-120, hier S. 107.

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Unterscheidung zwischen Unbelebtem (das den Regeln Newtons unterliege) und Belebtem (das vom reinen Naturgesetz ausgenommen sei) wurde zerstört." Zum Ende des Jahrhunderts hin, im fin de siecle, überwiegen der z.B. bei Thomas Henry Huxley für Wells entscheidend wirksame Entropiegedanke und der Ausdruck allgemeiner Auflösungserscheinungen hin zur pessimistischen Philosophie Schopenhauers oder dem Nihilismus Nietzsches. Diese negative Teleologie einer zielführenden Gerichtetheit in der Idee eines „Kältetods" ist schon punktuell bei Dickens nachgewiesen, wird bei Wells phasenweise spürbar und schlägt sich deutlicher im Werk Thomas Hardys und im Modernismus nieder. Die fortschreitende Verzeitlichung der Existenz vollzieht sich durch Veränderungen sowohl von Zeit-Medien (z.B. Uhren als „technische Dispositive zur Darstellung von Zeit") 12 als auch von Medien-Zeit (veränderte Zeitwahrnehmung durch Kommunikationsmedien wie Eisenbahn, Telegraph etc.). Die Eisenbahn bringt Erfahrungen von Raumerweiterungen und Raumverlust. Sie durchschießt gleichmäßig, regelmäßig und (scheinbar) unermüdlich, so eine gängige Metapher, als Projektil die Landschaft, vernichtet so die Entfernung, also das Raum-Zeit-Kontinuum, und entauratisiert den Raum. 13 Die neue, animierte, apparative Wahrnehmung ist nach Dolf Stemberger und Wolfgang Schivelbusch eine panoramatische, nach Hans Ulrich Seeber eine impressionistische. 14 Diese apparative Zeit wurde im 19. Jahrhundert durch die Verbreitung der maschinellen Zeitnahme vorgeprägt: Der theoretisch bereits voll entwickelte Prozeß der Modernisierung und Abstraktion des Zeitverständnisses gelangt in das Alltagsbewußtsein. Am Beginn dieses Prozesses stand gegen Ende des 13. Jahrhunderts die Erfindung der Räderuhr mit mechanischer Spindelhemmung und Schlagwerken und damit das Ende der fließenden, verrinnenden Zeit: „[Die mechanische Hemmung] machte die Uhr zu einer Maschine, die, unabhängig

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D. Stemberger, Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1938. S. 91104. Die zentrale Rolle Darwins bei der Entstehung technologischer Utopien und scientific romances kann nicht Uberschätzt werden. Vgl. z.B. Beer 1983, H. Schnackertz, Darwinismus und literarischer Diskurs. München 1992. J. Mecke, „Zeittheorie, Zeit-Medien und Medien-Zeit". In: Leinsle, Mecke 2000, S. 23. Vgl. W. Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise: Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1977. S. 42; W. Klooß, „Dickens, Ruskin, Turner: Zur Ästhetik des technischen Zeitalters". In: Die Industrielle Revolution in England. Hg. von B. Schulte-Middelich und P.O. Stummer. Heidelberg 1990. S. 29-46. Schivelbusch 1977, S. 59; H.U. Seeber, „ ,The Country Swims with Motion': Poetische Eisenbahnfahrten in England". In: Literatur in einer industriellen Kultur. Hg. Von G. Großklaus und E. Lämmert. Stuttgart 1989. S. 407-430, hierS. 424. Zum panoramatischen Sehen auch Klooß 1991, S. 40, der nach Stephan Oettermann Robert Barkers LeicesterSquare Panoramen (1792-1861) als „ästhetische Antwort auf die mit der Erfindung der Montgolfiere empirisch erfahrbar gewordene Horizonterweiterung" beschreibt. Dieser apparative Entzug der Wahrnehmung von Raum und Zeit weist Großklaus zufolge eine Kontinuität in das folgende Jahrhundert auf. Vgl. G. Großklaus. Medien-Zeit. Medien-Raum. Zum Wandel der raumzeitlichen Wahrnehmung in der Moderne. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1997. S. 86.

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von äußeren Einflüssen und astronomischen Gegebenheiten, nur den Gesetzen der Physik folgend, den Ablauf der Zeit in gleichmäßige Stücke zerhackt."15 Die noch ungenaue Uhr wurde zum hypertrophen bewegungsmechanischen Spielzeug in Kirchen und auf Marktplätzen, es folgte, besonders durch den Buchdruck, die Verbreitung von Kalendern im 15. und 16. Jahrhundert.16 Mit dem formalen und mechanistischen Zeitdenken, dem genauen Messen, begann die moderne Physik ebenso wie die „Herrschaft" der „Uhrwerksmetaphern",17 und die Uhr wurde zu LaMettries Paradebeispiel für den mechanischen Menschen. Progressiv-lineares Zeitdenken („Zukunftswitterung") ersetzte immer mehr die Zeit als Zyklus, so bereits bei Francis Bacon, der darüber hinaus schon produktionskoordinierende Effekte erkennt, wie seine 1620 geäußerte Vorstellung von der Zeit als Maßstab wirtschaftlicher Tätigkeit bezeugt. Verlust an frommer zeitökonomischer Struktur ist 1719 eine große bürgerliche Angst von Defoes Robinson Crusoe, für den als homo oeconomicus seine Zeitrechnung ein Ausdruck seiner kolonialen Zivilisationsleistung ist. Nach David McClelland geht der frühindustriellen Zeitökonomie die Durchsetzung des Leistungsdenkens in der populären calvinistischen Literatur voraus. Mit Bezug auf Max Webers Thesen ließe sich ein Zusammenhang von Protestantismus, Uhrenproduktion und frühkapitalistischem Zeitbewußtsein konstruieren, das über Richard Baxters Aufruf zur gottgefällig sinnvollen Nutzung der kostbaren Zeit im Christian Directory (1664-65) zu Benjamin Franklins Maxime Time is Money (1748) führt, zur Zeit als standardisiertem Tauschobjekt.18 Durch Gewichtsantrieb, Feder und Pendel gewann die Uhr an Präzision, die infolge der verstärkten Nachfrage pragmatisch tragbar und zu Taschenuhren miniaturisiert wurde.19 Ende des 18. Jahrhunderts war nach dem Urteil von Adam Smith die Uhr eine Massenware geworden und das neue Zeitbewußtsein wurde zum Massenphänomen. Im Zuge industrieller Fertigung im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden Uhren auch erheblich billiger, so dass sie schließlich nur noch den Tageslohn eines Arbeiters kosteten.

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R. Glasemann, „Die Uhr als Maschine: Zur Technikgeschichte der Räderuhr". In: Uhrzeiten. Die Geschichte der Uhr und ihres Gebrauchs. Hg. v. I.A. Jenzen. Marburg 1989. S. 218-238, hier S. 219. Vgl. auch Mecke 2000, S. 25. Dieser nennt diese Veränderung als ,.mindestens ebenso gravierend [...] wie die kopernikanische Wende". Vgl. Wendorff 1985, S. 187. Der Kalender ist in der Französischen Revolution, bei Comte oder in der Sowjetunion Spielfeld erfolgloser weltanschaulich-rationalistischer Umgestaltungsphantasien (vgl. Wendorff 1985, S. 334-337). Klaus Maurice, zit. in Wendorff 1985, S. 231. Dort werden auch Beispiele angeführt: Kepler nannte erstmals die Himmelsmechanik ein Uhrwerk, Leibniz sprach 1715 von der Gottesmaschine. Vgl. zu diesem Faktenkomplex die Darstellung in Wendorff 1985, S. 200-285. Mit Huygens Pendeluhr nach Erkenntnissen von Galilei und den genauen Zeitforschungen der Royal Society beginnt die sinnvolle Minutenzählung. Cipolla beschreibt, wie London mit einer Jahresproduktion von 130 000 Uhren neben Genf zu Beginn des 18. Jahrhunderts vor allem durch Einwanderer zu einem Zentrum der auch bis nach China exportierenden Uhrmacherkunst aufsteigt. Vgl. zu diesem Abschnitt insgesamt die Darstellung bei C.M. Cipolla, Gezählte Zeit. Berlin 1997. S. 78-81 und Glasemann 1989, S. 235.

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Günter Dux hat im Anschluß an Piaget, Dürkheim und Elias gezeigt, dass das Zeitverständnis sich aus dem Gewinn von Handlungskompetenz entwickelt, wobei die zunehmende Komplexität und Abstraktion zur modernen Weltzeit fuhrt, die Uber die Funktionalität der Bindung an einzelne Räume und Handlungen weit hinausgeht. 20 Sowohl Triebfeder (um eine mechanistische Metapher zu benutzen) als auch Voraussetzung einer industrialisierten Zeitnahme sind die Eisenbahn (durch standardisierte, anschließbare Zeitplanung) und die Fabrik (mit der zwangsläufigen Unterwerfung unter eine gemeinsame Zeitdisziplin). Zeit wird als maßgebliche „Konstante bei der Kapital- und Profitbildung", 21 dem Marxistischen Soziologen N.N. Feltes zufolge, zur commodity-time. Dem von Adam Smith in The Wealth of Nations beklagte „sauntering" des Landarbeiters, der über seine eigene Zeit verfügt, wird durch die maschinell verfügte Zeitökonomie ein Ende bereitet,22 perfektioniert später im Tayloris-mus. Wendorff urteilt: „Im 19. Jahrhundert wurde sie [die Uhr] zum unbarmherzigen Mahn- und Meßinstrument für Leistung und Fortschritt in allen Lebensbereichen." 23 Der Visionär William Blake notiert bereits um 1814 in Jerusalem, wie im Rahmen der „Arts of Death in Albion" die Sanduhr, ähnlich wie andere traditionelle Erscheinungen wie Wassermühle, Pflug und Schafhirte, ersetzt wird durch unüberschaubare, versklavende und entfremdende Uhrwerk- und Fabrikmechanismen: And in their stead, intricate wheels invented, wheel without wheel, To perplex youth in their outgoings & to bind to labours in Albion Of day & nights the myriads of eternity: that they may grind And polish brass & iron hour after hour, laborious task. Kept ignorant of its use: [...].

In einem frühen Stück, das Tennyson 1823 als Vierzehnjähriger schrieb, spricht der Teufel über eine dämonische Uhr, „clock in Pandemonium", die als Pendel die Vergeudung der Erde anzeigt und offensichtlich auf die regulierende Uhr der lärmenden Fabrikhölle rekurriert, welche die dynamische, heilsgeschichtliche Zeit herausfordert. 24

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G. Dux, Die Zeit in der Geschichte: Ihre Entwicklungslogik vom Mythos zur Weltzeit. Frankfurt/M. 1992. S. 99. Klooß 1991, S. 35. Ν. N. Feltes, „To Saunter, to Hurry: Dickens' Time and Industrial Capitalism". In: Victorian Studies, 20, 1977. S. 245-267, hier S. 250. Wendorff 1985, S. 337. Blake und Tennyson sind zitiert in: Η. Jennings, Hg. Pandemonium 1660-1886. London, Basingstoke 1995. S. 136, 163.

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Euthanasie, Zeitutilität und Utopie Im Folgenden möchte ich die um 1870 in Großbritannien einsetzende Euthanasie-Debatte als lebenszeitlichen Spezialfall solcher an der Verwaltung, Gestaltung und Disziplinierung von Tages- und Arbeitszeit ablesbarer Überlegungen beschreiben. Eine in gleichmäßige Stücke zerhackte und ökonomisierte Lebenszeit zur Bewältigung von akzelerierendem Zeit-Chaos ist Grundlage dieser durch die Evolutionstheorie entfachten Diskussion. Die Haltung zur Euthanasie wandelt sich vor dem Hintergrund überhand nehmender Zeitökonomie und sozialdarwinistisch gedachter commodity-time. Die Euthanasie-Debatte wird von einigen Denkrichtungen in die auch heute noch kontrovers diskutierte Ausrichtung gesteuert: 1. Französische Sozialutopien (Charles Fourier, Auguste Comte): Die Gedanken der französischen Sozialutopisten wurden in Großbritannien erst ihres revolutionären Gewands entkleidet und über den Umweg des Positivismus, durch die Rezeption eines Schülers von St. Simon, Auguste Comte, wirksam. Grundlegend ist der Gedanke einer Überwindung des Ständestaats, später auch des kapitalistischen Systems durch soziale Reglementierung, im Fall Fouriers in sog. phalanges, Gruppen von 1600 Menschen, die in Gemeinschaftsunterkünften, sog. phalansteres leben. Von Fourier wie auch von Comte ist in der britischen Rezeption generell die Auflösung der Familie und die Unterwerfung des Individuums unter gesamtgesellschaftliche Regularien abzuleiten.25 2. Utilitarismus und Political Economy (Malthus, Bentham): In Großbritannien kann sich der gesellschaftliche Positivismus auch auf den etablierten Utilitarismus nach Bentham berufen, mit folgenden Kennzeichen: - dem Gleichheitsprinzip: „everybody to count for one, nobody for more than one" mit der Problematik, die humane Verschiedenheit nicht ernst zu nehmen (John Rawls), - dem Prinzip der Verallgemeinerung, nach der ein individuelles Verhalten dem allgemeinen Verhalten gegenüber gestellt werden muß, - der Nutzenmaximierung und Effizienz mit der inkonsistenten, weil in den Komponenten unvereinbare Maxime „greatest happiness for greatest number", einem quantitativ gedachten hedonistischen Kalkül, - der regelhaften Ethik (rule utilitarianism) inkl. Sanktionierung, - aus der Maximierung des Gesamtnutzens folgernd z.B. die Billigung von Abtreibung und Euthanasie „sofern sie der Vermeidung von Leiden dienen".26 Dies schließt auch individuelle Ungerechtigkeit nicht aus und förderte die Ab-

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Die Pervertierung solcher Maximen wird spätestens seit Aldous Huxleys Brave New World, ihrem Planetary Motto „Community, Identity, Stability" und dem wenig therapeutischen, ersatzschöpfenden Klonen von maschinenbedienenden Gammas, Deltas und Epsilons (.fertilize and bokanovskify") karikiert. Vgl. hierzu Huxley, Brave New World. 1932. London 1977, S. 18-19. Pieper 1992, S. 173.

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wertung bloß biologischen Lebens und die Lockerung des humanen Heiligkeitsprinzips.27 Darüber hinaus geht jedoch die Privilegierung des Numerischen und Rationalen gegenüber dem Individuellen und Empfundenen mit einer größeren Disponibilität des menschlichen Zeitkörpers einher, der als Funktion in einem kollektiven Zusammenhang bestimmbar ist. 3. Arbeitsteilige Zeitökonomie: Übertragen auf die Lebenszeit ist - zugespitzt formuliert - die Konsequenz, daß nur Lebenszeit von allgemeinem Nutzen erhaltenswert ist. Regelmäßigkeit, z.B. im Schichtbetrieb, ist kennzeichnendes Merkmal der Industriearbeit. Die Identifikation mit dem industriellen Arbeitsplatz ist schwer, denn dieser ist gekennzeichnet durch Monotonie, Reizarmut, Reizüberflutung, körperliche Zwangshaltung, Bewegungsarmut, Zeitdruck, Dequalifizierung, Belastung durch Lohnanreizsysteme und Gesundheitsbeeinträchtigung.28 Die dort verbrachte Zeit wird als entfremdete Zeit empfunden, und nach dem weithin gültigen Urteil von E.P. Thompson29 ist es die disziplinierte Zeitarbeit mehr als Krankheit und Armut, die einen Schatten auf die industrialisierte Arbeitswelt wirft. Karl Marx beschrieb, wie die akzeptierende, zyklische Umlaufgeschwindigkeit des Kapitals Druck auf Verlängerung der Arbeitszeit und die Verkürzung der Produktionszeit ausübt. Umgekehrt mißt sich sozialer Fortschritt im 19. Jahrhundert zeitlich, nämlich als Reduktion von Arbeitszeit von 14 bis 16 Stunden auf 12 Stunden (nach der 1805 beginnenden Einführung von Gasbeleuchtung und Nachtschicht), nach dem „Ten Hour Movement" in dem „Ten Hour Act" (1847) auch auf 10 Stunden, zur Jahrhundertwende hin mit Bestrebungen zum 8-Stunden-Tag. Arbeitsdauer und Arbeitstempo werden von der Maschine abhängig. Mit der in der zweiten Jahrhunderthälfte ansteigenden Lebenserwartung bei stabilen Geburtenzahlen und unwesentlich geringerer Säuglingssterblichkeit (Impfungen, Hygiene, Ärzte, Krankenhäuser, Nahrungsmittelkontrolle etc.) stellte sich die Frage von ausgedehnter Lebenszeit bei geringerer Lebensarbeitszeit.30 Das Zusammentreffen von handlungskompetentem Zeitverständnis und intensivierter Zeitregulierung läßt die Ausweitung von tageszeitlicher zu lebenszeitlicher Disziplinierung folgerichtig erscheinen.

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Vgl. hierzu U. Gähde, Hg., Der klasssische Utilitarismus. Berlin 1992. S. 85; N. Hoerster, Utilitaristische Ethik und Verallgemeinerung. Freiburg, München 1977. S. 41; J.C. Wolff, „Utilitaristische Ethik". In: Geschichte der neueren Ethik. Bd. 1. Hg. von A. Pieper. Tübingen, Basel 1992. S. 151-159. J.P. Rinderspacher und A. Ermert, „Zeiterfahrung in der Leistungsgesellschaft". In: Zei'f, Natur und Mensch. Beiträge von Wissenschaftlern zum Thema 'Zeit'. Hg. von H. Burger. Berlin 1986. S. 304-329, hier S. 323. E.P. Thompson, The Making of the English Working Class. Harmondsworth 1980. S. 48788. Während in der ersten Phase der Industriellen Revolution die Lebenserwartung von Industriearbeitern drastisch sank, ist in der Folgezeit zumindest für die Bevölkerung insgesamt ein Anstieg festzustellen (durchschnittl. Lebenserwartung in den USA: 1850: 38,3 J., 1900: 58,2 J„ vgl. Wendorff 1985, S. 424), der schließlich - allerdings deutlich später als etwa in Deutschland - zu einer Sozialgesetzgebung mit Rentenanspruch führte.

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Der Gedanke einer allumfassenden Staatslenkung führt jedoch nicht zwangsläufig zur Euthanasie. In Edward Bellamys Looking Backward wird die Lebenszeit staatlich reguliert, von der Konskription in die Industriearmee bis zum Ausscheiden in den Ruhestand im Alter von 45 Jahren. Gerade in Opposition zu Bellamys Zeitdisziplinierung stehen Gegenmodelle, die - wie übrigens auch Bellamy selbst - die Ausdehnung individueller Lebenszeiträume als Argument ins Feld führen. 31 Solche Utopien, die eine Rückkehr zu einer vorindustriellen, ökonomischen und sozialen Verfassung skizzieren, zeichnen die unter individualistisch-naturzeitlichen Bedingungen lebenden Menschen häufig mit physischer Kraft und Schönheit, verzögerten Alterungsprozessen und verlängerter Gesundheit aus, wie bereits bei Charles Fourier, in dessen utopischer Welt die Menschen durchschnittlich 144 Jahre alt werden. In W. H. Hudsons The Crystal Age (1887) hat die naturreligiöse, matemalistisch-ökologische, gemeinschaftsverbundene Waldrasse den Alterungsprozeß um die Hälfte verlangsamt, so daß die 63-jährige Edra auf den utopischen Reisenden Smith wie eine 28-Jährige wirkt.32 William Morris' News from Nowhere nutzt wohl Hudsons Idee eines langen Naturlebens für ein weiteres regressives Gegenmodell. Der utopische Reisende William Guest zählt die Uhrzeit nach Stunden, bevor er in seinem Traumschlaf nach Nowhere gelangt, wo die Uhren insofern anders gehen, als die Jahreszeit von Winter nach Sommer gewechselt ist. In News from Nowhere kommt den Nowhereians der 56 Jahre alte Guest wie ein 80-Jähriger vor, während dieser die 42-jährige Annie für 20 hält. Old Hammond, einer seiner utopischen Reiseführer, evtl. ein Zukunftsverwandter und in jedem Fall Spiegelfigur, ist 105 Jahre alt.33 Doch bereits die Frage nach dem Alter kommt den Nowherians utilitaristisch vor, denn ihre Zeit ist in markantem Kontrast zu Bellamys Industriearmee eine geradezu anarchische, inhomogene und nichtlineare Naturzeit und keinerlei Reglementierungen unterworfen - was allerdings für das zumindest residuale Uhrzeitbewußtsein und die Historizität der utopischen Welt (Kapitel 17: „How the change came") eine logische Inkonsistenz bedeutet. 4. Sozialdarwinismus (Spencer, Galton, Haeckel): Der offensichtliche Wert, den diese Texte auf eine verlängerte Lebenszeit in einem überlegenen Körper legen, führt unweigerlich zum Einfluß des Darwinismus. Im Jahr 1870 forderte der Lehrer und Schriftsteller Samuel D. Williams aus Birmingham erstmals, Ärzten bei hoffnungslos Kranken aktive Sterbehilfe zu erlauben.34 Zwischen 1871 und 1873 wurde im Spectator in Editoriais, Beiträgen und Leserbriefen die 31

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Auch Bellamys Leben in der „industrial army" mit ihrer Warenumsatzmaschinerie wirkt sich in längerem Leben und höherer Qualität aus: „Thanks to the better conditions of existence nowadays, and above all the freedom of everyone from care, old age approaches many years later and has an aspect far more benign than in past times." E. Bellamy, Looking Backward 2000-1887. 1988. New York, Scarborough, Ont. 1960. S. 137. W.H. Hudson, A Crystal Age. London, Toronto 1923. S. 119. W. Morris, News From Nowhere and Other Writings. Hg. von C. Wilmer. 1890. Harmondsworth 1998. S. 57 sowie 87. Der Philosoph Lionel Tollemache verteidigte Williams in The Fortnightly Review (1873). Vgl. hierzu und für das Folgende die Darstellung in U. Benzenhöfer, Der gute Tod? Euthanasie und Sterbehilfe in Geschichte und Gegenwart. München 1999. S. 145-146.

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Euthanasie heftig diskutiert. In der Folgezeit lehnen die Ärzte im British Medical Journal zwar ohne Ausnahme die aktive Sterbehilfe ab, doch gefördert wird die Diskussion vom sozialdarwinistischen Klima, abzulesen z.B. in Herbert Spencers „The Study of Sociology" (1873): For if the unworthy are helped to increase by shielding them from that mortality which their unworthiness would naturally entail, the effect is to produce, generation after generation, a greater unworthiness. [...] Fostering the good-for-nothing at the expense of the good, is an extreme cruelty. It is a deliberate storing-up of miseries for future generations. There is no greater curse to posterity than that of bequeathing them an increasing population of imbeciles and idlers and criminals. [...] Such acquaintance with the laws of life as they have gathered incidently, lead many to suspect that appliances for preserving the physically-feeble, bring results that are not wholly good.35

Im Kontext der von Darwins Cousin Francis Galton seit Mitte der 1860er Jahre, z.B. in Hereditary Genius (1869), propagierten und benannten Eugenik, der Vision eines durch Züchtung optimierten Menschen zum Schutz vor Spencers „physically-feeble", „good-for-nothings" und „idlers", gewinnt nun auch die Euthanasie eine global gesellschaftliche Komponente. Diese findet ihre volle Entfaltung 1875 in der 6. Auflage von Ernst Haeckels Natürliche Schöpfungsgeschichte, die den Mord schwächlicher Kinder durch die Spartaner preist, und in seiner Schrift Die Lebenswunder (1904), welche die künstliche Lebensverlängerung von Schwachsinnigen und Unheilbaren attackiert. Haeckel griff dabei auf das mechanistische Menschenbild von LaMettrie zurück und weitete es auf das Staatswesen aus, indem er Individuen im Staat nur die Rolle maschineller Ersatzteile zuwies. 36 Bis in die Aufklärung hinein wurde Euthanasie durchaus diskutiert, allerdings unter ganz anderen Vorzeichen. Thomas More formuliert 1516 in Utopia eine lange Zeit einzigartige Position, der gemäß der Freitod von unheilbar Kranken vernünftig sei: Everything is done to mitigate the pain of those who are suffering from incurable diseases; [...] But if the disease is not only incurable, but excruciatingly and continually painful, then the priests and public officials come and urge the invalid not to endure such agony any longer. They remind him that he is now unfit for any of life's duties, a burden to himself and to others; [...] he should not hesitate to free himself, or let others free him, from the rack of living. This would be a wise act, they say, since for him death puts an end, not to pleasure, but to agony. [...] Those who have been persuaded by these arguments either starve themselves to death or take a potion which puts them painlessly to sleep, and frees them from life without any sensation of dying. But they never force this step upon a man against his will; nor, if he decides against it, do they lessen their care of him.37

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Zit. nach J. Guy, Hg., The Victorian Age. An Anthology of Sources and Documents. London 1998. S. 283. I. Van der Sluis, „The Movement for Euthanasia 1875-1975". In: Janus, 66, 1979. S. 131172, hierS. 139. T. More, Utopia. Übers, und hg. von R. Adams. 1516. New York, London 1975. S. 65.

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Selbst bei More ist jedoch Euthanasie ein individuelles und noch kein volkswirtschaftliches Problem. In Mores Humanismus ebenso wie in den Utopien der Aufklärung ist der unvernünftige Schmerz des Leidenden der Handlungsimpetus und sein vernünftiger Wille die Handlungsnorm, die eine aktive Sterbehilfe ausschließt. Francis Bacons Schriften „Of the Proficience and Advancement of Learning" (1605) und „De dignitate et augmentis scientiarum" empfehlen Palliativmedizin für Euthanasie als einen leichten und sanften Tod.38 Einen neuen Akzent mit dem normierten Freitod setzt Gabriel de Foignys La terre australe [...] (1676). Hier wird die Euthanasie auf individuellen Wunsch verabreicht, jedoch erst nach dem hundertsten Lebensjahr, um in einer todessehnsüchtigen Gesellschaft die Unterbevölkerung zu verhindern. Die utopische Gesellschaft der Australier rebelliert mit ihrem Todestrieb gegen ihr Göttlichkeitsdefizit, das im unausweichlichen Lebensende manifest wird.39 Euthanasie in der Viktorianischen Science Fiction steht dagegen unweigerlich weniger in individualistischem als in friihsozialistischem bzw. darwinistischem Kontext.40 In der Welt von Bulwer-Lyttons unterirdischer The Coming Race (1871) herrscht das strikte eugenische Regiment eines Volkes ohne Todesfurcht, das für das Gemeinwohl genetisch minderwertige Fortpflanzung ausschließen will. Aus diesem Grund soll der überirdische utopische Reisende, der von einer Frau der technologisch und körperlich überlegenen Vril-ya begehrt wird, eingeäschert werden. „It is no crime to slay those who threaten the good of the community [...]", begründet diese Maßnahme das Kind Tae, das zur Durchführung der Euthanasie bestimmt ist.41 Ellis James Davis' Pyrna: Α Commune, or, Under the Ice (1875) offeriert noch eine rationale Kommune, die Euthanasie auf Wunsch von Todkranken oder bei ansteckenden Krankheiten vorsieht. Immer wiederkehrende Diagnosen rekurrieren dagegen auf das Malthusianische Problem der Überbevölkerung und Ressourcenknappheit. Bemerkenswert ist in Edward Fredric Bensons Kurzgeschichte „The Superannuation Department A.D. 1945" von 1906 eine Liste von sieben Fragen, die alten Menschen zur Beantwortung vorgelegt wird: 1. Are you useful (productive)? 2. Are you beautiful? 3. Are you morally better than you were a year ago? 4. Are you contributing to the happiness in any other ways? 5. Are you likely to be an object of beauty? 6. Are you happy? 7. Describe an average day. 38 39

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Benzenhöferl999,S. 66-69. Vgl. zu de Foigny P. Kuon, Utopischer Entwurf und fiktionale Vermittlung. Studien zum Gattungswandel der literarischen Utopie zwischen Humanismus und Frühaufklärung. Heidelberg 1986. S. 284. Zu den im Folgenden diskutierten Beispielen sowie einer thematischen Auflistung vgl. E. F. Bleiler, Science Fiction. The Early Years. Kent, OH, London 1990. S. 876. Vgl. auch D. Suvin, Victorian Science Fiction in the UK: The Discourses of Knowledge and of Power. Boston 1983. E. Bulwer-Lytton, The Coming Race. Stroud, Dover, NH 1995. S. 115.

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Neben den allgegenwärtigen Echos der Utilitaristen in dem Nexus von Produktivität und Nützlichkeit in Begriffen wie „useful (productive)" oder „contributing to the happiness" sowie ästhetizistischen Spuren („beauty") sollen die potentiellen Euthanasie-Opfer mit der Anordnung, einen Durchschnittstag zu beschreiben, ihre Tageszeit als eine nützlich gelebte ausweisen. In Percy Gregs kollektivistischer Marsgesellschaft in Across the Zodiac (1880) werden behinderte Kinder und Geisteskranke im Regelfall euthanasiert, wenn auch die Praxis aufgrund des sonst drohenden Terrorsystems abgemildert wird.42 Grant Allens „A Child of the Phalanstery" (1884) projiziert eine Fourieristische Gemeinschaft, in der mißgebildete Kinder in „the name of the Past, and of the Present, and of the Future" sowie einer „progressive evolution of universal humanity" mit Chloroform umgebracht werden. Genetisch minderwertige Fortpflanzung gilt dort moralisierend als „wicked" und gegen sie werden quasireligiös „devotion to principle" sowie „the highest and the hardest law" in Anschlag gebracht.43 Alfred Clarks In a State of Nature, eine lost-race novel, beschreibt eine in Elisabethanischer Zeit von religiösen Eiferern gegründete Arktis-Sekte, die aus Idealisierung von Kraft, Schönheit und Sexualität heraus alles Schwache ausmerzt und z.B. Kinder tötet. In Walter Besants The Inner House (1888) wird durch die chemische Erfindung eines Dr. Schwarzbaum der Alterungsprozeß gestoppt, was zu drohender Überbevölkerung, zum Mord der Alten durch die Jungen und schließlich zu strikter Geburtenregulierung führt. In Helen Harper Goodes short story „By Act of Parliament. 6 and 7 Edward 15th, Anno Domini 2041" (1893) ist es die gesetzlich verankerte „death tale", die den Ausweg aus der Überbevölkerung weist, ein per Zufallsgenerator zugeteilter Tod durch Elektroschock, in Ausnahmefällen auch durch einen euthanasischen Segeltörn ohne Wiederkehr.44 Euthanasie wird, zunächst als Kritik dekadenter Existenz z.B. in H. G. Wells' When the Sleeper Wakes (1898), wo die Euthanasie einer Schicht lebensmüder Reicher vorbehalten ist, oder in E.M. Forsters einleitend zitierter Geschichte „The Machine Stops", fortan zum beliebten Bestandteil dystopischer Science Fiction in Texten und Filmen,45 als „suicidarium" oder „euthanasia

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,Jt is a rule to deprive of life, promptly and painlessly, children to whom, from physical deformity or defect, life is thought unlikely to be pleasant, and whose descendants might be a burden to the public and a cause of physical deterioriation to the race. [...] Logically, of course, the same principle should be applied to all curable disease; [...] But the general application of the principle has been successfully resisted, on the ground that the tenor it would cause [...] would far outweigh any benefit [...]". P. Greg, Across the Zodiac. 1880. London 1974. S. 149-152. Ebd. G. Allen, , A Child of the Phalanstery". In: Allen, Strange Stories. 1884. London 1908. S. 306, 302, 307,308. Bleiler 1990, S. 292. Als dystopische Filme, in denen Euthanasie Teil der projizierten Gesellschaft ist, können gelten: Logan's Run (R.M. Anderson, 1976), wo alle Dreißigjährigen von sog. .Sandmen' umgebracht werden; Soylent Green (R: R. Fleischer, 1973, nach dem Roman von H. Harrison), wo Überbevölkerung zu euthanasischem Mord und Kannibalismus führt.

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plant". Biologisch defizitäre Menschen werden in Geheimprogrammen eines Dr. N.O. Person oder auf Wunsch auch von eigenen Freunden euthanasiert. Alte werden zum Zwecke ihres baldigen Ablebens in den Militärdienst berufen, bei einem jährlichen „housecleaning" dem Ritualmord überantwortet oder bei einer Rebellion ,Jung gegen Alt' 750 OOOfach umgebracht.46 Viele der hier genannten Beispiele sind anders als Bulwer-Lyttons The Coming Race literarisch wenig markant und literaturgeschichtlich von geringer Wertigkeit. Allerdings wird in einigen der Texte, z.B. Allens „The Child of the Phalanstery", der Einfluss einer literarischen Anomalie im Werk des profilierten und einflussreichen viktorianischen Realisten Anthony Trollope deutlich, der seines Spätwerks The Fixed Period.

Anthony Trollope, The Fixed Period. A Novel (1881-82) The Fixed Period hatte lange Zeit eine schlechte - oder gar keine - Presse und nimmt als Utopie in Trollopes CEuvre eine Sonderstellung ein.47 Nardin nennt den Roman eine „bizarre tale" 48 Harvey gar „one of the strangest novels in the English language" 49 Es ist die einzige Ich-Erzählung Trollopes. Ungewöhnlich für den realistischen Romancier ist die Gattung der technologischen Utopie, obwohl im utopischen Kontext die ländlichen Schauplätze unter sozialem Innovationsdruck (Barsetshire-Romane) ebenso wieder aufscheinen wie die Verknüpfung des Privaten und Politischen in seinen Palliser-Romanen. In The Fixed Period sind zudem Einflüsse von Butlers Erewhon, der Dorking-Literatur nach George Chesney, sowie der kolonialen Empire-Romanzen unverkennbar. Die Idee entnahm Trollope der Farce The Old Law (1618), Massinger, Middleton und Rowley zugeschrieben, was zumindest im Grundsatz die Idee einer Masseneuthanasie bereits in der Renaissance nachweist. Kritisiert wurde der Roman wegen seiner Charakterzeichnung, mangelhafter technologischer Vorausschau, fehlender Geschlossenheit, Darstellungsökonomie und generischer

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Vgl. zu diesen Texten die Einträge in Bleiler 1990: P. Gratacap, The Mayor of New York (1910); M. Jaeger, The Question Mark (1926); T.S. Stribling, Christ in Chicago (1926); A. Tillyard, Concrete. Α Story of Two Hundred Years Hence (1930); „Lucian", Dips into the Near Future (1918); L. Francis Mentor, The Day ofResis (1891); S. Fowler Wright J u s tice" (1932). R. Tracy, Trollope's Later Novels. Berkeley, Los Angeles 1978. S. 286. J. Nardin, Trollope and Victorian Moral Philosophy. Athens, GA 1996. S. 111. Da ihr Fokus auf Trollopes Rezeption der utilitaristischen Moralgesetzgebung liegt und sie deshalb Kriterien formaler Homogenität oder stimmiger Ästhetik weniger berücksichtigt, schätzt Nardin den Roman wegen der expliziten und nuancierten Betrachtung des Euthanasie-Problems. G. Harvey, The Art of Anthony Trollope. London 1980. S. 33.

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Unreinheit.50 Für Suvin ist der Text ein geriatrischer Antipode zur flachen, adoleszenten Jungen-Science Fiction der Zeit.51 Die gesellschaftliche Verfassung der sowohl zeitlich als auch räumlich isolierten utopischen Welt, der von Neuseeland abgespaltenen ehemaligen britischen Kronkolonie Britannula im Jahr 1980, ist ein Abbild archaisch bäuerlicher Lebensweise, das sich gut in die identitätsstiftende Wirtschafts- und Gesellschaftsverfassung von Old England integrieren ließe. Die Zukunftswelt Trollopes ist nicht zuerst eine technologisch transformierte, und auch die utopische Varianz ist vergleichsweise gering ausgeprägt. Mit Ausnahme des nahezu nuklearen Ausmaßes der britischen Abschreckungswaffe und der utilitaristisch verschobenen Moral der „Fixed Period" ist lediglich eine selektive, grotesk anmutende bricolage technologischen Fortschritts zu konstatieren, besonders in der Logistik und Freizeitkultur der Ex-Kolonie. Britannula ist eine Welt der Schafzucht, ohne Fabriken, Hochöfen oder Gruben. Die Eisenbahn scheint im wesentlichen ein Zukunftsprojekt, das durch die „Fixed Period" mitfinanziert werden soll. Beherrscht wird Britannula von einer landbesitzenden gentry-Elite, versammelt in einem Unterhaus (Assembly). Der Name Britannula verweist satirisch auf zwei Aspekte der vorgestellten Welt: zum einen auf die .lebensannullierende' Ideologie der „Fixed Period", einer staatlich sanktionierten Euthanasie für alle 67-Jährigen nach einer ein Jahr währenden Isolationsperiode in Colleges und anschließender Verbrennung; zum anderen auf die Annullierung von Britannulas Unabhängigkeit und Re-Annexion an das britische Königreich. Die de facto-Rekolonisierung Britannulas wird den britischen Besuchern durch ihre technologische Überlegenheit in Form des Kanonenboots „John Bright" und seiner überdimensionalen Artillerie ermöglicht. Dessen Erscheinen wird bereits im ersten Kapitel vorweggenommen, so dass es in der folgenden Erzählung nur wenig Spannung und Schrecken verbreitet. Diese sprichwörtliche KanonenbootPolitik Englands - eine interessante Umkehrung der aus der Dorking-Literatur bekannten Bedrohung Großbritanniens durch ausländische Mächte - wird mit der Verhinderung der „Fixed Period" begründet, und der utilitaristische Reformer und Präsident Neverbend muß trotz seiner namentlich ausgewiesenen, programmatischen Unbeugsamkeit dem militärischen Druck nachgeben. Wie Nardin zu Recht argumentiert, erscheint die „John Bright" nicht als deus ex machina, sondern auf Betreiben der für das totalitäre Regime utilitaristischer Ideen unvorbereiteten Bevölkerung und ihres common sense.52 Mr. Crasweller, ein vermögender und vitaler Schafzüchter, soll als erster Angehöriger der jungen Kolonie in ein euthanasisches College einziehen, um 50

51 52

Zu den Quellen vgl. Super in Trollope 1996, S. vii; die Kritik findet sich bei Harvey 1980, S. 33; Bleiler 1990, S: 747. J.N. Hall, Trollope. A Biography. Oxford 1991. S. 485. Suvin 1983, S. 368. Nardin 1996, S. 165. Sie bezieht The Fixed Period konkret auf Henry Sidgwicks Methods of Ethics (1874), wo eine Position des „rule utilitarianism" vertreten wird, die eine konventionelle common se/we-Moralität mit der kalkulierten Befriedigungsmoral Benthams zu versöhnen sucht (vgl. Nardin 1996, S. 110).

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sich auf den aus Gründen sozio-ökonomischer Zweckmäßigkeit verordneten Tod vorzubereiten. Dieser soll vom Präsidenten selbst als erstem Repräsentanten des Staats durch Öffnen von Schlagadern unter den humanisierenden Bedingungen von Morphiumgaben und einem warmen Bad vollzogen werden.53 Eine problematische Verquickung von Politischem und Privatem entsteht durch die Heiratsabsicht von Neverbends Sohn Jack und Craswellers Tochter Eva, wodurch der Tod Craswellers Neverbend den Zugriff auf dessen Ländereien ermöglichen würde. In herkömmlicher Weise verbindet Trollope satirische Elemente der Utopie mit der typischen Satire seiner realistischen Romane. Britannula ist als junge Kolonie noch frühen ökonomischen Entwicklungsstufen Englands verhaftet, als traditionsunabhängiges Land schickt es sich jedoch andererseits an, die Gesellschaftsentwürfe des Mutterlands zu überholen. Strukturell bemerkenswert sind Trollopes Abweichungen von gängigen Schemata der viktorianischen Utopie: Die Deportation des PräsidentenErzählers von Britannula nach England kehrt sowohl das Schema der utopischen Reise als auch das des utopischen Reisenden um. Der Ich-Erzähler ist der utopische Gastgeber selbst, kein Außenseiter in der erzählten Welt, sondern im Zentrum der neuen Ideen. Die technologisch-phantastische Bedrohung geht nicht von der utopischen Welt, sondern von England selbst aus, während im Rahmen der Utopie lediglich ein alternativer Gesellschaftsentwurf diskutiert wird. Für die moderne Euthanasie wird die philanthropische Theorie in Anspruch genommen, während die Praxis des technologischen Fortschritts von England als Repräsentantin des 19. Jahrhunderts dominiert wird. Die Erzählung unterstreicht demgegenüber bereits einleitend die utilitaristischen Werte von Friedfertigkeit, Freundlichkeit und Ordnung im ländlichen Britannula, dessen Sezession von Großbritannien sich ohne Feindseligkeit vollzieht. Ethnisch handelt es sich um weiße Abkömmlinge der neuseeländischen Oberschicht, für den hyperbolischen Erzähler perfekte Übermenschen. Dies schließt eine ethnische Problematik von vornherein aus: We were the very cream as it were that had been skimmed from the milk-pail of the people of a wider colony, themselves gifted with more than ordinary intelligence. We were the elite of the selected population of New Zealand. I think I may say that no race so well informed ever before set itself down to form a new nation. (11)

In mancherlei Hinsicht akzentuiert der Präsident die Zivilisationsleistung des reformierten Britannula, z.B. die Abschaffung der Todesstrafe (4) und die Befreiung von überkommenen Ideenwelten (51). Die Aufklärungsgespräche sind in die angenommene literale Erzählsituation projiziert: Neverbend schreibt die Erzählung während der Schiffsreise nach England, mit dem Ziel, die Gesell53

A. Trollope, The Fixed Period. A Novel. 1881-82. Hg. von R.H. Super. Ann Arbor 1990. S. 16. Weiter nicht gekennzeichnete Belege in diesem Kapitel beziehen sich auf diese Ausgabe von The Fixed Period.

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schaftsverfassung der „Fixed Period" trotz seines Scheiterns populär zu machen. Zu diesem Zweck ist dem Plot ein einführendes Kapitel vorangestellt, das die utopische Welt mit ihrem Euthanasie-Projekt charakterisiert. In für Trollope ebenso wie für die Utopie untypischer Weise erscheint der Ich-Erzähler wenig verlässlich, denn sein extremer Utilitarismus wirkt auf die wohl auch von Trollope angenommenen, allerdings natürlich notwendigerweise variablen Lesernormen potentiell abstoßend: Er ist als Präsident an zentraler Stelle Teil und nicht Gegenpol der utopischen Welt, also interessegeleitet und .denkfremd', nicht dagegen der hermeneutisch Brücken bauende utopische Reisende. Indem der Erzähler die Euthanasie als rational und modern darzustellen versucht, verhindert Trollope die völlige Abgrenzung von der utopischen Welt als Erfahrung des Fremden. Bereits einleitend erwähnt Neverbend bedauernd, dass das rekolonisierte Britannula die neue Kolonialherrschaft begrüßt. Er vertritt ambivalent eine Gesellschaft, die ähnlich wie in Erewhon nicht völlig als satirisch extrapolierter Gegensatz zu zeitgenössischen viktorianischen Gesellschaftsidealen charakterisiert werden kann.54 Hinzu kommt, dass dem Roman das moralisch argumentative Zentrum fehlt, denn es mangelt sowohl dem Erzähler als auch den Figuren an dem notwendigen Überblick und der Eloquenz, die Pros und Cons der Euthanasie erschöpfend zu diskutieren: „It is a book about the way ordinary people think about moral issues. But why write a book about a moral problem which no one in that book fully understands?" 55 Das ethische Vakuum kommt dem Roman zugute, denn zwar fehlt Trollopes Text eine Kasuistik der Euthanasie auf hohem Reflexionsniveau, aber die auch durch extrem divergierende Einschätzungen in der Rezeption bestätigte Ambivalenz der moralischen Position stärkt den Appellcharakter in der Auseinandersetzung mit der Problematik.56

Fixed Periods: Euthanasie und technologische Zeit Schon der Titel The Fixed Period setzt den Roman in Beziehung mit dem durch Taschenuhren, Fabriken und Eisenbahnen gewandelten Zeitverständnis der Viktorianer. Parallel zur Standardisierung der Zeit in der Greenwich Mean Time und in den Eisenbahnfahrplänen zur Bewältigung der neuen Mobilität sowie der 54

55 56

Trollope schrieb das Buch im Alter von 65 Jahren. Er trat so z.B. für die 1884 legalisierte Feuerbestattung ein und behauptete (wiederum höchst ambivalent) Uber The Fixed Period: „It's all true - 1 mean every word of it." (Hall 1991, S. 487). Nardin 1996, S. 112. Jane Nardin (1996, S. 121) sieht in The Fixed Period eine Vorwegnahme der sog. Vernichtung unwerten Lebens in der Nazi-Ideologie. Zwar schlägt Trollope in der Tat eine Brücke von Benthamistischer Reform zur Technologisierung des sozialen Lebens, aber der weite Bogen von der utilitaristischen Techno-Rationalisierung Benthams zu den Konzentrationslagern überspannt anachronistisch die Argumentation. Vgl. auch Nardin (1996, S. 164) zu affirmativen ebenso wie ablehnenden Haltungen zum Euthanasieprogramm in The Fixed Period.

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maschinell diktierten und durch Gaslicht und elektrisches Licht beförderten Zeitökonomie der Fabrik und ihrer von Foucault beschriebenen Disziplinierung, beginnt die Diskussion in der Literatur. Beispiele finden sich schon bei Dickens in Gradgrinds „deadly statistical clock" und dem im Gegensatz zur Maschine gestellten „great manufacturer" Zeit. Es ist die Uhr, die den Erewhonians in Samuel Butlers Erewhon als Synekdoche der industrialisierten Welt gilt, der man infolgedessen nach ihrer Abschaffung nur noch mit Schrecken begegnen kann. Die nach dem Null-Meridian von Greenwich vereinheitlichte Zeit kommt punktuell auch in Trollopes The Fixed Period zum Tragen. In der utopischen Welt von 1980 ist die Weltzeit nach Greenwich-Zeit standardisiert, auch in der Ex-Kolonie Britannula bei Neuseeland: „[...] just as every clock upon the ground struck six with that wonderful unanimity which our clocks have attained since they were all regulated by wires from Greenwich" (70). In diesem Detail der utopischen Welt zeigt Trollopes Satire, dass ein abstrakter Zeitbegriff inzwischen tief in die Lebenswelt der Viktorianer eingreift. In archaisch primitiven Gesellschaften ist, wie Günter Dux gezeigt hat, die Zeit unmittelbar an bestimmte Räume und Handlungen gebunden: „Zugrunde liegt allemal die Vorstellung, daß alles was geschieht, eine ihm und nur ihm eigene Zeit hat. Insbesondere die Zeit des Lebens ist eine jedem einzelnen Leben eigene Zeit".57 Solche Auffassungen werden im europäischen Mittelalter durch eine operationalisierbare, von den Handlungen losgelöste Zeit ersetzt, die mit einem Zugewinn an Organisationskompetenz über die Außenwelt einhergeht. Das Jetzt und der Begriff der Dauer gewinnen an Relevanz, die Vergangenheit wird abgetrennt und bedeutungshaltig, der Zufall erscheint und ersetzt das sinnhafte Schicksal, die Zukunft wird zwar unlesbar, aber dafür aus der menschlichen Gegenwart heraus gestaltbar. Die maschinelle Zeit, so Dux, ist automatisiert, ein dem Menschen gegebenes Außen, das deterministisch aus sich selbst heraus eine Dynamik steuert. Im 19. Jahrhundert führen die konkreten zeitregulierenden Erscheinungen von Eisenbahn, Fabrik, Kaserne und Gefängnis dazu, dass auch die Lebenszeit unter den abstrakt utilitaristischen Prämissen einer nützlichen Lebensperiode gesehen wird. Bereits in der Benediktinerregel erscheint tätige Arbeit als Gottesdienst. Nun wird jedoch in Analogie zu einem industriell zeitregulierten Arbeitstag vertane Zeit zu lebensunwerter Zeit. Der erzählende Präsident bereitet die Euthanasie im einleitenden Kapitel „in moderate language" für ein Publikum in aller Welt auf, wobei er besonders auf die Unterstützung , neuer' Staaten (USA, Australien, Neuseeland) hofft. Seine Ich-Erzählung lässt die verschiedentlich satirisch markierte Erzählung ambivalent erscheinen. Die Methode der „Fixed Period" erscheint ihm vernünftig und ordnungsgemäß, ökonomisch, sozial und individuell wünschenswert, statistisch abgesichert und demokratisch legitimiert. Euthanasie erspare die Leiden des inaktiven und gesellschaftlich wertlosen Alters, und es sei vor allem profitabel, da mit einer Ersparnis von 1 Mio. £ pro Jahr zu rechnen sei: „It would keep us 57

Dux 1992, S. 124. Vgl. für das Folgende auch S. 338-343.

