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German Pages 218 Year 2023
Christopher Dell Raum und Handlung
Urban Studies
Christopher Dell (Dr. habil.) ist Leiter des ifit, Institut für Improvisationstechnologie, Berlin und Stipendiat am Bundesatelier für Architektur, Cité des arts, Paris. Er war Privatdozent für Städtebau und Stadterneuerung an der Universität der Künste, Berlin und lehrte als Professor für Städtebautheorie an der HafenCity Universität Hamburg und an der Technischen Universität München.
Christopher Dell
Raum und Handlung Raumtheorien des Städtischen
Die Fertigstellung dieses Buches wurde durch das Auslandsstipendium der Bundesrepublik Deutschland 2022/2023 Stipendium für die Cité Internationale des Arts, Paris für einen Studienaufenthalt im Bundesatelier Architektur/Bildende Kunst Nr. 8088-H, R.F.A. Dürer ermöglicht.
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Inhalt
Einführung ..........................................................................7 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 1.8 2 2.1 2.2 2.3 2.4 3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8
Relationaler Raum und Handlung Martina Löw/Anthony Giddens/Pierre Bourdieu .................................. 19 Raum und Stadt ............................................................... 22 Raum in Bewegung ............................................................ 24 Global Cities/Hybridisierung.................................................... 25 Raum und Organisation ........................................................ 28 Raumkonstitution: Spacing und Syntheseleistung ............................... 30 Strukturen .................................................................... 33 Relationalität .................................................................. 36 Schaltung ..................................................................... 49 Raumgebrauch und (Um-)Funktion Michel De Certeau ............................................................. 55 Performanz: Von der Funktion zum Gebrauch ................................... 60 Politiken der Performanz: Strategie vs. Taktik .................................. 70 Zeit und Geschichte.............................................................77 Schaltung ..................................................................... 79 Geschichtliche Situiertheit des Raums Henri Lefebvre ................................................................. 91 Perzeption/Konzeption/Projektion: Wahrgenommener, konzipierter und gelebter Raum............................. 97 Der konkrete Raum ............................................................107 Geschichte wird gemacht: Absoluter, abstrakter und differentieller Raum ....... 110 Einheit und Kultur: Der absolute Raum ......................................... 113 Abstrakter Raum ............................................................. 130 Der differentielle Raum ....................................................... 135 Kritik des Städtebaus? ........................................................ 138 Schaltung .....................................................................144
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Welches Handeln? Bruno Latour ..................................................................149 4.1 Fünf Quellen der Unbestimmtheit...............................................164 4.2 Schaltung .................................................................... 183 5 5.1 5.2 5.3 5.4
Die emanzipierten Raumgebrauchenden Jacques Rancière ............................................................ 189 Zuschauen und Emanzipation ..................................................192 Wissen und Emanzipation .....................................................194 Position des Zuschauens.......................................................197 Schaltung .................................................................... 202
6 6.1 6.2 6.3
Abschluss und Ausblick ..................................................... 205 Das Politische des Raums ..................................................... 206 Ermöglichungsgestaltung ..................................................... 208 Raumimprovisation ............................................................ 211
Einführung
Wohl kaum ein Thema ist heute so umkämpft wie das der Stadt. Ob Wohnungskrisen, politische und ökonomische Krisen, Energieknappheit, weltweite Migration oder Klimawandel – all diese Zuspitzungen laufen in der Stadt zusammen und werfen ein Schlaglicht auf sie. Die Stadt hält als Brennglas für das breite Spektrum gesellschaftlicher Dilemmata her. Aus dem vielstimmigen Debattenchor klingt ein Refrain besonders heraus. Er rückt eine grundsätzliche Frage ins Zentrum der Auseinandersetzung: die nach der Bewohnbarkeit des Planeten Erde. Daraus folgt ein Nachdenken nicht nur über das, was die politische Ökonomie vereinfacht unter dem Begriff Ressource subsumiert. Auch das Wohnen selbst steht zur Disposition. Was international gilt, gilt auch für Deutschland: Lange Zeit spielte sich das Wohnen im Rhythmus eurozentrischer Gewissheiten ab. Sie bildeten auch das Rückgrat eines Städtebaus, dessen Planungen sich zunehmend als Teil des Problems herausstellen. Angesichts der drohenden Katastrophe verliert die einst im Namen des Fortschritts und der grenzenlosen Produktion lancierte Planungs- und Verwertungsrationalität ihren Boden. Eine universelle Dezentrierung macht sich bemerkbar. Während ihre Fluchtlinien zunehmend das überschreiben, was Souleymane Bachir Diagne als »überhängenden Universalismus«1 bezeichnet hat. werden die Verschiedenheit des Wohnens auf der Erde und andere Vorstellungen des Kosmos sichtbar. Wohnen stellt sich als zerbrechlich heraus. Der Raum ist den Menschen kein Gegenüber. Sie erhandeln ihn mit. Gemäß dieser Lesart verliert der Unterschied zwischen der Welt der menschlichen und der Welt der nicht-menschlichen Existenzweisen seine Äußerlichkeit. Worauf es jetzt 1
Diagne, Souleymane Bachir: »La fin de l’universalisme européen sera le commencement de l’universel«, in: Philosophie magazine, 19. Oktober 2022, https://www.philoma g.com/articles/souleymane-bachir-diagne-la-fin-de-luniversalisme-europeen-sera-l e-commencement-de
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Raum und Handlung
ankommt, ist das Innere des Gefüges, das die Relationen des Zusammenwohnens der Unterschiedlichen auf der Erde verschaltet. Achille Mbembe hat es so formuliert: »Die Frage der universellen Gemeinschaft stellt sich daher per definitionem in Begriffen des Im-Offenen-Wohnens, der Sorge um das Offene – was etwas ganz anderes ist als ein Vorgehen, das in erster Linie darauf zielt, sich abzuschließen und eingeschlossen in dem zu bleiben, was gewissermaßen mit uns verwandt, was uns ähnlich ist.«2 Die Stadt ist der zentrale Ort, an dem die auf der Erde zusammen Wohnenden damit beschäftigt sind, die Konsequenzen aus einer solchen Verschiebung zu ziehen. Gewiss, Kontroversen zur und Gestaltungsvorschläge für die Stadt sind so lange hilfreich für die gesellschaftliche Selbstvergegenwärtigung und Entscheidungsfindung, solange jeder beteiligten Seite unterstellt werden kann, nachvollziehbare Gründe für ihre Positionen zu haben. Die Debatte setzt jedoch nicht nur die Anerkennung eines bestimmten Verfahrens zur Entscheidungsfindung voraus. Sie fordert auch das Vertrauen darauf, dass das ein solches Verfahren zu konstruktiven Ergebnissen führt. Und eben diese Ergebnisse bleiben zunehmend aus. Zu sagen Stadt funktioniere nicht mehr, es sei dies oder das zu verbessern, versorgt nur alle mit dem Gefühl, etwas Getan und Widerstand geleistet, Protest formuliert zu haben. Was tun? Warum wird in dem Streit nicht gefragt, was denn mit dem Begriff Stadt überhaupt gemeint sein soll? Es wird wohl auch deshalb nicht gefragt, weil die Idee der Stadt als abgeschlossene Form – meist denkt man an die Europäische Kernstadt, wenn von Stadt die Rede ist – ein gut fassliches Erzählmuster bietet. Und ohne Zweifel wird dieses Muster durch die Affektstrategien konsensproduzierender städtebaulicher renderings aktuell verstärkt in Szene gesetzt. Indes, wer an einer solchen Planungsidee festhält, enthebt sich der Mühe, die vielen Einzelfaktoren zu bestimmen, die das ausmachen, was als Stadt tatsächlich geschieht und von denen das Gelingen von Stadt abhängt – die lokalen Praktiken des Raumnutzens und -organisierens, die Topologie des Flächengebrauchs, die Geographie der Liefer- und Wertschöpfungsketten, die sozialen Verhältnisse, die Demographie des Arbeitsmarktes, der Zugang zu Wohnraum, das Gesundheitsverhalten und so weiter. Wer heute über Stadt spricht
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Mbembe, Achille: Kritik der scharzen Vernunft. Frankfurt a.M. 2020, S. 331–332
Einführung
und sie planen will, muss diese mehrschichtige Pluralität argumentativ auseinanderhalten und multiperspektivisch in ihren vielfältigen Kombinationen berücksichtigen. Die Entwürfe des Städtebaus malen hingegen meist das vereinfachende Bild einer Stadt, in der alle nur noch Träger weniger Merkmale und Repräsentanten von Nutzergruppen und ihrer Bedürfnisse sind. Das ist die Seite der Planungsbehauptungen ebenso wie die der Planungskritik. Der Streit um die gute Stadt gerinnt zunehmend zu einer Art händeringender Kommunikation um ihrer selbst willen. Gleichlaufend betreiben Verwaltung und Politik die stoische Beruhigung des städtischen Publikums durch Reduktion. Komplexe Fragestellungen werden meist auf vereinfachte Planungspunkte verkürzt. Hier stoßen wir auf einen weiteren Grund, warum die Dinge so sind wie sie sind: die Ökonomisierung des Territoriums. Warum gibt es zum Beispiel Machbarkeitsstudien für Bauvorhaben der öffentlichen Hand? Weil etwa ein Gemeinderat zu einem bestimmten Zeitpunkt drei Versionen eines Entwurfs zu einem Wettbewerb oder eines Angebots zu einer bestimmten Ausschreibung sehen will, aus denen er die vermeintlich ökonomischste Lösung auswählen kann. Geprüft werden Funktionsbereiche, Raumbedarfe, Nutzwert, Rahmenterminplan, Kostenprognose, Realisierungszeiträume, wirtschaftliche Umsetzung und Risiko. Planungssicherheit ist erstes Gebot. Was aber fehlt, ist die kontextuelle und prinzipielle Erörterung städtebaulicher Fragestellungen am konkreten Fall. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Bausektor permanent die Geschwindigkeit erhöht ohne überhaupt die Richtung zu hinterfragen, in die die Bewegung gehen soll. Exemplarisch dafür steht die Wohnungskrise. Kaum fehlt Wohnraum, erschallt die reflexartige Antwort: »Baut Wohnungen!« – ohne zu fragen, was Wohnraum heißen soll, wie heute gewohnt wird und welchen sozialen, politischen, kulturellen und ökonomischen Rahmbedingungen das Bauen folgt. Ob Verwaltung oder Privatwirtschaft – vorherrschend in der Bodenbespielung sind Zeitpläne, Verwertungslogiken, Kurzfristigkeit und sektorales Denken. Heraus kommt dabei meist das gleiche Ergebnis: das ebenso redundante wie auch unnachhaltige Tandem aus sozialisierten Verlusten und privatisierten Gewinnen. Währendem gerät die traditionelle Planungskonzeption der tabalua rasa zunehmend ins Visier der Kritik. Lang genug hatte man sich daran gewöhnt, städtebauliche Probleme lösen zu wollen, indem man Abriss und profiträchtigen Neubau den Vorrang gegenüber dem Erhalt des Bestandes einräumte. Aufgrund der äußerst giftigen Emissionsbilanz des zeitgenössischen Bausek-
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tors3 und der dramatischen Lage am Wohnungsmarkt wird der Ruf nach einem Umbauen im Bestand immer lauter.4 Wo Deutschland – wie ganz Europa – im Grunde genommen fertig gebaut ist, wird Neubau sowohl ökologisch als auch volkswirtschaftlich fragwürdig. Ganzheitlich betrachtet, das heißt auch unter Einbezug der grauen Energie, die bereits in dem Gebauten steckt, ist ein intelligenter Umbau einem noch so energieeffizienten Neubau vorzuziehen. Wenn aber statt neu entworfen umgebaut wird, kommt es darauf an zu untersuchen, was als Bestand da ist. Statt der Funktion, die aufs Terrain projiziert wird, kommt jetzt der Gebrauch in den Blick. Die Fragen lauten: Wie wird ein Gebäude genutzt? Was machen die Nutzer mit dem Gebäude, wie verändern sie es, welche Nutzungen fügen sie zu? Entsprechend formulieren Tabea Michaelis und Ben Pohl vom Städtebaubüro Denkstatt sarl, Basel: »Bestand ist kein passiver Zustand, sondern erfordert das aktive Zusammenspiel vielfältiger Handlungen. Gebäude, so massiv und dauerhaft sie auch geplant und gebaut erscheinen, sind immer Ausdruck beweglicher Prozesse. Gebäude werden durch Handlungen hergestellt, in Gebrauch genommen, durch Pflege und Reparatur erhalten, umgeformt oder abgebrochen.«5 Umgekehrt gilt: Wo etwa ein Bestandsgebäude weggerissen wird, fallen auch die Handlungen weg, die mit ihm verbunden sind. Wenn Bausubstanz, Grundrissstruktur, Funktionskerne, Infrastruktur, Handelnde, Nutzungen, Instandsetzungen, Eigentumsverhältnisse, Finanzierungsmodelle, Organisationsstrukturen, Verträge, Baunutzungsverordnungen oder Brandschutznormen zum zentralen Gegenstand architektonischer Arbeit aufsteigt, »dann
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https://www.bundesstiftung-baukultur.de/fileadmin/files/BKB-22/BBK_BKB-22-23.p df Vgl. u.a.: Archithese 2.2022: Anders Nutzen; BBSR/IÖR (Hg.): Innenentwicklungspotenziale in Deutschland. Bonn 2013; Christiaanse, Kees/Rieniets, Tim: Die Stadt als Ressource. Berlin 2014; Petzet, Muck/Heilmeyer, Florian (Hg.): Reduce, Reuse, Recycle; Ressource Architektur; Deutscher Pavillon; 13. La Biennale di Venezia 2012. Ostfildern 2012; Reallabor für nachhaltige Mobilitätskultur/Universität Stuttgart (Hg.): Stuttgart in Bewegung; Berichte von unterwegs. Berlin 2018; Reicher, Christa (Hg.): Internationale Bauausstellung Emscher Park: Impulse: lokal, regional, national, international. Dortmund 2011; StadtBauwelt 233/6.2022: Re-Use; StadtBauwelt 230/13.2021: Die Straße; Schmidt, Gisela/Selle, Klaus (Hg.): Bestand? Perspektiven für das Wohnen in der Stadt. edition stadt | entwicklung. Dortmund 2008 Michaelis, Tabea/Pohl, Ben: »Bestand ist Handlung«, in: BDA/Bahner, Olaf (Hg.): Sorge um den Bestand. Berlin 2021, S. 112
Einführung
bedeutet, sich um den Bestand zu sorgen, sich um das Zusammenspiel von Handlungen zu kümmern.«6 Was also in der Architektur bereits breit diskutiert wird, kommt jetzt auch auf den Städtebau zu. Statt mit Planungen, die im Büro auf das leere Reißbrett gezeichnet werden, hat man es dann mit Interventionen vor Ort im Maßstab 1:1 zu tun. Heraus kommen dabei völlig neue Sichtbarkeitsregime des Städtebaus: Notationen städtebaulicher Situationen, die auf feingliedrige Weise sehen lassen, was schon vorhanden ist. Auf dieser Grundlage kann entschieden werden, was so bleiben kann, wie es ist, was unterstützt werden oder was eben entworfen werden muss. Man wagt nicht zuviel, wenn man konstatiert, dass das intelligente Transkribieren des Bestehenden eine wesentliche Begründung aus dem ökologischen Aspekt erhält. Ich denke etwa an das vorausschauende Umnutzen von Gebäuden und Flächen im Hinblick auf ihre städtebauliche Rolle. Auf diesem Weg lässt sich zum Beispiel der gängige Rückfall in das alte städtebauliche Muster des In-die-Fläche-Wachsens vermeiden.7 Bekanntermaßen ist die Innenentwicklung der Städte an ihre Grenzen gelangt. Wohnraum ist unbezahlbar, Rekommunalisierung von Flächen nahezu unmöglich. Indes, wer auf diese Problematik mit Außenentwicklung reagiert, schafft nur zersiedelte Territorien, Flächenversiegelung und einen ungebremst ansteigenden Pendlerverkehr aus dem Umland.8 Inzwischen sollte aber allen Beteiligten klar geworden sein: Nicht nur aus klimapolitischen, aber auch aus sozialpolitischen Gründen kann es so nicht weiter gehen. Die Alternative zum endlosen Bauen und Produzieren besteht in der kleinteiligen Arbeit, sehen zu lassen, was in der städtischen Landschaft der Raumgebrauchenden, in der man sich befindet, möglich ist. Im Gegensatz zum Arbeiten im Planungsbüro, wo sich Veränderungen scheinbar problemlos großmaßstäblich projizieren lassen, zielt die sorgsame Aufnahme des Bestands vor Ort darauf, möglichst wenig zu tun, aber das Richtige.9 Entscheidend ist hier nicht nur der annoncierte städtebauliche Wechsel vom Entwurf zur Recherche. Ferner stehen die Entwurfsmethoden des Städtebaus selbst zur Disposition. Dass etwa geschlossene Masterpläne, die alles
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Ebd. https://www.umweltbundesamt.de/umweltatlas/bauen-wohnen/politisches-handel n/nachhaltige-stadtentwicklung/was-bedeutet-innenentwicklung-innen-vor-aussen -wie https://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/startseite/topmeldungen/pendeln-2021.html Vgl. Projektbüro Hamburg: »Ernst nehmen was da ist.«, in: Baunetzwoche #610, 12.2022
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vorhersehen wollen, zunehmend überholt sind, hat niemand überzeugender dargelegt als Thomas Sieverts. An der berühmten Analyse dessen, was Sieverts die Zwischenstadt nennt, entdeckt der deutsche Städtebautheoretiker eine Stadt jenseits des Mythos einer kompakten Kernstadt. Weit entfernt davon, nur Vorort oder eingemeindeter Stadtteil zu sein, stellt sich die Zwischenstadt als der eigentliche Bestandteil heutiger Stadtagglomerationen heraus. Weder nur Stadt noch nur Land, verfügt diese hybride Gemengelage über Autarkie und Individualität. Paradoxerweise ist die Tatsache, dass der ihr eigene historische Siedlungskern fast unkenntlich geworden ist, das entscheidende Charakteristikum, mit der die Zwischenstadt Unabhängigkeit von der Kernstadt erlangt. Lange Zeit glaubten Architektur und Städtebau, sich auf eine »verlässliche programmatische Basis von definierten Bedürfnissen beziehen zu können.«10 Dabei kann es nicht bleiben. Sieverts‘ Schluss ist eindeutig: Wer auf das Bild der Europäischen Kernstadt setzt, dem ist der Zugang zum Lesen der heutigen Stadtwirklichkeit verstellt. Den primären Mangel des traditionellen Städtebaus hat Sieverts damit in aller wünschenswerter Klarheit zum Ausdruck gebracht. Dieser Städtebau geht davon aus, die Realisierung von Entwürfen spiele sich in einem neutralen Raum ab, den man geradlinig beplanen und bebauen könne. Sieverts klärt uns auf, dass wir stattdessen heute mit einer »prinzipiellen Unbestimmtheit der Stadtentwicklung« rechnen müssen. Eine analoge Diagnose haben Stefano Boeri und die Gruppe Multiplicity in dem Buch Uncertain States of Europe11 für Europa gestellt. Die Erkundung der europäischen Territorien markiert das Ende jenes historischen syntaktischen Dispositivs territorialer Organisation und Innovation, das eine tiefere Identifizierung der charakteristischen Merkmale einer »europäischen Stadt« zu ermöglichen schien. In der zeitgenössischen europäischen Stadt hat die Interaktion zwischen globalen Energien und lokalen Strukturanpassungen das Verhältnis zwischen den Prinzipien der Variation und der Differenz radikal verändert. Das Prinzip der Differenz wirkt heute nicht mehr zwischen zusammenhängenden und diachronen städtischen Komponenten (zwischen der Renaissancestadt, der modernen Vorstadt und dem Raster des 19. Jahrhunderts usw.) aber zwischen den einzelnen Molekülen, zwischen
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Sieverts, Thomas: Zwischenstadt, Bauwelt Fundamente 118. Gütersloh, Berlin, Basel 2021 [orig. 1997], S. 183 Multiplicity (Boeri, Stefano/Bregani, Maddalena/Palmesino, John/Jodice, Francesco/La Varra, Giovanni): Uncertain States of Europe: Multiplicity USE – A Trip through a changing Europe. Mailand 2003
Einführung
dem Einfamilienhaus und dem angrenzenden Einkaufszentrum, zwischen dem Einkaufszentrum und dem angrenzenden Flachbau eines Warenlagers, zwischen der Autowaschanlage und der Industriehalle mit dem eingebauten Haus usw. In gleicher Weise wirkt das Prinzip der Variation nicht innerhalb der Grenzen ausgedehnter oder kompakter Stadtteile. Stattdessen ist es die Deklination einiger weniger cluster städtischer Kräfte, die die Zusammensetzung der werdenden Stadt regelt. Man hat es jetzt in Europa mit einem städtischen Gefüge zu tun, das sich über Staatsgrenzen hinweg ausdehnt und Europa zu einer einzigen städtischen Agglomeration zusammenlaufen lässt. Seine Variationen reduzieren sich auf unendliche Anpassungen, auf Formen, die die elementaren Komponenten durch überraschende Sprünge und improvisierte Verfahren in unterschiedlichen territorialen Kontexten annehmen können. Wie aber kann der Städtebau lernen, mit dieser Unbestimmtheit konstruktiv umzugehen? Welche neuen Entwurfsmethoden und Wissensformen braucht der Städtebau? Beides, der Wechsel vom Entwurf zur Recherche wie auch der Aufstieg der Unbestimmtheit zum Kernmerkmal städtebaulichen Planens und Stadtlesens werfen neue konzeptionelle Fragen auf. Die grundlegende Konsequenz lautet: Man sollte alle Allheilmittel des Städtebaus als wenig hilfreich zurückweisen, alle direkten Versuche, den Circulus vitiosus modernen Städtebaus durch noch fortschrittlicheren Städtebau aufzubrechen, alle Versuche, die Gefahren modernen Planens auf den Effekt eines planerischen Fehlers zu reduzieren. Das Problem besteht darin, dass der städtebauliche Fortschritt das, was er beheben will, noch weiter antreibt. Ein gutes Beispiel dafür ist die ökologische Krise. Gerade dann, wenn im Städtebau von Wärmeverbundsystemen, von Digital Labs und Smart Cities, von virtuellen Technologien, die den Verbrauch von Strom, Gas oder anderen Ressourcen optimieren, von Great Repair, zirkulärem Bauen oder explodierender Gebäudebegrünung durch Vertical Forests die Rede ist, kommt eine Argumentation zur Geltung, die das zu lösende Problem mit befeuert hat. Die ökologische Krise auf Störungen zu reduzieren, die durch Mängel städtebaulicher Planung ausgelöst wurden (man hat einfach noch nicht gut genug geplant), unterstellt schon stillschweigend, dass die Lösung des Problems wieder auf städtebaulichem Fortschritt basieren wird, auf einem »grünen« oder »reparierenden« Städtebau der noch effizienter und fortschrittlicher in der Kontrolle planetarischer Ressourcen sein wird. Dysfunktionalität des Städtebaus soll durch sein noch besseres Funktionieren behoben werden. Jedes konkrete ökologische Anliegen, den Städtebau zu verbessern wird damit entwertet, da es sich aus denselben Quellen speist,
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die die Schwierigkeit verursachen. Liegt das wirkliche Problem der ökologischen Krise nicht vielmehr dem Verständnis von Raum begriffen, welches das Verhältnis des Städtebaus zu den ihn umgebenden Menschen und Dingen bestimmt? Diese Situation liefert den Hintergrund, vor dem dieses Buch eine detaillierte Auseinandersetzung mit und Einführung in relevante zeitgenössische Raumtheorien verfolgt. Zwei epistemologische Operationen sind diesem close reading wesentlich. Zum ersten der Wechsel in der Sicht auf die Stadt: Weg von der geschlossenen Form hin zu den Handelnden, die die Stadt gebrauchen. Daran schließt der zweite Wechsel an. Er liegt in der Perspektive auf die Thematik selbst. Statt die externalisierende Frage zu stellen, was Stadt ist – und damit den Fokus auf eine normative Essenz zu richten – zielt die immersive Erforschung auf das, was Stadt macht. In diesem Licht erscheint das Sein der Stadt als ein Prozess des Werdens, dessen Komplexität den eigentlichen Gegenstand der Beobachtung, der Interpretation und der Praktiken bildet. Entsprechend formiert die reflexive Betrachtung und Kontextualisierung des Verhältnisses von Raum und Handlung den perspektivierenden und zugleich rahmenden Horizont des Buches. Die Schlüsselfrage lautet: Wie ist die spezifische Relation zwischen Raum und Handlung beschaffen, damit sie die Unbestimmtheit des Werdens von Stadt einkalkulieren kann, das heißt so ist, dass die unterschiedlichen Zusammenwohnenden ihre Existenz als eingebettet in ein bedeutungsvolles Ganzes erfahren können, das sowohl offen wie auch konstruktiv ist? Insofern das Ziel des Buches darin besteht, den Lesenden ein umfassendes Verständnis spezifischer theoretischer Blicke auf und Leseweisen von Stadt im Kontext von Raum und Handlung zu vermitteln, so bezieht es sich auf das diskursive Feld des geistes- und kulturwissenschaftlichen spatial turn. Die Aussagen dieses Feldes zeichnen sich dadurch aus, dass sie Raum entgegen der Tradition nicht mehr als neutralen Behälter deuten. Stattdessen definieren sie Raum als aus Handlung hervorgehend oder mit ihr zusammenhängend. Die Erkenntnis, dass Raum und Handlung zusammengedacht werden müssen, um die zeitgenössische Stadt in ihrer Verfasstheit zu begreifen, erhält ihre Wirkmächtigkeit im Urbanismusdiskurs entsprechend aus Henri Lefebvres Forderung nach der Redefinition von Stadt als »das Städtische.«12 Sicherlich ist nicht in Abrede zu stellen, dass die Thesen des spatial turn inzwischen
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Vgl. Dell, Christopher: Das Urbane. Berlin 2013
Einführung
verstärkt auf die Disziplinen Architektur und Städtebau einwirken. Trotzdem muss die Diagnose lauten, dass es ihnen noch stets einer umgreifenden Perspektivierung der Fragestellung mangelt. Mag die Anzahl derer, die sich um alternative Leseweisen der Stadt bemühen, zahlreich sein13 – vorherrschend bleibt dem Städtebau die Idee der tabula rasa, ob in der Praxis oder in der Lehre. Mit anderen Worten: Während sie verstreut auf Raumtheorien zugreifen, zeichnen sich die Disziplinen Architektur und Städtebau durch eine erstaunliche Absenz einer übersichtlichen Darstellung und Diskussion des Verhältnisses von Raum und Handlung aus. Diese Lücke will dieses Buch schließen. Das Buch richtet sich vor allem an Studierende und Praktizierende der Disziplinen Architektur, Städtebau, Planung, aber auch Soziologie, Ethnologie oder anderen mit Raumfragen befassten Bereichen. Ebenso ist das Buch für interessierte Laien gedacht, die sich einen Einblick in die Materie verschaffen wollen. Somit lässt sich der Gegenstand der vorliegenden Arbeit erfreulich klar eingrenzen: Ihre Empirie besteht aus Beständen der Theorie. Nun kann man einwenden: ›Das hat nichts mit der Stadt zu tun, die ja das eigentliche Thema des vorliegenden Buches ist.‹ Dieser Einwand kann entkräftet werden, wenn man mit Lefebvre anführt, dass Stadt im Zuge der Verstädterung von Welt selbst zum epistemologischen Feld avanciert ist. Der Vorschlag lautet nicht nur, von unterschiedlichen Theorien zu lernen, wie man sich der Stadt als einem epistemologischen Feld nähern kann.14 Es geht auch darum, zu befragen wie jede Untersuchung von Stadt ihrerseits das voraussetzt, was ich epistemologische Linsen nenne. Mich interessiert hier zweierlei: Einerseits die Art und Weise wie sich die Theorie der Raumfrage nähert. Welche begrifflichen Rahmungen schafft sie, um auf Stadt zu schauen? Andererseits kommt es darauf an, zu zeigen, mit welchen Mitteln Theorie ihre Wissensformen darstellt. Wie tritt Wissen als Darstellungsraum auf und wie entscheidet das Verstehen, die Gestaltung und die Anordnung dieser Repräsentationsräume mit darüber, was in welcher Weise als Wissen erscheint oder erscheinen kann? Anders formuliert: An der Untersuchung soll auch augenfällig werden, wie Theorie selbst als Linse funktioniert. Mit welcher konzeptionellen Folie, mit welchem Begriffsrahmen schaut man auf die Stadt? Diese Frage ist für die
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Vgl. u.a. die Arbeiten von Rem Koolhaas, Bernd Kniess, Atelier Bow Wow, Christophe Hutin, Ton Matton, Oda Pälmke, David Brown, Raumlabor, Ton Matton, Constructlab, Patrick Bouchain, Denkstatt Sarl oder Projektbüro Hamburg Vgl. hierzu: Dell, Christopher: Epistemologie der Stadt. Bielefeld 2016
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Verhandlung über Stadt wesentlich. Man kann erst über Stadt streiten, wenn man weiß, wie man das, was man tagtäglich im heterogenen Zusammen als Stadt erhandelt, zu deuten vermag. Es geht mir folglich darum, die Theorien, die hier als Gegenstand herhalten, selbst als Material zu verstehen. Der ausschlaggebende Punkt ist, dass damit auch die epistemische Position der Theorie thematisiert wird, aus der heraus ein Denken entsteht. Theorie ist mitnichten neutral. Das zu sagen wirft Licht auf den grundlegenden Konflikt, den die Wissensformen, die in einer Zone dessen entstehen, was als Wissen gilt, mit den Praktiken in der Zone dessen, was als Nicht-Wissen gilt, unterhalten. Beispiele gibt es im Überfluss. Von Flächennutzungsplänen der Stadtplanung über Grundrisse der Investorenarchitektur, die noch auf Lebensentwürfe der Kernfamilie und der sogenannten Normalbiografie zielen bis hin zu paternalistischen Beteiligungsverfahren: sie alle nehmen nicht zur Kenntnis, was die verstädterte Gesellschaft in ihren Handlungen schon längst vollzogen hat. Dieses Phänomen gründet – auf politisch rechter wie linker Seite – in epistemischen Positionen, die das Wissen der alltäglichen Raumhandlungen entweder nicht ernst nehmen oder eben nicht lesen können. Gleichlaufend ruft ihre Linse Schemata auf, die wiederum aus Wirklichkeitsbehauptungen bestehen, die nur wenig mit den epistemisch unterdrückten Raumhandlungen gemein haben. In diesem Zusammenhang erinnert Lefebvre daran, dass der Begriff der verstädterten Gesellschaft »einem theoretischen Bedürfnis« entspricht. »Dabei handelt es sich nicht bloß um eine literarische oder pädagogische Darstellung, noch auch um die Formulierung erworbenen Wissens, sondern um eine Entwicklung, eine Untersuchung, ja um eine Begriffsbildung.«15 Diese Untersuchung soll zu einer konkreten Praxis hinführen, der urbanen, »städtischen Praxis.«16 Der Titel dieses Buches erweckt eine Erwartung, die wir so ausdrücken können: Von der Raumtheorie zur Rekonturierung des Städtischen als einem Bereich, in dem sich Handlung und Raum gegenseitig konstituieren. Man würde vermuten, dass am Anfang Theorien zu Wort kommen, die sich fragen »was ist (städtischer) Raum und wie ist seine Verfasstheit mit Handlung verbunden«, am Ende wir aber auf Aussagen treffen, die ihre Aufmerksamkeit der Frage widmen: »Wie gebrauchen wir Raum (als Stadt)?« Eine solche Reihenfolge hätte den Vorteil, dass ihre innere Ordnung mit raumtheoretisch vertrauten und auch plausiblen Unterscheidungen verknüpft ist. Erstens aber 15 16
Ebd., S. 15 Ebd.
Einführung
zeigt sich, dass eine solche Linearität nicht funktioniert, da die Argumentationen der hier vorgelegten Theorien bereits auf einer Vermengung der beiden Fragestellungen gründen. Zweitens besteht die Pointe des Buches gerade darin, einen Darstellungsweg jenseits der vertrauten linearen Raumerzählungen zu wählen. Wenn wir heute sagen können, dass wir Raum nicht vorfinden, aber in vielfältigen Praxen herstellen, so muss dies auch für die »Topographie« der Debatte über Raum gelten können. Und dasselbe gilt für die Disziplinen Architektur und Städtebau: Nach über hundert Jahren wissenschaftlichem Städtebau, der sich auf die Ismen Funktionalismus, Strukturalismus oder Formalismus beschränkte, ist es an der Zeit, einen Städtebau zu erfinden, der nicht nur das traditionelle Raumverständnis als solches in Frage stellt, sondern auch ein Rahmenwerk für ein neues schafft. Dieses Buch ist das Werk eines Webens. Es wurde über mehrere Jahre hinweg versammelt. Seine Struktur stellt drei Lesarten bereit: Zunächst bietet das Buch eine Untersuchung unterschiedlicher Positionen der Raumtheorie. Als Form einer »übersichtlichen Darstellung«, die heterogene Theoriebestände zu Raum und Handlung mit Überlegungen zur zeitgenössischen Stadt und zum Urbanismus verzahnt, gibt das Buch bereits in der Weise seiner (An-)Ordnung eine bestimmte Auslegung des Angeordneten zu erkennen. Überdies lässt es sich zweitens auch als Diagnose über das darin verortete Verständnis von Raum interpretieren. Die dritte Lesart besteht in dem Vorschlag eines handlungstheoretischen Umdenkens. Im Vordergrund dessen steht das Plädoyer für das Handlungsmodell der Improvisation als die Richtung, welche das Weiterdenken zur Stadt zu nehmen hat. Die Folgen, die sich daraus ergeben, sind radikal: Jegliche Formen der Externalisierung, Überplanung von oder Flucht vor den Unbestimmtheiten städtischen Raums stellen sich als obsolet heraus. Ins Zentrum des Interesses rückt stattdessen der konstruktive Umgang mit Unbestimmtheit: Raumimprovisation als Technologie. Folgende inhaltliche Bausteine entfalten die Struktur des Buches: das erste Kapitel enthält eine ausführliche Auseinandersetzung mit Martina Löws Raumsoziologie. Es fokussiert auf Aspekte, die einen Dialog mit dem Denken der Relationalität des Raums erlauben. Das Kapitel zu Michel De Certeau fragt nach dem Gebrauch des Raums: Welche Subjektivierungen lenken das Raumhandeln? Wie konturieren sich dessen Zielkorridore? Das nachfolgende Kapitel beschäftigt sich mit Henri Lefebvres Raumtheorie. Es setzt sich mit der konzeptionellen und transhistorischen Auffächerung des Raumhandelns (als Produktion) in unterschiedliche ontologische und epistemologische Kategorien auseinander. Das fünfte Kapitel lässt sich auf Bruno Latours Ar-
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beiten ein, in dem es sich auf die Frage der Unbestimmtheit konzentriert, die sich aus der Erweiterung des Handelungsbegriffs auf nicht-menschliche Handelnde ergibt. Mit Jacques Rancière soll im darauffolgenden Kapitel das Rollenverständnis der Raumgebrauchenden im Kontext der Emanzipationsund Beteiligungsdebatte aktualisiert werden. Das letzte Kapitel schließlich argumentiert für die Redefinition des Handlungsbegriffs in der Raumtheorie. In formaler Hinsicht schließt jedes Kapitel mit einem Abschnitt, den ich Schaltung nenne. Die Schaltung ist ein textlicher Bereich des Wiederholens, Zusammenfassens und Neu-Versammelns von bereits Gesagtem. Sie hat die strukturelle Funktion, eine formal offene Schnittstelle für das jeweils folgende Kapitel zu bilden. Auf diese Weise wird die Disposition des Texts mit einer neuen Organisation aufgeladen. Zusammengesetzt aus der horizontalen, linearen Abfolge von Wörtern, schreibt sich der Text in die Vertikalität kreisender und repetitiver Motive ein.
1 Relationaler Raum und Handlung Martina Löw/Anthony Giddens/Pierre Bourdieu
Eine rätselhafte Mehrdeutigkeit im Verhältnis von Theorie und Praxis kennzeichnet das postmoderne Denken des Raums. Man lädt Raum mit einer Relationalität und Handlungsmacht auf, man bezieht sich auf Raum wie auf eine unbestrittene Tatsache, zugleich verhindert aber ein niemals ausführlich erläutertes Unbehagen das rückhaltlose, praktizierende Umsetzen der Theorie. Raumdenken bleibt in zeitgenössischen Verhandlungen zur Stadt seltsam wirkungslos. Selbst wenn der Konnex von Raum und Handlung ins Feld und so das traditionelle euklidische Raumverständnis überwunden wird, ist das Resultat in der Regel zweideutig. Man bleibt auf der Spur des Raums, während man gleichzeitig zu ihm auf theoretische Distanz geht. Das ist eine Sackgasse: Destabilisiert nicht gerade die raumtheoretische Billigung des Dekonstruktivismus die Möglichkeit eines begründeten Widerstands gegen die (euklidische) Ausbeutung des Raums? Nehmen wir als Ausgangspunkt Martina Löws inzwischen kanonisches Buch Raumsoziologie. Die Kernthese des Buches bildet das Verständnis von Raum als relationale (An-)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern.1 In dem Zusammenhang gilt der Begriff Raum als begriffliche Abstraktion, die einen Konstitutionsprozess durch Handlung benennt.2 Die Schreibweise (An-)Ordnung soll hier zum einen auf die Regel verweisen, die durch Räume geschaffen wird und zum anderen auf den Prozess des Anordnens und die darin eingelagerte Handlungsdimension.3 Innerhalb dessen zielt die Strategie von Löws Theorielegung darauf ab, Anthony Giddens Strukturationstheorie
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Löw, Martina: Raumsoziologie. Frankfurt a.M. 2001 Ebd., S. 131 Ebd., S. 166
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und die dort angeführte Dualität von Struktur und Handeln auf eine »Dualität von Raum auszuweiten.«4 Räumliche Strukturen liegen vor, wenn die Konstitution von Räumen (als Anordnungsprozess) »in Regeln eingeschrieben und durch Ressourcen abgesichert ist.«5 Wie unten mit Giddens zu zeigen sein wird, liegen Strukturen nicht vorgängig vor. Sie sind immer Gegenstand von Reproduktion. Dies gilt auch für Löws Konzeption der Raumstrukturen: Während sie handelnd reproduziert werden, wirken Raumstrukturen auch strukturierend auf das Handeln ein. Dualität von Raum lässt sich demnach als Prozess zu beschreiben, in dem »Strukturen eine Form von Handlungen hervorbringen können«, die umgekehrt in der Konstitution von Räumen »eben jene räumlichen Strukturen reproduziert.«6 Im Folgenden zoome ich näher darauf ein, wie Löw zu dieser Auffassung gelangt. Ihre Überlegungen basieren zunächst auf der These, dass Soziologie traditionell den Raum zugunsten der Zeit vernachlässigt habe. Zeit sei als soziale Konstruktion verstanden worden, Raum hingegen nur als materielles Substrat, Territorium oder Ort ›für‹ die Entwicklung sozialer Konstruktionen. Derlei Verständnis von Raum als materielles Objekt führe dazu, dass Raum in vielen soziologischen Projekten als »in Untersuchungen auszuschließende ›Umweltbedingung‹ erachtet wird.«7 Dagegen stellt Löw die These, dass Soziologie »nicht auf den Begriff des Raums verzichten« kann, »da mit ihm die Organisation des Nebeneinanders bezeichnet wird.«8 Hieraus ergibt sich das zentrale Problem der Soziologie, »dass zwar vereinzelte Prozesse der Organisation des Räumlichen beschrieben oder analysiert werden können, aber keine theoretische Vorstellung über das Zusammenwirken existiert.«9 Eine Wiederaufnahme der soziologischen Untersuchung hätte daher sowohl mikrosoziologische Maßstäbe zu berücksichtigen, mithin Verknüpfungen verschiedener sozialer Güter bzw. Menschen miteinander, die Handeln strukturieren, als auch die Makrosoziologie, um »die relationalen Verknüpfungen begrifflich zu fassen, wie sie infolge technologischer Vernetzungen oder städtischer Umstrukturierungen entstehen und als solche Lebensbedingungen
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Löw, Martina/Steets, Silke/Stoetzer, Sergej (Hg.): Einführung in die Stadt- und Raumsoziologie. Opladen 2008, S. 63 Ebd. Ebd. Löw: Raumsoziologie, ebd. S. 9 Ebd., S. 12 Ebd., S. 263
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prägen,«10 und so Raum selbst als dynamischen Prozess- bzw. Handlungsverlauf zu begreifen. Löw fordert eine konsistente Vorstellung über das Zusammenwirken verschiedener Faktoren wie etwa räumliche Strukturen, Handeln oder Symbolik. Eine Konzeptualisierung von Raum als Objekt kann das Zusammenlesen nicht leisten. Sie bleibt kategorial statt prozessual, weil sie nicht den Prozess der Raumkonstitution erfasst »sondern das Ergebnis dieses Prozesses.«11 Um den Unterschied noch einmal zu verdeutlichen, sollte man darauf hinweisen, dass die traditionelle euklidische Unterscheidung zwischen Raum und Handlung davon ausgeht, dass Handeln unabhängig vom Raum existiert. Die Konzeption des relationalen Raumes wie Löw sie vertritt, basiert hingegen auf Bewegung und Handlung und schließt damit ein, dass »Räume in einen permanenten Veränderungsprozess eingebunden«12 sind. In der Fundierung ihrer Begriffsarbeit verweist Löw auf Autoren wie Norbert Elias (Raum bezieht sich auf positionale Relationen zwischen bewegten Ereignissen), Pierre Bourdieu (der soziale Raum ist als Feld über Relationen bestimmt) und Michel Foucault (Raum besteht aus Lagebeziehungen).13 Aus dem Remix dieser Konzeptionen leitet Löw das Bild von Raum als Ergebnis des Prozesses einer (An)Ordnung ab. Wo es Löw auch um die handlungstheoretische Verknüpfung von Wahrnehmung und Struktur geht, zieht sie überdies Gaston Bachelards Poetik des Raums14 als konzise Beschreibung des Wohnens ebenso heran wie auch Lenelis Kruses These des »gestimmten Raums«, welche die Raumorientierung vom menschlichen Leib ausgehend interpretiert.15 Im Rückgriff auf Merleau-Ponty16 zeigt Löw wie phänomenologische Diskurse (indem sie räumliche Situationen detailliert beschreiben) Alltag diskutierbar machen. Als Schwachstelle macht Löw jedoch an der Phänomenologie die Tendenz aus, Bedingungen der gesellschaftlichen Konstitution von Strukturen außer Acht zu lassen. Vor dem Hintergrund dieser Folien will sich Löw um eine neue Verbindungslinie zwischen Phänomenologie, Formalismus und Strukturation bemühen. Vor allem letztere, durch Giddens vertretene Schule dient Löw als Ausgangsmaterial. 10 11 12 13 14 15 16
Ebd., S. 12 Ebd., S. 13 Ebd., S. 18 Ebd. Bachelard, Gaston: Poetik des Raums. München 1960 Kruse, Lenelis: Räumliche Umwelt: Die Phänomenologie des räumlichen Verhaltens als Beitrag zu einer psychologischen Umwelttheorie. Berlin 1974 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966
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1.1 Raum und Stadt Bevor sie näher auf die Strukturationstheorie eingeht, greift Löw in ihrer Argumentation auf den konkreten Gegenstand aktueller Raumdiskussion zu: die Stadt als Forschungsfeld. Einst stand der traditionelle soziologische Stadtdiskurs der Raumdiskussion vor allem kritisch gegenüber. Wie Hartmut Häußermann und Walter Siebel überzeugend darlegen, erschien der Soziologie »die Fokussierung auf Raum als Ursache der Theorielosigkeit und Entpolitisierung, nicht als Möglichkeit jene zu überwinden.«17 So suchte sich Stadtsoziologie geradezu dem Raumthema zu entziehen und es, als rein bauliche Kategorie, den Stadtplanern und Städtebauern zu überlassen: »Die Soziologie definiert ihre Gegenstände nach sozialen Merkmalen, die Stadtplanung nach räumlich-physischen.«18 Weil Raum als soziologische Kategorie von der Stadt- und Regionalsoziologie als wenig ergiebig erachtet wurde, grenzte sich die Disziplin »mehr oder weniger explizit von einer räumlichen Bestimmung ihres Gegenstandes ab.«19 Die Folge war eine begriffliche Trennung von Raum und Handeln. Diese Deutung rief wiederum eine begriffliche Eingrenzung des Forschungsfeldes in Containerkategorien hervor. Vorherrschend war die Idee, dass man die soziologische Forschung zur Stadt in klar deliminierten Bezirken wie etwa Stadtteilen oder Regionen vollziehen könnte. In der Konsequenz konnte die Soziologie »weder die eigene Kategorisierung reflektieren noch Raum als theoretisches Erkenntnisobjekt nutzen.«20 Man erinnere die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die Chicago School vertretene soziologische Definition der Stadt. Sie illustriert das Containerdenken dort, wo sie städtischen Raum als klar umrissenes Territorium fasst, in dem sich soziale Prozesse entfalten. Die hier mitgeführte Konzeption von Territorium als »zusammenhängendes Stück flächenhaft ausgedehnter Grund und Boden«21 oder als »verdinglichtes Gebilde«22 belegt außerdem, dass für das Forschungsspektrum der Chicago School performative und symbolische Prozesse eine eher untergeordnete Rolle spielen. Raum zeigt sich
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Ebd., S. 45 Häußermann, Hartmut/Siebel, Walter: »Thesen zur Soziologie der Stadt«, in: Leviathan 4.1978, S. 493 Löw: Raumsoziologie, Ebd., S. 48 Ebd. Löw: Raumsoziologie, S. 53 Ebd.