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out of debt, make for us our railways, render all our rivers navigable, construct our bridges, and leave us shortly the richest people on God's earth!" (5). Diese Argumentation unterscheidet sich grundlegend von dem in Thomas Mores Utopia vorgegebenen Modell. In The Fixed Period erscheinen dem Erzähler die Argumente der Gegner zumeist fadenscheinig. Nach seiner Absetzung durch Sir Ferdinando Brown attackiert er dessen These vom Eingriff in Gottes Natur mit Hinweisen auf den Rüstungswettlauf in Europa, mit der Todesstrafe in Großbritannien, dem Krieg in Nordwestindien - mit dem später auch Haeckel argumentiert - und mit dem Alten Testament (142). Als einziges Argument, in The Fixed Period am Beispiel von Crasweller vorgeführt, läßt der Erzähler „that love of life" (130) zu. Dieser nach Schopenhauer bzw. Darwin immanente, irrationale Lebenswille erscheint dem Utilitaristen Neverbend charakteristischerweise als Faktor von Unlust bedenkenswert, ohne jedoch gegen seine allgemein nützliche und vernünftige Doktrin zu bestehen, der Crasweller nicht zugänglich ist. „The Fixed Period" wird in Trollopes Text als zentraler Baustein der neuen Gesellschaftsordnung vorgestellt, für die der Präsident die Freundschaft mit Crasweller und den Familienfrieden zu opfern bereit ist: für die Assembly ein identitätsstiftender Beschluss, für die Britannulische Gesellschaft eine Zerreißprobe, für Großbritannien Anlaß zum militärischen Anschluss der kleinen Kolonie von 250 000 Einwohnern. Es wird vom enthusiasmierten Erzähler quasireligiös und legalistisch eingeführt als „great doctrine" (1), „the great Law" (14), „the Law" und „the great system" (34) und erzeugt abgeleitete Neologismen wie das Verb „to fix-period s.o" (151), um den Tabubruch, die Herausforderung der gängigen Moral euphemistisch zu kaschieren. Er wehrt sich gegen devianten Sprachgebrauch durch seine Opponenten, etwa Craswellers „execution" (34), „slaughter" (27) oder „murder" (4,49). Anlässlich der Benennung des vorbereitenden „College" entsteht ein vergleichbarer onomastischer Konflikt, denn der Name Necropolis erscheint Neverbend geschmacklos. Doch die drastische Bezeichnung Cremation Hall - die Toten werden gleich nebenan eingeäschert wird ebenso verworfen wie Neverbends weiterer Euphemismus Aditus (75-76, lat. .Zugang', .Herantreten'). Der Erzähler beschwört „the general beauty" (115) der „Fixed Period", die von Trollope durch die Kontextualisierung mit der körperlichen und geistigen Kompetenz des theoretisch schwächlichen und lebensunwerten Crasweller ironisch kommentiert wird. Neverbend hofft auf kommende Generationen und hält die philosophische Wahrheit nicht für unmenschlich, sondern für übermenschlich: „too strong, too mighty, too divine to be adopted by man in the immediate age of its first appearance" (7). Die reine utilitaristische Theorie des quantifizierten gemeinschaftlichen Zeitglücks verlangt nach Helden, so erkennt selbst der Erzähler, nicht nach Menschen. Schließlich muß er zugeben, selbst dieser theoretischen Aufgabe nicht gewachsen zu sein, die gottgleiche Theorie, Statistik und Exposition erfordere:

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A godlike heroism would have been demanded, - a heroism which must have submitted to have been called brutal; - and of such I knew myself not to be the owner. [...] All this I am willing to admit in the form of a tale, which I have adopted for my present work, and for which I hope to obtain some popularity in England. Once on shore there I shall go to work on a volume of altogether different nature, and endeavour to be argumentative and statistical [...]. (168-169)

Trollope greift hier eine von Dickens popularisierte Dichotomie auf, zwischen der fiktional menschelnden Vorstellungswelt und der theoretisch-statistischen Welt der Fakten und politischen Ökonomie, der sich der Erzähler eingangs eigentlich zuordnet („to me the politico-economical view of the subject was always very strong", 3). In The Fixed Period wird Dickens' Gegensätzlichkeit dadurch problematisiert, dass dem in Hard Times als „Gradgrindismus" kritisierten utilitaristischen Faktendenken die Erzählerstimme übertragen ist. Britannulas Periodisierung ist eine Zeitmaschine avant la lettre und Crasweller soll Opfer dieser Maschinenzeit werden. Trollopes The Fixed Period - aus heutiger Sicht eine einigermaßen ambivalente Satire - signalisiert die Problematik einer utilitaristischen Handlungsmacht über die Zeit bei einer gleichzeitig um sich greifenden „anthropofugalen" (Ulrich Horstmann) Weltsicht eines Menschen, der weder Mittelpunkt des Universums ist noch von Gott als Herrscher über die Erde eingesetzt wurde oder in kosmischen Zeiträumen Uber eine marginale Rolle hinauskäme. Das lineare und fragmentierte Zeitverständnis, geprägt maßgeblich durch den Primat der Ökonomie und die Zeitorganisation von Eisenbahn und Fabrik, ist eine der wichtigsten Grundlagen nachfolgender lebenszeitlicher Manipulationen.

Hans Ulrich Seeber

Zeit, Raum und der totalisierende Blick in der englischen Literatur um 1900

Die Repräsentation des Ganzen Um den eigenen Ort zu bestimmen, nahm das 19. Jahrhundert theoretisch und praktisch die ganze Welt in den Blick, und zwar räumlich wie zeitlich. Der Ort erhält seinen Platz in einem größeren Zusammenhang genannt Globus mit all seinen ökonomischen, politischen und kulturellen Verflechtungen, und das lokale Ereignis erhält seine Bedeutung letztlich erst im weltgeschichtlichen Prozeß. Der entschlossene, auf Orientierung abzielende Zugriff aufs Ganze, heute bekannt unter dem Namen große Erzählung, hat etwas zutiefst Befriedigendes, aber auch Schwindelerregendes und potentiell Totalitäres an sich. Er befriedigt den Hunger nach Ordnung in einer rasant sich verändernden, buchstäblich halt-los gewordenen Welt, und er produziert Schwindel oder die Ergriffenheit des panoramischen Aus-und Überblicks. Kein Wunder, daß das 19. Jahrhundert als age of transition totalisierende panoramische Aus- und Anblicke liebt: Hegels Geschichtsphilosophie, Darwins Evolutionslehre, die ökonomische Theorie, Comtes Soziologie auf der Ebene der theoretischen Modelle bezeugen dies ebenso wie das populäre Spektakel der neuen illusionistischen Unterhaltungstechnologie des Panoramas. Und es paßt in dieses Bild, daß das „ehrgeizigste wissenschaftliche Gemeinschaftsprojekt des 19. Jahrhunderts" nichts weniger als die „vollständige fotographische Kartographierung des Himmels mit allen Sternen"1 anstrebte, um für die Lösung des großen Rätsels der Entstehung des Universums die Grundlage zu schaffen. Immer ging es dabei darum, „die Natur als Ganzheit"2 zu erfassen: „Wo nahezu zwanzig Observatorien und Hunderte von Beobachtern ihre Methoden und Ergebnisse zu einem nahtlosen Ganzen zusammenfügen sollten, war keinerlei Raum für irgendwelche Eigenheiten [~.]."3 Von literarischen Erscheinungsformen und Wandlungen dieses totalisierenden Blicks um die Jahrhundertwende in England bis hin zu seiner Metamorphose im Modemismus von Joyce soll im Folgenden die Rede sein. Die Wendung zur Moderne bedeutet, wie abschließend zu zeigen sein wird, daß der makroskopische, totalisierende Blick dem mikroskopischen Blick

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L. Daston, „Objektivität und die kosmische Gemeinschaft". In: Kulturtheorien der Gegenwart. Aufsätze und Positionen. Hg. von G. Schröder und H. Breuninger. Frankfurt/M. 2001. S. 149-178, hier S. 157. Daston 2001, S. 161. Daston 2001, S. 160.

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weicht, daß das Ganze in der Regel nur noch als subjektiv und regional gebundenes, perspektiviertes und gebrochenes darstellbar ist. Der totalisierende Blick auf die Welt und ihre Zeit und Geschichte ist eine geistige Tätigkeit, die auf die Anschauung und Deutung des Ganzen zielt. Darin bekundet sich u.a. ein Hegelsches Erbe. Wenn Hegel die Aufgabe der Philosophie darin erblickt, eine begriffliche Zeitdiagnose zu liefern, d.h. „ihre Zeit in Gedanken" zu erfassen, so ist das für ihn nur möglich, wenn er sie in einem universalen Geschehen situiert und „Geschichte als Weltgeschichte des Geistes"4 begreift. Dabei ist für seine Geschichtskonzeption eine dem Idealismus geschuldete Doppeldeutigkeit charakteristisch. Hegels Geschichtsverständnis ist geprägt von seiner Metaphysik des Absoluten, aber dieser absolute Geist entäussert sich in Zeit und Raum der Weltgeschichte, in dessen Werden er am Ziel - Hegels Verständnis der Freiheit - zum Bewußtsein seiner selbst kommt. Im konkreten Werden wird der „in der Zeit entäußerte Geist"5 anschaubar: „Die Geistesgeschichte im Sinne Hegels betrachtet die Gesamtzusammenhänge des geschichtlichen Weltgeschehens. Diese werden als einsichtiger Sinnzusammenhang, d.h. als vernünftige Geschichte, thematisiert."6 Der Geschichtsphilosoph macht sich anheischig, dieses Ganze zu überblicken, aber in Wahrheit ist ein solcher Überblick über Welt und Weltgeschichte von Anfang bis Ende nur Gott möglich. Die literarische Versinnlichung solcher Raumzeit erfordert eine Reise und einen Reiseleiter, der die Route kennt und festlegt. Es ist kein Zufall, daß just diese Bildlichkeit in Hegels Sprache aufscheint: „Gleich dem Seelenführer Merkur ist die Idee in Wahrheit der Völker-und Weltführer, und der Geist, sein vernünftiger und notwendiger Wille ist es, der die Weltbegebenheiten geführt hat und führt." 7 Im Folgenden geht es freilich nicht um den positivistischen Nachweis einer literarischen Hegel-Rezeption in England (obwohl es eine solche u.a. bei Eliot gibt), sondern um die Verdeutlichung literarischer Spielarten eines Denk- und Vorstellungszusammenhanges, der Welt, Geist, Reise und panoramischen Überblick zusammenschließt. Ich unterscheide für die folgende Untersuchung drei Möglichkeiten des totalisierenden Blicks - diesen Ausdruck gebrauche ich im Unterschied zu den Poststrukturalisten wertneutral - mittels literarischer Repräsentation: 1. Die rationale, auf plausible Wirklichkeitsillusion abzielende Mimesis von Raum- und Zeitreisen erlaubt es, das Weltganze räumlich und zeitlich erfahrbar zu machen. Ein statischer oder beweglicher Blickpunkt wird geschaffen, häufig eine Vogelperspektive, die eine totalisierende panoramische Überschau ermöglicht. Im Falle der raschen Weltumrundung bedurfte es dazu, wie der Fall Jules Verne (Around the World in Eighty Days and Five Weeks in a Balloon) lehrt, im

19. Jahrhundert längst keiner erfahrungsübersteigenden technischen Konstruktion mehr, wohl aber im Falle der Zeitreise in die Zukunft. Kutsche, Eisenbahn, Dampfschiff und Ballon erlauben im 19. Jh. relativ rasche Lokomotionen, die am Beispiel räumlicher Unterschiede - besonders eindrücklich geschieht dies in George Eliots Felix Holt - auch Etappen der Modernisierung sichtbar machen 4 5 6 1

W. Schulz, Philosophie in der veränderten Zit. n. Schulz 1972, S. 4 9 6 Schulz 1972, S. 4 9 6 Zit. n. Schulz 1972, S. 500.

Welt. Pfullingen 1972. S. 494

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können. Zwar knüpft Wells in The Time Machine mit der raschen Sequenz von äußeren Sinneswahrnehmungen an die Wahmehmungsrevolution der technisch beschleunigten Fortbewegung an, antizipiert aber zugleich imaginativ filmische Techniken der Zeitrepräsentation durch Zeitraffung. Deshalb hüpft bei ihm für den Zeitreisenden die Sonne über den Himmel, um die Erlebnisillusion des raschen Verstreichens von Zeit zu erzeugen. 2. Wenn das Ganze nicht unmittelbar anschaubar ist, ersinnt man Verfahren der Mittelbarkeit. Man konstruiert mit Hilfe des Verfahrens der Komplexitätsreduktion Modelle, die entweder abbildenden und deutenden oder wirklichkeitsstiftenden bzw. antizipierenden Charakter haben. In der Literatur sind solche in der Regel vereinfachenden Modelle Symbole und Metaphern, bei denen der Leser gehalten ist, die Ähnlichkeits - bzw. Abbildrelation zu durchschauen und die hinter und mit dem Sprachbild gemeinte Wirklichkeit bzw. das Konzept imaginativ zu ergänzen und zu erschließen. Für den Zeitdiagnostiker und populären Lyriker Martin Tupper in der Mitte des 19. Jahrhunderts ist die enorme Beschleunigung aller Vorgänge die Grundtatsache des modernen Lebens, die er im Gedicht „Railway Times" teils mit Abstrakta („rapid days") und mythischen Anspielungen („wind Euroclydon"), teils mit Metaphernbildungen und Wortzusammensetzungen, die auch technische Bilder benutzen, als Ganzes zu charakterisieren versucht: „rapid days", „racing days", „electric hours", „melodrame", „caleidoscope of change", „river of events", „flood of fate", „railway times", „Niagara-life". Insgesamt durchaus unoriginell, kombiniert die gereimte und versifizierte Zeitdiagnose Tuppers nichts anderes als Elemente des damals typischen Diskurses der Zeit, der vor allem die Wasserbildlichkeit nutzt. Das erhabene, damals populäre Bild der Niagara-Wasserfälle weitet den Horizont auf die Neue Welt und suggeriert mit dem Bild des stürzenden Wassers nicht nur Kontinuität und die ungeheure, den Prozeß antreibende Energie, sondern auch vielleicht gewollt zweideutig - die Idee des Absturzes. Die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einsetzende Verdüsterung des totalisierenden Blicks, der zum Blick in die leere Weite und Ödnis wird, gipfelt in Wells' The Time Machine. 3. Die Repräsentation eines zeitlichen oder kulturgeographischen Ganzen unternimmt auch die Sammlung, wie sie im 19. Jahrhundert in Weltausstellungen und Museen versucht wird. Im Unterschied zum Modell tritt bei der Sammlung das konstruktive Moment zurück. Die Materialität der ausgestellten Naturoder Kulturobjekte besitzt eine unmittelbare dokumentarische Evidenz. Auswahl und Anordnung der Exponate setzen allerdings ebenfalls konstruierende und interpretierende Akte voraus, die auf ein Ausstellungskonzept verweisen. Wenn solche in Sammlungen sich manifestierende Repräsentationsakte noch einmal über das Medium der Sprache und das Medium der literarischen Gattung repräsentiert werden, entsteht etwas, was man doppelte Repräsentation bzw. doppelte Vermittlung bezeichnen könnte, so beispielsweise in John Davidsons Gedicht „The Crystal Palace". Daß die ausgewählten Texte meist der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und vor allem der Zeit um 1900 entstammen, ist kein Zufall. Hatte Hegel noch 8

M. Tupper, Lyrics: A New Edition. London 1855. S. 16-19.

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das Ganze in der retrospektiven geschichtsphilosophischen Reflexion und Erzählung zur Anschauung gebracht, war der Blick der viktorianischen Romanciers noch vornehmlich auf Segmente der englischen Gesellschaft und Kultur gerichtet, so bedeutet die Schrumpfung der Welt im Gefolge des weltweiten ökonomischen und politischen Imperialismus um 1900 und der ihn ermöglichenden Transport-und Medienrevolution, daß sich in Texten von Wells (z.B. in seinen Kurzgeschichten), Stevenson, Conrad, James, Forster und Lawrence die Kulturen gleichsam hart im Räume stoßen, wenn beispielsweise bei Wells, Forster und Lawrence westlicher Rationalismus und vormodernes magisches Denken zusammenprallen. Ich beschreibe im Folgenden vornehmlich ein Phänomen, das man den Flug des Geistes nennen könnte. Als Genitivmetapher gelesen verwandelt diese Formulierung eine Gedankenbewegung in eine quasiphysische Reise und umgekehrt, wörtlich gelesen meint sie die freie Bewegung einer spirituellen Existenz, sei es eine geistige Kraft, ein Engel bzw. jede Art von Geistwesen oder der Geist bzw. die Seele eines Toten.

Der Flug des Geistes und der panoramische Blick vor und um 1900 Die Furcht des 19. Jahrhunderts vor Desorientierung und Chaos, auf die der totalisierende Blick antwortet, hat Matthew Arnold in „Dover Beach" auf die einprägsame Formel gebracht „where ignorant armies clash by night". Panoramisches Nachstellen von Schlachten, die auch den Teilnehmern vor Augen führten, welche Rolle sie wirklich spielten, gehörte damals zu den beliebten Verarbeitungsformen von Geschichte. Schon früh erkannte man in militärischen Kreisen das Aufklärungspotential von stationären und beweglichen Ballons, die Einblicke in das feindliche Hinterland gestatteten. Ganz neue Erkenntnis-, aber auch Empfindungsmöglichkeiten verspricht sich auch der Soziologe und Journalist Henry Mayhew von einem Ballonflug über London, über den er 1852 unter dem Titel „In the Clouds; or, Some Account of a Balloon Trip with Mr Green" (The Illustrated London News, 18. September 1852) berichtet. Die Perspektive von oben läßt die komplexe Vielfalt der modernen Gesellschaft anhand der sie repräsentierenden Gebäude sichtbar werden: „banks and prisons [...] docks and hospitals", usw. Daß es aber nicht nur um die Erfassung von Vielfalt geht, sondern auch um deren wertende Interpretation, verdeutlichen die totalisierenden Metaphern, die das aus der Perspektive von oben ohnehin schon modellhaft Reduzierte noch einmal mittels metaphorischer Bilder zusammenfassen: „heap of rubbish", „human ant-hill" und „restless sea of life". Mayhews Metaphorik unterläuft den wissenschaftlichen Erkenntnisanspruch des Soziologen und attestiert der Moderne gemäß den Topoi des damaligen sozial- und kulturkritischen Diskurses Form- und Ordnungslosigkeit oder die Ordnung des Ameisenhaufens und ziellose Dynamik. Die ästhetisch-sinnliche und gedankliche Erfahrung des Schwebens durch die Höhenluft schenkt dem Ballonfahrer dagegen eine rauschhafte Steigerung des Lebensgefühls. Panoramische Blicke und räumliche Distanz von der Hetze des Alltags erzeugen eine ruhespendende seelische Distanz, die als Vorgeschmack der im Elysium wartenden Freuden

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gedeutet wird. Die Raumfahrt durch den Äther der Höhenzone bringt den Reisenden nicht, was der Wirklichkeit entspräche, in tödliche Kälte, vielmehr in die Nähe der zeitlosen metaphysischen Zonen Elysium und Himmel. Die Modellierung der Ballonfahrt nach dem Muster der Heimkehr des spiritualisierten Subjekts in den Himmel ist auch an der Anspielung auf die Jakob im Traum erscheinende Himmelsleiter ablesbar. Ich zitiere den biblischen Text: 12. Und ihm träumte, und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit den Spitzen an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder. 13. Und der HERR stand oben darauf und sprach: Ich bin der HERR, der Gott deines Vaters Abraham, und Isaaks Gott; das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. (1. Moses 28,12-13)'

Dabei findet eine Inversion der Wirklichkeitsebenen statt. So wie die Welt dem Aufsteigenden immer unwirklicher wird, ihn an Trugbilder und Dioramen erinnert, so gewinnt der Mythos im zeitlich begrenzten Akt des Fliegens an Realitätsgehalt. Der Text verdeutlicht, wie der totalisierende Blick rationale Mimesis zumindest rhetorisch ins Übernatürliche überspringen läßt. Geist und Geister haben als Handlungsträger und als rhetorische, imaginative und konstruktive Hilfsmittel im 19. Jahrhundert keineswegs ausgespielt. Das hat einen guten Grund. Grenzen von Raum und Zeit gelten weder für die Engel der Religion noch für den modernen Techno-Logos.10 Um 1900 war das Ausgreifen ins Immaterielle, Geistige oft mehr als nur eine rhetorische Strategie, weil man sich vom Materialismus der positivistischen Wissenschaft des 19. Jahrhunderts absetzen wollte. In Dickens' Weihnachtsmärchen „A Christmas Carol" ist der Geist des toten Marley, der einmal ein berechnender, herzloser Geschäftsmann war, dazu verdammt, wie der Ewige Jude die Erde in rasender Schnelligkeit zu bereisen und jene guten Taten zu vollbringen, die er im Leben versäumt hatte. Dazu gehört auch die Warnung seines ehemaligen Geschäftspartners Scrooge vor demselben Schicksal, indem er ihm eine quälende Heimsuchung ankündigt. Wie Reiseführer und Magier verdeutlichen der Ghost of Christmas Past, der Ghost of Christmas Present und der Ghost of Future Christmas Scrooge plastisch und eindrücklich Szenen eines glücklichen vergangenen und eines trostlosen zukünftigen Weihnachten, um ihn - erfolgreich - zur Umkehr zu bewegen. Während Dickens mit dieser Märchenkonstruktion die ökonomische Rationalität der neuen Zeit bekämpft, versinnbildlicht der „Geist des Fortschritts" das offizielle Selbstverständnis des viktorianischen Zeitalters. Für die Spannung zwischen anspruchsvoller Literatur und offizieller Episteme ist bezeichnend, daß in der Regel nur ästhetisch minderwertige Texte sich anheischig machen, das Lob des Fortschritts zu singen. Ein solcher ist der bisher unveröffentlichte Gebrauchstext „The Spirit of Improvement", ein aus sieben Strophen bestehendes, in Paarreimen gefaßtes Gedicht, das für eine Polytechnic Exhibition in

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Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des alten und neuen Testaments. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Stuttgart 1964. S. 61. Vgl. M. Burckhardt, Metamorphosen von Raum und Zeit: Eine Geschichte der Wahrnehmung. Frankfurt/M. 1994. S. 298.

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Newcastle geschrieben und als Flugblatt gedruckt wurde." Ich entdeckte es in der Universitätsbibliothek von Newcastle. Der Text liefert die gereimte Sinngebung für die Ausstellungspraxis in Form einer allegorischen Konstruktion des Geistes der Verbesserung, der sich an junge Menschen wendet, indem er im dramatischen Monolog einen Katalog seiner Aktivitäten erstellt. In der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts sind engelgleiche Menschen als allegorische Repräsentanten von Energie, Fortschritt u. ähnlichen Konzepten durchaus üblich. Die Allegorie des Fortschritts ist im Gedicht als eine Art flügelbewehrter Engel konzipiert, dessen Aktionsfeld der gesamte Globus ist („And fly round the globe"). Diese Inkarnation des fortschrittlichen Weltgeistes schreibt sich im Text u.a. die Rollen des technologischen Produzenten („my railways"), des Lehrers, des reisenden Berichterstatters und Kontrolleurs und des philosophischen Interpreten der Zeitverhältnisse zu. Um die eigene, durch Beschleunigung geprägte Zeit von der vorangegangenen abzuheben, ersetzt er demonstrativ die vertraute Kollektivmetapher „march of time" („Talk not to me of the march of time") durch die Metapher des Fluges: Geschichte ist ein Überholvorgang. Jede Strophe endet mit dem vielfach, aber durchweg positiv variierten Refrain „The world is whirling on", womit wohl eine rasche Vorwärtsbewegung gemeint ist, aber auch, bei dekonstruktiver Lesart, eine schwindelerregende Rotationsbewegung. Dieser rastlos tätige Geist, der - ein Paradox - gleichzeitig an unterschiedlichen Orten wirkt und damit die moderne Realität der Telepräsenz und der Globalisierung vorwegnimmt, arbeitet als Astronom, als Tiefseeforscher, als Betreiber von Dampfmaschinen, vor allem aber als fliegender Besucher, Wohltäter und Kontrolleur all jener Räume und Institutionen, an denen sein fortschrittliches Wirken besichtigt werden kann. Der allegorische Geist des Fortschritts ähnelt deshalb in der literarischen Repräsentation in vielen Punkten Hegels retrospektiv-reflektierendem Weltgeist. Die Zeit als solche, obwohl im Begriff „improvement" enthalten, ist im traditionell strukturierten Text nicht als Prozeß, sondern nur als kontrastive Gegenüberstellung und Besichtigungstour greifbar. Denn was die Zukunft an Neuerungen hervorbringt, ist als Bestandsaufnahme erheischende Gegenwart schon vorhanden. Die Lokomotion veranschaulicht lediglich die schon erreichten Fortschritte. Deshalb präsentiert sich hier Zeit eigentlich nur als Raum. Der Flug des Geistes durch verschiedene Räume vermag aber auch Stillstand und menschliche Beständigkeit anzuzeigen. Dies ist die vorherrschende Absicht des Proems von George Eliots Romola. Eliot situiert im Roman Romola die Geschichte der sich emanzipierenden Heldin, die im Florenz von Savonarola spielt, im größeren Zusammenhang des abendländischen Modernisierungsgeschehens. Dazu konstruiert sie neben der Erzählstimme die Figuren des fliegenden Engels der Dämmerung, der vom Kaukasus bis zum Atlantik fliegt, und des Geistes eines Renaissance-Florentiners, dem hypothetisch gestattet wird, die Unterwelt zu verlassen und das moderne Florenz von einem Hügel aus in Augenschein zu nehmen. Fast vierhundert Jahre zeitliche Differenz werden also "

„The Spirit of Improvement. Written for the Polytechnic Exhibition, Newcastle-uponTyne" (19. Jh.). Unveröffentlichte Sammlung industrieller Versdichtung des 19. Jahrhunderts, die ich im Rahmen des Bochumer SFB „Wissen und Gesellschaft im 19. Jh." zusammenstellte, S. 177.

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anschaubar in der fiktionalen Simulation eines Wahrnehmungs-und Gedankenprozesses, dessen Gegenstand Europa und Florenz als räumliche Realitäten sind. Beiden imaginativ als reale Beobachterfiguren vorgestellte Wahrnehmungs-und Reflexionsinstanzen unterstellt die Erzählstimme, daß ihre panoramische Sicht zur selben Einsicht führt: an den Grundelementen der Landschaft und der menschlichen Erfahrung, insbesondere am Bedürfnis nach Erlösung und nach Liebe, hat die Zeit fast nichts geändert, wohl aber im Reich des Wissens und der Ökonomie. Da beide Vermittlungsinstanzen ihre Beobachterposition nicht verlassen, vermeidet der Text im Proem eine kulturelle Konfrontation von alt und neu. Eine solche gibt es in der einleitenden historischen Reflexion von Middlemarch, vom Erzähler als „experiment in time" apostrophiert, sehr wohl. Wie Günter Bachmann12 plausibel nachgewiesen hat, deutet Eliot die Unterschiede des Schicksals von Theresa von Avila und Dorothea im Rahmen einer Hegeischen Geschichtskonzeption, die zwischen der Poesie der heroischen Zeit und der Prosa der modernen Verhältnisse unterscheidet. Eliots eurozentrische Sichtweise wird in der politischen und literarischen Kultur um 1900 - so bei Conrad, Wells, Kipling und Forster - ersichtlich auf den ganzen Globus ausgeweitet und teilweise auch in Frage gestellt. Kulturkonflikte zwischen westlichem und magischem Denken gehören geradezu zum literarischen Repertoire der Zeit. Als Folge dessen, was David Harvey die „Verdichtung von Raum und Zeit"13 genannt hat, ergibt sich im Zeitalter des Imperialismus der Blick aufs Ganze der Welt und ihrer Geschichte nicht mehr aus den Annahmen einer der Totalität verpflichteten Geschichtsphilosophie, vielmehr aus der sozioökonomischen und politischen Realität weltumspannender Aktivitäten, insbesondere der Erfindung des elektrischen Telegraphen. Eine kaum bekannte satirische Deutung dieses Wandels liefert Richard Whiteings The Island or An Adventure of α Person of Quality.14 Whiteings satirische Utopie und Romanze handelt von einer radikalen Orientierungskrise und dem problematischen Versuch ihrer Behebung. Den Verlust der Orientierung verdeutlicht die Romanze am symbolischen Leitmotiv des panoramischen, zugleich geistigmetaphorischen Sehens. Der Ich-Erzähler und Protagonist, ein unter Termindruck leidender englischer Gentleman, nimmt die internationale Gesellschaft der Börsianer und der Londoner von den Treppen des Royal Exchange zunächst als wohlfunktionierende Teile einer großen Maschine wahr, dann aber als abstoßende Ansammlung sich kratzender Menschen. Er empfindet ein intensives Schwindelgefühl und begibt sich fluchtartig auf die Suche nach dem vollständigen und präzisen Bild der Welt. Aber die dialogisch entworfene, ihrer Intention nach panoramische Karikatur der dekadenten Pariser Künstler-und Intellektuellenszene führt nur zur Einsicht, daß er sich unter Sterbenden befindet. Auf der Suche nach orientierungsstiftender Distanz landet er schließlich bei einer Seereise um den Erdball unfreiwillig auf einer pazifischen Insel, deren Bewohner, 12

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G. Bachmann, Philosophische Bewußtseinsformen in George Eliots Middlemarch: Ironie Melancholie - Sympathie. Frankfurt/M. 2000. D. Harvey, „Die Postmoderne und die Verdichtung von Raum und Zeit". In: Philosophische Ansichten der Kultur der Moderne. Hg. von. A. Kuhlmann. Frankfurt/M. 1994. S. 4878. R. Whiteing, The Island or An Adventure of α Person of Quality. London 1899.

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Mischlinge aus Engländern und Eingeborenen, ein frommes, unschuldiges, friedliches und einfaches Leben im Einklang mit der Natur führen. Gelegentliche Besuche von britischen Kriegsschiffen oder amerikanischen Handelsschiffen versorgen sie mit nötigen Materialien, gefährden aber auch durch die so entstehenden Liebesverwicklungen die Stabilität und den inneren Frieden der Gesellschaft. So verliebt sich Victoria, die eigentlich einem anderen Engländer versprochen ist, in den Ankömmling, lehnt es aber, nachdem ihr die Lektüre von Zeitungen jegliche Illusion über die moderne Gesellschaft genommen hat, ab, mit dem Gentleman die Rückreise nach London anzutreten. Die beabsichtigte Wirkung des über weite Strecken satirischen Textes liegt in der radikalen Infragestellung der sich global ausbreitenden Normen - Fortschritt, Reichtum, imperiale Macht - und Realitäten der marktwirtschaftlichen Ordnung, indem die idyllische Ruhe und Bedürfnislosigeit der Inselbewohner ständig mit dem Luxus, dem Elend, der Hektik, den Klassengegensätzen und der naturfeindlichen Aggressivität der Zivilisationsmaschinerie konfrontiert werden. Die letztlich abstoßendste Karikatur repräsentiert jener hyperaktive Amerikaner, den akrobatische Läuse auf die Idee bringen, das gänzlich brachliegende Energiereservoir der gesamten Tierwelt für die Menschheit zu nutzen. Die Irrsinnigkeit des Vorschlags karikiert den voranschreitenden Verlust von Natur. Für den englischen Gentleman verwandeln sich daraufhin Schlagzeilen von Zeitungen, die Negativmeldungen aus aller Welt komprimieren, in die Vision eines irrsinnigen Globus, der stinkend wie ein Käse durchs All wirbelt, während er auf einer Wolke träumt. Die chaotische Welt wird im Text also doppelt repräsentiert - als Collage von Schlagzeilen, die gleichsam eine photographische Momentaufnahme des Weltzustandes liefert, und als Serie von totalisierenden Metaphern, die - schon einen Satellitenblick unterstellend - den Globus als kinetische Ganzheit, ziellos wirbelnden Ball, stinkenden Käse und höllischen Hinterhof deuten. Insbesondere in der Collage von Schlagzeilen, aber auch in panoramischen Bildserien, wird die Welt als einheitlicher Aktionsraum erfahren, der trotz unterschiedlicher geographischer und kultureller Räume denselben Modernisierungstendenzen unterworfen ist: The Captain's bundle of newspapers lay on a chair, and I took them up to read myself to sleep. I might as well have taken coffee as an opiate. As I turned these fatal leaves, life in all its littleness seemed to beat in upon me, with a suffocating rush, from every quarter of the globe. I was in the fever-struck crowd once more, after my spiritual quarantine of months. It was as a coming back to consciousness after chloroform: my brain throbbed, every pulsation was pain. I darted from column to column, from page to page. I had lost the art of selection: one thing was as another thing, and each impression was a shock. Once again, I realised Europe and America, Asia and Africa, but only as masses in a whirl. The Ball itself, with all its continents, seemed to have suddenly whizzed my way, as I lay dreaming on a cloud in space. Every particle was in movement, as well as the mass; it was a huge rolling cheese, putrid with unwholesome being - a low-bred world, not a world at all, a mere glorified back-court, with all its cheatings, thefts, lies, cruelties, small cares, and small ambitions, multiplied into themselves, and into one another, to make a whole. The finer things alone seemed without an entry, as though, in a business reckoning, such trifles could not count. I did not know how to read it. Picking and choosing was impossible; I took it as it came. 'Brigandage in the public Thoroughfares;' 'Foreign Paupers blocking the City Streets;'

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Outrages on English Fishermen;' 'Parliament - two Members suspended;' 'Afghanistan Five hundred killed;' 'Moonlighting in Ireland; a Policeman's Head beaten to Pulp;' Έvictions - Death of an Old Woman on the Roadside;' Ά Hundred People Burned to Death in a Theatre;' 'Brutal Treatment of a Boy.' This was from the English budget. The American was more appalling in the cool devilry of its mocking headlines, as though all the woe and all the folly of the world were but one stupendous joke - 'Green Immigrants sold like Cattle;' [...].15

Weltkommunikation, um einen Begriff von Norbert Bolz16 aufzunehmen, ist also schon Realität. Insbesondere die Erfindung des elektrischen Telegraphen und die 1858 erfolgte Verlegung des transatlantischen Kabels verwandeln die Welt in eine Arena simultaner Ereignisse. Die zumindest partielle Immaterialität der elektrischen Nachrichtenübertragung und ihre Funktion, Nachrichten und Gedanken zu verbreiten, lassen zeitgenössische Betrachter Weltgeist und Elektrizität in eine nicht nur analogische Beziehung treten. Unterschiedlichste Nationen, primitive und hochentwickelte Kulturen, werden nicht als getrennte Sphären präsentiert, sondern als ein System von Wechselwirkungen, dessen schon postmoderne Vielfalt u.a. wegen der vereinheitlichenden satirischen Perspektive allerdings nicht voll zur Geltung kommen darf. Symbol für solche Wechselwirkungen und Verschmelzungen ist die hybride Kultur der Insulaner. Wenn gleich am Anfang internationale Börse, London und Paris als gleichermaßen deprimierende Erfahrungen zusammenrücken, wenn gleichzeitig Terroristen als weltweit agierende und kommunizierende Gemeinschaft präsentiert werden und die isolierten Insulaner keineswegs vollständig isoliert sind, so scheint der Roman auf inhaltlicher, gelegentlich aber auch auf strukturaler Ebene die Folgerungen aus der Tatsache zu ziehen, daß moderne Nachrichtentechnik, Transportmittel und Medien die unmittelbare Nachbarschaft des räumlich, kulturell und zeitlich Verschiedenen bewirkt haben. Migration, Welthandel und Weltkommunikation bedeuten darüber hinaus, daß potentiell jeder Ort, die Börse ohnehin, zum Mikrokosmos der ganzen Welt werden kann. Unter den technologischen Systembedingungen des Internet mutiert der Mensch schließlich zur Spinne, die bewegungslos im Netz sitzend gleichwohl visuelle, akustische und geistige Weltreisen unternimmt. Indes ist der Roman nicht nur als Raumreise angelegt, als Flucht aus der Zivilisation auf eine pazifische Insel, sondern auch als Reise in die Vergangenheit des patriotischen Plebejers und ehemaligen Indien-Kämpfers Swart. Die bis ins Mittelalter geführte, reichlich bizarre Rekonstruktion seiner Ahnen vermittelt mit einigem Witz die sozialkritische Botschaft, daß die Herrschenden von der Dummheit und - bei aller Aufsässigkeit - letztlichen Loyalität der Unterschichten leben (Kap. „Pedigree of a Poor Stupid"). Auf die Frage nach der sprachlichlichen Vermittlung zukünftiger globaler Prozesse hält die Zeit um 1900 zwei Antworten parat, die exemplarisch von Wells gegeben werden: Science Fiction-Illusionismus und prognostische Erörterung. (a) The Time Machine weitet die Blickrichtung auf das entropische Ende der Welt schlechthin aus. Die Naturwissenschaft um 1900 stellt also eine Anschauung und eine Deutung des Ganzen der Welt parat, die nicht mehr als tröst15 16

Whiteing 1899, S. 264-266. N. Bolz, Weltkommunikation.

München 2001.

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liehe Sinnkonstruktion taugt. Wie Wells das Untergangsszenario entwirft, ist schon oft beschrieben worden. Von nicht geringerer visionärer Kraft ist die Simulation einer Reise in den Weltraum in der Kurzgeschichte „Under the Knife". Wie in anderen fantastischen Kurzgeschichten rüttelt Wells hier aber an den Grenzpfählen von Metaphysik und Physik, werden doch im panoramischen Hauptteil der Erzählung nichts anderes als die imaginären Erfahrungen der in den Weltraum aufsteigenden Seele des Ich-Erzählers mitgeteilt, der bei einer gefährlichen Operation den Tod erlitten zu haben scheint. Die platonische Heimkehr der immateriellen Seele in die Ewigkeit gleicht zunächst einer Ballonreise und der Wahrnehmungseffekt dem eines Moving Panorama: I was in mid air. Far below was the West End of London, receding rapidly, - for I seemed to be flying swiftly upward, - and, as it receded, passing westward like a panorama. I could see through the faint haze of smoke the innumerable roofs chimney-set, the narrow roadways, stippled with people and conveyances, the little specks of squares, and the church steeples like thorns sticking out of the fabric. But it spun away as the earth rotated on its axis [...].'17

Später wird der ganze Globus sichtbar. Da sich der Zeitsinn des Reisenden verlangsamt, mutiert die Raumreise zu einer Zeitreise, die tausend Jahre auf einen Moment zusammenschrumpfen läßt und das scheinbar statische Sternensystem zum Tanzen bringt, bis ihn zuletzt nicht Sinnfülle, sondern die schwarze Leere des Black Hole und extrem erhöhte Geschwindigkeit (laut Theorie schneller als das Licht) umgibt: I was no longer a denizen of the solar system: I had come to the Outer Universe, I seemed to grasp and comprehend the whole world of matter. Ever more swiftly the stars closed about the spot where Antares and Vega had vanished in a luminous haze, until that part of the sky had the semblance of a whirling mass of nebulae, and ever before me yawned vaster gaps of vacant blackness, and the stars shone fewer and fewer [...] Faster and faster the universe rushed by, a hurry of whirling motes at last, speeding into the void [...] Broader and wider and deeper grew the starless space, the vacant Beyond, into which I was being drawn. (158)

(b) Ein weiterer Schlüsseltext, Anticipations (1901),18 löst das Problem des globalen Weges in die Zukunft völlig anders. Wells erfindet in diesem quasisoziologischen Traktat, wenngleich versetzt mit fiktionalen, utopischen und apokalyptischen Elementen, die Disziplin der Prognostik. Er rechnet Modernisierungstrends hoch und kommt zu dem Ergebnis, daß die Revolution des Transport-und Kommunikationswesens die Welt ökonomisch und politisch zu einem einzigen Wirtschaftsraum mit riesigen metropolitanen Zentren machen werde, eine Tendenz, in deren Logik auch die Gründung eines Weltstaates durch eine technisch geprägte Führungselite liege. Auch Weltausstellungen nehmen seit 1851 die Produkte der gesamten Welt in den Blick einschließlich der Kulturen, die solche Produkte hervorgebracht haben. Davidsons Gedicht 17 18

H.G. Wells, „Under the Knife". In: Wells, Thirty Strange Stories. New York 1998. S. 152. H.G. Wells, Anticipations of the Reaction of Mechanical and Scientific Progress upon Human Life and Thought. 1902. New York 1999.

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„The Crystal Palace" zelebriert aus kulturkritischer Perspektive die kosmopolitische Vielfalt der historischen Stile und kulinarischen Genüsse des Kristallpalastes; die im Text repräsentierte Vielfalt repräsentiert ihrerseits Weltzivilisationen, die im begrenzten Raum des Museums aneinanderstoßen, samt ihrer Genese.

Der Flug des Geistes und der mikroskopische Blick der Moderne Alle diese Versuche, mittels der Schemata der realen Weltreise, der Reise in den Weltraum, der Weltgeschichte und kosmischen Naturgeschichte, der totalisierenden Metaphorik und der Weltausstellung bzw. des Museums die Illusion oder zumindest die Vorstellung eines Weltganzen zu erzeugen, an dessen Sinn oder fehlendem Sinn das Lokale partizipiert, weicht im angelsächsischen Modernismus anderen Verfahren. Die Welt darf in der Regel nur noch in der Brechung durch einen begrenzten Ort, sei es eine Stadt wie Dublin oder London, oder ein individuelles Bewußtsein, oder durch die Kombination beider, zur Anschauung kommen. Die soziologischen Abstraktionen und die totalisierenden Bilder unterliegen dem ästhetischen und epistemologischen Verdikt mangelnder Konkretheit und Perspektivität. Ausgehend von individuellen Räumen und inneren Erfahrungen werden gleichwohl mittels der Prinzipien der Assoziation - Molly (in Joyces Ulysses) denkt z.B. in ihrem Erinnerungsstrom an chinesische Zöpfe - und der Intertextualität die Welt und ihre Kulturgeschichte zur textuellen Realität von Stimmen und Anspielungsnetzen, die den Leser zu mentalen Reisen auffordern. Die Welt und ihre Kulturen, einschließlich ihrer Geschichte, sind entweder im Hier und Jetzt der Psyche und der lokalen Gesellschaft anwesend oder sie existieren nicht. Hegels Weltgeist lebt in gewisser Weise - ein Einfluß wird nicht unterstellt - fort im intertextuellen, freilich nicht mehr einem linear-sukzessiven Muster gehorchenden Spiel der Imagination und der Erinnerung mit dem Kulturerbe der Welt, in dem klassische Raum- und Zeitordnungen aufgelöst werden (vgl. Eliots The Waste Land). Der Flug des Geistes, vormals simulierte Wirklichkeit in Form einer Reise, wird zur vom Leser erwarteten imaginativen Rezeptionsleistung oder zur alles vernetzenden Kommunikationselektronik. Schon der Erzähler von Wells' The Time Machine gibt der Reise in die Zukunft eine metafiktionale Wendung, indem er sie selbst als Erfindung, Fiktion, Reise der Phantasie, deutet. Ziel dieser Phantasie ist eigentlich nicht mehr, Reisen und Transportvorgänge zu inszenieren. Die Diskursvorbilder der panoramischen Weltbeschreibungen und der weltgeschichtlichen großen Erzählung weichen der Koexistenz von schnappschußartigen Nahaufnahmen, der von Museen und Ausstellungen inspirierten Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und der „Raumform der monitorialen Fläche"' 9 wo

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P. Sloterdijk, Tau von den Bermudas. furt/M. 2001. S. 51.

Über einige Regime der Einbildungskraft.

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bekannte Zeichen in immer neuen Mischungen und Kombinationen um Aufmerksamkeit heischen. Diese Verschiebung des Verhältnisses von Orts- und Weltdarstellung ist schon am Beginn des britischen Modernismus, etwa an „After the Race" in James Joyces Dubliners, ablesbar. Man könnte mit einigem Recht die These aufstellen, daß die Kurzgeschichten von Dubliners gezielt gegen die hier erörterte Tradition des totalisierenden panoramischen Blicks gerichtet sind. Ihr Darstellungsziel ist die Erkundung der Wahrheit über die Pathologie der Dubliner Gesellschaft und Kultur um die Jahrhundertwende mit Hilfe des mikroskopischen Blicks, der erzähltechnisch zur Bevorzugung der personalen Perspektive und der Technik des symbolischen Leitmotivs führt. Da die Charaktere beschränkte, gedrückte Existenzen sind, bedeutet dies, daß Wissen nur als vermindertes populäres Wissen zur Sprache kommt und Horizontüberschreitungen in Richtung London, Argentinien oder die USA vage Phantasien bleiben, die nicht zur realen Überschreitung irischer Gechlossenheit führen. „After the Race" weicht von diesem Muster insofern ab, als die internationale Welt in Gestalt eines internationalen Autorennens nach Irland kommt, und es entspricht dem Muster, als die irischen Beteiligten an diesem Ereignis, der Geschäftsmann und sein Sohn Jimmy, die Gelegenheit nutzen wollen, aus der irischen Provinz auszubrechen und ökonomischen Anschluß an die Global Players vom Kontinent zu gewinnen. Wie keine andere Kurzgeschichte in Dubliners beleuchtet „After the Race" die Realität der technischen Kultur der Moderne um 1900. Deren Kennzeichen sind Mobilität, Internationalität, Geld, juvenile Vergnügungssucht und riskantes Spiel. Perfektes Symbol für diese Sachverhalte ist das Autorennen selbst, das von einem belgischen Fahrer mit einem deutschen Auto gegen französische Konkurrenz gewonnen wird, und der damit verbundene Rausch der Geschwindigkeit, dem die Hochstimmung des Geldbesitzes entspricht: „Rapid motion through space elates one; so does notoriety; so does the possession of money. These were three good reasons for Jimmy's excitement." 20 Die Korrespondenz von Wettrennen und modernem Lebensgefühl, menschlichem Nervensystem und geschwinder Lokomotion des blauen Rennwagens erkundet und definiert die komplexe Metaphorik des folgenden, perspektivisch nicht eindeutig bestimmbaren Satzes: „The journey laid a magical finger on the genuine pulse of life and gallantly the machinery of human nerves strove to answer the bounding courses of the swift blue animal" (32). Der Text als Interpretation der Moderne entgrenzt durch seine Metaphorik klassische Oppositionen wie Mensch vs. Maschine, Tier vs. Maschine und Moderne vs. Magie. Dies könnte mit dem Wettrennen als dem im 19. Jahrhundert verbreiteten Symbol moderner Mobilität zu tun haben. Denn diese Mobilität wird im Text nirgendwo mehr in ein sinnvolles Ganzes eingegliedert. Eine Gliederung von Zeit und Raum nach dem Muster des Fortschritts, der zyklischen Wiederkehr oder eines Klassifikationsschemas findet nicht statt. Wenn aber Sinn und Zeit keine verläßlichen Parameter für Ordnungskonstruktionen mehr bereitstellen, wenn die entfesselte Bewegung letztlich ziellos ist, beginnen bei authentischer künstlerischer Registrierung dieser Situation auch die Bedeu20

J. Joyce, Dubliners. Hg. von J. Johnson. Oxford 2000. S. 31.

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tungen zu schwanken, zu rutschen und zu oszillieren. Komplexität und Ambiguität stellen sich ein. Dies trifft schon auf den Titel zu. Er verweist zunächst auf die Situation nach dem Autorennen, wo ein Festessen im nationalistischen Streit zwischen dem Iren und dem Engländer gipfelt. Auch wenn es dem Franzosen Seguy gelingt, diesen Streit mit einem Toast auf die Menschheit zu schlichten, so dient dieser Appell ans Ganze doch nur als diplomatisch-rhetorisches Manöver. Entsprechend brüchig ist der kosmopolitische Enthusiasmus der jungen Iren, Engländer, Franzosen und Amerikaner, zeigt sich doch beim abschließenden riskanten Kartenspiel, daß dem Ideal der freien, mit gleichen Rechten ausgestatteten Menschheit etwas Illusionäres anhaftet, weil es nach wie vor Gewinner gibt wie den Engländer, und Verlierer wie den Franzosen und den Iren Jimmy, der vom ungarischen Künstler am nächsten Morgen auf die Wirklichkeit gestoßen wird. Damit erhält der Titel eine zweite Bedeutung. Man handelt immer noch im Rahmen („after") vertrauter nationaler Kulturen und Traditionen, die im Zeitalter des Imperialismus um 1900 sich im Wettrennen um die Besitznahme der besten Plätze dieser Welt befinden, das in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs mündet. „After the Race" könnte deshalb drittens in zeitlicher Perspektive auch einen Fortschritt signalisieren, der keiner ist oder zumindest in der Schwebe gehalten wird. Weltkommunikation, Internationalismus und Kosmopolitismus, die auf die Nation folgen, erweisen sich als äußerst prekär, ja als Auslöser neuer Nationalismen und Regionalismen, und die Wettrennen und globalen Kapitalströme der Moderne, an denen sich nun auch die Iren beteiligen sollen, treiben auf die letztlich unkalkulierbaren Risiken und Kontingenzen eines Kartenspiels zu. Sie ist ein zutiefst zweideutiger Heilsbringer. Damit würde übereinstimmen, daß die oben genannten Metaphern, die Maschine und Mensch, Maschine und Tier analogisch verknüpfen, auch als parodistische Echos auf literarische Technikdarstellungen des 19. Jahrhunderts gelesen werden können. Gleichwohl: In der Zerrissenheit trauern die meisten Modernisten immer noch dem Traum von Ganzheit nach, für den in Virginia Woolfs Jacob's Room (1922) Griechenland steht. Die Postmodernen richten sich dagegen häuslich in der Vielfalt ein.

Zusammenfassung Rasante Modernisierungsschritte lösen im 19. Jahrhundert einen gestiegenen Bedarf an weltimmanenter, nicht-metaphysischer Orientierung aus. Diesem Orientierungsbedarf entsprechen heroische Versuche, das Ganze der Welt, ja des Universums in Zeichen zu modellieren, seien diese Zeichen nun Formeln, Photographien, philosophische Begriffe, Metaphern oder Reiseberichte. Die vorliegende Studie arbeitete einen Typus sprachlicher Vermittlung heraus, der sich des Kunstgriffs „Flug des Geistes" im doppelten Sinne von „Geisterflug" und „Flug der Imagination" bedient und aus der so geschaffenen perspektivischen Position panoramische Anblicke des Ganzen entrollt. Der Ambiguität der Wendung „Flug des Geistes", die zwischen wörtlicher und metaphorischer Bedeutung schillert, entspricht in den Texten eine implizit antimodernisierende

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Dimension des Kunstgriffs, insofern als metafiktionale und metaphorische Reflexivität Magisches bzw. Metaphysisches nicht ausschließt. Varianten dieses Fluges waren bei George Eliot (der Flug demonstriert Dauer und Veränderung als grundlegende Aspekte von Zeit und Geschichte), Martin Tupper (totalisierende Metaphorik dient der Repräsentation des Ganzen der Moderne und ihres zweideutigen Fortschritts), Gebrauchslyrik (fliegender Geist als Allegorie des Fortschritts), Mayhew (Ballonreise und Himmelsreise), Whiteing (Weltreise und Weltgeschichte als Mittel der Orientierung in einer globalisierten, vom Kapitalismus beherrschten Welt) und H. G. Wells (Aufstieg der Seele in den Weltraum) zu beobachten. Dabei wirkten im individuellen Text Weltreise, totalisierende Metaphorik und Weltausstellung (Davidson) in je unterschiedlicher, von der gewählten Gattung und dem Darstellungszweck (z.B. Satire oder Lob des Fortschritts) abhängigen Art und Weise zusammen. Zwar bleibt im Modernismus von Joyce u.a. das Ganze nach wie vor eine Herausforderung und Denknotwendigkeit, aber der heroische Versuch einer illusionistischen Repräsentation dieses Ganzen wird zugunsten seiner subjektivistischen Brechung im Bewußtsein einer Figur und symbolischer Verknappungstechniken aufgegeben.