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als geographisch eingeschlossener, durch Größe und Dichte bestimmter Bereich. Äquivalent dazu positioniert sich der von der Chicago School propagierte Begriff der ›Ökologie‹ der Stadt. Er fußt auf einem Organizismus, der Raum als passive, durch Adaption, Segregation, Invasion und Sukzession hervorgerufene Form interpretiert. Auch die für die Chicago School wichtige Idee der Nachbarschaften ist noch raumdeterministisch gedacht.23 Um diese begrifflichen Mängel zu beheben bedarf es, so unterstreicht Löw, »eines fundierten Raumbegriffs, der nicht nur deskriptiv erhebbare Territorien erfasst, sondern die materiellen und symbolischen Aspekte der Produktion von Räumen durch die verschiedenen Akteurinnen sowie die institutionalisierten Raumkonstitutionen erfasst.«24 Gefragt ist ein Perspektivwechsel. Statt zwei verschiedene Realitäten (Raum und Handeln) zu unterstellen, geht es darum, »Raum aus der Wechselwirkung von Struktur und Handlung abzuleiten.«25 Im Folgenden geht Löw einen Schritt zurück, um sich mit der Rezeptionsgeschichte jenes einflussreichen Soziologen auseinanderzusetzen, dessen Thesen zur Stadt am Beginn des 20. Jahrhunderts auch die Chicago School stark beeinflussten: Georg Simmel. Im Anschluss an Kant bestimmt Simmel Raum als conditio sine qua non des sozialen Handelns: »der Raum hat alle Realität, von der innerhalb unserer Erkenntnis überhaupt die Rede sein kann, eben dadurch, dass er die Form und Bedingung unserer empirischen Vorstellung ist. Die räumlichen Dinge sind dadurch insoweit real, als sie unsere Erfahrung bilden.«26 Bekanntermaßen war es Dieter Läpple, der Simmels Raumkonzeption in den 1990er Jahren stark kritisierte. Simmel reduziere Raum auf eine wirkungslose Form. Von Raum, so der Schluss Läpples, bleibe allein die Idee eines Behälters für gesellschaftliche und seelische Inhalte übrig.27 Gegenläufig hierzu argumentiert Löw, dass Simmel Kants Variante der Gegebenheit des Raums gerade um die Frage der Form erweitert habe. Damit ist gemeint: Für
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»… the identification of a neighbourhood as a container for communal ties assumes the a priori organizing power of space. This is spatial determinism.« Wellman, Barry/ Leighton, Barry: »Networks, neighbourhoods, and communities. Approaches to the study of the community question«, in: Urban Affairs Quartely, 3.1979, S. 366 Ebd., S. 53 Ebd. Simmel, Georg: Kant. 16 Vorlesungen gehalten an der Berliner Universität. Leipzig 1905, S. 57 Läpple, Dieter: »Essay über den Raum«, in: Häußermann, Hartmut et al. (Hg.): Stadt und Raum. Pfaffenweiler 1991, S. 166
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Simmel hat Raum nur Bedeutung, wenn er mit einer bestimmten Form verknüpft ist. Es ist die Form, welche die Menschen in ihrem konkreten Empfinden den Dingen geben. Ihre Wirkung entfaltet sich, in dem die Subjekte sie als ordnendes Prinzip auf die Dingwelt anwenden. Das heißt, die Gestaltung der Dinge ist wesentlich, nicht der Raum als solcher. In diesem Sinn fußen Simmels Überlegungen auf der Grundannahme, dass Gesellschaft verwirklichende Form sei. Gesellschaft wird durch Individuen produziert, nicht aber Raum. Insofern spricht Simmel Raum eine metaphysische Konnotation zu: Durch den Raum als Medium kann ich den Kontakt zwischen Seele, Materie und logos herstellen: »Raum ist überhaupt nur eine Tätigkeit der Seele, ›die menschliche Art‹, an sich unverbundene Sinnesaffektionen zu einheitlichen Anschauungen zu verbinden.«28 Auch wenn die von Simmel vorgenommene metaphysische Deutung von Raum heute als überholt gilt, so bleibt eine Lektion seines Raumdenkens immer noch relevant: Raum hängt mit menschlicher Konstruktionsleistung zusammen. Indes, diese Konstruktionsleistung ist ohne eine Fundierung in der noch von Simmel unterstellten euklidischen Ordnung zu denken. Das Verhältnis von Raum und Handlung lässt sich nicht mehr durch den Rekurs auf das ordnende Prinzip einer rein mathematisch orientierten Euklidik bestimmen.
1.2 Raum in Bewegung Folgende Grundannahmen leitet Löw aus den vorangegangenen Überlegungen ab: Erstens ist Raum nicht als etwas Gegebenes zu verstehen, sondern als etwas Hergestelltes. Zweitens ist Raum mit Handlung ebenso verknüpft wie mit mentaler Konstruktionsleistung. Raum ist, und das ist der dritte Punkt, nichts Fixiertes, Statisches – er bestimmt sich aus Bewegung heraus: »Nur wenn der Raumbegriff selbst und nicht nur das Handeln als bewegt gefasst wird, können auch Veränderungen von Räumen verstanden werden.«29 Daraus erwächst ein Paradigmenwechsel: »Was vorher Ausgangspunkt, sozusagen Selbstverständlichkeit war wird selbst zum Gegenstand der Untersuchung:
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Simmel, Georg: »Der Raum und die räumliche Ordnung der Gesellschaft«, in: ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Band II. Frankfurt a.M. 1995, S. 688f. Ebd., S. 65
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die Konstitution von Raum – Handeln selbst muss nun als raumbildend aufgefasst werden.«30 Dem Versuch, Bewegung analytisch aufnehmen zu können, entstammt schließlich Löws Rekurrieren auf einen relationalen Raumbegriff. Was sie damit betont, ist eine asymmetrischen Differenzierung des relativistischen Raumverständnisses. Diese Unterscheidung nimmt zentrale Begriffe des absolutistischen Raumbegriffes in sich auf, als da wären: Ort, Territorium, Konstruktionsleistung. Theoretische Voraussetzung dieser Volte ist, Raum als eine Abstraktion vorzustellen, die aus einem Zusammenspiel von Wahrnehmungen, Handlungen, symbolischen Besetzungen und Reflexivität hervorgeht. Diese Abstraktion erweist sich als mit topologischen Ordnungen verknüpft: Es gibt keinen allgemeinen Raum als Bezugspunkt – Raum ist relational und daher ausgehend vom eigenen Körper und der Wahrnehmung der Vielfalt der Räume auszuloten. Gewiss können durch »Relationenbildung Räume konstituiert werden, in der von der eigenen Person abstrahiert wird.« Diese Räume sind »aber dennoch von der Perspektive des eigenen Standpunkts geprägt.«31 Nach Löw lässt sich dies empirisch durch die zunehmend zu konstatierende Verinselung und Heterogenisierung von Räumen illustrieren. Wo etwa die Versingelung der Wohnhaushalte voranschreitet, Leben, Wohnen und Arbeiten sich räumlich überlagern, die Normativität linearer Biographien zunehmend erodiert und Migrationsbewegungen zunehmen, wird städtischer Raum vermehrt als verinselte soziale Verräumlichung erfahren, die sich dispers zeigt. Daraus münden heterogene Erfahrungen von unterschiedlichen Räumen, auf die die Raumnutzenden in ihrem alltäglichen Handeln Bezug nehmen.32
1.3 Global Cities/Hybridisierung Wie artikuliert sich diese Verinselung von Räumen konkret? Welches sind die Orte veränderter Raumwahrnehmung? Und was sind ihre kleinsten zu untersuchende Handlungseinheiten? An dieser Stelle bringt Löw zwei prominente Stadtmodelle ins Spiel. Im Vordergrund stehen zunächst Saskia Sassens Untersuchungen zur Global City als Ort neuer Medien-Technologien, beschleunigter Datenströme und Handels- bzw. Arbeitsbeziehungen. Sassen 30 31 32
Ebd., S. 67 Ebd., S. 86 Ebd., S. 88/89
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hat aufgewiesen, dass das gängige Postulat einer vollständigen Virtualisierung von Ökonomie deren konkrete Verräumlichungen ins Dunkel rückt. Weder hat man es auf den globalisierten Märkten mit vollständig virtualisierten Unternehmen noch mit restlos digitalisierten Industrien zu tun. Auch jene Wirtschaftssektoren, die mit einer hohen Digitalisierungsrate operieren – ob Finanzwelt, die Multimediaindustrie oder Nahrungsmittelkonzerne – »erfordern strategische Standorte mit einer hohen Konzentration an Infrastruktur, an erforderlichen Arbeitskraftressourcen, Kompetenzen und Gebäuden.«33 Sassen macht hier eine »Geographie der Zentralität« aus, die die Global Cities zu hegemonialen Standorten globaler Waren- und Finanzströme aufsteigen lässt. In geopolitischer Hinsicht bringt dies traditionelle Formen nationalstaatlicher Souveränität zum Erodieren. Statt als »Untereinheiten (Regionen) ihrer jeweiligen Nationalstaaten«34 agieren Globale Städte vielmehr als eigenständige player in einem globalen Netzwerk. Sassens Forschung zeigt, dass diese Städte untereinander mehr ähnliche Merkmale aufweisen als dies mit Hinblick auf den Nationalstaat der Fall ist, dem sie jeweilig angehören. Man hat es hier mit einer neuen urbanen Form zu tun. Sie zeichnet sich durch eine relationale Kapazität aus, die die räumliche Konzentration von Menschen mit der Verdichtung weltweiter Kontrollaktivitäten verbindet. Global Cities sind Knotenpunkte des Handels, Sitz großer Unternehmen und multinationaler Konzerne, der größten Börsen und wichtigsten Finanzdienstleister, Informations- und Kommunikationszentren sowie abgeleiteter und unterstützender Aktivitäten wie Rechts- und Unternehmensberatung, Wirtschaftsprüfung, Werbung und Marketing. Kurz, Weltstädte sind Schaltstellen der globalen Ökonomie. Dass es globale Akteure und globale Zusammenhänge gibt, bedeutet also gerade nicht, dass die weltumspannenden Aktivitäten multinationaler Konzerne, ihre Kapitalströme und Umsätze an den Börsen keine lokale Verankerung hätten. Die Weltstädte avancieren zu den konkreten Orten, an denen sich die Performance ökonomischer Globalisierung vollzieht. Während sich also aus der Perspektive des Nationalstaatlichen eine Desintegration diagnostizieren lässt, entwickelt sich auf der Ebene der Global City ein neues, verinseltes Geflecht der Räume. Diese Fragmentierung des Raums ruft neue Kohärenzen hervor. Sie sind mit einer spezifischen Dualität verknüpft, die ihr Entstehen
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Sassen, Saskia: »Cyber-Segmentierung. Elektronischer Raum und Macht«, in: Münker, Stefan/Roesler, Alexander: Mythos Internet. Frankfurt a.M. 1997, S. 217 Sassen, Saskia: Metropolen des Weltmarkts. Die neue Rolle der Global Cities. Frankfurt a.M. 1996, S. 11
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zum einen auf der Ebene transnationaler Produktionsnetzwerke und zum anderen auf regionaler cluster-Ebene verortet. Wohl niemand hat diese Entwicklung besser antizipiert als Manuel Castells, dessen Stadt-Modell des flow bereits in den 1990er Jahren aufzeigte, wie die neuen medialen Ströme veränderte Lebensformen und Umgangsweisen mit Raum hervorrufen. Diese Ströme lassen sich nach Castells in drei Schichten kategorisieren: in die Schicht der Netzwerke von Wechselwirkungen, die Schicht der Orte (Knotenpunkte, hubs) und schließlich die Schicht der Lebensstile: »Durch diese vielfältigen gesellschaftlichen Prozesse und technologischen Veränderungen entsteht eine Gesellschaft, die durch Ströme (flows) beherrscht wird: Ströme von Botschaften, Ströme von Vorstellungsbildern, Ströme von Klängen, Ströme von Kapital, Ströme von Informationen, Ströme von Anweisungen, Ströme von Technologien, Ströme von Waren, Ströme von Arbeit.«35 Insgesamt sind es also die Aspekte zeitgenössischer Stadterfahrung der Megalopolis, die Löws These der Verinselung und die Auflösung des Behältermodell von Stadtraum stützen sollen. Löw greift hier eine Argumentation auf, wie sie etwa auch von Noller und Ronneberger vertreten wird: »Die konzentrische Raumstruktur der Metropolen wird zusehends von einem fragmentierten Nutzungsmuster überlagert, das gleichermaßen durch Konzentrations- als auch Dekonzentrationsprozesse gekennzeichnet ist und zu unterschiedlich dimensionierten Zentren und Peripherien führt. Die Figuration von Zentrum und Peripherie muss heute neu gedacht und dargestellt werden. Es handelt sich nun um ein relationales Modell räumlicher Struktur.«36 Der springende Punkt ist, dass sich die relationale Konstitution von Räumen nicht nur auf der mikrosoziologischen Ebene der Handlungen, sondern auch auf der Makrobene zwischen Städten und Regionen manifestiert. Gleichwohl gilt umgekehrt: »Solange man sich in der sozialwissenschaftlichen Analyse mit
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Castells, Manuel: »Space of flows – Raum der Ströme. Eine Theorie des Raums in der Informationsgesellschaft«, in: Noller, Peter u.a. (Hg.): Stadt-Welt. Frankfurt a.M. 1994, S. 124 Noller, Peter/Ronneberger, Klaus: Die neue Dienstleitungsgesellschaft. Frankfurt a.M. 1995, S. 40
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der Zerstückelung oder Fragmentierung von Raum beschäftigt, so lange reproduziert man gleichzeitig die Vorstellung vom an sich einheitlichen Raum.«37 Stadt ist nunmehr als Prozess zu verstehen, »in dem über Relationen vielfältig verknüpfte Elemente immer neue und sich gegenseitig überlappende Räume bilden.«38 Raum fächert sich auf. Vormals als geschlossene Form konzipiert, geht Stadt über in die Multiplizität fragmentierter, der miteinander verbundener Räume, die über Bewegung, flow, organisiert sind. Man hat es hier mit einem Paradox zu tun: Das rasante Zusammenrücken der Kopplung einzelner Räume steht im Kontrast zur stark wachsenden Verinselung. Dieses Paradox macht deutlich, warum die raumtheoretische Vorstellung, dass Gesellschaften in einem homogenen Raum existieren, »nicht mehr sinnstiftend ist.«39
1.4 Raum und Organisation Zu klären bleibt die Frage wie sich der flow der Räume organisiert. Welche Ordnungen bildet er aus? Zur Auslegung der Zusammenhänge zwischen räumlicher und sozialer Organisation zieht Löw Studien von Bernd Hamm und Dieter Läpple heran. Ausgangspunkt bildet Hamms berühmte Einführung in die Siedlungssoziologie. Dort heißt es: »Indem wir Räume in oftmals höchst komplizierten arbeitsteiligen Prozessen produzieren, produzieren wir gleichzeitig ihre soziale Bedeutung.«40 Hamm deutet Raum als etwas, das dem Zusammenspiel von materiellem Substrat, Verhalten und Semiotik entspringt. Diese These greift Läpple auf, um sie zu einem ganzen Raumkonzept aufsteigen zu lassen. Sich auf die Relativitätstheorie beziehend erweitert Läpple deren Idee der Lagebeziehungen und Positionen von Objekten auf die der gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen sich Raum konstituiert. In diesem Zuge kreiert Läpple den Begriff des Matrix-Raums, um diesen in einem vitalistischen Sinn als »ursächliche Kraft«41 ins Spiel zu bringen. Entscheidend ist die Wendung, Raum nicht mehr als passiv aber als aktiv zu verstehen. Ausgehend von Hamms Raumkategorien untereilt Läpple den Matrix-Raum in vier Komponenten: zum ersten das materiell-physische
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Löw: Raumsoziologie, S. 111 Ebd. Ebd. Hamm, Bernd: Einführung in die Siedlungssoziologie. München 1982, S. 25 zit.n.: Löw: Raumsoziologie, S. 137
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Substrat (als materielle Erscheinungsform des gesellschaftlichen Raums) der gebauten bzw. materialen Umwelt, zweitens gesellschaftliche Handlungsund Interaktionsstrukturen, Praxis der Produktion, Nutzung, Aneignung und Produktionsverhältnisse, drittens das institutionalisierte und normative Regulationssystem (als Struktur der Vermittlung zwischen Praxis und Erscheinungsbild) und schließlich viertens das räumliche Zeichen-, Symbol-, und Repräsentationssystem als Vorstrukturierung räumlichen Verhaltens durch Gestaltung, Design, Orientierungsdesign und Signal. Aus dieser Matrix geht Raum als gesellschaftlich produziert hervor, umgekehrt entfaltet Raum seine Wirkung im Gebrauch. Man sollte an dieser Stelle auf eine Eigenart in der Konzeption Läpples hinweisen, die auch auf Löws Theoriebildung entscheidenden Einfluss nimmt: Obwohl Raum in Anteilen als materiell-physisches Substrat vorliegt, wird Raum nicht als unmittelbar Wahrnehmbares, sondern als »Resultat menschlicher Syntheseleistung« gedacht, vermittels derer in »einer Art Synopsis der einzelnen Orte, durch die das örtlich Getrennte in einen simultanen Zusammenhang, in ein räumliches Bezugssystem gebracht wird.«42 Problematisch an dieser Konzeption ist, dass sie nicht erklären kann, wie die Verknüpfung menschlicher Syntheseleistung und empirisch beobachtbarer Konstitution von Raum zu verstehen ist. Auch Läpples Vorschlag materielles Substrat und Handlungsform als verknüpft zu denken, erweist sich als fragwürdig. Läpple sieht derlei Verknüpfung in der Funktion des institutionalisierten und normativen Regulationssystems gesichert, welches die Handlungen als Umgang mit räumlichen Gegenständen strukturiert. Kodifizierungen durch Gesetze, Normen, Macht- und Kontrollbeziehungen und Eigentumsformen sichern die Regulation. Insofern sich Läpple hier auf die Regulationstheorie von Alain Lipietz und Joachim Hirsch43 stützt, muss er eine Trennung zwischen Struktur und Handlung vollziehen. Die politisch-ökonomischen Faktoren der Produktion von Raum schieben sich in einen teleologisch orientierten Vordergrund. Normen und Machtverhältnisse fallen aus den Handlungsverläufen heraus und werden als eine Art übergeordnetes System interpretiert. Entsprechend deutet Läpple das ökonomische Regulationssystem als eine allgemeingültige Verfahrensweise. Sie strukturiert und ordnet Handlungen vor, während diese
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Ebd., S. 202 vgl. u.a: Lipietz, Alain: Nach dem Ende des goldenen Zeitalters. Hamburg 1998; Hirsch, Joachim: Kapitalismus ohne Alternative? Materialistische Gesellschaftstheorie und Möglichkeiten einer sozialistischen Politik heute. Hamburg 1990
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sich je nach Gesellschaftsgruppen ausdifferenzieren. Was damit in den Hintergrund tritt, ist die Frage, wie Handlungen selbst das System beeinflussen oder transformieren können.
1.5 Raumkonstitution: Spacing und Syntheseleistung Mit dem oben Gesagten ergibt sich eine zweifache Denkbewegung: Raum ist in den Handlungsverlauf einzurücken und gleichzeitig relational zu erfassen. Es muss daher »Menschen eine Verknüpfungsleistung zugeschrieben werden, durch die einzelne Körper zu einer Anordnung verbunden werden.«44 Löw sieht es so, dass es die Raumvorstellungen des Alltags sind, die »als Aspekte dieser Konstruktionsleitung verstanden werden« können.45 Raum besteht nicht an sich. Raum wird erst durch die relationale Verschaltung als performative Raumproduktion hervorgebracht. In diesem Kontext identifiziert Löw zwei spezifischen Bewegungsstränge, die sich in »analytisch voneinander zu unterscheidende Prozesse, das Spacing und die Syntheseleistung«46 differenzieren lassen. Mit dem Begriff Syntheseleistung beschreibt Löw die Verknüpfungsleistung vermittels derer »Güter und Menschen zu Räumen zusammengefasst«47 werden. Es geht in diesem Zusammenhang um die Anerkennung der Tatsache, dass Raum durch den Prozess der handelnden Verknüpfungsleistung erst sich konstituiert. Die Analyse der sozialen Dimension des Raums hat immer mit zu berücksichtigen, dass Handeln sowohl in strukturierten Kontexten entsteht, wie auch strukturierend wirkt. Um aber den Handlungsweisen selbst auf die Spur zu kommen, ist auch jene Konstruktionsleistung zu berücksichtigen, die Räume erst »bedeutsam« macht. Was hier in den Blick gerät ist die Performativität der Produktion von Raum ebenso wie die der Handlung unter einer immanenten analytischen Meta- bzw. Syntheseleistung. Raum und Handeln sind Produkte, die nicht ex nihilo erscheinen, sondern hergeleitet werden müssen. Hinsichtlich der Synthese unterscheidet Löw analytisch drei Formen: das Synthetisieren in der Wahrnehmung, in der Erinnerung und in der abstrahierenden Vorstellung. Im alltäglichen Handeln vermischen sich diese drei For-
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Löw: Raumsoziologie, S. 113 Ebd. Ebd., S. 160 Ebd., S. 159
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men in unterschiedlichen Interaktionsweisen mit Spacing.48 Löw zufolge gibt es aber auch vom Spacing abgelöste, rein abstrakte Varianten der Syntheseleistung. Darunter zählt Löw wissenschaftliche Arbeiten, künstlerische Konzepte, Planung oder Architekturentwürfe. In der Gestaltung werden, so stellt Löw sich das vor, »am Reißbrett, in der Computersimulation oder auf dem Papier Objekte zu Räumen verknüpft.«49 Diese Verknüpfungen könnten zwar das weitere Handeln leiten, müssten jedoch nicht in direkt anschließende Spacings münden. Was Löw aber nicht fragt – und das ist entscheidend – inwieweit das Handlungsleitende seinerseits konstituiert ist und welche Problematiken der Repräsentation sich daran binden. Spacing definiert Löw als das »Errichten, Bauen, oder Positionieren«50 , mithin das Platzieren von sozialen Gütern und Menschen. Als mögliche Aspekte können etwa der räumliche Abstand zwischen den an einer Interaktion beteiligten Handelnden oder die räumliche Verschiebung von Interaktionselementen gelten. In diesem Zusammenhang sieht Löw die Einflussnahme von Handelnden auf eine Interaktion bestimmt durch die räumliche Anordnung. In diesem Sinn fundiert jede Form von Macht auch in Prozessen des Spacing: »Sowohl Räume als auch Institutionen lassen sich danach unterscheiden, welcher Spielraum Akteuren darin eingeräumt wird.«51 Wenn Löw von Spacing als Prozess der (An-)Ordnung sozialer Güter spricht, meint sie damit in erster Linie das Platzieren materieller Güter, also konkreter Gegenstände an einem Ort. Was aber hat es mit den sozialen Gütern auf sich, die platziert werden sollen? Löw beruft sich hier auf Reinhard Kreckel,52 der sozialen Güter in primär materielle Güter (Gegenstände wie Tische, Stühle, Häuser) und primär symbolische Güter (Werte, Lieder, Vorschriften…) unterteilt. Soziale Güter liegen sowohl materiell als auch symbolisch vor, wobei je nach Handlungsform eine der Komponenten stärker in den Vordergrund tritt. Soziale Güter lassen sich erst dann in ihrer materiellen Anordnung begreifen, wenn ihre symbolischen Eigenschaften entziffert worden sind. Als Beispiel eines solchen sozialen Gutes und dessen Eigenschaft, immer sowohl materiell als auch symbolisch vorzuliegen, nennt Löw das Verkehrsschild.
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Ebd., S. 199 Ebd., S. 159 Ebd., S. 158 Schroer, Markus: Räume, Orte, Grenzen. Frankfurt a.M. 2006, S. 114f. Kreckel, Reinhard: Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit, Frankfurt a.M., New York 1992
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Das Symbol auf dem Schild kann nur existieren, indem es eine Materialität aufweist, nämlich das Metallschild selbst. Es entfaltet seine volle Wirkung allerdings erst dann, wenn das Symbol im Rahmen des Straßenverkehrs als Hinweis verstanden wird.53 Spacing und Syntheseleistung wirken sowohl raumkonstituierend als auch objektivierend, wie etwa durch Routinen oder Institutionalisierung. Ich betrete ein Restaurant, biege in eine Straße ein oder gelange auf einen belebten Platz. Stets ist die (An-)Ordnung der Menschen und Dinge, denen ich in der jeweiligen Situation begegne, bestimmend für meine Raumwahrnehmung. Gleichzeitig wirkt meine körperliche Bewegung auf den Raum ein, verändert ihn, indem ich mich sich durch meine Anwesenheit als Raumkonstituierendes platziere. Als Teil einer jeweilig situativen Raumkonstruktion unterscheide ich mich von den anderen, die mit mir an der räumlichen Situation teilhaben dadurch, dass ich einen Ort einnehme, der von den anderen nicht eingenommen wird. Oder ich verlasse diesen Ort.54 Während meiner Anwesenheit an dem Ort komme ich vielleicht mit Menschen ins Gespräch oder nehme Augenkontakt auf. Ich sehe eine Bank am anderen Ende des Platzes. Auf ihr sitzt eine Person. Ich schlendere zur Bank und frage die Person, ob ich mich dazusetzen kann usw. Wie ich mich zu anderen in Beziehung setze, so spielen Aspekte wie Mimik, Gestik, Sprache, Nähe oder Distanz aktiv in die relationale Raumkonstitution hinein. Spacing und Syntheseleistung bedingen einander. Man sollte indes im Gedächtnis behalten, dass dieses Interagieren von Räumen von sozialer Ungleichheit geprägt ist. Die Chancen der Akteure, aktiv Raum konstituieren zu können, hängt auch ab von finanziellen Verfügungsmöglichkeiten, Wissen, Qualifikationen, Verfügungsmöglichkeiten über soziale Positionen und/oder (Nicht-)Zugehörigkeit.55 Wenn ich beispielsweise über den Place Vendôme in Paris schlendere, treffe ich aller Wahrscheinlichkeit nach auf Menschen die einer anderen sozialen Schicht angehören als die, denen ich an der Straßenbahnhaltestelle im Kölner Vorort Chorweiler begegne.
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Löw: Raumsoziologie, Ebd., S. 153 Ebd., S. 155 Ebd., S. 214
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1.6 Strukturen Als weitere Komponente der Konstitution von Räumen führt Löw das ein, was sie die »räumlichen Strukturen« nennt. Diese sollen eine Unterkategorie gesellschaftlicher Strukturen darstellen. In Anlehnung an Giddens spricht Löw dann von räumlichen Strukturen, wenn die Konstitution von Räumen »in Regeln eingeschrieben und durch Ressourcen abgesichert ist, welche unabhängig von Ort und Zeitpunkt rekursiv in Institutionen eingelagert sind.«56 Dabei bringen räumliche Strukturen eine Form von Handeln hervor, welches in der Konstitution von Räumen eben jene räumlichen Strukturen rekursiv reproduziert. Dieses besondere Verhältnis von Handeln und Strukturen nennt Löw »Dualität von Raum.«57 Danach ist das Räumliche eine spezifische Form des Gesellschaftlichen. Alle gesellschaftlichen Strukturen, also räumliche, ökonomische, politische, juristische usw., schaffen zusammen die gesellschaftliche Struktur.
Exkurs Giddens: Struktur vs. Agency Rekapitulieren wir: Löws Konzeption von Raum als (An-)Ordnung verweist auf den Prozess des Anordnens, auf das Handeln als raumkonstitutive Praxis, sowie, als Raumordnung, auf die im Handeln reproduzierten Strukturen, die Raum in institutionalisierten Formen hervorbringen.58 Zentral in Löws Raumverständnis steht dabei das Individuum und dessen Handeln. Über seinen Leib ist es dem Individuum möglich, in Form von Synthesen und Spacings direkten Einfluss auf die Entstehung von Raum zu nehmen. Gleichzeitig jedoch sind diese »Möglichkeiten, Räume zu konstituieren, […] abhängig von den in einer Handlungssituation vorgefundenen symbolischen und materiellen Faktoren, vom Habitus der Handelnden, von den strukturell organisierten Ein- und Ausschlüssen sowie von den körperlichen Möglichkeiten.«59 Wie aber sieht das Handeln aus, dem ja in dieser Theorie grundlegende Bedeutung zukommt? Erneut ist in den Blick zu nehmen, dass sich Löws Argumentation in der Hauptsache auf den von Giddens vertretenen Dualismus von Handeln und
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Ebd., S. 272 Ebd., S. 178 Ebd., S. 177 Ebd., S. 272
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Struktur stützt. Dabei geht Löw zuvorderst von Giddens’ strukturationstheoretischer Beschreibung des routinierten Alltagshandelns aus. Das Handeln der Menschen basiert auf und stabilisiert sich in Routinen. Wenn wir Kochen, unser Bett machen, zur Arbeit fahren, Formulare ausfüllen oder Einkaufen gehen, müssen wir über viele unserer Handlungen nicht mehr nachdenken. Die Routinen bieten uns ein Set von Handlungsweisen, anhand derer wir unser Wohnen, Leben und Arbeiten gestalten. Was Giddens nun mittels Gegenüberstellung von Handlung und Struktur zu beschreiben sucht, ist die Wechselwirkung von freier, spontaner Handlung und vorgefertigten Formen des Handelns. Voraussetzung dieses Dualismus ist die Unterscheidung zwischen diskursivem Bewusstsein (als Sachverhalte, die Menschen in Worte fassen können) und praktischem Bewusstsein (das aus dem Wissen besteht, welches emotional und körperlich im Alltag aktualisiert wird). Beide, sich bewusst abspielende Formen werden ergänzt oder konterkariert durch unbewusste Formen, in denen verdrängte Motive des Handelns zum Ausdruck kommen. Mit diskursivem Bewusstsein ist nach Giddens jene Form der Reflexivität benannt, die den steuernden Einfluss Handelnder auf ihr Leben ebenso beschreibt, wie die Fähigkeit, dieses Handeln zu erläutern. Konstitution von Raum ist in diesem Zusammenhang dem praktischen Bewusstsein zuzuordnen: Wie wir uns orientieren, rührt von einem Reservoir an Routinen, Optionen und Varianten her, die wir in der räumlichen Bewegung anwenden. Mit der Rede von den Routinen demonstriert Giddens die Schlüsselkategorie zum Verständnis des Sozialen als Prozess: »Routinen sind konstitutiv sowohl für die kontinuierliche Reproduktion der Persönlichkeitsstrukturen der Akteure in ihrem Alltagshandeln wie auch für die sozialen Institutionen; Institutionen sind solche nämlich nur kraft ihrer fortwährenden Reproduktion.«60 In Routinen werden sowohl die Formen der Institution reproduziert als auch Handlungen habitualisiert. Routinen bilden die Grundlage dafür, dass Rekursivität in gesellschaftliches Handeln eingelagert werden kann. Worauf aber zielt das von Giddens als zentral angeführte Attribut »rekursiv« ab? Rekursiv bedeutet in der Informatik ›durch sich selbst definierend, sich selbst aufrufend‹ und in der Linguistik ›mehrfaches Auftreten gleicher Sprachformen‹. Giddens meint mit Rekursion, dass Handlungen
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Giddens, Anthony: Die Konstitution der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1988, S. 37
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»nicht nur durch die sozialen Akteure hervorgebracht werden, sondern von ihnen mit Hilfe jener Mittel fortwährend reproduziert werden, durch die sie sich als Akteure ausdrücken. Rekursiv kann auch als spiralförmig wiederkehrende und dabei an Komplexität zunehmende Behandlung eines Sachverhalts bezeichnet werden. In und durch ihre Handlungen reproduzieren die Handelnden die Bedingungen, die ihr Handeln ermöglichen.«61 Rekursive Prozesse beinhalten auch, Aussagen über die Bedingungen der Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Handelns zu treffen. Rekursives Vorgehen erfordert – neben der Koordination der Aktivitäten unterschiedlicher Handelnder – eine zeitstetige Informationsversorgung sowohl über den Ergebnisstand als auch über die Funktionsfähigkeit bisher aktualisierter Schritte. Die zeitstetigen Informationen machen überhaupt möglich, dass so etwas wie kreativ-transformierendes Handeln auf Basis bisheriger Schritte fortgeführt und eine eventuell erforderliche Fehlerkorrektur angezeigt werden kann. Je mehr Informationen in real-time verfügbar sind, desto größer ist die Wirksamkeit dieses Handelns. Giddens denkt sich das so: Repetition alltäglichen Handelns als Routine reproduziert rekursiv gesellschaftliche bzw. institutionelle Strukturen, wodurch Routinen auch die Funktion des Spenders von Gewissheiten und Sicherheiten einnehmen. Mit dieser Konstruktion gelingt es Giddens, das makrosoziologische Phänomen der Institution quasi im Rückgriff auf die mikrosoziologische Wirkweise der Routine zu erklären. Institutionen sind Ausdruck einer Praxis. Als die »dauerhaften Merkmale des gesellschaftlichen Lebens«62 zeigen sie sich performativ in Routinen reproduzierten Formen. Umgekehrt lässt sich damit sagen, dass ihre Dauerhaftigkeit auf permanente Reproduktion angewiesen ist. Strukturen können mit Giddens als »als rekursiv organisierte Menge von Regeln und Ressourcen« bezeichnet werden. Da anhand von Regeln Handlungen Sinn und Norm verliehen wird, sind Regeln Gegenstand von gesellschaftlichen Verhandlungs- und Kodifizierungsprozessen. Als Merkmal von Strukturen sind sie jedoch nicht ohne Bezugnahme auf bestimmte Ressourcen verständlich. Ressourcen sind »Medien, durch die Macht als ein Routineelement der Realisierung von Verhalten in der gesellschaftlichen Reproduktion ausgeübt wird.«63 Giddens unterscheidet hier zwischen allokativen, das heißt ma-
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Ebd., S. 52 Ebd., S. 76 Ebd., S. 67
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teriellen und autoritativen bzw. symbolischen Ressourcen, die auf Personen Bezug nehmen. Unter dem Attribut »allokativ«64 versteht man allgemein die Zuordnung von beschränkten Ressourcen zu potentiellen Verwendern und unter autoritativ seinen Geltungsbereich ausübend oder auf Autorität beruhend, maßgebend, entscheidend.