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Maschine und Droge

I. Im Frühling des Jahres 1951 unternimmt Ernst Jünger mit einem Pharmakologen und einem Chemiker einen Einstieg in die Droge LSD. Was heute Trip heißt, ist bei Jünger noch „Fahrt" und wird als Reise in andere Wahrnehmungsfelder beschrieben. Er nennt diesen Vorgang auch „Annäherungen", wie der Titel des Buches lautet, in denen Jünger Drogenerfahrungen und Autobiographie mit einer Kulturgeschichte des Rausches und der Wahrnehmung verbindet. Interessant sind nun die Ausgangsbedingungen, unter denen der Trip unternommen wird: Der Raum war stark geheizt; wir machten es uns in den Sesseln bequem. [...] Die Farben wurden lebhafter, als ob nubische Sonne zu scheinen begänne oder als ob die Materie stärker abstrahlte. Mir war, als ob ich bisher nur Schatten des Lichtes wahrgenommen hätte

Im Lichte dieser einsetzenden Drogenerfahrung läßt sich nun der Beginn einer anderen Reise neu lesen: der Zeitreise, die mit H.G. Wells' Erzählung The Time Machine von 1895 erstmals in den Blickpunkt einer größeren Leserschaft rückte und zahlreichen weiteren Büchern und Filmen als Vorlage diente. Die Interpretationen dieses klassischen Werkes konzentrieren sich jedoch meist auf die Ereignisse in der Zukunft, jenes Jahr 802 701, in dem die viktorianische Realität als ddjä-vu verfremdet fortlebt. Doch sind in diesem Buch die Ausgangsbedingungen ebenso signifikant und könnten über unterschwellige Motive des Textes Auskunft geben. Der Zeitreisende stimmt seine Gäste auf die Ungeheuerlichkeiten ein, die er ihnen auftischen wird, indem er ihnen spezielle Möbel zur Verfügung stellt und damit einen medialen Rahmen für seine Erzählung schafft: „Our chairs, being his patents, embraced and caressed us rather than submitted to be sat upon Die Sessel sind wie bei Jünger notwendige Requisiten der Anschauung, doch Wells' Sitzmöbel sind mehr als nur behaglich: sie entziehen den Subjekten ihre Selbstkontrolle. Schmeichelnd und liebkosend erzwingen sie eine Passivität, die auch die größten Absurditäten des Kommenden hinnehmen muß. Auch bei Wells stehen Lichtphänomene für das Einsetzen der eigenartigen Wahrnehmung: „The fire burned brightly, and the soft radiance of the incandescent lights 1 2

E. Jünger, Annäherungen. Drogen und Rausch. Stuttgart 1970. S. 294. H.G. Wells, „The Time Machine". In: Wells, Complete Short Stories. London 1987. S. 9.

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in the lilies of silver caught the bubbles that flashed and passed in our glasses."3 Nicht nur geht es hier um Strahlung, sondern auch um die Medien, in denen diese aufgefangen und wahrgenommen wird. JUnger beschreibt das Abbrennen eines Räucherstäbchens kurz nach Beginn des Rausches ebenfalls mit dem Bild von Lilien. Er fühlt sich an ein „blasses Seeliliengespinst in Tiefen" erinnert.4 Die feinstofflichen Bewegungen, die er in immer größerer Genauigkeit erkennt, erscheinen ihm wie einTanz: Die Strahlen und Gitter der Wunderblume schwenkten in neue Ebenen, in neue Felder ein. Myriaden von Molekülen beugten sich in der Harmonie. Hier wirkten die Gesetze nicht mehr unter dem Schleier der Erscheinung; der Stoff war so fein und so ohne Schwere, daß er sie offen spiegelte.5

Ähnlich nun die Erlebnisse des Zeitreisenden. Auch er betont die Feinstofflichkeit und Durchlässigkeit der Materie: „So long as I travelled at a high velocity through time, this scarcely mattered; I was, so to speak attenuated - was slipping through like a vapour through the interstices of intervening substances!"6 Was dem einen mit der Droge gelingt, ist auch dem Reisenden auf der Zeitmaschine möglich. Beide bewegen sich in der Materie und durch sie hindurch wie Wesen, für die die Viktorianer noch einen anderen Namen bereithielten: Gespenster. Wie diesen haftet unseren Reisenden etwas Überirdisches, Dämonisches, aber auch Göttliches an, das sie einerseits über die Gesetze von Raum und Zeit in der Materie erhebt und sie andererseits zu Störfaktoren in der Wirklichkeit der anderen macht. Mit dem Vergleich zwischen Wells und Jünger soll nicht behauptet werden, Wells habe in Wirklichkeit nur eine Drogenerfahrung beschrieben. Der gemeinsame Bezug auf eine Geisterwelt zeigt jedoch, wie auffällig die Parallelen sind und daß beide Erfahrungen sich möglicherweise demselben Ursprung verdanken. Die Maschine erzeugt Erlebnisse, die ebenso durch psychedelische Effekte herbeizuführen sind. Das gilt für die Wahrnehmung der Beschleunigung oder für die panoramatischen Visionen von Kultur, die der Reisende im Anflug auf die Zukunft hat. Mit anderen Worten, die Zeitreise kann auch als neuronales Experiment gelesen werden. Im folgenden möchte ich, ausgehend von Wells' Urtext der Science Fiction, diese Konvergenz von Maschine und Gehirn in einen kulturgeschichtlichen Kontext stellen.

' 4 5 6

Wells 1987, S. 9. Jünger 1970, S. 300. Jünger 1970, S. 300. Wells, 1987, S. 25.

Maschine und Droge

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Eine solche Hypothese läßt sich abstützen durch die Tatsache, daß Wells in vielen Texten neuronale Muster und Ausfälle durchspielt. So beschäftigt er sich in „The Country of the Blind" mit einer Welt, die von Blinden regiert und gestaltet wird. Der sehende Held, der durch einen Unfall in das Tal der Blinden hinabfällt, muß sich zwangsläufig mit Wahrnehmung auseinandersetzen. Es ist wohl kein Zufall, daß diese Geschichte einen Jugendlichen beeindruckte, der später ein berühmter Neurologe mit literarischen Neigungen werden sollte: Oliver Sacks. Sacks ließ sich durch Wells' Erzählung dazu inspirieren, eine eigene Expedition zur Insel der Farbenblinden im Pazifik zu unternehmen und darüber das Buch The Island of the Colorblind zu veröffentlichen. Sacks lieferte noch weitere Hinweise für den neuronalen Charakter so mancher Geschichte von Wells, etwa von „The Door in the Wall".7 Man könnte Nahtoderfahrungen hinzunehmen, wie sie in „Under the Knife" geschildert werden, oder an Erzählungen erinnern, in deren Zentrum ein Pilz oder eine Droge stehen wie „The Truth About Pyecraft" und „The Purple Pileus". Daß die Zeitmaschine selbst ihr Pendant in der Neurologie hat, zeigte Sacks in seinem auch verfilmten Buch Awakenings. Sacks behandelte Opfer der Europäischen Schlafkrankheit, die über Jahrzehnte in einem absolut passiven Zustand dahinvegetierten. Mit dem Neurotransmitter L-Dopa gelang es ihm in den sechziger Jahren, viele Patienten aus ihrem Schlaf zu erwecken. Sie begannen, Zeitreisen in die eigene Vergangenheit zu unternehmen. „ ,Ich weiß', sagte eine Patientin, ,daß wir 1969 haben [...] aber ich fühle mich wie 1936. "' 8 Hier wird in der Tat die Droge zum Verkehrsmittel über die Zeiten hinweg. Sie greift zudem in Zeitsysteme ein, indem sie etwa einzelne Gehirnfunktionen wie die Rechenfähigkeit enorm beschleunigt.

III. Wells' Erzählung The Time Machine ist insofern für die Geschichte des Genres Zeitreise von Bedeutung, als hier erstmals in allen Details eine Maschine beschrieben wird, die die Aufgabe übernimmt, ein Experiment mit der Zeit durchzuführen, also den Zeitpfeil umzukehren, die Zeit zu manipulieren und sie als eine vierte Dimension zu behandeln. Ideen von Welten mit mehr als drei Dimensionen waren in der zweiten Hälfe des 19. Jahrhunderts durchaus verbreitet. Sie können als Popularisierung von Konzepten der nicht-euklidischen Geometrie gesehen werden, die entscheidende Entwicklungen in der Mathematik eines

7 8

Vgl. E. Schenkel, HG. Wells: Der Prophet im Labyrinth. Wien 2001. S. 221-235. O. Sacks, Awakenings - Zeit des Erwachens. Reinbek 1991. S. 130.

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Riemann, Bolyai, Gauß und Lobatschewski durchlaufen hatte.9 Aber Texte wie E. A. Abbotts geometrische Phantasie Fiatland (1884) nutzten die vierte Dimension als räumliche, nicht als zeitliche Kategorie. Wells selbst spielte mit den räumlichen Möglichkeiten in „The Plattner Story" (1897). Daß die Zeit neben den räumlichen eine weitere Koordinate darstellen konnte, war natürlich nicht Wells' Entdeckung. Schon Gustav Theodor Fechner hatte sich in einer halb satirischen Spekulation mit der Zeit als vierter Dimension beschäftigt. 10 Aber das Neue an Wells' Text ist eben die Anwendung solcher metaphysischgeometrischer Spekulation auf eine Maschine, die wiederum als Vehikel eine Art Reiseroman ermöglicht und damit eine fiktional erlebbare Spannung." Im ersten Kapitel führt der Zeitreisende seine Argumentation ausführlich vor, in der er sich geläufige Annahmen über die Zeit zunutze macht. The Time Machine steht so an einem Schnittpunkt mehrerer ideengeschichtlicher Stränge. Auch Zeitreisen hatte es vor Wells gegeben. Bevor er sie zum Genre erhob, waren sie jedoch alle neuronaler Natur, das heißt nur möglich über ein wie auch immer verändertes Bewußtsein.12 Mumifizierung und eine geheimnisvolle Wurzel, ,radix Vitalis', bringt in einer Geschichte von Bulgarin aus dem Jahre 1824 den Protagonisten in das Jahr 2824. Bei dem russischen Romantiker Odojewski erreicht ein somnambuler Chinese Rußland im Jahre 4338 und berichtet von Luftschiffen und magnetischen Bädern (1835/40). In John Macnies Roman The Diothas (1883) gelangt der Held mit Hilfe des Mesmerismus in das 96. Jahrhundert. Vor allem der Schlaf dient in mehreren Phantasien als Medium der Zeitreise, zum Beispiel in Edward Bellamys Looking Backward 2000-1887 (1888) und in Wells' When the Sleeper Wakes (1899). Schlaf und Traum sind vermutlich die älteste Form der Zeitreise, insofern hier das wichtigste und anthropologisch allgemeinste, für jeden nachvollziehbare Modell einer Unterbrechung von Zeit-Raum-Koordinaten vorliegt. Legenden wie die von den Siebenschläfern in Ephesus, die durch den Schlaf 300 Jahre überbrückten, Dornröschen mit ihrem Jahrhundertschlummer und Mohammeds 90 000 Gespräche mit Gott während einer einzigen Handwaschung sind Beispiele aus einem die Kulturen übergreifenden Erzählschatz. Ein Schlag auf den Kopf kann eine Reise ins Mittelalter befördern wie in Mark Twains Α Connecticut Yankee in King Arthur's Court (1889) ebenso wie vulkanartige Gase13 oder selbst Ekel14 die Zeitreise initiieren können.

9

10

" 12

13 M

Vgl. L.D. Henderson, The Fourth Dimension: Non-Euclidean Geometry in Modern Art. Princeton 1983. G.T. Fechner, Kleine Schriften. Leipzig 1875. Zu den verschiedenen Konnotationen der Zeitmaschine vgl. G. Slusser, P. Parrinder, D. Chatelain, Hgg., H G. Wells's Perennial Time Machine. Athens, GA, London 2001. Für die folgenden Beispiele vgl. P. Nahin, Time Machines. Time Travel in Physics, Metaphysics, and Science Fiction. New York 2001. S. 9-13. Eine Ausnahme berücksichtigt Nahin nicht: die SF-Erzählung „Newtons Gehirn" („Newtonuv mozek") des tschechischen Autors Jakub Arbes (1877). In dieser Geschichte wird eine Maschine gebaut, die schneller als das Licht ist und deshalb Ereignisse aus der Vergangenheit sichtbar machen kann. L. Schachner, . f a s t , Present, and Future", zit. bei Nahin 2001, S. 10. O.E. Butler, Kindred. Boston 1979.

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Bei dem neuronalen Charakter dieser Zeitreisen ist es kein Wunder, daß schon früh Drogen als Möglichkeit gesehen wurden, über eine Aushebelung der Zeit- und Raumgesetze in andere, auch zeitliche Welten vorzudringen. Für Thomas de Quincey ist es das Opium in Form des Laudanum, das Zeiten und Räume endlos dehnt und eine Art Gehirnreise auslöst: The sense of space, and in the end, the sense of time, were both powerfully affected. Buildings, landscapes, &c. were exhibited in proportions so vast as the bodily eye is not fitted to receive. Space swelled, and was amplified to an extent of unutterable infinity .This, however, did not disturb me so much as the vast expansion of time; I sometimes seemed to have lived for 70 or 100 years in one night; nay, sometimes had feelings representative of a millenium [sic] passed in that time, or, however, of a duration far beyond the limits of any human experience.15

Die Droge ist hier nicht nur Mittel einer Reise, sondern nimmt direkten Einfluß auf die Zeitwahrnehmung. Anders als bei Wells' Zeitreise besteht bei de Quincey die Gefahr, daß das Subjekt und seine Welt verschmelzen und dadurch die Beschreibung selbst in Frage stellen. In dieser Annäherung liegt andererseits aber auch de Quinceys Stärke, die ihn zu einer herausragenden Erscheinung macht. Wenn Lichtenberg einmal notierte, „Zeit urbar machen", 16 so kann dieses Bild auf das 19. Jahrhundert übertragen werden: man könnte von einer Epoche der Urbarmachung von Zeit reden. Philosophie, Physik, Psychologie, Photographie, Technikwissenschaften, Historiographie machen Zeit zu einem zentralen Thema. Was in die Philosophie als Gegensatz von subjektiver und objektiver Zeit dringt, etwa bei William James oder Henri Bergson, ist jedoch von Dichtern und Literaten wie de Quincey, Poe, Irving oder Baudelaire vorweggenommen worden. In Tennysons „The Lotos-Eaters" (1833-42) nähren sich die Gefährten des Odysseus von einer narkotischen Pflanze, die schon bei Homer erwähnt wird, und erleben eine Art von ewigem Nachmittag. Lewis Carrolls Caterpillar, der Wasserpfeife rauchend auf einem Pilz sitzt, verlangsamt die Zeit durch Sprache und ist eben auch Teil jenes „golden afternoon" des Wunderlandes, den Carroll im Prolog so nostalgisch beschwört und dem er ewige Dauer wünscht. Ernst Jünger faßte die konträren Wirkungen der Drogen auf das Zeitgefühl folgendermaßen: Das Wagnis, das wir mit der Droge eingehen, besteht darin, daß wir an einer Grundmacht des Daseins rütteln, nämlich an der Zeit. Das freilich auf verschiedene Weise: je nachdem, ob wir uns betäuben oder stimulieren, dehnen oder komprimieren wir die Zeit. Damit hängt wiederum die Begehung des Raumes zusammen: hier das Bestreben, die Bewegung in ihm zu steigern, dort die Starre der magischen Welt.' 1

15

16 17

T. de Quincey, Confessions of an English Opium-Eater and Other Writings. Hg. von G. Lindop. Oxford 1985. S. 68. G.C. Lichtenberg, Aphorismen. Zürich 1947. S. 134. Jünger 1970, S. 31.

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92 IV.

Wells widmete sich dem Phänomen der Zeitdehnung und -komprimierung in einer Erzählung, in deren Mittelpunkt eine Droge als Zeitbeschleuniger steht: „The New Accelerator" (1901), ein Text, den man mit James Gleick als Dokument für die Beschleunigungskultur des 19. Jahrhunderts lesen könnte.18 Professor Gibberne, ein faustisch-mephistophelischer Forscher hat eine Droge erfunden, die alles beschleunigt: die Motorik, das Denken und die Wahrnehmung. Daß wir im Zeitalter der Nervosität sind, ist auch dem Erzähler klar, denn so rechtfertigt er die Forschungen des Chemikers. Gibberne arbeitet an der Schnittstelle von Nervensystem und Energiestoffwechsel. Statt gezielter Einzeleffekte geht er jedoch aufs Ganze: What 1 mean to have [...] is a stimulant that stimulates all round, that wakes you up for a time from the crown of your head to the tip of your great toe, and makes you go two - or even three to everybody else's one."

Die Einnahme der Droge macht die beiden Experimentatoren vor der Welt unsichtbar. Gleichzeitig löst sich das, was zuvor ein Augenblick war, in Zeitlupe auf. Was sich einst zu bewegen schien, nähert sich einer eleatischen Position, dem Einfrieren an. Wells richtet die Zeitlupe auch auf akustische Phänomene. Der Professor und sein Assistent beobachten eine Musikkapelle: The band was playing in the upper stand, though all the sound it made for us was a lowpitched wheezy rattle, a sort of prolonged last sigh that passed at times into a sound like the slow muffled ticking of some monstrous clock. Frozen people stood erect, strange, silent, self-conscious-looking dummies hung unstably in mid-stride promenading upon the grass.20

Wie bei der Zeitphotographie eines Muybridge oder Marey wird Bewegung als zusammengesetzte erkannt, als Summe von stills, die wiederum eine andere, unterschwellige Wahrheit hervorbringt. Die Wahrheit des Zeitraffers, der im Flug der Zeitmaschine durch die Jahrhunderte wirkt, ist die des Darwinismus und der Evolution. Der Zeitreisende sieht Zivilisationen, Flora und Fauna aufund niedergehen. Die Wahrheit der Zeitlupe jedoch ist die der Psychoanalyse. Durch die Verlangsamung des Gesehenen werden die Risse und Falten an der Oberfläche des bürgerlichen Lebens der Moderne sichtbar. Die unterschwellige Psychopathologie des Alltagslebens, der Freud seine Aufmerksamkeit widmete, erscheint nun unter dem Blick der Zeitdehnung in ihrer ganzen Fülle. Sie bildet gleichsam den Gegentext zu der Oberfläche, die sonst das Darunterliegende durch zeitliche Muster, das heißt durch spezifische Geschwindigkeiten, verschleiert:

18

" 20

J. Gleick, Faster. The Acceleration of Just About Everything. New York 1999, S. 52-55. Wells 1987, S. 928. Wells 1987, S. 936.

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A wink, studied with such leisurely deliberation as we could afford, is an unattractive thing. It loses any quality of alert gaiety, and one remarks that the winking eye does not completely close, that under its drooping lid appears the lower edge of an eyeball and a line of white. „Heaven give me memory," said I, „and I will never wink again."21

Die Zeitlupe erlaubt also eine andere Form der Zeitreise. Es handelt sich nun um eine Fahrt in und durch den Augenblick. Auch in dieser Hinsicht war Wells auf der Höhe seiner Zeit, denn Psychologen wie Wilhelm Wundt hatten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der Messung von Augenblicken beschäftigt. 22 Wundts Ergebnisse sind im übrigen von der Neurologie im großen und ganzen bestätigt worden. Ernst Pöppel konnte zeigen, daß das Jetzt eine Dauer von zwei bis drei Sekunden hat.23 Droge wie Zeitmaschine manipulieren die anthropologischen Grenzen der Wahrnehmung und erlauben virtuelle Reisen durch Gebiete jenseits unseres biologisch festgelegten Sinnesspektrums. Doch während die Zeitmaschine rafft und gleichsam teleskopisch angelegt ist, ist die Droge in „The New Accelerator" dem Mikroskop nachgestellt. Droge und Maschine können sicherlich beide Funktionen erfüllen, denn schon in dieser Erzählung plant Professor Gibberne das Gegenstück, den „Retarder" oder Entschleuniger. Dieser würde die Subjekte zu passiven und ruhigen Polen im Getriebe der Moderne machen. Während der Beschleuniger die Tendenzen der westlichen Industriegesellschaften bestärkt, indem er den Erregungspegel steigert und die Informationsdichte erhöht, verkörpert der Entschleuniger eine Antwort darauf, die im Weltbild der Zeit mit Asien verknüpft wird. Dem Verwestlicher Beschleunigung steht die Orientalisierung entgegen. Beide zusammen bilden nach Gibberne ein Paket für den modernen Menschen: The Retarder will, of course, have the reverse effect to the Accelerator; used alone it should enable the patient to spread a few seconds over many hours of ordinary time, and so to maintain an apathetic inaction, a glacierlike absence of alacrity, amidst the most animated or irritating surroundings. The two things together must necessarily work an entire revolution in civilised existence. It is the beginning of our escape from that Garment of Time of which Carlyle speaks. While this Accelerator will enable us to concentrate ourselves with tremendous impact upon any moment or occasion that demands our utmost sense and vigour, the Retarder will enable us to pass in passive tranquillity through infinite hardship and tedium. 24

Der Erzähler sieht große Chancen in diesen Drogen, allerdings auch für die Verbrecherzunft. In jedem Fall handelt es sich darum, durch die „interstices of time"25 zu schlüpfen und sich damit gegenüber den gröber gestrickten Menschen Vorteile zu verschaffen. Man erinnert sich, daß der Zeitreisende in The

21 Wells 1987, S. 936. 22

23

Vgl. S. Kem, The Culture of Time and Space 1880-1918. Cambridge, MA 1983. S. 82. E. Pöppel, Grenzen des Bewußtseins. Wie kommen wir zur Zeit und wie entsteht Wirklichkeit? Frankfurt/M. 2000. S. 59-73. Wells 1987, S. 941. Wells 1987, S. 942.

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Time Machine ebenfalls von „interstices" spricht.26 Mit seiner Erzählung „The New Accelerator" drückte Wells wieder einmal Grundkonstellationen der Zeit aus, die bis heute gültig sind. Er war auch mit dieser Geschichte weder der erste noch der letzte, der sich mit einem solchen Thema beschäftigen sollte. Ambrose Bierce etwa dehnte den Moment einer Erschießung aus in „An Occurrence at Owl Creek Bridge" (1891). Eine Geschichte über Zeitdehnung gar im Zusammenhang mit einem Mikroskop schrieb der polnische Autor Antoni Lange mit „Beherrscher der Zeit" (1912). Erzähler wie Papini, Perrutz, Buzzati und Borges haben sich immer wieder diesen Reisen in den Augenblick oder der Dehnung von Momenten gewidmet.

V. Auch Charles Baudelaire, ein Drogenabhängiger der ersten Stunde, konnte in seinen Texten die Zeit anhalten, so in dem Gedicht „A une passante", in dem die Vorübergehende zu einer Statue erstarrt. Das Zeitalter der Beschleunigung erzeugt sowohl seine fanatischen Vertreter als auch deren Antagonisten. Opfer wie Täter leiden jedoch beide unter der gemeinsamen Nervosität, die sie mit unterschiedlichen Mitteln bändigen wollen. Drogen können hier ebenso zum Einsatz kommen wie das Kultivieren von Haltungen, etwa die des Flaneurs oder Dandys, der seine Schildkröten in den Pariser Passagen spazierenführt. Auch der Detektiv wird geboren aus dem Geiste der Geschwindigkeit der Städte und des Verbrechens. Seine analytischen Fähigkeiten müssen Entscheidungsprozesse und Tathergänge aufbrechen in Motivationselemente, die dem Fluß der Zeit entzogen werden, damit er sie sorgfältig präparieren kann. Wie der Psychoanalytiker muß er Zeitreisen in die Vergangenheit antreten, um die Ursachen und Triebe freizulegen. Aber auch in die virtuelle Zukunft muß er reisen, um das nächste Verbrechen zu verhindern. Viele der Sherlock-Holmes-Geschichten nutzen die Form des Wettrennens zwischen Verbrecher und Detektiv, um die Spannung zu erhöhen. Kein Wunder auch, daß der größte Detektiv aller Zeiten Kokain schnupfte, nicht anders als sein psychoanalytisches Pendant in Wien es eine Zeitlang tat und anfangs seinen Patienten gar als Kur empfahl. Daß das Korsett der Zeitnutzung, das von der Moderne dem Menschen übergestülpt wurde, neben höherer Effektivität eben auch das Gegenteil, nämlich Nervosität hervorbrachte, verdeutlicht eine Anekdote Uber Frederick W. Taylor, der die Zeitnutzung in Arbeitsabläufen zu rationalisieren suchte. Seine Versuche, die Effizienz zu erhöhen, dehnte er von der Fabrik auf den eigenen Haushalt und die Familie aus. Seine Frau, heißt es, verfiel darauf hin in krankhafte Nervosität. 27 26

27

,J was [...] slipping like a vapour through the interstices of intervening substances!" Wells 1987, S. 25. D. van Laak, Weiße Elefanten. Anspruch und Scheitern technischer Großprojekte im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1999. S. 41.

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Ein anderer Zeitreisender, für den Zeit selbst zur Droge wird, ist Phileas Fogg, der Held in Jules Vernes Le Tour du monde en quatre-vingts jours (1873). Indem Fogg das Prinzip der globalen Modernisierung und Homogenisierung der Zeit verkörpert, wird er zur Negation aller Konvention, die als verzögerndes Element die Moderne immer begleitet. So wird er gleich im ersten Kapitel in rein negativen Termini definiert: Engländer, aber kein Londoner; nie hat man ihn irgendwo gesehen, weder an der Börse noch im Hafen, sein Name ist in keiner Institution verzeichnet, er ist weder Kaufmann noch Industrieller noch Bauer oder Krämer. Er gehört keinem Verband oder Verein an, außer dem Reform Club, in dem er einzig durch Schweigen und exzessive Pünktlichkeit besticht. Immerhin ist er aber Zeitungsleser und vor allem ein Spieler. Als Whistfreund spielt er um des Spieles, nicht des Gewinnes willen. Es geht ihm vielmehr darum, eine Schwierigkeit zu lösen, möglichst ohne sich dabei zu bewegen. Ein solches Hindernis stellt nun die Zeit dar, die er chronometrisch zu beherrschen sucht. Sein Diener ist ihm als Gegenteil zugeordnet: der ehemalige Tänzer, Turnlehrer und Feuerwehrmann, dazu Franzose, der Luftikus und Hansdampf Jean Passepartout. Die Uhr läuft hier gleichsam gegen die Natur, Kälte gegen Wärme, Verstand gegen Gefühl. Nur zusammen kann ihnen die unmögliche Heldentat gelingen, die Welt in achtzig Tagen zu umrunden und damit die Wette des Reform Club zu gewinnen. Phileas Fogg ist die Antwort der Moderne auf Don Quijote, seine Inversion. Wo dieser zuviel sieht und halluziniert, eliminiert jener fast alle emotionalen Funktionen. Das Unvorhergesehene, die Überraschung existieren nicht, und wenn der Sieger Uber die Zeit durch fremde Kulturen reist, so verschwinden sie vor seiner Rationalität: [...] des merveilles de Bombay, il ne songeait ä rien voir, ni l'hötel de ville, ni la magnifique bibliotheque, ni les forts, ni les docks [...] ni les grottes Kanherie de l'Ile Salcette, ces admirables restes de l'architecture bouddhiste!28

Die mit der Moderne verbundene Vernichtung von Raum und Zeit, von kultureller Spezifizität und Individualität wird hier anhand eines einzelnen Individuums durchdekliniert, das so abstrakt ist wie das Prinzip, für das es steht. Fogg ist ein Autist, die Endfassung des cartesianischen Subjekts, für das die res extenso kaum noch Bedeutung hat. Die Ausdehnung der Erde streitet er gleich zu Beginn ab: früher einmal war sie ausgedehnt, ,,[e]lle l'6tait autrefois f...]"29 Am Ende werden selbst die Transportmittel Opfer seines Zeitwahns. Als Medium stehen sie zwischen res cogitans und res externa und bilden eine letzte Brücke zwischen Subjekt und Objekt. Doch auf der Überquerung des Atlantiks verheizt Fogg gar das Schiff selbst bis auf den Motor, um Höchstgeschwindigkeit zu erreichen. Verne hat eine ganze Reihe solcher Anarchisten der Moderne geschaffen, die zu Unrecht auf Kinder- und Jugendbuchregalen ihre Existenz fristen - man denke an Robur, Nemo oder Keraban. Paradoxal bei Fogg ist weiterhin, daß er bei all seinem Kult der Geschwindigkeit selbst ein Erstarrter 28 29

Jules Verne, Le Tour du monde en quatre-vingts jours. Paris 2000. S. 49f. Verne 2000, S. 21.

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ist, emotional wie motorisch. Immer wieder wird seine Kälte betont. So ließe er sich als eine jener Mumien sehen, die de Quincey in den Pyramiden sah, als eine jener Formen der Vereisung, die das 19. Jahrhundert durchziehen, von E. A. Poes The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket und Jules Vernes Fortsetzung in Le Sphinx des Glaces bis hin zum oft eisigen Sherlock Holmes, der diese Kälte nicht zuletzt durch seinen Kokaingebrauch verstärkt. Ernst Jünger bringt Kokain explizit mit Kälte zusammen: „Das braune Pulver [Opium] mumifiziert. Der .Schnee' vereist. [...] Dafür wächst das Bewußtsein geistiger Gegenwart und Macht. Das Him denkt nicht mehr dieses oder jenes; es fühlt sich selbst in seiner unbeschränkten Fülle f...]."30

VI. Das Bewußtsein objektiver Macht über die Natur und schließlich auch über die Menschen vermittelt im 19. Jahrhundert die Maschine. Das ist seit der Industrialisierung eine Binsenweisheit, doch wird am Ende des Jahrhunderts eine neue Schwelle überschritten. Man kann sie als die Vorstufe zur heute stattfindenden Vernetzung von Maschinen, Medien und Menschen bezeichnen. Daß die Medien eine Extension des Nervensystems darstellen, hat nicht erst Marshall McLuhan formuliert, jedoch hat er den Zusammenhang zwischen Medien und Rauschmittel hergestellt. Er spricht von dem Bedürfnis der Narkotisierung, wenn das Mediennetz als veräußerlichtes Nervensystem sich weiter ausdehnt. 31 Nun bringen die einzelnen Transport- und Kommunikationsmedien, die in das Netz eingespannt werden, auch als separate Technik schon Elemente des Rausches mit sich, das heißt, man hat sie sehr früh in Bezug auf das neuronale System gesehen. Von der Eisenbahn geht eine ambivalente Faszination aus. Frühe Berichte betonen die Gefahren, die den Menschen durch die Geschwindigkeit des neuen Fahrzeugs drohen. 32 Victor Hugo und Heinrich Heine erkennen, daß der Rausch mit der Vernichtung von Raum und Zeit zusammenhängt. Die Gewöhnung an die neue Geschwindigkeit wird jedoch vorbereitet, und zwar auf dem Rummelplatz. Dort werden ab etwa 1815 immer mehr rauscherzeugende und beschleunigende Geräte aufgestellt, zum Beispiel die erste Rutschbahn in Paris. Um 1900 sind Kettenkarusselle und Flugattraktionen wichtige Attraktionen in den Vergnügungsparks geworden. Der Monotonie des Alltagslebens werden Rauschmaschinen entgegengestellt.33 Die Geschwindigkeit der neuen Medien und ihre Immaterialität kann jedoch auch tödlich sein, wie dies der Signalmann in Dickens' Kurzgeschichte „No. 1 Branch Line. The Signal Man" (1866) erfahren muß. Man kann die Bahnhöfe 30 31 32 33

Jünger 1970, S. 169. M. McLuhan, Understanding Media. The Extensions of Man. London 1967. S. 51-57. W. Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. München 1977. A. Braun, Tempo, Tempo! Eine Kunst- und Kulturgeschichte der Geschwindigkeit im 19. Jahrhundert. Berlin 2001. S. 40.

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als Knotenpunkte von Zeitebenen sehen: Alltagszeit wird an eine Universalzeit angeschlossen, insbesondere nach der Einführung einer Weltstandardzeit durch Sir Sandford Fleming. 34 Kult und Profanität vereinen sich schon in der Architektur der Bahnhöfe. Während der vordere Teil, der das Publikum aufnimmt, sakrale und allegorische Züge trägt, ist die Konstruktion im Gleisbereich als Triumph der funktionalen Technik zu deuten. 35 Schon früh erscheint die Eisenbahn als mediale Herausforderung, die mit anderen Medien wie Panorama, Diorama oder Phantasmagorie verglichen werden kann, denn die Bahnfahrt erzeugt einen ganz eigenen Bildfluß. Das gilt für die Insassen wie für die Außenstehenden. Ein früher Beobachter im Jahre 1830 stellte dies fest: [...] there is an optical deception worth noticing. A spectator observing their approach, when at extreme speed, can scarcely divest himself of the idea, that they are not enlarging and increasing the size rather than moving. I know not how to explain my meaning better, than by referring to the enlargement of objects in a phantasmagoria. At first the image is barely discernible, but as it advances from the focal point, it seems to increase beyond all limit. Thus an engine, as it draws near, appears to become rapidly magnified, and as if it would fill up the entire space between the banks, and absorb everything within its vortex. (Rev. Edward Stanley, 1830)36

Ähnliche Effekte vermittelt J.M.W. Tumers berühmtes Bild Rain, Steam and Speed - The Great Western Railway von 1844. Die Eisenbahn ist zugleich die erste Zeitmaschine. 1830 schrieb Adelbert von Chamisso das Gedicht „Das Dampfroß" und erkannte in dem neuen Verkehrsmittel eben auch eines, das das Zeitgefühl verändert. Bei ihm sitzt ein Ritter auf solch einem Dampfroß, das so schnell ist, daß er sich selbst überholt. Er besucht die Mutter in der Stunde seiner Geburt, ist auf der Hochzeit des Großvaters anwesend und sieht Napoleon auf St. Helena zu. Schließlich heißt es: Ich habe der Zeit ihr Geheimnis geraubt, Von Gestern zu Gestern zurück sie geschraubt. Und schraube zurück sie von Tag zu Tag, Bis einst ich zu Adam gelangen mag.37

VII. Wie Chamissos Text zeigt, wird aus der Bewegungsmaschine ein Medium, das Bilder und Zeiten vermittelt. Das entspricht dem Charakter auch späterer Zeit54

35 36 37

Vgl. C. Blaise, Die Zähmung der Zeit. Sir Sandford Fleming und die Erfindung der Weltzeit. Frankfurt/M. 2001. Vgl. J. Dethiers, Le temps des gares. Paris 1978. S. 14-15. F. Klingender, Art and the Industrial Revolution. St.Albans 1972. S. 129. A. von Chamisso, „Das Dampfroß". In: Chamisso, Sämtliche Werke in zwei Bänden. Bd. I. München 1982. S. 75-76.

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maschinen, die entweder gleich als Filmprojektoren fungieren oder die die visuellen Medien herausfordern. Jakub Arbes' Zeitmaschine in „Newtons Gehirn" hat eine kameraähnliche Apparatur, ein Dreieck, mit dem die Vergangenheit sichtbar gemacht werden kann. Wells' Text The Time Machine rief noch vor der Erfindung des Kinos ein filmähnliches Projekt auf den Plan, als der kinematographische Pionier Robert Paul 1895 folgendes vorschlug: [a] novel form of exhibition whereby the spectators have presented to their view scenes which are supposed to occur in the future or past, while they are given the sensation of voyaging upon a machine through time.38

Viele Passagen im Text selbst deuten auf Filmqualitäten, wie der schon erwähnte Zeitraffereffekt. Aber es ist die Anlage von Zeitmaschinen selbst, Zeitverläufe zu manipulieren, die sicherlich ein Grund dafür ist, daß diese imaginäre Apparatur gleichzeitig mit dem realen Filmprojektor entsteht. Wenn die Zeitmaschine aber ein Medium ist, dann wäre sie im Sinne McLuhans als Veräußerung neuronaler Prozesse auch Teil einer umfassenden Vernetzung, nicht nur Teil, sondern Avantgarde in einem sich beschleunigenden Prozeß der Neuronalisierung von Welt. Deshalb vereinen sich in diesem Apparat sowohl die Kräfte der Beschleunigung wie die der Narkotika und der Halluzination. Die Räder, die im Filmprojektor wie in der Zeitmaschine sich bewegen, verweisen noch auf einen weiteren technologischen Keim, der sich in ihnen verbirgt - das Fahrrad. Es ist nicht ganz ausgeschlossen, in Wells' Zeitmaschine eine Hypostase des Fahrrads zu sehen; die Beschreibung von Lenker und Sattel deuten darauf hin. Es ist dabei nicht zu vergessen, daß das Fahrrad selbst in seinen ersten Jahren als Massentransportmittel - also in den 1890er Jahren - eine Spur des Dämonischen und Rauschhaften besaß. H.G. Wells' Fahrradroman The Wheels of Chance (1896) deutet diese Möglichkeiten ebenso an wie Maurice Leblancs ekstatische Hymne auf das Fahrrad in seinem Roman Voici des ailes! (1898). Hier ist das Rad zur Droge geworden: „C'est la nouvelle amie que le destin vient d'accorder ä l'homme. [...] Elle est plus forte que la tristesse, plus forte que l'ennui. [...] C'est la grande delivreuse." 39 Wenn Bewegungs- und Übertragungsmedien beide einen stark neuronalen Charakter haben, indem sie das Nervensystem nicht nur beeinflussen, sondern auch prothetisch verlängern und dadurch Rückkopplungseffekte hervorrufen, so stellt sich die Frage nach der Tendenz dieser Entwicklung. Immer schon war das Gehirn zu Zeitreisen fähig, und zwar mit dem Vehikel von Sprachen, die Futur und Imperfekt, Konditional und Konjunktiv benutzen, um in virtuelle und mögliche Welten vorzustoßen. Vielleicht ließe sich daraus schließen, daß die Zeitreise, wie sie seit Wells in die Literatur und den Film kam, die Welt zum Gehirn macht. Die Zeitreise manipuliert nicht nur die Zeit, sondern sie gibt der

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3

'

Zitiert in I. Christie, The Last Machine. Early Cinema and the Birth of the Modern World. London 1994. S. 28. M. Leblanc, Voici des ailes! Paris 1898. S. 203.

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Welt einen neuronalen Charakter. Im gleichen Zug wird das Gehirn immer mehr zur Wirklichkeit, indem es sich in Apparaten und Medien veräußerlicht. Die Welt, das sagt das Aufkommen der Zeitmaschine, wird zusehends zu einem virtuellen Schauplatz von Ereignissen, besser: zu einem Medienereignis. Bei Wells wie bei Jünger deuteten darauf nicht zuletzt die bequemen Sessel.

Klaus

Benesch

The Dynamic Sublime: Geschwindigkeit und Ästhetik in der amerikanischen Moderne

La belezza della velocitä Im Jahr 1903 schrieb ein anonymer Kommentator in der englischen Tageszeitung The Daily Telegraph: „Our centuries-old instincts are shaken by seeing that everything on the road is faster than the horse, but as soon as our senses are educated, we'll recognize the fact that speed in itself is not dangerous; rather the inability to stop is what's dangerous."1 Ästhetikgeschichtlich ließe sich ein großer Teil der Literatur der Moderne als eine ebensolche ,Education du sens de la vitesse" lesen, eine in alle gesellschaftlichen Milieus hineinreichende Ausbildung in der Erfahrung und Wertschätzung von Geschwindigkeit.2 Schon 1902 war in Frankreich Alfred Jarrys utopischer Roman Le surmäle (1902) erschienen, der in Form eines Wettkampfes zwischen fünf Radsportlem und einer Lokomotive die fortschreitende Mechanisierung und damit verbunden die Angst vor der Selbstentfremdung des modernen Menschen parodistisch überhöht und sie zugleich auf interessante Weise mit der Welt des Eros in Verbindung bringt. Zwar gelingt es Marceuil, dem begeisterten Radfahrer und titelgebenden Protagonisten des Romans, die Maschine in einem letzten Akt physischer Selbstkasteiung durch schiere Muskelkraft zu besiegen, doch auch er ist längst zum modernen Hypermotoriker mutiert, dem selbst der Liebesakt zur ästhetischen Inszenierung unablässiger Bewegung gerät. Während Shakespeares Romeo in seinem Drängen nach Trieberfüllung noch von einem besonnenen Franziskaner an die Tugend der Langsamkeit erinnert wird („wisely and slow: they stumble that run fast", Act II, Scene iii), hat der Liebesakt für Jarrys „Supermann" längst die Qualität unkontrollierter und unkontrollierbarer „Fallsucht" angenommen: „C'est cette passiviti de pierre qui tombe, que l'homme et la femme appellent l'amour."3 Reduziert auf das physische Verlangen nach Vereinigung wird die 1

2

3

N. Ventura, „Speed as Design Theme", „Unconventional Transport", In: Rassegna: Themes in Architecture, 39, 1989, 3. S. 34-44, hier S. 34. Eine solche Ästhetik der Geschwindigkeit stünde in Analogie zu dem von Paul Virilio entwickelten Begriff der „Dromologie", also der Lehre von der Geschwindigkeit, mit deren Hilfe, so Virilio, sich soziale Erscheinungsformen und Wahrnehmungsveränderungen innerhalb moderner Gesellschaften beschreiben lassen: „Geschwindigkeit ist selbst eigentlich keine Erscheinung, sondern eine Relation zwischen Erscheinungen (sie ist Relativität Uberhaupt); insofern können wir mit ihrer Hilfe uns nicht nur leichter fortbewegen, sondern auch etwas sehen und uns erfassen". Vgl. P. Virilio, Revolutionen der Geschwindigkeit. Berlin 1993. S. 53. A. Jarry, Le surmale: roman moderne. 1902. Paris 1977. S. 96.

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Liebe bei Jarry zu einem veloziferischen Wettrennen der Hormone, das allein von der mathematischen Frage bestimmt wird, „ä quel point de [...] la serie indöfinie des nombres le sexe masculin place l'infini".4 Marceuils Versuch, durch eine dynamisch-quantifizierende Sexualpraxis den entgrenzten, unendlichen Raum mathematischer Spekulation sinnlich erfahrbar zu machen, knüpft dabei offensichtlich an Kants einflussreiche Überlegungen zur Ästhetik des Erhabenen an und erweitert diese gleichzeitig um die Kategorie der Geschwindigkeit. In seiner Kritik der Urteilskraft (1790) hat Kant die Kategorie des „Schönen" von der des „Erhabenen" bekanntlich dadurch unterschieden, dass er ersteres dem Bereich der Empfindung („schön ist, was ohne Begriff als Gegenstand eines notwendigen Wohlgefallens erkannt wird"),5 letzteres aber dem Bereich der Vernunft bzw. des Verstands zuordnet („erhaben ist, was auch nur denken zu können ein Vermögen des Gemüts beweiset, das jeden Maßstab der Sinne übertrifft"). 6 Anders ausgedrückt, das Erhabene tritt immer dort in Erscheinung, wo die Anschauung der Natur in uns die Idee des Unendlichen hervorruft, einer Größe also, die schlechthin und nicht bloß komparativ groß ist und die sich, wenn überhaupt, nur rational - nämlich mit Hilfe der Mathematik - erfassen lässt. Kant nennt deshalb diesen Aspekt des Erhabenen auch das „Mathematisch-Erhabene". Dieser rationalen Annäherung an das Phänomen des Erhabenen stellt Kant dann in einem weiteren Schritt das sogenannte „Dynamisch-Erhabene" an die Seite. Während Erhabenheit zunächst durch den Eindruck der Unangemessenheit unserer Einbildungskraft angesichts der Größe und Ausdehnung natürlicher Erscheinungen definiert schien, kommt nunmehr noch ein weiteres und in unserem Zusammenhang entscheidendes Moment hinzu: die Furcht oder schaudernde Erregung, die durch Naturereignisse hervorgerufen wird, deren physische Auswirkungen auf den Betrachter zwar verheerend wären, vor denen er sich aber geschützt weiß, wenn er sie aus sicherer Distanz beobacht. Da es unmöglich ist, so Kant, „an einem Schrecken, der ernstlich gemeint wäre Wohlgefallen zu finden",7 müssen wir uns in Sicherheit befinden, um das tosende Meer, die zerstörende Gewalt eines Vulkans oder die mit unvorstellbarer Geschwindigkeit dahinrasenden Luftmassen eines Wirbelsturms als „erhaben" zu erleben. Das Dynamisch-Erhabene entsteht folglich aus der Spannung von potentieller Bedrohung und vermeintlicher Sicherheit, dem Schrecken der gedachten Auswirkungen einer verheerenden Naturgewalt einerseits und dem trügerischen Gefühl der Überlegenheit, das aus der Position des NichtBetroffenseins resultiert, andererseits. Für Kant wird die Erfahrung des „Erhabenen" damit zu einer Kulturleistung, die den zivilisierten Menschen vom „Wilden" (der sich der Furcht vor den natürlichen Erscheinungen gänzlich hingibt) unterscheidet und ihm erlaubt, sich aufgrund seiner ästhetischen Reflexion aus der Ohnmacht gegenüber den Gesetzen der Natur zu befreien.

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Jarry 1977, S. I. Kant, Kritik Kant 1974, S. Kant 1974, S.

15. der Urteilskraft. Hg. von W. Weischedel. Frankfurt/M. 1974. S. 160. 172. 185.

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Dass es sich bei der modernen Sehnsucht, den Beschränkungen von Raum, Zeit und Körper durch fortschreitende Akzeleration zu entkommen, tatsächlich um einen Paradigmenwechsel handelt, um eine neue Art des Sehens, Fühlens und Denkens, das die Kantische Vorstellung des „Dynamisch-Erhabenen" von der Natur in den Bereich der Technik überführt, zeigt sich u.a. in Marinettis futuristischem Manifest von 1909. „Noi affirmiamo", heißt es dort apodiktisch, „che la magnificenza del mondo si έ arrichita di un bellezza nuova: la belezza della velocitä" [„Wir erklären, daß sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit"]. 8 Induziert ist dieser Paradigmenwechsel durch die technische Revolution im Bereich der Fortbewegungsmaschinen und hier vor allem der Eisenbahn und später dem Automobil und dem Aeroplan. 9 Alle drei haben unsere Wahrnehmung und unser Verhältnis zu Geschwindigkeit nachhaltig verändert. „In the past human life was lived in the bullock cart", diagnostiziert 1925 der Philosoph und Naturwissenschaftler Alfred North Whitehead, „in the future it will be lived in an aeroplane; and the change of speed amounts to a difference in quality". 10 Diese Bestandsaufnahme gesellschaftlicher Beschleunigung und ihrer Auswirkungen auf das Lebensgefühl des modernen Menschen bestätigt jedoch im Grunde nur eine Vermutung des transzendentalistischen Dichters Ralph Waldo Emerson, der sich schon beim Anblick der ersten dampfgetriebenen Lokomotiven gefragt hatte, „What new thoughts are suggested by seeing a face of country quite familiar in the rapid movement of the railroad car".11 Die Möglichkeit der Fortbewegung, die analog zur Freudschen Paradoxic des „fort/da" immer auch die Verheißung der Heimkehr, des Zu-Sich-Kommens implizierte, versprach von Beginn an beides: Transzendenz und Authentizität. 12 Dass sie damit fast idealtypisch zwei wesentliche Forderungen der Romantik erfüllte, nämlich zum einen die Flucht aus der sinnentleerten, materialistischen

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F.T. Marinetti, Teoria e Invenzione Futurista. Rom 1968. S. 10. Für den Begriff des „Dynamisch-Erhabenen" und seine technische Neudeterminierung im Kontext modemer Massentransportmittel siehe D. Nye, American Technological Sublime. Cambridge, MA 1994. S. 45-76. A. North Whitehead, Science and the Modern World. Cambridge, MA 1926. S. 137. R.W. Emerson, „Nature". In: The Collected Works of Ralph Waldo Emerson. Vol. 1. Hg. von R. Spiller und A.R. Ferguson. Cambridge, MA 1971. S. 3-45, hier S. 30. In .Jenseits des Lustprinzips" berichtet Freud von einem Spiel seines Enkels, das dieser bei Abwesenheit der Mutter ritualistisch wiederholte: das Kind ließ zunächst einen Gegenstand verschwinden, um ihn wenig später mit den Worten fort und da wieder hervorzuholen. Für Freud handelt es sich hier um eine Inszenierung, die stellvertretend den temporären Verlust einer Bezugsperson nachahmt und diesen durch .Aufhebung" in der Sprache zu neutralisieren versucht. Dabei lässt er offen, ob wir das Verhalten des Enkels als symbolische Kampfansage an die Mutter (etwa: geh nur fort, ich brauch dich nicht) zu lesen haben oder als einen „von ihm zustande gebrachtefn] Triebverzicht, [nämlich] das Fortgehen der Mutter ohne Sträuben zu gestatten". Vgl. S. Freud, .Jenseits des Lustprinzips". In: Freud, Psychologie des Unbewußten. Studienausgabe. Bd. HL Frankfurt/M. 1975. S. 213-72. S. 225. Die Paradoxie ergibt sich demnach aus der zweifachen Funktion des Spiels als 1. der rituellen Artikulation des erlittenen Verlusts und 2. als Ausdruck der vermeintlichen Kontrolle Uber An- und Abwesenheit des vermissten Gegenstands bzw. der Person selbst.

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Alltagswelt und zum anderen die Suche nach einer neuen Eigentlichkeit, nach dem Wesen des Ich, soll meinen weiteren Ausführungen als Ausgangspunkt und Leitmotiv dienen. Die ästhetische Auseinandersetzung der Moderne mit dem Phänomen der Geschwindigkeit beginnt de facto in der Romantik, d.h. in der Reaktion auf die Inbetriebnahme der ersten Eisenbahnen in den dreißiger Jahren des vorletzten Jahrhunderts, und sie ist im Grunde bis heute, so mein Argument, entscheidend von der romantischen Sehnsucht nach Transzendenz und Authentizität bestimmt. Dies gilt insbesondere für die USA, wo Mobilität und Geschwindigkeit aufgrund der geographischen Gegebenheiten naturgemäß höher bewertet wurden als in Europa. Um meine These zu untermauern, werde ich mich im folgenden auf drei formal und zeitlich weit auseinander liegende Texte beziehen, die mir besonders geeignet erscheinen, die nationalen Idiosynkrasien und historischen Konstanten einer spezifisch amerikanischen Ästhetisierung von Geschwindigkeit nachzuzeichnen. Es handelt sich dabei zunächst um den meistgelesenen programmatischen Text der amerikanischen Romantik, Henry David Thoreaus Waiden or, Life in the Woods (1854); danach werde ich mich dem Eröffnungsband einer in den USA bis in die 1990iger Jahre hinein populären Jugendbuchserie, Victor Appletons Tom Swift and His Motor-Cycle (1910), zuwenden. Tom Swift, dessen Name - auf Deutsch etwa: schnell, rasch, geschickt - programmatisch ist und die Reihe von Beginn an als strukturierendes, handlungsleitendes Motiv begleitet, ist gewissermaßen die personifizierte Utopie einer republikanisch-amerikanischen „Erziehung" zum sozialverträglichen Umgang mit Technologie und Geschwindigkeit. Abschließen möchte ich meine Überlegungen mit einem Verweis auf Tom Wolfes kulturanthropologischen Essay „The Last American Hero" (1965), ein neoromantisches Hohelied und zugleich Abgesang auf die im amerikanischen Süden weitverbreitete Form des sogenannten stock car racing.

Steam and Speed 13 Während in Europa Geschwindigkeit lange Zeit ein Privileg von Reichen, Künstlern und Bohemiens war, wurde „speed" auf der anderen Seite des Atlantik von Beginn an dem uramerikanischen Ideal des Utilitarismus (American system, Taylorism, efficiency movement etc.) subsumiert und zum konstituierenden Bestandteil eines auf Mobilität fixierten Nationalbewusstseins {westward movement, frontier, great migration, mobile homes etc.) ausgelobt. Einer der Protagonisten des sogenannten „Gilded Age" (1865-1900), der Industrielle und politische Kommentator Andrew Carnegie, entdeckte im rasanten 13

„Rain, Steam and Speed" ist der Titel eines berühmten Eisenbahn-Gemäldes von J.W.M. Turner (1844); in Turners proto-impressionistischer Darstellung einer heranrasenden Lokomotive aus der Perspektive des ruhenden Beobachters gerät die „Erhabenheit" scheinbar entgrenzter technischer Beschleunigung zum dominanten Merkmal des dampfgetriebenen Massenverkehrs.