1.7 Relationalität Zurück zu Löw: Wie sie schließlich Raum als »eine relationale (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten«65 definiert, so erlaubt ihr der Rekurs auf Giddens, Raum ohne die Zuschreibung einer substantiellen Realität zu fassen, das heißt einer Realität, die der des Handelns gegenüberstehen würde. Stattdessen zeigen sich Handlung und Raum vielmehr als verknüpft: Raum wird im Handeln erst konstituiert. In der Schreibweise »(An-)Ordnung« ist dieser Aspekt der aktiven Raumkonstitution hervorgehoben. Wie aber hängen Handeln und »(An-)Ordnung« zusammen? Löw weist daraufhin, dass relationale (An-)Ordnungen immer »neben der Handlungsdimension eine strukturierende Dimension«66 aufweisen. An dieser Stelle erläutert Löw kurz ihr eigenes Handlungsverständnis. Im Unterschied zu vielen soziologischen Ansätzen67 versteht Löw Strukturen nicht als losgelöst von Handlung. Strukturen »ermöglichen und […] verhindern Handeln, aber sie bleiben an den Handlungsverlauf gebunden.«68 Damit wird Giddens’ Ansatz, Struktur als außerhalb der Zeit stehend zu interpretieren,69 aufgegeben. Zwar können sich Strukturen von Performanz lösen und auch ohne direkte Reproduktion ihre Gültigkeit behalten. Nur ist diese nicht mehr relevant, weil sie ja nicht in Kraft tritt: Sie beginnt damit ihre strukturierende Wirkung zu verlieren. Erinnern wir daran, dass Giddens das von ihm vertretene Konzept der Rekursivität von Strukturen am Modell der Sprache expliziert. Mitglieder einer 64 65 66 67 68 69
Allokation kommt vom lat.: locare, mlat.: allocare »platzieren«, im weiteren Sinne »zuteilen« Löw: Raumsoziologie, S. 212 Ebd., S. 166 s.u.a. Sewell, William F.: »A Theory of Structure: Duality, Agency, and Transformation«, in: The American Journal of Sociology, Volume 98, Number 1, 7.1992 Löw: Raumsoziologie, S. 166 Giddens hatte Strukturen noch als »außerhalb von Raum und Zeit«, stehend bezeichnet. Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft, S. 77
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Sprachgemeinschaft verwenden bestimmte Regeln und linguistische Praxisformen. Um sprechen zu können, müssen sie sowohl um die Regeln wissen als auch diese Regeln in ein Sprechen umsetzen können.70 Giddens überträgt diesen gesellschaftlichen Sachverhalt nun auf die Beschreibung des Gesellschaftlichen selbst. Gesellschaftliche Strukturen sind, als Regeln und Ressourcen, rekursiv in dem Sinne, dass sie Handeln ermöglichen und gleichzeitig im handelnden Rückgriff auf die Strukturen reproduziert, sozusagen en-acted, performativ hergestellt werden. Löw nimmt an diesem Strukturbegriff eine entscheidende Änderung vor, in dem sie Handlung und Struktur zusammendenkt und damit auch den temporalen Aspekt in die Struktur hineinholt. Der Strukturbegriff selbst aber bleibt, gerade im Hinblick auf Rekursivität wichtig, um die Frage von Ermöglichung und Hindernis zu klären. Löw arbeitet mit Giddens’ Strukturdefinition also deshalb, »weil sie die Ermöglichungspotentiale des Handelns ebenso berücksichtig wie die Verhinderungen.«71 Dieser Strukturbegriff erlaubt darüber hinaus, die Differenzierungen zwischen Struktur (als Gesamtheit verschiedener Strukturen) und Strukturen (als isolierbare Mengen von Regeln und Ressourcen, wie zum Beispiel rechtliche, ökonomische oder politische) vorzunehmen und so »zwischen allgemeinen Regel-Ressourcen-Komplexen und isolierbaren Mengen desselben, […] zu unterscheiden.«72 So wird es zum einen möglich, den Maßstab von Struktur in den Blick zu nehmen und zum anderen, auch Elemente des Raumes oder der Zeit als Strukturen einzuordnen und so den Strukturbegriff zu erweitern. Entsprechend sieht Löw etwa die Konzeption der Trennung von Privat vs. Öffentlich als eine Struktur an, die sich juristisch, medial, aber auch räumlich äußert. Die Orientierung an der Struktur Privat vs. Öffentlich ermöglicht und sanktioniert Handeln, man weiß, was sich im öffentlichen Raum gehört, und was nicht. Wobei diese Normativität immer wieder Wandlungen unterliegt, etwa wenn auf einer Internetplattform private Inhalte ausgestellt werden oder eine Fernsehsendung darauf basiert, Privates öffentlich zu machen.73 70 71 72 73
Ebd., S. 76 Löw: Raumsoziologie, S. 168 Ebd. In diesem Kontext ist zu bemerken, dass sich das Sprachbild mit dem wir zwischen privat und öffentlich unterscheiden noch immer an einem euklidischen Raumbild orientiert, auch wenn sich die Materialität von Privatheit bzw. Öffentlichkeit medial radikal verändert hat. Vgl. Konitzer, Werner: »Aufzeichnungen des Öffentlichen«, in: Hommelsheim, Ruth/Dell, Christopher (Hg.): unfolded sites. Köln 2000
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Erneut ist zu fragen, wie nun Raumstruktur und Handlung zusammenwirken? Wenn Raum als durch Handlung entstehend gedeutet wird und Strukturen in Handlungen eingelagert sind, dann lassen sich auch räumliche Strukturen nicht mehr gegen Handlung ausspielen. Die Konstitution von Räumen (als Anordnung von sozialen Gütern bzw. Menschen oder die Synthese von sozialen Gütern bzw. Menschen zu Räumen) ist in Regeln eingeschrieben und durch Ressourcen abgesichert, »welche unabhängig von Ort und Zeitpunkt rekursiv in Institutionen eingelagert sind.«74 Was aber sind räumliche Strukturen? Löw spricht hier in Anlehnung an Giddens von räumlichen Strukturen, die als Teil der gesellschaftlichen Struktur Handeln ermöglichen und »im handelnden Rückgriff auf die Formationsegeln erneut produziert«75 werden. In den Gebrauch des Raums der Straße ist die Straßenverkehrsordnung eingeschrieben, die wiederum durch staatliche Ressourcen abgesichert ist. Die räumliche Aufteilung in Zonen für Fußgänger, Radfahrer und Autos strukturiert das Handeln, gleichzeitig wird der Raum der Straße durch die repetitive, alltägliche Nutzung nach den vorgesehenen Schemata rekursiv reproduziert. Gleichlaufend sind die Breite der Straße und des Fußgängerwegs oder die Höhe und Geschossflächenzahl der die Straße umsäumenden Gebäude von der jeweils geltenden Baugesetzgebung geleitet. Die ins Gebaute eingeschriebenen Regelungen spielen in alle Wohn- und Arbeitshandlungen innerhalb der Gebäudestruktur hinein. Wenn sich nun Handlung und Struktur verknüpfen lassen, so ergibt sich eine konstituierende Trias von Raum, Handlung und Struktur. Innerhalb dessen definiert Löw räumliche Strukturen als »Konstitution von Räumen, das heißt entweder die Anordnung von Gütern bzw. Menschen oder die Synthese von Gütern bzw. Menschen zu Räumen«, die »in Regeln eingeschrieben und durch Ressourcen abgesichert ist, welche unabhängig von Ort und Zeitpunkt in Institutionen eingelagert sind.«76 Auch für räumlich Strukturen gilt, dass sie zu Erhandeln sind. Erst wenn Strukturen in Handlung ausgeführt werden, kommt ihnen Wirklichkeit und Geltung zu, umgekehrt strukturieren sie das Handeln mit. Löw leitet nun daraus ab, dass gerade in der Rede von räumlichen Strukturen der Handlungsaspekt von Raum begriffen liege, »dass Räume nicht einfach nur existieren, sondern dass sie im (in der Regel repetitiven) Handeln geschaffen werden und als Strukturen, eingelagert in Institutionen, Handeln 74 75 76
Löw: Raumsoziologie, S. 272 Ebd., S. 168 Löw: Raumsoziologie, S. 171
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steuern.«77 Mit der räumlichen Struktur ist somit eine Art Steuerungsscharnier zwischen Raum und Handlung beschrieben, wobei es die institutionellen Räume sein sollen, die die geregelte Kooperation zwischen Menschen sichern. Institutionalisierte Räume liegen vor, wenn »(An)Ordnungen über das eigene Handeln hinaus wirksam bleiben und dauerhaft Handeln formen.«78 Immer dann, wenn aus raumkonstituierenden Prozessen individuellen Handelns genormte Syntheseleistungen und Spacings (und somit dauerhaft Formendes) entstehen, kann man von »institutionalisierten Räumen«79 sprechen. Routinen objektivieren Räume und erzeugen Institutionalisierung. Etwaige Änderungen räumlicher Strukturen können deshalb, so Löw, nur »kollektiv, mit Bezug auf die relevanten Regeln und Ressourcen«80 erfolgen. Die entscheidende Frage lautet also: Wie ist räumlicher Wandel möglich? Angesichts dieser Frage wird deutlich, dass auch die Handlungsweisen in den Blick genommen werden müssen, die die alltäglichen Gewohnheiten transformieren. Dabei unterscheidet Löw zwischen Veränderung, Abweichung und kreativem Handeln. Während Abweichung und Kreativität Gewohnheitsmuster variieren, bedeutet Veränderung das »Ablegen alter Gewohnheiten zugunsten neuer Routinen.«81 Die Grenze zieht Löw dort, wo Variation in eine Routine kippt. Erst dann ist Transformation vonstatten gegangen. Mit anderen Worten: Erst wenn Abweichungen regelmäßig und zu Routinen werden, liegen neue institutionalisierte Räume vor. Löw kritisiert Giddens dahingehend, dass er nur die Veränderung beachte, aber die kleinen alltäglichen Abweichungen vernachlässige. Damit übersehe die Strukturationstheorie, dass gerade diese marginalen Handlungsvariationen konstitutiv für die Entstehung neuer Handlungsformen seien. Dies liegt in Giddens’ Fokus auf großstrukturellen Transformationen begründet, mit denen er ein an Reflexivität gekoppeltes Handlungsmodell zu legitimieren sucht. Giddens setzt Kontinuität der Praktiken Reflexivität voraus und umgekehrt Reflexivität durch Kontinuität.82 Reflexivität ist an die Einsicht in und das Erkennen von gesellschaftlichen Strukturen gebunden – nur durch organisierte Reflexivität
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Ebd., 172 Ebd., 178 Ebd., S. 178 Ebd., S. 272 Ebd., S. 185 Giddens: Konstitution der Gesellschaft, S. 53
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wird ein Umdenken möglich. Unter reflexivem Handeln versteht Giddens das bewusste und absichtsvolle Handeln. Entgegen dem zuweilen geäußerten Einwand, Giddens habe sich zu stark auf die Akteursperspektive konzentriert und dabei die autopoietischen, schwer steuerbaren Prozesse sozialer Wirklichkeit nicht berücksichtigt, verweist Löw darauf, dass Giddens sehr wohl auf die Unschärfen von Handlungsweisen hingewiesen habe in denen sich das Problem der »unbeabsichtigten Handlungsfolgen auf die Konzeption des intentional handelnden Subjekts«83 zeige. Gewiss bleibt Giddens einem zweckgerichteten Handlungsbegriff verhaftet. Dieses Handeln aber sei nicht in einzelne Handlungseinheiten zu gliedern. Vielmehr vollziehe sich Handeln in der Dauer eines kontinuierlichen Verhaltensstroms. Eine Angrenzung ist erst durch ein »diskursives Moment der Aufmerksamkeit auf die durée durchleuchtende Erfahrung«84 möglich. An dieser Stelle ist es hilfreich noch einmal auf Giddens’ Unterscheidung zwischen praktischem Bewusstsein, diskursivem Bewusstsein und den unbewussten Motiven bzw. Wahrnehmungen zurückzukommen. Insofern praktisches Bewusstsein an das regelmäßige alltägliche Tun gebunden ist, enthält es größtenteils implizites Wissen. Dagegen macht das diskursive Bewusstsein all das sichtbar, was Akteure über ihr Tun aussagen, sprachlich mitteilen können. Der Unterschied zwischen dem praktischen und dem diskursiven Bewusstsein liegt hier nicht im Handeln, sondern in dessen Bewusstmachung. Paradoxerweise sind es vor allem die nicht expliziten, unbewusste Motive der Handelnden, die Abweichungen von den Routinen auslösen. Aus diesem Grund, so argumentiert Giddens, seien gesellschaftliche Strukturen weder auf einzelne Handlungen noch auf intentional handelnde Subjekte rückführbar. Zwar wertet Giddens das Tun der Menschen auf und kann damit in den Blick nehmen, wie sich die Transformation gegenständlicher Dinge in der materiellen Umwelt durch dieses Tun vollziehen. Allerdings bleibt der Begriff der Reflexivität an eine Konstruktion gebunden, die intentional handelnde Akteure als Entitäten voraussetzt. Deshalb sieht sich Giddens auch gezwungen, zwischen den intendierten und unbeabsichtigten Handlungsfolgen und den Motivationen der Handelnden zu trennen. Wobei heute mit der Zunahme sozialer Kontingenz die Motivation des Handelnden ebenso unscharf zu werden scheint und Handelnde oft erst im Handeln selbst die Ziele zu entwickeln in der Lage sind.
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Das Konzept der Konstruktion der Dualität von Struktur und Handlung als raumkonstituierende Faktoren erklärt, dass das Erhandeln von Räumen (Spacing und Syntheseleistung) immer an eine Vorstrukturierung sozialer Art gebunden ist. Diese Strukturierung sagt aber noch nichts über Form, Funktion und Materialität einer Situation aus. Als Ausweg aus diesem Dilemma erweitert Löw Raumkonstitution um symbolische und materielle Faktoren, die in jeweiligen Handlungssituationen vorgefunden werden.
Exkurs Pierre Bourdieu: Der soziale Raum Wie sie Fragestellungen zum Verhältnis von Handlung und Struktur erhellt, so lässt die Strukturationstheorie indessen eine Inblicknahme der Bedeutung des Körperlichen vermissen. Laut Löw ist es genau dieser Mangel, der verhindert »Möglichkeiten der Konstitution von Raum abweichend von der alltäglichen Praxis – oder gar dieselbe verändernd«85 zu denken. Zwar betont Giddens, dass Strukturen den Menschen nicht äußerlich seien: sie verwirklichen sich in Form von Erinnerungsspuren und sozialen Praktiken. In dem Zug interpretiert Giddens jedoch den Körper als ein reines Medium des Ausdrucks, der Bewegung und Positionierung. Wie allerdings Verkörperung geschieht, bleibt unangesprochen. Um in dieser Hinsicht Klarheit zu erlangen, kann Bourdieus soziologische Theorie des sozialen Raumes und dessen zentrales Motiv – der Habitus – in Anspruch genommen werden. Das Spezifische von Bourdieus Ansatz liegt nun nicht nur darin, zugunsten von Relationen mit einer Privilegierung von Substanzen (Gruppen) zu brechen. Überdies lehnt Bourdieu die strukturalistisch-marxistische Reduktion sozialer Sachverhalte auf ökonomische Produktionsverhältnisse ebenso ab wie einen Objektivismus, der die symbolischen Auseinandersetzungen um den sozialen Status ignoriert. Relational zu denken bedeutet für Bourdieu, die Beziehungen zwischen Entitäten und die Entitäten selbst (als materiale Erscheinung) als gleichwertig anzusehen. Erforschung von sozialem Raum hat die Analyse der Relationsgefüge ebenso zu berücksichtigen, wie die Bestimmung von Gegenständen. Auch wenn es in diesem Zusammenhang methodisch durchaus möglich ist zwischen Beziehungen und Elementen zu trennen, insistiert Bourdieu darauf, die Konstellation der Raumgefüge und ihrer Herstellung immer mitzudenken. Bourdieus Vorschlag besteht darin, die Erforschung des sozialen Raums sequenziell so zu strukturieren, dass erst relationale Verhältnisse untersucht werden, um im Anschluss daraus Erkenntnisse über die Elemente abzuleiten. 85
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Am Beispiel der Untersuchung einer Hochschule erläutert Bourdieu wie die Ansammlung von statistischen Daten über das Objekt Hochschule völlig an der eigentlichen Sachlage der Institution vorbeigehen kann. Man verfügt über isolierte Betrachtungen, weiß aber nichts darüber, wie die Hochschule in einem Netz von Beziehungen funktioniert. Die Hochschule bildet einen Punkt in einem Relationsgeflecht von Institutionen und einer Gesamtheit der Machtfelder, die jeweils von Konflikten um Zugänge und Ressourcen bestimmt sind. Staatliche Regelungen bestimmen wissenschaftliche Qualifikationen und die Zugänge zu ihnen ebenso wie die Gehälter der Lehrenden, finanzielle Unterstützung der Studierenden, Curricula oder den Bau und Erhalt von Universitätsgebäuden. Städtebaulich sind die Universitätsgebäude wiederum in einem bestimmten Stadtteil verortet, sie haben unterschiedliche Verkehrsanbindungen, unterschiedliche Raumaufteilungen. Und innerhalb der Konkurrenz der wissenschaftlichen Disziplinen behauptet sich die Universität als Standortfaktor der Stadt usw. Alle noch so sorgfältig erhobenen Daten geraten hier zur Makulatur, wenn nicht deutlich wird, wie die Konflikte, die aus diesen Beziehungsgeflechten hervorgehen, aussehen. Genau um solcher Relationalität gerecht zu werden, führt Bourdieu den methodischen Begriff des Feldes ein. An ihm soll sich das »relationale Denken« entfalten: »Ich muss mich vergewissern, ob nicht das Objekt, das ich mir vorgenommen habe, in ein Netz von Relationen eingebunden ist und ob es seine Eigenschaften nicht zu wesentlichen Teilen diesem Relationsnetz verdankt. Der Feldbegriff erinnert uns an die erste Regel der Methode, dass nämlich jene erste Neigung, die soziale Welt realistisch zu denken, oder substantialistisch, […] mit allen Mitteln zu bekämpfen ist: man muss relational denken.«86 Analog zu Giddens konzentriert sich Bourdieu auf die Dualität von Struktur und Handeln. Hierbei gelten Bereiche sozialer Erfahrung als immanentes Element gesellschaftlicher Reproduktion, die sich jedoch nicht auf rein materielle Strukturen reduzieren lassen. Hier interessiert weniger die Dichotomie von Struktur und Handlung, sondern vor allem die Relationen zwischen diesen: »Allen Formen des methodologischen Monismus, der das ontologische Primat der Struktur oder des Akteurs behauptet, des Systems oder des handelnden
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Bourdieu, Pierre/Wacquant, Loïc J. D.: Reflexive Anthropologie. Frankfurt a.M. 1996, S. 262
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Subjekts, des Kollektivs oder des Individuellen setzt Bourdieu das Primat des Relationalen entgegen.«87 Den Ort, an dem Struktur und Handlung relational zusammenspielen, nennt Bourdieu den sozialen Raum. Der soziale Raum »besteht aus einem Ensemble objektiver historischer Relationen zwischen Positionen, die auf bestimmte Formen von Macht (oder Kapital) beruhen.«88 Angesichts dessen stellt sich der soziale Raum als ein Gefüge von Positionen heraus, in dem sich Personen verteilen oder verteilt und mit unterschiedlichem (ökonomischem, kulturellem oder sozialem) Kapital ausgestattet sind und damit unterschiedliche Zugriffsmöglichkeiten auf Positionen und Felder haben. Die Konstellation der jeweiligen Kapitalzusammenstellung artikuliert sich im Habitus des Einzelnen. In diesem Sinn manifestiert sich der soziale Raum als eine abstrakte Formel, anhand derer Statusbeziehungen sichtbar gemacht werden. Was Bourdieu hier entfaltet ist eine Sozialtopologie, die die relative Lage der Akteure in »Feldern« analysiert, um anhand der so festgestellten Lageverhältnissen eine Positionsbestimmung der jeweiligen Akteure im sozialen Raum vorzunehmen. In diesem Verständnis ist sozialer Raum also nicht, und darauf insistiert Bourdieu, mit angeeignetem, »physischen Raum« zu verwechseln: »Der auf physischer Ebene realisierte (oder objektivierte) soziale Raum manifestiert sich als die im physischen Raum erfolgte Verteilung unterschiedlicher Arten gleichermaßen von Gütern und Dienstleitungen wie physisch lokalisierter individueller Akteure und Gruppen […] mit jeweils unterschiedlichen Chancen der Aneignung dieser Güter und Dienstleitungen.«89 Bourdieu bestimmt sozialen Raum als ein Ensemble von Positionen, »die distinkt und koexistent sind.«90 Differenz ist ein Unterscheidungsmerkmal, »das nur in der (Relation) und durch die Relation zu anderen Merkmalen existiert.«91 Im Zuge dessen sind die Elemente eines Raums »durch ihr je87 88 89
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Wacquant, Lois: »Auf dem Wege zu einer Sozialpraxeologie«, in: Bourdieu/Wacquan: Reflexive Anthropologie, S. 34 Ebd., S. 36 Bourdieu, Pierre: »Physischer, sozialer und angeeigneter Raum«, in: Wentz, Martin (Hg.): Stadt-Räume. Die Zukunft des Städtischen. Frankfurter Beiträge Band 2. Frankfurt a.M. 1991, S. 29 Bourdieu, Pierre: »Sozialer Raum, symbolischer Raum« [orig. 1989], in: Dünne, Jörg/ Günzel, Stephan: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M. 2006, S. 354–368, S. 358 Ebd.
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weiliges Verhältnis zu allen anderen (Positionen), durch ihre wechselseitige Äußerlichkeit, durch Relationen von Nähe und Nachbarschaft, bzw. Entfernung wie auch durch Ordnungsrelationen wie über, unter und zwischen«92 als Positionen zu fassen. Man sollte im Blick behalten, dass diese Verräumlichung von Ordnung als Ensemble bei Bourdieu metaphorischer Natur ist. Der Grundgedanke der Differenz offenbart sich hier als eine soziale, die sich als Feld dort verräumlicht, wo sie analysier- bzw. objektivierbar wird: »Analytisch gesprochen wäre ein Feld als ein Netz oder eine Konfiguration von objektiven Relationen zwischen Positionen zu definieren. Diese Positionen sind in ihrer Existenz und auch in den Determinierungen, denen die auf ihnen befindlichen Akteure oder Institutionen unterliegen, objektiv definiert, und zwar durch ihre aktuelle und potentielle Situation (situs) in der Struktur der Distribution der verschiedenen Arten von Macht (oder Kapital), deren Besitz über den Zugang zu den in diesem Feld auf dem Spiel stehenden spezifischen Profiten entscheidet, und damit auch durch ihre objektiven Relationen zu anderen Positionen (herrschend, abhängig, homolog usw.).«93 Konkret unterscheidet Bourdieu hier zwischen zwei (relativ voneinander unabhängigen) Subräumen bzw. Feldern, dem »Raum der sozialen Positionen« auf der einen und dem »Raum der Lebensstile«94 auf der anderen Seite. Aus dieser Perspektive konstituiert sich sozialer Raum relational in der differenziellen Bewegung sozialer Positionen. Als Prinzipien zur Erfassung dieser Differenz führt Bourdieu die diagrammatische Bestimmung der statistischen Verteilung jeweils sozialen Akteuren zugänglichen bzw. zugewiesenen Kapitalsorten ein. Anhand dieser sollen sich die sozialen Positionen der Akteure im sozialen Raum ermitteln und als Diagramm visualisieren lassen. In dem Zusammenhang wird die Distribution der Akteure oder Gruppen zum einen bestimmt nach dem Gesamtvolumen des Kapitals (x-Achse) und zum anderen nach der Verteilungsstruktur der Kapitalsorten innerhalb des Gesamtvolumens ihres Kapitals (y-Achse)95 . So lässt sich die soziale Position eines Akteurs im sozialen Raum unter Anwendung eines »mehrdimensionalen Systems von
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Ebd. Bourdieu: Reflexive Anthropologie, S. 122 Schwingel, Markus: Pierre Bourdieu zur Einführung. Hamburg 2005, S. 111 Bourdieu: »Sozialer Raum, symbolischer Raum«, S. 358; s.a.: Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Frankfurt a.M. 1982, S. 212
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Koordinaten«96 herausdestillieren. Die Koordinatenwerte entsprechen jeweils der Position innerhalb der spezifischen Felder. Aus der Verknüpfung von Position, relativer Lage in den einzelnen Feldern und jeweiliger Verfügbarkeit von unterschiedlichen Kapitalvolumina lassen sich jene Strukturen ablesen, welche die individuellen Handlungsspielräume determinieren und die Positionen der Akteure im (sozialen) Raum anhand einer methodischen Empirie fassen und klassifizieren. Die von Bourdieu aufgestellten Kapitalkategorien sind heute schon beinahe sprichwörtlich. Sie gehören zu den wenigen soziologischen Modellen, die Eingang in unsere Alltagssprache gefunden haben. Ökonomisches Kapital meint in Bourdieus Kategorienlehre materiellen Reichtum, kulturelles Kapital ermisst sich an den erworbenen Praktiken, Bildungszertifikaten usw. Soziales Kapital stellt die gesellschaftlichen Beziehungen dar und symbolisches Kapital schließlich drückt sich in Form von Prestige und Renommee aus, und ist, als wahrgenommene und legitim anerkannte, die sichtbarste Form der drei ersten Kapitalsorten.97 Aus Zusammenspiel und Verteilung dieser Kategorien bestimmt sich der Raum der sozialen Positionen. Soziale Position meint hier sowohl »die jeweilige objektive ökonomische, kulturelle und soziale Bedingungslage einer sozialstatistisch erfassten Gruppe von Akteuren«98 als auch deren imaginäre Ebene. Denn die »Position, die jemand in diesem Raum einnimmt, bestimmt auch seine Vorstellungen von diesem Raum und die Positionen, die er in den Kämpfen um dessen Erhalt oder Veränderung bezieht.«99 Die Felder der Kapitalsorten bleiben nie statisch, sondern sind immer von Konflikten und Wechselwirkungen durchzogen. Ferner bilden sie ihre eigenen Wertformen aus, die zueinander wie Wechselkurse funktionieren. Wer zum Beispiel eine teure Privatuniversität besucht, kann durch den Einsatz von ökonomischem Kapital die eigene Position im kulturellen Feld aufwerten. Im Umkehrschluss enthält dieser Schachzug das Versprechen auf den Zugang zu bisher nicht zugänglichen Feldern, in denen bestimmtes kulturelles Kapital wie Bildungszertifikate Voraussetzung ist und die ihrerseits wiederum die Erhöhung ökonomischen Kapitals in Aussicht stellen. Was Bourdieu anhand der Kapitalordnungen versucht, ist, sozialen Raum und dessen Positionen zu objektivieren. Die subjektiven Anteile der
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Bourdieu: »Physischer, sozialer und angeeigneter Raum«, S. 11 Ebd. Schwingel: Pierre Bourdieu zur Einführung, S. 111 Bourdieu: »Sozialer Raum, symbolischer Raum«, S. 365
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Raumkonstitution (als gruppen- und klassenspezifischen Wahrnehmungen, ästhetischen Wertschätzungen und Wahlpräferenzen), fasst Bourdieu dagegen in Formen der Lebensstile. Wie auch im Kapitalraum bilden Praktiken und gewählte Objekte der Akteure Unterschiede heraus, die sich ihrerseits wieder statistisch – aber auch in qualitativen Einzelinterviews – erfassen lassen und somit Zeugnis von Strukturen des Raums der Lebensstile abgeben. Wohl kaum eine von Bourdieus Studien illustriert diese Methode so eindrücklich wie sein berühmtes Buch Die feinen Unterschiede.100 Es zeigt in konzisen Beschreibungen, wie sich die französische Gesellschaft der 1970er Jahre ausdifferenziert und stratifiziert. Das Augenmerk auf so unterschiedliche Bereiche wie etwa kulturellen Konsum in Musik und Literatur, Freizeitbeschäftigung, Ernährungsgewohnheiten oder Wohnverhältnisse richtend, legt die Studie in umfassender Weise Korrespondenzen zwischen sozialen Positionen, typischen Praktiken und Objekten der Lebensstile offen. Trotz ihrer relativ starken Statik gelten die in einer solchen Forschungsarbeit sichtbar gemachten Relationen und strukturellen Bedingungen für Bourdieu immer nur als Stichproben. Insofern sie sich momenthaft objektivieren lassen, entraten sie stets der Naturalisierung. In Absetzbewegung zu Giddens, der vor allem auf die repetitiven, routinebildenden Handlungen abhebt, legt Bourdieu auch Wert auf die Ebene der Transformation des Sozialen und deren Bedingungen. Entlang dieser Linien hat Bourdieu seine wohl bekannteste Begriffsschöpfung entwickelt, den sogenannten Habitus. Als »Leib gewordene Geschichte«101 ist der Habitus die Form, auf die ich in meinen Handlungen strukturierend und unbewusst zugreife.102 Der Habitus ist das retroaktive Moment des körperlichen Daseins, das für die aktive Präsenz früherer Erfahrungen sorgt. In der alltäglichen Praxis der Gesellschaft schreiben sich diese geschichtlichen Erfahrungen als kollektive und generative Schemata und grundlegende Eigenschaften in die Körper ein. Verortet in den handelnden Subjekten und ihren Körpern, manifestiert sich der Habitus relational zu dem sozialen Feld, in dem er zum Funktionieren kommt. »Da der Habitus das inkorporierte Soziale ist, ist er auch in dem Feld ›zu Hause‹, in dem er sich bewegt und das er unmittelbar als sinn- und interes-
100 Bourdieu: Die feinen Unterschiede, S. 212 101 Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und »Klassen«. Lecon sur la lecon. Zwei Vorlesungen. Frankfurt a.M. 1991, S. 69 102 Schwingel: Pierre Bourdieu zur Einführung, S. 76
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senhaltig wahrnimmt.«103 Vermittels meines Habitus zeige ich meine Haltung in der sozialen Welt, meine Dispositionen, meine Gewohnheiten, meine Lebensweise, meine Einstellungen und meine Wertvorstellungen.104 Diese Beurteilungs- und Wahrnehmungsschemata liefern die Basis für meinen Lebensstil. Sie sorgen dafür, dass ich denjenigen Lebensstil verwirkliche der mit meinen »gesellschaftlichen Existenzbedingungen objektiv (im Hinblick auf die zur Verfügung stehenden materiellen und kulturellen Ressourcen) und subjektiv (in Bezug auf die klassenspezifischen Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata) vereinbar ist.«105 Auf diese Weise bilden die Habitusformen den Transmissionsriemen zwischen objektiver Positionsstruktur und subjektiver (symbolischer) Struktur der Lebensstile. Das erklärt die Homologie sozialer Räume,106 die sich jenseits des Gegensatzes von »Objektivität der sozialen Strukturen« und »Subjektivität der mentalen Strukturen«107 ausbildet. Das Paradox des Habitus besteht darin, dass seine Struktur einerseits aus sozialen Interaktionen hervorgeht während sie sich andererseits, als inkorporiertes Schema systematischer Lebensführung, der Reflexion entzieht: »Zum Vorschein kommt der Habitus nicht bewusst, sondern er ist unbewusst an die äußeren Zwänge von klein auf angelernt, so weit, dass das Individuum die Herkunft des Habitus nicht mehr nachvollziehen kann.«108 Die Verinnerlichung von Klassifikationssystemen strukturiert meine Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkschemata vor. In der alltäglichen Praxis reproduziere ich diese Struktur weitestgehend. Ich rekurriere in meinen Handlungen auf strukturelle, klassenspezifische Schemata. Mein Habitus bewirkt, dass Situationen für mich nie grundsätzlich neu sind, sondern immer eine Struktur vorweisen, an der ich mich orientieren kann. Auf diese Weise stelle ich einen Determinismus her, der mir als gegeben und notwendig erscheint auch wenn ich an seinem Erscheinen aktiv beteiligt bin. Diese Struktur im Habitus selbst bewirkt beides: Stabilität und Resistenz gegen Veränderung. Dass meine Position im sozialen Raum an Historizität geknüpft und – ebenso wie Kapitalverteilung und Struktur – Bourdieu: Reflexive Soziologie, S. 132 Bourdieu: Die feinen Unterschiede, S. 267 Schwingel: Pierre Bourdieu zur Einführung, S. 114 Ebd., S. 286 Bourdieu, Pierre: »Die männliche Herrschaft«, in: Dölling, Irene/Krais, Beate (Hg.): Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis. Frankfurt a.M. 1997, S. 153–217, S. 153 108 Bourdieu: Die feinen Unterschiede, S. 213
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ein Produkt geschichtlicher Auseinandersetzungen ist, ist ein Gedanke, der mich im gewöhnlichen Handeln unterbricht und meine Orientierung unterminiert. Dieses Unterbrechen ist die Voraussetzung für Transformation. Erst wenn ich in die Lage komme, die kulturellen Praktiken des Gewohnten, in die der Habitus eingelagert ist und innerhalb derer er reproduziert wird – wie beispielsweise meine Ernährung oder meine Weise des Wohnens – zum Gegenstand meiner Reflexion zu machen, ist Veränderung möglich. »Über die erste Regung vermögen wir nichts, wohl aber über die zweite. Die erste Neigung des Habitus ist schwer zu kontrollieren, aber die reflexive Analyse, die uns lehrt, dass wir selbst der Situation einen Teil der Macht geben, die sie über uns hat, ermöglicht es uns, an der Veränderung unserer Wahrnehmung der Situation und damit unserer Reaktion zu arbeiten.«109 Man sollte allerdings darauf aufmerksam machen, dass das Bild, das Bourdieu mit dem Habituskonzept mit Hinweis auf die Körperlichkeit des Handelns zeichnet, letzten Endes doch ein strukturationstheoretisches bleibt. Auch in Bourdieus Habitus-Theorie erweist sich soziale Herkunft und bisheriger sozialer Lebenslauf, in denen soziale Positionen als Dispositionen (grundlegende Eigenschaften) verinnerlicht werden, als prägend für die sozialen Akteure. Analog zu Giddens stößt man bei Bourdieu auf die zentrale Behauptung, dass soziale Strukturen reproduziert seien. »In den Dispositionen des Habitus ist […] die gesamte Struktur des Systems der Existenzbedingungen angelegt, so wie diese sich in der Erfahrung einer besonderen sozialen Lage mit einer bestimmten Position innerhalb dieser Struktur niederschlägt. Die fundamentalen Gegensatzpaare der Struktur der Existenzbedingungen (oben/unten, reich/arm etc.) setzen sich tendenziell als grundlegende Strukturprinzipien der Praxisformen wie deren Wahrnehmungen durch.«110 Was hier geschieht ist, dass Bourdieus Definition von Habitus jeden Widerstand gegen Strukturen automatisch in eine Opferposition rückt. Heißt Widerstand dann nicht stets, sich gegen »herrschende« Strukturen zu wenden? Und hätte dies nicht zur Folge, dass die, die Widerstand üben wollen, stets von den Strukturen, gegen die sie angehen, erst durch den Widerstand erfasst werden? 109 Bourdieu: Reflexive Anthropologie, S. 170 110 Bourdieu: Die feinen Unterschiede, S. 138
1 Relationaler Raum und Handlung
Triftig ist, dass Bourdieu in diesem Zusammenhang dem physischen Raum eine Objektiviertheit zuspricht, die er voraussetzungslos setzt und nicht weiter thematisiert. Das hat zur Folge, dass Bourdieu – trotz aller Relationalität – hinsichtlich des Raums bei einer Behälterkonzeption stehen bleibt: Verteilungskämpfe finden »im objektiven physischen« Raum statt. Entsprechend moniert Löw, dass Bourdieus Ausführungen einer starren Logik des physischen Raums verhaftet bleiben, »in den sich soziale Prozesse einschreiben.«111 Bourdieu legt sich damit auf eine klare Wirkungsrichtung fest: die Relationalität des metaphorischen sozialen Raums und dessen Feldstruktur des Status und Verkörperung als Habitus produzieren die Anordnung des Physischen. Bourdieu sagt deshalb: »Es ist der Habitus, der das Habitat macht.«112 Solches gilt auch dann, wenn man mit Schroer in Rechnung stellt, dass sich der Habitus auch seinerseits spezifischen mithin räumlichen Strukturen verdankt, »die sich in ihm manifestieren.«113 Insofern Bourdieu einen absolutistischen Begriff des angeeigneten sozialen Raums vertritt, ist er »gezwungen, das Soziale dem Räumlichen einseitig strukturierend gegenüberzustellen. Er nimmt sich damit die Möglichkeit, Wechselwirkungen zu untersuchen. Obwohl er selbst von räumlichen Strukturen spricht, gelingt es ihm nicht, die strukturierende Wirkung von Räumen zu berücksichtigen.«114
1.8 Schaltung Es ist schließlich Löws Bezugnahme auf die Phänomenologie, die zeigt, wie der Einfluss des Habitus auf die Wahrnehmung nur aus den Strukturen verständlich wird, an denen sich das menschliche Erleben anschließt und woraus sich sozialer Raum wesentlich konstruiert. Die Rede vom sozialen Raum hat an der Schnittstelle Habitus nur Sinn, wenn jener als Praxis verstanden wird. Erleben ist schlechthin in solch einer Weise praktisch, dass auch diskursives Bewusstsein von dieser Praxis bestimmt werden kann. Gleichzeitig erhellt der phänomenologische Blick mit Bourdieu, dass die Materialität räumlicher Konstellationen weder substantialisierbar noch naturalisierbar ist. Wahrnehmung
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Löw: Raumsoziologie, S. 182 Bourdieu: »Physischer, sozialer und angeeigneter Raum«, S. 32 Schroer: Räume, Orte, Grenzen, S. 89 Löw: Raumsoziologie, S. 181 ff.
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von Materialität lässt sich nicht als ursprünglich interpretieren. Vielmehr erweist sie sich als durch ein tradiertes Raster von »Sinngebungen und damit symbolischen Besetzungen«115 gefiltert. Mit diesen Untersuchungen beginnen sich weitere Ergebnisse abzuzeichnen. Löw verwendet Raum als begriffliche Abstraktion, die einen gesellschaftlichen Konstitutionsprozess beschreibt. In diesem Sinn ist Raum an sich nicht empirisch erhebbar. Es sind stets nur einzelne ›Mikro-Räume‹, die sich einer empirischen Untersuchung öffnen. Im Anschluss daran besteht Löws Versuch, Raum und Handeln zu verknüpfen, in der Denkfigur einer relationalen (An-)Ordnung von Körpern, »welche unaufhörlich in Bewegung sind, wodurch sich die (An)Ordnung selbst ständig verändert.«116 Raum ist in dieser Konzeption (und hier eröffnet sich die Verbindung zum Handeln), immer an Zeit gekoppelt und damit nur als Bewegung denkbar. Soziale und materielle Konditionen verknüpfen sich in Raum und Körperwelt. Der Begriff der (An-)Ordnung verweist sowohl auf die performative Dimension des (An-)Ordnens wie auf die Ordnungsdimension, die sich aus sozialen Strukturen speist. Neben dem Prozess der (An-)Ordnung verweist das Verfahren der Syntheseleistung auf die Vorstellungsräume, innerhalb derer Begriffe wie Körper und Städte zu gedachten Räumen werden. Man kann Stadtteile, Lebenswelten, Nahräume nicht als gegeben voraussetzen. Stattdessen richtet sich das Augenmerk auf die Handlungsweisen oder Handlungsbedingungen die Räume konstituieren. Das verschiebt auch den Begriff der Aneignung. Herkömmliche Aneignungskonzepte die von Subjektbildung »im Raum« sprechen sind problematisch. Man denke etwa an den Aneignungsbegriff im Sinne der von Leontjew und Rubinstein in den 1920er Jahren entwickelten materialistischen Psychologie, wie er heute unter anderem von Klaus Holzkamp117 vertreten wird. Der Ansatz versteht Aneignung als onto-genetisches Entwicklungsprinzip. Im Mittelpunkt dessen steht die Annahme eines akkumulativen Erwerbs von Handlungskompetenzen der Subjekte durch ihre Auseinandersetzung mit der materiell-gesellschaftlich vorliegenden Welt. Dagegen ist einzuwenden, dass das Raumhandeln der Subjekte vielmehr in einem Prozess der räumlichrelationalen Syntheseleistung gefordert ist. Raum ist nicht ›da‹, also materiell
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Löw et al.: Einführung, S. 64 Löw: Raumsoziologie, S. 131 Holzkamp, Klaus: Sinnliche Erkenntnis. Frankfurt a.M. 1973
1 Relationaler Raum und Handlung
gegeben. Raum entsteht im Zusammenspiel von praktischer und konstruktiver Aneignung. Aneignung bezieht sich auf beides, bereits Existierendes und auf zu Produzierendes. Löw kritisiert deshalb zu Recht: »Die Rede von der Aneignung, d.h. die selten reflektierte Bezugnahme auf den auf Karl Marx zurückgehenden Begriff, […] arbeitet bezogen auf Raum mit der Vorstellung des jenseits menschlichen Handelns existierenden Raums, der aktiv angeeignet werden kann. Raum wird also weder prozesshaft noch als zu konstituierend gedacht, sondern vorausgesetzt.«118 Man nehme das Lamento über die Fragmentierung des Raums. Aus der Perspektive der Behältervorstellung erscheint die Fragmentierung als etwas, das die Annahme einer Homogenität des Raums bedroht. Sie steht einer »authentischen« Raumaneignung entgegen. Entlang dieser Linien positioniert sich etwa der New Urbanism als städtebauliches Mittel gegen das Fragment. In Wirklichkeit aber befeuern die Enklaven der Townhouses oder homogenen Wohnblöcke erst die Verinselung der Stadt. Aus der relationalen Vorstellung zeigt sich die Problematik indes völlig anders. Wenn Raum nicht an sich besteht, sondern erst durch die relationale Verschaltung als performative Raumproduktion (in Handlung eingebettet) hervorgebracht wird, kann es auch keine vorgeordnete Fragmentierung geben, die man hinzunehmen hätte. Was dann städtebaulich in den Blick gerät, ist der konstruktive Umgang mit und NeuVersammlung von Bestehendem als etwas, das in seiner Produziertheit ernst genommen wird. Innerhalb dessen erhält nicht nur das Verhältnis von Raum und Handlung besonderes Gewicht, sondern – mit ihm – auch die ökonomischen Bedingungen räumlicher Teilhabe. Aus der relationalen Form räumlicher Organisation lassen sich neue Anforderungen an die Verknüpfungskompetenzen der Menschen im Alltag ableiten, die aus dem Phänomen der Produktion und Reproduktion von Raum zu deuten sind. Die Konstitution von Räumen ist als ein Prozess zu fassen, der in Gemeinschaft geschieht, also »in Aushandlungsprozessen mit anderen Handelnden. Das Aushandeln von Machtverhältnissen ist ein immanentes Moment dieses Prozesses.«119 Die »relationale (An)Ordnung sozialer Güter und Menschen an Orten«120 lässt sich in ihrer Materialität nicht auf physische Substrate reduzieren. Wenn aber mit dem Begriff der (An-)Ordnung 118 Löw: Raumsoziologie, S. 249 119 Ebd., S. 228 120 Ebd., S. 224
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vor allem der Ordnungsaspekt und damit »die strukturelle Dimension, mit dem Anordnen auf die Handlungsdimension der Konstitution von Raum«121 herausgehoben wird, wird es für die Frage nach der Gestaltung von Stadt wichtig, eben dieser strukturellen Form von Ordnung auf den Grund zu gehen und fruchtbar zu machen. Zur Analyse der Konstitution von Raum gehört die Kenntnis der räumlichen Elemente ebenso, wie die Kenntnis über die Relationen der Elemente zueinander. Das schließt darüber hinaus ein, dass über die Elemente und ihre Beziehungen ebenso Aussagen getroffen werden müssen, wie über die Produktions- und Aktionsweise dieser Elemente und Relationen als Gefüge (agencement). Genau hier aber sollte man Löw kritisieren: Raum ist nicht allein, wie Löw sagt, »Resultat einer Anordnung«122 , sondern auch und vor allem Raumproduktion als Verfahren. Raum konstituiert sich als Prozess einer Anordnung selbst. Als richtig kann indes Löws These gelten, dass erst die miteinander verknüpften Elemente zum Raum werden. Deshalb verfängt das Plädoyer für einen »relationalen Raumbegriff«. Aber geht Löw in ihrer Argumentation nicht immer noch von einer Art Vorhandensein von Materialien (Objekte und Subjekte) aus? Ihr zufolge entstehen Räume dadurch, »dass sie durch Menschen verknüpft werden.«123 Wie aber kann das, was verknüpft werden soll, bereits da sein, wenn es doch durch die Verknüpfungen erst entsteht/gebildet wird? Der Widerspruch liegt darin, dass hier die vermeintlich in Frage gestellte tabula rasa-Strategie der Erkenntnistheorie – das heißt ein Objekt im Raum anzunehmen, welches man abgezirkelt betrachten kann – nur verschoben wird: vom Einzelobjekt zu seinen Relationen. Das eigene Verhältnis zu diesen Relationen im Untersuchungsprozess aber bleibt unbeleuchtet. Wo Löw räumliche Formen aus dem Zusammenspiel von Struktur und agency ableiten will, fällt sie auf Giddens’ conflational dualism zurück, der die handelnden Subjekte als abgeschlossene, intentionale und rational handelnde Einheiten voraussetzt. Mark Gottdiener hat darauf hingewiesen, dass dieser Dualismus besonders deshalb problematisch ist, weil er die Kontingenz räumliche Formen nicht berücksichtigt. Räume lassen sich nicht als Artikulationen tiefliegender sozialer Kräfte bestimmen. Sie konstituieren vielmehr eine Welt von Manifestationen, die aus einem kontingenten Prozess des Raumhandelns
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Ebd., S. 224 Ebd., S. 156 Ebd., S. 158
1 Relationaler Raum und Handlung
hervorgehen. Löws Unterscheidung zwischen Angeordnetem und Anordnenden ist folglich immer nur methodisch als Zwischenschritt denkbar, jedoch nicht als umfassende Raumkonzeption. Der springende Punkt ist, dass Löw ein angemessener Begriff der Handlung fehlt. Dieser Mangel macht auf die wesentliche Unterscheidung zwischen einer bloßen Verknüpfung von Spacing und Syntheseleistung und einem viel gründlicheren Verständnis der agency von Raum, das gerade die Bedingungen dieser sozial gestützten Performativität definiert, aufmerksam. Mit anderen Worten: Dass etwa auch der Begriff des Spacing in einem physikalisch-aristotelischen Bewegungsmodus verbleibt, führt dazu, dass die Fragestellung der Unbestimmtheit bezüglich Akteure, Handlung und Gruppierung aus dem Blick gerät. Gewiss kann man Christoph Görg darin zustimmen, dass die Theorie der Strukturierung dazu anleitet »Strukturen nicht allein als Zwang, sondern auch als Ermöglichungsbedingung für Handeln aufzufassen und damit die Dichotomisierung der beiden Begriffe aufzugeben«124 . Giddens’ Theorie weist jedoch die Problematik auf, dass sie den Handlungsbegriff »objektivistisch« verkürzt. So kann Giddens nicht angeben, »wie ein intentionales Handeln zu denken wäre, dessen reflexive Selbststeuerung sich gegen die strukturellen Muster gesellschaftlicher Reproduktion entfaltet.«125 Es bleiben weitere Fragen offen. Erstens zieht Löw aus der strukturationstheoretischen Annahme, dass Strukturen Zeit überdauern, den Schluss, Raum als konkreten Ort zu interpretieren.126 Der wichtige Unterschied zwischen Raum und Ort, wie ihn beispielweise Michel de Certeau thematisiert hat, bleibt außer Acht. Zum Zweiten ist fragwürdig, warum Raumhandeln nicht selbst als Element der Struktur gedacht werden könnte. Aber setzt dies nicht voraus, dass Handlung in der Lage ist, Struktur (und zwar als Raum) hervorzubringen? Während sie die Konzeption eines Raumes-an-sich überwinden will, tendiert Löw – und das ist der dritte Punkt – bei der Rede vom relationalen Raum zu einer Hypostasierung der Relation dergestalt, dass nun das relationale Moment ein An-sich aufweist, dem doch gerade zu entkommen sein soll. Löw fällt dort hinter sich selbst zurück, wo sie im physikalischen Sinn behauptet Raum sei, wenn nur alle Strukturen irgendwie zusammenhingen,
124 Görg, Christoph: »Der Institutionenbegriff in der ›Theorie der Strukturierung‹«, in: Esser, Josef et al. (Hg.): Politik, Institutionen und Staat. Zur Kritik der Regulationstheorie. Hamburg 1994, S. 31–84, S. 42. 125 Löw: Raumsoziologie, S. 55 126 Ebd., S. 37
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Raum und Handlung
schon bestimmt.127 Viertens spricht Löw – mit Giddens – davon, dass Räume die strukturierende Folie des Handelns durch die Gliederung in Zonen bilden: »Regionen definieren sich über die Möglichkeiten des sozialen Beisammenseins.«128 Daraus resultiert eine Regionalisierung in Zonen im Verhältnis zu repetitiven sozialen Praktiken (Rollen). Innerhalb dieser Maßstabsverschiebungen ist Raum bereits gegeben und die Menschen und ihr Leben sind in ihn eingelassen. Raum und Ort verlieren erneut ihre Differenz.129 Was aber, wenn an einem Ort mehrere Räume entstehen? Wie kommen etwa lokale Flächennutzungskonflikte in der Stadt zu Stande? Wie wird Raum an einem Ort zur Ressource? Welche Muster, welche Umfunktionierungen oder Umnutzungen von Räumen entstehen an Orten, wie wirken diese und wie lassen sie sich untersuchen? Wie spielt die Relationalität der Konstellation von Menschen, Dingen und Handlungen in die ortsspezifische Produktion von Raum hinein? Welche Elemente der lokalen und situativen Transformation lassen sich daran ausmachen?
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Gottdiener, Mark: The social production of urban space. Austin 1985, S. 200 Löw: Raumsoziologie, S. 41 Giddens: Konstitution der Gesellschaft, S. 185
2 Raumgebrauch und (Um-)Funktion Michel De Certeau
Mit Martina Löw ließ sich eine Konzeption des Raums aufzeigen, die Raum als relationale, aus Handlung entstehende Anordnung interpretiert. Allerdings bleibt das von Löw in Bezug auf Giddens und Bourdieu umrissene Modell von Handlung zum einen zu vage und zum anderen noch an intentionale Subjekte geknüpft. Was aber geschieht an Nicht-Intentionalem, Nicht-Funktionalem innerhalb der Raumhandlung? Um zu erörtern, wie Raumtheorie um diese Fragestellung erweitert werden könnte, möchte ich die zentralen Punkte der Konzeption Michel de Certeaus darlegen. Seine Theorie richtet ihren Fokus vor allem auf die alltäglichen Effekte der Performanz des Sozialen. Wlad Godzich hat in diesem Zusammenhang auf die räumlich-performative Dimension des Diskurses hingewiesen, die sich anhand von de Certeaus Konzeption verdeutlichen lassen. Letztere verleiht Raum insofern eine Handlungsdimension, als sie anerkennt, dass die diskursive Aktivität eine Form der sozialen Aktivität ist; eine, in der ich versuche, die Rolle des von mir angenommenen Diskurses anzuwenden.1 Mit anderen Worten: Performative Körperlichkeit wirkt zugleich abstrakt und konkret – abstrakt auf der Metaebene des Lesens eines diskursiven Raums, den sie erzeugt und konkret in der Bewegung der sprechenden Körper selbst. Umgekehrt lassen sich auf diesem Weg Diskurse ihrerseits als performativ hergestellt thematisieren und kritisieren. De Certeau gründet seine Thesen zum Raum auf der Dichotomie zwischen denen, die alltäglich die Stadt nutzen und dem, was er als »urbanistischen Diskurs«2 bezeichnet. Das entscheidende Charakteristikum des urbanistischen Diskurses besteht darin, Raum strategisch, aus der globalen Perspektive des 1 2
Godzich, Wlad: »The Further Possibility of Knowlegde«, in: de Certeau, Michel: Heterologies. Minneapolis, 1988, S. viii De Certeau, Michel: Die Kunst des Handelns. Berlin 1988, S. 183
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Raum und Handlung
›von oben‹ zu organisieren. Dabei zielt er auf dreierlei ab: erstens »die Erzeugung eines sauberen Raums«3 , zweitens die Substitution der Raumtaktiken durch synchrone Systeme und drittens die »Schöpfung eines universellen Subjekts, also der Stadt selber.«4 De Certeau bezieht sich hier auf das von Hobbes eingeführte Modell eines universellen Staatssubjekts. Analog zu dem Modell des Staatssubjekts insinuiert auch das vom urbanistischen Diskurs raumtheoretisch in Stellung gebrachte Stadtsubjekt eine Homogenisierung des Raums. Funktionen und Prädikate, die vorher auf partikulare und differentielle Gruppen oder Individuen verteilt waren, werden auf ein »Stadtsubjekt« zusammengezogen. Von dieser diskursiven Operation her rührt auch die den Städtebau der Moderne bestimmende Organisationsweise des Raums. Sie ist »funktional.«5 In epistemologischer Hinsicht ist es dem urbanistischen Diskurs wesentlich, dass er seine eigenen Entstehungsbedingungen »in Vergessenheit geraten lässt, nämlich den Raum selber, der zum Ungedachten, zum blinden Fleck einer wissenschaftlichen und politischen Technologie wird.«6 Die daraus hervorgehende Sichtweise auf Stadt nennt de Certeau auch »das Konzept Stadt.«7 Dessen Perspektive überträgt die Idee »der Lesbarkeit der Stadt und der Unterscheidung der Funktionen«8 als Operationsprinzip auf die Gestaltung von Stadt um das »funktionalistische Gesetz ihres eigenen Mechanismus als natürlich«9 zu legitimieren. Mit dieser Strategie erzeugt der urbanistische Diskurs gleichzeitig seine eigene Grenze, seine eigene Negation: die der »tatsächlichen Praktiken.«10 Diese Demarkationslinie entfaltet sich wie eine unbewusste Triebstruktur. Sie ist das Andere des Diskurses, das sich immer stärker ausbreitet, je mehr es negiert wird: »Die Planer wissen sehr wohl um die Antriebskräfte, die sie als ›Widerstände‹ bezeichnen, welche die funktionalistischen Kalküle […] stören. Sie können nicht umhin, den fiktiven Charakter wahrzunehmen, der durch eine Ab-
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Ebd. Ebd., S. 184 Ebd., S. 185 Ebd., S. 186 Ebd., S. 183 Ebd., S. 351 Ebd., S. 352 Ebd.
2 Raumgebrauch und (Um-)Funktion
hängigkeit von einer alltäglichen Realität in eine Ordnung eindringt. Aber sie dürfen es sich nicht eingestehen.«11 Jenseits des urbanistischen Diskurses ortet de Certeau eine Praxis des Raums, die auf dem taktischen Level, von der »Tatsache Stadt« ausgehend, sozusagen ›von unten‹, her operiert.12 Wie eine solche Praxis aussehen könnte, veranschaulicht de Certeau an der raumpraktizierenden Position des Gehens in der Stadt. Das Gehen prononciert sich als Gegensatz zum distanzierten Blick des Städtebaus. Vom externalisierenden Raum des Büros aus überblickt der Städtebau die Stadt als Form und versucht sie wie einen Text lesbar zu machen. Im Vergleich dazu situiert sich das Gehen als performative Praxis an den Orten der Stadt selbst. Während der Städtebau mit zahllosen Skalierungsvorgängen arbeitet, konstituiert sich das Gehen stets im direkten Maßstab 1:1. Das Bild der Linguistik heranziehend, vergleicht de Certeau das Gehen mit der Praxis des Schreibens. In diesem Sinn ist das Schreiben auf gewisse Weise blind, da ihm das Lesen des selbst produzierten Textes aufgrund der fehlenden Distanz zu diesem nicht möglich ist. Diese Distanzlosigkeit ist aber nur dann ein Makel, wann man das Lesen im Blickwinkel einer Dichotomie zwischen Schreiben und Lesend bewertet. Von einer solchen Dichotomie kann aber im Konnex von Stadt nicht die Rede sein: »Die Netze dieser voranschreitenden und sich überkreuzenden ›Schriften‹ bilden ohne Autor und Zuschauer eine vielfältige Geschichte, die sich in Bruchstücken von Bewegungsbahnen und in räumlichen Veränderungen formiert: im Verhältnis zu dem, wie es sich darstellt, bleibt diese Geschichte alltäglich, unbestimmt und anders.«13 Das hier beschriebene »Anders-bleiben« erinnert an das »Andere« in Michel Foucaults sozialer Wissensordnung »das zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht diskursivierbar ist und damit zum ›Außen des Denkens‹ wird.«14 Indes, in der Absetzbewegung zu Foucaults Analyse des Diskurses und seiner Aussagen rückt de Certeau die Praktiken des Alltäglichen ins Zentrum des Interesses. Wie sie auf ›eine andere Räumlichkeit‹, das heißt eine anthropologische, poetische und mythische Erfahrung des Raumes verweisen, so sind diese Praktiken dem »Raum der panoptischen oder theoretischen, visuellen Konstruktionen fremd.«15 Räumlichkeit gründet dann in einer an 11 12 13 14 15
Ebd. Dünne/Günzel: Raumtheorie, S. 299 De Certeau: Die Kunst des Handelns, S. 182 Dünne/Günzel: Raumtheorie, S. 292 De Certeau: Die Kunst des Handelns, S. 182
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den eigenen Körper gebundene und ihn eingeschriebene Wahrnehmung. In diesem Sinne konstituieren die individuellen Erfahrungen zuvorderst einen »metaphorischen«16 Raum. De Certeaus Verweis auf den Begriff der Metapher bezieht sich hier auf das neugriechische metaphorai, was so viel bedeutet wie Verkehrsmittel. Räumlichkeit erscheint damit in den Modi der Bewegung und der Übertragung, der Schwellenbewegung und der Transformation. Anstatt also die Räumlichkeit des Daseins ontologisch-statisch zu fassen, verortet sie de Certeau in den »Umgangsweisen mit dem Raum, das heißt in der Art und Weise, wie man zum Anderen übergeht.«17 Erst innerhalb der Übergänge metaphorischer Schwellenbewegungen, »entsteht die Möglichkeit eines Raumes und einer Lokalisierung des Subjektes.«18 Das Gehen ist eine optionale Ausformung des Raums, die durch relationale Praxis geschieht. Diese Praxis kontrastiert de Certeau mit dem Ordnungsaspekt des Ortes, der sich als carte auf ein übergreifendes externes Ordnungssystem wie etwa Himmelsrichtungen, konventionell stabilisierte Ortsnamen etc. stützt.19 In der Raumkonstitution von Stadt überlagern sich beide Positionen: Die durch die Praktiken der Raumgebrauchenden hergestellte ›metaphorische‹ Stadt (also die Stadt der Transformation) dringt ein und unterläuft den klaren, überschaubaren Text der geplanten und leicht lesbaren Stadt (carte).20 Gewichtig ist, dass Stadt als Ort und als vorgegebene räumliche Ordnung erst in dem Moment Wirklichkeit zukommt, in dem diese von einem alltäglichen raumproduzierenden Eindringen und Durchdringen aktualisiert, und Ort durch den Prozess der Aneignung zum Raum wird. Wenn ich durch die Stadt gehe, greife ich auf die Optionen und strukturellen Angebote der räumlichen Ordnung eines Ortes zu. Wenn ich Raum aneigne, erschließe ich Möglichkeiten und aktualisiere räumliche Ordnung situativ und performativ. Aktualisierung bedeutet aber auch Transformation. Jede performative Praxis erzeugt Differenz, das Andere. Ich verändere beim Raumproduzieren eben diesen Raum: »Die Benutzung einer von Anderen geschaffenen Ordnung führt zu einer Neuaufteilung des Raumes in dieser Ordnung; sie schafft zumindest einen Spielraum für die Bewegungen von ungleichen Kräften und für utopische
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Ebd., S. 208 Ebd., S. 207 Ebd. Dünne/Günzel: Raumtheorie, S. 300 De Certeau: Die Kunst des Handelns, S. 182
2 Raumgebrauch und (Um-)Funktion
Bezugspunkte.«21 Insofern haben Alltagspraktiken des Raumnutzens »selbst eine keineswegs utopische, sondern faktische Funktion des Aufbrechens von Macht- und Wissensordnungen im Bereich des ›normalen‹ Lebens.«22 Paradoxerweise stellt sich die Tatsache, dass Alltagspraktiken dazu tendieren, sich der Lesbarkeit zu entziehen, geradezu als Voraussetzung für die Modifikation von und Spiel mit Raumordnungen heraus. Jede Territorialisierung der Faktizität von Raumhandlungen ist epistemisch und politisch produktiv. Sie verschafft den Raumnutzenden die Option, sich der Kontrolle durch die panoptischen, strategischen und damit auch entwerfenden Prozeduren der Macht zu entziehen. Man sollte also de Certeaus Motiv, eine neue Sicht auf die Praktiken des Alltags zu lancieren, als Herzstück seines Theorieansatzes herausstellen. Das schließt ein, das Gebrauchen von Stadt als Aktivität (zum Beispiel durch die Stadt gehen) nicht mehr als passiven Konsum, sondern als aktive Produktion zu verstehen. Erst wenn die Stadtgebrauchenden nicht mehr als bloße Adressaten vorgegebener Ordnungen und Strukturen gelten, wird es möglich, darauf zu schauen, dass und wie sie sich vorgefundene Ordnungen aneignen und diese transformieren. Erneut stellt sich für den Städtebau als relevant heraus, dass sich die Aneignung des Raums von einer Position aus ereignet, die dem urbanistischen Diskurs fremd ist. Dass die Raumgebrauchenden nicht von einer strategischen Ebene des distanzierten Blicks, sondern von der taktischen Ebene aus agieren, heißt, dass sie über keinen eigenen Ort verfügen. Sie haben nur den Ort des Anderen. Er hält für die Raumgebrauchenden das Reservoir der Optionen bereit. Genau dieser »Ort des Anderen«23 jedoch ist es, den der Städtebau dort, wo er auf der strategischen Ebene verharrt, nie in den Blick bekommen kann. Diese Kluft wird dadurch verstärkt, dass die alltäglichen Raumpraktiken über keine externalisierbaren, objektiven bzw. ›positiven‹ räumlichen Ordnungen verfügen, sondern sich im taktischen Feld der beweglichen, ›internen‹ Ordnung entfalten. Erneut zieht de Certeau die Parallele zur Dichotomie von Schrift und Lektüre. Traditionell gilt Schreiben als Produktion und Lesen als Rezeption. Dagegen führt de Certeau die etymologische Bedeutung von Lektüre an. Das lateinische lectio bedeutet »Auswahl und Auslese, die in der aktiven und produktiven Selektion den Status von Schrift als
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Ebd., S. 59 Dünne/Günzel: Raumtheorie, S. 300 Ebd., S. 23
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fixierendes System unterläuft.«24 Im Sinn eines Umdeutungsscharniers ist die Lektüre des Raums eine alltägliche Raumpraktik, die sowohl raumkonstituierend wirkt als auch den schriftlosen Umgang mit einem Ort begreifen lässt. Es ist genau diese Argumentation, die die alltäglichen Raumpraktiken dekonstruktiv etwa gegen Foucaults Diskurs- und Machtanalyse wendet. Im aktiven Raumaneignen liegt die »Kraft zur praktischen Umformung, wenn nicht gar Destabilisierung diskursiver bzw. machtbestimmter Raumordnungen.«25
2.1 Performanz: Von der Funktion zum Gebrauch Im Folgenden soll erhellt werden, wie – mit de Certeau – die Verbindung von Handeln und Raum am Begriff der Performanz verdeutlicht werden kann. Innerhalb dessen wird auch die Drehung befragt, die der Begriff der Funktion an dieser Schnittstelle in Richtung Nutzung bzw. Gebrauch vollzieht. Das ist für die städtebauliche Praxis besonders hinsichtlich ihrer Darstellungstechniken gewichtig. Wäre es nicht ein zu großer epistemologischer Verlust, in der Opposition zwischen Städtebau vs. Raumgebrauchende zu verharren? Verlöre man so nicht den Zugang den zu über Jahrhunderte entwickelten Instrumenten städtebaulichen Zeigens? Und wäre das nicht ein Rückfall in die exotistische Hypostasierung vermeintlich »authentischer« Präliteralität? Was aber, wenn sich – gegen de Certeau – zeigen ließe, dass der städtebauliche Begriff der Funktion nicht aufgegeben werden muss, sich aber verschieben lässt? Und würde das nicht auch für die städtebaulichen Darstellungstechniken gelten? Bereits zu Beginn seines wohl wichtigsten Buches Kunst des Handelns umreißt de Certeau das von ihm avisierte Unterfangen als »Forschungsarbeit über die Aktivitäten von Verbrauchern, die angeblich zur Passivität verurteilt sind.«26 In Bezug auf die Erforschung des Raums bedeutet dies, die Aktivitäten von Raumgebrauchenden im Kontext bestimmter, spezifischer urbaner Situationen zu untersuchen. Schnell stellt sich heraus, dass es sich bei diesen Phänomenen um Alltagspraktiken handelt, die für die Wissenschaft schwer
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Wortelkamp, Isa: »Zur Choroegraphie des architektonischen Raums« [orig. 2009] www.corpusweb.net/index.php?option=com_content&task=view&id=1133&Itemid=35 (10.09.2011) Dünne/Günzel: Raumtheorie, S. 300 De Certeau: Die Kunst des Handelns, S. 11
2 Raumgebrauch und (Um-)Funktion
handhabbar sind. Die Praktiken des städtischen Alltags sind nicht nur fundamental. Sie sind auch flüchtig. Daher muss es darum gehen, diese »überhaupt erst einmal darstellbar zu machen.«27 Wege zu einer Analyse des Alltags wären nach de Certeau dann aufgezeigt, wenn die »Alltagspraktiken oder alltäglichen Handlungsweisen nicht mehr als sich im Dunkeln verlierende Grundlage der gesellschaftlichen Tätigkeit angesehen würde und wenn es in einem Zusammenspiel von theoretischen Fragen, Methoden, Kategorien und Sichtweisen, welche in diese Finsternis eindringen würde, das Dunkel zu artikulieren.«28 Diese Frage hat Relevanz, wenn man mit de Certeau davon ausgeht, dass die Umgangsweisen mit oder Umfunktion von Raum »tatsächlich die determinierenden Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens«29 sind. Das hat politische Implikationen. Wer die Handlungen Raumnutzender untersucht, bewegt sich im Feld derer, die laut de Certeau nicht über Strategie verfügen, sondern sich anhand von Taktiken orientieren und bewegen. Die »Poiesis«30 , die »Produktionen«31 , die diese Taktiken hervorbringen, verbergen sich hinter den von den »Systemen (televisuellen, urbanen, kommerziellen etc.) Produktion definierten und besetzten Bereichen.«32 Folglich zielt die Untersuchung, mit Hegel gesprochen, auf ein sichtbares Unsichtbares ab. Es geht um das Paradox, die Phänomene des Raums zu erforschen, die wo sie Raum »ausmachen« gleichlaufend unter der Ausbreitung der Systeme verschwinden. Unsichtbar heißt auch: ohne Reflexion. Weil sie ihre Handlungsweisen nicht als Produktion, sondern nur als Konsumtion verstehen, können die Raumgebrauchenden in der Sicht de Certeaus nicht auf das reflexive Level kommen – sie haben keinen Ort und kein Medium, um zu artikulieren, was sie tun. Wie kann man aber das, was sich nicht zeigen lässt, zeigbar machen? Als Gegenpol zur rationalisierten, von einem Oben her durchdachten Produktion stellt der »Konsum von Stadt« eine »listenreich verstreute Umgangsweise«33 dar. Der Raumkonsum kann keine eigenen Produkte vorweisen. Er
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gebraucht nur Produkte, »die von einer herrschenden ökonomischen Ordnung aufgezwungen werden.«34 Daraus ist jedoch, und dies ist der entscheidende Punkt, nicht abzuleiten, dass die Raumgebrauchenden in Passivität verharren. Die Verbreitung unterschiedlichster Objekte oder Vorstellungen sagt nichts darüber aus, was diejenigen, die sie gebrauchen damit machen, bzw. davon halten. Hinsichtlich des Raumbegriffs gilt: Die Aneignung des Raums beschreibt, wie die Raumgebrauchenden im Gebrauch erst Bedeutungen zuweisen. Das wohl einfachste Beispiel dessen ist ein Kiosk, der auch als Internetcafe, Bar, Poststelle oder Kieztreff dient. Eine andere Formel diesen Sachverhalt zu illustrieren stellt die berühmte bauliche Typologie des Lofts dar. Einst karge Werkstatt oder Lagerhalle, stieg das Loft seit den 1970er Jahren im Zuge der Deindustrialisierung des städtischen Raums zur attraktiven Wohnform auf.35 Die Beispiele veranschaulichen eindrücklich, dass keineswegs von der Fassade oder vom Flächennutzungsplan ablesbar ist, was sich im Inneren eines Gebäudes abspielt. Kurz: Der Gebrauch von Räumen kann stets in einer anderen Weise geschehen als es von der Planung vorgesehen ist. Innerhalb dessen schließt der Begriff Gebrauch das Umfunktionieren, Umdeuten, ›falsch‹ Gebrauchen und das Ins-Werk-Setzen der funktionalen Systemik gegenläufiger Praktiken mit ein. Aneignung als Gebrauch meint hier also die spezifische Modalität performativer Praktiken als mögliche »Manipulation an aufgezwungenen Räumen und die auf bestimmte Situationen bezogenen Taktiken.«36 In diesem Sinne sind sowohl die Funktionen (=Inhalte) als auch das Funktionieren (=Prinzip) das die Praktiken organisiert, aufschlussreich, auch weil sie sowohl Resultat von Verschiebungen wie auch Verdichtungen sind. Als transformative Handlungsweisen resultieren sie aus den Materialien und Konstellationen, die in jeweiligen urbanen Situationen zur Hand sind. Ohne auf diskursive Formenkanons angewiesen zu sein, artikulieren sie sich aus Fehlstellen und suchen sich ihre eigenen Wege zur Struktur.
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36
Ebd. Vgl. Baum, Martina/Christiaanse, Kees: City as Loft; Adaptive Reuse as a Resource for Sustainable Urban Development. Zürich 2012 De Certeau: Die Kunst des Handelns, S. 69
2 Raumgebrauch und (Um-)Funktion
Exkurs Wittgenstein: Gebrauch, Funktion und Spiel Wo er die komplexen heterogenen Logiken befragt, die in den Praxen des Alltags enthalten sind, so bezieht sich de Certeau auf ein bestimmtes theoretisches Modell. Es soll die wissenschaftliche Überprüfung des Alltäglichen erlauben. Die Rede ist von den Theoriebeständen des späten Wittgenstein. Im Kern zielt Wittgenstein hier darauf ab, die bezeichnende Aktivität der Alltagssprache zu erörtern. Das Ziel lautet »die Wörter von ihrer metaphysischen, wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurückzuführen.«37 Diese Wendung, die »die Grenzen dessen nachzeichnet, was ethisch oder mystisch«38 über Sprache hinausgeht, will Sprache vom Inneren ihrer Bewegung her erklären. Wittgensteins Diktum besagt: Es gibt kein Äußerbares, das die Kompetenz des Gebrauchs der Sprache überschreitet. Ausschließlich von einem sagbaren Inneren her lässt sich ein unsagbares Äußeres erkennen. Auf die Alltagspraxen des Raums übertragen heißt dies: Nur aus der immanenten Bewegung der Praktiken lässt sich etwas über ihre Artikulationen, über ihr Einschreiben in die Stadt, über ihre performative Kompetenz aussagen. Wenn man die Sprache nicht zum Gegenstand des Diskurses machen kann, so ist es auch nicht möglich, ihr einen eigenen, von der Praxis losgelösten Ort der Geschichte zuzuordnen. In diesem Sinn übt Wittgenstein etwa Kritik an jenem Historismus, der auf künstliche Weise Sprache von der Zeit trennt, um einen privilegierten Ort der Wissenschaft zu erzeugen. Dieser Ort hat einen entscheidenden Mangel: Er distanziert sich von genau dem als gegeben postulierten Sachverhalt, den er als allgemein, also zeitlosen Gesetzen unterworfen, deklarieren will. Wittgensteins Antwort darauf ist unmissverständlich: den Ort, von dem aus sich der Gebrauch der Wörter überblicken ließe, gibt es nicht.39 Wenn wir Sprache verstehen wollen, kann dies nur über das Verstehen des Gebrauchs gelingen. Die Bedeutung eines Wortes liegt in »seinem Gebrauch in der Sprache.«40 Entsprechend erschließt sich für de Certeau die Bedeutung der Stadt aus ihrem Gebrauch. Wir können diesen Gebrauch nicht übersehen, weil uns die performative Faktizität der Stadt »in Gestalt des Alltäglichen überragt.«41 Genau aus diesem Grund war etwa der städtebauliche Funktionalismus der Mo-
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Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a.M. 2003, §116 De Certeau: Die Kunst des Handelns, S. 188 Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, §122 Ebd., §43 De Certeau: Die Kunst des Handelns, S. 48
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derne – der noch heute noch unsere Baunutzungsverordnung bestimmt – zum Scheitern verurteilt. Wie aber stattdessen vorgehen? Im Kontext dieser Frage möchte ich näher auf Wittgensteins Lesart des Spiels zu sprechen kommen, um von dort aus wieder mit de Certeau zur Frage der Stadt vorzustoßen. Die Volte von Wittgensteins Spielkonzeption liegt zunächst darin, auf eine verschwommene Definition des Spiels zu setzen. Weit entfernt, diese Unschärfe zu leugnen, stellt Wittgenstein diese geradezu heraus. Was Wittgenstein macht, ist, dass er das Spiel auf die Definition des Spiels selbst anwendet.42 Die Schärfe einer begrifflichen Definition entsteht nämlich erst in der Verwendung eines gegebenen Beispiels. Wittgenstein bringt damit die Tatsache ›ins Spiel‹, dass wir »Beispiele nun in bestimmter Weise verwenden.«43 Betont ist damit das Spiel im Bei-Spiel. Das Beispiel ist kein Ersatz für etwas, sondern die Beschreibung eines unscharfen Terrains, das man stets selbst durchschreiten muss, um zu einem Begriff zu gelangen. Wer Sprache verwendet, tut etwas. Alles läuft darauf hinaus, dass »das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform«.44 Wir haben es bei Wittgensteins Denken also mit einem Sprachzugang zu tun, der Sprache als eine kontingente soziale Praxis fasst. Das soll heißen, dass sich die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke nicht außerpraktisch durch abstrakte Regelwerke, aber nur durch den realen Gebrauch in einer das Sprachspiel spielenden Gemeinschaft bestimmen lässt. Insofern sich der Vollzug von Sprache an eine Lebensform bindet, hat er seinen Ort und Motivation keineswegs in einem neutralen Labor. Man findet ihn in den Interaktionen, Konflikten und Auseinandersetzungen des sozialen Raums. Es ist der Rückgriff auf die sozialpraktische Dimension des Sprechens, in welcher wir Sprache spielerisch lernen, der die Grundlage für Wittgensteins Fragen nach der sprachlichen Verfasstheit des menschlichen Seins konstituiert. Im Zuge seiner sprachspielorientierten Auseinandersetzung mit dem Gebrauch der Sprache kommt Wittgenstein zu dem Schluss, dass es Sprachverwendungen gibt, die weniger einer strikten Regelbefolgung – wie beispielsweise im Schachspiel – ähneln, als vielmehr offenen Formen, etwa denen des Ballspiels, in denen frei dem Ball nachgejagt wird und ein Regelfolgen nur schwer zu erkennen ist:
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Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, §23 Ebd. §23 Ebd.
2 Raumgebrauch und (Um-)Funktion
»Steckt uns da nicht die Analogie der Sprache mit dem Spiel ein Licht auf? Wir können uns doch sehr wohl denken, dass sich Menschen auf einer Wiese damit unterhielten, mit einem Ball zu spielen, so zwar, dass sie verschiedene bestehende Spiele anfingen, manche nicht zu Ende spielten, dazwischen den Ball planlos in die Höhe würfen, einander im Scherz mit dem Ball nachjagen und bewerfen etc. Und nun sagt Einer: Die ganze Zeit hindurch spielen die Leute ein Ballspiel, und richten sich daher bei jedem Wurf nach bestimmten Regeln. Und gibt es nicht auch den Fall, wo wir spielen und – ›make up the rules as we go along‹? Ja auch den, in welchem wir sie abändern – as we go along.«45 Statt sich auf geschlossene Allgemeinheiten des Sprachgebrauchs zu fokussieren, kommt es Wittgenstein hier darauf an, das relationale Geflecht der Ähnlichkeiten, die im Sprachhandeln ineinandergreifen, zu untersuchen. Analog hierzu gelten Wittgenstein Spiele als Strukturgefüge, die funktionieren, ohne dass sie vollständig reglementiert wären. So ist beispielsweise im Fußball keineswegs festgelegt, wer wann wo zu wem einen Pass spielen muss. Mit anderen Worten: Es macht die Funktionsweise des Fußballs aus, dass die Spielzüge an immer neuen Kombinationen neu entstehen. Nur durch das Relationsgefüge wandelbarer Strukturverknüpfungen lässt sich die Veränderung des Gebrauchs von Sprache erklären. Umgekehrt ist das Relationsgefüge in Form von Handlungszusammenhängen begründet. Nicht nur gerät hier die Art und Weise ins Visier, wie Strukturen Handlungen bestimmen. Auffällig wird auch, dass Handlungen ihrerseits Strukturen erzeugen oder transformieren, ganz so wie es Wittgenstein am Ballspiel exemplarisch erhellt. Mit Wittgenstein sollte man betonen, dass man sich oft der Offenheit des Spiels gar nicht gewahr wird. Das liegt daran, dass man gemeinhin zu wenig in die Analyse des tatsächlichen Gebrauchs investiert. Wir lernen stets falsch herum, nämlich so, dass uns die Form des Gebrauchs als geschlossene gegenübertritt. Das hat auch mit einer darstellungspraktischen Problematik zu tun: Weil wir uns zu sehr auf das Allgemeine konzentrieren und die Besonderheit des Falls aus dem Auge verlieren, stellen wir uns gewöhnlich den Weg für die Mittel zu, die es erlauben, den Gebrauch in seiner Veränderung und somit auch Veränderbarkeit darzustellen. Die zentrale Frage besteht also in der Darstellung der offenen Form. Wie lässt sich etwas darstellen, das man nicht übersehen kann?
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Ebd., §83
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»Es ist eine Hauptquelle unseres Unverständnisses, dass wir den Gebrauch unserer Wörter nicht übersehen.«46 Grammatik ist so unübersichtlich, dass wir die Struktur der Sprache, das heißt ihre Zusammenhänge nicht sehen. »Daher die Wichtigkeit des Findens und des Erfindens von Zwischengliedern. Der Begriff der übersichtlichen Darstellung ist für uns von grundlegender Bedeutung. Er bezeichnet unsere Darstellungsform, die Art, wie wir die Dinge sehen.«47 Schließlich ist es die Problematik der Undarstellbarkeit der tatsächlichen Verwendung von Sprache, die Wittgenstein dazu führt, kleinste Formen des Handelns als strukturelle Einheiten zu isolieren, die er Sprachspiele nennt. Es sind dies jene kleinmaßstäblichen Handlungszusammenhänge in denen Sprache geübt und ausgeübt wird. »Sprachspiele sind die Sprachformen, mit denen ein Kind anfängt, Gebrauch von Wörtern zu machen. […] Wir sehen, dass die komplizierten Formen aus den primitiven zusammengesetzt werden können, in dem wir nach und nach neue Formen hinzufügen.«48 Für den Wittgenstein der Philosophischen Untersuchungen steht also die Beschreibung der Darstellung oder Vorführung – heute würde man Performanz sagen – einer Verwendungsweise der Sprache im Vordergrund, in der die Verwendung als Sprachhandeln selbst Strukturen produzieren kann. Wittgenstein sieht ab von der gegebenen Form der Verknüpfung von Sprache und Welt. Stattdessen wechselt er zu einem strukturellen Modell über, dessen Verknüpfungen aus dem tatsächlichen Gebrauch der Sprache resultieren. Struktur der Sprache rückt in die Welt ein. Sprachliche Verknüpfungen sind Operationen mit auf einer bestimmten Weise beschaffenen Dingen, die wir als sprachliche Zeichen bezeichnen. Die Form dieser instrumentalen Technik ist nicht gegeben, sondern kontingent. Die ›richtige‹ Weise der Verwendung gibt es nicht als vorgefertigte Form. Man lernt sie durch trial and error. In der Verwendung der Sprache stoße ich auf Widerstände und korrigiere mich. Entlang dieser Argumentation entwickelt Wittgenstein jene Rede vom Sprachspiel, dessen wohl berühmtestes Beispiel dem Bauen entlehnt ist. Das Bauarbeitersprachspiel in §2 der PU geht so: »Die Sprache soll der Verständigung eines Bauenden A mit einem Gehilfen B dienen. A führt einen Bau auf aus Bausteinen; es sind Würfel, Säulen, Platten und Balken vorhanden. B hat ihm die Bausteine zuzureichen, und zwar nach
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Ebd., §122 Ebd. Wittgenstein, Ludwig: Werkausgabe Bd. 5. Das Blaue Buch. Frankfurt a.M. 1984, S. 36f.
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der Reihe, wie A sie braucht. Zu dem Zweck bedienen sie sich einer Sprache, bestehend aus den Wörtern: ›Würfel‹, ›Säule‹, ›Platte‹, ›Balken‹. A ruft sie aus; -B bringt den Stein, den er gelernt hat, auf diesen Ruf zu bringen. – Fasse dies als vollständige primitive Sprache auf.« Daraus sollte der Schluss gezogen werden, dass Wittgenstein bei der Sprachspielanalyse auf die konkrete Situation der Verwendung abzielt und nicht deren Allgemeinheit. Gleichwohl legt Wittgenstein Wert auf die strukturellen Instrumente, die die Verwendung einer Handlungssituation mit einer variabel oder seriell verschaltbaren Ordnung versehen wie etwa Zahlen, Eigennamen, Indikatoren usw. Finden wir nicht den besten Beleg dafür im Spiel der Baustelle dort, wo die Liste der Wörter »Würfel«, »Säule«, »Platte«, »Balken« um Zahlenreihen erweitert wird? Eine Variation dieses Themas ist A’s Ruf »Fünf Platten!« B geht daraufhin »dorthin wo die Platten aufgestapelt sind, sagt die Zahlwörter ›eins‹ bis ›fünf‹ auf und bringt sie A.«49 In diesem Zusammenhang ist entscheidend, dass Strukturen in unterschiedlichen Situationen unterschiedliche Verwendung finden. Zahlen beispielsweise meinen etwas anderes im Kontext einer Gewinnerliste, der Benummerung einer Fußballmannschaft, des Nummernschilds eines Fahrzeugs oder der Preisangabe eines Warenschildes. Insgesamt zeigt die Sprachspielmethode an, dass Zeichen nur in einem Gebrauch Bedeutung erhalten, der sich in konkrete Lebensformen bettet. Lebensform meint hier den Handlungszusammenhang, der die Gebrauchsweisen miteinander in Beziehung setzt. Bedeutungen zu beschreiben verlangt nicht nur, alltägliche Tätigkeiten zu beschreiben, sondern auch, sie so zu beschreiben, dass ihr Spielcharakter zu Tage tritt. Die Spielanalogie bildet die Basis für die Analyse der Sprache als regelgeleiteten Gebrauch im lebendigen Handlungszusammenhang, aus ihr lässt sich die Wandlung und die Funktionsvielfalt der Wörter erklären. Die Verbindungslinie von Sprache und Stadt zieht Wittgenstein seinerseits dort, wo er ein Bild für die Sprache sucht. Er findet es in der Stadt. Sie ist für Wittgenstein eine offene Form geschichteter Ereignisse, die sich aus Altem und Neuen zusammensetzt, aus Geordnetem und Ungeordnetem. »Und mit wieviel Häusern, oder Straßen, fängt eine Stadt an, Stadt zu sein? Unsere Sprache kann man ansehen als eine alte Stadt: Ein Gewinkel von Gässchen und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten; und dies umgeben von einer Menge
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Wittgenstein, Ludwig: Werkausgabe Bd. 5. Das Braune Buch. Frankfurt a.M. 1984, S. 119ff.