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Wachstum der jungen Nation gar das entscheidende Differenzkriterium zwischen Alter und Neuer Welt: The old nations of the earth creep on at a snail's pace; the Republic thunders past with the rush of the express. The United States, the growth of a single century, has already reached the foremost rank among nations, and is destined soon to outdistance all others in the race. 14

Nachdem Amerika sich in nur einem Jahrhundert von einer agrarisch geprägten ehemaligen Kolonie zum führenden Industriestaat der westlichen Welt entwikkelt hatte, wurde die Geschwindigkeit des historischen Prozesses zum phänotypischen Merkmal der Nation insgesamt. So schrieb der Soziologe Edgar Mowrer in This American World (1928), einer frühen Mentalitätsgeschichte Amerikas, „a European in the United States is inevitably struck by the speed, the hurry, the restlessness of it all".15 Damit freilich hat er lediglich einen Topos zugespitzt, der bereits 1782 dem ersten europäischen Chronisten der amerikanischen Volksseele, Hector St. John De Crevecceur als dominantes Merkmal dieses „neuen" Menschentyps aufgefallen war. Crövecoeur beschrieb die Amerikaner als rastlose Nomaden der Neuzeit, denen es aufgetragen war, die große Kulturmission des Abendlandes zu ihrer Erfüllung zu führen: „Americans are the western pilgrims, who are carrying along with them that great mass of arts, sciences, vigour, and industry which began long since in the east".16 Unterstützt wurden sie dabei schon bald durch die Einführung eines neuen Verkehrsmittels, der dampfgetriebenen Eisenbahn, deren Rolle bei der Exploration, Besiedelung und Unterwerfung des noch unerschlossenen Kontinents nach Ansicht der meisten Historiker nicht hoch genug angesetzt werden kann.17 Sie war, wie es der große amerikanische Nationaldichter Walt Whitman auf den Punkt brachte, „[the] pulse of the continent". „Fierce-throated beauty!", „type of the modem - emblem of motion and power", dichtete er 1881 in technophiler Verzückung, Roll through my chant with all thy lawless music, thy swinging lamps at night. Thy madly-whistled laughter, echoing, rumbling like an earthquake, rousing all, Law of thyself complete, thine own track firmly holding, (No sweetness debonair of tearful harp or glib piano thine,)

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A. Carnegie, Problems of Today: Wealth, Labor, Socialism. 1908. Garden City 1933. S. 43. E. Mowrer, This American World. New York 1928. S. 168-169. H. St. John De Crdvecoeur, Letters From an American Farmer. London 1782. S. 43. Vgl. L. Marx, The Pilot and the Passenger: Essays on Literature, Technology, and Culture. New York 1988; Nye 1994; R. White, „It's Your Misfortune and None of My Own": A History of the American West. Norman 1991; und H.P. Segal, Technology in America: A Brief History. San Diego, New York 1989. Dass die Erfindung der Eisenbahn darüber hinaus auch neue soziale Formen und moderne betriebliche Organisationsstrukturen nach sich zog, ist die zentrale These in A.A. Chandler, The Visible Hand: The Managerial Revolution in American Business. Cambridge, MA 1977.

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Thy trills of shrieks by rocks and hills retum'd, Launch'd o'er the prairies wide, across the lakes, To the free skies unpent and glad and strong."

Während Whitmans Eloge „To a Locomotive in Winter" die nationale Identifikation der Amerikaner mit dieser neuen Form der Fortbewegung gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch einmal in mächtigen freien Versen beschwor, war Henry David Thoreau in seinem autobiographisch-philosophischen Essay Waiden zunächst zu einem ganz anderen Urteil gekommen. Für den Neosokratiker Thoreau, der sich von 1845 bis 1847 an das Ufer eines kleinen Sees bei Concord in Massachusetts zurückgezogen hatte, war die Eisenbahn lediglich ein Beispiel jener hypertrophierenden Erfindungen der Zeit, die die Menschen von ihrer eigentlichen Bestimmung, der Suche nach Wahrheit und Erkenntnis, abhielten: Our inventions are wont to be pretty toys, which distract our attention from serious things. They are but improved means to an unimproved end, an end which it was already but too easy to arrive at; as railroads lead to Boston or New York. We are in great haste to construct a magnetic telegraph from Maine to Texas; but Maine and Texas, it may be, have nothing important to communicate."

Thoreaus Kulturkritik ist dabei keineswegs rein technikzentriert; ihm geht es vielmehr um eine Philosophie der „Langsamkeit", um ein Innehalten im unaufhaltsamen Strom zielloser Bewegung, die Rückorientierung, um eine Formulierung Heideggers zu gebrauchen, auf den „Weg zum" und nicht das „weg vom" Sein.20 „I have learned", heißt es an einer anderen Stelle in Waiden, „that the swiftest traveller is he that goes afoot" (40). Und weiter: „Why should we live with such hurry and waste of life? We are determined to be starved before we are hungry. [...] Our lives [are lived] too fast. [...] if we stay at home, who will want railroads? We do not ride on the railroad; it rides upon us" (67). Thoreaus Zweifel am Segen technischer Beschleunigung basieren dabei zum einen auf dem Verdacht, die moderne Zeit könnte das Mittel der Fortbewegung zu deren eigentlichem Ziel erklärt haben: wird die Erde erst einmal von einem dichtgespannten Netz an Eisenbahnentrassen durchpflügt sein, dann wird auch 18

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W. Whitman, „To a Locomotive in Winter". In: Whitman, Leaves of Grass. Hg. von S. Bradley und H.W. Blodgett. New York 1973. S. 472. H.D. Thoreau, Waiden. In: The Writings of Henry David Thoreau. Hg. von. J. Lyndon Shanley. Princeton 1971. S. 40; im Folgenden nach dieser Ausgabe zitiert. In dem 1955 an der Bayerischen Akademie der Schönen Künste gehaltenen Vortrag „Die Frage nach der Technik" entwirft Heidegger ein Bild der Technik als etwas, das uns solange den Blick für das Eigentliche verstellt, solange wir „nur das Technische vorstellen und betreiben [...], denn diese Vorstellung macht uns blind gegen das Wesen der Technik". Das Wesen der Technik ist nämlich, so folgert Heidegger, „ganz und gar nichts Technisches" (5). Wenn wir jedoch das Wesen der Technik bedenken, dann müssen wir erkennen, das „die Bedrohung des Menschen nicht erst von den möglicherweise tödlich wirkenden Maschinen und Apparaturen [kommt]. Die eigentliche Bedrohung hat den Menschen bereits in seinem Wesen angegangen" (28). Vgl. M. Heidegger, Die Technik und die Kehre. Pfullingen 1962.

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der moderne Mensch sich in der Fiktion bestärkt sehen „[that] all will at length ride somewhere", dass mit der Verschiebung von der Achse der Zeit auf die Achse des Raums, wie man den Zustand permanenter Bewegung auch beschreiben könnte, die Überwindung der biologischen Konditionierung menschlicher Existenz einhergeht. Zum anderen argumentiert Thoreau mit dem heute wieder aktuellen Prinzip der Nachhaltigkeit, einer ungeschönten Kosten-NutzenRechnung, insbesondere mit Blick auf die Zeit und die Strapazen, die nötig sind, um den erforderlichen Fahrpreis aufzubringen: To make a railroad round the world available to all mankind is equivalent to grading the whole surface of the planet. Men have an indistinct notion that if they keep up this activity of joint stocks and spades long enough all will at length ride somewhere, in next to no time, and for nothing; but though a crowd rushes to the depot, and the conductor shouts „All aboard!" when the smoke is blown away and the vapor condensed, it will be perceived that a few are riding, but the rest are run over [...]. No doubt they can ride at last who shall have earned their fare, that is, if they survive so long, but they will probably have lost their elasticity and desire to travel by that time [...]. And so, if the railroad reached round the world, I think that I should keep ahead of you. (41)

Und doch, trotz aller Kritik an der infektiösen, sich von der Maschine auf die von ihr transportierten Menschen Ubertragenden allgemeinen Beschleunigung „Do they not talk and think faster in the depot than they did in the stage-office? [...] To do things .railroad fashion' is now the byword" (83) - erscheint Thoreau am Ende besänftigt vom kurativen, romantischen Potential der neuen Technologie. Mit lautem Getöse zwar, doch regelmäßig und zuverlässig bringt die Eisenbahn die verbildeten, vom Merkantilismus korrumpierten Städter aus Boston und Umgebung in die ausgedehnten Wälder von Massachusetts und schafft damit ein Gegenwicht zur Uneigentlichkeit der modernen Zivilisation.21 Obwohl der Kontakt mit der heilenden Natur notwendig ephemer bleibt („the cars never pause to look at it"), am Ende triumphiert doch die läuternde Kraft wiederholter „Anschauung": „Yet I fancy that the engineers and brakemen, and those passengers who have a season ticket and see it often, are better men for the sight" (133). Thoreau weiß sich mit dieser Einschätzung durchaus im Einklang mit vielen seiner Landsleute, die nach der strapaziösen Reise mit dem neuen Verkehrsmittel fast einhellig die Erhabenheit des Blicks aus dem Fenster eines fahrenden Zuges auf die vorbeiziehende Landschaft unterstrichen. Bereits bei einer Geschwindigkeit von 24 Meilen pro Stunde erschienen die Begrenzungen von Raum und Zeit aufgehoben. „Railroad travel", konstatiert der Historiker David Nye mit Blick auf die veränderten Sehgewohnheiten der „railroad generation",

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Zum Verhältnis von Landschaft und Technologie in Amerika siehe L. Marx, The Machine in the Garden: Technology and the Pastoral Ideal in America. London, New York 1964; C. Tichi, New World, New Earth: Environmental Reform in American Literature from the Puritans through Whitman. New Haven 1979 und L. Buell, The Environmental Imagination: Thoreau, Nature Writing and the Formation of American Culture. Cambridge, MA 1995.

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literally changed the way that people saw the landscape. [...] The railway journey erased the foreground and the local disappeared from the traveler's experience, while only a few scenes appeared worthy of notice. [...] This editing of the landscape, framed by the windows of railway cars, transformed the journey into the opportunity to see a limited number of sites. [...] The traveler was isolated from the passing scene, viewing it through plate glass, and could easily fall into a reverie, feeling that the train was stationary while the landscape rushed by.22

Kein Wunder, daß Emerson begeistert auf das kreative, mythenschaffende Potential der Eisenbahn verwies: „Railroad iron is a magician's rod, in its power to evoke sleeping energies of land and water".23 Für den transzendentalistischen Romantiker aus Concord, Massachusetts, war die Eisenbahn Teil einer göttlichen Ordnung, deren Schönheit sich im erhabenen Moment größtmöglicher Beschleunigung ebenso offenbarte wie in der Natur selbst: Readers of poetry see the factory village and the railway, and fancy that the poetry of the landscape is broken up by these; [...] but the poet sees them fall within the great Order not less than the beehive or the spider's geometrical web. Nature adopts them very fast into her vital circles, and the gliding train of cars she loves like her own.24

Leaping down Niagara rapids Während sich die Anfänge des maschinengetriebenen Massentransports durchaus mit der romantischen Agenda von Gesellschaftsverweigerung und Authentizitätsdiskurs vereinbaren ließen - „machinery and transcendentalism agree well", notierte Emerson 1843 in sein Tagebuch25 - erscheinen die sich polypenartig ausbreitenden Eisenbahnen gegen Ende des Jahrhunderts immer deutlicher als Emblem und Motor einer rein profitorientierten, kapitalistischen Warengesellschaft. In Frank Norris' naturalistischem Roman The Octopus (1901) gerät die Eisenbahn schließlich zum eigentlichen Leviathan der modernen Zeit, zum unbelebten, seelenlosen Monster, das sich krakenartig über die Weite der amerikanischen Landschaft ausbreitet und dem einstmals exterritorialen Raum der Frontier ein geometrisches Raster aus Gleisen und Servicestationen aufzwingt. Bleiern legt sie sich auf die Einbildungskraft des Dichters, der sich vorgenommen hatte, das große Epos vom modernen Amerika zu schreiben, angesichts des Ausmaßes der Zerstörung aber endgültig zum Verstummen ge22

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D. Nye, Narratives and Spaces: Technology and the Construction of American Culture. Exeter 1997. S. 15. R.W. Emerson, „The Young American". In: The Collected Works of Ralph Waldo Emerson. Vol. I. Hg. Von R.E. Spillerund A.R. Ferguson. Cambridge, MA 1971. S. 222-244. S. 226. R.W. Emerson, „The Poet". In: The Collected Works of Ralph Waldo Emerson. Vol. III. Hg. von J. Slater. Cambridge, MA 1983. S. 1-24. S. 11. R.W. Emerson, The Journals and Miscellaneous Notebooks of Ralph Waldo Emerson. Vol. VIII. Hg. von W.H. Gilman und J.E. Parson. Cambridge, MA 1970. S. 397.

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bracht wird. Als die Maschine auf ihrem Weg in den Westen unaufhaltsam in eine streunende Schafsherde rast, wendet er sich hilflos und angewidert ab: It was a slaughter, a massacre of innocents. The iron monster had charged full into the midst, merciless, inexorable. To the right and left [...] the little bodies had been flung; backs were snapped against the fence posts; brains knocked out. Caught in the barbs of the wire, wedged in, the bodies hung suspended. [...] The hideous ruin in the engine's path drove all thought of his poem from his mind. The inspiration vanished like a mist. The de Profundis had ceased to ring. He hurried on across the Los Muertos ranch, almost running, even putting his hands over his ears till he was out of hearing distance of that all but human distress.26

Verkörpert die Eisenbahn damit gleichermaßen die Hoffnung und Nemesis der romantischen Sehnsucht nach Transzendenz, so verspricht die sie ablösende neue Technologie des Automobils deren endgültige Erfüllung. Im Gegensatz zum Zugverkehr ist das Automobil von Beginn an ein Mittel des Individualtransports, das primär der Fortbewegung des Fahrers und eines kleinen, ausgesuchten Kreises von Passagieren dient. Richtungsänderung und Geschwindigkeit werden, anders als im Fall der Massenverkehrsmittel, direkt vom Automobilisten kontrolliert. Ein Automobil ist im wesentlichen eine zur Beschleunigung taugliche Fahrgastzelle, deren äußere und innere Gestaltung dem Fahrer bzw. Besitzer anheim gestellt sind. Als Maschine, in der Privatheit und Fortbewegung konzeptionell aneinander gebunden sind, in der jede Reise immer auch eine Heimkehr in die vertraute, individualisierte Umgebung des Fahrgastraums ist, gibt das Automobil vor, die technische Inkarnation der Romantik zu sein. „The automobile from its beginnings", so der Historiker Phil Patton, „was not associated so much with a vision of some modernistic future, but with the restoration of old values - the values that the railroad and big business had destroyed, the values of the frontier and the individual".27 Neben der Möglichkeit direkter Kontrolle durch den Benutzer, eine Eigenschaft, die das Automobil in den Status einer Fortbewegungsprothese erhebt, faszinierte die neue Technologie vor allem durch das Versprechen auf Selbstbeschleunigung. Auf beiden Seiten des Atlantiks ist die Entwicklung und kommerzielle Verbreitung des Automobils untrennbar mit der Geschichte berühmter Autorennen wie dem 1895 erstmals ausgetragenen Paris-Bordeaux-Paris Rennen, dem Chicago Times-Herald Race (ebenfalls 1895), dem New York-Buffalo Endurance Run, das 1901 vom ersten amerikanischen Automobilklub („Automobile Club of America") ausgetragen und von den Olds Motor Works in Detroit gesponsert wurde, oder dem Eröffnungsrennen des bis heute anspruchvollsten Parcours, der 22,7 km langen Nordschleife des NUrburgrings, die bereits 1907 geplant worden war, wegen des 1. Weltkriegs jedoch erst 1925 in Betrieb genommen werden konnte. Wie dem Namen vieler dieser Rennen abzulesen war („endurance run", „reliability tours" etc.), ging es den Herstellern und 26 27

F. Norris, The Octopus: Α Story of California. New York 1901. S. 50. P. Patton, The Open Road. A Celebration of the American Highway. New York 1986. S. 41.

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Sponsoren dabei zunächst noch um den Nachweis, dass es sich bei der neuen Technologie nicht nur um ein schnelles, sondern auch um ein zuverlässiges Verkehrsmittel handeln würde.28 Trotz anfänglicher Rückschläge bei der Entwicklung geeigneter Motoren wurde das Automobil schon bald zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor des modernen Amerika. Anders als in Europa, wo dem motorisierten Individualverkehr bis in die fünfziger Jahre der Nimbus von Sozialprestige und Exklusivität anhaftete, war Autofahren in den USA bereits um 1920 zu einer Massenbewegung geworden. Während 1910 immerhin schon 500.000 Fahrzeuge zugelassen worden waren, stieg diese Zahl bis 1920 auf 10 Millionen, bis 1930 auf 26 Millionen und 1940 auf insgesamt 32 Millionen an.29 Nur wenige Jahrzehnte nach seiner Erfindung in Deutschland und Frankreich hat Amerika das Automobil als „demokratische" Maschine des individualisierten Massentransports adoptiert, eine Maschine, die Mobilität und Geschwindigkeit verhieß und sich damit fast zwangsläufig als Ikone einer geographisch diversifizierten und an technischem Fortschritt orientierten modernen Massengesellschaft aufdrängte. Als der amerikanische Designer Norman Bei Geddes 1932 in einem Buch mit dem bezeichnenden Titel Horizons bemerkte, „speed is the cry of our era",30 war „Geschwindigkeit" schon lange zum alles beherrschenden Schlagwort der amerikanischen Alltagssprache geworden.31 Neue Technologien wie die Turbinentechnik und der Verbrennungsmotor haben dabei die Phantasie der geschwindigkeitsverfallenen Amerikaner derart beflügelt, dass das bloße Versprechen auf Schnelligkeit ausreichte, um so profane Artikel des täglichen Gebrauchs wie Rasierpinsel („ - 'tis the speedy brush") oder eingemachtes Obst, das angeblich „sekundenschnell" in Scheiben zerteilt worden war, an den Mann oder die Frau zu bringen.32 Auch rein äußerlich bedienten ab Mitte der zwanziger Jahre immer mehr Produkte durch eine spezielle Art des Designs, das sogenannte „streamlining", die Sehnsucht der Amerikaner, am beschleunigten Lebensrhythmus einer auf die Zukunft gerichteten, modernen Zeit teilzuhaben. Streamline-Design kam ursprünglich aus dem Flugzeugbau, wo aerodynamische Formen nicht nur die Windschlüpfrigkeit der Flugzeuge verbessern, sondern vor allem auch den Flugverkehr als eine neue und attraktive Form des Massentransports etablieren sollten.33 Streamlining war die epidermale Inkarnation von Effizienz und Geschwindigkeit. An horizontalen, den sogenannten „speed lines", ausgerichtete Formen fanden Eingang in praktisch alle Bereiche des täglichen Lebens, vom

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Vgl. J.J. Flink, The Car Culture. Cambridge, ΜΑ 1975. S. 19-21. Vgl. R.G. Wilson et al. The Machine Age in America, 1918-1941. New York 1986. S. 26. Wilson 1986, S. 57. ,Jn that era speed and the belief in cultural acceleration were proclaimed from every quarter to be, for better or worse, the defining characteristic of the United States in the twentieth-century" (Tichi 1987, S. 240). Tichi 1987, S. 237-39. Legendär sind etwa die Lockheed Sirius von 1929 oder die Douglass DC-1, 2 und 3, die zwischen 1931 und 1931 entwickelt wurden (vgl. Wilson 1986, S. 55).

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Aschenbecher über Füllfederhalter, Schreibmaschinen, und Haushaltsgeräte bis hin zum windschnittigen Porzellan, Sitzmöbeln und ganzen Industriegebäuden.34 Maßgeblich waren hier vor allem die Arbeiten des deutschen Architekten Erich Mendelsohn (1887-1953), der in Amerika bei weitem bekannter war als die Bauhaus-Repräsentanten Walter Gropius oder Mies van der Rohe. Bei Geddes, einer der Gründerväter des neuen Stils, hatte Mendelsohn bereits 1924 entdeckt und im folgenden seine maschinen- und geschwindigkeitszentrierte Gestaltungsphilosophie als ästhetisch adäquaten Ausdruck des neuen Zeitalters konsequent propagiert. Auch die intellektuelle Avantgarde, von notorisch kulturkritischen Mahnern wie T. S. Eliot einmal abgesehen, war vom Faszinosum „Geschwindigkeit" erfasst worden. In seinen viel beachteten Vorlesungen unterteilte etwa der in Harvard lehrende Philosoph George Santayana seine Landsleute in hinterwäldlerische Anhänger einer überkommenen „genteel tradition" auf der einen Seite und rastlose, der Zukunft vorauseilende Modernisten auf der anderen Seite. Letztere, so führt Santayana begeistert aus, ließen sich vom Strom der Zeit mitreißen („leaping down a sort of Niagara rapids") und ihre Vorstellung von der Welt sei die eines tosenden Kraftfelds beständiger Bewegung und Veränderung: „rapid, dramatic, vulgar".35 Obwohl die Geschwindigkeit der ersten selbstgesteuerten Fahrzeuge die Leistung dampfgetriebener Lokomotiven nur selten übertraf (in der Regel erreichten selbst die PS-stärksten Automobile nur eine Höchstgeschwindigkeit von etwa 15 Meilen pro Stunde), bedurfte ihre Beherrschung einer besonderen Ausbildung und Gewöhnung. Ein wichtiges Instrument einer derartigen - um an den Anfangspunkt meiner Ausführungen zurückzukehren - „Erziehung" zu Geschwindigkeit waren die sogenannten science fiction dime novels, deren überwiegend jugendliche Leser durch phantastische Geschichten an neueste Technologien und Erfindungen herangeführt und mit ihren Auswirkungen auf die sich rapide verändernde Alltagswelt vertraut gemacht werden sollten.36 Stilbildend waren in den USA vor allem zwei Publikationen: The Frank Reade Library, die 1892 vereinzelte dime novels und Kurzgeschichten um den jungen Erfinder Frank Reade, Jr. zu einer wöchentlich erscheinenden Reihe zusammenfasste, und die 1910 erstmals erscheinenden Tom Swift-Romane, deren Pilotband Tom Swift and His Motor-Cycle für meine Überlegungen von besonderem Interesse ist. Beide Reihen propagieren den Erfindergeist des in Amerika sprichwörtlichen „Yankee Tinkerer", des genialischen Autodidakten ä la Benjamin Franklin, dem durch Neugierde und technisches Geschick bahnbrechende 34

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Zur Geschichte und Ästhetik des Streamline Design, siehe J.L. Meikle, Twentieth Century Limited: Industrial Design in America, 1925-1939. Philadelphia 1979. Tichi 1987, S. 233. Der didaktisch-volkspädagogische Impetus war maßgeblich an der Popularität und dem Verkaufserfolg der science fiction dime novels beteiligt. Im Vorwort zu einem frühen Exemplar der Gattung, J.T. Trowbridges Lawrence's Adventures Among the Ε-Cutters, GlassMakers, Coal-Miners, Iron-Men, and Ship-Builders. Philadelphia 1870, heißt es explizit: „These .Adventures' of Lawrence were written in the faith that instruction could be made entertaining, and that the young might be educated to observe and think while following the by-paths of a story" (Preface).

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Erfindungen gelingen. Neben den zahlreichen kulturgeographischen Exkursen, die die jungen Protagonisten häufig in entlegene Gebiete des amerikanischen Kontinents führen, thematisieren Frank Reade und Tom Swift aber vor allem eins: den beschleunigten Lebensrhythmus der Moderne, die Heilsbotschaft des auf schiere Geschwindigkeit fixierten technischen Fortschritts. Vor diesem Hintergrund ist es verwunderlich, dass die populäre Figur des jugendlichen Erfinders Tom Swift von der wissenschaftlichen Kritik bislang ignoriert wurde. Denn anhand der insgesamt 95 Ausgaben, die bis zur Einstellung der Reihe 1992 erschienen sind, ließe sich nicht nur mühelos eine Technikgeschichte des 20. Jahrhunderts schreiben (Tom Swift and His MotorCycle folgten noch im gleichen Jahr Motor Boat, Airship, Submarine Boat und Electric Runabout, um nur einige der älteren Titel zu nennen); jenseits von Technophilie und Pioniergeist verkörpert Tom Swift auch die uramerikanischen Werte Utilitarismus, Antitrust und Staatsfeme, Optimismus (zumeist in Verbindung mit technischer Lösungskompetenz), Selbstbestimmung, Familienfixierung und schließlich das republikanische Ideal des „common man". Anders ausgedrückt: durch die anachronistische Beschwörung einer längst verlorenen Zeit lassen Victor Appletons Romane die Hoffnung der Gründerväter, technischer Fortschritt könne als Garant des Gemeinwohls der sozialen und politischen Ordnung der Republik dienstbar gemacht werden, wiederauferstehen.37 In Tom Swift and His Motor-Cycle manifestiert sich das republikanische Konzept der „democratic technology" sowohl in der Figurenkonstellation als auch im Wettbewerb zwischen Motorrad und Automobil, wobei ersteres als adäquates Fortbewegungsmittel des „common man" und damit als demokratische Maschine par excellence figuriert. Dies zeigt sich bereits in der Eröffnungssequenz, in der Tom vom Auto seines späteren Gegenspielers Andy Foger, dem reichen Sohn eines örtlichen Industriellen, erfasst und leicht verletzt wird. Andy ist mit ein paar Freunden unterwegs, um die Beschleunigung des Wagens zu testen, „to see", wie er selbst sagt, „what time I can make to Mansburg! I want to break a record, if I can" (2).38 Andys Fixierung auf Geschwindigkeit um der Geschwindigkeit willen, also ohne jeden erkennbaren praktischen Nutzen, wird von Tom Swift zum Anlass genommen, die Schuldfrage in einen Diskurs über die Rechtmäßigkeit und die notwendigen gesetzlichen Beschränkungen erhöhter Geschwindigkeit zu überführen. Verärgert über die Rücksichtslosigkeit des Automobilisten, pocht Tom, der zu diesem Zeitpunkt noch mit dem Fahrrad unterwegs ist, auf Gleichbehandlung aller Fortbewegungsmaschinen: „,You automobilists take too much for granted! You were going faster than the legal rate, anyhow! [...] Me getting in your way! I

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Hinter dem Pseudonym Victor Appleton verbarg sich der Erfinder und Autor Howard Gans, der für die ersten 36 Folgen der Reihe verantwortlich war. Zum Begriff „democratic technology", siehe H.A. Meier, „Thomas Jefferson and a Democratic Technology". In: Technology in America: A History of Individuals and Ideas. Hg. Von C.W. Pursell, Jr. Cambridge, MA 1990. S. 17-33. The Frank Reade Library. New York 1979. S. 2; im Folgenden nach dieser Ausgabe zitiert.

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guess I've got some rights on the road!' ,Aw, go on!' growled Andy [...], .Bicycles are a back number anyhow' ".39 Während der Gegensatz zwischen veralteten und modernen Fortbewegungstechnologien im Laufe des Romans aufgelöst wird, bleibt die sozial-romantische Metaphorisierung der Maschine als „demokratisches" Instrument bestehen. Toms Motorrad, das er nach einem weiteren Unfall günstig erworben und in Eigenarbeit instandgesetzt hat, erfüllt alle Bedingungen einer „demokratischen" Technologie. Es verspricht nicht nur Freiheit und Geschwindigkeit, sondern kann von einem Fahrer mit technischem Geschick schnell an die eigenen Bedürfnisse angepasst oder, modern gesprochen, „ge-tuned" werden. Es ist „öffentlich", da der Fahrer vom Beobachter jederzeit identifiziert werden und sich nicht, wie beim Automobil, durch Rückzug in die vermeintliche Privatheit des Wageninneren dem Blick der Öffentlichkeit entziehen kann. Und es steht im Dienste der Allgemeinheit, da es Tom mit seiner Hilfe gelingt, die betrügerischen Machenschaften eines Autofabrikanten aufzuklären, der mit allen Mitteln versucht, die Pläne für einen neuen, noch nicht patentierten Verbrennungsmotor in seinen Besitz zu bringen. Als Jugendbuch, das sich gezielt an junge, technik- und geschwindigkeitsbegeisterte Leser des beginnenden automobilen Zeitalters richtet, ist Tom Swift and His Motor-Cycle natürlich vor allem ein didaktischer Text. Insofern als er beständig auf die Faszination, aber auch die immanenten Gefahren erhöhter Geschwindigkeit verweist, erfüllt er paradigmatisch die eingangs erwähnte Forderung des Daily Telegraph nach Schulung unseres Geschwindigkeitssinns. Mehr noch, in der Figur des jungen Tüftlers und verantwortungsbewussten Sprösslings einer neuenglischen Erfinderfamilie, erfährt „Geschwindigkeit" ihre Apotheose als republikanisches Ideal: ein klares Bekenntnis zu Schnelligkeit als Teil des auf die Zukunft gerichteten Nationalbewusstseins, aber auch eine ebenso klare Absage an undisziplinierte Raserei und die rauschhafte Hingabe an schiere Beschleunigung. Trotz der beständigen Artikulation von „speed" als dominantes Merkmal der modernen amerikanischen Gesellschaft bleibt Tom Swift damit ein rückwärtsgewandter und im Grunde kulturkritisch-reaktionärer Text. Er stellt Santayanas Beschreibung der modernen Welt als Rausch („leaping down Niagara rapids"), als Ekstase eines rastlosen, beständig beschleunigten Bewusstseins, die utilitaristische Vorstellung zielgerichteten, demokratisch kontrollierten technischen Fortschritts entgegen. Dabei kommt es in keinem Fall zur Ablehnung oder Verteufelung bestimmter Technologien per se. Vielmehr inszenieren die in großen Auflagen erscheinenden Tom-Swift

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Vor dem Hintergrund der technischen Entwicklung und kommerziellen Verbreitung des Automobils erscheint der hier konstruierte Gegensatz zwischen vier- und zweiradgetriebener Fortbewegung allerdings revisionsbedürftig. Wie der Technikhistoriker James Flink ausführt, gab es ein enges Zusammenwirken von Fahrrad- und Automobilindustrie; so wäre ohne die Erfindung geeigneter Reifen durch den auf Fahrräder spezialisierten Hersteller John B. Dunlop in Irland (1888) oder den Ausbau asphaltierter Straßen, wie er von den meisten Vereinigungen der Fahrradfahrer (insbesondere der „League of American Wheelmen") gefordert wurde, nicht möglich gewesen (vgl. Flink 1975, S. 3-17).

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Romane das liberalisierende und tendenziell antikapitalistische Potential des modernen Individualverkehrs und bereiten damit den Weg für die neoromantische Mythologisierung des Automobils in der Nachkriegszeit.

Wheels on Fire Obwohl sich auch heute noch Automobile, und hier ganz besonders die vierradgetriebene Off-Road Variante, mit dem Versprechen auf Freiheit und Individualität gut verkaufen lassen, war ihre Aura als Selbstfindungs- und Fluchtwerkzeug zivilisationsmüder Amerikaner im Jahr 1965, als Tom Wolfe den dokumentarischen Essay „The Last American Hero" publizierte, bereits wieder am verblassen. Zwar werden in der Nachfolge von Marlon Brando, James Dean und Peter Fonda noch bis in die achtziger Jahre hinein, und vereinzelt auch darüber hinaus, sogenannte Road Movies produziert, doch die modernen Helden der Straße, wie sie Wolfe in dem legendären Stock Car Champion Junior Johnson personifiziert sah, erscheinen zunehmend von Detroit und dem Geld der großen Autokonzeme korrumpiert. Mehr noch, im Zuge der Konsumverweigerung und Entsagungsrebellion der Beatnik- und Hippie-Bewegungen war die von „supersizing" und Materialverschwendung gekennzeichnete Autokultur der fünfziger Jahre („tailfins", überdimensionierte, benzinfressende Motoren etc.) zunehmend in Verruf geraten. Soziologische Studien wie Vance Packards berüchtigte Abrechnung mit der Werbeindustrie, The Hidden Persuaders (1957), oder das gegenkulturelle Evangelium der „Sparkäfer"-Generation The Waste Makers (1960), taten ihr Übriges, um den automobile Gigantismus der Nachkriegsjahre als gefährlichen Irrweg erscheinen zu lassen.40 Nicht ohne Nostalgie schreibt deshalb der ehemalige Sportreporter Wolfe Uber ein Ereignis, das in seiner ursprünglichen Form die Romantisierung des Automobils idealtypisch in Szene setzt. Sogenannte stock car races, Amateurrennen mit Autos vom Händler, die mit akrobatischem Geschick und atemberaubenden Geschwindigkeiten über Landstraßen und Feldwege gelenkt wurden, waren in den fünfziger und frühen sechziger Jahren im Süden der USA ein populäres Sonntagsvergnügen. „It got so [popular]", berichtet Wolfe,

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War die Romantisierung des Automobils durch moderne Helden wie Junior Johnson immer auch ein von Detroit und „big business" inszeniertes Spektakel gewesen, so wurde die in den sechziger Jahren einsetzende Auto- und Kapitalismuskritik ebenfalls umgehend kommerziell vereinnahmt und als Kaufanreiz für eine individualisierte, gegenkulturelle Spielart automobiler Fortbewegung genutzt. Angespornt von der Popularität der europäischen , A n ti-Marken" Volvo und Volkswagen, bedienten die amerikanischen Automobilkonzeme den größer werdenden Markt der Konsumverweigerer mit „escape machines" (Olds Cutlass Supreme), „youngmobiles" (Olds Toronado '68) und ähnlichen, als anti-konformistisch stilisierten Produkten. Vgl. T. Frank, The Conquest of Cool: Business Culture, Counter Culture, and the Rise of Consumerism. Chicago 1997. S. 74-86.

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that one of the typical rural sights, in addition to the red rooster, the gray split-rail fence, the Edgeworth Tobacco sign and the rusted-out harrow, one of the typical rural sights would be [...] you would be driving along the dirt roads and there beside the house would be an automobile up on blocks or something, with a rope over the tree for hoisting up the motor or some other heavy part, and a couple of good old boys would be practically disappearing into its innards, from below and from above, draped over the side under the hood. It got so that on Sundays there wouldn't be a safe straight stretch of road in the county, because so many wild country boys would be out racing or just raising hell on the roads. 41

Neben den altbekannten Insignien ländlicher Existenz avanciert das Automobil in Wolfes Soziologie des Südens zur wahren Ikone des freien und ursprünglichen Amerikas. Direkter und weniger verbildet als in Kerouacs On the Road (1957), dem automobilen Werther der Beat Generation, dramatisieren die improvisierten Rennen der Landjugend von Atlanta bis Greensboro die romantische Sehnsucht nach Transzendenz und Authentizität. Sie tun dies auf mehreren Ebenen. Zum einen erlauben sie den Beteiligten und Beobachtern, für kurze Zeit die Sterilität der Provinz vergessen zu machen und sich in frisierten Fords, Mercurys, Plymouths und Dodges buchstäblich in die Moderne zu katapultieren. Fast scheint es, als versuchte hier eine ganze Bevölkerung durch rituelle Inszenierung von Geschwindigkeit der vermeintlichen Rückständigkeit und Verlangsamung agrarischer Lebensweise zu entrinnen. Zum anderen aber sind stock car races die Bühne für ein uramerikanisches Schauspiel: das symbolische Überschreiten der staatlichen Ordnung - festgehalten im Ausschlag der Tachonadel jenseits rigider Geschwindigkeitsbegrenzungen - und die vermeintliche Umkehrung sozialer Hierarchien, die in Horatio Alger und den seit dem neunzehnten Jahrhundert beliebten From-Rags-to-Riches-Romanzen ihre literarische Entsprechung gefunden hat. Legendäre Fahrer wie Junior Johnson werden so zu modernen Helden, weil sie aus der Unterschicht kommen und mit Risikobereitschaft und einem ausgeprägten Instinkt für Geschwindigkeit den amerikanischen Traum von Freiheit und Selbstbestimmung auf die Straße verlagern. Es ist die Besetzung des Automobils als Heilsbringer und Symbol alltäglicher Selbstverwirklichung, in der Wolfe die Faszination und Verbreitung dieser zweifellos anrüchigen Sportart begründet sieht: „Here was a sport not using any abstract devices, any bat and ball, but the same automobile that was changing a man's own life, his own symbol of liberation, and it didn't require size, strength and all that, all it required was a taste for speed, and the guts" (135). Als grass-roots Inszenierung eines neuen automobilen plain style etablierte sich stock car racing als Gegenentwurf zu den blasierten Veranstaltungen der Reichen, wie dem alljährlichen Pferdederby in Kentucky. Neben diesem Nimbus des amateurhaft-proletarischen waren es jedoch vor allem die schwindelerregenden Geschwindigkeiten, das Austesten der physikalischen Grenzen von Mensch und Maschine, das die Massen anzog. Die übermotorisierten stock car racers erreichen Beschleunigungen 41

T. Wolfe, „The Last American Hero". In: Wolfe, The Kandy-Kolored Tangerine Flake Streamline Baby. New York 1987. S. 126-72. S. 133; im Folgenden nach dieser Ausgabe zitiert.

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jenseits der physikalischen Belastbarkeit des Materials, sie sind, wie Wolfe anmerkt, „literally too fast for their own parts, especially the tires" (148). Bei den meisten Rennen werden leicht Geschwindigkeiten von mehr als 200 Stundenkilometern erreicht, eine Geschwindigkeit, die die Vorstellungskraft selbst sportlicher Autofahrer bei weitem überstieg. Aus dieser Differenz zwischen der künstlich verlangsamten Fortbewegung im Alltag und der scheinbar entgrenzten Physik der als gewöhnliche Fahrzeuge getarnten Rennmaschinen entsteht beim Betrachter, so könnte man mit Kant argumentieren, eine Erfahrung „erhabenen" Schreckens, die in Tom Wolfes dithyrambischer Prosa kongenial artikuliert wird: The flag goes down and everybody in the infield and in the stands is up on their feet going mad, and suddenly here is a bowl that is one great orgy of everything in the way of excitement and liberation the automobile has meant to Americans. An orgy! The first lap of a stock car race is a horrendous, a wildly horrendous spectacle such as no other sport approaches. Twenty, thirty, forty automobiles, each of them weighing almost two tons, 3700 pounds, with 427-cubic-inch engines, 600 horsepower, are practically locked together, side to side, and tail to nose, on a narrow band of asphalt at 130, 160, 180 miles an hour, hitting the curves so hard the rubber burns off the tires in front of your eyes. To the driver, it is like being inside a car going down the West Side Highway in New York City at rush hour, only with everybody going literally three to four times as fast, at speeds a man who has gone eighty-five miles an hour down a highway cannot conceive of [...]. (147-148)

Im inszenierten Geschwindigkeitsrausch des stock car racing erfüllt sich damit fur einen kurzen Moment die Hoffnung aller Beschleunigungsromantiker, mit Hilfe der Fliehkraft die Grenzen von Zeit und Raum außer Kraft zu setzen, um im Zustand kinetischer Entrückung zu sich selbst zu finden. „Excitement" und „liberation" sind damit zwei entscheidende Kategorien, mit deren Hilfe sich die amerikanische Begeisterung für das Automobil gut beschreiben lässt. Die sich selbst beschleunigende Maschine evoziert ein Gefühl dynamischer Erhabenheit, das es ermöglicht, die zunehmende Fremdbestimmung des modernen Individuums vorübergehend zu kompensieren. Zu einem Zeitpunkt, da Umweltschäden, verstopfte Straßen und die weitgehende Standardisierung massenindustrieller Fertigung das Auto längst in ein profanes Konsumgut verwandelt haben, feiern die todesmutigen stock car Piloten seine Reinkarnation als demokratisch legitimierte Technologie der Überschreitung. Wie Wolfes vielschichtige Milieustudie deutlich macht, figuriert Geschwindigkeit dabei keineswegs als ein Wert an sich. So steht die freigesetzte kinetische Energie zum einen für eine Modernität ein, die dem agrarischen Süden bislang vorenthalten geblieben war; und zum anderen bildet sie den Hintergrund, vor dem sich das amerikanische Ideal einer republikanischen, auf Partizipation gerichteten Gesellschaft nostalgisch in Szene setzen lässt. Die Erfahrung eines „dynamic sublime" verbindet damit nicht nur so unterschiedliche Texte wie Thoreaus Waiden und Tom Wolfes „The Last American Hero", sie verweist auch auf eine Besonderheit und zugleich ein Paradoxon im amerikanischen Verhältnis zur Technik im allgemeinen: ein beständig zwischen utopischer Selbstüberschreitung und republikanischer Sdbstbeschränkung oszillierender Technizismus, dessen literarische Manifesta-

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tionen sowohl die Radikalität europäischer Technik-Kritik (Carlyle, Arnold, Kraus, Adorno, u.a.) als auch die faschistisch-dionysische TechnikBegeisterung des Futurismus vermissen lassen. „I want to be a machine", so soli Andy Warhol in einem Interview bemerkt haben, um dann - ganz im Sinne einer „democratic technology" - hinzuzufügen, „I think everybody should be a machine". 4 2

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J. Coplans, Andy Warhol. Greenwich, CN, 1970. S. 12.

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New Conceptions of Space: Experimentation and Crisis of Representation in Modernism

The category of space has always played, together with that of time, a fundamental role in all fields of knowledge. But it is above all in the 20th century that space becomes a „protagonist". All artistic revolutions in the last century have involved the category of space, and consequently new ways of perceiving and representing it, which are also linked to the emergence of new spatial dimensions in human existence. One need only mention, in this respect, the discovery of the unconscious and the world of dreams, which plays a fundamental role in certain artistic experiments of our century, or of the modern metropolis and its disorienting labyrinths, of the various scientific discoveries (first of all Einstein's theory of relativity), of such phenomena as the reduction or even annihilation of distances by new means of communication, destined to issue in Marshall McLuhan's „global village", or again of the more and more complex and fragmented Weltanschauung, which is the result of the multiplication of visual messages and their increasing speed. The radical artistic experiments which succeed each other at a vertiginous rate in the early decades of the 20th century are the result of a new perception of reality (and thus of space), which also generates a situation of epistemological scepticism, and consequently a crisis of representation involving an inevitable rejection of traditional forms (experienced as obsolete) and the consequent inevitable search for new forms. As in many other crises, the crisis of representation also shows its double face: on the one hand it brings about a disquieting sense of disorientation, displacement, and bewilderment, and on the other, it generates a fruitful dialogue and interaction between all the arts, which, once they have freed themselves from the claustrophobic enclosure of their individual codes, renew themselves in a radical manner never seen before. This is not the place to discuss in detail the multiplicity of experiments which involve the category of space in different and often contrasting ways, but it is necessary to mention at least the crisis of traditional perspective in visual arts (from Cezanne onwards)1 which is mirrored in the crisis of sequential and con-sequential narration in literature. The latter is the effect of an attempt to achieve, within the literary text, a simultaneity of representation somehow similar to the visual arts and also to that achieved by music in its contrapuntal aspect. Many of the innovations of the last century, such as the stream of consciousness technique, the mythical method theorized by T. S. Eliot (see the essay See the inderdisciplinary volume 11 Cezanne degli scrittori, deipoeti e deifilosofi. Cianci, E. Franzini and A. Negri. Milano 2001.

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„Ulysses, Order and Myth", 1923) - which creates a reduction to zero of time by aligning past and present - the emancipation of language from the fettering chains of syntax (le parole in libertä of the Futurists), and the analysis of new verbal assemblages and collages, can all be related, in various degrees, to the search for simultaneity, that is the search for the substitution of the category of nacheinander with that of nebeneinander, of sequentiality with contiguity. It is interesting to point out, in this respect, that as far as literary texts are concerned, the more radical experiments seem to be polarized into the two categories (both of them linked to space) of extreme dynamism (as is the case with the Futurists) and of extreme stillness, as in Imagist poetry. One need only refer, for example, to a poem like „In a Station of the Metro" by Ezra Pound, which clearly represents an experiment in trans-codification, as the poet concentrates the impression he receives from the sight of the crowd waiting for the „metro" in one single brush-stroke („petals on a wet black bough"),2 thus intensifying the pictorial analogy through the removal of any verbal connecting form, in order to create a kind of representation which is totally static and can be perceived at a single glance as happens with a painting. The antithesis between Futurism and Imagism was to produce the movement led by Wyndham Lewis called Vorticism (an attempted synthesis between the two opposite poles of dynamism and stillness) where the Vortex represents the reconciliation between the hectic restlessness of everyday life and the „still point",3 the pure form that crystallizes motion in a work of art. The interaction between literature and the visual arts emerges also in the new interest in the spatiality and materiality of the text, which is clearly connected with the increasing spread of advertising and its invading influence. One need only mention the periodical Blast,4 with its provocative title written obliquely in huge letters, where the word „blast" acquires a value also in relation to the visual impact it produces on the onlooker, or of the journalistic-style titles like headlines with which each narrative section of the chapter „Eolus" in Joyce's Ulysses (1922) begins, or of the Lettre-Ocean (1914) and the Calligrammes (1918) by Apollinaire. Here the poet does not explore the close connection between word and object, but between the word and the typographic object created on the page. Another example is offered by Marinetti's parole in libertä, which are free and independent because of the way they are arranged and assembled on the page. These experiments were destined to culminate in the aesthetically radical technique of postmodern narration, where the text becomes a space for selfreferential communication, which exists and finds its raison d'etre only within the physical, space occupied by the text itself. I am thinking, for instance, of the 2

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Ezra Pound, „In a Station of the Metro". In: Selected Poems. Ed. T.S. Eliot. London 1971. 113. The expression „still point" is a central theme in T.S. Eliot's Four Quartets. London 1943, where it pertains to various aspects of the text. As far as the aesthetic is concerned, it can be related to the ideas of Vorticism. The first issue, edited by Wyndham Lewis and Ezra Pound, came out in 1914.

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novel which can be handled as if it were an object, so that reading can begin at the end or in the middle, or in whichever part, or of the novel whose pages can be shuffled as if they were a pack of playing cards, 5 or of the novel whose written text is here and there substituted by various iconic elements, as is the case of Double or Nothing (1971) by Raymond Federman, where the author creates a different typographic form for each page. The new function and role played by the category of space manifests itself not only in the experiments mentioned above, but also in the titles of many 20th century novels and poems. Above all in modernist literature, but not only there, the biographical titles which characterize most 18th and 19th century novels, such as Robinson Crusoe (1719) by Daniel Defoe, Tom Jones (1749) by Henry Fielding, David Copperfield (1850) by Charles Dickens, etc., are substituted by titles with a direct reference to spaces, places and environments which play a central, structuring function in the text. One need only refer, in this respect, to some of Virginia Woolfs works, such as the essay A Room of One's Own (1929), the novels To the Lighthouse (1927) and Jacob's Room (1922). The latter is a radically daring experiment in modernism, as an attempt to create a character in absentia by means of the places he attended, and the signs and marks he left in them. Another example is offered by Ε. M. Forster's novels, A Room with a View (1908), A Passage to India (1924) and Monteriano - the latter is the original title of Where Angels Fear to Tread (1905), which also has a spatial connotation; and last but not least T. S. Eliot's poem The Waste Land (1922). Examples are just as frequent in German and Austrian literature, where there are works such as Der Tod in Venedig (1912) and Der Zauberberg (1924) by Thomas Mann, Radetzkymarsch (1932) by Joseph Roth, where the word „Marsch", besides its musical reference (Johann Strauss the Elder's Marsch, 1838), also has a literary spatial meaning. Joseph Roth's Radetzkymarsch is a novel which evokes the collapse of the Austro-Hungarian Empire, the loss of its centre, its subsequent fragmentation into several satellite states. In German literature there is also that extremely daring and revolutionary experiment of interaction between literature and the media (where cinema, advertising, and the metropolis with its multiple languages seem to be inscribed in the text itself) represented by Alfred Döblin's Berlin Alexanderplatz (1929). The titles mentioned above are only a few of the many that exemplify this increasing interest in space. It is worth considering that also in Latin-American literature, Octavio Paz entitles one of his works on the history and culture of Mexican people, El laberinto de la soledad (1950), thus endowing the human existential condition

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S. Katz (The Exagggerations of Peter Prince. New York 1968) for example combines on the same page a text which can be read as if it were a traditional book and a text which has to be read upside down. Alasdair Gray (Lanark. New York 1981) uses a strategy which gives the reader a double choice: he/she can read the text according to the sequential number of chapters or according to the way it is printed. In Julio Cortäzar (Hopscotch. New York 1966) and B.S. Johnson (The Unfortunates. London 1969), the reader can select various reading processes or even manipulate the way the text is assembled.