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neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern.«50 Die Brüchigkeit der aus der aus dem Gebrauch zu erklärenden Ordnung der Stadt enthält die ihr eigenen Widersprüche: Türen und Mauern, Öffnungen und Abschlüsse. Als Ganzes ist die Ordnung der Stadt eher strukturell wuchernd als formal fixiert, sie verfügt über eine nahezu blinde Beweglichkeit, geöffnet auf ein Innen, das man das Unbestimmte nennen kann. Unbestimmt: also unvorhersehbar in seinem Gebrauch, weder vergangen noch zukünftig noch gegenwärtig, wie die Gehenden in der Stadt, deren Bewegung offen bleibt. Umgekehrt findet de Certeau in der Sprache ein Bild für die Stadt. Wir können jetzt de Certeaus Bezugnahme auf den Begriff des Gebrauchs und dessen Transposition auf die Bedeutung des Raumes festmachen. Die heterogene Geschichtlichkeit des Raums gründet in der performativen Faktizität von Alltagspraxen der Raumaneignung. Der Sinn des Raums ist nicht vor seinem Gebrauch da. Wir verwenden den Raum, in dem wir heterogene Elemente wie Stuhl, Tür, Wand, Straße und Wohnblock in unseren Lebensformen zu sinnhaften Raumstrukturen verknüpfen. Wittgenstein paraphrasierend lässt sich sagen: Der urbane Diskurs verliert seinen eigentlichen Gegenstand aus den Augen, wenn er zu Alltagspraxen auf Distanz geht. Sobald ich mich sich auf einen Relationalraum der Vernunft zurückziehe, um den Sinn der Praktiken zu deklarieren, kann ich sie nicht mehr sehen. Diese Wendung spricht überdies von einer neuen Sicht auf Form. Wittgenstein deutet Sprache nicht von einer geschlossenen Form her, sondern richtet sein Augenmerk auf die offene Bewegung des Formproduzierens der Sprache, als Sprachspiel. Wo dies meint, dass sich ein unsagbares Äußeres ausschließlich vom Innen der Tätigkeiten des Gebrauchs der Sprache her bestimmen lässt, dreht de Certeau Wittgensteins Schraube eine Windung weiter: Er überträgt sie auf die Alltagspraxen der Stadt überhaupt. Erst aus der Analyse der immanenten Bewegung der urbanen Praktiken lässt sich überhaupt etwas über ihre Äußerungen, über ihr Einschreiben in die Stadt berichten. Es ist klar, dass sich daraus für das Erforschen der Stadt sowohl praktische als auch darstellungstheoretische Fragestellungen ergeben. Man kann nicht mehr von Stadt als geschlossene, von einem Außen her bestimmbare Form sprechen. Was sich stattdessen aufzeigen lässt, ist der Gebrauch der Stadt, die Umfunktionen, die Verwendungsweisen und ihre Fehlstellen, die Risse im Gefüge. Insofern sich der Gebrauch der Stadt weder übersehen noch Eins-zu-Eins darstellen lässt, so ist eine Verschiebung 50
Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, §18
2 Raumgebrauch und (Um-)Funktion
des städtebaulichen Zeigens annonciert. Sie begründet die diagrammatische Herangehens- und Darstellungsweise an Stadt. Diagrammatik meint hier jene Darstellungsweise, die in der Mischung und Überlagerung von repräsentationalen und nicht-repräsentationalen Ebenen die von Wittgenstein avisierte Übersichtlichkeit über die Unabschließbarkeit des Gebrauchs als offene Form ins Werk setzt.51 Das wohl bekannteste Beispiel einer solchen Diagrammatik ist Rem Koolhaas’ Buch S,M,L,XL. Dessen Darstellungsraum übersteuert und unterminiert in einer wahren Bilderflut die dem Buch eigene Darstellungsfunktion. Man hat es bei S,M,L,XL mit einer konstellativen Medienmaschine zu tun, die dem Zeigegefüge ihres Darstellungsspiels geradezu animistischen Charakter verleiht. Sie macht den Gebrauch des Buches für die Lesenden zu einem unendlichen Lesespiel. Am Modell der Sprachwissenschaft vollzieht de Certeau noch eine zweite entscheidende terminologische Einordnung des Gebrauchs. Sie verweist auf die sprachphilosophische Unterscheidung zwischen Performanz und Kompetenz. Sprechakte vollziehen sich innerhalb eines Sprachsystems. Aber sie lassen sich nicht auf die Kenntnis der Sprache reduzieren. Sprechakte fordern die »Aneignung oder Wiederaneignung der Sprache (langue)« durch die Sprechenden. Man hat es bei der gesprochenen Sprache mit einer von Raum und Zeit abhängigen Präsenz der Sprechenden zu tun. Ihr Sprechen beruht auf Verträgen, die sie mit »dem Anderen in einem Netz von Orten und Beziehungen« unterhalten.52 Die Volte von de Certeaus Argumentation besteht hier darin, die Sprechakt-Theorie auf den Gebrauch des Raums auszudehnen. Man muss jene Ähnlichkeiten zwischen den Prozeduren unterschiedlicher performativer Äußerungen herausarbeiten, »die Eingriffe sowohl in den Bereich der Sprache als auch in das Netz der gesellschaftlichen Praktiken zum Ausdruck bringen.«53 De Certeaus Übersetzung eröffnet den analytischen Blick auf beides: das was in den alltäglichen Praxen strategisch ›passiert‹ und auch das, was in Form von Taktiken und Vorgehensweisen über die Diskurse hinausgeht, da in den Praktiken »mehr enthalten ist als in den Diskursen.«54 Darüber hinaus gibt diese Transposition Aufschluss über die Ressource Raum. Der Blick auf die alltäglichen Verwendungsweisen legt eine Reserve von Differenzierungen und Verknüpfungsmöglichkeiten frei. Sie speisen sich aus einer historischen
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siehe ausführlich: Dell, Christopher: Stadt als offene Partitur. Zürich 2016 De Certeau: Die Kunst des Handelns, S. 15 Ebd., S. 61 Ebd., S. 52
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Erfahrung, die in der Performativität, dem Ausüben der Praxis selbst gespeichert ist. Zeichentheoretisch gesprochen offenbaren sich die Raumpraktiken damit nicht nur als Denotationen, sondern auch und vor allem als Explikationen. Konkret formuliert: Städtebau erhält die Möglichkeit über die gewöhnlichen Formalisierungen des Stadtlesens und -zeigens hinauszugehen. Verwendungsweisen des Raums, die zuvor im funktionalistischen Sinn auf eine Bedeutung (wie etwa Wohnen oder Arbeiten) reduziert worden waren, lassen sich jetzt als Ausdrücke logischer Gesamtheiten lesen.55
2.2 Politiken der Performanz: Strategie vs. Taktik De Certeaus sprachphilosophische Untersuchungen führen schließlich zur Politik des Raums. Der politische Ort der Performanz (als Gebrauch) erscheint dort, wo de Certeau die kriegswissenschaftliche Analyse auf den Raum anwendet. Ihr entspringt die berühmte Unterscheidung zwischen Taktik und Strategie. Immer dann, wenn gefragt wird, wer wie Raum nutzt und nutzen darf oder wem Raum gehört und wem nicht, ist die Frage von Kultur (als sorgender Gebrauch von etwas) im Hinblick auf die politische Frage zu klären. Ausschlaggebend ist hier de Certeaus Hinweis, dass Recht und Kultur einander bedingen. Was als Recht gilt, hängt davon ab, wie auf Raum geschaut und welche Bedeutung ihm jeweils gegeben wird. Umgekehrt gilt: Erst dann, wenn Raum aus der Perspektive kultureller Praktiken gelesen wird, offenbart sich das Spannungsfeld, in das Kultur symbolische Gleichgewichte, ausgleichende Verträge und mehr oder weniger dauerhafte Kompromisse einbringt. Ebenso wie das Recht, bringt die Kultur Konflikte hervor und legitimiert, verschiebt oder kontrolliert das Recht. Macht wird aus Praktiken hergestellt. Macht existiert nicht an sich, sondern entsteht performativ-operativ. Nicht nur ist das Moment der Hegemonie in die Performanzen des Raums eingeschrieben. Auch tragen die alltäglichen Praxen, die Gebrauchs-Taktiken zur Formung von Macht bei. Man hat es hier mit einer paradoxen »Politisierung der Alltagspraktiken« zu tun, innerhalb derer »die Findigkeit des Schwachen Nutzen aus dem Starken«56 zieht. An dieser Stelle könnte hilfreich sein, noch einmal näher auf de Certeaus Unterscheidung von Strategien und Taktiken einzugehen. Als Strategie 55 56
Ebd., S. 52 Ebd., S. 21
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bezeichnet de Certeau »eine Berechnung (oder Manipulation) von Kräfteverhältnissen, die in dem Augenblick möglich wird, wo ein mit Macht und Willenskraft ausgestattetes Subjekt (ein Eigentümer, ein Unternehmen, eine Stadt, eine wissenschaftliche Institution)«57 von einer Umgebung abgelöst werden kann. Strategie setzt einen Ort voraus, der als etwas Eigenes umschrieben somit als Grundlage »für die Organisation der Beziehungen zu einer Exteriorität dienen kann.«58 Jegliche Form politischer, ökonomischer oder wissenschaftlicher Rationalität bildet sich auf der Grundlage dieses strategischen Modells. Demgegenüber definiert de Certeau Taktik als Kalkül, das nicht mit etwas Eigenem rechnen kann. Insofern Taktik keine Grenze hat, die das Andere als eine sichtbare Totalität abtrennt, muss sie auf Exteriorität verzichten. »Die Taktik hat nur den Ort des Anderen. […] Sie verfügt über keine Basis, wo sie ihre Gewinne kapitalisieren, ihre Expansionen vorbereiten und sich Unabhängigkeit gegenüber Umständen bewahren kann. Das Eigene ist ein Sieg des Ortes über die Zeit. Gerade weil sie keinen Ort hat, bleibt die Taktik von der Zeit abhängig.«59 Wenn Taktiktierende einen Vorteil aus einer Situation ziehen wollen, sind sie stets auf ein zeitliches Bewusstsein und eine Aufmerksamkeit hinsichtlich rhythmischer Konjunkturen angewiesen. In diesem Sinn ist Taktik eine Handlungsweise, die in der Lage sein muss, das Bewegliche der Verfestigung zu entziehen. Gleichzeitig muss Taktik versuchen, das Bewegliche in der Bewegung bleibend zu ordnen, zu strukturieren um aus der Situation heraus Anschlussmöglichkeiten für weiteres Handeln zu schaffen und günstige Gelegenheiten zu kreieren. Homogenität und Harmonie bilden die Raumordnungen des Strategischen. Dagegen nutzt Taktik Heterogenität und Dissonanz, mehr noch: Sie führt diese überhaupt erst dem Gebrauch zu. Raumtaktierende insistieren auf das Andere, auf die Kräfte, die ihnen fremd sind und fremd bleiben. Mit de Certeau gesprochen erhalten Taktiken ihre Bedeutung aus den alltäglichen Konflikten, aus dem Feld urbaner Praxen und ihrer heterogenen Bewegungen, während Strategien »ihr Verhältnis zu
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Ebd., S. 87 Ebd. Ebd., S. 23
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der Macht, die sie unterstützt, und durch einen eigenen Ort oder durch eine Institution schützt, unter objektiven Kalkülen verstecken.«60 Wir sehen nun, worin das Politische an de Certeaus Arbeit besteht. Die Artikulation und Betonung dessen, was de Certeau die Tatsache Stadt nennt und die er gegen die Konzept-Stadt positioniert, besteht darin, die Organisation eines herrschenden Diskurses in Frage zu stellen. Es kommt darauf an, Gesetze nicht als Tatsachen hinzunehmen. Ordnungen sind hergestellt. Chantal Mouffe hat diesen Sachverhalt treffend charakterisiert: »Jede Ordnung ist die temporäre und widerrufliche Artikulation kontingenter Verfahrensweisen. Die Grenze zwischen dem Gesellschaftlichen und dem Politischen ist nicht festgelegt und erfordert ständige Verschiebungen und Neuverhandlungen zwischen den gesellschaftlich Handelnden. Es könnte immer auch anders sein – daher basiert jede Ordnung auf dem Ausschluss anderer Möglichkeiten. In diesem Sinne kann sie auch ›politisch‹ genannt werden, da sie der Ausdruck bestimmter Machtverhältnisse ist. Macht ist für das Gesellschaftliche konstitutiv, weil das Gesellschaftliche ohne die ihm seine Form gebenden Machtverhältnisse nicht sein könnte. Was in einem bestimmten Augenblick für die ›natürliche‹ Ordnung gehalten wird – gemäß dem ihr entsprechenden ›common sense‹ –, ist das Ergebnis sedimentierter Verfahrensweisen; es ist niemals Manifestation einer tieferen Objektivität, die sich von den Verfahrensweisen trennen ließe, denen es sein Dasein verdankt. Ich fasse diesen Punkt zusammen: Jede gesellschaftliche Ordnung ist politischer Natur und basiert auf einer Form von Ausschließung. Es gibt immer andere unterdrückte Möglichkeiten, die aber reaktiviert werden können.«61 In der Verweigerung der unhinterfragten Anerkennung eines als System behaupteten Raums liegt ein ethischer Protest. Folglich lautet die politische Aufgabe des Städtebaus, eine »andere Stellung zum dem Verhältnis von Tatsachen und Gesetzen«62 einzunehmen. Der Widerstand gegen hegemoniale Kräfte kann indes nur dann gelingen werden, wenn man sich von dem Ort des Gesetzes und seiner Form entfernt, wenn man einen neuen Ort des Möglichen schafft. Aus dieser Abwendung von der fixierten Form begründet sich de
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Ebd., S. 25 Mouffe, Chantal: Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion. Frankfurt a.M. 2007, S. 26f. De Certeau: Die Kunst des Handelns, S. 57
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Certeaus politische Philosophie. Sie ist ohne die Wendung von Funktion zu Gebrauch (=Performanz) und der darin enthaltenen immanenten Transformation des Raums nicht denkbar. Ihr Credo lautet kurz: Gebrauch verändert Funktion.63 Dieser Hebel kann aber erst in Gang kommen, wenn man sich von der Konzept-Stadt zur Tatsache Stadt wendet, hin zu den alltäglichen Praktiken und deren taktischen Nicht-Orten. Die Umgangsweisen mit dem (aufgezwungenen oder nicht aufgezwungenen) System Stadt führen zu einer »Neuaufteilung des Raumes in dieser Ordnung: sie schafft zumindest einen Spielraum für die Bewegungen von ungleichen Kräften und für utopische Bezugspunkte.«64 Den Nachteil in einen Vorteil ummünzen: Darauf will de Certeau hinaus. Ortlosigkeit tritt im Rahmen der Handlungsform Taktik als wörtlich genommene Bedingung des Utopischen auf: ou-topos heißt ›an keinem Ort‹. In diesem Sinn steht beispielsweise das Gehen durch die Stadt für eine bestimmte Position performativer Setzung. Es ist die des produktiven Abkoppelns von dem Ort der Schrift des Städtebaus. Die Raumgebrauchenden manövrieren durch das städtische Geflecht, in das der Städtebau die Rationalität der Konzept-Stadt eingeschrieben hat. Wie die Raumgebrauchenden mit einem technokratisch ausgebauten, vollgeschriebenen und funktionalisierten Raum konfrontiert sind, so bilden sie mit ihren Bahnen »unvorhersehbare Sätze, zum Teil unlesbare Querverbindungen. Auch wenn sie dem Vokabular der gängigen Sprachen unterworfen bleiben, verweisen sie auf Finten mit anderen Interessen und Wünschen, die von den Systemen, in denen sie sich entwickeln, weder bestimmt noch eingefangen werden können.«65 Wenn de Certeau den parcours des Gehens betont und den Akzent auf den Gegensatz von Lesen und Schreiben legt, weist er dann nicht auch auf eine »andere« Form der Werke hin? Wir sollten uns immer dieser subtilen Haltung de Certeaus bewusst sein, aufgrund deren er die Fallstricke eines naiven Realismus (Tatsache Stadt) ebenso vermeidet wie die eines philosophischen Fundamentalismus (Konzept-Stadt). Es gibt also eine Kluft, die de Certeaus Tatsache Stadt für immer von der Konzept-Stadt trennt. Hat nicht Rem Koolhaas mit seinen Stadtforschungen am eindrucksvollsten nachgewiesen, dass es nicht mit der Feststellung getan ist, dass alle Raumhandlungen Praktiken sind? Was, wenn es keinen epistemologischen Schnitt gibt, weil die Nabelschnur, die die Tatsache Stadt mit der 63 64 65
Ebd., S. 59 Ebd. Ebd., S. 22
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Konzept-Stadt verbindet, irreduzibel ist? Es reicht nicht aus, zu sagen, dass Raum aus Praktiken besteht. Worauf es ankommt, ist, dass der Unterschied zwischen der Tatsache Stadt und der Konzept-Stadt immer irgendwie auf einem Sprachspiel beruht, das heißt performativ ist. Ebenso wichtig ist der entgegengesetzte Schluss. Die Prozedur, Raum als ein Bündel an Praktiken zu lesen, setzt ihrerseits immer schon die Bezugnahme auf eine implizite konzeptionelle, begriffliche Bestimmung des Unterschieds zwischen der Tatsache Stadt und der Konzept-Stadt voraus. Ja, es stimmt, es ist heute unmöglich einen naiven Standpunkt der Raumaneignung anzunehmen, der von den funktionalen Zwängen des Städtebaus unberührt wäre. Doch obgleich es unmöglich ist, ist dieser Standpunkt zugleich unvermeidlich. Entsprechend setzt etwa die Kritik, das heutige Wohnen sei nicht authentisch oder menschlich usw. bereits einen Wohn-Begriff voraus, der seinerseits der KonzeptStadt entstammt. Das zu sagen bedeutet aber keineswegs, epistemologische Elemente des traditionellen Städtebaus – etwa funktionale Statistiken – als obsolet zu betrachten. Statistik hilft dort bei der Stadtanalyse, wo sie, ausgehend von Kategorien und Taxonomien, die Form der Materialien der Alltagspraktiken und die von ihnen verwendeten Elemente erfasst. Was der Statistik aber entgeht, ist die Form der Performanz. Statistische Erhebungen zeigen weder, wie sich die Praxis als Verfahren (l’art de faire) entfaltet, noch was sich aus den Praktiken, aus dem »handwerklichen Einfallsreichtum und aus der Diskursivität ergibt, welche all diese vorgegebenen und sich ihrem Hintergrund anpassenden Elemente kombinieren.«66 Unterdessen zeichnet sich eine weitere Problematik der Stadtrecherche ab. Forschende, die sich von der Alltagspraxis des Raums ergreifen lassen, die also ihrerseits taktisch agieren, verlieren ihren eigenen Ort. »Der analysierende Diskurs und das analysierte ›Objekt‹ haben denselben Status: beide werden von der praktischen Tätigkeit, mit der sie befasst sind, organisiert.«67 Nehmen wir als Beispiel das dérive des Situationismus. Laut Guy Debord ist das Umherschweifen »eine Technik des eiligen Durchgangs durch abwechslungsreiche Umgebungen.«68 Transponiert ins Register städtebaulicher Methoden kommt das Umherschweifen dann zum Tragen, wenn man die Produziertheit des
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Ebd. Ebd., S. 50 Debord, Guy: »Theorie des Umherschweifens« in: Der große Schlaf und seine Kunden. Situationistische Texte zur Kunst. Hamburg 1990, S. 33
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städtischen Raums im Modus 1:1 untersuchen will. Wenn ich umherschweife ist mein Körper nicht mehr nur Instrument repräsentationaler Aufgaben, sondern avanciert – als empirische Materialität – zum Aufnahmegerät und Ausdrucksfeld räumlicher Produktion und Energie gleichermaßen. Konfiguriert als offene Bewegung ins urbane Feld, besteht das Ziel des dérive darin, sich der Universalität der Praxis und der Totalität des alltäglichen Raums anzuvertrauen. Wie aber erlangt dieses Vertrauen Legitimität? Der Schlüssel besteht in der strukturellen Beschaffenheit des Raumhandelns. Weit entfernt, ohne Werk zu sein, weist es operative Logiken auf, die auf die taktisch operierende Untersuchung organisierend zurückwirken können. Wenn ich mich ziel- und vorurteilslos durch die Stadt treiben lasse, kann ich nach und nach meine durch den Städtebau geprägte Perspektive auf Stadt loslassen. Was dann erscheint, sind die strukturellen, kleinteiligen Ordnungen, die ich vorher gar nicht bemerkt oder denen ich keine Beachtung geschenkt habe. Finden wir nicht das beste Beispiel dessen in den Texten von George Perec? Sie suchen das auf, was unterhalb der Wahrnehmungsschwelle des Gewöhnlichen liegt. Seine feingliedrigen und minutiösen Bestandsaufnahmen zielen auf die Struktur minimaler Transformationen aus denen frappierende, schlagend alltägliche Gewissheiten hervortreten. »Das, was wirklich befragt werden muss«, so Perec, »ist der Ziegelstein, der Beton, das Glas, unsere Tischmanieren, unsere Gerätschaften, unsere Zeiteinteilung, unsere Rhythmen. Das befragen, was für alle Zeit aufgehört zu haben scheint, uns in Verwunderung zu versetzen. Wir leben, gewiss, wir atmen, gewiss; wir gehen, wir machen Türen auf, wir laufen Treppen hinunter, wir setzen uns an einen Tisch, um zu essen, wir legen uns in ein Bett, um zu schlafen. Wie? Wo? Wann? Warum?«69 In diesem Sinn sollte man die Form des situationistischen dérive als paradoxe Meditation verstehen. Zwei Aufgabenstellungen sind hier leitend: Zuerst versuche ich, mir beim Gehen durch die Stadt selbst fremd zu sein. Gleichzeitig muss ich dabei aushalten, fortwährend an die Grenzen der Wahrnehmung des Alltäglichen zu stoßen, weil ich meinem eigenen Körper nicht äußerlich sein kann. Was also, wenn die Praktiken, die ich untersuchen will als auch die Instrumente, die ich finden muss, um die Praktiken wahrzunehmen, immer wieder 69
Perec, George: Warum gibt es keine Zigaretten beim Gemüsehändler. Zürich, Berlin 2014, S. 5
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aufs Neue die Logiken meines Forschungsaufbaus durcheinanderbringen oder lähmen? Man hat es bei der Untersuchung des Raumgebrauchs immer mit einer epistemologischen Diskontinuität zu tun, die sich aus der Topologie der permanenten relationalen Neuverschaltung von Intensitäts- und Dichtepunkten der Stadt speist. Die performative Faktizität des Raums ist einer Streuung ausgesetzt. Sie hat die Tendenz, sich im Alltäglichen zu verlieren. »Dieser Verlust«, so de Certeau, »führt zu einer Annullierung der Wahrheiten. Von welchem privilegierten Platz aus könnten sie noch bezeichnet werden? Man hat somit Tatsachen, die keine Wahrheiten mehr sind.«70 De Certeau ist indes weit entfernt, die Rede von Wahrheit prinzipiell zu negieren. Stattdessen geht es ihm um die Problematisierung ihrer Verortung. Wie de Certeau unterstreicht, müssen Stadtforschende, die auf der taktischen Ebene agieren, damit rechnen, dass ihre Untersuchung Konflikte um die Wahrheit des Raums hervorbringt. Erneut sollte man auf den Schluss verweisen, den de Certeaus hier zieht. Einerseits geben die Stadtforschenden, wenn sie sich im Alltag verlieren, den privilegierten Ort auf, von dem aus sich Wahrheit postulieren lässt. Andererseits sie gewinnen dafür eine ›andere Wahrheit‹ zurück. Doch dieser Effekt deckt noch nicht das ganze Feld ab. Ich bin versucht zu sagen, dass man es hier mit einem epistemologischen Riss zu tun hat: Statt einen Ort vorauszusetzen, an dem sie erscheinen kann, produziert die Wahrheit der Tatsache Stadt an Orten Räume. Das erklärt in wissenstheoretischer Sicht, weshalb sich Architekturbüros wie beispielsweise Raumlabor, Christophe Hutin, constructlab, Projektbüro Hamburg, Denkstatt sarl Basel, oder Lacaton & Vassal zunehmend einem Wechsel vom Entwurf zur Recherche im Maßstab 1:1 zuwenden. Sie verlassen das Büro, das traditionell als Ort der Wahrheit der Stadt galt, um sich den Tatsachen städtischer Situationen performativ hinzugeben. Der paradigmatische Fall dessen ist wohl das Projekt Place Leon Aucoc von Lacaton & Vassal aus dem Jahr 1996. Beauftragt, eine Platzverschönerung in Bordeaux vorzunehmen, beschlossen Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal zunächst einfach mehrere Wochen an dem Ort zu verbringen. Mit dem Ergebnis, gar nichts zu verändern. Bei genauerem Hinsehen war der Platz gut wie er war.
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De Certeau: Die Kunst des Handelns, S. 51
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2.3 Zeit und Geschichte Im Hinblick auf die Frage der Geschichtlichkeit des Raumhandelns bringt de Certeau eine weitere entscheidende Problematik zur Geltung. Eine auf Strukturen gerichtete Untersuchung der alltäglichen Praktiken der Stadt läuft stets Gefahr ahistorisch vorzugehen. Sicherlich ist es probat, innerhalb der Untersuchung räumliche Situationen zu fragmentieren oder in Operationen zu zerlegen; aber dies kann nur in dem Wissen um und dem Offenlegen von spezifischen, geschichtlich situierten Umständen geschehen. Die Performanz des Raums existiert nicht unabhängig von ihren historischen Bedingungen. Statt den – stets prekär bleibenden – Versuch voranzutreiben, den geschichtlichen Ort der alltäglichen Praktiken durch den Transfer in ein wissenschaftliches System zu eliminieren, sollte man vielmehr deren taktische Abhängigkeit an die situativen Gelegenheiten berücksichtigen. Liegt die Essenz der Untersuchung dann nicht darin begriffen, die »speziellen Fälle« zu sammeln und auf »Modularisierungskapazität«, also dasjenige, was in andere Situationen modifiziert übertragbar ist, zu prüfen? Könnte man damit der Tatsache Rechnung tragen, dass man von den Praktiken selber nur die Ausstattung (Werkzeuge und Produkte die man sammeln kann) oder Beschreibungsmodelle (Typen, rituelle Strukturen) erschließen kann? Aber wären auch diese Werkzeuge nicht wieder durch den Gebrauch gekennzeichnet, »als Abdrücke von Handlungen« oder Performanzen als »Operationen, die von den Umständen abhängig sind«71 und die als jeweilige Modalisierungen der Performanz (Aussage) und der Praxis betrachtet werden müssen? De Certeaus Untersuchung zielt auf eine städtische Realität, die sich ereignet. Damit verweist sie auf eine gesellschaftliche Geschichtlichkeit, deren Verhandlungsweisen und Produktionssysteme weniger als ein normativer denn als ein struktureller Rahmen zu interpretieren sind. De Certeaus Lektion lautet: Praktiken und die in ihnen enthaltenen Logiken und »Technologien« sind Werkzeuge, »die von denen die sie gebrauchen gehandhabt, manipuliert werden.«72 Gemäß dieser Lesart impliziert der Gebrauch eine Logik, die sich, ganz im taktischen Sinne, auf die Umstände bezieht und damit der Handlung Autonomie entzieht. An dieser Stelle führt de Certeau die von Claude Levi-Strauss in den Diskurs eingebrachte Unterscheidung zwischen disjunktiven und kon-
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junktiven Operationen ein.73 Sie rührt von einer strukturalistischen Interpretation der Ethnologie her. Innerhalb seiner Untersuchungen zur Kultur differenziert Levi-Strauss zwischen dem trennenden (disjunktiven) Spiel und den verbindenden, rückführenden (konjunktiven) Ritualen. Gemäß dieser Unterscheidung rechnet de Certeau alltägliche Praktiken der Stadt zur Klasse der disjunktiven Operationen: »sie schaffen Räume, in denen Spielzüge von Situationen abhängig sind.«74 Im Hinblick auf Stadtgestaltung ist diese Unterscheidung deshalb interessant, weil sie ersichtlich macht, ob und in welchem Maße Gestaltungskonzepte auf konjunktiven Modellen aufbauen. Anders formuliert: traditionelle Gestaltungsweisen, die auf der strategischen Ebene angesiedelt sind, tendieren dazu, das Disjunktive auszuschließen und Homogenisierung voranzutreiben. Wo darin Heterogenität und Differenz ausgeblendet wird, gerät die Performanz von Raum, also das, was Raum macht, aus dem Blick. Man nehme das Beispiel der allgegenwärtigen städtebaulichen renderings. Sie postulieren eine Wirklichkeit, die der Gründung im Stadtwirklichen entbehrt und damit umso wirkmächtiger erscheint. Was diese Darstellungen noch komplizierter macht, ist ihr konjunktives Auftreten (»Es sind handelnde Menschen im Bild«), während sie die Motive und Bedingungen des Handelns vollkommen ausblenden. Wie sie behaupten, das Raumhandeln als Prozess zu zeigen, so lassen sie in Wirklichkeit den Prozess hinter dem Produkt verschwinden. Haben also im Umkehrschluss diejenigen recht, die fordern, alltägliche Praktiken sichtbar zu machen, indem man sich auf Akteure und ihre rationalintentionalen Handlungen fokussiert? Im Gegenteil. Auch wenn wir es bei unserer Untersuchung der Stadt mit Raumgebrauchenden zu tun haben, die etwas praktizieren, ausüben, so ist doch die Untersuchung nicht als Rückgriff auf eine abgeschlossene Form des Subjekts zu verstehen. Die konventionelle subjektzentrierte Konzeption des Alltags ist mit de Certeau vielmehr in Frage zu stellen. Der Grund dafür liegt darin, dass diese Konzeption einen gesellschaftlichen Atomismus in Kauf nimmt, der das Subjekt als elementare Einheit gesellschaftlicher Verhältnisse voraussetzt. Weit entfernt, den Subjektbegriff prinzipiell abzulehnen, kommt es de Certeau indessen darauf an, Subjektivität als Ort zu beschreiben, »an dem eine inkohärente und oft widersprüchliche Vielzahl von Größen aufeinandertrifft.«75 Dieses Argument
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Levi-Strauss, Claude: Das wilde Denken. Frankfurt a.M. 1968, S. 47 De Certeau: Die Kunst des Handelns, S.66 Ebd., S. 11
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hat Auswirkungen auf die politische Frage, ob eine Emanzipation der Raumhandelnden unter den Bedingungen der Konzept-Stadt möglich ist. Man muss hier zwischen zwei Emanzipationsformen unterscheiden. Auf der einen Seite die Behauptung der Autonomie des Subjekts. Problematisch an dieser Lösung ist, dass sie den symbolischen Status quo wieder behauptet und sogar als positive Bedingung des Funktionierens von Emanzipation setzt. Dagegen steht auf der anderen Seite die tatsächliche Autonomiebehauptung, die auch die symbolische Neuformulierung des Subjekts voraussetzt. Der springende Punkt ist: Das Subjekt kann nur dann als heterogener Ort verstanden werden, wenn man ein nicht-teleologisches Handlungsverständnis einführt. Statt also zu versuchen, Subjekte als einzelne Urheber oder isolierte Träger von Raumhandlungen zu betrachten, muss es der Stadtforschung darum gehen, Situationen zu beobachten oder zu kreieren, an denen bestimmte Handlungsweisen zur Entfaltung kommen. Ziel der Untersuchung ist demnach nicht, vermeintlich ›authentische‹ Wahrnehmungen, Ideen oder Gefühle von Subjekten zu offenbaren. Städtebauliche Beteiligungsverfahren gehen hier traditionell fehl. Stattdessen sollte sich das Augenmerk auf die situativen Handlungszusammenhänge und die ihnen zugrunde liegenden ›operationalen Logik‹ richten. Dass damit offenbar wird, welches die Interessenlagen des Raums sind, ist wohl einer der Gründe dafür, warum dieses Verfahren so selten zum Einsatz kommt. Es bleibt dabei: erst wenn die Interessen und Motive der Handlungszusammenhänge offen liegen, können im weiteren Schritt jene Kombinationen von Handlungsweisen herausgearbeitet werden, die zur Bildung neuer urbaner Situationen beitragen können.
2.4 Schaltung Man ist versucht, die vier Merkmale der sprachlichen Performanz – Vollzug, Aneignung, Präsenz und relationaler Verschaltung – in einem Netz von Orten auf performative Raumpraktiken wie Gehen, Kochen, U-Bahn-Fahren, Einkaufen etc. zu übertragen. So ließe sich zeigen, wie die alltäglichen Akteure vorgegebene Formen, Funktionen, Strukturen umfrisieren, uminterpretieren und auch dadurch neue hervorrufen. Eine derart ausgerichtete Raumuntersuchung eruiert »Operationstypen oder Aktivitätsformen,«76 die den Konsum des Städtischen als Raumproduktion im strukturellen Feld einer Ökonomie 76
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des Handelns sichtbar machen. In den Aneignungspraktiken des Raums lassen sich »die Indikatoren der Kreativität aufspüren.«77 Sie entfalten sich gerade dort, wo die Performanz des Produzierens keine »eigene« Sprache hat. Man ist mit Artikulationen konfrontiert, die sich nicht allein vom System der Sprache her deuten lassen und der Stadtuntersuchung neue Formen der Darstellung bzw. Analyse abringen. Keineswegs handelt es sich bei dieser Fragestellung um eine Marginalie: Man denke an den planerischen Umgang mit polyzentrischen Stadtregionen, klein- und großmaßstäblichen Polarisierungsprozessen oder sich funktionalen wie formellen Zuweisungen verweigernden urbanen Gebieten. Stets lässt sich konstatieren, dass vorherrschende Denkmodelle und Planungsinstrumente zunehmend an ihre Grenzen stoßen. Was einst als Restbestand der Moderne galt – der Riss zwischen teleologischer und nicht-teleologischer Anteile im Handeln der Raumakteure selbst – tritt inzwischen massenhaft hervor ohne lesbar zu sein. Die einstige Marginalie manifestiert eine unmerkliche, nicht entzifferbare und nicht symbolisierte Aktivität, die einen universellen Grad erreicht hat: sie »ist zur schweigenden Mehrheit geworden«78 die sich performativ zeigt und nur auf der Ebene der Performanz zu entziffern ist. Wenn Stadtuntersuchungen urbane Operationstypen oder Aktivitätsformen als Praxen des Alltags identifizieren, benennen, katalogisieren und neu versammeln, dann bekommen sie nicht nur Einsicht in dasjenige, was als Raumhandeln bereits universell geworden ist. Man sollte auch über das forschende Handeln selbst sprechen. Es verfügt über die Wirkmacht, das Performative der Stadt in einen neuen Raum des Wissens zu heben. Raumhandeln auf diese Weise explizit zu machen, bedeutet, die Praktiken und Raumgebrauchenden als logos zu zeigen. Etwas als wissend darzustellen, was vorher als unwissend galt, ruft gesellschaftliche Konflikte hervor. Damit ist annonciert, dass auch die Verhandlung um Raumwissen vektoriell eingebettet ist. Als Sprach- und Handlungsweisen sind Forschungen »von gesellschaftlichen Situationen und Kräfteverhältnissen abhängig.«79 Unterschiedliche gesellschaftliche Dispositive wirken unterschiedliche auf Wissenskonfigurationen ein. Genau aus dieser Tatsache folgt die Notwendigkeit, Forschungen zur Stadt von dem System Stadt zu unterscheiden. Alles läuft darauf hinaus, Spielräume zu identifizieren, die das System als Resträume zulässt. Es sind 77 78 79
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die Spielräume, die sich die Forschenden selbst schaffen. Aus ihnen gehen ermöglichende Konstruktionen hervor, die wiederum Konjunkturen von Spielräumen befördern. Sich auf Handlungsweisen und auf Performativität zu konzentrieren, bedeutet, eine bestimmte, im »guten Entwurf« des Urbanismus übliche Fehlstelle zu vermeiden. Im traditionellen städtebaulichen Entwurf kommt die Fehlstelle darin zum Ausdruck, dass man Rahmungen aufstellt, die »die Konstitution des eigenen Ortes (eines wissenschaftlichen Raumes oder einer zu beschreibenden Seite)«80 voraussetzen, der von den jeweiligen Akteuren unabhängig sein soll. Wenn ich Hinweise auf die Spuren städtischer Transformation erhalten will, kann ich indessen nur Situationen kreieren, die Handlungsweisen als immanente Kräfte evozieren, stärken und artikulierbar machen. Die Untersuchung arbeitet dann ihrerseits interventionistisch, mit Geschichten des Alltäglichen, die aus angestoßenen Situationen heraus entstehen. »Dadurch werden sie ganz unauffällig auch zu lebendigen Museen und zu Bezugspunkten für Lernende. Die Rhetorik und die alltäglichen Praktiken können gleichermaßen als Manipulationen im Inneren eines Systems aufgefasst werden, […] als auch im System einer etablierten Ordnung.«81 Vielleicht ließe sich der performative Ansatz von de Certeau als »Theater zur Legitimierung tatsächlicher Handlungsweisen« beschreiben. Wäre dieses Theater nicht der Bereich, der die bewegten und zufälligen gesellschaftlichen Praktiken autorisiert82 und damit als urbanes Potential lesbar macht? Hebt damit nicht ein Handeln an, »das der Organisierung durch eine Vernunft, eine Verschulung der Macht einer Elite entgeht?«83 Und was, wenn ein solches Handeln jeder Mobilmachung und Neutralisierung durch Pädagogik widersteht? Man denke an das Lehr- und Forschungsprojekt Universität der Nachbarschaften, das der Fachbereich Urban Design an der HafenCity Universität Hamburg im Hamburger Ortsteil Wilhelmsburg realisierte. Dessen entschiedene Haltung, eben nicht dem urbanistischen Begehren nach einem ›guten Entwurf‹ nachzugeben, wurde in der mehrjährigen Restnutzung eines Bestandsgebäudes aus den 1950er Jahren artikuliert.84 Ein anderes wichtiges Beispiel ist das Küchenmonument von Raumlabor. Die
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Ebd., S. 70 Ebd., S. 69 Ebd., S. 230 Ebd., S. 283 Siehe Kniess, Bernd/Dell, Christopher/Peck, Dominique (Hg.): Tom paints the fence. Re-negotiating Urban Design. Leipzig 2022
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mobile, mit Zinkblech verkleidete Skulptur wird temporär installiert. Mit ihrem pneumatischen Raummantel verwandelt sie den jeweiligen Ort, in den sie interveniert in ein temporäres, öffentlich zugängliches Volumen. Das Küchenmonument ist nutzungsoffen, es kann unterschiedliche Programme in sich aufnehmen wie etwa einen Bankettsaal, einen Konferenzraum, ein Kino, eine Oper, einen Ballsaal, ein Studentenwohnheim, eine Boxhalle oder ein Dampfbad. Jeder Gebrauch dieser Minimalarchitektur tritt in Interaktion mit dem jeweiligen räumlichen Kontext, macht ihn sichtbar und transformiert ihn. Sowohl die Universität der Nachbarschaften als auch das Küchenmonument sind Interventionen im Maßstab 1:1. In epistemologischer Hinsicht ist relevant, dass das Arbeiten in diesem Maßstab eine ganz spezifische Reflexivität in den Stadtraum einschreibt. Vermittels einer veränderten Perspektive wird die Handlung, die einen bestimmten Ort zu einem Raum macht, dazu gebracht, als Teil des von ihr erzeugten Raums sichtbar zu werden. Der Schlüssel zu dieser Verschiebung ist, dass die Intervention die Medialität des Raums auffällig werden lässt. Das geschieht auf zwei Ebenen: Erstens verlässt der Städtebau die Repräsentationsebene des Büros und verschiebt sie auf die 1:1 Situation. Zweitens erzeugt die Verschiebung eine bildliche Unschärfe. Das Paradox ist, dass die Intervention eine Nicht-Repräsentationalität einführt, die das Raumhandeln erst als solches sehen lässt. Dass es Interventionen dieser Art nur im Maßstab 1:1 gibt, hat seinen Grund. Er liegt darin, dass man diesen Maßstab nie übersehen kann. Diese Unübersehbarkeit ist genau der Motor für die von Wittgenstein in Anschlag gebrachte Frage nach der übersichtlichen Darstellung. Statt diese vorauszusetzen, erlaubt uns die Intervention, die übersichtliche Darstellung überhaupt erst zum Fragwürdigen aufsteigen zu lassen. Raumhandeln ist nicht einfach die unmittelbare Präsenz zu der ich gelange, wenn ich mich der verzerrenden Renderings des Städtebaus entledigen, sondern vielmehr jener Rest der wirklichen Bewegung der Raumhandlungen, deren Spuren ich in einer diagrammatischen Darstellung erkennen kann. Kurzum, Raumhandeln ist etwas, das in seiner nichtrepräsentationalen Repräsentation gewesen sein wird. Zunächst erschließt sich aus dem oben Versammelten: Die Frage nach der Logik des Raums lässt sich nur vor dem Hintergrund räumlicher Handlungen und das heißt Nutzung und Gebrauch verstehen. Diese Handlungen wiederum fragen hinter eine Praxis medialer Äußerungen zurück, die diese plausibel machen. Hinsichtlich der Planung gilt dann: Die Konnotationen, die die durch Externalisierung geprägte Form der planerischen Klassifizierung räumlicher Situationen geschichtlich mit sich gebracht hat, sind von der Frage nach dem
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Sinn des Gebrauchs von Raum abzulösen. Es steht nun zur Aussicht, Gestaltung und Gebrauch komplementär, statt abhängig voneinander zu sehen. Alles weist auf die Wendung des Plans von der geschlossenen Form zur offenen Form relationaler, hybrider und gewebeartiger Darstellungsformen hin. Derlei Darstellungsformen oder offene Notationen messen sich dem Kriterium, sich immer wieder neu an der Darstellung des tatsächlich stattfindenden Gebrauchs abzuarbeiten. Dass es nie gelingen kann, den Gebrauch abschließend zu fixieren, ist, wie wir mit Wittgenstein sagen können, Teil des Spiels.85 Wenn man das Spiel in die Form des Raumgebrauchs einführt, hat man es mit einer spezifischen Differenz zu tun, nämlich der zwischen der Sichtweise, die den Gebrauch als unvollständig erachtet und der, die ihn als vollständige Sinneinheit versteht. Der Imperativ des Raumgebrauchs lautet: Wenn Du wissen willst, was eine urbane Situation strukturell an Potential beinhaltet, berufe dich nicht einfach auf das, was Du vermeintlich siehst – denn es gibt da nichts im vordergründigen Sinn zu sehen – sondern zeige, wie die Materialien und Konstellationen der Situation verwendet werden und welche Nutzungen und Gebrauchsweisen in der Situation enthalten sind. Dieses Insistieren auf den Gebrauch ist sicherlich nicht das Ende dessen, was man das forschende Gestalten des Städtebaus nennen kann, aber sicherlich sein Anfang. Erneut geht es darum, den Trend zu abgeschlossenen Darstellungsformen des Städtebaus wie etwa renderings abzubauen. Deren Funktion besteht darin, durch Suggestion ein vermeintliches Sehen glauben zu machen. Stattdessen bleibt uns nichts anderes übrig, als uns naiv zu stellen und uns einzugestehen, dass wir eine urbane Situation erstmal nicht verstehen. Von diesem Punkt aus können wir uns spielerisch den Verwendungsweisen des Urbanen nähern. Es ist das Eingeständnis des Nichtwissens, mit dem die Arbeit anhebt. Als Teil alltäglicher Produktion von urbanem Raum schreibt sich die Körperschrift des Raumgebrauchs in den Text des zu bespielenden Stadtgewebes ein. Der performative Raumgebrauch bewegt sich, wandert, driftet und dringt in den geplanten Text der Stadt und modifiziert ihn von innen. Die Raumgebrauchenden folgen nicht nur dem Text der Stadt, sie produzieren diesen Text mit. Indes, obwohl sie ihm folgen, an seiner Herstellung beteiligt sind und ihn in ihre Körper einschreiben, können sie den Text nicht lesen. Dieses Paradox erklärt de Certeaus Schluss: »Die Wege, auf denen man sich in dieser Verflechtung trifft – die unbewussten Dichtungen, bei denen jeder Körper ein von vielen anderen gezeichnetes Element ist – entziehen sich der 85
Vgl. Dell: Stadt als offene Partitur
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Lesbarkeit.«86 Man ist hier versucht, das, was als epistemologisches Hindernis erscheint als positive ontologische Bedingung umzukehren. Was wäre, wenn das Rätsel des Raumgebrauchs, sein nicht-repräsentationaler Charakter, seine Lösung in sich selber birgt? Was, wenn wir lediglich die Kluft, die den Raumgebrauch (als Untersuchungsgegenstand) von der externalisierenden Repräsentation der Planung trennt, in den Raumgebrauch selbst transponieren müssen? Was, wenn sich Raumgebrauch nur insoweit ereignet, als er den Raumgebrauchenden als Emergenz erscheint? Der Fehler, den Raumgebrauch mit einem epistemologischen Hindernis zu identifizieren, besteht darin, dass man das gängige städtebauliche Verständnis von Stadt als Container als positive Seinsordnung wieder einführt. In einer solchen vollständig konstituierten Funktionskette ist natürlich kein Platz für den Raumgebrauch und die spielerischen Vektoren der (Um-)Funktion. Folglich ist die einzige, effektive Erklärung des Status des Raumgebrauchs die Unvollständigkeit der Stadt selbst. Städtische Wirklichkeit existiert nur insoweit, als es eine Kluft gibt, einen Riss genau durch die Mitte der Handlungsformen des Raumgebrauchs. Nur diese Kluft erklärt die Tatsache, dass die Nicht-Finalität und das Umfunktionieren des Raumgebrauchs kein Verkennen irgendeines funktionalen Prozesses der Stadt ist, ganz unabhängig davon, wie komplex dieser Prozess sein mag. Im Kontext des von Löw, Giddens und Bourdieu angeführten Gegensatzes von Handlung vs. Struktur sollte man konstatieren, dass de Certeaus Konzeption diese Dichotomie dort fortführt, wo er zwischen raumkonstituierenden Praktiken und raumkontrollierenden und -organisierenden Ordnungsmodellen der Struktur unterscheidet. Man muss jedoch einwenden, dass bei de Certeau Handeln als Voraussetzung dafür gilt, dass ein Ort überhaupt zum Raum werden kann: »Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht. So wird zum Beispiel die Straße, die der Urbanismus geometrisch festlegt, durch die Gehenden in einen Raum verwandelt. Ebenso ist die Lektüre ein Raum, der durch den praktischen Umgang mit einem Ort entsteht, den ein Zeichensystem – etwas Geschriebenes – bildet.«87 Hier offenbart sich eine Lücke im Denken de Certeaus. Das Problem ist, dass de Certeau den Exzess der raumhandelnden Subjektivität klar sieht, ihn jedoch nicht in einen epistemischen Handlungsbegriff integrieren kann. Wie de Certeau auf die Aneignung des Raums fokussiert, so verfehlt seine Argumentation gerade 86 87
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den Schlüsselmodus dieser Handlungsweise. Was ihm entgeht ist die epistemologische Produktivität der Nicht-Teleologie, das heißt der synthetische Effekt des Umnutzens von Raum. Dieser Effekt ist es, der die Offenheit der Taktiken strategisch machen und von der viktimisierenden Position eines »unterdrückten« Nicht-Wissens befreien kann. Wie Löw fehlt auch de Certeau ein Handlungsbegriff, der Unbestimmtheit integrieren kann. Somit vermag sein Ansatz nicht über den Widerspruch zwischen phänomenologischer Existenzphilosophie und agency-structure-Dualismus hinaus zu gelangen. Es gibt noch eine weitere Fehlstelle: Wenn die These der Körperschrift richtig ist, dann sind Raumpraktiken weder auf Zahlen reduzierbar noch als Text zu kodieren. Stattdessen sollte man sie als taktil-aktive Wahrnehmung und körperliche Aneignung verstehen. Ihre Überlagerung bildet eine unendliche Menge an Differenzen, performative Gestaltungen von Räumen. Stellen diese Bewegungen ein System dar? Nein, denn sie ergeben kein kohärentes Ganzes, das von außen sichtbar wäre. »Sie können nicht lokalisiert werden, denn sie schaffen erst den Raum.«88 Die Performativität des Gehens lässt sich in drei Ebenen auffächern: zum ersten die Ebene der topographischen Aneignung, zum Zweiten die räumliche Realisierung des Ortes und drittens die strukturellen Beziehungen zwischen den Positionen. Dabei ist zu beachten, dass Raumproduktion nicht auf diese drei Ebenen reduziert werden kann, jede Reproduktion der Ebenen ist notgedrungen unvollständig. Zu sagen, das Zusammenspiel der Raumpraktiken stelle kein System dar, heißt, dass es nicht auf eine ihm vorgängige rationale Kohärenz rekurriert. Umgekehrt bedeutet dies, dass die Rationalität jeder einzelnen Ebene noch nichts über das Ensemble der Praktiken aussagt. Halten wir fest: Mit der Rede von der Performanz des Raums setzt de Certeau voraus, dass sich Raum durch Gebrauch artikuliert, durch Handlungsweisen, sich also durch die Art und Weise des Gebrauchs, verwirklicht. Die Gebrauchsweise aktualisiert die Möglichkeiten, Potentiale des Raums. Dieser Vorschlag kongruiert mit Löws These, dass Raum nur durch Handlung Wirklichkeit zukommt. Indem man die spezifische Modalität der urbanen Performanz, der Äußerungspraktiken untersucht, fragt man weniger danach, wie Räume sind, aber wie sie hergestellt werden. In diesem Kontext verschiebt sich der Nutzungsbegriff: Funktion kann nicht mehr nur als »passive Anpassung des Subjekts« und gesellschaftliche Verhältnisse verstanden
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werden. Das zu sagen verlangt auch, Subjekte der Raumnutzung als »produktiv realitätsverarbeitend« zu deuten.89 Die raumproduzierenden Subjekte fungieren ihrerseits nicht als Behälter, in die Forminhalte eingefüllt werden, sondern als Raumhandelnde, die sich aktiv mit ihrer Umwelt (sozial, ökonomisch, kulturell) auseinandersetzen.90 Mit dem Aneignungsbegriff gesprochen: Raumgebrauchende eignen sich, im Zusammenspiel von gesellschaftlich bestimmten Strukturen und der Artikulation eigener Motive, soziale Wirklichkeit an. Diese Motive, darauf hat de Certeau eindrücklich verwiesen, beinhalten den Gebrauch als alltägliches Element von Kultur. Die kreative Aneignung kultureller Güter beschreibt, wie Raumgebrauchende Gegenständen im Gebrauch erst Bedeutungen zuweisen. Das heißt. auch, dass die Nutzung von (primär kulturellen) Produkten in einer anderen Weise als von »Produzenten« vorgesehen, geschehen. Der Begriff Gebrauch schließt dann Umfunktionieren, Umdeuten, »falsch« Gebrauchen und das Ins-WerkSetzen der funktionalen Systemik gegenläufiger Praktiken mit ein. Aneignung meint hier also die spezifische Modalität performativer Praktiken als mögliche »Manipulation an aufgezwungenen Räumen und die auf bestimmte Situationen bezogenen Taktiken.«91 Man hat es hier nicht mit isolierten Praktiken vereinzelter Individuen zu tun, aber mit Aneignungsprozessen, die sich in sozialer Interaktion und aus unterschiedlichsten Wechselwirkungen, Anerkennungsansprüchen und dergleichen herausbilden.92 Wir sehen wie de Certeau anhand der Dichotomie zwischen Strategie und Taktik die Verbindung von Epistemologie und Politik ins Licht der Untersuchung rückt: In welchem Namen spricht Wissenschaft? Von welchem Ort aus spricht sie? Was bedeutet die Kluft zwischen Strategie und Taktik in diesem Zusammenhang? Was ist mit der epistemologischen Differenz zwischen den Gebrauchenden des Raums und den Forschenden?93 Besteht sie nicht fort, selbst wenn de Certeau auf die »authentischen« Vorgehensweisen des Alltags abhebt und seine Position als Beobachter in Frage stellt? Auf Grund seiner
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Sting, Stephan: »Aneigungsprozesse im Kontext von Peer-Geselligkeit«, in: Deinet, Ulrich/Reutlinger, Christian (Hg.): Aneignung als Bildungskonzept in der Sozialpädagogik. Wiesbaden 2004, S. 139 Helsper, Werner: »Sozialisation«, in: Krüger, Heinz-Hermann/Helsper, Werner (Hg.): Grundbegriffe und Grundfragen der Erziehungswissenschaft. Stuttgart 2000, S. 72 De Certeau: Die Kunst des Handelns, S. 70 Geulen: »Sozialisation«, S. 101 De Certeau: Die Kunst des Handelns, S. 70
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Einbettung in vektorielle gesellschaftliche Konstellationen ist Raum nie neutral. Kann es dennoch einen Ort zur rituellen Absicherung eines Bereichs der Taktiken und des Berichtens darüber geben? Was tun, wenn Berichte über und Forschung am Alltag für die Stadtgestaltenden zur Grundlage dafür avancieren sollen, mit der Wirklichkeit des Stadtraums in Berührung zu kommen? Es gibt einen Riss zwischen der wirklichen Ordnung der Dinge, die »genau in den populären Taktiken, die Dinge zu eigenen Zwecken umändern«94 besteht und der Akzeptanz dessen, »dass sich in Kürze etwas ändern wird.«95 Man kann daraus zunächst nur schließen, dass die Erforschung der Performanz des Raums weit entfernt ist von objektivierender Erkenntnistheorie. Stattdessen stellt sich die Frage nach einer städtebaulichen Epistemologie, die ihre politische Konnotation reflektiert und deren Schlüssel in der Nicht-Transparenz des Subjekts liegt. Finden wir nicht das beste Beispiel für die politische Frage nach den Aneignungs- oder Wiederaneignungsmöglichkeiten eines raumproduzierenden Systems in den seit den 1960er Jahren entstandenen neuen sozialen Bewegungen, lokalen Gruppierungen oder Nicht-Regierungs-Organisationen?96 Sie zeigen Momente des Wiederaneignens von Alltagspraktiken an,97 deren emanzipatorische Politik an die Problematik der Repräsentation der »mikroskopischen, vielgestaltigen und zahllosen Verbindungen zwischen Manipulation und Genießen« gebunden ist. Womit man es beispielweise bei der Occupy-Bewegung, den Protesten am Tahrir-Platz in Kairo, dem GeziPark in Istanbul oder den neuen ökologischen Klimabewegungen zu tun hat, ist eine »flüchtige und massive Realität«98 , deren Wirkmacht von der Kapazität herrührt, mit ihrem Anderen, der symbolischen Ordnung, zu spielen. Was de Certeau in Szene setzt, ist eine Spaltung zwischen Postulaten herrschender globaler Strategien (die sich nie umsetzen lassen, da sie in den schnellen Entwicklungen immer zu spät sind) einerseits und den unterdrückten, unsichtbaren, kontingenten, unvorhersehbaren Taktiken des Lokalen 94 95 96
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Ebd., S. 73 Ebd. Vgl. Brand, Karl-Werner (Hg.): Neue soziale Bewegungen in Westeuropa und den USA. Frankfurt a.M. 1985; Buechler, Steven M.: Social movements in advanced capitalism. The political economy and cultural construction of social activism. New York 2000; Kern, Thomas: Soziale Bewegungen. Ursachen, Wirkungen, Mechanismen. Wiesbaden 2008; Rucht, Dieter/Neidhardt, Friedhelm: »Soziale Bewegungen und kollektive Aktionen«, in: Joas, Hans (Hg.): Lehrbuch der Soziologie. Frankfurt a.M. 2003 De Certeau: Die Kunst des Handelns, S. 31 Ebd.