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in general, and that of his own people in particular, with the spatial connotation of displacement. As is shown by these titles, space becomes an essential element in literary texts, while for the characters, rooting themselves in a certain space, and consequently identifying themselves with it, it becomes a fundamental element for asserting individual identity. In connection with the function played by space in early 20th century literary texts, it is necessary to mention a novel which from a certain point of view seems to pioneer the era of the spatial text, that is Heart of Darkness (1902) by Joseph Conrad. The backbone of this work is the polarity between two rivers which are connected by a specular relationship (The Thames which is sailed down, the Congo river which is sailed up, till the movement is turned upside down in the final part of the novel), and ambiguous oppositions existing between them in terms of civilization/barbarism, which aim to communicate the idea of the inseparability and inter-changeability of opposite poles. The Thames, the river which should stand as the symbol of the light of civilization, is covered by a funereal fog at the beginning of the novel, and towards the end, it is completely overwhelmed by darkness. By contrast, the river Congo, which leads to the „heart of darkness" of absolute barbarism, appears, at a certain point of the novel, to be immersed in a kind of afterlife whiteness of very thick fog. The heart of the black continent is paradoxically marked on geographical maps by means of „blank spaces", which connote it as a place of still uncontaminated innocence (the adjective „blank" means empty but it is etymologically linked to „whiteness"). Space is also related to the essential structure of the novel, which focuses on the great archetype of the quest journey, the same archetype on which Joyce's Ulysses and Woolfs To the Lighthouse are based. Another fundamental aspect of literary experimentation at the beginning of the 20th century is the crisis of the traditional character, of the stable „ego". In the most creative phase of his literary career, D. H. Lawrence dismisses it in favour of the analysis of what he describes as the different allotropical states of the individual, that is the development of the character not in his/her temporal sequentiality but in his/her spatial simultaneity. The protagonist's Bildung takes place through the encounter with, and passage through, a series of spaces and places linked with different phases of individual existence. This is not only typical of Lawrence's art; also in one classic text of the 20th century, A Portrait of the Artist as a Young Man (1916) by James Joyce, an essentially spatial structure is used to represent the protagonist's Bildung. The novel consists of five chapters; the first and the third (the ones with odd numbers) show the protagonist in closed environments (the house and the school in the first, the claustrophobic, narrow chapel of the Jesuit college in the third), in a situation characterized by stillness and immobility, which reflects the interior paralysis experienced by him, whereas the chapters with even numbers (the second and the fourth) show the protagonist in open spaces and in movement, as they reflect important evolutionary phases of his Bildung and his achievement of „spaces of freedom". In the fifth chapter motion and stillness are dialectically and contem-

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porarily present, but towards the end, the first prevails by means of the protagonist's choice of voluntary exile. The „spatialization" of literary language, the nature of which, as theorized by Lessing in Laokoon (1766) is essentially temporal, was explored in the mid1940s by Joseph Frank's famous essay „Spatial Form in Modern Literature" (1945). In the several revisions and re-writings of the above-mentioned essay, from its publication in the volume The Widening Gyre (1963), to „Spatial Form: An Answer to Critics" (1977), to the later monograph (which includes all the essays), The Idea of Spatial Form published in 1991, Frank has widened the horizons of his analysis so far as to cover the second half of the 20th century, and to investigate its theoretical aspects in relation to the Russian Formalists, to G6rard Genette, and above all to Roman Jakobson, to his distinction between metaphoric and metonymic language. The central idea of Frank's essay is that spatial form is one of the essential aspects of modernist literary texts, where synchronic relations prevail over diachronic ones, simultaneity over sequentiality, the mythical time of circularity over the linear time of history, where characters are not created by means of progressive time development but, rather, by means of comparison with mythical referents (as in Joyce's Ulysses). In modernist novels, time itself is reduced to what he defines as an „instant of pure time", therefore reduced to zero, spatialized. Frank involves in his discussion one of 20th century literary works most clearly linked to the category of time, that is Proust's A la recherche du temps perdu (1913-27). What is recovered in La recherche, Frank states, is not the past, but the epiphany which has been extrapolated from the time flux, that is „time in a pure state".6 In relation to Joyce's Ulysses, Frank points out that the novel cannot be read, but only re-read till all underlining connections are perceived by the reader in their unity and simultaneity; only then does the text fully reveal its meaning, that is, when the reader is able to feel like a Dubliner, capable of perceiving and experiencing simultaneously the city's entangled labyrinth. In his theory of spatial form, Frank has in mind Lessing's distinction between space-arts (painting and sculpture) and timearts (music and literature) but, although he does not deny the temporal nature of language, he states that early 20th century aesthetics experiments with a kind of writing which is gradually directed towards an annihilation of time, that is an increase in the spatialization of the literary form. Frank's essay has been attacked by many critics, some of them focusing on the technical aspect (such as Walter Sutton, who states that since reading is a time-act, it is not possible to achieve a complete spatialization of the written 6

Regarding this, Frank recalls Genette's interpretation of Proust's work (Figures. Paris 1966 and Figures II. Paris 1969). For Genette La recherche „requires for its consideration a sort of simultaneous perception of the total unity of the work, a unity which resides not solely in the horizontal relations of continuity and succession, but also in the relations that may be called vertical or transversal, those effects of expectation, of response, of symmetry, of perspective, which prompted Proust himself to compare his work to a cathedral". Joseph Frank, „Spatial Form: Some Further Reflections". In: Frank, The Idea of Spatial Form. New Brunswick 1991. 129.

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text),7 others, such as Philip Rahv, insist on the ideological aspect, although Rahv's criticism seems to be directed more against modernist aesthetics than against Frank himself. In opposition to the mythical method of James Joyce and T. S. Eliot, Rahv points out that in the contemporary age there is no space for myth because it is by now reduced to an „aesthetic simulacrum". Balancing out past and present, as well as the juxtaposition of one to the other, creates in Rahv's opinion a dangerous negation of history, and therefore involves a substantially conservative, when not overtly reactionary attitude.8 Similar positions are held by the Marxist critic, Robert Weimann, and by Frank Kermode, who, although moving from opposite assumptions, attack Frank's aesthetic theory and align it with right-wing ideological ideas.9 Frank answers this kind of criticism by claiming that the use of a certain aesthetics transcends ideological and political positions taken by the artists; such positions, Frank points out, are above all typical of the Anglo-American area.10 In connection with this, the comment by Octavio Paz seems very sensible and convincing. While he identifies spatial form, the search for simultaneity, as a „sign" of modernity, he points out that the aesthetic convergences of Modernist writers are paralleled by diverging and even opposite political and ideological positions. Whereas Western modernists were often sympathetic with authoritarian and even totalitarian regimes, Latin-American modernist writers were left-wing revolutionaries; their connective tissue lay in their rejection of capitalism, of bourgeois values, and especially of faith in history as a movement onward towards progress." Although the early modernist phase of radical experimentation is followed (after the disaster of World War I) by the rappel ä Vordre, by the canonization and institutionalisation of modernism, space does not lose its role as a protagonist. As such, it plays a function within a process which had already started with modernism, that is the recovery of primitivism. Whereas in early modernism all suggestions coming from remote cultures were filtered through a Western cultural Weltanschauung, and the margins were absorbed by the centre, in the second half of the 20th century an increasing crisis of the latter in all cultural and ar7

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"

Cf. W. Sutton, „The Literary Image and the Reader". In: Journal of Aesthetics and Art Criticism, 16, 1957. p. 112-123. P. Rahv, „The Myth and the Powerhouse". In: Literature and the Sixth Sense. Boston 1969. R. Weimann ("New Criticism" und die Entwicklung bürgerlicher Literaturwissenschaft. Halle 1962) charges Frank with „having constructed an aesthetics of the novel .conceived as an apologetic for imperialistic artistic decadence'". Frank Kermode (The Romantic Image. 1957. New York 2001, and The Sense of an Ending: Studies in the Theory of Fiction. New York 1967), although coming to similar conclusions as regards Modernist aesthetics, fiercely opposes „the critical fiction of spatial form", which for him is the equivalent of „the closed authoritarian society [...] the myth of fascist totalitarianism". Frank 1991, p. 82-94. Frank opposes the totalitarian sympathies of some leaders of the Anglo-American avantgarde to Thomas Mann, who widely uses the technique of „spatial form" in Doktor Faustus (1947). „No totalitarian regime", Frank points out, „has ever tolerated the avant-garde after taking power, whatever the overt politics of the artists concerned, or whether the regime used the slogans of the right or the left". Frank 1991, p. 105. O. Paz, Los hijos del limo. Del romanticismo a la vanguardia. Barcelona 1974. p. 153.

New Conceptions of Space

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tistic fields can be witnessed, together with a greater and greater reversal of the relationship between centre and margins, the effect of which is a dialogue and interaction between different spaces and cultures on equal terms. In other words, what happens is a deconstruction of the centre in all its forms and expressions: ethnocentrism, eurocentrism, logocentrism; their de-legitimisation brings about the creation of a plurality of new centres, each of which reclaims its individual, cultural and ethnic identity. One need only mention recent theoretical debates about the new literatures in English, post-colonial writings and ideas developed by poststructuralism and deconstruction.12 In conclusion, I would like to point out that the crisis of the centre has also inevitably influenced the contemporary interest of literary criticism in spaces and places, in the geography of the text, which has been viewed and widely used as an instrument of reading in recent critical works in the field of English Studies. This is the case, for example, of the volume by Franco Moretti, Atlante del romanzo europeo 1800-1900 (1997),13 where geography, the tool of the expert in cartography turns into a valid system of re-reading, re-interpretation and deconstruction of literary texts (even the canonical ones). As a matter of fact a spatial reading of Western literary texts had already been proposed by Vladimir Nabokov in his eccentric, and extremely sophisticated, Lectures on Literature (1980).

12

13

On this see Seamus Heaney's stimulating essay on the poetry of John Clare: S. Heaney, J o h n Clare's Prog". In: The Redress of Poetry. London 1995. 63-82. It is the first book of a wider project aiming at the creation of a historic atlas of literature. F. Moretti, Atlante del romanzo europeo 1800-1900. Torino 1997. 5-12.

Peter

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Wunderliche Fiktionen. Gottfried Kellers und Thomas Manns Erfindungen Italiens

Mit Joseph Freiherr von Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts (1826) begann jene Reihe eingebildeter Italienreisen, die auf keinerlei persönlicher Erfahrung beruhen, die vielmehr - andere Beispiele wären in Texten E.T.A. Hoffmanns oder Jean Pauls zu finden - sich ganz aus der literarischen Tradition nähren, Bilder nur nach Bildern. Als exemplarischer Übergang in das Bewußtsein, tatsächlich nur noch frei über Italien zu fabulieren, ohne eine eigene originäre Wahrnehmung davon zu besitzen, läßt sich der Grüne Heinrich Gottfried Kellers lesen. Wichtig ist hier die erste Version von 1854, die frische, von wenig Stilwillen oder Rücksichtnahmen geprägte Variante, die Heinrich Lee eben sterben läßt, da er kein wirklicher Künstler werden kann. Man erinnert sich: Heinrich gelangt keineswegs nach Italien, vielmehr aus der Schweiz nach München, in den Norden. Aber bevor er dorthin kommt, geht es durchaus sehr intensiv in den Süden, ins Land der idealen Schönheit, das doch nichts ist als das Land der Sünde und des Verfalls aller Kultur. In ganz unmittelbarem Sinne geht es dabei um Fiktionen, in einem Künstlerroman natürlich um Malereien, um Bilder. Wie zur Warnung wird dem jungen Heinrich, als sich die ersten Anzeichen dessen bemerkbar machen, was er für seine Berufung hält, eine „uralte Mappe" mit Bildern des Junker Felix gezeigt, und dessen Geschichte dazu erzählt: Der gute Junker Felix liegt in Rom begraben, schon manches lange Jahr; [...] Er malte und radierte den ganzen Tag, ausgenommen im Herbste, wo er mit uns jagte. Damals, zu Anfang der 20er Jahre, kamen ein paar junge Herren aus Italien zurück, wo runter ein Malergenie. Diese Burschen machten einen Teufelslärm und behaupteten, die ganze alte Kunst sei verkommen und würde eben jetzt in Rom wiedergeboren von deutschen Männem. Alles was vom Ende des vorigen Jahrhunderts her datiere, das Geschwätz des sogenannten Goethe, von Hackert, Tischbein und dergleichen, das sei alles Lumperei, eine neue Zeit sei angebrochen. Diese Redensarten störten meinen armen Felix urplötzlich in seinem bisherigen Lebensfrieden; umsonst suchten ihn seine alten Künstlerfreunde, mit denen er schon manchen Zentner Tabak verraucht hatte, gelassen zur Ruhe zu bringen, indem sie sagten, er möge doch die jungen Fänte schreiten lassen, die Zeit werde so gut Uber sie hinweggehen wie Uber uns! Alles umsonst! Eines Morgens schloss er seine hagestolzlichen Kunsttempel zu und rannte wie verrückt nach dem St. Gotthard, hinüber und kam nicht wieder. Nachdem ihm die Halunken zu Rom den Zopf abgeschnitten bei einer Sauferei, verlor er allen Halt und alle Ehrbarkeit und starb in seinen alten Tagen nicht an Altersschwäche, sondern

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an dem römischen Wein und an den römischen Weibsbildern. Diese Mappe lieB er zufällig bei uns zurück. 1

Nach diesem Junker Felix aus längst vergangener Zeit, ein Vorbild, das den Grünen Heinrich keineswegs von seinem Irrweg abzubringen vermag, taucht im Laufe des Romans ein weiterer .Römer' auf, wortwörtlich. Es handelt sich um einen Deutschrömer namens Römer, das Kunstgenie, den es in den Süden vertrieben hatte, der nach langer Zeit in den Norden, d.h. in die Schweiz zurückkehrt, wo er schließlich wahnsinnig wird. Keller nimmt ein typisches Thomas Mann-Schicksal vorweg, beschreibt 50, 60 Jahre vor diesem einen Tonio Kröger, Gustav Aschenbach oder Adrian Leverkühn, die ja alle zunächst sehr ordentliche, disziplinierte Künstler oder Schriftsteller sind, um dann von ihren Phantasien versucht zu werden, dem Wahnsinn erliegen und scheitern. Hier im Grünen Heinrich ist der Römer, bevor sein Wahn ausbricht, zunächst einmal Lehrer des angehenden Künstlers. Heinrich, der nichts besser beherrscht als nach kurzer Zeit sehr geschickt zu kopieren, lernt „endlich die wahre Arbeit und Mühe kennen": [...] ich sah mich in den Stand gesetzt, eine große Studie Römers[...] so zu kopieren, daß mein Lehrer erklärte, es sei nun genug in dieser Richtung [...] er wünsche bei aller Freundschaft doch nicht, eine förmliche Dublette desselben in anderen Händen zu wissen. (470f.)

Die wahre Arbeit des angehenden Künstlers besteht tatsächlich in der Einarbeitung der Hände des Malers, des Handwerkers in die Fiktion des Südens. Durch diese Beschäftigung war ich wunderlicherweise im Süden weit mehr heimisch geworden als in meinem Vaterlande. Da die Sachen, nach welchen ich arbeitete, alle unter freiem Himmel und sehr trefflich gemacht waren, auch die Erzählungen und Bemerkungen Römers fortwährend meine Arbeit begleiteten, so verstand ich die südliche Sonne, jenen Himmel und das Meer, beinah wie wenn ich sie gesehen hätte [...]. (471)

Durch Bilder und Texte angeleitet, weiß er bald Kakteen, Myrthe und Pinien besser darzustellen als Disteln, Nesseln und Weißdom, immergrüne besser als nordische Bäume. Mit einer charakteristischen Verschiebung werden alle tradierten Oppositionen der Italienliteratur auch hier eingesetzt. Der Süden bleibt zwar hell und leicht, aber eher im Sinne von leicht-fertig, schnell gemacht, also: nichts wert. Selbst der südliche Boden war mir viel leichter in der Hand als der nordische, da jener mit bestimmten glänzenden Farben bekleidet war und sich [...] fast von selbst herstellte, indessen dieser, um wahr und gut zu scheinen, eine unmerkliche, aber verzweifelt schwer zu treffende, Verschiedenheit und Feinheit in grauen Tönen erforderte. (471)

G. Keller, Der Grüne Heinrich. Erste Fassung. In: Sämtliche Werke in fünf Bänden. Hg. von T. Böning und G. Kaiser. Bd. 2. Frankfurt/M. 1985. S. 230f. Im Folgenden nach dieser Ausgabe im laufenden Text zitiert.

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Auf Capri, Ischia oder in der römischen Campagna ist Heinrich „besser zu Hause" als am Zürichsee, die Ferne kann er „auswendig herpinseln". Das Wahre und Gute gibt es demnach nur im Norden mit seinen verzweifelt schwer zu treffenden Grautönen, die Schönheit des Südens mit ihrer „zehnmal poetischeren Wirkung" wird zur künstlichen, erlogenen Schönheit, dieser gemalte Süden bekommt einen erfundenen, das heißt eben falschen Charakter. Ins Nachgemachte, bloß Kopierte wird hier das Italienbild transformiert, die antiken Bauwerke, angesichts derer frühere Italienreisende die ganze abendländische Kultur wiederbelebt sahen, wird zu einem Prospekt, in dem sich nur noch eingebildete Werte finden. Die Bilder der Antike, die der Grüne Heinrich nachmalt, sind ihm heilig, weil sie einmal für heilig gehalten worden sind. Einen besondern Reiz gewährten mir die Trümmer griechischer Baukunst, welche sich da und dort fanden. Ich empfand wieder Poesie, wenn ich das weiße, sonnige Marmorgebälke eines dorischen Tempels vom blauen Himmel abheben musste. Die horizontalen Linien, [...] mussten mit zartester Genauigkeit, mit wahrer Andacht, leis und doch sicher und elegant hingezogen werden; die Schlagschatten auf diesem weißgoldenen edlen Gestein waren rein blau, und wenn ich den Blick fortwährend auf dies Blau gerichtet hatte, so glaubte ich zuletzt wirklich einen leibhaften Tempel zu sehen. Jede Lücke im Gebälke, durch welche der Himmel schaute, jede Scharte an den Kannelierungen war mir heilig und ich hielt genau ihre kleinsten Eigentümlichkeiten fest. (471)

Für Heinrich Lee beschränken sich solche Erfahrungen aus zweiter Hand nicht allein auf die Bilder, die Römer ihn abmalen läßt. Die ganze Kultur, Religion, Architektur bis hin zur Literatur erhält er aus dem Nachlaß und begnügt sich auch am Ende damit; Im Nachlasse meines Vaters fand sich ein Werk über Architektur, in welchem die Geschichte und Erklärung der alten Baustile nebst guten Abbildungen mit allen Details enthalten waren. Dies zog ich nun hervor und studierte es begierig, um die Trümmer besser zu verstehen und ihren Wert ganz zu kennen. Auch erinnerte ich mich der „Italienischen Reise" von Goethe, welche ich kürzlich gelesen, [...] Römer erzählte mir viel von den Menschen und Sitten und der Vergangenheit Italiens. (472)

So macht sich der Protagonist Kellers selbst auf eine Art „Italienische Reise", begibt sich auf die seit 2000 Jahren bekannte Odyssee, nur etwas anders und mit anderem Ergebnis als seine Vorgänger : „Den Homer forderte er mich auf zu lesen und ich ließ mir dies nicht zweimal sagen. Im Anfange wollte es nicht recht gehen, ich fand wohl alles schön, aber das Einfache und Kolossale war mir noch zu ungewohnt [...]" (472). Sehr bald wird aber diese Lesereise in die „fast kindliche Einfachheit" zu einer Reise ins wirkliche Labyrinth der Vorstellungen, zur Imagination jener vollkommenen Verlassenheit, jener Irrwege und Katastrophen, in die der Künstler im Verlaufe des Romans dann tatsächlich geraten wird. Wenn sie einst getrennt von ihrer Heimat und von ihrer Mutter und allem, was ihnen lieb ist, in der Fremde umherschweifen, und sie haben viel gesehen und viel erfahren, haben Kummer und Sorge, sind wohl gar elend und verlassen: so wird es ihnen des Nachts un-

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fehlbar träumen, daß sie sich ihrer Heimat nähem; sie sehen, sie glänzen und leuchten in den schönsten Farben; holde, feine und liebe Gestalten treten ihnen entgegen; da entdecken sie plötzlich, daß sie zerfetzt, nackt und kotbedeckt einhergehen; eine namenlose Scham und Angst faßt sie, sie suchen sich zu bedecken, zu verbergen und erwachen in Schweiß gebadet. (473)

Dieser Alptraum, von Römer dem „tiefsten und ewigen Wesen der Menschheit" zugeschrieben, charakterisiert zumindest das Schicksal des Italienreisenden seit Keller, der in keiner wirklichen Welt mehr wirklich arbeitet - dies wird eben als eine gänzlich unerreichbare, vergangene Möglichkeit vom Text selbst erinnert der vielmehr den eigenen Fiktionen verfällt, von seiner „Kopierfertigkeit" verhindert, ein selbständiger Autor zu werden: Inzwischen war es gut, daß das Interesse Römers, hinsichtlich des Kopierens seiner Sammlungen, sich mit den meinigen vereinigte; denn als ich nun, gemäß seiner Aufforderung, mich wieder vor die Natur hinsetzte, erwies es sich, daß ich Gefahr lief, meine ganze Kopierfertigkeit und mein italienisches Wissen zu einer wunderlichen Fiktion werden zu sehen. (474)

Eine Grundopposition der Italienliteratur, die ihre Sehnsucht dirigiert hatte und wohl bis heute dirigiert, wird hier als Bild benannt und erkannt. Noch bleibt es als gefährliche Versuchung negativ konnotiert, die Ktinstlichkeit, das Eingebildete des Bildes wird als falsch, erdichtet und erlogen vorgestellt, ganz im Sinne der Verurteilung der Dichter durch Piaton. Dieser Phantasmagorie wird der Norden als Vorbild, zumindest alles Wahren und Guten, gegenübergestellt. So wird hier - und dann weiter für Rilke, Werfel, Heym, Bergengruen, Hofmannsthal oder Thomas Mann - der Süden zu jener „wunderlichen Fiktion", in der sich alle disziplinierte Arbeit auflöst, der ordentliche Künstler des Nordens sich rettungslos verliert. Für die Italienreisenden, insbesondere die Venedigreisenden entwickelt sich vom 19. ins 20. Jahrhundert eine fundamentale und langanhaltende Störung. „Mich ekelt dies Venedig" heißt es etwa in Hofmannsthals Drama Das gerettete Venedig, [...] die Spelunke ohn Licht und Luft, von faulen Fischen stinkend! Dies Mörderloch, wo hinter jedem Atemzug Spione hocken, wo sie jeden Brief erbrechen, jeden Atemzug erhorchen! Ich will nicht mehr auf diesem Wasser fahren, aus dem die starren Augen der Ertränkten mich ansehn, daß der Atem in der Kehle mir steckenbleibt.2

Wilhelm Emrich hat dies als Entromantisierungsprozeß festgehalten: Eine Entromantisierung Venedigs setzt hierein, die in deutlichem Zusammenhang mit dem Gefühl der Bedrohung und Auslieferung des modernen Menschen an unheimlich anonyme Staatsgewalten und Mächte steht. Und entsprechend wird auch die wirtschaftliche Vergewaltigung und Verarmung des modernen Menschen unter der Maske des kapitalistischen Glanzes im Bild Venedigs sichtbar gemacht, so im Drama Das gerettete Venedig, vor allem aber in dem Fragment seines großen modernen Entwicklungs- und Bildungsromans 2

H. von Hofmannsthal, Das gerettete Venedig. In: Gesammelte Werke in Dramen II. Hg.von H. Steiner. Frankfurt/M. 1966. S. 158.

Einzelausgaben.

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Andreas oder die Vereinigten, wo eine verarmte venezianische Adelsfamilie, um Geld zu verdienen, die eigene Tochter als Preis einer Lotterie aussetzt, und wo im weiteren Verlauf der Handlung die ganze Spannung von Sein und Schein, Maske und Wahrheit in Doppelgängergestalten durchvariiert und vertieft wird.3

Diese Entromantisierung nicht allein Venedigs, vielmehr Italiens, des Südens Uberhaupt, heißt zunächst nichts anderes, als daß das tradierte Bild in ein neues „Licht" gesetzt wird. Wortwörtlich verstanden in eine trübe Beleuchtung, eine undurchschaubare, bedrohlich, gefährlich bis tödlich wirkende Situation. Tatsächlich bedroht aber ist nur die tradierte Illusion, der Mythos Arkadiens, die Verklärung der eigenen Vorurteile über das Land der Sehnsucht. Anders, positiver formuliert: Italien wird als pures Bild erkannt und anerkannt, die Fiktion kommt zu sich, die Reisenden kommen endlich in dem Land an, das sie sich vorgestellt haben, in ihrem Kopf. Angekündigt in den spätromantischen Texten Eichendorffs, lassen sich seit Kellers Grünem Heinrich drei Stadien dieses Ankommens deutlich bezeichnen: - Das erste ist das Stadium des Erschreckens vor der Maske, die Erfahrung des Zerfalls der tradierten Substanz. Diese Phase wird von den Texten Hofmannsthals, Rilkes, Thomas Manns bis hin zu Koeppen und Brinkmann ausgeschrieben. - In einer zweiten Phase richten sich die Schriftsteller in der Fiktion ein, etwa bei Günther Herburger, wo die Fremden im fremden Land ihr eigenes Haus bauen, ihre „Zitadelle" erobern und verteidigen, zumindest für eine gewisse Zeit. Schließlich werden sie auch hier in ihre Ursprungsländer zurück „vertrieben". - In einer dritten Phase fühlen sie sich geradezu plakativ wohl darin, erkennen den Süden, von dem sie immer geträumt hatten, endlich als solchen an, als Ort der Phantasie, des Traums, der Projektion, als selbstkonstruierten Ort, für den man in keinen Süden fahren muß. Bei Alfred Behrens etwa wird das deutsche Wohnzimmer in einen italienischen Projektionsraum umgebaut. Die Entstellung Italiens zur Maske, der Aushöhlungsprozeß, den Hofmannsthal beschreibt, wird ähnlich in Gedichten Rilkes festgehalten, etwa im berühmten „Spätherbst in Venedig": Nun treibt die Stadt schon nicht mehr wie ein Köder, der alle aufgetauchten Tage fängt. Die gläsernen Paläste klingen spröder an deinen Blick. Und aus den Gärten hängt der Sommer wie ein Haufen Marionetten kopfüber, müde, umgebracht. Aber vom Grund aus alten Waldskeletten steigt Willen auf: als sollte Uber Nacht

3

W. Emrich, „Das Bild Italiens in der deutschen Dichtung". In: Emrich, Studien zur Deutsch-Italienischen Geistesgeschichte. Köln 1959. S. 282f.

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der General des Meeres die Galeeren verdoppeln in dem wachen Arsenal, und schon die nächste Morgenluft zu teeren mit einer Flotte, welche ruderschlagend sich drängt und jäh, mit allen Flaggen tagend, den großen Wind hat, strahlend und fatal.

Waldskelette, ein Haufen Marionetten, ein „inneres, [...] wie ausgehöhlt". Zum Meister der Darstellung dieses Entleerungsprozesses wird Thomas Mann, der sich selbst als Schriftsteller nach der Decadence empfindet, den Auflösungsprozeß der Dinge in die Worte bis zu einem Umschlagspunkt treibt. Der Hochstapler Mann,4 persönlich ein großer Genießer des Südens zeit seines Lebens, in seinen Texten ist er ein großer Erfinder Italiens: eines durch und durch unheimlichen, überflüssigen, wahnhaft übersteigerten, phantastischen Gebildes. Der „grüne" Heinrich Kellers wird nie zu einem richtigen Künstler, gelangt nie nach Italien. Vielmehr reist er nach München, um sich aber auch dort keineswegs verwirklichen zu können. Der große Schriftsteller Gustav Aschenbach, der seine Werke nur noch mit großer Anstrengung und äußerster Disziplin zustande bringt, beginnt seine italienische Reise, die mit dem Tod in Venedig enden wird, im Englischen Garten Münchens. Von Anfang an ist hier alles falsch, eigenartig verkehrte, ungreifbare Phantasie. Es war Anfang Mai und, nach naßkalten Wochen, ein falscher Hochsommer eingefallen. Der Englische Garten, obgleich nur erst zart belaubt, war dumpfig wie im August und in der Nähe der Stadt voller Wagen und Spaziergänger gewesen.5

In solcher unmöglichen Natur, die bereits stirbt, bevor sie so richtig aufgeblüht ist, in der alles zu spät ist, bevor es noch richtig angefangen hat, arbeitet die Imagination des Schriftstellers auch nicht mehr wie bei seinen Vorbildern. Statt einer leichten, spielerischen Intuition nachzugeben, muß sie sich zwingen, ermüdet in mechanischen Wiederholungen, eine Phantasiemaschine. Überreizt von der schwierigen und gefährlichen, eben jetzt eine höchste Behutsamkeit, Umsicht, Eindringlichkeit und Genauigkeit des Willens erfordernden Arbeit der Vormittagsstunden, hatte der Schriftsteller dem Fortschwingen des produzierenden Triebwerkes in seinem Innern, jenem >motus animi continuusc, worin nach Cicero das Wesen der Beredsamkeit besteht [...] nicht Einhalt zu tun vermocht [...]. (7)

In diesem Zustand, einer „seltsamen Ausweitung seines Innern", einer „Art schweifender Unruhe", überfällt ihn Reiselust, einhergehend mit einer geradezu explosionsartig auftretenden Sinnestäuschung.

4

5

B.J. Dotzler, Der Hochstapler. Thomas Mann und die Simulacren der Literatur. München 1991. T. Mann, Der Tod in Venedig. 1911, 1913. Frankfurt/M. 1974. S. 7. Im Folgenden im laufenden Text nach dieser Ausgabe zitiert.

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Es war Reiselust, nichts weiter; aber wahrhaft als Anfall auftretend und ins Leidenschaftliche, ja bis zur Sinnestäuschung gesteigert. Seine Begierde ward sehend, seine Einbildungskraft noch nicht zur Ruhe gekommen seit den Stunden der Arbeit, schuf sich ein Beispiel für alle Wunder und Schrecken der mannigfaltigen Erde, die sie auf einmal sich vorzustellen bestrebt war: er sah [...] eine Landschaft, ein tropisches Sumpfgebiet unter dickdunstigem Himmel, feucht, üppig und ungeheuer, eine Art Urweltwildnis aus Inseln, Morästen und Schlamm führenden Wasserarmen, - sah aus geilem Farrengewucher, aus Gründen von fettem, gequollenem und abenteuerlich blühendem Pflanzenwerk haarige Palmenschäfte nah und fern emporstreben, sah wunderlich ungestalte Bäume ihre Wurzeln durch die Luft in den Boden, in stockende, gtllnschattig spiegelnde Fluten versenken, wo zwischen schwimmenden Blumen, die milchweiß und groß wie Schüsseln waren, Vögel von fremder Art, hochschultrig, mit unförmigen Schnäbeln, im Seichten standen und unbeweglich zur Seite blickten, sah zwischen den knotigen Rohrstämmen des Bambusdickichts die Lichter eines kauernden Tigers funkeln - und fühlte sein Herz pochen vor Entsetzen und rätselhaftem Verlangen. (9) Sehr genau bezeichnet hier der „Tiger", diese Dschungelphantasie eines ganz anderen Lebens gegenüber der ordentlichen Arbeit des seine Werke kalkulierenden Schriftstellers die beiden Pole, die auch das tradierte Italienbild definiert hatten. D i e naive Unmittelbarkeit Arkadiens, das vollkommene Aufgehen im Hier und Jetzt gibt es auch i m Mannschen Text, als mythische, in den rationalen Schaffensprozeß „eingeschaltete" Erinnerung. Und so tat denn eine Einschaltung not, etwas Stegreifdasein, Tagedieberei, Fernluft und Zufuhr neuen Blutes, damit der Sommer erträglich und ergiebig werde. Reisen also, - er war es zufrieden. Nicht gar weit, nicht gerade bis zu den Tigern. Eine Nacht im Schlafwagen und eine Siesta von drei, vier Wochen an irgendeinem Allerweltsferienplatze, im liebenswürdigen Süden [...]. (11) Als der der nur

a m Ende ganz und gar nicht liebenswürdig wird sich der Süden im Laufe Reise herausstellen, als Katastrophe am Ende vielfacher U m - und Irrwege Phantasie. D e n ersten dieser U m w e g e bildet Istrien, w o Aschenbach aber merken muß, daß dies nicht den „Ort seiner Bestimmung" darstellt. Ein Zug seines Innern, ihm war noch nicht deutlich, wohin, beunruhigte ihn, er studierte Schiffsverbindungen, er blickte suchend umher, und auf einmal, zugleich überraschend und selbstverständlich, stand ihm sein Ziel vor Augen. Wenn man Uber Nacht das Unvergleichliche, das märchenhaft Abweichende zu erreichen wünschte, wohin ging man? Aber das war klar [...] er ging dort nur an Land, um sorglich über einen Brettersteg das feuchte Verdeck eines Schiffes zu beschreiten, das unter Dampf zur Fahrt nach Venedig lag. (17)

Ist bereits im Englischen Garten Münchens nicht ganz klar, ob es sich bei dieser Reise nicht bloß um eine Phantasie, um den Beginn eines Alptraums des Schriftstellers handelt, so wird die Differenz zwischen Einbildung und Realität auf d i e s e m Schiff weiter verwischt. In dem veralteten „Fahrzeug italienischer Nationalität", in dessen „höhlenartiger, künstlich erleuchteter Koje des inneren Raumes, wohin Aschenbach [...] von einem buckligen und unreinlichen Matrosen mit grinsender Höflichkeit genötigt wurde" (18), begegnet Aschenbach wiederum j e n e undefinierbare Gestalt, die ihn schon in München beunruhigt

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hatte, jene entsetzliche Angstfigur zwischen Greis und Jüngling, in die er sich irgendwann selbst verwandeln wird. Einer, in hellgelbem, übermodisch geschnittenem Sommeranzug, roter Krawatte und kühn aufgebogenem Panama, tat sich mit krähender Stimme an Aufgeräumtheit vor allen andern hervor. Kaum aber hatte Aschenbach ihn ein wenig näher ins Auge gefaBt, als er mit einer Art von Entsetzen erkannte, daß der Jüngling falsch war. Er war alt, man konnte nicht zweifeln. Runzeln umgaben ihm Augen und Mund. Das matte Karmesin der Wangen war Schminke, das braune Haar unter dem farbig umwundenen Strohhut Perücke, sein Hals verfallen und sehnig, sein aufgesetztes Schnurrbärtchen und die Fliege am Kinn gefärbt, sein gelbes und vollzähliges Gebiß, das er lachend zeigte, ein billiger Ersatz, und seine Hände, mit Siegelringen an beiden Zeigefingern, waren die eines Greises. (9)

Nach und nach, unaufhaltsam beginnt jene „träumerische Entfremdung, eine Entstellung der Welt ins Sonderbare um sich zu greifen, der vielleicht Einhalt zu tun wäre, wenn er sein Gesicht ein wenig verdunkelte und aufs Neue um sich schaute" (19). Aber das „Gefühl des Schwimmens", das „unvernünftige Erschrecken" wird den Protagonisten nicht mehr verlassen. In den „schmutzigschillernden Wassern" dieser Überfahrt lösen sich Raum und Zeit mehr und mehr auf. Unter der trüben Kuppel des Himmels dehnte sich rings die ungeheure Scheibe des öden Meeres. Aber im leeren, im ungegliederten Räume fehlte unserem Sinn auch das Maß der Zeit, und wir dämmern im Ungemessenen. Schattenhaft sonderbare Gestalten, der greise Geck, der Ziegenbart aus dem Schiffsinnem, gingen mit unbestimmten Gebärden, mit verwirrten Traumworten durch den Geist des Ruhenden, und er schlief ein. (19-20)

Sehen manche Formulierungen in der Erzählung noch aus wie die Schilderungen klassischer Italienbeschreibungen6 - in Wirklichkeit liefern sie nur kurze Unterbrechungen des Untergangs, den Gustav Aschenbach mit seinem Entschluß zum Reisen einleitet. Und selbst hier weisen solche Formulierungen wie „den erstaunlichsten Landungsplatz, jene blendende Komposition phantastischen Bauwerks, [...] die unwahrscheinlichste der Städte" beim Anblick Venedigs darauf hin, daß es sich um eine Reise in einen Traum, eine Erinnerung handelt, daß die Überfahrt mit der Gondel tatsächlich eine Hadesfahrt beschreibt, Fahrt in einen mythischen und bald tödlichen Vorstellungsraum, gegen die kein Lebenswille ankommen kann. Ausgelöst werden alle diese Versuchungen durch den schönen Knaben Tadzio, jenes fremde Bild, das den alternden Schriftsteller schließlich in die Katastrophe ziehen wird. Was immer hier allegorisiert oder symbolisiert sein mag, welche generellen oder auch biographischen Erfahrungen hier metaphorisiert worden sein sollen, vom ewigen Körper-Geist-Dualismus bis hin zur latenten Homosexualität Thomas Manns: Hier soll zunächst einmal festgehalten werden, daß es sich bei der Begegnung des Schriftstellers mit dem jungen Mann um einen puren Blickaustausch handelt, daß es an keiner Stelle zu mehr als visuel-

6

Mann 1974, S. 5, 21, 30.

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len Berührungen kommt. Insofern handelt es sich um nichts als eine Selbstbeziehung, deren zerstörerischer Verlauf hier beschrieben wird, um die Auseinandersetzung mit einer Spiegelfigur, im klassischen psychoanalytischen Sinne um ein Phantasma. Ganz direkt spielt die Erzählung auf die antike Figur des Dornausziehers an, jenes Meisterwerk, dessen naive Grazie bereits den Kleistschen Text Uber das Marionettentheater inspiriert hatte. Kleist hatte da als eigentlichen Bruch in der Anmut, als ihre Zerstörung den Versuch charakterisiert, sie durch Reflexion herzustellen. Und er hatte diese willkürliche Trennung der köiperlichen Bewegungen von ihrem geistigen Mittelpunkt, der Seele vom Leib mit den Bildern der Marionette, des Tieres und eben des Marmorbildes konfrontiert. Genau die unmögliche Anstrengung, Schönheit durch ein reflexives, logisches Programm zu erreichen, Körper und Geist durch eine Vernunftanstrengung zu versöhnen, wird von der Novelle Manns fast schon parodiert. Auch der Schriftsteller Aschenbach will sich ja seinem antiken Ideal mehr und mehr annähern, sucht sich selbst zu verschönern, um die Kommunikation mit seinem Marmorbild aufnehmen zu können (64). Alles wird nur falsch, Aschenbach verwandelt sich in eine Attrappe seiner selbst, einen durch Schminke aufgemotzten Greis, grässliche Maske der idealen Schönheit. Ein Prozeß der Aushöhlung ergreift den Schriftsteller schließlich auch körperlich, er erliegt am Ende der Pest, der sog. indischen Cholera, die ganz Venedig heimgesucht hatte. Wie im Zauberberg bildet dies aber nur die leitende Metapher eines anderen Aushöhlungs- oder Entsubstantialisierungsprozesses, die Thomas Mann hier wie vielfach in seinen Texten ins Auge faßt. Sie sind noch in einem weiteren Sinne autoreflexiv, beschrieben wird nicht allein der Tod eines Künstlers, eines Schriftstellers, einer tradierten ästhetischen Existenz. Die Texte Thomas Manns und insbesondere der Tod in „Venedig" beschreiben auch oder sogar vor allem sich selbst: die Ablösung der Literatur oder der ästhetischen Produktion überhaupt vom Werk, das von einem einzelnen Autor in isolierter Anstrengung, mit „Genauigkeit des Willens" oder gar,.Zucht" erreicht werden könnte. Die Decadence der Literatur vom 19. ins 20. Jahrhundert formuliert Mann als ihren Übergang ins reine, haltlose Phantasieren - „die Hände auf dem Rücken und den Blick am Boden, gefesselt" - , als Transformation in einen jedenfalls in keinem Buch mehr materialisierbaren Bilderstrom. Endgültig wird Italien zum Bild einer negativen Sehnsucht, die auf „mangelhafter Erkenntnis" beruht. Bei der Literatur über Italien handelte es sich schon immer um Literatur zweiten Grades, Literatur über Literatur, um dichte intertextuelle Verflechtungen der südlichen Phantasien. Hier geht sie einen Schritt weiter, wird die Kraft der Phantasie von der Verdichtungskraft der Buchstaben auf Papier abgelöst, ganz bewußt in ,leere' Formulierungen geführt. Nicht mehr Literatur über Literatur sondern Literatur nach der Literatur. In ganz klassischer Manier setzt Thomas Mann dabei die große Novellentradition von Boccaccio über Goethe und Kleist ins 20. Jahrhundert fort. Dort bildete immer eine Notsituation - die Pest (in Florenz) bei Boccaccio, die (französische) Revolution bei Goethe, das Erdbeben (von Lissabon) oder andere Naturereignisse bei Kleist - den Rahmen für die „unerhörten" internen Ereig-

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nisse der Novellen. Bei Thomas Mann wird die Notsituation, also der Ausbruch der Pest, der im Decamerone an den Anfang, als Auslöser der Erzählungen fungierte, hier konsequent an den Schluß, als Beendigung der Erzählung gesetzt. Der Tod in Venedig erzählt so nicht allein das Ende eines einzelnen Schriftstellers, er bildet einen durchaus auch literarhistorisch sinnvollen Abschluß einer großen Gattungstradition. Nicht umsonst hat Koeppen gerade diese Erzählung zunächst mit seinem Tod in Rom travestiert, in einer späten Eloge auf Thomas Mann als meisterliche Konstruktion gewürdigt. Alles wird erzählt, wie einmal erzählt worden ist, aber nichts ist tatsächlich noch so erzählbar, zumindest nicht mehr so aufschreibbar, festhaltbar, zu sichern, Text auf Papier, der vervielfältigt wieder vielfach gelesen würde. Dieser Text beschreibt nicht mehr das Lesen des 19. Jahrhunderts, er sucht das Sehen des 20. Jahrhunderts einzufangen, das sich von den Buchstaben ab- und den Bildern zugewendet hat. Wie bei Goethe oder Kleist gibt es das unerhörte Ereignis, hier die Begegnung des Schriftstellers mit seinem Apoll, durch die alles außer Ordnung gerät, um am Ende durch den Tod wieder geordnet, zumindest zur Ruhe zu kommen. Der Ausnahmezustand, in den durch diese Begegnung der bis dahin hoch disziplinierte Kulturarbeiter gerät, und in dem sich schließlich die ganze Stadt befindet, wird von Thomas Mann in Anspielung an den Dionysos-Mythos als Auflösung jeglichen Kulturzustands beschrieben. Man kann den Tod in Venedig durchaus als Allegorie des Untergangs aller Zivilisation, Kultur, Ordnung und Kunst verstehen, d.h. natürlich aus der Perspektive der Erzählung oder des Erzählers Thomas Mann, der in diesem Sinne lauter Untergangsgeschichten geschrieben hat, von den Buddenbrooks über den Zauberberg bis hin zum Fausiws-Roman. Setzt man sie in ihren kultur- und medienhistorischen Kontext, so bleiben es zwar t/niergangs-Geschichten, allerdings mit einer anderen Konnotation: Beschrieben wird der Untergang einer ganz bestimmten, tradierten Zivilisation mit der ihr eigenen Literatur, ausgelöst durch die Entstehung einer anderen Kultur, einer durch neue technische Medien sich entwickelnden Umschreibung tradierter Formen.7 Sie läßt tatsächlich ihre zentralen Figuren, ihre konstitutiven Begriffe untergehen, d.h. den Autor und sein Werk, die geschlossene(n) Geschichte(n), die es erzählt, irgendwann auch die Figur, mit der Autor und Werk immer rechnen, in der ihr Ruhm begründet ist: den passiven Leser, das bloß rezeptive Publikum. Als bedrohliche Bilder sind die solchen Untergang auslösenden Medien in den Texten Thomas Manns alle präsent. Im Zauberberg gibt es das Kino, in das sich die Krankengesellschaft einmal begibt, um sich verwirrt und erschrocken von den flimmernden, viel zu schnellen Bildern ohne Sinn und Verstand wieder abzuwenden. Im Tod in Venedig phantasiert der Schriftsteller einmal einsam am Strand, und ein fotografischer Apparat steht in seiner Nähe, „scheinbar herrenlos". Der „Geist der Erzählung", der noch im Erwählten ganz leicht und selbstbewußt die Geschicke des Romans gelenkt

7

Vgl. J. Hörisch, „Die deutsche Seele up to date. Sakramente der Technik auf dem Zauberberg". In: Arsenale der Seele. Literatur- und Medienanalyse seit 1870. Hg. von. F.A. Kittler und G. C. Tholen. München 1989. S. 13-24.

Italienreisen

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hatte, verliert mit den neuen Apparaten, die nur noch Bilder produzieren, seine Legitimation, das autorisierte Werk löst sich auf in Lüge, Posse, künstlichen, falschen Schein. Mit der Erzählung „Mario und der Zauberer" hat Thomas Mann 20 Jahre nach dem Tod in Venedig das in eine durchaus politische These umformuliert. Wo die Bilder vom Text getrennt werden, keine Erzählung mehr umfangreiche Erklärungen für das Wahrgenommene bereitstellen, können der Einzelne, vor allem aber das Volk, die Masse, durch die schnellen, flimmernden Oberflächen manipuliert werden, wird das Bewußtsein außer Kontrolle gesetzt, werden die Körper psychisch, durch unbewußte Einflußnahmen abhängig gemacht. Natürlich sind die Erzählungen nicht einfach verschwunden, sie werden nur mit und in anderen Medien erzählt. Der Fotoroman, das Kino, das Fernsehen haben die narrativen Strukturen übernommen, die einmal im Printmedium von Novelle und Roman realisiert worden waren. In den Zeitungen, die ja wohl den Tod des berühmten Schriftstellers in aller Welt verbreitet hatten, wird die Geschichte Italiens weitererzählt, der „Tod in Venedig" in immer neuen Variationen etwa vom Reiseteil der Wochenzeitschrift DIE ZEIT auch noch 1994. Alle Paläste sind schwarz. Die Glamourpassage wird zur Parade der Schatten. Spot an! Über Prachtfassaden und halbverschimmelte Wände zittert der Scheinwerfer des Vaporetto. Plötzlich die Vision: ein Fenster. Zwischen kunstvoll gerafften Vorhängen schweben Gemälde, luftige Phantasien wie auf Canalettos Veduten: Kandelaber flackern, Gläser klirren, Lachen weht herüber. Kein Mensch ist zu sehen. Canale Grande: Die Gespenster bitten zum Tanz. 8

Mit allen Mitteln der tradierten Literatur erzählt dieser Artikel den Prozeß der Umformung der Lagunenstadt in eine reine Unterhaltungskulisse für Touristen, die Flucht der Venezianer aus Venedig, die „postindustrielle Wiederbelebung" von etwas, das nur noch in den Computer-Programmen der Reisebüros existiert. Weder Thomas Mann noch Lucino Visconti bleiben unerwähnt. Tod in Venedig! Gerüchten zufolge will der jetzige Besitzer Aga Khan die Schmerzenskulisse zum modernen Kongreßzentrum umbauen. Und die blaublütigen Gäste? Die unglücklichen Künstler, von Aschenbach und seine Freunde? Die ganze quälende schöne Morbidezza? [...] Was schert den Venezianer das künstliche Leben am Kopf des Tourismus [...]?

Ebenso bilden die einschlägigen Mythen ein Element der Zeitungskomposition. Schon vergleichen spöttische Zungen, [...] Venedig mit Penelope, der Gemahlin des Odysseus. Während seiner Irrfahrten hielt sie ihre zudringlichen Freier hin, indem sie erstmal ein Leichentuch für ihren Schwiegervater Laertes wob. Nachts trennte sie es wieder auf in der Hoffnung, daß ihr verschollener Gatte draußen auf See inzwischen die richtige Kurve zurück nach Ithaka kriege [...].

Nur ist der Mythos hier nicht mehr emblematisch für eine kulturelle Situation, bildet durchaus kein notwendiges Zitat in der Selbstreflexion des Textes wie 8

A. Lueg, .Andrang auf San Michele". DIE ZEIT, 7.1.1994. S. 46.

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noch bei Thomas Mann. Er bildet ein multiples Element, beliebig anwendbar auf jedes visuelle Ensemble, ob es nun Tod in Venedig, Tod in Rom,... Berlin, ... New York oder sonstwie genannt wird, der Mythos „legt der Wahrnehmung lächelnd immer neue, falsche Fährten". Als „phantastischer Schlamassel" wird die ganze städtische Situation schließlich gekennzeichnet, unauflösbare Verwirrung von Schein und Sein, sich auflösende Steinbögen im Nebel, auf die die Touristen ihre Bilder projizieren. „Ein Odysseus, der Venedig endgültig raushauen würde aus seinem phantastischen Schlamassel, ist nirgends in Sicht." Nur die Berührungen mit der idealen Phantasie, die Begegnung mit dem unmöglichen Objekt der Begierde, werden hier doch schließlich realisiert. Hatte Gustav Aschenbach seinem Tadzio nur in die Augen schauen können, und hatten sie tatsächlich nur einmal ein paar Worte gewechselt, die neue Technik eröffnet dann doch etwas andere Möglichkeiten. Später Abend, vor dem Fenster liegt San Marco wie eine Postkarte mit 3-D-Effekt. [...] Kinder mit Leuchtstoffarmreifen jagen Uber die spiegelfeuchte Fläche wie verirrte Blitze. Abseits unter einem der kleinen Torbögen steht ein Mann und küßt sein Mobiltelefon.

Barbara

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After London - Die Metropole als Zukunftsruine bei Richard Jefferies (1885) und Ronald Wright (1997)

Here in the city the goods of civilization are multiplied and manifolded; here is where human experience is transformed into viable signs, symbols, patterns of conduct, systems of order. Here is where the issues of civilization are focused. If the destructive forces in civilization gain ascendancy, our new urban culture will be stricken in every part. Our cities, blasted and deserted, will be cemeteries for the dead [...]. (Lewis Mumford, The Culture of Cities)'

Modernisierung - Großstadt - Ruine Die hier zu betrachtenden Dystopien, Ronald Wrights Α Scientific Romance (1997) und Richard Jefferies' After London (1885),2 entstanden in für Untergangsvisionen besonders empfänglichen ,Endzeiten' des 19. respektive 20. Jahrhunderts. Mit einem Abstand von etwa einem Jahrhundert setzen sich beide mit den Konsequenzen des Modernisierungsprozesses auseinander; genauer: den Konsequenzen der industriell-technologischen Modernisierung. Dabei erfolgt im Roman des 20. Jahrhunderts eine deutliche Referenz auf die viktorianische Zeit als Beginn dieses Prozesses, und Jefferies' Roman ist Teil einer Vielzahl intertextueller Bezüge, die sich bei Wright gerade auf diese Periode finden. Beide Romane prognostizieren Zerstörung und Zerfall der Metropole London - also das Ende des Lebensraums Großstadt, der wie kein anderer mit zivilisatorischem Fortschritt (im westlichen Verständnis) und daraus resultierender politisch-ökonomischer Macht assoziiert wird. Mit dem Urbanen ist die Zukunft der Menschheit auch in Zeiten .grüner' Gesinnung noch am prägnantesten verbunden,3 und die Zerstörung Urbanen Raums vermag apokalyptische Vorstellungen vom Ende der Zivilisation besonders drastisch vor Augen zu führen. Die Großstadt als exemplarischer Raum der Moderne ist der Natur abgerungen; sie formt und kontrolliert die natürliche Umwelt bis hin zu deren scheinbar voll-

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L. Mumford, The Culture of Cities. New York 1938. S. 3, 11. Seitenzahlen im Text beziehen sich auf die folgenden Ausgaben der beiden Romane: Jefferies, After London and Amaryllis at the Fair. London, New York 1948, und Wright, A Scientific Romance. London 1998. Vgl. D. Harvey, Justice, Nature and the Geography of Difference. Oxford 1996. S. 403 und A. Southall, The City in Time and Space. Cambridge 1998. S. 4, sowie allgemein zum Komplex Stadt und Modernität neben zahlreichen anderen Publikationen D. Frisby, Cityscapes of Modernity. Cambridge 2001.

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kommener Verdrängung.4 Konsequenterweise wird eine Welt nach London, nach dem Zusammenbruch der technologischen Zivilisation, in den Dystopien von Wright und Jefferies re-naturiert. Die Natur holt sich zurück, was ihr von den Städtebauern abgetrotzt wurde, und von der einstigen Metropole bleiben nur noch Ruinen stehen. Georg Simmel, dem wir vielzitierte Einsichten über „Die Großstädte und das Geistesleben" (1903) verdanken, hat in einem anderen Aufsatz dieser Schaffensperiode (aus dem Jahr 1907) das Wesen der Ruine wie folgt erfaßt: „die Gleichung zwischen Natur und Geist, die das Bauwerk darstellte, verschiebt sich zugunsten der Natur. [...] jetzt erscheint der Verfall als die Rache der Natur für die Vergewaltigung, die der Geist ihr durch die Formung nach seinem Bilde angetan hat." Wo nicht nur das singulare Bauwerk, sondern eine ganze Stadt zur Ruine wird, kann die Natur sich in großem Stil wieder durchsetzen. Der Modernisierungsprozeß kommt zum Stillstand, und im temporalen Sinnsystem der Stadt wird ihre Vergangenheit signifikanter als die Gegenwart oder gar eine mögliche Zukunft. „Die Ruine", schreibt in diesem Sinne auch Simmel, „schafft die gegenwärtige Form eines vergangenen Lebens, nicht nach seinen Inhalten oder Resten, sondern nach seiner Vergangenheit als solcher."5 Zukunftsvisionen von London als Ruinenstadt, als Ort mit Vergangenheitsdominanz, finden sich im 19. Jahrhundert in größerer Zahl und scheinen mit dem Prozeß der beispiellosen Modernisierung, den gerade diese Metropole durchmachte, untrennbar verbunden. Der Transformation Londons in eine fortschrittliche Kapitale dienten in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts nicht nur neue Repräsentationsbauten oder eine neue Kanalisation, sondern vor allem spektakuläre Maßnahmen im Straßenbau, der rasante Ausbau des Eisenbahnnetzes sowie erstmals der Bau einer Untergrundbahn - also Maßnahmen, die zum .beschleunigten' Lebensgefühl der Großstadt wesentlich beitrugen.6 Gerade dieses sich modernisierende London wurde auffallend häufig jedoch mit untergegangen Metropolen der antiken Welt verglichen, vor allem dem stolzen Babylon.7 Die Akkumulation von Technologie und Macht in der Zentralstadt des British Empire ging einher mit dem Bewußtsein, daß diese Entwicklung einmal ihr Ende finden würde, also dem klassischen vaniiai-Gedanken. Die Modernisierung Londons konfrontierte seine Bewohner aber auch in einem ganz konkreten, augenfälligen Sinn mit Trümmern der Vergangenheit: Zum einen stieß man bei Bau- und Ausschachtungsarbeiten auf frühere Stadtschichten, sozusagen die Tiefenstruktur der modernen Oberfläche. [Abb. 1] Zum anderen wurde für die 4

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Vgl. so auch R. Lehan, The City in Literature: An Intellectual and Cultural History. Berkeley 1998. S. 13. G. Simmel, „Die Ruine: Ein ästhetischer Versuch". In: Aufsätze und Abhandlungen 19011908. Hg. von A. Cavalli und V. Krech. Bd. 2. Frankfurt/M. 1993. S. 124-130, hier S. 124125 u n d S . 129. Vgl. hierzu G. Simmel, „Die Großstädte und das Geistesleben". In: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908. Hg. von R. Kramme u.a. Bd. I. Frankfurt/M. 1995. S. 116-131, h i e r S . 117. Vgl. hierzu insbesondere L. Nead, Victorian Babylon: People, Streets, and Images in Nineteenth Century London. New Haven 2000.

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Modernisierung viel Altes zerstört; das neue London wurde auch auf Ruinen errichtet, die es selbst schuf, und zwar besonders im Interesse der neuen Verkehrswege. Die Eisenbahnlinien drangen oberirdisch zu riesigen neuen Endbahnhöfen im Stadtzentrum vor und vernichteten dabei gewachsene Wohngegenden;8 auch die Baumaßnahmen für die Untergrundbahn und andere Tunnelprojekte brachten massive Zerstörung mit sich. Wie sich durch solche Prozesse nicht nur die Stadtgeographie, sondern auch die Wahrnehmung der Stadt änderte, betont Lynda Nead mit besonderem Bezug auf die neuen Verkehrswege unter der Stadt: The world's first underground railway, which opened in London in 1863, played a significant part in this reconceptualisation of space. Now, instead of traversing space by following the logic of streets and other identifiable external features, people could travel below the ground, on routes that obeyed the logic of their own lines and expediency. They could descend at one point in the city and emerge at another, with little sense of the spaces between, or the meaning of the time taken to make the journey.'

Die Londoner, die diese Modernisierung ihrer Stadt, ihrer Bewegungsmöglichkeiten und ihrer Wahrnehmung erfuhren, wurden gleichzeitig jedoch mit Visionen vom Ende dieser Modernität konfrontiert. Besonders deutlich wird diese Gleichzeitigkeit in einem London-Buch, das der französische Künstler Gustave Dore und der englische Schriftsteller Blanchard Jerrold gemeinsam verfaßten. Ihr London (1872) gehört zu einer umfangreichen London-Erkundungsliteratur des späteren 19. Jahrhunderts.10 Dord und Jerrold durchstreiften die Stadt zu Fuß, um sie in all ihren zeitgenössischen Facetten, in ihrem Glanz ebenso wie im Elend ihrer Slums, wahrnehmen zu können. Immer wieder fangen Text und Bild [Abb. 2] die geschäftige Stadt mit ihren eiligen Menschenmassen, ihren Gelegenheiten zum Warenkonsum und ihrem dichten oberirdischen Verkehr ein: The view immediately to the west of London Bridge is a many-sided one. The whole round of modern commercial life is massed in the foreground, and the mighty dome which dominates London [i.e. die Kuppel von St. Paul's Cathedral], swells proudly over the hum, and hiss, and plashing, and whistling, and creaking of the hastening crowds. The bales are swinging in the air; files of dingy people are passing into the steam-boats; the sleepy barges lower masts to pass the bridges; the heavy traffic between the City and the Borough is dragging over Southwark Bridge; trains glide across the railway arches into the prodigious Cannon Street shed."

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Siehe hierzu eine Stelle aus Charles Dickens' Roman Dombey and Son (1847/8), in der die neue Eisenbahn wie ein Erdbeben die gewachsenen Strukturen von Camden Town zerstört. Sie wird in der einschlägigen Forschungsliteratur vielfach zitiert, z.B. bei F. Sheppard, London 1808-1870: The Infernal Wen. London 1971. S. 273. Nead 2000, S. 36. Vgl. etwa Henry Mayhews London Labour and the London Poor (1861/2), Adolphe Smith und John Thompsons Street Life in London (1887) und Charles Booths Life and Labour of the People in London (1889). G. DonS und B. Jerrold, London. London 1971. S. 37.

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Aber Doris letztes Bild [Abb. 3] visualisiert eine Zukunft, in der London, gemäß „Macaulay's dream of the far future, with the tourist New Zealander upon the broken parapets" nur noch Ruine ist.12 Jerrolds Text verweist hier auf eine Vorstellung von Thomas Babington Macaulay, die dieser 1840 formuliert hatte: eines Tages in der Zukunft werden Besucher aus früheren Kolonien in das alte Mutterland kommen und dort nur noch auf die Überreste des ehemals so mächtigen Herzens des Imperiums blicken.13 Die beiden hier zu diskutierenden Romane entwerfen eine ähnliche Vision als Konsequenz der Modernisierung, und zumindest bei Wright erfolgt auch eine explizite Referenz auf die MacaulayStelle (106). In den Romanen wird ein London in Ruinen nicht nur beschrieben, sondern bei Raumreisen der jeweiligen Protagonisten genau erkundet. In beiden Fällen hat diese .Erfahrung' ein starkes Moment des Er-Fahrens: Ein Eindruck von der Zukunftswelt konstituiert sich, weil sich die Protagonisten durch diese Welt bewegen - und durch die spezielle Art, in der sie sich in dieser Welt nur bewegen können, nämlich ohne technische Transportmittel. Hierdurch wird für Leser aus (post-)moderner Zeit ein vor-moderner Zeit/Raum sinnlich-körperlich und damit eingängig simuliert. Beide Romane, die eher der populären als der Hochliteratur ihrer jeweiligen Zeit zuzurechnen sind, können hierdurch den Modernisierungsprozeß unter Rückgriff auf eine konventionelle Ästhetik kritisieren. Daß ihre Kritik recht ähnlich ausfällt, ist nicht zuletzt in den affinen Voraussetzungssystemen von Wright und Jefferies begründet, die vor der genaueren Betrachtung der Texte kurz angesprochen werden müssen.

Jefferies und Wright - Verwandte Zeitgeiste Beide Autoren haben ein ausgeprägtes ökologisches Interesse.14 Der heute fast vergessene Journalist Richard Jefferies (1848-1887) entstammte einer Farmerfamilie aus Südengland. Er wurde mit seinen Essays und Büchern über die Natur in dieser Gegend um die Wende zum 20. Jahrhundert populär, wie auch mit seinen Beiträgen zur Kinderliteratur, Wood Magic (1881) und Bevis (1882), deren Protagonisten ebenfalls viel Zeit in der Natur verbringen. Sein erster Biograph, der Dichter Edward Thomas, schrieb über Jefferies: „It is he who, above all other writers, has produced the largest, the most abundant, and the most truthful pictures of southern English country, both wild and cultivated."

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Ebd., S. 190. T.B. Macaulay, „Von Ranke". In: The Life and Works of Lord Macaulay Complete. Vol. IV: Essays, Biographies etc. London 1904. S. 454-489. Vgl. zu dieser Macaulay-Stelle auch Nead 2000, S. 212-215, P. Ackroyd, London: The Biography. London 2000. S. 580 und, in einem weiteren Kontext, R. Chapman, The Sense of the Past in Victorian Literature. London 1986. S. 7. Ihre Romane wären somit auch ideale Gegenstände für eine ökokritische Lektüre. Vgl. hierzu C. Glotfelty und H. Fromm, Hgg., The Ecocriticism Reader: Landmarks in Literary Ecology. Athens 1996.

After London

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Für Raymond Williams ist Jefferies „a major contributor to the social history of rural England". 15 Jefferies schrieb zu einer Zeit, als das englische Landleben aufgrund eines florierenden Welthandels mit vielen Importen (besonders aus den Kolonialgebieten) und der sich ausbreitenden Urbanisierung einem dramatischen Wandel ausgesetzt war und unter zunehmender Entvölkerung litt. Die Relation zwischen Stadt und Land, und damit die Frage nach dem Verhältnis von Natur und Zivilisation, erlangte eine neue Dringlichkeit.16 Der in England aufgewachsene Ronald Wright wanderte nach seinem Studium der Archäologie nach Kanada aus und hat sich seitdem insbesondere als Reiseschriftsteller einen Namen gemacht. Seine Reiseberichte - wie Cut Stones and Crossroads: A Journey in the Two Worlds of Peru (1984) und Time Among the Maya: Travels in Belize, Guatemala, and Mexico (1989) - zeichnen sich durch ein ausgeprägtes ökologisches Anliegen aus, aber auch ein starkes Interesse an untergegangenen Kulturen, das er ebenfalls mit Richard Jefferies teilt. In Jefferies' Beschreibungen der südenglischen Landschaft finden sich immer wieder Schilderungen der dort anzutreffenden Relikte aus prähistorischer und römischer Zeit. Mit dieser Zuwendung zur Vergangenheit repräsentieren Jefferies und Wright eine allgemeine Tendenz ihrer jeweiligen Zeit. Der Eindruck eines rapiden Wandels - vor allem im Bereich der Raum und Zeit besonders affizierenden Transport- und Kommunikationstechnologien - hat im späten 19. wie im späten 20. Jahrhundert das Interesse an Zeit und die Reflexion über Zeit in all ihren Dimensionen intensiviert.17 Viktorianisches Vergangenheitsinteresse manifestierte sich u.a. in einer regen und populären Historiographie und Archäologie; ein Mittelalter-Revival fand Ausdruck in den Künsten und prägte durch neugotische Architektur - ein eindrucksvolles Beispiel sind die Houses of Parliament - paradoxerweise das Stadtbild des sich modernisierenden London. Die zeitlich gegengerichtete Spekulation über die Folgen der Modernisierung fand ihren prototypischen literarischen Niederschlag in Science Fiction und Utopie; bekannte Beispiele sind William Morris' News from Nowhere (1890/91) oder Η. G. Wells' The Time Machine (1895). Eine ähnlich hohe Sensibilität für Zeit und 15

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E. Thomas, Richard Jefferies. London 1978. S. 297; R. Williams, The Country and the City. London 1973. Zu Jefferies vgl. auch W.J. Keith, Richard Jefferies: A Critical Study. London 1965; S.J. Looker und C. Porteous, Richard Jefferies: Man of the Fields. London 1965; Β. Taylor, Richard Jefferies. Boston 1982. Vgl. so etwa R. Sennett, Fleisch und Stein: Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation. Berlin 1995 [Flesh and Stone, 1994] S. 394 oder U.C. Knoepflmacher, „The Novel Between City and Country". In: The Victorian City: Images and Realities. Hg. von H.J. Dyos und Μ. Wolff. London 1973. S. 517-536, hier S. 517. Dies ist vielfach dargestellt worden. Vgl. u.a. H. Buckley, The Triumph of Time: Α Study of the Victorian Concepts of Time, History, Progress, and Decadence. Cambridge, MA 1966; R. Wendorff, Zeit und Kultur: Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa. Opladen 1980 und für das späte 19. Jahrhundert S. Kern, The Culture of Time and Space 1880-1918. London 1983. Zur Beschleunigung von Wahrnehmung und Erfahrung im Kontext der Modernisierung vgl. W. Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise: Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. München 1977, und P. Virilio, Revolutionen der Geschwindigkeit. Berlin 1993.

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Zeitlichkeit im ausgehenden 20. Jahrhundert wird ebenfalls auf Veränderungen zurückgeführt, „die sich - hervorgerufen durch die zunehmende Technologisierung und Medialisierung der modernen Zivilisation - sowohl in unserem alltäglichen Zeitumgang als auch in der globalen Zukunftsverantwortung des Menschen gegenüber der Natur - immer deutlicher abzeichnen". 18 Es ist angesichts solcher Parallelen im Zeitgefühl nicht unmotiviert, daß in Ronald Wrights A Scientific Romance19 der Protagonist in der Silvesternacht zum Jahr 2000 per viktorianischer Zeitmaschine in das London des Jahres 2500 reist und sich dort als „the last postmodern in England" (346, meine Hervorhebung) wiederfindet.

Der Zukunftsraum von Α Scientific

Romance

Wrights Protagonist und Ich-Erzähler David Lambert ist für Zeit besonders sensibilisiert. Als Spezialist für Industriearchäologie arbeitet er in einem dem Beschleunigungs- und Transportaspekt der Modernisierung gewidmeten „Museum of Motion" im ehemaligen Bahnhof St. Pancras. Die technologisierte Welt der Viktorianer hat Lambert schon immer fasziniert: „I wanted to see the mechanical dragons of the Coal Age as they were seen when they were first seen. What dreams and nightmares they inspired, what hopes and dreads and intimations" (17-18). Weil Lambert auch über Η. G. Wells gearbeitet hat, erreicht ihn Uber eine Anwaltskanzlei ein von Wells 1946 für einen künftigen Kenner seines Werks geschriebener Brief. Hier teilt Wells mit, daß inspiriert durch seinen Roman tatsächlich eine Zeitmaschine konstruiert wurde, und zwar von einer seiner Geliebten, einer genialen russischen Physikerin. Diese ist mit der atombetriebenen Maschine in eine andere Zeit entschwunden, aber nie zurückgekehrt. Wells glaubt, daß die Maschine genau ein Jahrhundert nach ihrer ersten Inbetriebnahme, in der Nacht zum Jahr 2000, wieder auftauchen wird, denn sie wurde von ihrer fortschrittsgläubigen Konstrukteurin mit einer entsprechenden Notfallautomatik ausgestattet: „the march of science will have made these discoveries a commonplace. The people of 1999 will have no more trouble bringing me safely in than we would have stopping a runaway brougham" (28). Wells bittet seinen zukünftigen Leser, sich um die Zeitmaschine zu kümmern, und Lambert kommt der Bitte nach - nicht nur wegen seiner Affinität zu Wells, sondern auch, weil er selbst ein starkes Motiv für eine Zeitreise hat: Seine frühere Freundin ist an der Creutzfeld-Jakob-Krankheit gestorben, und Lambert selbst zeigt erste Symptome der Krankheit, für die er die ökologische Bedenkenlosigkeit des 20. Jahrhunderts verantwortlich macht (83).

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W.C. Zimmerli und M. Sandbothe, Hgg., Klassiker der modernen Zeitphilosophie. Darmstadt 1993. S. 1; vgl. auch H. Lübbe, Im Zug der Zeit: Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart. Berlin 1992. S. v. Für seinen Titel wählt Wright bezeichnenderweise jenen Begriff, mit dem H.G. Wells selbst seine Science Fiction benannt wissen wollte.

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Als er tatsächlich in den Besitz der Zeitmaschine kommt, hofft Lambert, in der Zukunft ein Heilmittel finden zu können. Dieser Optimismus entspringt allerdings mehr seiner Verzweiflung als seinem professionellen Wissen, denn nicht nur hat er die vielen negativen Utopien des 19. Jahrhunderts gelesen (106), sondern weiß vor allem auch als Archäologe, daß Zivilisationen nicht immer nur größerem Fortschritt entgegen streben, sondern ebenso häufig untergehen: „that civilizations, like individuals, are born, flourish, and die; that the very qualities which bring them into being - their drive, their inventions, their beliefs, their ruthlessness - become indulgences that in the end will poison them" (82-83). Tatsächlich ist das London, in das ihn die Maschine transportiert, eine untergegangene Welt. Lambert findet sich in einer menschenleeren Stadt wieder, die, wie ganz England, von der Natur reklamiert worden ist - einer üppigen tropischen Natur, denn die Klimaerwärmung ist dramatisch fortgeschritten. Unverantwortlicher Umgang mit der Umwelt und dem genetischen Erbe hat den Untergang der modernen westlichen Zivilisation herbeigeführt. Wie Lambert später feststellt, haben nur im kühleren Schottland Menschen überlebt - in einer isolierten, vor-technologischen Zivilisation, in der Menschen mit schwarzer Hautfarbe (Ergebnisse eines genetischen Experiments) Rudimente schottischer Lebensweise und christlicher Religion pflegen. Das Ende des 20. Jahrhunderts ins Wanken geratene Verhältnis von Zentrum und Peripherie in der britischen Kultur hat sich hier in fast grotesker Weise umgekehrt; 20 nur an der geographischen Peripherie gibt es noch eine menschliche Gesellschaft. Deren Zivilisation wird den Stand früherer industrieller Gesellschaften aber nie mehr erreichen können, weil alle hierfür erforderlichen Rohstoffe mittlerweile aufgebraucht sind. Die Möglichkeit, daß anderswo auf der Welt komplexere Zivilisationen überlebt haben könnten, gibt Lambert angesichts der fortgeschrittenen Globalisierung seiner eigenen Zeit schnell auf (115). Da sich somit alle Hoffnung auf eine Therapie seiner Krankheit zerschlagen hat, bestimmt Lambert seine Aufgabe in der Zukunft als archäologischer Detektiv.21 Er will aufdecken, was nach ,seiner' Zeit mit seiner Zivilisation geschehen ist und untersucht dafür die von ihr im Zukunftsraum noch erhaltenen Relikte. Diese Spurensuche resultiert in einer komplexen Gleichzeitigkeit der Zeitebenen: Zwar befindet sich Lambert rein chronologisch betrachtet in der Zukunft, aber per Archäologie reist er zurück in die Vergangenheit, die einmal seine Gegenwart war. Dieser Kollaps von Zeitebenen innerhalb des Raumes London unterstreicht, daß die Progression der Moderne gestoppt wurde: Im London des

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Vgl. in diesem Zusammenhang R. Shields, Places on the Margin: Alternative Geographies of Modernity. London, New York 1991. S. 278: „An alternative geography begins to emerge from the margins which challenges the self-definition of centres [...]." Zum Detektiv als typischer Figur der GroBstadtkultur seit dem 19. Jahrhundert vgl. u.a. J. Donald, Imagining the Modern City. London 1999. Zur Parallele zwischen Detektiv und Archäologen, die bildlich gesprochen beide gegen den Zeitstrahl reisen, vgl. V. Neuhaus, „Die Archäologie des Mordes". In: Agatha Christie und der Orient: Kriminalistik und Archäologie. Katalog zur Ausstellung im Ruhrland-Museum Essen. Hg. von C. Trümpier. Bem 1999. S. 425-434.

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Jahres 2500 ist sehr offensichtlich das „Ende der Geschichte" (138) erreicht, und für die Erkundung des Schicksals menschlicher Zivilisation macht nur der Blick zurück noch Sinn. Trotzdem muß sich Lambert zu seiner neuen Gegenwart und dem jetzt .ruinierten' Raum Londons in eine Relation setzen. Die Stadt hat sich für ihn binnen weniger Stunden in ein unvertrautes, un-heimliches Chronotop verwandelt, in eine (im Foucaultschen Sinne) absolute Heterotopic des Großstädtischen.22 Die Lesbarkeit dieses Londons, das nicht mehr als .großstädtisch' erfahrbar ist, ist dem Städter aus dem späten 20. Jahrhundert nur in Grenzen möglich.23 Lamberts urbane Wahrnehmungs- und Fortbewegungsweisen sind außer Kraft gesetzt; alle Diskurse, innerhalb derer die Metropole im späten 20. Jahrhundert verhandelt wurde (Lebensstile, Globalisierung, Migration, soziale Gegensätze, Konsumwelt, etc.), sind obsolet. Die Nutzlosigkeit gewohnter Wahrnehmungsund Deutungsmuster eröffnet sich Lambert bereits am ersten Londoner Schauplatz, den er in der Zukunft betritt. Es handelt sich bezeichnenderweise um einen Ort, der wie kaum ein anderer das London Ende des 20. Jahrhunderts symbolisiert: die seit den 1980er Jahren zum neuen Wirtschafts- und Finanzzentrum umgestalteten Docklands. Das hervorstechende Wahrzeichen der erneuerten Docklands ist der 1992 als höchstes Gebäude in Großbritannien erbaute Büroturm der Canary Wharf.24 Dieses Wahrzeichen für postindustrielle Wirtschaftspotenz ragt in Wrights Roman auch noch Mitte des dritten Jahrtausends in den Himmel und stellt für Lambert eine willkommene Orientierungsmarke dar - aber der Turm ist unverkennbar eine Ruine: Rags of metal cladding still cling here and there; a few windows even have their glass, though most are dark mouths dribbling vegetation down their chins. The roof - once a glass pyramid which threw the sun like the electrum tips of Egypt - is a tousled wig falling down to a green ruff on a ledge near the top floors. (116)

Die Signifikanz, die diesem Gebäude in seiner Erbauungszeit zugeschrieben wurde, hat es verloren; für den Reisenden aus dieser Zeit symbolisiert es jetzt,

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Vgl. u.a. M. Foucault, .Andere Räume". In: Stadt-Räume. Hg. von. M. Wentz. Frankfurt/M. 1991. S. 65-72 [orig. Vortrag am Cercle d'Etudes architecturales, Paris, 1967], Zur Lesbarkeit einer Stadt vgl. K. Lynch, The Image of the City. Cambridge, ΜΑ 1986, zuerst 1960. S. 2-3: „the ease with which its parts can be recognized and can be organized into a coherent pattern"; dieses Erkennen und Organisieren erfolgt aufgrund von ,.mental images" im wahrnehmenden Bewußtsein, das auf sinnlich wahrnehmbare Merkmale der Umgebung reagiert. Zur Rolle von Körper und Sinnen in der Raumerfahrung vgl. allgemein auch P. Rodaway, Sensuous Geographies: Body, Sense and Place. London 1994. Zur wirtschaftlichen Symbolkraft gerade dieses Turms vgl. auch Ackroyd 2000, S. 765. Vergleiche des Turms von Canary Wharf mit dem ehemaligen World Trade Center in New York drängen sich auf - also mit einem Gebäude, das mit seinem gleich doppelten Turm absolute Wirtschafts- und Finanzpotenz zu signalisieren schien. Für Michel de Certeau war dieses Zentrum „the most monumental figure of a Western urbanism". Vgl. „Practices of Space". In: On Signs: A Semiotics Reader. Hg. von M. Blonsky. Oxford 1985. S. 122-144, hierS. 126.

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wie der Turm von Babel, die Hybris einer Zivilisation, die ihre Grenzen nicht erkennen wollte. Lambert besteigt den Turm und erkennt erstmals das Ausmaß des Wandels der Stadt, die er aus seiner Zeitperspektive erst kürzlich verlassen hat: „What I see is a rippling forest canopy, broccoli-green in this light, broken by the serpentine Thames - much wider than in our day, lozenged with silty islands - and patches of moth-eaten velvet which must be swamps" (130). Mit dieser Besteigung wendet Lambert ein typisches Wahrnehmungsschema an, mit dem man sich in einer fremden Umgebung Orientierung verschafft: den Blick von einem Aussichtspunkt, der auch eine klassische touristische Sehweise ist. Wie ein Tourist empfindet Lambert bei seinem Blick über die für ihn neue Stadtlandschaft zunächst auch Staunen. Dann aber überwiegt das Interesse des Entdekkers, der sich zum Zweck der Erkundung auf dem Boden der Stadt bewegen muß. Gerade dieses Bewegen verstärkt jedoch noch Lamberts Gefühl der Entfremdung, denn im London nach der Moderne ist er auf vor-moderne Möglichkeiten der Lokomotion zurückgeworfen. Die für Städter seit dem späten 19. Jahrhundert normale Form des Ort-zu-Ort-Transports per Maschine gehört der Vergangenheit an. Richard Sennett hat in seiner Studie zur Geschichte der körperlichen Erfahrung der Stadt gezeigt, wie nachhaltig technische Verkehrsmittel mit ihrer Geschwindigkeit und ihrem Komfort dazu beigetragen haben, den modernen Stadtbewohner körperlich zu passivieren.25 Schon bei seinem ersten Versuch, die Turmruine von Canary Wharf zu besteigen, merkt Lambert schmerzlich, daß er sich in einer re-naturierten Welt re-aktivieren muß: „Without electricity you have to walk up, all the way, in the bat-filled darkness of an emergency stairwell" (121-122). Was von den modernen Verkehrssystemen noch erhalten ist, wird Lambert gar zur tödlichen Gefahr - wie die einstürzenden Tunnelbauten der viktorianischen Ingenieure - oder erscheint als merkwürdiger Fremdkörper in der neuen Dschungelwelt, wie die unbewachsenen Linien der Autobahn: „too crisp and straight for all this desolation - as if something were keeping the old roads open to the city's edge" (136). Außer seinen Gehwerkzeugen steht Lambert für die Lokomotion nur ein Faltkajak zur Verfügung, das er seiner Ausrüstung für die Expedition in die Zukunft in weiser Voraussicht hinzugefügt hat und mit dem er die Themse hinauf in das alte Londoner Zentrum paddelt. Auch diese Art der Fortbewegung, die ihn zur Wiederentdeckung der Langsamkeit zwingt, ermöglicht ihm vorübergehend eine ungewohnt-ästhetisierte Wahrnehmung: St Paul's, if it exists, was entirely hidden, but the Monument poked up briefly - like a limestone candle melted at the tip. The lovely Gothic face of Parliament has slipped into the water, exposing a warren of chambers colonized by mynah birds and (I think) some trogons. Yet Big Ben still stands - like something from Angkor - huge fig trees in its clockless eyes. (140)

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Vgl. Sennett 1995, insbesondere Kapitel 10.

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Dominant wird bald jedoch wieder sein Eindruck, daß ihm zu Erkundungszwekken aufgrund der wuchernden Vegetation der Durchblick fehlt: „You can't see much from a kayak - it's so low - and you feel trapped like a foot in a shoe" (115). Sobald er ans Ufer tritt, muß Lambert seinen Weg mühsam durch den Dschungel bahnen und kommt nur langsam voran: „a mile took an hour" (141). Das umfangreiche Kartenmaterial, mit dem er sich ausgestattet hat, ist unter diesen Umständen kaum noch nützlich: „Maps and memories tie me to an ancient land that's increasingly imaginary" (170). Auch hierin erweist sich, daß der Modernisierungsprozeß sich in sein Gegenteil verkehrt hat, denn die Modernisierung der Stadt war eng mit dem Projekt der Stadtkartographierung verbunden. Die sich in alle Richtungen ausdehnenden Städte machten Pläne für die Orientierung ihrer Bewohner und Besucher erforderlich, aber auch für die weitere Modernisierung benötigte man immer präziseres Kartenmaterial.26 Das einzige Verkehrssystem, das für Lambert nach den alten Plänen lesbar bleibt, weil es merkwürdigerweise noch klar sichtbar ist, ist das der alten Autobahnen. Dieses besteht jedoch nur noch aufgrund einer ökologischen Perversion des späten 20. Jahrhunderts. Die nach dem Kollaps der Zivilisation nicht mehr genutzten Schnellstraßen wurden zum bevorzugten Ökotop für einen genmanipulierten, besonders pflegeleichten Rasen, der auch im Jahr 2500 noch alle anderen Pflanzen verdrängt. Dank „Ecolawn" hat Lambert bei seinem Vorstoß in den Norden freie Bahn (164-165). Allerdings ist die Straße, die einmal für die motorisierte Lokomotion gebaut wurde, für Lamberts alt-neue Form der Fortbewegung nicht geschaffen; er kann auf dem Kunstgras nicht natürlich, sondern nur mit einer besonderen Technik laufen und empfindet den Weg zudem als monoton: „Boredom's the trouble: no steep hills, no hollows, no hidden bends, each step and prospect utterly predictable: three miles an hour on a great road built for eighty" (186-187). Die Monotonie, die Wrights Protagonist hier empfindet, diagnostiziert Richard Sennett als typische Begleiterscheinung der Wege für technische Verkehrsmittel: „Der Fahrende erfährt die Welt wie der Fernsehzuschauer gleichsam unter Narkose; der Körper bewegt sich passiv, desensibilisiert im Raum, auf Ziele zu f...]."27 In dem Moment, in dem Wrights Protagonist in seiner Bewegung re-aktiviert ist, empfindet er die für eine völlig andere Form der Bewegung und Wahrnehmung angelegte Autobahn als unangemessen. Von einem Wiederentdecken eines genußvollen Gehens, wie es etwa in der Romantik als Reaktion auf die erste Transportrevolution propagiert wurde,28 kann deshalb für ihn keine Rede sein. Die Inadäquatheit modemer großstädtischer Bewegungsformen und Sinneswahrnehmungen ist ein wichtiges Mittel, durch das Wrights Zukunftsentwurf den Eindruck einer wieder vor-modern gewordenen Welt auch körperlichsinnlich suggeriert. Dieses Mittel steht Wright in einer besonders prägnanten 26 27 28

Vgl. Nead 2000, S. 13-14 und S. 21-22. Sennett 1995, S. 24-25. A.D. Wallace, Walking, Literature, and English Culture: The Origins and Uses of the Peripatetic in the Nineteenth Century. Oxford 1993, und R. Jarvis, Romantic Writing and Pedestrian Travel. London 1997.

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Form zur Verfügung, weil er von H. G. Wells das Handlungselement der Zeitreise übernimmt. Der Protagonist von Jefferies After London ist kein Zeitreisender, sondern selbst der Zukunft angehörig. Trotzdem entsteht auch für Jefferies' Leser der Eindruck eines Gegensatzes zwischen den Sinnes- und Körpererfahrungen dieses Protagonisten und jenen der modem-metropolitanen Lebenswelt, und auch bei Jefferies ist die Art der Lokomotion ein wichtiges Element in der Konstruktion der Welt .nach London'.

Der Zukunftsraum von After London In der zukünftigen Welt von After London ist die Erinnerung an die fortschrittliche Vergangenheit fast völlig verblaßt, denn die kurzlebige Materialität der industriellen Moderne hat sich gegenüber dem noch Älteren kaum bewahrt. So ist auch die Transport- und Kommunikationsrevolution des 19. Jahrhunderts für die Bewohner der Zukunft unvorstellbar und wird nur noch in legendenhafter Vereinfachung erinnert: They also sent intelligence to the utmost parts of the earth along wires which were not tubular, but solid, and therefore could not transmit sound, and yet the person who received the message could hear and recognize the voice of the sender a thousand miles away. With certain machines worked by fire, they traversed the land swift as the swallow glides through the sky, but of these things not a relic remains to us. (16)

Die Menschen der Zukunft leben in einer ins Vormoderne zurückgeworfenen Welt, in der sich die Naturunterwerfung der Urbanisierung komplett in ihr Gegenteil verkehrt hat. Die Folgen der Urbanisierung für die Natur hat Jefferies in vielen Schriften festgehalten, zum Beispiel im Essay „The Modern Thames" aus The Open Air (1885). Hier fordert er angesichts der progressiven Verstädterung naturkonservatorische Maßnahmen für den Fluß, von dem die Wirtschafts- und damit politische Macht Londons zu seiner Zeit noch wesentlich abhing: The wild red deer can never again come down to drink at the Thames in the dusk of the evening as once they did. While modern civilisation endures, the larger fauna must necessarily be confined to parks or restrained to well-marked districts; but for that very reason the lesser creatures of the wood, the field, and the river should receive the more protection. If this applies to the secluded country, far from the stir of cities, still more does it apply to the neighbourhood of London.29

Allerdings war Jefferies dem modernen London gegenüber nicht einseitig negativ eingestellt; er verbrachte dort die letzten Jahre seines Lebens und fand gele-

29

R. Jefferies, The Open Air: London 1904. S. 99.

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gentlich sogar an der Rolle des Flaneurs Gefallen. 30 Das Treiben der Großstadt und ihrer Menschenmengen konnte ihn ebenso faszinieren wie etwa Dor£ und Jerrold; allerdings blieb Jefferies sich angesichts des Spektakels der Metropole immer auch deren Naturferne bewußt und registrierte dankbar Momente, in denen die Natur im großstädtischen Treiben spürbar blieb, wie hier, in The Story of My Heart (1883), auf einer belebten Brücke über die Themse: From the stone bridges I looked down on the river; the gritty dust, the straws that lie on the bridges, flew up and whirled round with every gust from the flowing tide; gritty dust that settles in the nostrils and on the lips, the very residuum of all that is repulsive in the greatest city of the world. The noise of the traffic and the constant pressure from the crowds passing, their incessant and disjointed talk, could not distract me. One moment at least I had, a moment when I thought of the push of the great sea forcing the water to flow under the feet of these crowds, the distant sea strong and splendid; when I saw the sunlight gleam on the tidal wavelets; when I felt the wind, and was conscious of the earth, the sea, the sun, the air, the immense forces working on, while the city hummed by the river. Nature was deepened by the crowds and foot-worn stones.31

In dieser Passage ist die Macht der Natur insbesondere mit der Kraft des Wassers assoziiert - wie auch in After London. Hier hat das Wasser London und ganz Südengland zurückerobert: Weite Teile des Landes, einschließlich der Hauptstadt, sind in einem großen See versunken. Nach einer nicht genau spezifizierten Katastrophe, möglicherweise als Auswirkung eines Kometen, vielleicht aber auch nur aufgrund des Versandens der für den weltweiten Handel wichtigen Häfen, verliert Britannien seine Führungsrolle in der Welt. Versorgungsprobleme lösen Bürgerkriege und Massenauswanderung aus, die industrielle und imperialistische Gesellschaft bricht zusammen. In den verlassenen Städten kann das Wasser sich den eindämmenden Ingenieursleistungen widersetzen, den Tunneln, Kanälen, Uferbefestigungen und Brücken, die so wesentlich das moderne London prägten. Die Trümmer gesprengter Gebäude und Befestigungen besonders von London versperren den Flüssen den Weg ins Meer und stauen sie an: I have formerly mentioned the vast quantities of timber, the wreckage of towns and bridges, which was carried down by the various rivers, and by none more so than by the Thames. These added to the accumulation, which increased the faster because the foundations of the ancient bridges held it like piles driven in for the purpose. And before this the river had become partially choked from the cloacae of the ancient city, which poured into it through enormous subterranean aqueducts and drains. [...] when this had gone on for a time, the waters of the river, unable to find a channel, began to overflow up into the deserted streets, and especially to fill the underground passages and drains, of which the number and extent was beyond all the power of words to describe. These, by the force of the water, were burst up, and the houses fell in. (32)

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11

Für neuere Diskussionen zum Flaneur und seiner Bedeutung in der Moderne vgl. K. Tester, Hg., The Flaneur. London 1994; C. Jenks, „Watching Your Step: The History and Practice of the Fläneur". In: Visual Culture. Hg. von C. Jenks. London 1995. S. 142-160; H. Neumeyer, Der Flaneur: Konzeptionen der Moderne. Würzburg 1999. Jefferies, The Story of My Heart. London 1947. S. 62-63.

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Es ist also gerade die Stadtmodernisierung des späten 19. Jahrhunderts, die in Jefferies' Roman den Untergang Londons befördert. Wenn sich die modernen Baumaßnahmen nicht der Re-Naturierung entgegengestellt hätten, wären die Stadt und mit ihr das ganze umgebende Land nicht so schnell im Wasser versunken. Und selbst nach diesem Untergang wirkt das Negative der modernen Stadt in der Natur noch fort: Der Sumpf am Ort der früheren Metropole kann nur unter Lebensgefahr erkundet werden, weil ihm selbst nach vielen Generationen Gifte entströmen: „There exhales from this oozy mass so fatal a vapour that no animal can endure it. The black water bears a greenish-brown floating scum, which for ever bubbles up from the putrid mud of the bottom" (33). Ein für Jefferies' erste Leser noch aktueller Hintergrund für solche Visionen war die hohe Verschmutzung Londons, dessen Hygiene-Probleme durch das Kanalisationsprojekt erst kurz zuvor in Angriff genommen worden waren. 32 Auch metaphorisch erschien London im späten 19. Jahrhundert als eine Stadt, die mit ihrem sozialen ,Sumpf' aus Armut, Kriminalität und Immigration zu kämpfen hatte. 33 Aber Jefferies' Welt ,nach London' bietet zu diesem Sumpf keine schönere neue Alternative, auch nicht in größerer Entfernung von der alten Metropole. Die neue Zivilisation ohne Technologie ist auch in Hinblick auf ihre Gesellschaftsstruktur und ihr moralisches Wertesystem rückschrittlich. Der erste Teil des Romans trägt den bezeichnenden Titel „The Relapse into Barbarism". Die Menschen leben in einer zersplitterten Gesellschaft, in einem feudalen Zustand, der von der Mittelalter-Idealisierung manch anderer Viktorianer - wie etwa William Morris - weit entfernt ist. Mit nur vor-technologischen Möglichkeiten von Transport und Nachrichtenübermittlung kann eine zentralisierte Gesellschaft mit einer Kapitale als Herz eines Imperiums sich nicht wieder bilden. Vielmehr wird das frühere Zentrum von der ehemaligen Peripherie der Britischen Inseln, dem sogenannten Celtic Fringe bedrängt (26), und im Innern bedroht ein hoher Anteil nomadischer Bevölkerung (sogenannte „Bushmen" und Zigeuner) die Sicherheit der Bewohner Restenglands (18-20) - die Nachkommen von Bevölkerungssegmenten, die Henry Mayhew in den 1860er Jahren in seiner großen soziologischen Erfassung London Labour and the London Poor ausdrücklich als weniger .zivilisiert' als die seßhaften Stadtbewohner bezeichnet hatte.34 Im zweiten Teil von After London, „Wild England", wird diese .verwilderte' Welt erkundet. Jefferies' Protagonist Felix Aquila bereist sie in einem selbstgebauten Kanu, das ihm unabhängige Bewegung ermöglicht: „Whither he should

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34

Vgl. zu dieser Vergiftung eine Beschreibung in John Ruskins The Crown of Olive: Four Lectures on Industry and War (1866): „all that great foul city of London there, - rattling, growling, smoking, stinking, - a ghastly heap of fermenting brickwork, pouring out poison at every pore", zitiert nach der Ausgabe London 1904. S. 32. Vgl. J. McLaughlin, Writing the Urban Jungle: Reading Empire in London from Doyle to Eliot. Charlottesville 2000. S. 9. H. Mayhew, London Labour and the London Poor. Nachdruck der Ausgabe 1861/2.4 Bde. Bd. I. New York 1968. S. 1-3.

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go, and what he should do, were entirely at the mercy of circumstances. He had no plan, no route" (64). Jefferies' ersten Lesern mag die vormoderne Art dieses Reisens besonders bedeutsam gewesen sein, denn das Paddelboot und andere vor-technologische Transportmittel waren gerade als alternative und im Sinne Richard Sennetts aktive Reisemöglichkeit in Mode gekommen, 35 im bewußten Gegensatz zum schnellen und Fahrplänen unterworfenen Reisen per Dampfschiff und Eisenbahn. Felix hat - typisch für Jefferies - bei seiner Art der Fortbewegung ausreichend Zeit, die Schönheiten des großen Sees zu genießen. Gestört wird das Naturerlebnis allerdings durch die kriegerischen Auseinandersetzungen der verschiedenen Feudalherren und den todbringenden Raum um das versunkene London, in den Felix sich - ohne das Hilfsmittel irgendwelcher Kartographie - verirrt. In dem von Jefferies entworfenen Chronotop haben sich die Verhältnisse von Tiefen- und Oberflächenstruktur des modernen London umgekehrt, so daß der Eindruck eines Gegen-Raumes zur Moderne noch stärker ist als bei Ronald Wrights gelegentlich sogar pittoresker Ruinenstadt. Wie die .modernen' Viktorianer stößt Felix Aquila unter der Schicht seiner Gegenwart auf eine ältere Stadt - aber begraben ist hier eine technisch fortschrittlichere Welt, während die vor-technologische an der Oberfläche liegt.36 Keineswegs jedoch bietet Jefferies' Gegen-Chronotop zur Moderne eine .grüne' Utopie, wie sie sich aus seinem naturkonservatorischen Anliegen heraus denken lassen könnte (und etwa von William Morris auch gedacht wurde). Die natumähere Zivilisation, die Jefferies als Zukunft des modernisierten England entwirft, ist barbarisch und, wie auch Krishan Kumar festgehalten hat, keine Alternative zu den Schattenseiten der Metropole des späten 19. Jahrhunderts: „Jefferies [...] points in no direction, neither backwards nor forward. He longs for the Great Purge, but he can also see the cost of it. Industrial civilization is doomed, but a return to rural poverty and violence is no answer." 37

Alternativen zur technologischen Moderne? Weder bei Jefferies noch bei Ronald Wright bedeutet eine re-naturierte Welt bessere Lebensbedingungen als die Welt, die sie ersetzt. In beiden Zukunftsentwürfen ist das Fortschreiten des Modernisierungsprozesses radikal zum Stillstand gekommen und existiert die moderne Metropole nur noch als Ruine, 15 36

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Vgl. etwa Robert Louis Stevensons Reisebericht An Inland Voyage (1878). Jefferies mag für die Lokalisierung der fortschrittlicheren Welt in den Untergrund allerdings auch durch die Tatsache angeregt worden sein, daß gerade die Tiefbaumaßnahmen der Viktorianischen Ingenieure als die größten Leistungen der Stadtmodernisierung und als besonders deutliches Indiz für die Kontrollierbarkeit der Natur durch moderne Technologie galten. Vgl. R. Williams, Notes on the Underground: An Essay on Technology, Society, and the Imagination. Cambridge, MA 1990. S. 4. K. Kumar, Utopia and Anti-Utopia in Modem Times. Oxford 1987. S. 127.

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in der sich die Natur wieder behauptet und den Menschen vor-moderne Formen der Wahrnehmung und Bewegung aufzwingt. Allerdings geht das Sich-WiederBehaupten der Natur nicht mit einer Regeneration der Zivilisation einher. Bei Wright und Jefferies wird die Moderne mit ihren Mängeln nur durch eine unperfekte vor-technologische Welt ersetzt. Der Weg zurück in Zeiten vor der Technologisierung und Industrialisierung bietet keine Perspektive für die Zukunft der Moderne; nur auf die Rache der Natur für die an ihr begangene Vergewaltigung zu bauen, bringt - so machen beide Romane deutlich - die Menschheit nicht weiter. Ein London in Ruinen kann Mahnmal sein, kann - im Sinne Simmeis - Vergangenheit vergegenwärtigen, aber die Ruine weist per se nicht in die Zukunft und bietet keine Lösung für die Probleme, die der Modernisierungsprozeß aufwirft. Alternative Perspektiven werden weder bei Jefferies noch einhundert Jahre später bei Wright konstruktiv angedeutet. Die Intertextualität zu einer London-Dystopie des 19. Jahrhunderts gibt Wright also vor allem Gelegenheit anzudeuten, daß sein , post'-modernes London die Konsequenzen der Modernisierung ebenso wenig im Griff zu haben scheint wie jene Metropole, die diese Prozesse in ihren Anfängen miterlebte.

Abb. 1: "Roman London". The Illustrated London News. 29. Mai, 1869, S. 550.

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Abb. 2: Gustave Dore, Blanchard Jerrold. London. London 1872.

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London

Abb. 3: Gustave Dore, Blanchard Jeirold. London. London 1872.

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Julika Griem

Als das Reisen noch geholfen hat: Redmond O'Hanlons retro-viktorianische Erkundungsfahrten

Raum- und Zeitreisen In der Bewegung des Reisens werden räumliche Entfernungen als zeitliche Prozesse erfahren. Im Topos der Entdeckungsreise hat sich diese grundlegende Verschränkung von Raum und Zeit im Verlauf von Aufklärung und Kolonisierung zu einem Funktionszusammenhang von spezifischen Raum- und Zeitvorstellungen herausgebildet. Für die säkularisierte Raumerfahrung dieser Reiseform ist es charakteristisch, daß der bereiste, zu entdeckende Raum als tabula rasa, als Leere, als unbeschriebenes Blatt konzeptionalisiert wird. Innerhalb eines solchen Raumes kann der Entdeckungsreisende aus einer idealisierten und privilegierten Beobachterposition heraus benennen und klassifizieren. Das Sehen gilt innerhalb dieser diskursiven Formation als Königssinn, und der Horizont markiert einen wichtigen Fluchtpunkt: Mit dem Horizont etabliert die Neuzeit eine neue Art von geographischer Feme, die nun nicht mehr als Schwelle zum Anderen fungiert, etwas zu den sagenhaften Monstra des Erdrandes, sondern auf die endlose Prozes'sualität des Reisens selbst verweist. Die Horizontlinie verbindet zwei geographische Phänomene, die wir üblicherweise für kontradiktorisch halten, Grenze und Transgression. Als medialer Effekt korrespondiert der Horizont mit der neuzeitlichen Errungenschaft der Zentralperspektive, denn in ihr fungiert das Tafelbild nicht mehr als greifbarer Raum, sondern als ein Fenster, das in der Mitte zwischen Sehstrahl und Fluchtpunkt sich öffnet und dadurch zur puren Sogwirkung wird.1

Es ist insbesondere im Bereich der postkolonialen Forschung herausgearbeitet worden, daß die hier beschriebene Blick- und Beschreibungskonstellation eine geopolitische Funktion in kolonialistischen und imperialistischen Kontexten erfüllen konnte. In seiner Studie Time and the Other (1983) hat Johannes Fabian vorgeführt, daß die geopolitische Verwaltung und Zurichtung des Anderen auch eine eigene Zeitpolitik hat. Er demonstriert anhand der Wissenschaftsgeschichte anthropologischer Forschung, wie die Differenz-Beziehung zwischen Beobachter und fremden Objekt auch als zeitliche Distanz konstruiert wurde.2 Mit Hilfe '

2

A. Honold, „Flüsse, Berge, Eisenbahnen: Szenarien geographischer Bemächtigung". In: Das Fremde. Beiheft der Zeitschrift für Germanistik. Hg. von A. Honold und K. Scherpe. Bern, Berlin, Brüssel 1999. S. 149-174, hier S. 153-154. Zum Zusammenhang von Reisen und Sehen vgl. auch M.L. Pratt, Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation. London, New York 1992 sowie J. Urry, The Tourist Gaze. Leisure and Travel in Contemporary Societies. London, Thousand Oaks, New Dehlhi 1990. J. Fabian, Time and the Other. New York 1983. S. 147.

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einer Strategie, die Fabian als „allochronic discourse" bezeichnet, konnten die zu untersuchenden fremden Völker in eine ferne und quasi zeitlose Vergangenheit gerückt werden, die dem beobachtenden Subjekt als identitätsstiftender Gegenentwurf dient: Anthropology emerged and established itself as an allochronic discourse; it is a science of other men in another Time. It is a discourse whose referent has been removed from the present of the speaking/writing subject. [...] Among the historical conditions under which our discipline emerged and which affected its growth and differentiation were the rise of capitalism and its colonialist-imperialist expansion into the very societies which became the target of our inquiries. For this to occur, the expansive, aggressive, and oppressive societies which we collectively and inaccurately call the West needed Space to occupy. More profoundly and problematically, they required Time to accomodate the schemes of a one-way history: progress, development, modernity - and their negative minor images: stagnation, underdevelopment, tradition. In short, geopolitics has its ideological foundations in chronopolitics.3

Urn 1900 wurden die hier skizzierten Strategien einer räumlichen und zeitlichen Entleerung und Distanzierung des Fremden in der Moderne keinesfalls verabschiedet, sondern wirkten unter anderen Vorzeichen weiter. Galt der angeblich zivilisations- und geschichtslose Raum der Kolonien fortschrittsgläubigen Viktorianern noch als eindeutig negatives Gegenbild, so kultivierten fortschrittskritische Vertreter der frühen Moderne die Vorstellung unberührter und stillstehender primitiver Kulturen als Heilmittel gegen die Zumutungen des Modernisierungsprozesses. Die mit Hilfe allochroner Strategien imaginierten Freiräume schlossen, wie Chris Bongie gezeigt hat, an primitivistische und exotistische Diskurs-Traditionen an. Mit der Erschließung der letzten weißen Flecken auf den Landkarten verstrickte sich das exotistische Kompensationsprojekt allerdings zunehmend in aporetische Widersprüche: „How can one recuperate .elsewhere' what civilization is in the process of eliminating if this same process has already taken on global proportions?" 4 Diese aporetische Situation produziert jene tragische Ironie, von der auch die Authentizitätsformeln der frühen Moderne zehren. Als Suche nach einem unwiederbringlich Verlorenen, nach einem Authentischen, das durch seine Entdeckung zerstört wird, findet sich diese ironische Grundstruktur sowohl in den „salvage narratives" der modernen Ethnographie als auch in literarischen Texten wie Conrads Heart of Darkness: Während in den ethnographischen Aufzeichnungen das Medium Schrift dazu dient, „ethnography's disappearing ob-

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4

Fabian 1983, S. 143-144. Der von Fabian analysierte „allochronic discourse" produziert eine Zeitvorstellung, die Scott Lasch und John Urry als „glacial time" beschrieben haben. Vgl. S. Lasch, J. Urry, Economies of Signs and Space. London 1994; ferner J. Urry, C. Rojek, Touring Cultures. Transformations of Travel and Theory. London 1997. S. 15. C. Bongie, Exotic Memories. Literature, Colonialism, and the Fin de Siecle. Stanford 1991. S. 4-5; zum Primitivismus Μ. Torgovnick, Gone Primitive. Savage Intellects, Modern Lives. Chicago, London 1990.