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(die die Raumgebrauchenden praktizieren und erweitern, von denen aber niemand ›weiß‹) andererseits. Aber ist das Postulat dieser Dichotomie nicht seinerseits eine Bestätigung der Machtverhältnisse? Hier agiert De Certeau, der von der Position der »Schwachen« schreibt, die sich den »Herrschenden« entgegenstellen, selbst paternalistisch. Dass es Situationen gibt, in denen eine passive Taktik von strategischen Verfahren unterworfen wird, ist als Erklärung für manche merkwürdige Stadtentwicklung hilfreich. Doch was soll daraus folgen? Das Paradox, das an dieser Stelle nicht übersehen werden darf, besteht darin, dass die Taktierenden um so mehr Unterworfene sind, je mehr sie ihre Position missdeuten. Vielleicht läuft die ultimative emanzipatorische Aussage darauf hinaus, offen zu verkünden: »Ich existiere nicht aus mir selbst heraus, sondern ich bin bloß die verkörperte Phantasie des strategischen Anderen.« Mit Althusser gesprochen wäre die Position des Widerstandes gegen die Strategie in dem Sinn performativ, als dass gerade die Geste des Widerstands eine Anerkennung ist, die die Strategie als Autorität erst konstituiert. Dies insofern als sich die Taktierenden als diejenigen wiedererkennen, die dem Ruf des Städtebaus nicht gehorchen. Statt nun den Platz des Adressaten einzunehmen, der nicht wirklich der ihre ist, könnten die Taktierenden so ihre Praktiken des Alltags neu überdenken, in ein epistemologisches Register eintreten lassen und in das gestalterische Konzept des Ermöglichens überführen. Der Fehler von de Certeaus Sichtweise besteht hier nicht darin zu radikal zu sein, sondern im Gegenteil darin, dass sie nicht radikal genug ist. Sie ignoriert die Art und Weise in der die Identität der Position der ›unterdrückten Raumtaktierenden‹ schon durch das Andere vermittelt ist. Es gibt den Gegensatz taktierend vs. strategisch Handelnder nicht, wenn es kein herrschendes System gibt, dass die Taktierenden unterdrückt. Will man also das unterdrückende Andere überwinden, so muss man den Inhalt der eigenen Position verändern. Ein Vorschlag bestünde darin, Taktiken strategisch zu machen. Für de Certeau ist »Ort die Ordnung, nach der Elemente in Koexistenzbedingungen aufgeteilt werden, […] also eine momentane Konstellation von festen Punkten.«99 Raum hingegen zeigt sich als ein Ort, mit dem man etwas macht. Es ist genau diese Unterscheidung, die es erlaubt, Raum als eine Gesamtheit performativer Relationen zu lesen. In diesem Sinn ist Raum »ein Resultat von Aktivitäten, die ihm eine Richtung geben, ihn verzeitlichen und ihn dahin bringen, als eine mehrdeutige Einheit von Konfliktprogrammen und 99
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vertraglichen Übereinkünften zu funktionieren.«100 Das zeigt auf, wie das was wir gemeinhin als Banalität betrachten (zum Beispiel Wohnen) zur Technik raumproduzierender Bewegung avanciert und gleichlaufend eine Grammatik des Alltags erzeugt. Aber können die Taktiken als Demonstration der nicht-additiven und experimentellen Zusammensetzung des Urbanen verstanden werden? Bleiben angesichts der Ökonomisierungen und Machtmechanismen, die den Stadtraum bedrängen, tatsächlich Räume und Zeiten des Möglichen übrig, die sich der Instrumentalisierung entziehen? Heute, 40 Jahre nach dem Erscheinen von Kunst des Handelns kann man de Certeau insofern Recht geben, als dass die zunehmende Fragmentarisierung101 und Spaltung102 der Stadt, die Auflösung in unterschiedlichste Szenen, Sozialisationsmilieus, Arbeitsteilung, soziale Latenzen in Kleingruppen und dergleichen von der konjunktiven Logik der Planung her weder verstanden noch bespielt werden kann. Die Praktiken der Aneignung spielen sich längst in einem Disjunktionsgrad ab, von dem die herkömmlichen Instrumente der Planung nichts wissen können. Insofern ist die Praktik des Gebrauchs von Stadt »in Wirklichkeit die Rückkehr einer sozio-politischen Ethik in ein ökonomisches System.«103 Eine Untersuchung der Alltagspraktiken scheint das Bereitstellen von Optionen also deshalb erfüllen zu können, weil sie von denjenigen »alltäglichen Auseinandersetzungen befreit ist, in denen es untersagt ist, sein Spiel offenzulegen und deren Einsätze, Regeln und Spielzüge von zu großer Komplexität sind.«104 Das hieße nach de Certeau, dass die »Explikation immer umgekehrt proportional zum praktischen Engagement«105 stünde. Wäre aktuelles Arbeiten an und mit Raum jedoch nicht auf eine gegenläufige Bewegung zu richten? Auf eine Praxis, die versucht die Explikationsmaschine in Gang zu bringen und in neue Umgangsweisen mit gestalterischen Fragen zu integrieren?106 Ist dann die von de Certeau aufgestellte Dichotomie zwischen Strategie
100 Ebd. 101 Häußermann, Hartmut/Läpple, Dieter/Siebel, Walter: Stadtpolitik. Frankfurt a.M. 2007 102 Michel, Boris: Stadt und Gouvernementalität. Münster 2005; Reutlinger, Christian: »Die Notwendigkeit einer neuen Empirie der Aneignung«, in: Deinet/Reutlinger (Hg.): Aneignung als Bildungskonzept der Sozialpädagogik 103 De Certeau: Die Kunst des Handelns, S. 64 104 Ebd., S. 66 105 Ebd. 106 Beispiele solcher Praxis finden sich u.a. in der Arbeit der Büros OMA/Rem Koolhaas, Bow Wow, Lacaton & Vassal oder Bernd Kniess.
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(die Starken mit Übersicht) und Taktik (die Schwachen ohne Übersicht) überhaupt noch zielführend? Und ist die Gegenüberstellung der Konzept-Stadt des welche »Raumplaner, Stadtplaner oder Kartographen«107 die sich als »VoyeurGott«108 inszenieren, »durch eine Projektion erzeugen«109 und der TatsacheStadt der »gewöhnlichen Benutzer«110 heute noch so haltbar? Das urbane Gehen spielt mit der Raumordnung des Städtebaus, es ist ihm weder fremd noch konform. Seine Bewegung erzeugt Zweideutigkeit. Verortet im Zwischenraum des Liminalen111 charakterisieren seine Figuren eine Symbolik des Unbewussten.112 Statt mit einem vollständigen, kausalen und ununterbrochenen System Stadt konfrontiert mich das Unbewusste des Raumgebrauchs mit seinen mitunter traumatischen Unterbrechungen. Die die Stadt organisierenden performativen Praktiken bilden ihre eigene Geschichte, jenseits von Urbanismus und Stadtplanung. Eine Geschichte, die sich in »Bruchstücken von Bewegungsbahnen und in räumlichen Veränderungen formiert: im Verhältnis zu dem, wie es sich darstellt, bleibt diese Geschichte alltäglich, unbestimmt und anders.«113 Dieses Insistieren jenseits normativen städtebaulichen Funktionierens ist keine andere positive Entität. Sie macht überhaupt erst möglich, dass es ein Funktionieren gibt. Sie ist wie eine Lücke strukturiert, die unaufhörlich auf ihre Wirklichkeit pocht. Und berührt diese Lücke nicht auch zutiefst die Frage, wie die Geschichte des Gebrauchs von Raum zu lesen und darzustellen ist?
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De Certeau: Die Kunst des Handelns, S. 181 Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 194 Ebd., S. 197 Ebd., S. 182
3 Geschichtliche Situiertheit des Raums Henri Lefebvre
Während Martina Löw auf die Dualität von Handlung und Struktur abhebt, versucht de Certeau die vom Urbanismus vernachlässigten Taktiken und Praktiken des Alltags in den Vordergrund zu rücken. Wo in diesen Überlegungen die These mitschwingt, dass Raum nicht mehr als Objekt, sondern als Handlungsverlauf zu interpretieren ist, so bleibt die Sicht auf das Wechselverhältnis von Raum und Handlung noch unscharf. An dieser Stelle kann es hilfreich sein, an die Raumkonzeption Henri Lefebvres anzuknüpfen. Dessen umfassende Theorie bestimmt Raum als sozial produziert. In die Produktion des Raums spielen objekthaften Ebenen des Produziert-Seins wie ökonomische Ordnungen des Tausches, Verkaufes und Kaufes von Raum ebenso hinein, wie poietische und phänomenologische Momente, Sinne, Bewegungen, Interaktionen mit Handelnden und Materialien. Man sollte an dieser Stelle Lefebvres Terminologie der Produktion des Raums vor allem als Handlungstheorie begreifen. Jede Reduktion seiner Theorie auf eine marxistische Soziologie1 verkennt, dass Lefebvres Konzeption nicht nur auf Marx’ Analyse der Produktionsprozesse fußt. Sie stellt überdies Fragen zum Produktionsbegriff, die sich an Hegel, Nietzsche oder Heidegger orientieren.2 Im Rahmen der Verknüpfung von sozialkritischer Bestandsaufnahme und historischer Analyse unternimmt Lefebvre den Versuch, Stadt neu zu denken. Er zeigt sich dabei nicht nur als scharfsichtiger Beobachter der ihn umgebenden Entwicklungen. Seine Diagnosen haben auch deshalb über seine Zeit hinaus Bestand, weil sie die historischen Bedingungen jeweiliger Epochen mit einbeziehen. Das Auseinanderklaffen städtebaulicher Planungen und urbaner 1 2
Ein Beispiel dieser Verkürzung in: Löw/Steets/Stoetzer: Einführung in die Stadt- und Raumsoziologie Vgl. hierzu: Dell, Christopher: Das Urbane. Berlin 2014
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Wirklichkeit, der von Urbanisierungsprozess und Stadtumbau hervorgerufene Exodus von Großteilen der Bevölkerung aus den Innenstädten in die Vorstädte und damit einhergehend die Abnahme sozialer Beziehungen in den alten Stadtzentren im Europa der Nachkriegszeit – gegen all das erhebt Lefebvre vehement Einspruch. Er antwortet damit auch auf die ideologische Wirkmacht eines rationalistischen Urbanismus, der sich im 20. Jahrhundert sowohl in Form des funktionalistischen Städtebaus als auch dessen strukturalistischen Nachfolgern zur Rettung der Stadt in Szene setzt. Lefebvres Schriften sind jedoch mehr als ein Kommentar zum Scheitern des Urbanismus. Sie sind pointierte Schulen des politischen Stadtdenkens, gerade weil an ihrem Anfang kein Ansatz, keine Theorie, steht, sondern ein Problembestand: Die »Krise der Stadt.« Während die »Stadt selbst durch Wirtschaft explodiert«, zeigen sich die Städte als amorphe Konglomerate, deren Form unklar geworden ist, und die sich nicht mehr in der alten Weise beschreiben lassen. Es »zerfällt das Phänomen Stadt, indem es sich entfaltet.«3 Lefebvre beobachtet ferner, wie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein neues Bewusstsein für die Stadt und deren Konflikte jenseits des Urbanismus entsteht. Beredtes Zeugnis davon legen etwa die in den 1960er Jahren entflammenden städtischen Unruhen von Watts, Berkeley oder Paris ab. Als eine der wichtigsten Denkfiguren Lefebvres kristallisiert sich an dieser Beobachtung der Aufstieg einer »urbanen Strategie« heraus, »die bereits in Bewegung und in Aktion ist.«4 Weit entfernt, vom Elfenbeinturm der Wissenschaft aus, die Konzeptionen und Aktivitäten des Urbanismus kritisch zu kommentieren, mischt sich Lefebvre in öffentliche Debatten ein, um »diese Problematiken in das Bewusstsein zu rufen und in die politischen Programme einzuführen.«5 Lefebvres Schrift Droit a la Ville aus dem Jahr 1967 stellt eine Art Prolegomena, eine erste Vorformulierung der begrifflichen Arbeit zur Frage der Urbanisation und Raumproduktion dar. Sie lässt sich, gemeinsam mit dem Folgeband Espace et politique, als wesentlicher Stützpfeiler seiner disziplinübergreifenden Theoretisierung von Stadt verstehen. In Droit à la Ville arbeitet Lefebvre zum ersten Mal die für ihn stadttheoretisch entscheidenden und in Revolution urbaine und Production de l’espace vertieften Begriffsfelder heraus: erstens die, im erweiterten Sinne, ›poietische‹ Produktion (von Stadt als Werk), zweitens die ›urbane Gesellschaft‹ und drittens die »Praxis des Wohnens«. Lefebvre macht 3 4 5
Lefebvre, Henri: Metaphilosophie. Frankfurt a.M. 1975, S. 123 Lefebvre, Henri: Le Droit à la Ville. Paris 1967, S. XVIII Ebd.
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deutlich, dass es ihm mit dem Recht auf Stadt um mehr geht als um ein Einklagen eines Zugangs zur und Teilhabe an der Stadt. Vielmehr zeigt er scharf umrissen auf, wie am Thema des »Bedürfnisses«, des »Interesses« der Stadtbürger am Recht auf Stadt die »urbane Gesellschaft« selbst heute bestimmt werden kann und darüber hinaus, welchen methodischen Weg man einzuschlagen hat, will man diese Untersuchung bewerkstelligen: Soziale Konstitution von Raum in jeweiligen geschichtlichen Konstellationen wird vor allem durch eine spezifische Theorie der Praxis beschreibbar. In geschichtlicher Hinsicht besagt Lefebvres Theorie, dass jede Gesellschaft den ihr eigenen Raum (mit ihrer eigenen Raumpraxis) produziert. In diesem Sinn ist Raum weder neutraler Behälter noch vorgängig Gegebenes, sondern setzt sich aus seiner jeweils eigenen Genese, seiner Form, mit ihren spezifischen Zeiten, zusammen. Dass bedeutet auch, dass jede gesellschaftliche Produktionsweise (mode de production) mit spezifischen ihr jeweils eigenen Produktionsverhältnissen (rapports de production) ebenso verbunden ist, wie mit Formen der räumlichen Organisation.6 In diesem Zusammenhang ist raumtheoretisch ausschlaggebend, dass der Produktionsbegriff erlaubt, die politisch-gesellschaftliche Dimension des Handelns zu fassen. Raum entsteht in Bezugnahme auf die materielle gesellschaftliche Praxis als konkret produzierte gesellschaftliche Wirklichkeit, die im Kontext spezifischer historischer Produktionsverhältnisse bzw. -bedingungen verortet ist. Angesichts dessen lässt sich Raum weder als (materielles) Objekt noch als reine Idee beschreiben, weder als bloße Gegebenheit, äußerliche ›Natur‹ noch als reine kulturelle Konstruktionsleistung. Indes, der Einwand, Lefebvre gelange nicht zu einem »positiven Entwurf«7 , weil er Raum vor allem ex negativo (kein Container, kein Ding, nicht homogen, nicht neutral etc.) definiere, lässt sich entkräften. Man muss nämlich in Betracht ziehen, dass Lefebvre der kontemplativen, metaphysischen Betrachtung des Objekts Raum eine kritische aber auch bejahende Analyse der produktiven Tätigkeit des Raumhandelns entgegensetzt. Analog zu Michel de Certeau sieht Lefebvre das Alltagsleben als entscheidenden Ort der Untersuchung von Raum und als ergiebigen Quell des Erhebens von Raumdaten. Lefebvre prognostiziert, dass die entscheidenden gesellschaftlichen Veränderungen zukünftig nicht mehr durch teleologisch ausgerichtete Revolutionen, sondern durch Mikrotransformationen im alltäglichen 6 7
Lefebvre, Henri: »Die Produktion des Raums« [orig. 1974], in: Dünne/Günzel: Raumtheorie, S. 330 – 342, S. 331 Löw et al.: Einführung, S. 54
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Handeln geschehen werden. Die schlechte Nachricht ist, dass für das Alltägliche noch jedwedes kritische Bewusstsein fehlt. In Kritik des Alltagslebens stellt Lefebvre fest: »Viele Menschen, ja die Menschen im Allgemeinen wissen nicht wirklich wie sie leben oder sie wissen es nur ungenügend.«8 Die Erkenntnistheorie war hier keine Hilfe. Sie hat das Alltägliche vernachlässigt, hat es als common sense vorausgesetzt. Wie also das Alltagsleben auslegen? »Betrachten wir […] die Stadt, so merken wir rasch, wie schwierig es ist, dieses eminente Werk der gesellschaftlichen Gruppen und der gesamten Gesellschaft zu verstehen.«9 Heißt das, dass Raum nicht an die Logik geometrischer Form gebunden ist? Nein. Raum ist nur nicht allein aus dieser Logik heraus zu verstehen. Um der Komplexität der Sachlage gerecht zu werden, führt Lefebvre den Begriff des »differentiellen Raums« ein. Gemäß dieser Lesart gehen Unterschiede (stadt-)räumlicher Arrangements aus dem hervor, was sich als Stadt ereignet, als Nutzung emergiert und an Kontrasten ausbildet: »Gibt es hier im Städtischen ›Formen‹ im plastischen (nicht im logischen) Sinn, Silhouetten auf dunklem Grund, denen vergleichbar, die sich vom Hintergrund der Natur abheben und die Dunkelheit dieses Hintergrundes deutlich machen? Nein. Überfluss, Gewimmel, alles ist hier verdeutlicht. Die herbeigerufenen, angerufenen Elemente finden sich zusammen. Alles ist lesbar. Der städtische Raum gibt vor, transparent zu sein. Alles hat Symbolwert, auch wenn die Symbole zuweilen ›fließen‹; alles steht zur ›reinen‹ Form in Beziehung, ist Inhalt dieser Form und in ihr enthalten. […] Aber man (die Subjekte als Individuen oder Kollektiva, die ebenfalls in/aus der urbanen Wirklichkeit stammen und sich hier aus demselben Grunde sammeln wie die Dinge) stellt fest, dass diese Transparenz täuscht und trügt.«10 Aus den differentiellen Vektoren urbaner Akteure und deren agonaler Konflikte formt sich Raum in unterschiedlichen Gefügen aus, bildet Zentren, Kulminationspunkte, Gleichzeitigkeiten, Qualitäten, Eigenschaften. Alle soziale Realität ist räumlich. Mit Stadt und gebauter Umwelt zeigen sich nun jedoch Formen von Werken, der keine eindeutige hermeneutische Zuschreibung zugewiesen werden kann.
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Lefebvre, Henri: Kritik des Alltagslebens. Frankfurt a.M. 1975, S. 105 Ebd. S. 143 Lefebvre, Henri: Die Revolution der Städte. Dresden 2003 [orig. 1972], S. 129
3 Geschichtliche Situiertheit des Raums
Lefebvres Definition von Raum als Produziertes und der Einbezug der geschichtlichen Situiertheit des Raums wie auch des Wissens über Raum erzeugt einen shift in der Verortung von Handlung. Er besteht in dem Wechsel von der Beschreibung des Raums als Raum der Produktion hin zu der Beschreibung des Raums als Produktion von Raum. Es gibt dann weder Dinge im Raum oder einen leeren Raum, sondern ein Interstitium, ein Zwischen, welches sich im intersubjektiven Austausch und Transfer neu produziert. Das bedeutet weiterhin, dass Marx’ Auffassung zum Verhältnis von Produktion und Produkt neu zu denken ist. Im Vordergrund steht nicht mehr das Produkt, aber das Verfahren des Produzierens: »In der Verwebung von Produzierendem und Produziertem unter Einfluss der Interaktion der am Produktionsprozess teilnehmenden Körper entsteht ein komplexes dynamisches, improvisatorisches Feld. Wobei wir in Betracht ziehen müssen, dass die Bedingungen des Produktionsfeldes und dessen ständige, mitunter plötzliche Modifikation aus der Feldstruktur selbst generiert werden. Die Struktur des Feldes ist somit immer an die Positionen der Körper im sozialen Raum gekoppelt. Eine hybride, multimaßstäbliche Architektur des Intersubjektiven entsteht, deren Referenzsystem sich aus dem Spiel zwischen Körperwahrnehmung und konstruktiven Entwurf ableitet. Das Experimentieren wird zum unverzichtbaren Bestandteil der Produktion und das Verfahren der Arbeit bildet den eigentlichen Horizont des Diskurses.«11 Bedeutet dies, dass es keine Produkte mehr gibt oder dass das Produkt nicht mehr wichtig sei? Im Gegenteil. Worum es stattdessen geht ist ein Paradigmenwechsel im Definieren von Produkten und deren Raum: »Gefragt ist eine klare Unterscheidung zwischen einer imaginierten Wissenschaft des Raumes auf der einen und realem Wissen über die Produktion von Raum auf der anderen Seite. Solch ein Wissen, im Kontrast zu der Fragmentierung, Interpretation und Repräsentation einer ›sogenannten‹ Wissenschaft des Raumes, wird vor allem Eines wieder entdecken: die Zeit (und zu allererst die Zeit der Produktion) in und durch Raum.«12 Was die Rede von der Raumproduktion zur Geltung bringt ist also, dass jede Art und Epoche gesellschaftlicher Organisation einen eigenen spezifischen 11 12
Dell, Christopher: Prinzip Improvisation. Köln 2002 Lefebvre, Henri: The Production of Space. Oxford 1991, S. 91 (Übers. d. Autors)
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Lebensraum erzeugt. Dieser steht in direktem Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, die der jeweiligen Organisationsform eigen sind. Gesellschaft materialisiert sich nicht nur in gebauter Umwelt, »indem sie einen Raum gemäß ihrer eigenen Natur produziert, sondern reproduziert sich auf diese Weise auch selbst.«13 Es entfaltet sich eine Dialektik des Raumes, die Raum sowohl als Medium gesellschaftlicher Verhältnisse wie auch als Produkt, das als Produziertes Gesellschaft verändern kann, hervorbringt. Das bedeutet auch: Raum ist politisch. Er wird durch gesellschaftliche Kräfte hergestellt. Wenn sich die soziale Realität einer Gesellschaft wandelt, verändern sich auch die Produktionsaktivitäten und die Formen dieser Aktivitäten. Und umgekehrt: »die städtische Wirklichkeit ist nicht nur an den Konsum gebunden, an den ›tertiären‹ Sektor, an das Verteilernetz. Sie beeinflusst Produktion und Produktionsverhältnisse.«14 Untersuchungen der städtischen Wirklichkeit, die sich auf die Ebene der Beschreibung vermeintlich objektiver Tatsachen beschränken statt nach dem Subjektivierungsfeld der Interessen Bedürfnissen, Vektoren, Konflikten zu fragen, sind Ideologie.15 Mit anderen Worten: Raumanalyse kann nicht bei der Phänomenologie stehen bleiben. Sie muss zur Untersuchung der gesellschaftlichen Produktionsbedingungen des Raums fortschreiten.16 Es gehört zum Grundbestand von Gesellschaft, von Krisen gekennzeichnet zu sein – ökonomische Krisen, ökologische Krisen, Krisen der Kunst, der Literatur, der Jugend etc. Aus dieser Gemengelage hebt Lefebvre eine Krise als die wichtigste heraus: »die Krise der urbanen Realität.«17 Lefebvre sieht diese Krise als spezifische Konsequenz einer gesellschaftlich-historischen Entwicklung, die er in drei Epochen unterteilt: die ländliche, die industrielle und die urbane Epoche. Aus diesen Epochen lassen sich nicht nur einander überlagernde Schichten von Fakten und Phänomenen ablesen, sondern auch Denk-, Handlungs- und Lebensweisen. Weit entfernt linear oder schnittklar zu verlaufen, führen die Übergänge von der Agrar- zur Industriegesellschaft hin zur urbanen Gesellschaft zu »Abstufungen, Entwicklungen, die je nachdem, ihrer
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Gottdiener, Mark: »Ein Marx für unsere Zeit: Henri Lefebvre und die Produktion des Raumes.«, in: Anarchitektur (Hg.): Material zu: Lefebvre. Die Produktion des Raumes. Berlin 2022 Lefebvre: Die Revolution der Städte, S. 68 Ebd. Ebd. Lefebvre, Henri: Espace et politique: le droit à la ville II. Paris 2000, S. 71
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Zeit voraus sind oder ihr nachhinken und alle möglichen Unausgeglichenheiten mit sich bringen.«18 Man sollte hier Dünne und Günzel widersprechen, die Lefebvre ein teleologisches Geschichtsverständnis unterstellen.19 Im Gegenteil versteht Lefebvre die Krise der Stadt vielmehr als Möglichkeit. Gerade weil Stadt weder homogen noch formal abgeschlossen ist, gerade weil in ihr unterschiedlichste Vektoren als Interessen, Bedürfnisse, Subjektivitäten, Motive und Akteure am Werk sind, wirkt ihre Realität produktiv: Stadt als urbane Form versammelt ihre Elemente immer neu. Am besten ist diese Konturierung der Krise wohl in Metaphilosophie gefasst. Dort erläutert Lefebvre die »Krise der Stadt« im umfassenden Sinn: Die Städte und Agrarstädte sind an die Stelle der Dörfer getreten, um auf »Folklore und touristische Attraktionen« reduziert zu werden. Während sich gleichzeitig die Städte als »gewaltige Konglomerate, die keinerlei Form mehr haben« offenbaren, »zerfällt das Phänomen Stadt, indem es sich entfaltet«.20
3.1 Perzeption/Konzeption/Projektion: Wahrgenommener, konzipierter und gelebter Raum Die Bestimmung von Raum als sozial produziert bringt die gewohnte Zweiteilung von objektivem und subjektivem Raum ins Wanken. Statt mit der beruhigenden Idee des Raums als Container, in dem man Dinge verteilt und anordnet und der einem poietischen Geflecht sensueller Erfahrung entspringt, hat man es vielmehr mit einem Exzess zu tun, mit einem Kern des Urbanen, dessen Rolle widersprüchlich ist. Paradoxerweise verweist das, was man die Universalisierung des Städtischen nennen kann, auf die radikale Unbestimmtheit jeglicher subjektiven oder objektiven Position. In der verstädterten Gesellschaft erodieren feste Muster, Regeln müssen stets neu ausgehandelt werden. Die permanente Krise der Stadt, die am deutlichsten in der Auflösung der Unterschiede zwischen Arbeiten, Wohnen und Leben hervortreten, macht das Leben selbst zu einem Gegenstand der Stadt, der nicht mehr in die gängigen, objektivierenden Stadtplanungsprozesse passen will. Welche Kategorien können stattdessen greifen? Man ist hier mit folgendem Dilemma konfrontiert: Einerseits gestattet es die traditionelle Dicho18 19 20
Lefebvre: Die Revolution der Städte, S. 43 Dünne/Günzel: Raumtheorie, S. 338 Lefebvre: Metaphilosophie, S. 123
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tomie von Subjekt und Objekt nicht, Raum als praktizierte Seinsform zu beschreiben, die in einem erweiterten Produktionsprozess irgendwie ganzheitlich entsteht bzw. geschieht. Andererseits resultiert aus dem Verzicht auf diese Dichotomie eine epistemologische Unschärfe. Um diesem Dilemma zu begegnen, unternimmt Lefebvre eine Verschiebung, in dem er Raum in spezifische Kategorienfelder auffächert. Das soll erlauben, Raum sowohl in seinem Bezug auf Taktilität und Materialität wie auch als vorgestelltes Konzept und als Träger alltäglichen Lebens zu ordnen. Von diesem Verfahren rührt jene berühmte Trias her, die den Dreh- und Angelpunkt von Lefebvres Raumtheorie bildet. Sie beinhaltet folgende Kategorien: erstens die räumlichen Praktiken (espace reçu, wahrgenommener Raum), zweitens die Repräsentationen von Räumen (espace conçu, konzipierter Raum) und drittens die Räume für Repräsentation (espace vécu, gelebter Raum). Lefebvres Matrix beschreibt Raum als komplexes Relationsgefüge, das sich aus der Reproduktion und den überlagernden Ebenen der Bewegungen von Leben, Arbeitskraft, Vorstellungen und sozialen Produktionsverhältnissen zusammensetzt. Ich zoome im Folgenden genauer auf die Kategorien ein und beginne mit dem, was bei Lefebvre »Räume spatialer Praxis« heißt. Die Räume spatialer Praxis entfalten sich aus der Wahrnehmung der raumproduzierenden Subjekte innerhalb des Horizonts ihrer gesellschaftlichen Situiertheit. In organisationaler Hinsicht operiert die spatiale Praxis mit der Doppelbewegung von Raumsetzung und Raumvoraussetzung. Sie eignet sich Raum an und produziert ihn kontinuierlich mit, sie macht Raum relational und trennt ihn gleichzeitig, das heißt sie verknüpft die unterschiedlichen und sich ausdifferenzierenden Gebrauchsweisen von Raum und Zeit. In die Rede von der Gebrauchsweise geht ein, dass derlei Doppelbewegung sowohl im Register des wahrgenommenen Raums, der alltäglichen Wirklichkeit wie auch im Register jener urbanen Wirklichkeit sich positioniert, die die Orte der Alltäglichkeit (des Wohnens, Lebens, Arbeitens), mithin der ›Nutzung‹ des Urbanen, verbindet.21 Genau dort, wo Produktion und Reproduktion des materiellen Lebens formend auf die räumliche Praktiken wirken, spielt sich der wahrnehmbare Raum ab – tastbar, messbar, erfahrbar. Die in die spatiale Praxis eingewobenen Ebenen von Kompetenz (was ich zu tun vermag) und Performanz (was ich tue) lassen sich nur durch Empirie erfassen. Worauf sich eine Analyse der räumlichen Praktiken also richtet, ist wie Handlungsweisen von Akteuren in Prozessen und Strukturen (zum Beispiel in der Organisation 21
Lefebvre, Henri: La production de l’espace. Paris 1974, S. 48
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von Produktionsprozessen oder der Nutzung von freier Zeit oder im Konsum) ihren räumlichen Niederschlag finden. Demgegenüber beinhalten »Repräsentationen von Raum« die Konstruktion von Raum als Erdachtes. Raumrepräsentationen sind der Raum der Logik und der Euklidik. Sie handeln nicht von erfahrbaren Räumen, sondern von Ideen und Bildern von Raum. Wie sie der Setzung eines externalisierten bzw. externalisierenden Raumes der Vernunft und der reinen Abstraktion entstammen, tendieren die Raumkonzeptionen »zu einem System verbaler, also verstandesmäßig geformter Zeichen.«22 Einerseits speichern Raumrepräsentationen spezifisches Wissen, das sich stets relativiert und verändert. Andererseits berichten Repräsentationen von Raum von der Art und Weise, wie Raum als Konzept systematisiert und berechenbar gemacht wird. Sie sind der Ort der Produktion, Speicherung und Vermittlung von Wissen über Raum. Solcher espace conçu ist der Raum des Städtebaus. Das erklärt, warum urbanistische Disziplinen traditionell darauf gerichtet sind, räumliche Praktiken und gelebte Räume auf Repräsentationen (im Sinn von Vorstellung und/oder Darstellung) zurückzuführen. Ihr Ziel ist die Reduktion des Städtischen aufs Planbare, das ist die Ordnung und Beherrschung der urbanen Wirklichkeit als Form. Derlei Konzeption von Raum erweist sich immer auch als Physik der Macht: Sie erlegt den Nutzern, den städtischen Strukturen, Formen und Funktionen auf. Ihr entspringen jene wirkmächtigen städtebaulichen Ismen des 20. Jahrhunderts wie Strukturalismus, Funktionalismus oder Formalismus. Sich als konzeptionelle Extremformen der Moderne artikulierend, erheben sie die von den Ismen forcierten Parameter (Form, Struktur oder Funktion) zur jeweiligen Primärordnung, um sie auf den Raum zu projizieren. Die hier betriebene Fetischisierung des Raums gründet in einer libidinösen Ökonomie der kapitalistischen Produktion von Raum. Das widersprüchliche Merkmal der raumfetischisierenden Triebstruktur des Städtebaus besteht darin, dass sie die Bedürfnisse, die sie zu befriedigen vorgibt, überhaupt erst erzeugt. In epistemologischer und politischer Hinsicht ist ihr Telos auf den antiseptischen Raum gerichtet: Am modernen Städtebau soll der städtische Raum sauber, geordnet und transparent werden. Von dieser Raumideologie her rühren jene berühmten Leitbilder wie das »Neue Bauen«, die »autogerechte Stadt« die »aufgelockerte und gegliederte Stadt«, die immer »reiner« sein müssen als das Reale. Motor dieser Leitbilder ist die städtebauliche Moderne selbst, die sich beim
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rasanten Wechsel der Ismen innerhalb der Kontinuität der Unhintergehbarkeit neuer kategorialer Perspektiven bewegt. All ihre Ismen beziehen sich nicht nur auf die Erforschung neuer Materialien, sondern auch auf die radikale Ausschöpfung ästhetisch-technischer Mittel. Indes, ihr noch heute gültiger Mehrwert besteht in dem Reservoir, das die städtebauliche Moderne für eine ästhetische Reflexion ausgebildet hat. Man sollte im Gedächtnis behalten, dass auf den Befund einer Produziertheit von Raum nur stößt, wer als diagnostisches Instrument Ästhetik und Technik zusammenfallen lässt, das heißt Ästhetik als integrales Moment der Philosophie zum Maßstab macht und so Begriffe wie die des Nützlichen und Unnützen der Stadt neu in Bewegung bringt. Mit anderen Worten: In der Absicht, »was man tut, zustimmend oder verneinend nach Kategorien«23 einzurichten, präsentiert sich Lefebvres antimoderne Rede von der Raumproduktion endlich selbst als Kind der Moderne. Doch es gibt noch eine dritte Kategorie: »Repräsentationsräume« bilden jene kategoriale Folie, die sich aus dem alltäglich Gelebten speist. Lefebvre versieht Repräsentationsräume daher auch mit dem Etikett espace vecu, gelebter Raum.24 Das ist derjenige Raum, der zwischen Praxis und Konzeption vermittelnd wirkt. Man kann sagen, dass Repräsentationsräume dort »diagrammatisch« sind, wo ihre Vermittlungsfunktion durch Bilder und Symbole gesichert wird, ohne in einer geschlossenen Form der Repräsentationalität aufzugehen. Aus den Repräsentationsräumen entfaltet sich das Leben. Im gelebten Raum mischen sich das Imaginäre und das Symbolische. Der espace vecu »legt sich über den physischen Raum und benutzt seine Objekte symbolisch.«25 In diesem Sinn stehen Repräsentationsräume für den Alltag, den Körper. Sie sprechen von Wünschen, Begierden, Bedürfnissen, Unterschieden, Festen, Intensitäten. Zum einen zeigt sich der gelebte Raum in symbolischer Hinsicht überladen mit Identität, Qualität und Bedeutung. Zum anderen ist er aber auch der Raum, in dem Dominanz sich ausprägt, Normen performativ produziert und reproduziert werden. Repräsentationsräume verorten sich nicht nur zwischen
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Adorno, Theodor W.: »Funktionalismus heute«, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 10. Frankfurt a.M. 1977, S. 375–395 Lefebvres Raumkategorien weisen hier Parallelen zu den wahrnehmungspsychologischen Konzeptionen von Dabobert Frey ebenso auf, wie zu Raumvorstellungen des Situationismus. Vgl. Frey, Dagobert: »Wesensbestimmung der Architektur« [orig. 1926], in: Kunstwissenschaftliche Grundfragen – Prolegomena zu einer Kunstphilosophie. Baden bei Wien 1946, S. 93–106; Dell, Christopher: Replaycity. Berlin 2011 Dünne/Günzel: Raumtheorie. S. 336
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wahrgenommenen und konzipierten Räumen, sie machen auch Gebrauch von beiden, mal offensichtlicher, mal weniger offensichtlich. Die analytische Aufteilung des Raums in die Kategorientrias des Wahrgenommenen, Erdachten und Gelebten erlaubt, Raumebenen sowohl isoliert als auch relational in Beziehung mit- und zueinander zu denken. Alle drei Ebenen spielen in die Geschichte der Raumproduktion hinein. Wo sie sich analytisch unterscheiden und isoliert betrachten lassen, so gehen sie nicht in einer Synthese auf. Man denke an die Betonung der Repräsentation des Raums in den Planungswissenschaften. Sie steht für die Konstitution eines epistemologischen Zentrums, das die Deutungshoheit über Raum einnehmen will. In ihrer ideologischen Überhöhung und ihrer Tendenz, die Bindung an die Räume der Repräsentation und die sozialen Praktiken der Raumproduktion zu verlieren und so in »Extrapolation-Reduktion« zu verharren, bezeugen die Repräsentationen des Raums vor allem die Planungsideologien der industriellen Epoche – sie verwandelt »die Ideologie […] einen Teilbegriff und eine relative Wahrheit ins Absolute.«26 Bekanntermaßen positioniert sich das phänomenologisch orientierte Denken als Antipode zum Städtebau. Phänomenologische Raumtheorien heben vor allem auf die Räume der Repräsentation ab, auf das, was ihnen als Unmittelbarkeit der Erfahrung gilt. Man kann nicht oft genug betonen, dass in diesem Zuge das gesellschaftlich Vermittelnde, die geschichtliche bzw. politische Form kapitalistisch produzierten Raums aus dem Blick gerät. Die Überspannung des Unmittelbaren, die doch wieder die Bedeutungen, die der Raum für die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen hat, unbeleuchtet lässt, vergrößert den Abstand von jenen Verhältnissen um so mehr, je mehr sie in der Folklore poietisch-historisierender Wirklichkeit aufgeht.27 Nehmen wir als Beispiel Gaston Bachelards Poetik des Raums.28 Dessen phänomenologische Beschreibungen erzählen von heimeligen, schützenden oder intimen Raumphysiognomien. Sprachgewaltig bringt Bachelard die Allegorien des Nests oder der Muschel als Archetypen räumlicher Geborgenheit in Stellung. Problematisch an dieser Betonung des Ursprünglichen ist, dass sie in der Ordnung eines Metaphernrausches aufgeht, der eher an die Teleologie ruraler Mythen gemahnt denn an die Kontingenz urbaner Situationen. Ähnliches
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Lefebvre, Henri: Das Alltagsleben in der modernen Welt, S. 137 Lefebvre: The Production of Space, S. 120 Bachelard: Poetik des Raums
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prononciert Heideggers phänomenologische Raumontologie in dem berühmten Text Bauen, Wohnen und Denken. Gewiss fördert Heidegger hier Erhellendes zum Thema Raum als Wohnpraxis zutage und klärt darüber auf, dass uns Raum kein Gegenüber ist. Es gibt keine vorgegebene Heimat. In Opposition zum Subjekt, das außerhalb der Welt ist und sich dann auf diese bezieht, setzt Heidegger das Wohnen als den praktischen Bezug zu den Sinnhorizonten der Verräumlichung menschlichen Daseins. Auf quasi-tautologischen Prämissen aufruhend, verharrt Heideggers Wohntheorie indes dort, wo sie Raum auf rurale Landschaften reduziert, in einem anti-urbanen Reflex. Zeitgenössische urbane Phänomene sind kein Gegenstand für Heideggers Denken. Darin liegt wohl auch ein Grund dafür, dass das gesellschaftlich Vermittelte seiner Wohntheorie fremd bleibt.29 Wie aber kann eine urbane Raum-Phänomenologie aussehen? Zunächst gilt es, die Behauptung einer reinen, neutralen Deskription aufzugeben und stattdessen die Geschichte der Produktion des Raums und deren historische Bedingungen zu berücksichtigen. Sollte man also Phänomenologie durch Soziologie ersetzen? Keineswegs. Die Lektion von Lefebvres Raumtrias lautet, dass die phänomenologisch-deskriptive Perspektive für die Analyse urbaner Situationen ebenso unentbehrlich ist wie die phänomenologische Technik der epoché. Was aber ausgewiesen werden muss, ist, dass sich Phänomenologie innerhalb der Trias räumliche Praxis, Repräsentationen von Räumen und Räume für Repräsentation auf erstere fokussiert. Die Suche nach einer praktischen Antwort auf diese Aufgabe führt uns zum Konzept des dérive zurück. Finden wir nicht das beste Beispiel in der von Edmund Husserl eingeführten Methode der epoché, die – nie ganz gelingende – vorurteilsfreie Hingabe an die Welt? Man hat es hier mit einer Meditationsübung der Wahrnehmungskonzentration zu tun, die die sensible und situative Erkundung räumlicher Situationsgefüge erlaubt. Vermittels der epoché kann Stadtforschung externalisierende Repräsentationen überwinden und, sei es durch Beobachtung, sei es durch Intervention oder beides, »in« den Raum, in die Mikrolokalität urbaner Situationen »hineinkommen«.30 Wie sollen wir also die radikale Vermittlung aller Produziertheit von Raum und den phänomenologischen Vorrang des körperlichen Raumwahrnehmens zusammendenken? Ich bin versucht die These zu wagen, dass die Lösung darin besteht, dass dieser Vorrang genau das Ergebnis einer radikalisierten Vermittlung ist. Man ist hier mit dem Kern des Widerstands des Ur29 30