Retro-viktorianische Erkundungsfahren

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ject" zu retten,5 beschwört Conrad ein fingiertes mündliches und allochrones Erzählen, obwohl das Geheimnis seines Textes nur noch eine Leerstelle markiert und selbst die prähistorischen Idyllen der rückdatierten Kongo-Kulisse von den Praktiken industrialisierter Ausbeutung bedroht werden. Das Pathos, das die Darstellungen fremder Kulturen durchdringt, weil sie zu zeitlosen Repräsentanten eines Urzustands stilisiert werden, klingt noch bis in Levi-Strauss' Traurige Tropen nach. Die Reiseerzählungen des zeitgenössischen englischen Autors Redmond O'Hanlon begeben sich indessen noch auf eine weitere Zeitreise. Die drei Reiseberichte Into the Heart of Borneo (1984), In Trouble Again (1988) und Congo Journey (1996)6 erzählen von Reisen nach Borneo, an den Amazonas bzw. Orinoko und in den Kongo, die der Autor mit drei verschiedenen englischen bzw. amerikanischen Freunden und zahlreichen Helfern vor Ort unternommen hat. O'Hanlon hat zudem fünfzehn Jahre lang das Ressort Naturgeschichte des Times Literary Supplement betreut und eine Studie Uber Joseph Conrad und Charles Darwin verfasst.7 Es überrascht daher nicht, daß er in seinen literarischen Erkundungsfahrten nicht nur auf den Spuren der Naturforscher des 19. Jahrhunderts wandelt,8 sondern auch immer wieder den Geist von Conrads magnum opus beschwört.9 Als intertextuelle Hommagen an die Diskursformation der Entdeckungsreise und ihre frühmodernen Schwundformen zählen O'Hanlons Texte zu jenem Genre, das Sally Shuttleworth als „retro-Victorian fiction" beschrieben hat. Wie A. S. Byatts Possession oder Graham Swifts Waterland können auch O'Hanlons Reiseerzählungen als „exercises in nostalgia" charakterisiert werden,10 die den Geist des Viktorianischen Englands nicht nur evozieren, sondern dabei auch die epistemologischen, gattungstechnischen und politischen Bedingungen der Möglichkeit einer solchen Evokation reflektieren. Im Folgenden sollen die ästhetischen Verfahren und 5

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J. Clifford, „On Ethnographie Allegory". In: Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography. Hg. von J. Clifford und G.E. Marcus. Berkeley, Los Angeles, London 1986. S. 98-121, hier S. 112. R. O'Hanlon, Into the Heart of Borneo. An Account of a Journey Made in 1983 to the Mountains of Batu Tiban with James Fenton. London 1984; In Trouble Again. A Journey between the Orinoco and the Amazon. London 1998; Congo Journey. London 1997; im Folgenden als HB, TA und CJ im laufenden Text zitiert. Redmond O'Hanlon, Joseph Conrad and Charles Darwin: The Influence of Scientific Thought on Conrad's Fiction. Edinburgh 1984. „The nearest I had ever come to a tropical rain-forest, after all, was in the Bodleian Library, via the pages of the great nineteenth-century traveller-naturalists, Humboldt, Darwin, Wallace, Bates, Thomas Belt [...]" (HB 3; vgl. auch TA 1). So zitiert er beispielsweise in In Trouble Again anlässlich der Suche nach einer archaischen Vogelart jene räumliche und zeitliche Distanzierung, die auch Conrads Afrika als ferne Vergangenheit erscheinen läßt: J was already beginning to feel, like Conrad's Marlow on the Congo in Heart of Darkness, that in this land where vegetation rioted on the earth and the big trees were kings, we might at any moment turn a comer and discover an ichthyosaurus taking a bath of glitter in the river, and the hoatzin seemed the emblematic bird of such a place." (TA 78-79) S. Shuttleworth, „Natural History: The Retro-Victorian Novel". In: The Third Culture: Literature and Science. Hg. von E. Shaffer. Berlin, New York 1998. S. 253-268, hier S. 267.

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ideologischen Funktionen dieser doppelten Zeitreise nicht nur in die Vergangenheit, sondern auch ihrer Darstellbarkeit erörtert werden.

Nostalgische Anleihen Angesichts der vielen intertextuellen Verbeugungen vor den Idolen des späten 19. Jahrhunderts hat es zunächst den Anschein, als greife O'Hanlon die räumlichen und zeitlichen Parameter traditioneller Entdeckungsreisen in affirmativnostalgischer Weise auf. Auf einen ersten Blick lassen sich in der Tat viele typische Merkmale der kolonialen Blick- und Beschreibungsordnung erkennen. So werden z.B. in allen drei Texten klassische topoi „geographischer Bemächtigung" genutzt:" Jedes Mal reisen die Männer auf den Spuren der Fluß- und Ursprungssucher des 18. und 19. Jahrhunderts; häufig sind auch Berge ihr Ziel, um sich einen panoramatischen Überblick zu verschaffen. Die Struktur der Reisen scheint damit einer bewährten Dramaturgie aus Penetration und Elevation, Durchbruch und Erhebung zu folgen, wobei das Element des Kampfes mit dem unbekannten Land noch dadurch unterstrichen wird, daß O'Hanlon und sein jeweiliger Gefährte sich jedes Mal von der englischen Spezialeinheit SAS in militärischer Weise für ihre Expeditionen ausrüsten lassen. Auffällig ist zudem, daß O'Hanlon wie der junge Conrad und sein Erzähler Marlow von einer Sehnsucht nach unberührten und unbeschriebenen Räumen angetrieben werden: Ziele der Reisen sind nicht kartographierte Regionen (HB 10), unbekannte Dörfer, unberührte Regen Wälder, noch nicht klassifizierte Flora und Fauna. Mit diesen Zielen verbindet sich die Hoffnung auf spektakuläre Erstkontakte (im Falle der sagenumworbenen Waldvölker der Ukit auf Bomeo, der Yanomani am Amazonas und der Pygmäen im Kongo) wie auch die Vorstellung, zu prähistorischen, weit zurückliegenden Frühphasen der Evolution vordringen zu können: Nicht zufällig interessiert sich der Vogelliebhaber O'Hanlon nicht allein für Vögel, die als missing links für frühere Entwicklungsstadien dienen könnten, sondern auch für ,alte' Spezies wie das Tapir, Echsen, eine Ur-Fledermaus, einen mysteriösen Saurier, den ein amerikanischer Wissenschaftler am Lake Τέΐέ im Kongo gesehen haben will, und schließlich auch für menschliche .Urtiere': „A stone axe, and a leaf loincloth! Pity about the iron sword and the spear-blade - but he's almost from the Stone Age!" (CJ 386) Wie ihre ethnologischen Vorgänger in der Tradition kolonialer Entdeckungsreisen greifen auch O'Hanlon und seine Gefährten häufig auf visuelle Medien zurück, um das Erlebte dokumentarisch zu verbürgen, Kontakt mit den UrwaldBewohnern aufzunehmen und den entscheidenden Moment des Erstkontaktes im Bild zu bannen. So sind jedem der drei Reiseberichte Abbildungen beigefügt, auf denen Eingeborene in der Manier der klassischen ethnographischen Photographie gezeigt werden. Photographien und insbesondere die schnell zu "

Honold 1999, S. 149.

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entwickelnden Polaroid-Bilder werden zudem immer wieder als „mimetische M a g i e des weißen Mannes" inszeniert. Dabei scheint der fremde Blick der Eingeborenen den technischen Apparaten der Reisenden eine Aura des Faszinierenden zurückzugeben, die längst verloren schien: 12 [...] I drew out the Polaroid and loaded it. The grey box would take away their image, I tried to suggest with both hands, and then give it back again. They looked dubious. I had behaved badly once, and was not really to be trusted. The Polaroid flashed; we waited; the box whirred; the tray slid forward and proffered its wet card. I laid it on the floor, waving their fingers away. Slowly, it grew colours, like bacteria in a dish of culture. The room was very silent. They watched the outlines of heads and shoulders appear; features became defined. Suddenly they pointed to the card and to each other. Wild hilarity erupted. They clapped and clapped. (HB 63) N e b e n der hier aufscheinenden Funktion einer Re-Auratisierung wird der Blick der Naturvölker außerdem mobilisiert, um jene Abbildungen zu authentisieren, mit denen sich die Reisenden längst ein Bild von der Fremde gemacht haben. Immer wieder legt O'Hanlon daher seine Bestimmungstafeln zur Prüfung vor: [...] I sat down by the central tallow lamp as night came down, and began to look again with delighted disbelief at all the montane and submontane species wich Smythies illustrates in The Birds of Borneo. The resident old woman, stopping her weaving of small pieces of fishing net, came and squatted down beside me on her haunches. I turned over the plates, very slowly. She bent forward, intrigued, and her distended, looped earlobes, weighted with some twenty brass rings apiece, cast two ellipses of shadow across the rough planks of the floor. It seemed to take her some time to realise that the pictures were images of birds, birds that she knew; and then she uncurled a thin arm from around herself and pointed with a creaky finger on which all the joints were swollen. It was Plate ΠΙ, the Borneo raptors, and she pointed at the Brahminy kite, Haliastur indus intermdius. Tentatively, she stroked its red-brown back; and then she turned, her old eyes alight, and she smiled at me with one set of lips and one set of gums. (HB 85) N e b e n den Bildern spielt das Medium der Schrift in allen drei Reiseberichten O'Hanlons eine entscheidende Rolle. Es wird exzessiv aus naturkundlichen Klassikern des 19. Jahrhunderts, insbesondere aus Vogelbestimmungsbüchern zitiert, denn diese Nachschlagewerke versprechen, die unübersichtliche Vielfalt der fremd anmutenden Natur zu ordnen: For the first time we could compare all green Kingfishers. [...] It was all very satisfying, a flicker of easily comprehensible, natural logic in the impossibly complicated thrust and tangle of trees and bushes and lianas, of epiphytic orchids and bromeliads and ferns, an

12

Vgl. auch TA 211. Michael Taussig hat das Phänomen der Re-Auratisiemng anhand anthropologischer Verwendungen des Grammophons beschrieben: „Taking the talking machine to the jungle is to do more than impress the natives and therefore oneself with Westem technology's power, the Elto outboard motor compared to the wooden paddle; it is to reinstall the mimetic faculty as mystery in the art of mechanical reproduction reinvigorating the primitivism implicit in technology's wildest dreams, therewith creating a surfeit of mimetic power." Vgl. Μ. Taussig, Mimesis and Alterity. A Particular History of the Senses. New York, London 1993. S. 208.

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overarching presence of thousands upon thousands of different species most of whose names even Juan found it impossible to guess. (TA 236)

Im Gegensatz zu O'Hanlon lesen seine jeweilige Gefährten allerdings literarische Klassiker vorwiegend des 19. Jahrhunderts (Dickens, Balzac, Tolstoi, Twain, aber auch Conrad und Richardson). Diese Reisenden tragen somit eine Bibliothek kanonisierter Werke in den Dschungel, um sich angesichts einer extremen und oft verstörenden Umgebung ihrer Identität zu versichern: So verschaffen sich O'Hanlon und sein Gefahrte James Fenton in Into the Heart of Borneo z.B. Erleichterung, indem sie sich, gepeinigt von Insekten und Schlaflosigkeit, darüber unterhalten, wie sie eine ideale Bibliothek einrichten würden (HB 106). Zudem wird das Medium Schrift auch eingesetzt, um ihre Autorität buchstäblich zu verbriefen, wenn sich die Reisenden beispielsweise von einem Kollegen in Oxford eine fantastische Urkunde „of medieval-looking splendour" (HB 21) ausstellen lassen, die ihnen Zugang zu den abgelegenen Regionen Borneos eröffnen soll. Zwei weitere Argumente für die These, daß O'Hanlon in vieler Hinsicht die imperiale Tradition des Entdeckungsreisens reproduziert, lassen sich schließlich in der männlichen Beobachterperspektive, die vor allem die ersten beiden Reiseberichte deutlich akzentuieren, und in zahlreichen pastoralen Reminiszenzen finden, in denen O'Hanlons Kindheitserinnerungen an ein Pfarrhaus in Wiltshire der chaotischen Gegenwart des Regenwalds gegenübergestellt werden. Die dezidiert männliche Perspektive des Ich-Erzählers manifestiert sich vor allem in Into the Heart of Borneo als der Voyeurismus des distanzierten Beobachters, der sich im Gegensatz zu seinen einheimischen Helfern nicht auf sexuelle Begegnungen einlassen will: Feeling no more than a little ashamed of myself, I crept off the track and peered through the vegetation. An enormous tree had been thrown into the shallows and abandoned by some past flood, its great bulk forming a breakwater to the current and a safe lagoon in which to swim. It rose gently out of the water, and its branches were so many gnarled and tapering diving-boards for about twenty very young, very excited children, who swarmed up its trunk, ran out over the river, jumped in, swam to the bank, and then repeated the process, yelling all the while. Their mothers, slim and supple and half-naked and almost equally at home in the pool, were washing themselves and their sarongs, diving to wet their long black hair, collecting water in gourds, or in long segments of bamboo to carry home in baskets on their backs, or, a little way downstream, squatting near the river bank. (HB 76) 13

Sie stabilisiert zudem immer dann die männliche Reisegesellschaft, wenn sich die Repräsentanten der ersten und dritten Welt mit Hilfe von sexuellen Anspielungen verständigen können. Die pastoralen Reminiszenzen dienen hingegen dazu, dem Ich-Erzähler O'Hanlon eine spezifisch englische Genealogie zuzuschreiben. Die vielen Passagen, in denen - oft in verzweifelter Lage - das idyllische Pfarrhaus in Wiltshire heraufbeschworen wird, verweisen auf das ländliche Domizil des angehenden Pfarrers Charles Darwin und dessen nostalgische 13

Vgl. auch HB 75 und 71.

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Kindheitserinnerungen in der Voyage of the Beagle}* Daß sich auch die Poetik von O'Hanlons Reisebeschreibungen aus dem nostalgischen Kraftzentrum eines idyllisch verklärten ländlichen Englands speist, zeigt sich besonders deutlich in zwei Rückblenden in In Trouble Again. Der Ich-Erzähler erinnert sich dort, wie ihn während wiederholter Bootsausflüge auf dem Avon das Fernweh in Gestalt einer Eisenbahnbrücke erfasste, zu der die Ruderer allerdings nie vordrangen. Die Sogwirkung, die für das Kind von diesem unerreichbaren Horizont ausgeht, verweist auf ein „hidden kingdom of my own". 15 Die eskapistischen Sehnsüchte des jungen O'Hanlon werden allerdings nicht in einer realen Feme, sondern im nahegelegenen Museum gestillt. Hier gerät eine Zeitreise in die Naturgeschichte im Stil des 19. Jahrhunderts zum epiphanischen Moment, der alle späteren Reisen in fremde Räume präfiguriert: On the first week of the school holiday I persuaded my father to take me to the Natural History Museum. It was all different then: you could actually go to the mahagony egg cabinets and pull out the drawers. And there were all the eggs of all the birds in - the British Isles, thousands of them, lying in whole clutches, on their beds of cotton wool in the wood partitions under the glass. [...] It was all variety and surprise and difference; and each egg looked so fine in itself. Perhaps it was that feeling, I now thought, standing in the rain on the Cromwell Road, which I had really been searching for - and which I had found - in the primary rain forest in the heart of Borneo, that sudden, passing, incandescent moment when you are not even sure if the something that is flying across the river in front of you is a bat or a bird or a butterfly. And it was that feeling which I vowed to experience again, if I could, in the vaster forests of the northern Amazons. (TA 9)

Parodistische Verwerfungen Die in den Kindheitserinnerungen aus In Trouble Again vollzogene Konstruktion eines nostalgischen Ideals von „Englishness" mag mit dazu beigetragen haben, daß O'Hanlon gemeinsam mit anderen Autoren, deren Reisereportagen in dem literarischen Magazin Granta erschienen sind, als Wiedergänger und Profiteur einer von Joseph Conrad inspirierten „imperialist nostalgia" kritisiert worden ist. 16 Diese harsche Kritik wird allerdings weder den ersten beiden Büchem und schon gar nicht der Congo Journey gerecht. Schon in Into the 14

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Vgl. dazu A. C. Colley, „Nostalgia in The Voyage of the Beagle". In: Centennial Review 35, 1991, I. S. 67-183, sowie den Beitrag von Stephan Kohl in diesem Band. ,At the fifteenth bend the unreachable railway bridge came into view through the gap in the stand of bulrushes, unimaginably far away from the landing-stage and the picnic basket behind us. We turned back and, as always, I felt immeasurably disappointed. Somehow, if I could only get to the bridge, if I could just see what lay beyond it, I might be safe in a hidden kingdom of my own [...]" (TA 153). „To a depressing degree, the tropes Joseph Conrad deployed in Heart of Darkness still shape much of what appears in Granta. Conrad's imperial construction of space, his racism, and his condescending misogyny replicate themselves, almost a hundred years later, in a journal that congratulates itself on its political progressiveness." C. Sugnet, „Vile Bodies, Vile Places: Traveling with Granta". In: Transition, 51, 1991. S. 70-85, hierS. 72.

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Heart of Borneo und in In Trouble Again zeigt sich nämlich, daß O'Hanlon die oben diskutierten Strukturelemente imperialen Entdeckungsreisens zwar zitiert, aber auch spielerisch variiert, ironisiert und ad absurdum führt. So produzieren beispielsweise die Topoi der geographischen Ermächtigung, auf die O'Hanlon rekurriert, oft nur noch die Entmächtigung der Reisenden: es gibt weniger Erfolgserlebnisse als Pannen und Missgeschicke, weniger Epiphanien als antiklimaktische Desillusionierung.17 Insektenstiche quälen, das Essen bekommt nicht, Boote kentern, Flussabzweigungen werden verpasst und Berggipfel nicht erreicht. Zudem nutzt O'Hanlon die von Conrad perfektionierte Strategie des „delayed decoding" 18 nicht mehr zu mystifizierender Erhöhung, sondern karikiert sie mit dem Ziel selbstironischer Erniedrigung: Jarivanau took off his catumari and walked purposefully across the clearing. I followed at once - perhaps he was looking for some ritual sign, some formal message always left in Yanomani camps? He flitted from tree to tree at the far edge of the clearing, looking embarrassed, secretive, gesturing at me to stay away. He became more emphatic, shooing at me with both hands. I became even more intrigued; I was about to make some small but crucial anthropological discovery. Finally, exasperated, he retreated between two plank buttresses, turned his back on me, dropped the green shorts that Culimacare had given him and took a shit. Jarivanau had diarrhoea. (TA 262)

Auch was die Raumdarstellung anbetrifft, zitiert und konterkariert O'Hanlon seine Vorbilder gleichermaßen. Panoramatische Überblicke und die visuelle Inbesitznahme des fremden Landes werden kaum mehr gewährt." Ein Horizont ist äußerst selten auszumachen, der englische Beobachter verbringt stattdessen die meiste Zeit in dichtem Gestrüpp und Dschungel, in einer Beobachterposition, aus der sich eben keine sinnvolle Ordnung durch Übersicht und Klassifikation mehr herstellen läßt. In einer solchen Situation erweist sich auch die Belesenheit der Reisenden als Handicap. Dies hat damit zu tun, daß O'Hanlon in seinen Reisebeschreibungen gezielt gegen die von Manfred Pfister beschriebene „Programmatik des voraussetzungslosen Blicks" und der „negierten Intertextualität" verstößt: Während die Poetik der imperialen Entdeckungsreise einen unverstellten und originären Blick auf das Fremde verlangt, der sich allein auf die eigene Erfahrung, nicht aber auf die Autorität anderer Texte und früherer Reisender beruft, 20 sind

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"

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Dies zeigt sich z.B. am Schluß von Into the Heart of Borneo, wo die Reisenden das mysteriöse Borneo-Rhinozeros immer noch nicht gesehen haben, aber erfahren müssen, daß ein alter Krieger der Ukit, dem sie wieder die Abbildungen ihrer Bestimmungsbücher vorgelegt haben, in seiner Jugend acht Exemplare dieser Spezies getötet hat. Vgl. I. Watt, Conrad in the Nineteenth Century. Berkeley, Los Angeles 1981. S. 270-286. So ergibt sich zwar auf der Borneo-Reise noch einmal ein panoramatischer Gipfelblick auf einer Wasserscheide, aber dieser wird nur noch unfreiwillig erreicht und eröffnet sich eher zufällig durch eine Lücke in der herabfallenden Vegetation, die die Reisenden gerade unter sich begraben hat. Zudem sind auch dieser Passage Ironiesignale wie ein „unconcerned" Adler und ein lächerlicher „pheasant dance" eingeschrieben (HB 139). Vgl. M. Pfister, „Intertextuelles Reisen, oder: Der Reisebericht als Intertext". In: Tales and their "telling difference ". Zur Theorie und Geschichte der Narrativik. Festschrift zum 70.

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die hier erfahrenen Räume ja gerade nicht mehr unberührt und unbeschrieben. In O'Hanlons Texten erzeugen die vielen intertextuellen Spuren vielmehr einen ironischen „Hase- und-Igel-Effekt". Dieser unterminiert traditionelle Authentisierungsstrategien und läßt Autorität in Anachronismus umschlagen, weil der englische Reisende über seinen vielen viktorianischen Büchern offenkundig den Blick für das Nächstliegende verliert: „My turning the white pages from flycatcher descriptions to the flycatcher key to the flycatcher plates frightened the actual flycatcher away" (HB 125). Angesichts einer solchen ironisch eingesetzten Intertextualität erscheint der Status der Medien Photographie und Schrift in vielen Passagen ambivalent, weil keinesfalls mehr allein authentisierend und legitimierend. So dokumentieren einige Photos, wie bei Tänzen auf Dorffesten die teilnehmende Beobachtung der Hobby-Anthropologen zur Lachnummer gerät (HB 67); und die mitreisenden Bücher, wichtigste Gefährten der Protagonisten, drohen in ähnlicher Weise wie das zugleich rätselhafte und beruhigende Buch, das Conrads Erzähler Marlow im Dschungel findet, ihren Status eines Herrschaftssymbols zu verlieren. Aus ihrem Kulturkreis und Traditionszusammenhang entfernt regredieren die Bücher zu Objekten, die nicht mehr allein westliche Kultur repräsentieren, sondern zugleich einer allmählichen Mimikry an die sie umgebende fremdartige Natur unterworfen werden: „So I pulled Serie and Morel's Birds of West Africa (now held together with army tape) out of its bergen side-pocket and I turned its scrawled-over, annotated, mould-filmed pages" (CJ 261). 21 Einem ähnlich verfremdenden Verfahren werden schließlich auch die technischen Insignien der Moderne unterworfen. So wie in Conrads Heart of Darkness das Bild des deplazierten Buches durch die Allegorie eines im Dschungel zurückgelassenen Waggons ergänzt wird, 22 stößt in Congo Journey der amerikanische Reisegefährte Lary ebenfalls auf technisches Gerät, das im afrikanischen Kontext seine Funktion verloren hat und von ihm wie ein surrealistisches Kunstwerk betrachtet wird: „,It's an ancient centrifuge,' said Lary, running his hand over its smooth flank. .There must have been a works here. It's bizarre. Oil-nuts? A processing plant? It's off the wall!"' (CJ 128)

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Geburtstag von Franz K. Stanzet. Hg. von H. Foltinek, W. Riehle und W. Zacharasiewicz. Heidelberg 1993. S. 109-132, hierS. 110. Vgl. J. Conrad, Heart of Darkness. London 1994. S. 54: „[...] and by the door I picked up a book. I had lost its covers, and the pages had been thumbed into a state of extremely dirty softness; but the back had been lovingly stitched afresh with white cotton thread, which looked clean yet. It was an extraordinary find." Zum Motiv des Buches im Dschungel aus einer postkolonialen Perspektive vgl. H. Bhabha, „Signs Taken for Wonders. Questions of ambivalence and authority under a tree outside Delhi, May 1817". In: Bhabha, The Location of Culture. London, New York 1994. S. 102-122, und P. Goetsch, „Die Macht des Buches in kolonialer und postkolonialer Literatur". In: Fiktion und Geschichte in der angloamerikanischen Literatur. Hg. von R. Ahrens und F. Neumann. Heidelberg 1998. S. 515533. Vgl. Conrad 1994, S. 22: ,Jt turned aside for the boulders, and also for an undersized railway-truck lying there on its back with its wheels in the air. One was off. The thing looked as dead as the carcass of some animal. I came upon more pieces of decaying machinery, a stack of rusty nails."

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Auch hier entsteht auf einen ersten Blick wieder der Eindruck, als inszeniere O'Hanlon diese Ruinen der technischen Zivilisation in einer nostalgischen Weise, die als direkte Reminisizenz an Conrads Beschwörung von Arbeitsethos und „restraint" verstanden werden muß: Zu anspielungsreich unternimmt Lary eine „comfort inspection" (CJ 128) einer Eisenbahnlinie oder wird ein Kapitän als Traditionalist beschrieben, dessen Ausbildung noch auf jenen praktischen Tugenden wie „reparing engines, tapping rivets, getting your hands dirty" beruhte, die Charlie Marlows letzte Bastion bildeten (CJ 90). Gerade in Congo Journey werden aber solche nostalgischen Reminiszenzen besonders nachhaltig ironisch konterkariert: Wo nämlich in Heart of Darkness noch ein englischer Kapitän einer nur zögerlich humanisierten afrikanischen Crew gegenübersteht, tritt hier ein afrikanischer Kapitän die Nachfolge Marlows an, um seine weißen Passagiere aufzuklären: „It was a mistake that white men from Europe knew all about Africa - they never had and they never would" (CJ 91).23

Die Demontage der Afrika-Reise in Congo Journey O'Hanlons dritter Reisebericht Congo Journey ist, wie oben angedeutet, stärker als die beiden vorhergehenden Reisebücher von postkolonialen Inversionen geprägt.24 Diese Strategie hat u.a. zur Folge, daß es die Reisenden zum ersten Mal mit einem wirklich ebenbürtigen einheimischen Gegenspieler zu tun haben: Ihr Führer Marcellin Agnagna, in Paris ausgebildeter Biologe, erweist sich nämlich nicht nur als einer jener „natives", die schon in O'Hanlons früheren Texten die westlichen Entdecker zumeist in amüsiert-überlegener Manier betrachten, sondern konfrontiert sie auch mit politischen Argumenten und beißend ironischer Kritik, wenn er für ein afrikanisches Selbstbewußtsein plädiert (CJ 213), das Spiel „Teasing the liberal" spielt (CJ 234) oder sarkastisch zitiert: „I'll work, as you say in England, like a black. I'll work like the blacks who made France, who dug the canals, who made the roads, the blacks who saved France in two World Wars" (CJ 110).

Die revisionistische Tendenz dieser intertextuellen Modifikationen wird auch dadurch unterstrichen, daß O'Hanlon in Congo Journey das Pathos des Conradschen Arbeitsethos durch einen Verweis auf die „do-nothing heroics" des jungen Seemanns aus der Erzählung „Typhoon" relativiert (CJ 132, 147). Zur intertextuellen Verarbeitung von Conrads Roman in z.B. den neueren Reisebtlchern von Paul Hyland (The Black Heart, 1988) und Jeffrey Tayler (Facing the Congo, 2000) vgl. auch Τ. Youngs,,Africa/The Congo: the politics of darkness". In: The Cambridge Companion to Travel Writing. Hg. von P. Hulme und Τ. Youngs. Cambridge 2002, S. 156-173, hier S. 169-170. Dies betont auch der afro-amerikanische Kritiker Anthony Appiah in seiner sehr positiven Besprechung im London Review of Books 19, 8, 24.4.1997, S. 19-21, S. 20: „But there are three books here in another sense, struggling with each other in ways that make Congo Journey a substantially more complex and subtle achievement than the previous narratives."

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Zu Marcellins wichtigsten argumentativen Waffen gehört es, den „allochronic discourse" der westlichen Reisenden in Frage zu stellen, indem er beispielsweise den Erzähler unsanft daran erinnert, daß dieser keinesfalls in eine afrikanische Steinzeit reist, in der sich pittoreske Lendenschurzträger tummeln: „,Stone Age my ass [...] Poor man, his balls hurt. His balls hurt him when he wears trousers [...]. A hydrocele. Elephantiasis. He's old, Redmond - and soon his balls will kill him"' (CJ 386). Solche Kritik führt O'Hanlon wiederum dazu, die allochronen Zeitkonzepte seiner viktorianischen Quellen zu hinterfragen (CJ 352-353) und im Kongo eben nicht prähistorischen Stillstand und primitives Verharren in der Kindheit der Menschheit zu suchen, sondern auch der fremden Kultur eine eigene und differenzierte, zumeist mündlich tradierte Geschichte und Überlieferung zuzugestehen (CJ 194).25 Durch die Infragestellung der allochronen Perspektive werden in Congo Journey zudem die primitivistischen Idyllen nachhaltiger beschädigt als in Into the Heart of Borneo und In Trouble Again. Häufig kommt es zu Kontakten, die eben keine „first contacts" mehr sind und daher nicht einen zeitenthobenen Schutzraum, sondern längst von Modernisierungsphänomenen betroffene Menschen vor Augen führen. Am deutlichsten zeigt sich diese Desillusionierung immer dann, wenn die Reisenden in einem besonders abgelegenen Dorf ankommen, dessen Bewohner T-Shirts mit amerikanischen Aufdrucken tragen, ihre Hütten mit Werbeplakaten dekoriert haben und wohlmöglich noch ein undurchschaubares Spektakel inszenieren, in dem Authentizität nicht mehr gefunden, sondern von den europäischen Betrachtern autosuggestiv hergestellt und damit zugleich dekonstruiert wird: And under the moon and the unfamiliar stars, benath the tiny orange glow of the Russian observation satellite hanging stationary in space above the Marxist People's Republic of the Congo, and, perhaps, still euphoric after the dancing and the laughter, I felt for a moment that Djeki itself was a village in an idyll, a place where nothing bad could happen. (CJ 283)

Im Unterschied zu modernistischen Entwürfen wird in diesen gestörten Idyllen Authentizität nicht mehr in gereinigten, sondern in gemischten Ensembles gesucht. Die von Greenblatt und Clifford zum Programm erhobenen Anekdoten über das Eigene im Fremden scheinen sich damit endgültig als neue Authentizitätsformeln einer postmodernen Reiseliteratur etabliert zu haben. 26 Diese hybri-

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Die Problematik einer Verschriftlichung mündlicher Traditionen wird in diesem Zusammenhang auch explizit erörtert (CJ 333). Vgl. dazu Stephen Greenblatts Bali-Anekdote Uber die Dorfzeremonie mit VideoBegleitung in Marvelous Possessions. The Wonders of the New World. New York 1991. S. 3-4; sowie die von James Clifford in Clifford 1986, S. 116, aufgegriffene Anekdote über einen Küstenstamm in Gabon, dessen Mitglieder dem anthropologischen Beobachter just jene Antworten gaben, die sie längst in seinem Buch gelesen hatten. Zum Wandel von Authentizitätsformeln vgl. ferner H. Lethen, „Versionen des Authentischen: Sechs Gemeinplätze". In: Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle. Hg. vonH. Böhme und K. Scherpe. Reinbek 1996. S. 205-231, hier insbesondere seine Hinweise auf

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disierende Tendenz erfasst in Congo Journey auch die pastoralen Reminiszenzen. Finden sich zu Beginn des Buches noch ungestört nostalgische Erinnerungen an die Kindheit in Wiltshire (CJ 13, 54), so wird eine nächste Reminiszenz bereits durch die Relikte von Kopfjägern konterkariert, die an die kannibalistischen Objekte in Heart of Darkness erinnern (CJ 86). Eine gravierendere Störung ergibt sich, als in einem von O'Hanlon unter Drogeneinfluß halluzinierten Zwiegespräch ein mit Marcellins Zügen ausgestatteter Teufel den Kindheitserinnerungen des Erzählers jegliche beruhigende Wirkung austreibt, indem er sie als Kulisse klischeehafter „Englishness" demontiert: But especially about the comfort of memoires. And as you think you're such a realist [...] let us contrast those memories with daylight reality, now. Your childhood home, for instance, you know - the one you bore people with - the vicarage, the mellow Bath stone, the walled garden, the enchanted gazebo, the birds, the river and all the rest of it - finished. Gone. That blue door in the wall, the one to the road outside - well, it says on it, „KEEP OUT - THIS MEANS YOU". Very Proustian, don't you think? There are gipsies living in the house; the chimney's fallen through the roof; the drawing-room's a workshop, hung with tools; they've knocked down most of the garden wall; the finial, the stone ball on top of the gazebo - it's gone; the glebe, the church field - that's a housing estate; and the little stream, the stream where you caught your minnows and kept your ducks, the banks of your stream - they're straight, and concrete. (CJ 247)

O'Hanlons Gegenspieler Marcellin bereitet den Nährboden für die selbstkritischen und desillusionierenden Alpträume des Ich-Erzählers, indem er afrikanischen Aberglauben und europäisches Unbewusstes, Fetische und Psychoanalyse analogisiert (CJ 335). In weiteren Rückblenden sorgt diese Taktik einer relativierenden Paralellisierung dafür, daß O'Hanlon sich nicht mehr allein an seine eigene idyllische Vergangenheit erinnert, sondern schuldbewusst auch die weitaus weniger privilegierte Kindheit seines afrikanischen Gefährten imaginiert (CJ 361), oder daß das friedliche Bild des Pfarrhauses von Erinnerungen an Bruce Chatwins Aids-Tod überlagert wird (CJ 340-341). Und auch diese Reminiszenz an eine eigentlich harmonische Begegnung mit dem verstorbenen Freund bleibt ironisch gebrochen. Sie zeigt nämlich, daß die historische Hommage längst zur kommerzialisierten Attitüde geworden ist; daß nun nicht mehr die Helden des 19. Jahrhunderts heraufbeschworen werden, sondern ein Zeitgenosse, der mit Hilfe eines nostalgischen Objektfetischismus die Illusion individuellen Reisens im Zeitalter des Massentourismus aufrechtzuerhalten versucht: Beneath the first ridge of the Black Mountains we parked by a track and got out our boots: mine, black Wellingtons; his, a pair of such fine leather that Hermfes would have done a swap. I put on my bergen (with nothing in it but a loaf of bread and two bottles of wine) and he put on his small haversack of dark maroon calfskin (with nothing in it but a Montblanc pen, a black, oilcloth-bound, vrai moleskin notebook, a copy of Aylmer Maude's translation of War and Peace, Strindberg's By the Open Sea and the most elegant pair of binoculars that I had ever seen). (CJ 341)

das Fremde als „Residuum des Authentischen" und Lionel Trillings Analyse von Heart of Darkness, S. 222.

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Im Vergleich mit Chatwins elaborierter Selbstinszenierung scheint die Pose des retro-viktorianischen Reisenden O'Hanlon ihres nostalgischen Zaubers beraubt. Der dandyhafte Reisestil des homosexuellen Freundes weist außerdem darauf hin, daß in Congo Journey die Geschlechterrollen nachhaltiger in Bewegung geraten als in den beiden früheren Texten. Während man sich dort noch auf die sexistischen Rituale einer männlichen Reisegemeinschaft verlässt und allein Intertexte von männlichen Autoren zur Orientierung dienen, aktiviert O'Hanlon in Congo Journey mit Mary Kingsleys Travels in West Africa einen Intertext, der den heroischen Modus männlichen Entdeckungsreisens schon 1897 durch die selbstironische Konzentration auf die prosaischen Details und Widrigkeiten von Kingsleys Flussreise unterläuft.27 Die durch den Verweis auf Kingsleys Travels eröffnete weibliche Perspektive wird außerdem betont, wenn der Erzähler darauf hinweist, daß allein in einem Frauendorf eine soziale und ökologische Utopie harmonischen Zusammenlebens noch zu gelingen scheint: The village was quiet, peaceful in the evening light, a light that was somehow translucent despite the grey of the sky, the effect, perhaps of reflection from the lake; the huts were irregular, the paths all curved, there were no hard edges or straight lines or squares of rectangles anyhwere; tall red flowers, like wild poppies, hung above the jungle grasses. No one mobbed us, no one demanded anything. (CJ 289)

Da O'Hanlon die Sympathien des Lesers u.a. durch konstrastierende Szenen28 auf die in diesem Dorf realisierten Ideale weiblicher Autarkie und weiblichen Traditionsbewusstseins lenkt, überrascht es schließlich auch nicht, wenn der Erzähler am Ende der Reise einen erstaunlichen Geschlechterrollenwechsel vollzieht. Dieser ereignet sich, als auch das Motiv des „going native" satirisch revidiert wird. So scheint O'Hanlon zwar die Kontrolle in ähnlicher Weise wie Conrads Mr. Kurtz zu verlieren: „White men like you - something happens out there in the forest. Every time. They get a kind of madness in there. They can't leave. They never want to come out!" (CJ 389). Während sich O'Hanlons Vorbilder des 19. Jahrhunderts aber in der Regel auf sexuelle Beziehungen mit indigenen Frauen einlassen, mutiert der retro-viktorianische Erzähler in Congo Journey zur Adoptivmutter („mother") eines durchfallgeplagten Schimpansenbabys, um das er sich in aufopfernd-symbiotischer Weise kümmert (CJ 431). Diese ironische Erfüllung des quest-Motivs - O'Hanlon findet zwar nicht den mysteriösen Saurier, dafür aber immerhin ein Affenkind und eine .weibliche' Seite seiner Persönlichkeit - destabilisiert die sozialen Ideologien, die in retro-viktorianischen Texten wie z.B. A. S. Byatt's Possession oder „Morpho 27

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M. Kingsley, Travels in West Africa. London 1993. Vgl. auch B. Körte, Der englische Reisebericht. Von der Pilgerfahrt bis zur Postmoderne. Darmstadt 1996. S. 160-162; Pratt 1992, S. 213-216. Zu diesen zählt insbesondere eine Dorfszene, in der Ureinwohner zu einem halbherzigen Tanz und „high-pitched, desultory song" gezwungen werden: „No one looked at us, no one smiled", während kurz darauf der tyrannische Kommandant alle Polaroids an sich bringt, die die Reisenden für die Dorfbewohner gemacht hatten (CJ 128).

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Eugenia" letztendlich festgeschrieben werden. 29 Indem O'Hanlon zur Karikatur von primatologischen Ikonen wie Dian Fossey oder Jane Goodall gemacht wird, fällt allerdings auch ein ambivalentes Licht auf den ökologisch-feministischen Diskurs, der der Congo Journey als Alternative zur heroischen Poetik des Abenteuerreisens eingeschrieben scheint. So wird das ökologische Pathos, mit dem der Erzähler die Schimpansen-Episode erlebt, beispielsweise durch die harsche Kritik seiner Reisegefährten gebrochen, die ihn - in einer weiteren Inversion kolonialer Denkmuster - als „white gorilla" beschimpfen (CJ 410). Diese Kritik, unterstützt von vielen komischen Effekten, legt nahe, daß sich auch die gutgemeinten Empfindungen O'Hanlons aus jener exotistischen Tradition speisen, die der desillusionierte „post-tourist" 30 immer wieder zu vermeiden sucht. Während in A. S. Baytts Roman The Biographer's Tale (2000) - auch hier lohnt sich wieder ein vergleichender Blick - seine Romanze durch eine umweltbewusste Bienenforscherin aktualisiert und das Ideal elitären Individuaireisens unter dem politisch korrekten Deckmantel eines von zwei schwulen Besitzern geführten idyllischen Reisebüros weiterleben läßt, 31 führt O'Hanlon nicht nur Bruce Chatwin als das fleischgewordene Markenzeichen dieser exotistischen Tradition vor. Wenn er sich durch die überraschende Adoptiv-Mutterschaft jegliches Zeitgefühl verlieren sieht („I may have lost my grip on time", CJ 416), deutet er zudem an, daß gerade durch die ökologisch-feministische Revision des „going native"-Motivs allochrone Zeitvorstellungen aufrechterhalten werden: Wo geschichtsbewusste und eloquente Afrikaner nicht mehr als primitivistisches Gegenbild taugen, können hilflose Primaten an ihre Stelle treten und daran erinnern, daß auch retro-viktorianische Zeitreisen nach Afrika ihr koloniales Erbe nicht abschütteln können. 32

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Vgl. Shuttleworth 1998, S. 268: „[...] it is significant that the endings of Possession and ,Morpho Eugenia' actually reinforce the two primary strands of Victorian social ideology: familial continuity and the energy of individualism. No return to history can be innocent." Vgl. zum Konzept des „post-tourist" Rojek, Urry 1998, S. 102. Vgl. A.S. Byatt, The Biographer's Tale. London 2001. S. 106: „ ,We sell odd holidays', said Erik. .Literary holidays - the golden road to Samarkand, haunts of the Lorelei, Treasure Islands. Brontes Brussels. Anywhere that isn't a Heritage site. The battlefields of the Hundred Years War. Green Hells.'" Dieses postkoloniale Dilemma, in das politisch-korrekt motivierte Überwindungsversuche häufig geraten, wird auch in Will Selfs Roman Great Apes (1997) thematisiert. Hier wird der intertextuell arbeitende Retro-Viktorianer O'Hanlon selbst zum Objekt einer intertextuellen Referenz: Der Protagonist, ein Schimpanse, der in der verkehrten Welt des Textes unter dem Wahn leidet, ein Mensch zu sein, besucht mit seinem Therapeuten einen Schimpansen-Anthropologen namens Hamble. Dieser diskutiert mit dem Patienten die unter Anthropologen verbreitete Gewohnheit spezies-iibergreifender sexueller Handlungen und schenkt ihm am Ende ein Buch mit dem Titel ,Jn Deep Shit", das der Protagonist, „albeit under another title and in a parallel world" längst gelesen hat. Vgl. W. Self. Great Apes. London 1998, S. 331.

Κ. Ludwig

Pfeiffer

Literarische Reisen und ihre Bifurkation ins Bewußtsein

Zyklen und Bifurkationen Für vorliegende Zwecke betrachte ich Literatur als ein vom 18. bis ins 20. Jahrhundert bevorzugtes Medium psychischer und kultureller, auch technischer (Ent-)Kopplungen. In der mathematisch-naturwissenschaftlichen, von der umgangssprachlichen Verwendung der Begriffe weit entfernten Chaos- und Katastrophentheorie sind - subtile oder explosive - Bifurkationen als qualitative Veränderungen im vordergründig dominanten, etwa als Zyklusfolge vorstellbaren Verhaltensmuster dynamischer (oder auch ,dissipativer') Systeme definiert. Bifurkationen verändern die Aspektstruktur solcher Systeme radikaler als die im Rahmen von Zyklen immer gegenwärtigen Fluktuationen. In der vielfachen Wiederholung sich verzweigender Zyklen können sich die auch der populären Phantasie irgendwie bekannten seltsamen Attraktoren oder die in ihrer fulminant regelmäßigen Unregelmäßigkeit bestechenden .fraktalen' Strukturen bilden. Die Übertrag- und Anwendbarkeit der Chaos- und Katastrophentheorie auf Gegenstände der Kulturwissenschaften ist im Prinzip gering. Die hier zur Verfügung stehenden Daten, wenn man überhaupt davon sprechen will oder kann, sind außerordentlich .verschmutzt', das heißt mit Unscharfen aller Art belastet. Dennoch darf man das Modellierungspotential der entsprechenden Kategorien auch für kulturwissenschaftliche Zwecke nicht unterschätzen. Die imaginativen Dimensionen vieler literarischer Werke sind oft genug mit den Vorstellungen und Wirkungen der Techno-Kultur übersät. Die Werke, die hier interessieren, folgen aber weder deren Vorgaben noch verhalten sie sich einfach antizyklisch. Aus Kopplungen entspringen Verzweigungen, welche die Systemgrenzen der Vorgaben überborden. So gibt es, wie ich im folgenden zeigen möchte, einen signifikanten literarischen Trend, in welchem die psycho- und interkulturell (im weiteren Sinne politisch usw.) in Gang gesetzten Raumreisen, sodann die vornehmlich technokulturell gespeisten Zeitreisen beiseite gestellt, vergleichgültigt werden, ohne damit freilich zwangsläufig belanglos zu werden. Die Zeitreise vor allem schlägt in evolutionär konturierte Reisen ins Bewußtsein um.

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Chronologische Muster und ihre Überraschungen Reisen mögen bilden, unterhalten, herausfordern und anderes mehr leisten. Sie bieten oft dringliche, manchmal unabweisbare, jedenfalls naheliegende, weil zumeist auch irgendwo und irgendwann psychisch und physisch beanspruchende Formen menschlicher Selbstexpansion. Noch der wörtlich wie metaphorisch zu verstehende Sonnenbrand des Massentourismus steht im Dienst der Selbstexpansion, treibt diese freilich an ihren absurden Umschlagspunkt. Generell ist Selbstexpansion oft von anderen Motivationen, Referenzen und Codierungen kultureller, politischer (schlimmerenfalls kolonialistischer und imperialistischer) oder technologischer Art so stark überlagert, daß das Selbst von der Expansion verschluckt zu werden scheint. Es lassen sich gleichwohl Zyklen unterstellen, in denen jenseits solcher Indienstnahmen das Reisen als Formgebung der Selbstexpansion sich durchsetzt. Im Horizont schlichter, aber deswegen nicht immer falscher chronologischer Denkweisen wird das wohl in der Renaissance, im 18. Jahrhundert und seitdem stetig oder doch immer wieder der Fall gewesen sein. Dem 18. Jahrhundert vor allem hat man die Ausbildung einer ars peregrinandi zugeschrieben. Sie habe vor allem der Literatur ein neues imaginatives Idiom selbst da beschert, wo nicht so sehr die Heldinnen und Helden, sondern vornehmlich ihre Briefe reisen.1 Das Reisen als Programmatik und Kunst der Erfahrung verschafft sich bei Smollett und anderen eine - vielleicht auch nur halbironische - Geltung bereits im Namen von Figuren (Peregrine Pickle) und in der Spezifizierung des Abenteuer-Begriffs zu expedition. Damit gewinnt das pikareske Motiv des eher ziellosen Umherziehens und des monoton desillusionierenden Herumgestoßenwerdens ein ungefähres, auch zielorientiertes Profil. Selbst die Philosophen geben sich, wie es scheint, reisefreudig(er): Im 17. Jahrhundert treibt Hobbes noch die Angst vor dem Bürgerkrieg aus dem Land und für elf Jahre nach Paris; Locke seinerseits entzieht sich möglichen politischen Pressionen durch einen Aufenthalt erst in Frankreich, dann in Holland, wo ihm, wenig überraschend, sein Plädoyer für die Religionsfreiheit einfällt. Im 18. Jahrhundert aber fallen die philosophischen Erträge des Reisens wohl konstruktiver aus. Hume schreibt sein Pionierwerk, den Treatise of Human Nature, während eines Frankreich-Aufenthaltes; Shaftesbury geht auf eine sehr ausführliche Grand Tour und setzt insoweit eine aristokratische Tradition (vor allem im Blick auf die Kulturstereotypen Frankreich und Italien), diese aber doch wohl in- und extensiver (ζ. B. vier Monate in Paris) fort. Danach muß er das Reisen wegen seiner politischen Arbeit zu Hause für längere Zeit einschränken. Aber später macht er sich wieder, wohl nicht nur aus gesundheitlichen Gründen, nach Italien auf. Den nahenden Tod vor Augen, verfaßt er unentwegt vor allem Kunstphilosophisches in der Nähe von Neapel.

P. Rogers, The Augustan Vision. London 1974. S. 63.

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So gerät das Reisen zu „a basic psychic fact", ja gar „an epistemological act".2 Dieser Anspruch hält sich bis ins 20. Jahrhundert durch. Noch Bruce Chatwin formuliert: „But travel does not merely broaden the mind. It makes the mind." 3 Gleichwohl ist eine solche, durchs Reisen intensivierte Kopplung von Person (als psychophysischem .System') und (zu erfahrender) Andersheit (Kultur usw.) hochgradig instabil. Bei Rogers zeigt sich die Instabilität in einem gewissen Schwanken zwischen dem Reisen als „epistemological act" und als (gleichsam bloßer) „metaphor for discovery or quest" oder „moral enquiry" 4 Entdeckungen, die man auch anders machen, moralische Suchergebnisse, zu denen man auch anders gelangen könnte. Chatwin seinerseits landet bei einer neurohormonellen Umdeutung Pascalscher Einsichten: Der Reisende ist die neurotische Konsequenz menschlicher Unfähigkeit, es im eigenen Zimmer auszuhalten. Pascals verkappter häuslicher Durchhalteappell fruchtet wenig: Spätestens in Baudelaires „horreur du domicile" nimmt er klaustrophobische Züge an. Das Reisen beugt dem Ersticken zu Hause vor. Aber: Es vertreibt nicht zwangsläufig die Langeweile von der es, ganz im Gegenteil, schnell immer wieder eingeholt wird. Chatwin predigt das Reisen schließlich vor allem deswegen, weil es eine der besseren Stilformen des Umgangs mit dem unentwegt produzierten Adrenalin darstellt. Reisen ist eine der angenehmeren und auch aufregenderen Formen von „restlessness", der neurotischen Ruhelosigkeit von „compulsive movers".5 Kann aber die Motorik nicht stillgestellt werden, so geraten die beschränkten Wahrnehmungsfähigkeiten durch die Unendlichkeit der Angebote massiv unter Druck. Im Dauerbeschuß der Angebote kommt es zum Konflikt zwischen motorischer (und auch psychischer) Ruhelosigkeit und Wahrnehmungsverschleiß. Globalisierungsbewußte Managementberater kennen den inzwischen stereotyp gewordenen Prozeß, in welchem die Dauerbestrahlung durch fremde Kulturen .nationale' Stereotypen eher verhärtet als sie aufweicht oder differenziert. Der „new Internationalism", so wiederum Chatwin, führt leicht zu einem „new parochialism". 6

2 3

4 5

6

Rogers 1974, S. 64,67. B. Chatwin, Anatomy of Restlessness. Uncollected Writings. Hg. von J. Vorm and Μ. Graves. London 1996. S. 101. Rogers 1974, S. 67. Chatwin 1996, S. 76, vgl. auch S. 102-103. In zwei eher aufs Geratewohl herausgegriffenen Büchern über das Reisen in der Gegenwart sind das Hin und Her von Erfahrungskunst und Langeweile bzw. die stets mögliche Reduktion des Reisens auf physische Beanspruchung als Basis und Restform psychisch-vitaler Aktivierung (all das heutzutage natürlich auch anders zu haben und Uberwiegend anders, etwa sportlich codiert) mit verbleibenden Kuriositätsresten sehr schön ausgebildet. Vgl. A. de Botton, Die Kunst des Reisens. Frankfurt/M. 2002 und E. Schwarz, Die Japanische Mauer. Ungewöhnliche Reisegeschichten. Siegen 2002. Natürlich möchte ich die jeweilige Phänomenologie des Reisens (Schwarz 2002, S. 7) dieser Bücher nicht darauf reduzieren. C. Hampden-Turner and F. Trompenaars, The Seven Cultures of Capitalism. Value Systems for Creating Wealth in the United States, Britain, Japan, Germany, France, Sweden, and the Netherlands. London 1994. S. xi; Chatwin 1996, S. 84.

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Nehmen wir ferner den Hinweis von Rogers auf, wonach nicht die Romanheldinnen selbst, so doch ihre Briefe reisen, so gewärtigen wir, wie schnell der mögliche Erkenntnis- und Vitalwert des Reisens im Räderwerk der Kommunikationstechnologien (im 18. Jahrhundert handelte es sich ja im Wortsinne oft um Räderwerke) zerrieben werden kann. Der englische Begriff communications) hat diese Ambiguität in der Doppelung von (Reise- oder Nachschub-) Verbindungslinien und Nachrichtenübertragung bewahrt. Im Werk des McLuhan-Vorgängers Harold A. Innis (der die Thesen McLuhans, wie dieser selbst freimütig einräumt, weitgehend vorweggenommen hat) schlägt diese Ambiguität in der Kopplung von „trade-routes of the external world" und „trade-routes of the mind" durch. 7 Im Blick auf Technologien des Reisens könnte eine kritische Schwelle mit der Verlagerung vom Auto aufs Flugzeug überschritten worden sein, weil im Flugzeug eine psychisch produktive Motorik nicht mehr erfahren werden kann (s. auch unten zu Huxley). Insofern würde ich, wenn überhaupt, eine Schwellen-Semantik der Bewegung anders als B. Waldenfels anlegen, für den in phänomenologischer (aber im Körperbezug nicht hinreichend differenzierter Einstellung) im Wortsinne „gebahnte Wege" eine mögliche Pathologie des Landschaftserlebens - und wohl implizit auch des Reisens allgemein einleiten. 8 Schließlich entspringt die epistemologisch-psychische Dynamik des Reisens im 18. Jahrhundert einer nur scheinbar paradoxen geschichtlichen wie diskursiven Situation: Sie setzt, gerade bei den reisenden Philosophen und hintergründig auch bei den meisten Schriftstellern, die Existenz einer weitgehend stationären Gesellschaft oder das Ideal einer weiterhin (und sicher noch stärker als etwa im englischen 17. oder dann im ausgehenden französisch-revolutionären 18. Jahrhundert) stabilen Ständehierarchie voraus. Das Reisen birgt enormes kognitives Potential, gerade weil es als markante Differenz zur Normalität, wo nicht als Ausnahme, wahrgenommen werden kann. Diese Differenz verwischt sich in dem Maße, in dem die Reisen ihrerseits zur massentouristischen Alltäglichkeit nivelliert werden und sich eine banale Äquivalenz von Reisen und Stationärem in Form von Staus herstellt. „Augustan culture", so formuliert Rogers den Kontrast, „was rarely on the move, and surprised at itself when it was". Das Reisen verliert unter Umständen sofort an Interesse, wenn das Ideal des Beständigen bedroht zu sein scheint. Edmund Burke etwa hat sich in vielen Schriften mit den amerikanischen Kolonien, dem ostindischen Handel u.a.m. beschäftigt. Die Französische Revolution hat ihn als (fast) erhabenes .Phänomen' ungemein beeindruckt („the most astonishing that has hitherto happened in the world".

7

8

H.A. Innis, Kreuzwege der Kommunikation. Hg. von Κ. Barck. Wien 1997. S. 4 u.ö. Vgl. das einschlägige Kapitel 6 („Communications") bei Rogers 1974. B. Waldenfels, „Gänge in die Landschaft". In: Landschaft. Hg. von M. Smuda. Frankfurt/M. 1986. S. 38-9. Vgl. S. 39: „Der Zugpassagier vollführt keine Eigenbewegung, er wird transportiert, eingeschlossen ins Abteil wie in eine fahrende Wohnzelle." Daraus folgt ein „Plädoyer für das [heute doch nur noch sehr eingeschränkt reisefähige oder repräsentative] Gehen", das wir „nicht zu wörtlich und nicht zu eng, aber auch auch nicht zu sublim" verstehen sollen (40).

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„this strange chaos of levity and ferocity", „this monstrous tragi-comic scene"). Aber das Reisen verlockt ihn kaum. Stattdessen versucht er als Schriftsteller, Parlamentarier und Amtsinhaber, die bedrohliche Differenz solcher Phänomene abzuwehren.9

Problematische Ambivalenzen Ich will zumindest zwei zusammenwirkende Trends hervorheben, die im 19. Jahrhundert die Instabilität des Reisens in problematische Ambivalenzen kippen lassen. Einmal schrumpfen die noch unbekannten Räume, welche in der Vergangenheit die sattsam bekannte Montage von Reise und Staatsutopie ermöglichten. (Die USA machen zusätzlich einen analogen internen Prozeß mit der nicht mehr weiter ausdehnbaren frontier durch, deren pazifisch, aber nicht pazifistisch blockierte weitere Verschiebung durch alle möglichen frontierErsatzmythen kompensiert wird. Die Folgelasten trägt der Rest der Welt.) Wo der Raum noch in seinem realen wie imaginären Potential mobilisiert wird, droht ihm im Zeitalter der Ideologien wie der Katastrophen, der Ambitionen wie der Enttäuschungen des europäischen Nationalstaats im allgemeinen die Aufladung mit entweder aggressiven oder sentimental-exotistischen Konnotationen und ihren durchaus realen Folgen. So treten etwa Rassevorstellungen, was man sehr schön wort- und begriffsgeschichtlich verfolgen kann, eine nunmehr unheilvolle Karriere in dieser Zeit an.10 Oder aber die Zeitreise, etwa in Gestalt der Science Fiction, löst die Raumreise in der Literatur weitgehend ab. Die Zeitreise ist aber nur eine Metapher für das imaginäre Experiment einer Einlösung technologischer Versprechen oder Alpträume. Sie zehrt von den Konnotationen der Reise, ohne die Reise selbst noch beim Wort zu nehmen. Zum zweiten erlebt das 19. Jahrhundert mit dem Jahr 1871 nicht nur die mit dem gerade zu aggressiven Aufladungen Gesagten zusammenhängende Gründung des Deutschen Reiches, sondern die mit der europäischen - und dann amerikanischen - Politik auf engste verbundene Entstehung der Kulturanthropologie. Sir Edward Bumett Tylors evolutionistisch gewirktes Buch Primitive Culture schmeichelt dem 19. Jahrhundert, indem es die in schneller Folge kolonisierten und teilweise noch schneller ausgerotteten (Stammes-)Kulturen als primitive bezeichnet. Aber Tylor, wie kurze Zeit vorher die mit der Kulturanthropologie teilweise im Diskursverbund zu denkende Evolutionstheorie, schok'

10

Rogers 1974, S: 69; E. Burke, On Taste. On the Sublime and Beautiful. Reflections on the French Revolution. A Letter to a Noble Lord. New York 1937. S. 150 (Reflections on the Revolution in France [sic]). Vgl. meinen Artikel „Racismes modiris, racismes mal placds: Frictions et Paradoxies dans les Formations discursives en l'Angleterre du XIXe sifecle. La construction de la notion de "race " dans la literature et les sciences humaine", im Druck. Vgl. femer die stärker theoriegeschichtlich pointierten Darlegungen bei M. Harris, The Rise of Anthropological Theory. New York 1968, Kap. 4 („Rise of Racial Determinism").

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kiert das europäische 19. Jahrhundert dadurch, daß er den Stammeskulturen überhaupt das beliebte und nicht nur in diesem unseren Land der Bildung hochgehandelte Prädikat .Kultur' zuspricht und sich im übrigen über die .Dummheit' („stupidity") einer Reihe von archaischen Gebräuchen auch in modernen zivilisierten Gesellschaften lustig macht." Zunächst erklärt das für unsere Zwecke, daß und warum technologische Zeitreise und evolutionäre Horizonte bei vielen Schriftstellern (z. B. H.G. Wells) verschmelzen. Der Kulturschock aber sitzt deswegen tief, weil kein Weg mehr an dem wie immer zähneknirschenden oder teetrinkenden Eingeständnis vorbeiführt, daß das vermeintlich gänzlich Andere, das Primitive, Untermenschliche, nur eine andere evolutionäre Stufe des Eigenen abgibt. Insofern macht das Reisen, jedenfalls im Interesse kognitiver Selbstexpansion, eigentlich keinen rechten Sinn mehr: Selbst vermeintliche Theoretiker des Imperialismus wie J.R. Seeley (dessen Buch The Expansion of England man oft für die Bibel des britischen Imperialismus gehalten hat, der in Wirklichkeit aber ein moderater Altphilologe war und von seiner klassischen Bildung her die Menschen zu kennen glaubte) raten ernsthaft zu Überlegungen, ob man von den Kolonien, deren eigene bzw. vor allem von den Kolonisatoren erzeugten Probleme man doch nicht lösen könne, nicht besser die Finger lasse. 12 Ob man in das Herz der Finsternis reisen soll, das ist bei Joseph Conrad die doch schon sehr skeptisch gestellte Frage. Wenn man noch reist, dann muß man, um dem Kollaps vorzubeugen, die westlichen zivilisatorischen Formen wahren, freilich ohne jeden idealen oder auch nur ideologischen Anspruch. Der nach Monaten äußerster Kraftanstrengung im Busch vollzogene Sprechakt des Mr. Stanley: „Dr. Livingstone, I presume", liefert das klassische reale Beispiel dafür. Im Effekt, wenn auch nicht in der Form, ähnelt diese Haltung dem Verhalten des Kapitäns Arturo Papagay, der bei A.S. Byatt in der zweiten Geschichte des Bandes Angels & Insects („The Conjugial Angel") nach jahrelanger Abwesenheit aus den Tropen zu seiner Frau zurückkehrt und trotz seines Namens zunächst einmal gar nichts sagt. Wohl hatte Arturo seine Lilias lange vorher mit „tales of his deeds and sufferings in faraway places" verzaubert und erfolgreich umworben. Aber bei der Wiedervereinigung der beiden am Ende spielt die Fremde keine Rolle mehr. A. S. Byatt hat in ihrem Buch über Wordsworth und Coleridge auch die Erosion der Kopplung Reise (.romantische' Naturerfahrung)/Bewußtsein vermerkt: Beide Pole drohen schon damals vom Tourismus überformt zu werden. Im Blick auf meine folgenden Bemerkungen erscheint es vielleicht auch nicht unwichtig, daß der zweite, seinerseits nun unentwegt redende Kapitän von Byatts Geschichte, Captain Jesse, der Mann von Tennysons Schwester Emily, von seinen Reisen vornehmlich die Qualifikation eines Tee-Experten mitbringt, " 12

Vgl. dazu J. Stagl, Kulturanthropologie und Gesellschaft. Wege zu einer Wissenschaft. München 1974. S. 12; Harris 1968, S. 168. Darüber handelt, interessanterweise in einem hochbedenklichen nazistischen Unternehmen der deutschen Anglistik, E. Wolff, „England und die Antike". In: Grundformen der englischen Geistesgeschichte. Hg. von P. Meißner. Stuttgart 1941. S. 1-94, hier S. 35-8.

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der dieses Expertenwissen in Diskussionen um die Drogenwirkung von Getränken - etwa auch Swedenborgs exzessiven, möglicherweise seine Visionen als Halluzinationen hervorrufenden Kaffeekonsum - fruchtbar verwerten kann. Angesichts basal-radikaler Bewußtseinslagen, für welche in dieser Geschichte u.a. die Metapher des Engels eines Ehe- als Seelenpaars einsteht, ist es relativ gleichgültig, ob man sich in England oder bei den Antipoden, „the green fields of New Zealand and the red deserts of Australia" befindet: „up and down are losing their grip on us". Mrs. Papagay selbst scheitert mit dem nur noch parodistisch vorgestellten Projekt eines um die Trivialromantik Tahitis kreisenden Abenteuer- und Reiseromans. Die Beliebigkeit der Orte steigt in dem Maße, in dem Bewußtseinseffekte ins Zentrum rücken. Solange man sich wirklich lebendig fühlt, „everything is surprising", so nochmals Arturo im ersten Teil von Angels & Insects („Morpho Eugenia") zum Biologen Adamson, der sich mit einer unerwarteten Partnerin auf die Reise in den brasilianischen Dschungel aufmacht. Es spielt dann keine Rolle, ob der Dschungel das Inferno und England im Vergleich dazu „a Paradise of comfort" ist - oder ob es sich umgekehrt verhält.13

Verschiebungen: Technologien und Nomaden Was macht man freilich mit der Tatsache, daß viele bedeutende Schriftsteller trotz solcher Perspektiven immer noch sehr viel, ja oft genug sehr viel mehr gereist sind und darüber auch geschrieben haben? Sicherlich gibt es noch Räume, die als physische und als kognitiv-kulturelle Herausforderungen auch dann nicht abzuschreiben sind, wenn man sich keinen Illusionen über das Faszinosum vermeintlicher Erfahrung und die Fallstricke kulturvergleichender Diskurse hingibt. Ich denke, daß man Lawrence Durreils Alexandria Quartet und selbst die letzten Romane dieses Autors in diese Richtung lesen kann. Ich möchte sogar behaupten, daß die technologische Dichte des Doppelromans The Revolt of Aphrodite ihre Stoßkraft erst in einer letzten Bemühung des Schreibens gewinnt, aus dem trivial-enigmatischen Exotismus der griechisch-türkischen Welt eine Art kognitiv-imaginäre Anschubfinanzierung für die Erkundung des immer noch irgendwie Anderen herauszuquetschen. Für signifikanter aber dürfen wir wohl - diese archaisierende Bifurkation ist wohl doch behauptbar - die (Rück)Verwandlung des reisenden Schriftstellers in den Nomaden halten. Die längst zum Schlagwort abgesunkene Rede vom rasenden Stillstand deutet es an: Im 20. Jahrhundert bewegt man sich unentwegt selbst dann, wenn man auf der Stelle tritt. Man könnte das daraus folgende 13

A.S. Byatt, Angels & Insects. London 1993. S. 158, 160, 166-7, 171, 176, 182, 191, 210, 239. Vgl. auch Byatt, Unruly Times. Wordsworth and Coleridge in their Time. London 1997. S. 242, 249-80. Ganz der Mann moderner interdiskursiver oder protoliterarischer Ausdehnung schreibt Wordsworth nicht nur Poesie, sondern auch einen Lake DistrictBaedeker (Guide to the Lakes).

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Verschwimmen der Opposition von Seßhaftigkeit und Reisen, die Emergenz einer anderen, ungefähren Differenzierung, nämlich der zwischen Unterwegssein (Spezialfall Tourist), Reisen und Nomadisieren mit der Person Aldous Huxley illustrieren (die Texte ziehen noch radikalere Konsequenzen, da ihnen die verbleibende Motorik, der Bewegungsdrang der Person weniger zu schaffen macht; s.u.). In den riskant schnellen Autofahrten des sehbehinderten jungen Huxley durch die Kunst- und Architekturlandschaften Italiens mischt sich eine technisch induzierte Körpererfahrung, der vielbeschworene Geschwindigkeitsrausch, mit den traditionellen Motiven der Bildungsreise. Je mehr die TechnoKörpererfahrung etwa im Flugzeug ausgeschaltet und Reiseziele massentouristisch .erschlossen' werden, desto mehr zieht sich Huxley in etwas zurück, was man serielle Seßhaftigkeit an wechselnden Wohnsitzen (von der kalifornischen Wüste bis Los Angeles usw.) nennen könnte. Im Verbund mit Unterwegssein entwickelt sich die Person zu jenem Nomaden, zu dessen Propheten, Selbstinszenierung hin oder her, sich Bruce Chatwin letztendlich aufgeschwungen hat. Der moderne Nomade reist, indem er/sie weiterreist, weil es ihn bzw. sie nirgends hält. Allzu offenkundig sind die Defizite, die sich in jeder so genannten und noch so fernen Kultur dann beschleunigt auftun, wenn man sie auf ihre Möglichkeiten als Lebensform befragt. 14 Beschleunigt sich aber der Verschleiß des kulturell aufgeladenen Raumes („Raumverlust"), so heißt das noch lange nicht, daß die technologisch unterfütterte Zeitreise - die Zeitreise als technologische Metapher - unangefochten den Platz der Raumreise einnimmt. Zwar sind Technologien, wie etwa schon u.a. Gehlen hervorgehoben hat, libidinös und imaginär besetzungsfähig. Mechanisierungen aller Art bis hin zur Automation und Digitalisierung setzen die in Handlungskreisen gesuchten Entlastungen fort: der Technik eigne „seit ihren Anfängen triebhafte, unbewußte, vitale Bestimmungsgründe". 15 Die Debatten um das technologisch Erhabene in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts haben solche Perspektiven in einer anderen einschlägigen Diskurstradition chiffriert. Man könnte, in nochmals variierter Begrifflichkeit, diesmal jener D. W. Winnicotts, auch sagen, daß Technologien bis hin vor allem zu Computerspielen gerade deshalb körperrelevante und imaginär beziehungsfähige Übergangsobjekte abgeben bzw. die entsprechenden intermediären Zonen eröffnen, weil sie das Arsenal der Techniken zur Bewältigung eines Grundproblems Selbstdeutungen müssen immer über Formen des Nicht-Ich herangeholt werden - um enorm attraktive, flexible und dehnbare Varianten erweitern.

14

15

Vgl. Chatwin 1996, Kap. ΙΠ: „The Nomadic Alternative". Erheblich differenzierter noch hat Charles Grivel das Konnotationspektrum des nomadischen Reisens entfaltet und die Entdifferenzierung älterer Reisesemantik vorangetrieben. Vgl. seinen Aufsatz „ReiseSchreiben". In: Materialität der Kommunikation. Hg. von H.U. Gumbrecht und K.L. Pfeiffer. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1995. S. 615-634. Huxleys Probleme mit (.fremden') Kulturen als Lebensformen setzen wohl massiv mit der Indien-Reise ein. Vgl. S. Bedford, Aldous Huxley. A Biography. Vol. 1. London 1973. S. 164-165. A. Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft. Hamburg 1970. S. 19. Vgl. auch S. 16-21.

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Andererseits sind solcher Ausdehnung kaum konkret bestimmbare, gleichwohl irgendwann und irgendwie dicht gemachte Grenzen kognitiv-komplexer wie imaginär-libidinöser Relevanz gesetzt. Anstelle von Argumenten kann ich an dieser Stelle nur zwei Anmerkungen zur These bieten. Computerspiele inszenieren Körper und ihr Imaginäres in sehr attraktiv-innovativen Weisen. Aber sie schalten den realen Körper des Users nicht nur weitgehend aus, sondern zwingen ihm kontraproduktive bis gesundheitsschädigende Haltungen auf. Science-Fiction-artige Zeitreisen neigen ihrerseits dazu, die heutzutage gebotenen Niveaus kognitiver oder auch affektiver Komplexität zu unterschreiten. Es besteht in dieser Hinsicht ein deutlicher Kontrast zwischen der vielbändigen Canopus-in-Argos-Scne Doris Lessings und ihren anderen, weiter unten zu behandelnden .normalen' Romanen. Im zweiten Band der Science-Fiction-Serie sehen die Liebesprobleme in der Sternenwelt den Affektkonventionen auf der Erde, über die sich Lessing in anderen Romanen schon lustig gemacht hatte, verzweifelt ähnlich. Der Konflikt kosmologischer Bewußtseinsformen auf den Planeten Canopus und Shammat gleicht einem Duell zwischen dem europäischen Mythos des Philosophen-Königs und dem „bad guy" amerikanischer Westem oder Kriminalfilme.

Huxley: Selbstkontingenz und physische Beanspruchung Doris Lessing kehrte nach ihren Ausflügen ins All in die unübersichtlichen irdischen Problemzonen menschlicher Evolution zurück. Darüber gleich noch mehr. Aldous Huxley, der vielgereiste, hat seinerseits Brave New World (1932) gar nicht als Zeitreise angelegt, auch wenn wir uns da im siebten Jahrhundert nach Ford befinden. Vor allem geht es primär nicht um den unterstellten Stand biochemischer Gentechnologien. Denn diese folgen aus den Tendenzen der Gegenwart und Vergangenheit, die Huxley lediglich in die Zukunft verlängert. Daß seine als Prognose, ja Prophetie verkleidete Diagnose mehr und mehr an Evidenz gewinnt, kann man Huxley, der dies schon in Brave New World Revisited (1958) beanspruchte, wohl schwerlich bestreiten. Der neuerliche Besuch der schönen neuen Welt liefert daher ganz offen eine Gegenwartsdiagnose, in der das Reisen positiv wie negativ keine Rolle mehr spielt. Sieht man den Roman (denn als solcher wird Brave New World im Untertitel bezeichnet) vornehmlich als Zeitreise, so übersieht man, inwieweit die Ansprüche der Zeitreise auch in diesem Text schon abgebaut werden. Die neue Welt mag gesellschaftlich stabilisierbar sein. Die Konstrukteure dieser Welt aber (re)produzieren das logische (früher hätte man wohl gesagt: transzendentale) Problem aller Gesellschaftskonstrukteure bis hin zu den heutigen Systemtheoretikern: Sie bekommen, bei aller „over-organization" (Brave New World Revisited), weder ihre, in ihre Konstruktionen sich einschleichende Eigenkomplexität noch die Komplexität von personalen oder systemischen Gruppierungen und deren Schnittstellen zureichend in den Griff. Die zwar noch systemtheoretisch denkende, aber insgesamt schon

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skeptisch gewordene Organisationspathologie hat die aus der Unangepaßtheit von Systemen, ihrer strapazierten Eigenkomplexität (das heißt ihrer Elastizität, Anpassungsfähigkeit gegenüber wechselnden, ungewissen Umweltereignissen) und Selbstkontingenz (das heißt die Zufälligkeit der Systemstrukturen gegenüber Daseins- und Steuerungsformen im menschlichen Lebensbereich) in Begriffen wie Überkomplizierung, Übersteuerung und Überstabilisierung zu erfassen versucht.16 Das mag sich als Unsicherheitsfaktor nur bei einer verschwindend kleinen Minderheit auswirken. Im Roman handelt es sich dabei um drei Personen der obersten Kaste: Bernard Marx, Helmholtz Watson und den Weltkontrolleur Mustapha Mond selbst. Aber diese drei stellen nolens wie volens hinreichend klar, daß die für den Entwurf und die Kontrolle der anderen Welt notwendige Komplexität ihres eigenen Bewußtseins zwangsläufig unkontrollierbare Andersheit mitschleppt und neu produziert. Daß die störenden Elemente verschwinden - der Savage, Vertreter der alten, kulturellen, tragischen, der shakespeareschen Komplexität, hängt sich auf, Marx und Watson gehen gezwungenermaßen oder freiwillig ins Exil das heißt nicht, daß das Problem verschwindet. Durreil hat die systemtheoretische Logik psycho-logisch bzw. -analytisch (vielleicht inhaltlich etwas zu eindeutig) formuliert: „Indeed she [gemeint ist eine nachgebaute künstliche, zum Leben erweckte Filmschauspielerin] carries buried fatally in her construction the thumbprints - the Freudian thumbprints of her makers."17 Die schöne neue Welt schreibt also lediglich den im Blick auf die Gesellschaft zynisch, im Blick auf das Bewußtsein nihilistisch verfaßten Untergang des Abendlands in Huxleys Romanen der 20er und 30er Jahre fort. Reisen in die Ruinen des Abendlandes lohnen nicht mehr - andere Reisen, Alternativreisen, wie es in vielen Reiseprospekten heute heißt, aber auch nicht. Die Szenen in Mexiko, in Eyeless in Gaza (1936), haben wenig mit dem Land, dafür umso mehr mit der durch psychophysische Anstrengung und Unfall ausgelösten Bewußtseins- und Verhaltensumkehr (vor allem der Bekehrung der Hauptfigur, des Soziologen Beavis, zum Vegetarier) zu tun. Auch hierfür gibt es Parallelen in Huxleys Reisebericht Beyond the Mexique Bay (1934). Wenn, wie in After Many α Summer (1939), ein englischer Gelehrter in die USA reist, um dort die Bibliothek eines Millionärs zu ordnen, so führt dies lediglich dazu, daß der Millionär und sein dubioser Arzt das Rezept wenn nicht für das ewige, so doch für ein erheblich länger als unseres währendes Leben in England suchen. Man sucht und findet einen zwischenzeitlich wohl über 200 Jahre alten Earl, der in den Höhlen seines Schlosses noch immer sinnlichen Vergnügungen in Gestalt seiner nahezu ebenso alten Haushälterin nachjagt. Er vermag dies, weil er sich vom Mark der in Franken, vor allem in der Nähe Bambergs vorkommenden Karpfen ernährt und recht vital über die Zeit hinweggerettet hat. Natürlich mag 16

17

Vgl. K. Türk, Grundlagen einer Pathologie der Organisation: 60 Übersichten. Stuttgart 1976. S. 112, 136-137; Huxley, Brave New World Revisited. New York 1965, vor allem Kap. ΙΠ. Vgl. auch die etwas pädagogisch ausgefallenen Argumente bei G. Vickers, Human Systems are Different. London 1983. L. Durrell, Nunquam. London 1970. S. 176.

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man darin Sinn und Zweck von Reisen erblicken. Doch verliert dieses Arrangement aus heutiger Sicht zumindest dann an Überzeugungskraft, wenn man weiß, daß zwar die Seniorenquote (der Anteil der Menschen über 65) oder auch teilweise die Altenheimplätze, nicht aber unbedingt, trotz der Karpfen, die Lebenserwartung oder die auf die Gesundheit bezogene Lebensqualität in Ober-, -Mittel- oder Unterfranken besonders hoch liegt.18 Huxley beutet nicht selten den für den englischen Roman fast konstitutiven Typ der country-house novel aus (vollständig in Crome Yellow, 1921, Those Barren Leaves, 1925), um das Zusammenschnurren der Pseudovielfalt von Ort und Zeit auf kapitale Elementarprobleme einer perennial philosophy zu demonstrieren: Die mystische oder drogeninduzierte Reise nach innen hat Vorrang; erst von ihr aus kommt es zur intensivierten Wahrnehmung einer im Blick auf ihre Ort- und Zeitkoordinaten freilich nahezu beliebig gewordenen Außenwelt. Nach vielen Reisen treffen sich Huxleys Kosmopoliten meist auf einem Landsitz, um sich über die Obsessionen des Bewußtseins auszutauschen. In dem oft vernachlässigten (von Ken Rüssel immerhin zu einem schlechten Film vermarkteten) langen und komplizierten historischen Essay The Devils of Loudun (1952) erklärt Huxley „self-transcendence", den Zwang, das Selbst in möglichst attraktiver Form abstreifen und vergessen zu können, zum Grundproblem der von der Systemtheorie in ihrer trivialen Obsession mit der Trennung psychischer und sozialer Systeme kaum mehr gesehenen Kopplung von Psyche und Kultur. Zu den Formen und Medien attraktiver bis katastrophaler psychokultureller Kopplung rechnet Huxley Stimulantien und Narkotika aller Art, politisierten Massenwahn, Religion, Sexualität, Liebe - nicht aber das Reisen. Lange vor McLuhan - Stichwort communications - hat die Figur Chelifer in Those Barren Leaves erkannt, daß die moderne Zivilisation, gerade weil sie so beweglich geworden ist, den Rückweg in „the tribal rögime, but on an enormous, national and even international scale" eingeschlagen hat: Cheap printing, wireless telephones, trains, motor cars, gramophones and all the rest are making it possible to consolidate tribes, not of a few thousands, but of millions. To judge from the Middle Western novelists, the process seems already to have gone a long way in America. In a few generations it may be that the whole planet will be covered by one vast American-speaking tribe composed of innumerable individuals, all thinking and acting in exactly the same way, like characters in a novel by Sinclair Lewis. It's a most pleasing speculation - though, of course, [...] the future is no concern of ours."

18

"

Vgl. D. Korczak, Lebensqualität-Atlas. Kultur, Wohlstand, Versorgung und Gesundheit in Deutschland. Opladen 1995. A. Huxley, Those Barren Leaves. Normal, IL 1998. S. 304. Zum Thema self-transcendence (d. h. die nicht [mehr] durchs Reisen erzeugte Selbstexpansion) vgl. Huxley, The Devils of Loudun. New York 1986. S. 313 und insgesamt S. 313-27. Die Litanei der das Selbst transzendierenden .Medien' beginnt mit dem Alkohol. Eine Anthologie idealisierter Formen der Selbsttranszendenz bietet Huxleys The Perennial Philosophy. New York 1970. Das folgende Shakespeare-Zitat findet sich in Time Must Have a Stop. London 1982. S. 284.

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Mit dem Nachsatz entzieht Chelifer auch der Zeitreise den Boden. Programmatisch hat Huxley in Time Must Have a Stop (1945) das Verlöschen der Zeit für den sterbenden Hotspur in Shakespeares Henry IV („And time, that takes survey of all the world,/ Must have a stop") zur allgemeinen Grundlage „[of] an epistemology, an ethic and a metaphysic" erklärt.

Die Vergleichgiiltigung technischer Spielräume Nun ist natürlich sattsam bekannt, daß man Huxley oft genug die Unart vorgehalten hat, anstelle von interessanten Romanen sterile Diskussionen zu bieten. Abgesehen freilich davon, daß es im Laufe des 20. Jahrhunderts höchst unklar geworden ist, was warum als interessanter Roman zu gelten hat, was es gar heißen kann, Romane zu schreiben, scheint mir unbestreitbar zu sein, daß es zumindest eine von einer Reihe nicht einfach beiseite zu stellender Schriftsteller vorgeführte Art Logik der Vergleichgültigung nicht nur der älteren literarischen Raum- und Zeitreisen, sondern auch ihrer konstruktiven oder virtualisierten technologischen Varianten gibt. Um das vorläufig schlaglichtartig zu verdeutlichen, springe ich in der Chronologie zunächst zu W. G. Sebald und dann zu Irvine Welsh. Betrachtet man einen ,Reiseroman' wie Die Ringe des Saturn: Eine englische Wallfahrt (1998) von Sebald, so gewint man leicht den Eindruck, daß der Schrumpfung des Raumes (alles ist fußläufig-wandernd zu erreichen) eine Erweiterung der imaginären und lebensweltlichen Bezüge entspricht, wie sie m. E. kein Science Fiction-Roman erreicht. Bei Welsh seinerseits geht es mir nicht um den Drogenroman Trainspotting, dessen Implikationen, wenn auch nicht deren grotesk-schaurig-komische Formen, Huxley samt und sonders vorweggenommen hat. Vielmehr erwähne ich kurz den wohl weniger bekannten Roman Marabou Stork Nightmares (1995). Seine Hauptfigur Roy Strang agiert zeitweilig als Computer-Systemanalytiker und Programmierer einer Versicherungsgesellschaft und kann insofern als personalisierte Verkörperung von zentralen Modernisierungsprozessen seit dem 18. Jahrhundert gelten. Strang meint, daß nur jene dem Computer Respekt oder gar Verehrung zollen, die nichts von ihm verstehen. Hinter der Virtualisierung von Raum und Zeit lauern Formen komischer, aber auch schauriger Rekonkretisierung: Der Vater Roys benutzt den Computer, um kuriose Dateien Uber den Risikofaktor „Nachbarn" anzulegen. Roy gewinnt da zunächst selbst der traditionellen Reise noch mehr ab. Die Familie zieht für eine Weile nach Südafrika. „South Africa was a sort of paradise for me. Funnily enough, I felt at home there."20 Für den Traum Südafrika steht ein mythischer Riesenmarabu: Die - imaginäre - Jagd auf ihn befördert aber auch die Verwandlung Südafrikas in einen Albtraum. Dieser setzt konkret mit dem sexuellen Mißbrauch Roys durch seinen Onkel Gordon ein, schaukelt 20

I. Welsh, Marabou Stork Nightmares. London 1996. S. 75. Vgl. auch S. 143.

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sich politisch hoch (der faschistoide Onkel wird in die Luft gesprengt), setzt sich in der erzwungenen Rückkehr der Familie nach Schottland fort und gipfelt in einem Selbstmordversuch Roys. Er fällt ins Koma. Erst und nur im Koma fallen die Kontrollinstanzen des Bewußtseins, welche die radikale Selbstkonfrontation der Figur mit sich selbst, das heißt vor allem mit Ängsten und Traumata ansonsten verhindert haben. Im Koma versagen die psychischen Beschäftigungstherapien wie Beruf, Reisen und die Angebote der Spaßgesellschaft. Der Kern des Traumas sitzt vermutlich viel näher, im mißgestalteten und mißbrauchten Körper und in den elementarisierten (Haß-)Affekten, welche immer dann sofort auflodern, wenn auch nur der Verdacht der Stigmatisierung in Roy keimt. Die Überreaktion des Körpertraumas - Roy ist .führend' an einer Gruppenvergewaltigung der übelsten Art beteiligt - bringt schließlich auch das Ende: Das geschundene Mädchen rächt sich, indem es die Gruppe einen nach dem anderen umbringt. Dem komatösen Roy nähert sie sich, als Krankenschwester verkleidet, schneidet ihm den Penis ab und erstickt ihn damit.

Lessing: Wohnsitzwechsel und Außenweltreduktion Es bleibt uns natürlich unbenommen, eine derartige Extremisierung dessen, was W. Iser vor langer Zeit schon einmal als Reduktionsformen der Subjektivität bezeichnet hat, als pathologische Ausnahmezustände einzustufen. Man könnte im Blick auf solche Zustände auch an den Kriminalpolizisten Bruce Robertson in Welshs Roman Filth (1998) denken, dessen Reisen sich auf das Drogen- und Prostituiertenmilieu von Amsterdam beschränken, nachdem er seinem Trauma (im Roman wird der Begriff wiederholt verwendet) bzw. seinen Traumata auch in Australien nicht entkommt: Er ist das Produkt der Vergewaltigung seiner Mutter durch einen an Schizophrenie, Angstattacken und Depression leidenden Mann, gedemütigt femer durch die bloße Existenz eines älteren (Stief-)Bruders und durch seine Frau, die ihn verläßt. Ein in seinem Darm sitzender Bandwurm - das Druckbild bildet die Erzählung des Bandwurms ikonisch ab - zwingt ihn schließlich zur selbstmörderischen Selbstkonfrontation. Allerdings schließen solche Traumata das sie einkapselnde Wuchern mehr oder weniger normaler Komplexität nicht aus. Umso fürchterlicher wirkt die gelegentliche Elementarisierung der Affekte und des Handelns (hier vor allem am Anfang ein Mord, am Ende der Selbstmord). Den Abbau soziopolitisch und medial-technisch, zum Teil auch kulturell prägender oder bindender Relevanzen und die gegenläufige Absorption des Bewußtseins mit den Strömen und Bruchstücken eines Imaginären, welches Technisches immer als Anthropo-Technomorphes (Ernst Topitsch) mitführt, hat Doris Lessing in moderater, aber doch nachhaltiger Form vorgeführt. Lessing ist viel herumgekommen. Mit 30 Jahren aber schon verlegt sie, wie es in einer englischen Literaturgeschichte sehr treffend, wenn auch wohl unbeabsichtigt

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präzise heißt, „ihren Wohnsitz nach England". 21 Der Wohnsitzwechsel wie das Leben in Afrika geben noch Anstöße für literarische Restaktivitäten (African Stories, 1964, Nine African Stories, 1968, In Pursuit of the English, 1960). Gleichwohl erzeugen die Reisen einen Kulturbegriff, für welchen sie binnen kurzem Uberflüssig werden: Die fremde Kultur ist nicht eine je spezifische, die eigene bereichernde Identität, sondern allenfalls eine spezifische Organisation der in allen Kulturen vorkommenden Elemente (eine die Kulturanthropologie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu ihrem logischen Ende führende These, auf welcher die neubelebte Forschung zu kulturellen Universalien, aber nicht nur sie, besonders beharrt). Das Imaginäre, das dann an die Stelle soziokultureller und technischer, durch Reisen eher verhärteter als flexibilisierter Normalisierungen tritt, erscheint als aus den Versatzstücken von anpsychisierten, fließenden Körperzuständen einerseits, von Mythen andererseits in ein ständig sich verschiebendes Profil montiert. Der Prozeß des Abbaus beginnt programmatisch in The Golden Notebook (1962). Im schwarzen Notizbuch lebt eine Gruppe Europäer in Afrika, die auf das Ende des 2. Weltkriegs wartet. Zwar debattiert man endlos Uber Themen wie die Zukunft Afrikas, die Rolle von Klassenkonflikten usw., aber alle Debattanten, man müßte eher sagen: Kombattanten feuern dabei nur die von ihnen mitgebrachte ideologische Munition ab. Das Andere, weil es eben als das (ganz) Andere gilt, dient als Projektionsfläche für die eigenen, mit dem Überlegenheitsanspruch theoretischer Programmatik geadelten Stereotypen. Der Zielscheibeneffekt stellt sich im sozialen und interaktiven Umfeld nicht minder schnell ein und ließe sich, wie Lessing das selbst gezeigt hat, mit einigen wenigen Formeln abtun. Das Medium, in welchem Stereotypen zu traktieren wären, ist aber nicht die Literatur, sondern der Journalismus. Hier besorgt man sich, wenn es hochkommt, Informationen, nicht aber Erfahrungen. Nun war und ist aber ein Großteil auch der Literatur nach wie vor mit der Auf- und Abarbeitung psychosozialer Stereotypen beschäftigt. Vollends zum „outpost of journalism" verkommt Literatur, wenn sie sich, wie die meisten Romane, vor allem Reiseromane, als vermeintliche Informationsbeschaffung mißversteht: „We read novels for information about areas of life we don't know - Nigeria, South Africa, the American army, a coal-mining village, coteries in Chelsea" - oder eben auch Technologien. Es erhebt sich die unangenehme Frage, wozu man dann noch Romane schreibt: „So why write novels? Indeed, why! I suppose we have to go on living as if [...]". Die überzeugende Qualität des Als Ob wäre eine „philosophische". Das goldene Notizbuch peilt diese Qualität, oder wenigstens eine Vorstufe dazu, durch einen impliziten oder simulierten Medienwechsel an: Der Roman, der in diesem Notizbuch zu schreiben wäre, müßte, wie ein Film, die Bedeutung des Dargestellten distanzieren, um dadurch sein eigenes Formpotential suggestiv zu intensivieren. 22

21 22

Die englische Literatur. Hg. von B. Fabian. Bd. 2. München 1991. S. 255. D. Lessing, The Golden Notebook. New York 1973. S. vii, ix, 60-61.

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Daraus entspringt aber eine Kopplung von Bewußtsein und Dar- oder Vorgestelltem, für welche die verschlissenen Objekte reisender oder technischer Begierde zweitrangig werden. Diese Vergleichgilltigung exerziert die Children of Violence-Pentalogie (1952-1969) durch. Sie springt erst räumlich von Afrika nach England, dann, am Ende, zeitlich in ein postapokalyptisches Szenario nach dem 3. Weltkrieg. Zwar interessiert sich Mark Coldridge im letzten Teil, The Four-Gated City (1969) noch für eine - vielleicht in der marokkanischen Wüste - neue aufzubauende ideale Stadt. Ein ironischer Ausblick stellt gar die Wiedereröffnung des Museums .England' für das Jahr 2000 in Aussicht. Trotzdem richtet sich das Interesse selbst von Coldridge nicht primär auf die utopischen oder anti-utopischen neuen Sozialstrukturen. Vielmehr geht es um eine evolutionär angesagte, ihrer kulturellen und zivilisatorischen Staffagen entkleidete, in ihren Außenweltbezügen systematisch verarmte Neumöblierung des Bewußtseins. Lessing befindet sich hier im Einklang mit der gegenwärtigen Neurophänomenologie, für welche die symbolische Penetration des Bewußtseins nicht notwendigerweise von äußeren Reizen abhängt.23 Es geht gewissermaßen um einen evolutionär und neurophänomenologisch gedehnten, gegenständlich aber geschrumpften Bildungsroman. Martha Quest, die Hauptfigur, lebt über einige Zeit mit der schizophrenen Ehefrau von Mark Coldridge zusammen und kümmert sich um sie. Die medikamentöse Behandlung der .Krankheit' bringt nichts. Drastische Effekte hingegen stellen sich im Gefolge des täglich-nächtlichen Zusammenseins, der Verschiebung und Verkürzung von Schlafphasen und Nahrungsaufnahme ein. Schnell vertauschen Normalität und Schizophrenie ihre Relevanz- und Rollenbereiche; Grenzen zwischen Selbst und Welt verschwimmen in intermediären Zonen, in welchen die vormalige Außenwelt, McLuhan wörtlich genommen, zu Extensionen eines selbstlosen Bewußtseins und umgekehrt gerinnt.

Bewußtseinsreisen und evolutionäre Rekapitulation Das Imaginäre kann aber nicht in Gestaltlosigkeit verharren. Es verlangt nach Formierung, wie Uber- und vergänglich diese auch ausfallen mag. Die emergenten Formen des Bewußtseins bei Lessing lehnen sich folglich an all das an, was rationalistische Denkweisen in den Kuriositätenladen der Mythen und Illusionen verbannt haben: Die Rosenkreuzer, mystische Schulen, buddhistische Lehren, christlich-esoterische Versatzstücke, romantischer Animismus, all dies kommt als Form, nicht aber als Doktrin vor.

23

Vgl. C.D. Laughlin, Jr., J. McManus, E.G. d'Aquili, Brain, Symbol ά Experience. Toward a Neurophenomenology of Human Consciousness. Boston, Shaftesbury 1990. S. 190-204; vgl. auch 132, 134 mit Hinweisen auf die bei Lessing einschlägige Schizophrenie. Zu Lessings Pentalogie vgl. The Four-Gated City. New York 1970. S. 492-493, 553-554, 580581,597-599.

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Daß ein solcher, fast wahlloser Synkretismus bewußtseinsfähiger Mythen und Mythologeme gleichwohl eine härtere, realitätsfähige Struktur besitzen kann, zeigt ein prägnanter durchkomponierter (und deshalb vielleicht auch kürzerer) Roman Lessings, in welchem die Reise ins Bewußtsein zur Reise im Bewußtsein ausgebaut wird: Briefing for a Descent into Hell (1971). Der Roman schränkt die Realitätsreichweite des Reisens wohl auch deshalb drastisch ein, weil die geographischen Reisen einen ihrer früher unterstellbaren Zwecke, die Entdeckung anderer, nach Möglichkeit ebenso flexibler wie prägnanter Denk- und Empfindungsmodelle, nicht mehr erfüllen. Das Erzählen umkreist Charles Watkins, einen 50-jährigen Cambridge Professor für klassische Sprachen und Literaturen. Er verfällt eines Tages, wie es scheint, in Amnesie. Man ertappt ihn, wie er am Ufer der Themse dahinstolpert und anscheinend/scheinbar zusammenhanglose Sätze vor sich hin murmelt. Schließlich verfrachtet man ihn in eine psychiatrische Klinik. Nach längerer Behandlung kehrt er, wie es scheint, in die psychosoziale Normalität zurück. Die .Krankheit' liefert, was Lessing-Leser vermuten konnten, eine zunächst etwas billig anmutende Metapher für die Reise des Professors in sein eigenes Bewußtsein, die sich ihrerseits in spekulative Skizzen zur menschlichen Bewußtseinsevolution erweitert. Diese Erweiterung wird fällig, weil man die Segmentierung der Rationalität zwar als nötige und auch genießbare Ausdifferenzierung akzeptieren oder gar begrüßen, aber spätestens seit der Romantik, Α. N. Whitehead und anderen als pathologieträchtige Dialektik zerfallender Aufklärung verdächtigen kann. Erst einmal stellt sich heraus, daß die Psychiatrie solche Fragen nicht einmal mehr anvisiert. Der Roman druckt Watkins' Bewußtseinsreise und die Debatten der Psychiater über die rechte Therapie als absolut unverbundene, kommunikations- und resonanzlose Spalten nebeneinander ab. Was aber sind die Inhalte und Stationen dieser Bewußtseinsreise? (Die Unterscheidungen Bewußtsein/Unoder Unterbewußtsein/Bewußtheit usw. können in der Schwebe bleiben, weil sie selbst zu den problematischeren Begriffsdifferenzierungen zählen.) Zunächst re-inszeniert das Bewußtsein die Reise im alten, wörtlichen Sinn. Watkins erfährt sich - und Robinson läßt grüßen - als Schiffbrüchigen. Die Insel freilich entpuppt sich als Überbleibsel einer Apokalypse. 24 Das wiederum zieht Konnotationen der Umweltverschmutzung, Kriege, Erdbeben und ähnlichem als Vorboten des Weltuntergangs nach sich.25 Beim apokalyptischen Motiv aber bleibt der Roman nicht stehen. Die von Blumenberg einst gestellte Frage nach der Legimität der Neuzeit im Modus von Selbstbehauptung und Daseinsprogrammen kehrt wieder. Führt an einer Art Legimitisierung von Selbstbehauptung und Daseinsprogrammen, wie sie oft auch in Form von Reisen ins Werk gesetzt wurden, auch kein Weg vorbei, so rückt Lessing deren problematische bis pathologische Verschärfung zu manisch-depressiven, obsessiven Formen in den Vordergrund. Der Mangel wirk-

24 25

Lessing, Briefing for a Descent into Hell. New York 1972. S. 49-51. Lessing 1972, S. 81, 87-88, 125-127.

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lieh produktiver Beziehungen zwischen psychischen und anderen Systemen wird als kosmischer Betriebsunfall vorgestellt und begrifflich als neurophysiologischer Koordinationsverlust zwischen Gehirnbestandteilen gefaßt. Störungen und Betriebsunfälle lassen sich nicht beweisen. Indirekte Evidenzen aber liefert das Ausdrucksverlangen ganzheitlicher Bilder, welche in der Poesie etwa selbst noch in deren fragmentarisierten Formen herumgeistern. Watkins gewärtigt eine Konferenz der griechischen Götter auf dem Planeten Venus. Die Götter sehen die Menschheitsgeschichte als unentwegten Prozeß der Verschiebung und Neuerfindung von Erlösungssymbolen, deren im Westen derzeit noch dominierende letzte Form die Wissenschaft ist. In den Wissenschaften nimmt die Unfähigkeit „to see things except as facets and one at a time" offiziell gebilligte, systematisch eingeklagte Formen an.26 Demgegenüber läßt sich .Wahrheit' auch als bewegliches Gewebe vielfältiger Beziehungen anvisieren. Das geschieht in manchen, vornehmlich nichtwestlichen Mythen. Weder aber lassen sich Mythen einfach reaktivieren, noch genügt eine Bestandsaufnahme jener „Arbeit am Mythos", wie sie etwa Hans Blumenberg vorgelegt hat. Denn die altgriechische Kultur hat in Lessings Perspektiven nicht die Flexibilität der Mythen mit der Einsinnigkeit der Wissenschaft kombiniert, sondern nach und nach erstere durch letztere verdrängt. Sowohl die Mythen wie auch die Arbeit an ihnen müssen vornehmlich als eher dürftige Kompensationen, als versuchsweise Heilungen von Mängeln, weitergehend als Heilsvorstellungen gelten. Raum- und Zeitreisen danken ab; ihre Restformen werden in Konturen eines evolutionären, sowohl biologischen wie kognitiven Schubs umgemünzt. Darin scheint mir eine Art Logik in den Verschiebungen von der geographischkulturell motivierten Orts- Uber die technologisch bestimmten Zeitreise zur Kehre ins Bewußtsein zu bestehen. Die Götter stellen sich, in einer Art Vorhersage, eine neue menschliche Rasse mit „increased powers of perception, a different mental structure" vor. Diese Rasse verfügt über das Erbe „[of] all the accumulated experience, plus, this time, the mental equipment to use it".27 Natürlich kannn es sich auch dabei um eine weitere Erlösungsillusion handeln. Lessings Novelle The Fifth Child (1988) und ihre Fortsetzung Ben, in the World: the Sequel to "The Fifth Child" (2000) beugen jedenfalls schnellen Hoffnungen vor: Hier (wie auch andeutungsweise in anderen Romanen Lessings) führt zunächst kein Weg an einem besseren Management von Atavismen, von unausweichlichem genetischen und/als sozialen Verfall vorbei. Lessing allerdings beläßt es nicht bei bloßer Spekulation. In die Leerstelle zwischen Amnesie und Bewußtseinsreise schieben sich bei Watkins die Anamnese und ihre Folgen. Die Anamnese bedient sich zunächst der Briefe, die Freunde an Watkins vor seinem Erinnerungsverlust oder danach an die Doktoren geschrieben haben. Sie stellen hinreichend klar, daß Watkins schon lange die Praxis des normalen Lebens mit dessen Verachtung zu vereinen wußte. Er 26 27

Lessing 1972, S. 116-134, Zitat 129. Lessing 1972, S. 127.

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galt als gefühlskalt, gelegentlich als eine Art Anarchist, weil er nicht einmal ein Lippenbekenntnis zu .normalen', erwartbaren und erwarteten Gefühlen ablegte. Er verweigerte sich der Diskussion dessen, was die anderen für Probleme hielten, zog sich den Zorn eines Kollegen zu, weil er dessen .Ehekrise' nicht ernst nahm und erklärte, deren Ausgang sei mehr oder weniger irrelevant. Wir nähmen, so Watkins, vieles viel zu persönlich. Ähnlich ließ er sich über wissenschaftliche Positionen aus. Um sich derartige, ihnen gelegentlich .inhuman' dünkende Haltungen zu erklären, greifen die im Erklärungsnotstand befindlichen Kollegen zur Vermutung, Watkins müsse wohl während des Krieges extreme Erlebnisse gehabt haben. Nach der Anamnese kehrt Watkins schrittweise in die Normalität zurück. Er fühlt sich sogar einer Vortragsreihe gewachsen.28 Wir dürfen hoffen, daß der Vortragsreise und ihrer technischen Optimierung im Prinzip nichts im Wege stünde. Aber all das hat an Selbstverständlichkeit verloren. Offen bleibt, wie Stil, Haltung, Engagement und Prioritäten von Fall zu Fall gestaltet werden. In der Mannigfaltigkeit solcher Aspekte und Kriterien kann dann auch der Stellenwert von Reisen inmitten, aber möglicherweise auch ein Stück weit diesseits oder jenseits der Stereotypen neu verhandelt werden. Für Ägypten, wie für so viele andere Gebiete, hebt die Stereotypisierung der Wahrnehmung spätestens im 18. Jahrhundert an. Kurz nach dem Vortrag, von dem der vorliegende Artikel seinen Ausgang nahm, ist dessen Verfasser, wider alle Evidenz, zu einer Reise nach Ägypten, seiner dritten, aufgebrochen. Doch auch damit ist er nur einem Stereotyp erlegen. In John Fowles' The Magus (1966) kritisiert eine Figur, die sich für Bewußtseinsreisen und .Telepathie' interessiert, aber nicht als Spiritualist bezeichnet werden möchte, Raum- und Zeitreisen wie folgt: „How futile all our excitement over aeroplanes! How stupid this fictional literature by writers like Verne and Wells about the peculiar beings that inhabit other planets!"29 Doch der Hauptfigur des Romans, Nicholas Urfe, eröffnen sich solche Einsichten erst bei einem Aufenthalt ganz in der Nähe Ägyptens, auf einer griechischen Insel.

28 29

Lessing 1972, S. 202-204, 206, 208,275. J. Fowles, The Magus. London 1968. S. 174.