Vgl. Lefebvre: The Production of Space, S. 121f. Vgl. Dell: Replaycity
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banen konfrontiert, den wir nicht unmittelbar erfahren können, sondern nur in der Mediation auf einen nicht-repräsentierbaren Bezugspunkt, aufgrund dessen jede Vermittlung immer nur Annäherung bleibt. Eine typische Kritik an Husserls epoché lautet, sie sei in sich inkonsistent. Vergeblich strebe sie eine Vorurteilsfreiheit an, die jedoch nie erreichbar sei. Das Postulat Vorurteilsaskese sei naiv, da Wahrnehmungsurteile stets gesellschaftlich vermittelt seien. Genau in diesem Sinn hat bekanntermaßen Adorno Husserls Phänomenologie als einen epistemologischen Fundamentalismus kritisiert, der Erkenntnis vom sozialen Kontext isoliert. Man sollte aber entgegnen: Die Pointe von Husserls epistemologischer Wahrnehmungstechnik besteht darin, dass sie die Position ihres eigenen Scheiterns mitdenkt. Was mit der epoché annonciert ist, ist nichts anderes, als dass der cartesianische Zweifel retroaktiv in die Lücke zwischen affirmativem und kritischem Denken eingeschoben wird. Man versucht den Gegenstand des Forschens zu fassen und scheitert, und eben durch dieses Scheitern wird der Ort des avisierten Bereichs eingekreist und seine Konturen zeichnen sich ab. Um die epoché angemessen würdigen und für die Raumforschung nutzbar machen zu können, muss man sie also als einen Meditationsprozesses begreifen, der die Position seines Wahrnehmens miteinbezieht. Wir finden hier erste Hinweise darauf, was die Stadtforschung mit der durch Lefebvre gewonnenen Raumtrias konkret anfangen kann. Nehmen wir ein Reglersystem an, das die Intensität und Dynamik der Raumdefinitionen steuert. Mit einer solchen Matrix ließe sich zeigen, dass, je nach gesellschaftlich-geschichtlicher Epoche, die Filter und Modulatoren der unterschiedlichen Raumkategorien verschieden stark hoch- oder heruntergefahren werden. Das zu sagen impliziert, dass die Funktionen, welche die spezifischen Räume zu verschiedenen Zeiten einnehmen, unterschiedlich sein können. Zudem kommt es zu Überlappungen. Als Beispiel dessen lässt sich die gesellschaftliche Dominanz der Repräsentationen von Raum (espace conçu) in der Phase der Industrialisierung anführen, die sich von einer cartesianischen, operationellen Anschauung von Raum durchdrungen zeigt. Zugleich bestehen innerhalb der Industrialisierung Raumpraktiken des agrikulturellen Bereichs fort. Allerdings verschieben sie sich bezüglich ihrer sozio-spatialen Bedeutung. Dem Mittelalter waren die Landwirtschaft und der gelebte Raum prägend. Die Städte bildeten nur Punkte im kleinteiligen Geflecht begrenzter Landschaften. Im späten Mittelalter steigen die Handelsstädte zu raumordnenden Motoren auf. Während im studiolo der urbanen Akademien an den Repräsentationen von Raum gearbeitet wird, durchzieht und verbindet die steigende Warenzirkulation immer größere Landschaften. Zu Zeiten der
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Industrialisierung hingegen rückt die Landwirtschaft in Kapitalprozesse ein. Die Fabrik bestimmt den Raum. Land wird Produkt. Mehr noch: Am Land lässt sich erproben, wie Territorium finanzökonomisch aufgeladen werden kann. Das Resultat dieser Experimente ist schließlich die Warenwerdung des städtischen Wohnens Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Repräsentation des Raums dominiert über den gelebten Raum. Um denselben Punkt aus heutiger Perspektive zu beleuchten: Die alltäglich gelebten Brüche, Diversifikationen und Patchwork-Identitäten bestimmen zunehmend den gelebten sozialen Raum der Stadt, ohne dass sich jedoch bereits eine gesellschaftlich konsensuierte Position, mithin eine Raumkonzeption, daraus entwickelt hätte. Im Licht dieser Beobachtungen wagt man nicht zu viel, wenn man behauptet, dass wir uns an einem Übergang eines neuen Rollentausches befinden: Repräsentative Räume (gelebte Räume) beginnen im Urbanen ausschlaggebend für produktive Aktivität zu werden. Nichts expliziert dies besser als die Explosion der Bodenpreise in den urbanen Zentren im Europa der 2010er Jahre. Seit den 1970er Jahren hatte die Stadt einen Exodus erfahren. Die Pendler zogen mit Pauschale aufs Land und befeuerten eine rasante Zersiedelung. Unterdessen zogen ab den 1990er Jahren jene Raumnutzenden in die Städte, die auf billigen Wohnraum und soziale Dichte aus waren. Darunter auch jene Kulturschaffenden, deren Hauptarbeit vor allem darin bestand, zu wohnen. In den 2010er Jahren, als der Bodenwert in den Städten Europas exponentiell anstieg, wurde allerdings offenbar, dass dieses Wohnen wertschöpfend sein kann. Das Paradox ist, dass die Künstler, ohne etwas – im industriellen Sinn – gearbeitet zu haben, den Stadtraum attraktiv machten. Besonders im Nachgang der Finanzkrise von 2008 zog diese Attraktivität einen run auf den städtischen Boden nach sich. Internationale Investoren stiegen in den Wohnungsmarkt ein und die Transaktionen stiegen exorbitant an.31 Die Spaltung zwischen Repräsentationsräumen, spatialer Praxis und Räumen der Repräsentation, die hieraus resultierte, besteht nicht nur in dem Skandal, dass die Raumnutzenden, die den Bodenwert schufen, nicht an der Abschöpfung seines Anstiegs beteiligt waren. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als in die Randbezirke der Stadt zu ziehen oder die Stadt
31
Vgl. u.a.: Dell, Christopher: Ware: Wohnen! Berlin 2013; Kockelkorn, Anne: »Financialized Berlin: The Monetary Transformation of Housing, Architecture and Polity«, in: Architectural Theory Review, Vol. 26, 1.2022; Metzger, Philipp P.: Die Finanzialisierung der deutschen Ökonomie am Beispiel des Wohnungsmarktes. Münster 2020; Urban, Florian: »Germany, Country of Tenants«, in: Built Environment 41, no. 2, 6.2015, S. 183–95
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zu verlassen. Der zweite Aspekt dieser Spaltung ist die Entwertung von Arbeit. Sie begleitet die räumliche Konvergenz der in der funktionalistischen Bauordnung einst getrennten Funktionen Arbeiten, Leben und Wohnen. Die beste Formel, die gezielte städtebauliche Anwendung von Lefebvres Trias zu charakterisieren stellt vielleicht Atelier Bow Wows Idee der Behaviorology dar. Anlässlich der Architektur Biennale Venedig im Jahr 2008 stellt das japanische Architekturbüro folgendes Diagramm vor:
Atelier Bow Wow: The Diagram of Behaviorology. 2008
Das Diagramm basiert auf The Spatial Production (Henri Lefebvre)
Mit dem Diagramm wollen Atelier Bow Wow auf eine ganz spezifische Erfahrung reagieren: Die Bedeutung des städtischen Raums hat sich durch spontan organisierte kollektive Kräfte verändert. Angesichts dessen entdecken Atelier Bow Wow – analog zu de Certeau – die Diskrepanz zwischen Form und Nutzung als einen der einfallsreichsten und wichtigsten Wege für ihr architektonisches Schaffen. Mit Lefebvre lesen sie den Raum, der zwischen architektonischer Form und Nutzung erscheint als spatiale Praxis. Atelier Bow Wow verstehen Lefebvre hier so: Spatiale Praxis wird eingeführt als das dritte Konzept im Prozess der Raumproduktion in einer Opposition zwischen zwei Konzepten, »Repräsentation des Raums«, besetzt durch die Raumgebrauchenden, und »Raum der Repräsentation«, besetzt durch Architektur und Städtebau. Atelier Bow Wow gehen im Anschluss davon aus, dass Lefebvres Verständnis
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von der Produktion des Raums diagrammatisch beschrieben werden kann. Die Graphik oben zeigt an, was Atelier Bow Wow als eine »Revolution der Dreiecksbeziehung zwischen diesen drei Konzepten von Raum«32 bezeichnen. Auf welche Weise das dreieckige Diagramm einen Deutungsrahmen zum Lesen der zeitgenössischen Stadt liefern kann, schildern Atelier Bow Wow am Beispiel der Barrikaden in Paris im Jahr 1968. Durch die Folie des Diagramms gesehen offenbaren sich die Unruhen von Paris als eine Passage von der »Repräsentation des Raums« zum »Raum der Repräsentation« durch die »Räumliche Praxis«, das heißt die Besetzung des öffentlichen Raums durch die Versammlung unterschiedlicher Raumgebrauchender. Atelier Bow Wow sind sich dessen bewusst, dass die Methodik ihres Diagramms das herkömmliche Selbstverständnis der Architektur unterminiert. Statt für den »Raum der Repräsentation« verantwortlich zu sein, übernimmt die Architektur jetzt die Rolle der Produktion von »lebendigem Raum«. An dieser Stelle führen Atelier Bow Wow die inzwischen berühmte neologistische Rede von der »architektonischen Verhaltenslogie« ein. Ihr Diktum lautet: Das Verhalten kann nicht nur durch den Gebrauch erklärt werden, und auch nicht nur durch die Form. Man sollte das Verhalten vielmehr zwischen Form und Gebrauch ansiedeln. Und in diesem Sinne korrespondiert das architektonische Verhalten taxonomisch mit Lefebvres Kategorie der räumlichen Praxis. Das beobachtete Spektrum des »architektonischen Verhaltens« in einem und um ein Gebäude ist breit gefächert und reicht von menschlichem Verhalten und physikalischen Phänomenen bis hin zu Gebäudetypologie und Auswirkungen auf die Umwelt. Die Methode der Architectural Bevaviorology besteht also darin, Architektur reizvoller zu machen indem diese verschiedenen Elemente zu einer kognitiven Synthese zusammengeführt werden. Wesentlich ist hier, dass das Beispiel zeigt, wie tief die Theorie in die architektonische Praxis hineinwirkt. Für den Fall von Atelier Bow Wow gilt dies bis hin zu der rezent von ihnen in Umlauf gebrachten Methode der Architectural Ethnography. Umgekehrt erhellt das Beispiel Atelier Bow Wow für die Theorie, wie sich Raum in der Trias von Perzeption (espace perçu), Konzeption (espace conçu) und Projektion (espace vécu) als dynamischer, nie abgeschlossener Prozess zeigt. Genau weil sie ›gemacht‹ sind, lassen sich die Ordnungen des Raums für Transformation öffnen. Raum ereignet sich sowohl materiell als auch 32
11. Mostra Internazionale Di Architettura, la Biennale Di Venezia (Hg.): Out There: Architecture Beyond Building. Participating countries, special and collateral events, Band 4. New York, Venice 2008, S. 11
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sozial, konkret und abstrakt, real und imaginär. Von dieser Erkenntnis her rührt erneut die Schlussfolgerung, dass es für den Städtebau zunehmend wichtig wird, sein Repertoire zu erweitern. Neben der Analyse der Formen und Funktionen gilt es, auch ein Verständnis dafür zu erarbeiten, wie sich der Prozess der Raumproduktion als offener strukturiert: welche Verknüpfungen zwischen Realem, Imaginärem und Symbolischen, dem Konkreten und Abstrakten bestehen und über welche strukturellen Eigenschaften und Verknüpfungen verfügen sie? Dass in die Raumproduktion nicht nur die lokale Ebene des Objekts und globale Ebene des Plans, sondern auch die Ebene des Dazwischen, der Vermittlung hineinspielen, hat Konsequenzen für die Raumrepräsentationen, die ja die eigentlich konkrete Domäne der Architektur und des Städtebaus konstituieren. Das bringt uns zurück zum Thema des Wandels in der Darstellungsstrategie. Gefragt ist die Wendung von einer repräsentationalen, transparenten Darstellung hin zu einer Darstellungsform, die durch konstruktiven Einbezug des Nicht-Repräsentationalen das Scheitern des Repräsentationalen in ihre Modi des Zeigens integriert.33 Dieser Übertritt soll der Tatsache Rechnung tragen, dass sich das Urbane als Topologie gelebter Räume entfaltet, innerhalb derer sich die Raumproduzierenden in neuen Lebens-Formen und Formen von Gemeinschaft verzahnen. Diese Prozesse erzeugen und enthalten Spuren der Perzeption (reçu), Konzeption (conçu) und Projektion (vécu) von Raum. Es sind diese Spuren, die der wesentliche Bestandteil und Gegenstand forschender und gestaltender Arbeit an und mit Raum sind.
3.2 Der konkrete Raum Doch es gibt noch weitere Kategorien, die Lefebvre in die Diskussion über Raum einführt. Ich beginne mit der Kategorie des konkreten Raums. Sie beschreibt einen Raum, der Kategorien des geometrischen, visuellen oder spezialisierten (geographisch, ökonomisch etc.) Raumes übersteigt.34 Der konkrete Raum konstituiert kein »pures« Objekt der Wissenschaft. Aus dem »gelebten« Raum hervorgehend, entbehrt er jeglicher Neutralität. Konkreter Raum erweist sich vielmehr als fundamental politisch: durchdrungen von unterschiedlichsten Interessen und Bewegungen. Daher verweigert sich der 33 34
Vgl. Dell: Stadt als offene Partitur Lefebvre: Espace et politique, S. 130
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konkrete Raum einem wissenschaftlich-fragmentarischen Zerschneiden in seine Einzelheiten. Wie aber kann man ihn bestimmen? Der konkrete Raum fundiert in dem Zusammenspiel dreier Maßstabsebenen. Auf der Mikroebene existieren das Private, die Produktionseinheiten und die Flächen des Konsums. Auf der Makroebene finden sich der globale Markt und die globalen Migrations- und Finanzströme. Zwischen diesen beiden Niveaus verorten sich die Städte und urbanen Zonen. Gerade im Hinblick auf die Stimulierung oder das Ausbremsen von Produktionsbeziehungen gewinnt die urbane Zone im Zusammenspiel der drei Ebenen historisch mehr und mehr an Gewicht: Die urbane Zone steigt zur gesellschaftlichen Ressource schlechthin auf. Sie bildet so ein zentrales Dispositiv für die Organisation von Gesellschaft in der Ausdifferenzierung, der Zusammenführung unterschiedlichster Elemente des Sozialen in der Produktion von Raum. Man sollte hier vier Raumhypothesen unterscheiden, vor deren Hintergrund der konkrete Raum verständlich wird. Die erste Hypothese definiert Raum als pure Form, als Transparenz und Intelligibilität. Raum gilt hier als Ausgangspunkt von zu verwirklichenden Ideen. Man stellt sich das so vor, dass Ideen aus einem neutralen Rationalraum der Vernunft außerhalb des Gelebten ins Gelebte hineinprojiziert und -projektiert werden. Diese Konzeption lässt es möglich erscheinen, das Chaos der Phänomene der Welt durch den intellektuell konzipierten Raum rational zu bändigen. Der Nachteil solcher Anschauung besteht allerdings in der Tendenz, geschichtliche Zeit, und somit auch den gelebten Raum, auszuklammern. Gegenläufig hierzu die zweite Hypothese. Sie nimmt an, dass Raum ein Produkt der Gesellschaft ist. Raum resultiert aus Arbeit und Arbeitsteilung: Er ist Ort der hergestellten Objekte, Ort der Funktion. Solch eine Hypothese erweist sich deshalb als dysfunktional, weil sie Raum auf einen deskriptiv zu behandelnden Punkt einer Objektivierung des Sozialen reduziert und so die in das Soziale eingelagerten Unbestimmtheiten übersieht. Die dritte Hypothese sucht einen Mittelweg und fokussiert auf Raum als Medium. Raum ist hier weder Ausgangspunkt (des Sozialen oder Mentalen) noch Endpunkt (als soziales Produkt oder Ort der Produkte), sondern Ort der Vermittlung. Solch medial orientierte Sichtweise auf Raum operiert gewissermaßen zwischen den ersten beiden Konzepten, zwischen dem Rationalen und dem Funktionalen. Laut der dritten Hypothese wirkt Raum als politisches Instrument: Seine Repräsentation dient immer einer politischen Strategie. Ihrerseits in der Rolle des strategisch Vermittelnden angesiedelt, gelingt der dritten Hypothese keine wirkliche Absetzbewegung zu den ersten beiden, mehr noch: Sie fällt hinter deren Dilemmata zurück. Je
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nach Perspektive sieht sie den Raum wahlweise als Ort außerhalb der Praxis oder als Ort der Verwirklichung sozialer Beziehungen. Als weiteres Problem zeigt sich, dass die dritte Hypothese Raum allein mit der Reproduktion der Produktionsmittel verknüpft. Heute jedoch stimmt die Reproduktion der Produktionsmittel nur noch selten mit denen der Produktionsbeziehungen überein.35 Aus dem Aufzeigen des Scheiterns der Hypothesen entwickelt Lefebvre schließlich den Vorschlag zur Konzeption des konkreten Raums. Insofern Raum hier als Ort der Mediation der Produktionsbeziehungen zu verstehen ist, vollzieht sich ein Wechsel von der ökonomistischen Ebene (Produkt, Konsum) hin zur Ebene der Relationalität von Raum. Man hat es mit den Beziehungen der Raumproduktion zu tun, die die Reproduktion der Arbeitskräfte einschließt. Die Produktion des konkreten Raums eröffnet einen Raum des Zwischen, einen liminal space, der zugleich abstrakt wie konkret, homogen wie unartikuliert ist. Insofern sich Raum von Objekten hin zu Beziehungen und Prozessen verschiebt, kommt der Zeit als Produktionsfaktor eine zunehmend entscheidende Rolle zu. Durch und mit Zeit organisiert sich die produktive Arbeit wie auch die Reproduktion der Produktionsbeziehungen im alltäglichen Leben. Zeit bedeutet auch: Handlung. Es existiert also eine Praxis, die die Elemente der Gesellschaft gerade in ihrer Dissoziation erhält. Diese Praxis wirkt als generatives Schema des Raums, welches an die Realität innerhalb der Grenzen der Gesellschaft gebunden ist.36 Aus dieser Blickrichtung zeigt sich Raum sowohl als soziales Produkt wie auch als Produkt der Geschichte.37 Indes, die Rede von der Raumproduktion meint hier nicht, dass sich das Urbane – gleichbedeutend mit der urbanisierten Gesellschaft – von der Theorie bereits als verwirklicht definieren lässt. In Aussicht steht allein ein »Ausblick, als aufklärende Virtualität.«38 Die Virtualität zeigt »das Mögliche« an,39 was indessen nicht intendiert, dass Theorie das Mögliche im Abstrakten, im Utopischen belässt. Abstraktion gilt vielmehr nur als wissenschaftliche Form der Vergegenwärtigung gesellschaftlichen Handelns: »die theoretische 35
36 37 38 39
Man denke an die seit den 1980er Jahren zu konstatierende Ökonomisierung des Sozialen, wie sie sich in der Überlagerung von Reproduktion und soziokulturellen Bereichen des Alltags äußert. Siehe hierzu ausführlich: Bröckling, Ulrich u.a. (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonimisierung des Sozialen. Frankfurt a.M. 2000 Lefebvre: Espace et politique, S. 43 Ebd., S. 53 Ebd., S. 30 Ebd.
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Erkenntnis kann und muss das Terrain und die Basis aufzeigen, auf denen sie beruht: ein soziales Geschehen, das noch im Fluss ist, eine urbane Praxis, die trotz aller Hindernisse im Entstehen ist.«40
3.3 Geschichte wird gemacht: Absoluter, abstrakter und differentieller Raum Wenn die Disziplinen Architektur, Stadtplanung oder Städtebau nach dem Raum fragen, dann fragen sie traditionell nach einem genau vermessenen Volumen, das, als formal Geschlossenes, neutral, hermetisch und konstitutiv aus der Rationalität der Einheit von logos und chosmos resultiert. Man sollte das methodische Prinzip beachten, das eine solche Sichtweise fundiert. Es besteht in der Annahme einer kohärenten Stabilität naturalisierter Ordnung, welche direkt mit der politischen Ordnung sozialen Lebens verknüpft ist. Gewiss kann Raum auf diese Weise als formgebender Ausdruck jener Machtverhältnisse gelesen werden, die zu einem bestimmten Zeitpunkt als »natürliche« Ordnung erscheinen. Was ein solches Vorgehen aber verhindert, ist die eigentliche Betrachtung von Raum als »Gemachtes«. Obwohl alle Bestandteile des Raums bis ins kleinste Detail adäquat katalogisiert werden, spürt der Städtebau dennoch, dass gerade an dieser Bemühung, der spezifischen Lage der Stadt gerecht zu werden, etwas unstimmig und frustrierend ist. Genau an diesem Punkt setzt Lefebvres geschichtlich orientierte Aufarbeitung der Raumepochen ein. Sie führt uns zu einer weiteren Kategorientrias. In dem Klassiker La production de l’espace schaltet Lefebvre der synchron orientierten Matrix perçu, conçu und vécu eine diachrone, geschichtliche Folie zu. Sie umreißt eine raumkategoriale Bewegung, die vom absoluten über den abstrakten bis hin zum differentiellen bzw. widersprüchlichen Raum reicht. Man kann sagen, dass diese transhistorische Kategorisierung Lefebvres vielleicht elementarsten aber auch am wenigsten beachteten Beitrag zur Raumtheorie vorstellt. Die Parameter espace perçu, espace conçu und espace vécu ermöglichen die strukturelle Durchsicht räumlicher Situationen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt gegeben sind. Dagegen zielt der kategoriale Dreischritt von absolutem, abstraktem und differentiellem Raum auf eine historisch informierte Unterscheidung von Raumkategorien selbst.
40
Ebd.
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Anhand der transhistorischen Trias spannt Lefebvre einen weiten Bogen der Raumgeschichte auf. Sie hebt mit der Epoche des absoluten Raums an. Der Sinnhorizont des absoluten Raums erschließt sich an der Erfindung des Konzeptes »Einheit« durch die Griechen. Verbunden mit der spatialen Praxis, gründet der absolute Raum in der politischen Stadt. Die Antike denkt Stadt eingebettet in den chosmos und den logos. Auch die geschichtlich darauffolgende Einführung der Differenz durch die Römer zeigt sich durch einen absoluten Raum bestimmt wie durch das Bild von Stadt als Welt. Die Vorstellung des absoluten Raums besteht fort in der ruralen Epoche um an deren Ende in der Renaissance der Stadt aufzugehen. Der Epoche des absoluten Raums gilt die Stadt als Werk. Das bedeutet in ökonomischer Hinsicht, dass die Stadtproduktion vom Gebrauchswert (als subjektive oder objektive Verwendbarkeit, über die materielle Güter hinsichtlich bestimmter Zwecke verfügen) bestimmt ist. Mit dem Aufstieg der industriellen Stadt erscheint die Epoche des abstrakten Raums. Wie sie das Erodieren und Fragmentieren der Stadt forciert, gilt der Ökonomie des abstrakten Raums der Tauschwert (der in Geld ausgedrückte Preis, den materielle Güter oder Arbeit in der Transaktion zwischen Verkäufer und Käufer realisieren) als leitend. Das heißt jedoch nicht, dass der absolute Raum aus dem Vorstellungsbild, das die industrielle Epoche von der Welt hat, verschwinden würde. Allein, die Rede vom absoluten Raum (als Ursprüngliches, Unmittelbares)41 verweist von nun an nur noch auf die Tendenz des Verschleierns der Tatsache, dass Ordnung »Ergebnis sedimentierter Verfahrensweisen ist, niemals Manifestation einer tieferen Objektivität, die sich von den Verfahrensweisen trennen ließe.«42 Schließlich der differentielle Raum. Er nimmt in der Epoche, die auf die Industrialisierung folgt, die vorgeordnete Stellung ein. Man hat es jetzt mit dem Raum der verstädterten Gesellschaft zu tun. Den absoluten und den abstrakten Raum in sich aufnehmend, treibt er die Verwirklichung und Versammlung unterschiedlichster Lebensentwürfe voran. Der differentielle Raum provoziert die offene Kollision zwischen Tausch- und Gebrauchswert. Um diesen Aspekt zu illustrieren, sollte man 41
42
Hier ist Lefebvres kategoriale Einordnung des »absoluten Raums« von dem physikalischen Terminus »absoluter Raum«, wie ihn beispielsweise Newton oder Kant (in seinen vorkritischen Schriften) verwendet, zu unterscheiden. (Vgl. Kant, Immanuel: »Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume«, in: ders.: Akademie Ausgabe. Vorkritische Schriften II: 1757–1777) »Absolut« meint bei Lefebvre vielmehr ›abgeschlossen, endlich, vollständig, von nichts anderem abhängig‹ analog zu dem Gegensatz von absolutum und relativus im Lateinischen. Mouffe, Chantal: Über das Politische. Frankfurt a.M. 2007, S. 27
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erneut auf die urbane Praxis des Wohnens verweisen. Sie bildet heute jenes stadträumliche Spannungsfeld, in dem die Dichotomie von Tausch- und Gebrauchswert (zum Beispiel in dem Wohn-Ding Immobilie, dem Wohn-Leben der wohnenden Körper und dem Immobilienmarkt) offen zu Tage tritt. Das pure In-der-Welt-sein, eigentlich eine menschliche Grundkonstante, wird in der Stadt zum unbezahlbaren Luxus, während in klimatischer Hinsicht die Bewohnbarkeit des Planeten Erde zunehmend erodiert. Innerhalb dessen materialisiert die Praxis des Wohnens soziale Produktionsverhältnisse ebenso wie sie sie überdeckt und verschleiert. Aus Lefebvres raumgeschichtlicher Betrachtung folgt der Schluss, dass wir Raumvorstellungen nicht mehr als universelle Kategorien betrachten können. Vielmehr wandeln sich Raumvorstellungen in der Geschichte, mit gesellschaftlichen Epochen und ihren jeweiligen Produktions- bzw. Reproduktionsverhältnissen. Raum ist weder substanzielle noch gedankliche Realität, aber Medium gesellschaftlicher Verhältnisse. Gleichwohl, die gebaute Umwelt – als Straße, Verkehrsnetz, Platz, Gebäude und Freiraum – zeigt ihre Relation zu den Raumproduzierenden, ihren Handlungen, Situationen und Bewegungen nicht unmittelbar auf. Das zu sagen heißt, sich gegen die Auffassung jener Planungswissenschaften zu wenden, in denen das physikalisch-idealisierende Raumbild dominiert. Innerhalb des abstrakten Raums der Industrialisierung funktionierte das reduktive Raumdenken. Man erinnere an die kapitalistische, koloniale und imperialistische Bodenpolitik des 19. Jahrhunderts. Für sie war es unter diesen Prämissen ein Leichtes, die objektorientierte Planungspraxis im Rahmen der industriellen Produktionsweise zu nutzen und zu absorbieren. Indes, dies gelang nicht ohne die eigene Unterminierung voranzutreiben. Es ist der abstrakte kapitalistische Raum selbst, der, wo er Homogenisierung forciert, gerade durch die Praxis der parzellierten und parzellierenden Eingliederung von Raumeinheiten in die Tauschzirkulation seine eigene Zersplitterung hervorbringt. Nirgendwo ist dieser Kontrast größer als im Wohnungsmarkt, einer Erfindung des 19. Jahrhunderts. Praktiken des abstrakten Raums betreiben die Auflösung des städtischen Territoriums in kleine Einheiten, die sich nach den Mechanismen der Grundrente und der Spekulation so teuer wie möglich verkaufen lassen. Die Grundrente drückt ihrerseits ein spezifisches gesellschaftliches Verhältnis aus: das Eigentum. Umgekehrt erfährt Eigentum an Boden Kapitalisierung erst durch Grundrente. Man hat es hier mit einer zirkulären Logik zu tun: Die Zuwendung, die eine Person oder ein Unternehmen aufgrund von Rechtsansprüchen in Bezug auf Grund und Boden erhält, produziert ein auf dem Rechtstitel »Ei-
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gentum an Grund« basierendes Einkommen. Der Bodenpreis konstituiert jene kapitalisierte Grundrente, die sich aus der möglichen Höhe der Rente speist und nach der maximalen ökonomischen Ausnutzung von Boden strebt. Das Differential dieser Gleichung, die als Motor immer neuer Boden- und Kapitalakkumulationen und Wohnraumkonflikte gelten kann, formt sich aus der Relation zwischen Standort, Nutzungsart, Nachfrage und dem lagespezifischen gegebenen Angebot an Immobilien bzw. Grund. Bildeten Instrumente der euklidischen Geometrie die Grundlage solchen Wirtschaftens, so büßen sie angesichts der urbanen Heterogenität, zu der sie selbst beigetragen haben, an Funktionsfähigkeit ein. In der urbanen Epoche fällt es dem objektfixierten Raumdenken zunehmend schwer, genau die strukturellen und funktionalen Raumtransformationen und Ausdifferenzierungsprozesse des Gesellschaftlichen in sich aufzunehmen, die es selbst produziert hat.
3.4 Einheit und Kultur: Der absolute Raum Gehen wir an dieser Stelle noch einmal zwei Schritte zurück. Kongruent zur Zeitachse des Fortschreitens von ruraler über industrieller zu urbaner Gesellschaft hebt Lefebvres Einordnung der Raumkategorien mit der Epoche des absoluten Raums an. Reziprok zur antiken Stadt ist der absolute Raum vor allem politisch-religiös bestimmt. In Bezug zur triadischen Raumkonzeption espace conçu/perçu/vécu verortet sich der absolute Raum auf der Ebene des gelebten Raumes. Er unterteilt sich in analogen und kosmologischen Raum. Das Attribut analog besagt hier, dass der absolute Raum topos vor logos stellt. Am Anfang war der Ort. Lange bevor der logos in die Welt kommt, im Helldunkel des Lebendigen, hat das Leben bereits seine innere Rationalität: die der räumlichen Versammlung an Orten. Die raumtheoretische Pointe besteht hier darin, dass der topos als Bedingung des logos auftritt. Vernunft existiert nicht ohne einen Ort, an dem sie sich versammeln und gehört werden kann. Bevor gedachter Raum, der Raum des Denkens und dessen repräsentationale Projektionen geschichtlich zu erscheinen vermögen, produziert der analoge Raum des Ortes bereits die Orientierung der Körper im Gelebten.43 Entsprechend bilden die Städte erste Markierungen im offenen Raum der Landschaft und lassen so ein anfängliches Netz von Bedeutungen und Territorien entstehen (synoikismos). Der Begriff synoikismos liefert hier das entscheidende konzeptionelle Scharnier 43
Lefebvre: Production de l’espace, S. 203
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zur Rekonturierung des Stadtbegriffs. Mit ihm steht die traditionelle entwicklungsgeschichtliche These des putting agriculture first zur Disposition. Es waren vor allem Jane Jacobs44 und Edward Soja45 die darauf aufmerksam machten, dass der Beginn der Stadtform, entgegen der herkömmlichen Ansicht, nicht an der Schwelle zwischen nomadischen Siedlungsformen der Jäger und Sammler und ersten agrarischen Siedlungsformen liegt, sondern im synoikismos, dem Zusammenschluss von Ansiedlungen innerhalb eines dicht besiedelten Lebensraums. Synoikismos meint eine dynamische Emergenz aus räumlichem Zusammenleben; er wirkt als ökonomisches Rauminstrument, welches die Entwicklung einer Agrargesellschaft ebenso begünstigt wie die Herausbildung der ersten Städte. Sie bilden relationale Netzwerke räumlicher Verdichtungen und Kerne aus, die den wirtschaftlichen Austausch fördern.46 Die aus dem synoikismos hervorgehende, vor allem agrikulturell ausgerichtete Gesellschaft orientiert sich an einem die Landschaft umschließenden Raum. Die Menschen leben als Versammlung, gebrauchen Raum in zyklischen Intervallen: das Säen, das Wachsen, die Ernte. Der absolute Raum ist sowohl Heimatraum als auch religiöser Raum. Es gibt keine a priori gesetzte Universalität der Zeichen. Nichts ist mit sich selbst identisch. Das Lebendige erkennt sich durch seine instabile Variabilität und Struktur, und diese Eigenschaft hat nichts mit einer Unordnung oder Anarchie zu tun. Im Gegenteil, es sind die Unterschiede der Rhythmen, der Ausdrücke und der Intensivierung, die das Gewebe der Bedeutungen formen. Seine Topologie ist Gegenstand mannigfaltiger Rekompositionen. Eine solche Ordnung ist, per definitionem, plastisch. In der Epoche des absoluten Raums ist die Erde die Totalität, die in ihrer Genügsamkeit und ihrer Fülle Platz hat für alle, ohne Unterschiede. Sie stellt der Gesamtheit des Lebendigen den Ort für ein minimales und gleichzeitig maximales Wohnen bereit. Die Weise, wie die Erde die Lebenden Willkommen heißt und ihrem Gebrauch gemäß wohnen lässt, ist ökologisch im allgemeinen Sinn. Nicht nur ist darin die Erde der oikos, der den Ort für den logos bereitstellt. Das was ist, wird nur als logos wirklich, produktiv und lebendig, wenn es versammelt, das heißt an Orten mit anderen Existierenden in Relation gesetzt wird.
44 45 46
Jacobs, Jane: The economy of cities. New York 1969 Vgl. Soja, Edward: Thirdspace: Journeys to Los Angeles and Other Real-and-Imagined Places. Oxford 1996; ders.: Postmetropolis: Critical Studies of Cities and Regions. Oxford 2000 Vgl. Tomberg, Friedrich: Polis und Nationalstaat. Darmstadt, Neuwied 1973, S. 86f.
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Mit dem Versammeln entsteht mithin das, was wir Kultur nennen. Der etymologische Konnex zwischen dem lateinischen Verb colere und dem Begriff des bebauten Grundes deutet den räumenden Charakter der Kultur an, aus der sich Wohnen und Anbauen als spatiale Akte der Raumproduktion entfalten und ein sicherndes Kontinuum gegen diskontinuierliche und bedrohliche Natur schaffen. Der Auseinandersetzung mit dem und dem Einschreiben in den absoluten Raum entspringen die ersten Grenzziehungen. Sie rühren bereits von Versuchen einer »zweiten Natur« her, die räumend und abweisend zugleich operiert. Schon die ersten Formen des Wohnens artikulieren jenes Unbehagen, in das die Anerkennung dessen eingelagert ist, dass der Mensch von Beginn an ein peregrinus, ein Unbehauster ist. Nicht ohne Grund lancieren die frühsten Kosmologien, von denen beispielsweise Hesoids Theogonie und Werke und Tage aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. beredtes Zeugnis ablegen, die Dichotomie von Ordnung und Unordnung, Welt (chosmos) und Nicht-Welt (chaos). Insofern cultus Raumnahme impliziert, so konstituiert sich der absolute Raum der Agrarepoche sowohl als kultureller Heimatraum wie auch als religiöser Raum. Innerhalb des Zentrums des zyklischen Bereichs wächst ein Gebilde heran: die Stadt. Von ihr gehen neue Formen der Strukturierung des absoluten Raums aus. Der kosmologische Raum entsteht mit der Stadt, der polis: Er ist der Raum der antiken Produktionsweise. Mit dem kosmologischen Raum zeigt sich jene Einheit von nomos, chosmos und polis, die sich spätere Epochen mühsam über den Prozess der Universalisierung wieder erarbeiten müssen: »Aristoteles definiert den Menschen an seinem Ort im chosmos als Funktion des kohärentesten aller Diskurse. Der Mensch als das politische Lebewesen lebt in der politischen Stadt; in ihr findet er seinen Ort, seine Funktion, seine Vollendung und Befriedigung. Er ist das Objekt des politischen Diskurses, der die Verfassung der Polis etabliert. Subjekt ist der Staatsmann.«47 Später wird die römische urbs beginnen, den politisch-kosmologischen Raum aufzulösen. War die griechische Stadt an die Versammlung der agora, den Logos und dessen Gebrauchsweisen geknüpft, fungiert das römische Forum als Anordnung von institutionellen Gebäuden und der Ausübung des Rechts. »Die agora symbolisiert die griechische Stadt, deren Herz und Kern sie war: heilige, aber offene Stätte, freier und einladender Platz, Ort der Versammlung und der Souveränität der Stadtbürger. Das forum symbolisiert die rö-
47
Lefebvre: Metaphilosophie, S. 307
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mische urbs, darüber hinaus die römische Konzeption von Raum und Zeit, von Gesellschaft und Zivilisation: durch Verbote isolierter Ort, an dem sich die zivile Macht mit Hilfe der Religion (der Auguren) gegen die Militärführer absichert.«48 Stadt wird Form, wird imago mundi, Bild der Welt als Zentrum des politischen Willens (imperium). Die Stadt, die Agglomeration, der Zentralpunkt innerhalb eines Feldes, beginnt den absoluten Raum beherrschbar zu machen. Diese Entwicklung kulminiert im Mittelalter mit dem, was wir den symbolischen Raum nennen. Was hier geschieht ist, dass die Theologie die Aufgabe übernimmt, den absoluten Raum zu strukturieren. Durch die Institution des Klerus spricht nicht mehr der logos, sondern Gott als die die Einteilung des Absoluten erzeugende Kraft. Wo darin das zentralistische Hören des Gottesmetaphysik den Menschen eine neue Form der Orientierung in der absoluten Weite gibt, so rekurriert diese noch stets auf das imago mundi, dessen Sichtbarkeit weniger auf Deutungs- denn auf (symbolisch angelegter) ontologischer Hoheit basiert. Der absolute Raum schöpft seine Ordnungen aus unterschiedlichen Überlagerungen von Religion und Politik. Der politisch-theologischen Gemengelage entspringen symbolische Orte, deren Manifestationen Sprachlichkeit und Praktik (noch) nicht trennen – Bezeichnungen erwachsen aus bedeutungsvollen Formen: Gesellschaft nimmt sich wahr und interpretiert ihre Ordnungen in Bezug auf solche Orte.49 Kultur bedeutet ihr: Entzifferung des absoluten Raums. Dieses Lesen des Raums bindet sich an performative rituelle Praxen. Jene Bereiche des Imaginären, die wir heute »das Unbewusste« nennen, äußern sich als Teil des Realen. Die später vom intellectus vorgenommene Unterscheidung zwischen Zeichen und Bezeichnetem existiert noch nicht: Die rituelle, gestische und unbewusste – aber auch reale – Entschlüsselung war Teil der Nutzung der Orte und ihrer Bilder.50 Nicht nur der Gebrauch des Raums, auch der Gebrauch seiner Bilder bestimmen die Art und Weise wie sich die Produktion des absoluten Raums in ihrer Spezifik ausbildet. Jegliche Hypostasierung der griechischen Akropolis als reine Stadtform muss hier fehl gehen. Ihr enträt das doppelte Moment des Ineinandergreifens von Raum und Zeit.51 Das ist der Grund, warum jede Interpretation der Formen der Antike die Produktionsweise des absoluten Raums 48 49 50 51
Ebd., S. 156 Ebd. Ebd., S. 241 Ebd.
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in seiner Spezifik berücksichtigen muss. Was man also vermeiden sollte, ist die städtebaugeschichtliche Tradition, den antiken Griechen die Haltung von Touristen zuzuschreiben. Die alte Idee, die Griechen hätten beim Besteigen des Parthenon die Aussicht auf das vor ihnen liegende Athen im Hinblick auf ihre Gefühle, ihr Wissen, ihre Religion oder ihre Nationalität gelesen oder entschlüsselt, geht fehl. Sie entspringt vielmehr dem historisch in der Moderne situierten medialen Rahmen, von dem aus heute auf das antike Griechenland geschaut wird: die Vogelperspektive. Dagegen sollte man daran festhalten, dass innerhalb der Raumproduktion der polis die Zeit den räumlichen Code enthält und umgekehrt. Hier, am Beginn der westlichen Politik, sind die als koinonia versammelten Körper nicht außerhalb des Raums der polis, um sich dann auf diese in Form der Korrespondenz von Repräsentationen auf diese zu beziehen und ihre Existenz zu bezeugen. Sie leben als polis. Der städtische Raum der koininia ist es, der ihr Leben konstituiert. In Bewegung hält das Bild vom absoluten Raum jener Schlüsselbegriff, der sich als die Essenz des griechischen Denkens titulieren lässt: die Idee der Einheit. Die Vorstellung des Einen, hen oder monas, fasst theologische, logische und gnoseologische Aspekte des Weltdenkens zusammen und prononciert sich wirkungsgeschichtlich als noch bedeutender als der Begriff des Seins. In ihn gehen Bedeutungsmomente der Einzahl, der Einzigkeit, der Totalität und Ganzheit sowie der Identität ein. Einheit beginnt mit der Frage der milesischen Naturphilosophen nach dem Urgrund (arche), aus dem alle Dinge entstehen. Heraklits Satz »Aus allem eines und aus einem alles«52 spricht von der spannungsgeladenen Einheit des logos als Struktur, nach der sich die universale Einheit und Ganzheit des chosmos aus dem Zusammenwirken von Vielem und Gegensätzlichem konstituiert. In Einheit wirkt ein Werden, ein Prinzip, das alle erscheinende Vielheit der Dinge begründet und dessen Ordnung sich aus der harmonia speist. Hegel war es, der diese Konturen für die Moderne ausformulierte. In den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie erläutert Hegel, dass Heraklit das Eine nicht als das Abstrakte, sondern als Tätigkeit gilt. Harmonie und Unterschied gehören zusammen. Mit Hegels Worten: »Harmonie ist eben das absolute Werden, Verändern, – nicht Anderswerden, jetzt dieses und dann ein anderes.«53
52 53
Heraklit: »Fragment 10 DK.« in: Wilhelm Capelle (Hg.): Die Vorsokratiker. Stuttgart 2008, S. 132 Hegel, G.F.W.: »Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie«. in: ders.: Werke, Bd. 18. Frankfurt a.M. 1971, S. 327
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Der Sage nach heiratet Harmonia (die auch in Hesoids Theogonie erscheint) den Gründer und Herrscher von Theben, Kadmos. Ihn setzen die Thebaner mit chosmos gleich. Die Verbindung der Elemente von harmonia und chosmos steht am Beginn dessen, was heute Kultur heißt. Im Gegensatz zu den Pythagoräern, die auf der Basis von harmonia monas und dyas (Einheit und Zweiheit) als Prinzipien der Zahlen und Dinge vorstellen, wird Platon später danach fragen, wie das Eine durch die Vielheit von Bestimmungen gedacht werden kann. Er löst diese Aporie, indem er das Eine und das Seiende unterscheidet und aufeinander bezieht. Das Eine selbst (auto to hen) gilt Platon als unteilbar. Als seiend und damit erkennbar äußert sich das Eine erst in Verbindung mit dem zweiten Prinzip: Der unbestimmten Zweiheit, die als seiendes Eines (hen on) Vielheit und Relationalität in sich selbst enthält. Das griechische »Wunder« dieses doppelten Moments ist es, das Lefebvre den Begriff der Einheit ins Zentrum seiner Überlegungen zum absoluten Raum rücken lässt.54 Die architektonischen Kompositionsweise der alten Griechen bestätigt diese Kategorie: Form und Struktur sind dort direkt zueinander in Beziehung gesetzt, werden eins. Die Frage der Ordnung geht in der Frage der Struktur auf, so dass die äußere Erscheinung und die Komposition der Gebäude ununterscheidbar sind. Jedes enthält das andere. Man kann einen griechischen Tempel nicht ohne seine Ordnung verstehen. Demgemäß artikuliert sich das Verständnis des Einen in der griechischen Architektur. Wie ihre berühmten Säulenordnungen explizieren, orientieren sich die griechischen Tempelbauten an der Verschränkung der Proportionen mit einem alles durchwebenden, alles vereinenden Prinzip. Die harmonische Wirkung der Baukörper umfasst sowohl die an Zahlenreihen orientierten Seitenverhältnisse wie auch die Verbindung etwa der Außenkanten, des liegenden Grundrissrechtecks und des aus Säulenhöhe und Gebäudebreite sich zusammensetzenden Rechtecks der Säulenfront. Maßstab im modernen Sinn war den Griechen fremd. Jede Skalierung vollzieht sich modular. Erinnert sei hier an die von Eugène Violletle-Ducs im 19. Jahrhundert verfassten Analysen griechischer Architektur. Sie belegen, dass in der griechischen Konstruktionsweise Form und Struktur zusammenfallen, sie sind ein und dieselbe Sache.55 Gleichwohl, erst vor der Folie der Kategorie des absoluten Raums wird in konzeptioneller Hinsicht verständlich, wie die alten Griechen architektonische Kompositionsweise mit 54 55
Ebd., S. 237 Viollet-le-Duc, Emmanuel: Entretiens sur l’architecture. Paris 1863–72, zit.n.: Lefebvre: The Production of Space, S. 237–238
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dem Manifest der Einheit verbinden. Architektonisch markiert das In-einsSetzen von Form und Struktur das Eins-Werden der demokratischen Gesellschaft. Äußere Erscheinung und innere Ordnung, Repräsentation und Komposition der Gebäude sind ununterscheidbar – jeder Aspekt enthält den anderen. Ein griechischer Tempel gibt sein Wesen weder allein durch seine innere Ordnung noch allein durch seine Struktur preis. Griechische Ordnungen wirken nicht dekorativ, sagt Viollet-le-Duc: Sie sind nichts als die Struktur selbst. Mit anderen Worten: Form und Struktur stehen in direktem Zusammenhang mit der ontologischen Funktion. Daran knüpft der Sachverhalt an, dass die Geometrie der Griechen eine hermetische ist. Sie hat nicht den Raum, sondern Körper und Figuren zum Gegenstand, deren Beschreibung sich aus ihren Begrenzungen ableitet. Einen unendlichen Raum, wie ihn die neuzeitliche Geometrie entwickelt, kennen die Griechen noch nicht.56 Der Raum der römischen Antike hingegen erweist sich als Raum der Teilung.57 Römische Baukunst manifestiert die Trennung des Raums anhand der Unterscheidung zwischen Konstruktion und Form. Was hier zum ersten Mal erscheint, ist das, was man in der Architektur Fassade nennen wird. Form kleidet Konstruktion. Umgekehrt konstituiert sich Form unabhängig von der Konstruktion. Wir sehen die Spaltung zwischen dekorativen und funktionalen Elementen, zwischen der Behandlung des Volumens, der Maße und der Behandlung der Fassade und somit zwischen Konstruktion und Komposition, zwischen Architektur und Realität. Im Vordergrund der Organisation der Volumina steht die Funktion. So bildet auch die urbs eine Ansammlung einer Menge baulicher Volumina, die einvernehmlich nicht nur durch eine Rechtsgemeinschaft, sondern sich auch und vor allem durch gemeinsamen Nutzen verbindet. Insofern sich die Säulenordnungen der Griechen als Struktur äußerten, übernimmt das römische Prinzip derlei formale Ordnungen – jedoch lediglich als Dekoration, die entfernt, unterlassen oder ersetzt werden kann. Die Diversifikation des Raums der römischen Epoche ist indes weit entfernt, allein auf ästhetischem Terrain zu wirken. Ihr Vollzug hat die juristische Dominanz des Privaten und den Verlust der einheitsstiftenden Ordnung des Architektonischen zur Konsequenz. Wo die Einheit von Form, Struktur und Funktion fällt, ist der Wandel der Gestaltung der Gebäude an einen Wandel des Politischen gebunden. Man hat es mit einem Formalismus zu tun, der eine doppelte Bewegung einschließt: einerseits die Spaltung zwischen dekorativen und funk56 57
Vgl. Damisch, Hubert: L’origine de la perspective. Paris 2012 [orig. 1987], S. 12 Lefebvre: The Production of Space, S. 237–238
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tionalen Elementen, zwischen der Behandlung des Volumens, der Maße und der Behandlung der Fassade und somit zwischen Konstruktion und Komposition und andererseits die Spaltung zwischen Architektur und Realität. Die Differenz zwischen der griechischen und der römischen Vorstellung von Einheit lässt sich nicht nur an den Gebäuden, aber auch an den von ihnen geschaffenen Stadtformen ablesen. Den Griechen galt der Ort der agora als Repräsentation einer Stadtpraxis, die sich im Zusammenspiel von logos und chosmos ordnete und entfaltete. Agora war die heilige, offene Stätte, freier und einladender Platz, Ort der Versammlung und der Souveränität der Stadtbürger, die den Handlungszusammenhang der griechischen Gesellschaft in ihrem Verhältnis zu Welt, Triebbasis und Zusammenleben der Menschen regelt. Die römische urbs hingegen repräsentierte sich nicht nur durch das Forum. Auch trug die römische Organisation des Raums selbst das Zeichen der Ordnung von Gesellschaft und Zivilisation: »durch Verbote isolierter Ort, an dem sich die zivile Macht mit Hilfe der Religion (der Auguren) gegen die Militärführer absichert, Platz der Anhäufung staatlicher Gebäude und der Ausübung des institutionellen Rechts.«58 Es gibt somit einen großen formalen Unterschied in der Stadtproduktion von polis und urbs. Im Gegensatz zur griechischen Stadt, die den logos (mit seinen politischen Gebrauchsweisen) hervorbringt, kreiert die römische Stadt das Recht.59 Diese Fragen zeigen an, dass formale Kriterien nicht ausreichen, um die Raumproduktionsweisen der griechischen und römischen Antike innerhalb der Kategorie des absoluten Raums und dessen Immanenz unterscheidbar zu machen. Wer die Kraftlinien des Unterschieds fassen will, sollte den Blick auch auf die Raumpraktiken selbst richten. Worum es geht, ist, Missverständnisse und Fehldeutungen zu vermeiden, die aus einer anachronistischen, nachträglich durch den intellectus einer späteren Epoche erzeugten Anwendung von Kategorien resultieren. Die methodologischen Instrumente, die hier dem Erhellen der Raumpraktiken dienen sollen, sind die Begriffe des habitus und des intuitus. Solange Zeit und Raum untrennbar bleiben, findet man die Bedeutung des einen im anderen, und zwar unmittelbar (das heißt ohne intellektuelle Vermittlung).60 Im Begriff des habitus (was bei den Griechen hexis heißt) verknüpfen sich das Mentale und das Soziale. Als Gehaben und Verhalten legt der habitus die Basis für die essentiellen Ordnungen von 58 59 60
Ebd. Ebd. Ebd., S. 241
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Form, Struktur, Funktion. Er ist Voraussetzung für die Einheit des Handelns. Stärker noch als Platon hat Aristoteles eine solche Konzeption vertreten. Während Platon Einheit mit der Helligkeit ontologischer Transzendenz auflädt,61 konstituiert die Einheit für Aristoteles die erdende Grundlage der Theorie von Diskurs, Klassifikation und Kohärenz. Habitus ist jene Positionierung, der gemäß sich eine Person für sich oder bezogen auf andere gut oder schlecht verhält. Er ist keine natürliche Veranlagung. Man kann habitus lernen. In diesem Sinn orientiert Aristoteles den habitus in der Nikomachischen Ethik relational an der Repräsentationsfunktion: »Man muss, wenn die Definition den habitus betrifft, auf den Inhaber, wenn sie den Inhaber betrifft, auf den habitus achten.«62 Für die Griechen spiegelt habitus den Raum im Kontakt von logos und chosmos. Die römische Form des intuitus hingegen bedingt einen drift in Bezug auf die Einheitskonzeption: das Gedachte trennt sich vom Gelebten, der habitus vom intuitus und ihre vorausgesetzte Einheit wird gebrochen.63 Daraus erwächst eine spezifische Weise des römischen Städtebaus, Form, Struktur und Funktion materialen (auf ein bestimmtes Bedürfnis eingehend) und juridialen bzw. stadtbürgerlichen Prinzipien unterzuordnen. Die Bedürfnisse bestimmen die Nutzung. Dieser Mechanismus ist wohl am besten an der Typologie des römischen Bads illustriert, das sowohl als öffentlicher Ort wie auch als Freizeitstätte Verwendung findet. In diesem Sinn ist der römische Raum ein produktiver Raum. Dass dieser Raum mit der Fülle an Gegenständen zu kämpfen hat, die er produziert, kommt vielleicht in der Überladenheit des römischen Forums am besten zum Ausdruck.64 Einheit von Gesetz, Besitz und des Stadtstaates wird in der römischen Epoche eher gelebt (intuitus) und wahrgenommen als, wie noch bei den Griechen, auch gedacht. Weit entfernt eine theoretische Intuition rein intellektueller Natur zu sein, manifestiert sich der intuitus hier als eine räumliche Praxis, die durch (ebenfalls räumliche) Repräsentationen mobilisiert wird.65 Ausgehend vom intuitus transformiert sich der habitus als Serie geschichtlicher Veränderungen spatialer Praxis. Die römische Stadt formt die gebauten verkörperten Repräsentationen in repräsentationalen Raum, in jene dege-
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Ebd., S. 239 Aristoteles: Nikomachische Ethik, VI 9, 147a 12 Lefebvre: The Production of Space, S. 239 Ebd. Ebd., S. 244
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nerierte mundus um, die später den Ausgangspunkt für das Christentum und dessen Raum bilden wird. Wie Augustinus sagt: »mundus est immundus.«66 Innerhalb dieses Dispositivs emergiert der intellectus bei Vitruv, Seneca, Cicero und anderen Theoretikern als ein vom habitus getrenntes Konzept. Das sorgt dafür, dass die Konstellation der Triade wahrgenommener/konzipierter/gelebter Raum im antiken Rom eine andere topologische Ordnung aufweist als bei den Griechen. Nicht nur sind die mit der Trias konnotierten Aspekte von der spezifischen Weise der Produktion des Raums beeinflusst, auch wirken sie auf die Produktionsweise ein und formen wiederum aus dem intuitus eine Art System des Raumverständnisses. Die römische Epoche verbindet Organisation und Produktion von Raum, wobei sie die im logos begründete Totalität durch das Gesetz ersetzt.67 Diese Disjunktion ist wesensgleich mit der Repräsentation von Raum. In dem Moment, in dem die römische Gesellschaft zwischen intuitus und habitus zu unterscheiden beginnt, wird ihre Raumproduktion in dem Maße entkörpert, dass sie nicht in der materiellen Realität räumlicher Körper und Handlungen, die sie wahrnimmt, ihren Ursprung hat, sondern in einer prinzipiellen Medialität. Die Stadt der Römer konstituiert sich, wie die der Etrusker, als eine des Verbots. Das pomerium (pone muros = gesetzte Wand) bedeutet den Etruskern die Umgrenzung des Raums. Darin tritt politische Theologie als Raumnahme auf: Nicht nur repräsentiert die religiöse Stadt an der Stelle des pomerium ihre Scheidelinie zur Umgegend, auch entsteht mit ihr etwas, das wir Bauordnung nennen können. Im Bereich des pomerium ist es untersagt, Bauten zu errichten, weil in ihm heilige Verpflichtung mit technischen und militärischen Funktionen einhergeht. Das pone muros begründet darüber hinaus den etymologischen Horizont des für die Architektur später eminent wichtigen Wortes Komposition und dessen Konnex zum Raum: »komponieren« stammt vom lateinischen ponere (= setzen, stellen, legen). Am pomerium gehen Bauen und gesellschaftliche Performanz ein Bündnis ein, das die Festlegung der städtischen Umgrenzung mit der rituellen Gründung der Stadt verknüpft. Rituale im pomerium bestimmen, zu Ehren der Unterweltgötter, den mundus: »In den mundus goss man blutige Libationen, an ihm verbrannte man Opfer, bei ihm legte man die Erstlinge nieder. Er wurde nur dreimal im Jahr geöffnet. Alles in allem enthielt die etruskische und römische Stadt also: eine un-
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Ebd., S. 245 Ebd., S. 246
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überschreitbare Umfassung mit Aufhebung des Verbots für die Tore; einen verbotenen Raum, das pomerium; einen geheiligten Ort, Abgrund und Figur der Himmelswölbung, Zusammenfassung der Welt: den mundus; einen unverletzlichen, weil gut zu verteidigenden Ort, eine Erhebung, Zitadelle, sowie schließlich einen Versammlungsort, das forum, gleichfalls mit Verboten belegt (namentlich für Bürger in Waffen). Diese Stadt ist sehr wohl ein Mikrokosmos, der vor allem durch Verbote und minuziös ritualisierte, mit praktischen Akten verbundene Sakralisierungen gekennzeichnet war.«68 Die Riten ordnen der Stadtgründung eine performative Funktion zu, ihre Verwirklichung ist die poiesis des vergesellschafteten Logos, der seine strukturelle Form in Worten, Gesten oder aber auch rituellen Formen erhält. Die Transposition der Riten in Zeichen, in gesellschaftliche Sprache macht sich an dem Begriff der poiesis fest.69 Sprache meint hier gleichwohl etwas sehr Spezifisches. Im Zuge der Beschreibung geschichtlicher Stadtproduktion bzw. -komposition ist Repräsentation als besondere Sprachform zu fassen, die mehr beinhaltet als Symbolismen. Sprache drückt sich hier in Körperlichkeit und Praxis aus, als Praktik, die Bedeutung in sich trägt und diese mit produziert. Sprache konstituiert gesellschaftliche Praxis: »Diese gesellschaftliche Sprache unterscheidet sich ebenso vom Selbstgespräch wie vom reinen (logischen) Diskurs und von der literarischen Sprache. Sie wird nicht nur gesprochen, sondern agiert und erlebt.«70 Praxis dieser Sprache bleibt stets fiktives Handeln an der Natur. Aus dem Versuch das Chaos zu bändigen, geht Form, geht Einheit hervor, sie verleiht dem Unförmigen Form: »Auf diese Weise entsteht ein Formalismus inmitten einer Konfusion (heiligverflucht, Naturübernatur) und selbst noch in einer (ökonomischen, gesellschaftlichen, ethischen etc.) Totalität.«71 Umhüllt und durchdrungen vom absoluten Raum, rührt von der ökonomischen und politischen Totalität ein Formalismus her, der sich der Unordnung der gleichsam heiligen wie verfluchten Natur entgegenstemmt. Aus den Formen resultieren exemplarische Einheiten der Wiederholung, die schließlich die platonische Philosophie als Transmissionsriemen gesellschaftlicher Formalisierungen hervorbringt.72
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Lefebvre: Metaphilosophie, S. 232–233 Ebd., S. 234 Ebd., S. 237 Ebd., S. 238 Ebd.
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Mit ihr konvergieren Philosophie, Stadtpolitik und die Konstitution städtischer Bürgerschaft.73 Platons grundlegende Regel lautet: Es ist die Frage nach Einheit und Form, die die Stadt, die gesellschaftliche Sprache und die räumliche Praxis zusammenhält. Als poiesis steht vergesellschaftete Sprache in der politischen Stadt der Antike für das Produzieren selbst. Sie ist durch die Einheit jener Elemente gekennzeichnet, die sich später ausdifferenzieren werden. Wissenschaft, Ideologie, Herstellen und Handeln, das Auftreten und die Versammlung des publicum und rituelle Feste bilden Teilbereiche des Alltags, wie ihn Jérome Carcopino am Beispiel des antiken Rom eindrücklich beschrieben hat: »Aus [dem] heiligen Orbis, der sich vor ihren Verschanzungen und späteren Mauern erstreckte und dem sie gleichsam als Kürzel ein antizipierendes Bildnis bot, hat die Urbs ihren Namen, ihre ursprüngliche Definition und ihren übernatürlichen Schutz gewonnen. […] Doch wenngleich das pomerium auch in klassischer Zeit seine religiöse Bedeutung behielt und die politische Freiheit der Bürger weiterhin schützte, indem es den Aufmarsch der Legionen ausgrenzte, hat es doch aufgehört, die Stadt einzugrenzen.«74 Während Sprache beginnt, sich in Partikel und Grammatiken aufzulösen, ruft die Teilung der Praxis eine Bewegung hervor, sie auch den Maßstab der Repräsentation von Stadt verändert: Stadt ist jetzt Symbol, »das pomerium ist nun symbolisch geworden.«75 Anders gesagt: Durch Maßstabssprung und Materialisierung des Weltbegriffs beginnen Repräsentationen von Raum den gelebten Raum zu überschreiben. Handlungsformen und mit ihnen die gesellschaftlichen Funktionen differenzieren sich zunehmend aus, um schließlich die Teilung der Arbeit als wesentlichen agens von Stadt etablieren. Vor dem Hintergrund verstärkter Arbeitsteilung bleibt die Frage der Einheit in den folgenden geschichtlichen Epochen als universeller topos weiterhin gesellschaftspolitisch virulent. Die Griechen beantworten die Frage aus dem logos, die Römer aus dem Gesetz. Logik ist Teil des Wissens, das Gesetz Teil der Praxis. Beide Begriffe lassen sich jedoch nicht auf simple anthropologische Kategorien reduzieren. Klar ist: Die Ordnungskategorien Logik und Gesetz wirken konstitutiv in die Stadt ein, sie sind Teil der originären Form räumlicher
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Ebd. Carcopinos, Jérome: La vie quotidienne à Rome à l'apogée de l'empire. Paris 1947, zit.n.: Lefebvre: The Production of Space, S. 235 Lefebvre: The Production of Space, S. 235
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Organisation, mithin von politischen Formen, die sowohl Repräsentation von Raum als auch repräsentationale Räume verkörperten. Die griechische polis hat und erzeugt bestimmte Voraussetzungen, Bedingungen ihrer Möglichkeit. Sie entsteht durch die Einheit von Vielem, durch synoikismos.76 Akropolis und agora bilden jene zentralen städtebaulichen Orten der polis, die den Zusammenschluss von kleinteiligen Siedlungen (demen) auf einer Hügelkuppe räumlich ordnen. Ihre Geburt wird vom klaren Licht des Tages begleitet. Das Meer mit all seinen Ressourcen ist nie weit entfernt. Das Unbekannte, das Ferne, das Gefährliche, aber nicht Unzugängliche regt die Neugierde, die Fantasie und das Denken an. Der springende Punkt ist, dass die griechische Stadt mit Ungewissheiten zu leben versteht – sie hat den Exorzismus der Unterwelt nicht nötig: Die Bürger der polis komponieren auf eine bestimmte, kollektive Weise Einheit dergestalt, dass sie in der Lage ist, Heterogenität und Differenz zu versammeln. Für die Bürger und Stadtbewohner sind Repräsentationsräume und die Repräsentationen des Raumes zwar nicht deckungsgleich, aber harmonisch und kongruent. Die polis schafft eine Einheit zwischen der Ordnung der Welt, der Ordnung der Stadt und der Ordnung des Hauses – zwischen den drei Ebenen der Segmente, die durch den physischen Raum, den politischen Raum (die Stadt mit ihren Domänen) und den urbanen Raum des Stadtkerns hervorgebracht werden. Die Einheit, welche die Griechen im Zusammenspiel der Raumebenen schaffen, ist nicht die Einheit des An-Sich, sie ist eine produzierte Einheit, hergestellt durch den Modus der Komposition. Mit anderen Worten: die Bürger der polis komponieren auf eine bestimmte, kollektive Weise Einheit dergestalt, dass sie in der Lage ist, Heterogenität zu versammeln. Die Einheit der polis ist keine einfache oder homogene, sondern eine Einheit der Zusammensetzung, eine Einheit, die Unterschiede und Hierarchie umfasst.77 Es ist die kongruente Raumpraxis der Versammlung von Differentem in Einem, die es den Griechen ermöglicht, die Unterwelt, das Unbewusste, zu lokalisieren, zu benennen und zu integrieren. Im Gegensatz zur römischen Weise, die Kräfte des ›Anderen‹ zu unterdrücken, geben die Griechen der Unterwelt einen Ort. Diese Praxis des Ort-Gebens ist jedoch nicht Gegenstand des geschriebenen Wortes, vielmehr verstetigt sie sich in Riten, Festen und mythischen Narrativen, als Bilder und Symbole, als Architekturen.
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Ebd., S. 247 Ebd.
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Obige Erörterungen lassen deutlich werden, wie Lefebvres transhistorische Begriffsbestimmung des Raums funktioniert: Weit entfernt, sich auf fixierte Strukturen bestimmter Gesellschaftsformationen zu fixieren, zielt sie auf die Befragung der gesellschaftlichen Praxis und ihrer geschichtlichen Entwicklung. Der entscheidende Punkt besteht darin, Historizität selbst als produziert zu fassen, um zum Raum selbst und dessen Kompositionsweise vorzudringen. Ziel ist es, die soziale Praxis als eine Erweiterung des Körpers zu betrachten, eine Erweiterung, die als Teil der Entwicklung des Raums in der Zeit entsteht und somit auch als Teil einer Geschichtlichkeit, die selbst als produziert verstanden wird.78 Damit wechseln Raumordnungen wie etwa die Geometrie oder die dorischen, ionischen oder korinthischen Säulenordnungen vom Register gegebener, außerweltlicher Ideen ins Register der Produkte einer Raumproduktion. Gleiches gilt für die Kategorien Einheit und Differenz: auch sie stellen sich als produziert heraus. Es überrascht nicht, dass etwa der Begriff der Differenz im Wissenskörper der griechischen Epistemologie nicht erscheint. Die Raumproduktionsweise der polis gibt ihn nicht her. Entsprechend datiert der Aufstieg der Differenz ins Register des Wissens in jenem historischen Prozess gesellschaftlicher Transformation, aus dem schließlich der römische Raum hervorgeht. Zwischen chosmos und Welt entsteht Differenz als Raum der Brechung, gefasst als urbs und orbs in der Form des imago mundi. Es ist die Entdeckung der Differenz, die es überhaupt erst erlaubt, dass sich eine Theorie des Raums herausbilden kann. Diese Theorie des Raums funktioniert im Inneren einer doppelten Bedingung: Der erste Schritt besteht darin, dass durch die Differenz ein Denken in Gang kommt und gehalten wird, das Raum als ein Gegenüber versteht. Der zweite Schritt ist, dass dieses Verständnis von Raum als Bedingung der Theorie auftritt. Das wohl berühmteste Zeugnis einer solchen Theoriebildung sind die Schriften Vitruvs. Der römische Architekt, den man als den ersten Protagonisten der Differenz in der Architekturtheorie bezeichnen darf, liefert mit seinen Zehn Büchern über Architektur nichts Geringeres als die erste umfassende theoretische Grundlegung seiner Disziplin. Lange vor der durch die moderne Sprachwissenschaft vorgenommenen Unterteilung von Sprache in Signifikat und Signifikant untersucht Vitruv die Frage der Repräsentation im Gebauten, die Frage eines einheitlich kodierten, universalisierbaren Raums anhand der Begriffe significatur und significat.79 78 79
Ebd., S. 249 Ebd., S. 269–270
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Vitruvs Analyse hebt an mit der Taxonomie jener basalen Kategorien, anhand derer die Architektur Elemente sozialen Lebens mit spezifischen räumlichen Praktiken verbindet. Im ersten Kapitel des ersten Buches heißt es: »Cum in omnibus enim rebus, tum maxime etiam in architectura haec duo insunt, quod significatur et quod significat. Significatur proposita res de qua dicitur, hanc autem significat demonstratio rationibus doctrinarum explicata.« Die Passage lautet in der deutschen, von Curt Fensterbusch besorgten Übersetzung folgendermaßen: »Wie nämlich auf allen Gebieten, so gibt es ganz besonders auch in der Baukunst folgende zwei Dinge: Planungsziel und Planungsgrundlagen. Planungsziel ist der beabsichtigte Gegenstand, von dem man spricht. Dieser aber zielt auf die mit wissenschaftlichen Methoden entwickelte Darstellung.«80 Der springende Punkt ist, dass Fensterbusch significatur mit Planungsziel gleichsetzt und damit eine deutlich teleologische Interpretation forciert. Dagegen greift Lefebvre in seiner Darstellung auf die französische Übersetzung von Auguste Choisy zurück, die eine völlig andere Konnotation zulässt: »Das Signifikat […] ist das, was man über die Sache, über die man spricht, sagt, während der Signifikant der durch Wissen bewiesene Grund dafür ist, was in der Sache steckt.«81 Überraschenderweise rekurriert Choisys nicht-finalistische Auslegung nur auf die Struktur der Differenz: Danach ist das Bezeichnete das, was wir über eine Sache aussagen können, wenn wir von ihr sprechen, während die Bezeichnung die Vernunft ist, welche durch das Wissen dargestellt wird, welches wir von der Sache haben. Aus Vitruvs Unterscheidung gehen für die Architektur zwei Hauptelemente hervor, zwischen denen sich der Code des Raums ordnet: das bezeichnete Ding und das, was ihm die Bedeutung gibt. Entlang dieser Achse entfalten die Bücher des Vitruv alle Elemente eines Codes: Zuerst schaffen sie ein komplettes Alphabet und Lexikon spatialer Elemente. Zum Zweiten versorgen sie den städtischen Raum mit einer Grammatik und einer Syntax. Das bedeutet, sie stellen dar, wie die Elemente zusammengefügt werden. Drittens schließlich gibt Vitruvs Stilanweisung Ratschläge zur Ästhetik der Komposition. Mit dieser Matrix erhält die Architektur ein analytisches Werkzeug, das es gestattet, die räumlichen Praxen der griechischen und römischen Stadt zu begreifen, sowohl in deren Repräsentation von Räumen (Astronomie, Geographie) wie auch repräsentationalen Räumen (Astrologie). 80 81
Vitruv: Zehn Bücher über Architektur. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Curt Fensterbusch. Darmstadt 1976, S. 21–45 Zit.n.: Lefebvre: La production de l’espace, S. 312
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Während Vitruv die Differenzierung der Ebenen und Kategorien des Raums vorantreibt, sieht er sich verstärkt gezwungen, Differenz wieder an das Absolute rückzubinden, Einheit wieder herzustellen. Indem er auf die Funktionalität fokussiert, knüpft Vitruv Einheit nicht mehr an das räumliche Sein. Stattdessen interpretiert er Einheit vielmehr als ein Verfahren, ohne jedoch auf die Neutralität des Seins zu verzichten. Zurecht hat Choisy bemerkt, dass das wesentliche Mittel, dessen sich Vitruv zur Herstellung der Einheit der Elemente bedient, die Komposition ist. Choisy verweist hier auf die prinzipielle Anwendung des Wissens: Sie geschieht in der Komposition von Gebäuden, die Vitruv in die Kategorien ordinatio und dispositio unterscheidet.82 Choisy bezieht sich auf jenen Passus am Beginn des zweiten Kapitels, in dem Vitruv den Aufbau der kompositionalen Bestimmung der Architektur darlegt: »Architectura autem constat ex ordinatione, quae graece ιαξις dicitur, et ex dispositione, hanc autem Graeci διαθεσιν vocitant, et eurythmia et symmetria et decore et distributione, quae graece οἰκονομία dicitur.« Vitruv meint hier folgendes: Die kompositionale Aufgabe der Architektur ist zu unterteilen in Ordnung (ordinatio, taxis), Arrangement bzw. Disposition (diathesis) und Distribution (oeconomia). Unter ordinatio versteht Vitruv die Struktur, die Relationalität der Elemente eines Bauwerks zueinander, »die nach Maßeinheiten berechnete, ästhetisch angemessene Bestimmung der Größenverhältnisse der Glieder eines Bauwerks im Einzelnen und die Herausarbeitung der proportionalen Verhältnisse im Ganzen.«83 Die dispositio steht für Vitruvs repräsentationalen Formbegriff. Insofern die dispositio die qualitative Einheit der Elemente bezeichnet, bedeutet sie Vitruv jene Darstellungsformen, »die die Griechen ›Ideen‹ nennen.«84 Man sollte Christian Gänshirts These zustimmen, dass Vitruv hier nicht unveränderliche Urformen im Sinne Platons meint. Stattdessen bedeutet ihm der Begriff Idee die generative Form des maßstäblich verkleinerten Grundrisses: »Vitruv zieht sich also gerade nicht auf ewig gültige Ideen zurück, sondern geht von der Möglichkeit aus, etwas Neues schaffen zu können.«85 Die Lektion des Vitruv lautet, dass die differentielle Auffächerung des Raumcodes die Bedingung der Möglichkeit dafür bildet, dass sich die
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Choisy, Auguste: Vitruve: tome 1; analyse. Paris 1909 Vitruv: Zehn Bücher über Architektur Ebd. Gänshirt, Christian: Werkzeuge für Ideen. Einführung ins architektonische Entwerfen. Basel, Boston, Berlin 2007, S. 43
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Ökonomie der römischen Raumproduktion als Distribution der Teile in die Stadt einschreiben kann. Ausschlaggebend ist an dieser Stelle, dass Vitruv jenen Begriff bereits ausdekliniert, der später den Städtebau der Moderne bestimmen wird. Komposition bildet von nun an das Gerüst jeglicher Raumordnung nicht nur in Bezug auf das Mögliche, sondern auch hinsichtlich des Zugangs zur Analyse des Raumcodes selbst. Man hat es bei der Komposition also mit einer Doppelfunktion zu tun: zum einen schließt sie den Modus der Typologie als Variablenform auf, zum anderen eröffnet sie durch das typologische Dispositiv eine Entschlüsselung des Codes. Die Grenze der Komposition verläuft keineswegs zwischen Einheit und Differenz. Sie zieht sich durch die Differenz selbst. Es ist die Konfrontation der zueinander heterogenen Modi des differenzierenden, trennenden Modus einerseits und des differentiellen, vervielfältigenden Modus andererseits, die hier zur Bedingung der Möglichkeit von Einheit aufsteigt. Das meint nichts anderes, als dass man dort, wo sich die Ökonomie als Distribution der Teile in den Raumcode einschreibt, erstere aus letzerem herauslesen kann. Wir sehen nun, wie Vitruvs Theorie die sich in der römischen Epoche vollziehende Konzeptualisierung von Raum offenlegt. Womit wir es hier im Hinblick auf alltägliche Raumpraktiken zu tun haben, ist die Verschiebung des intuitus (der hier in der Kategorie des wahrgenommenen Raums platziert ist) zum habitus. Die Modi der Differenz schreiben sich in den intuitus dort ein, wo Vitruv den habitus rein funktional interpretiert, vollzogen durch die systematische Allokation der Codes im Konnex mit Funktionen in öffentlichen und privaten Gebäudebereichen. Dass dieser Verzicht auf die Totalität, die das griechische Denken dem Raum zusprach, nicht zum Verlust der Einheit führt, liegt, wie Choisy treffend analysiert hat in der Erfindung des Modus der Komposition selbst begründet. Wie aber vollzieht Vitruv die Verschiebung von der Einheit zur Differenz genau und welche Fehlstellen entstehen dadurch? Vitruvs Strategie, die Formenteleologie des Aristoteles zu wenden, besteht prinzipiell darin, ordinatio und dispositio auf die Funktion, den Nutzen und die Ökonomie herunterzubrechen. Dass hier ein Einheitsbegriff entsteht, der die Grenze zwischen Einheit und Differenz in die Differenz selbst verlegt hat, und das ist der springende Punkt, eine Entpolitisierung des Raums zur Folge. Man sollte also darauf hinweisen, dass Vitruvs Kompositionsverständnis dort, wo es den Verlust der konzeptionellen Durchsicht einer Totalität des absoluten Raums in Kauf nimmt, jener politischen Elemente enträt, wie sie noch im griechischen
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taxis (ersetzt durch das lateinische ordinatio) und diathesis (ersetzt durch das lateinische dispositio) enthalten waren.
3.5 Abstrakter Raum Vitruvs Bücher markieren den Brennpunkt einer langen Entwicklung. Von der griechischen über die römische Epoche hinweg entfaltet sich eine Bewegung, innerhalb derer die Stadt beginnt, den absoluten Raum beherrschbar zu machen. Diesen Prozess wird das Mittelalter mit dem »symbolischen Raum« aufgreifen und weiterschreiben. Allein, es ist nicht mehr die politische Klasse, die den absoluten Raum strukturiert, sondern der Klerus. Was durch die Kirche spricht, ist nicht mehr der logos, sondern Gott als die die Einteilung des Absoluten erzeugende Kraft. Von nun an gibt das zentralistische Hören der Gottesmetaphysik den Menschen eine neue Form der Orientierung in der absoluten Weite. Wie Religion noch auf das imago mundi rekurriert, so basiert dessen Sichtbarkeit weniger auf hermeneutischer Deutungs- denn auf (symbolisch angelegter) ontologischer Hoheit. Im symbolischen Register kommt eine Materialisierung der Darstellung von Welt in Gang. Der Aufstieg der mappae mundi transponiert die die Repräsentationen von Raum in Darstellungen von Welt und lässt diese in neue Orientierungssystemen überwechseln. Man denke an die Ebstorfer Weltkarte, die im späten Mittealter die Welt in eine am Osten (Orient) ausrichtende Matrix eines T-Schemas unterteilt. Der Historiker Martin Warnke hat auf die Polymedialität der Karte hingewiesen: Sie fungiert sowohl als Momentaufnahme gesellschaftspolitischer Verhältnisse wie auch als Verkünderin christlicher Heilslehre, Bilderbuch von Flora und Fauna oder als Vorläuferin von Satellitenbildern und Hypertexten. Bereits die »Textfülle, die keineswegs in erster Linie geographischen Zwecken dient, sondern vielmehr als die explizite Verbalisierung eines mittelalterlichen Welt-Bildes aufzufassen ist, macht augenfällig, dass es sich hier nicht um eine bloße Ab-Bildung handelt, sondern um eine grandiose Projektionsfläche menschlicher Ein-Bildungskraft.«86 Die Ebstorfer Weltkarte steht pars pro toto für das, was man eine neue visuelle Ordnung der Welt nennen kann. Über mehrere Jahrhunderte prononciert
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Warnke, Martin: Et mundus, hoc est homo, https://www.uni-lueneburg.de/fb3/kultinfo/ projekte/ebskart/content/info_hintergr_fr.html
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und begleitet die normative Kraft weltorientierter und weltorientierender Verteilungsschemata eine tiefgehende Transformation des Darstellens und Lesens von Raum. Oft kombiniert mit einer Chronik der Weltgeschichte etablieren sie sich als Enzyklopädie populärer Kosmologie und Geographie. Vom Lateinischen in zahlreiche Volkssprachen übersetzt und befeuert durch die Erfindung der Druckerpresse erfahren die neuen Zeigedispositive weitreichende Dissemination. In ihren Stadt-Welt-Bildern zeichnet sich eine heterotopische und diagrammatische Anordnungsweise ab, die die Relationalität unterschiedlicher Raumebenen betont. Was diese Diagrammatik allerdings von der gegenwärtigen Diagrammatik unterscheidet, ist, dass sich das kategorienübergreifende Nebeneinander, das ihren Darstellungsraum bewohnt, aus einem Absoluten speist, das Disziplinen noch nicht kennt. Die mittelalterliche Karte manifestiert eine Ordnungsstruktur, in der »Ordnung selbst, also eine je spezifische Relation zwischen Einzeldingen, sich durch das kennzeichnende Merkmal der Ähnlichkeit zu erkennen gibt.«87 Schließlich, an der Schwelle von Mittelalter zu industriellem Zeitalter, wird der abstrakte Raum eine neue Form der Einteilung des Absoluten, eine Radikalisierung des Codes bewirken. Der Zeitpunkt seiner Emergenz ist nicht genau zu bestimmen, seine Entwicklung verteilt sich von der Renaissance über den Klassizismus hin zum Organizismus. Der Zeitpunkt jedoch, an dem dieser Raum vollgültig erscheint, lässt sich um den Beginn des 20. Jahrhunderts datieren.88 Diese Entwicklung entsteht nicht ex nihilo, sondern bereitet sich vor. Wir sahen, wie Raum bereits in der römischen Epoche eine Wendung von einer Seinsweise (chosmos) zu einer Produktionsweise (oikonomia) erfährt. Das Mittelalter bringt die Einheit des Seins zurück. Der Preis dessen ist das Zurücktreten der Stadt hinter das Rurale, das jetzt den Raum dominiert. Kennzeichnend für das späte Mittelalter ist hingegen das Nachlassen der Bindungskraft des absoluten Raums. Konfrontiert mit einer zunehmend arbeitsteiligen Stadt sucht der scholastische Dualismus von natura naturata und natura naturans die Gemengelage der Orientierungen an die Einheit des Raums zurückzubinden. Vergebens. Paradoxerweise erhält dasjenige, was Hegel und später Marx als Entfremdung bezeichnen werden, hier seine Bedingungen der Möglichkeit. Der Aufstieg des Handels setzt die Raummodelle der Aristokratie und des Klerus unter Druck. Über Stadtgrenzen hinweg weitet sich Warenzirkulation territorial aus. Raum wird dispers. Aus dieser Entwicklung geht schließlich die 87 88
Ebd. Lefebvre: La production de l’espace, S. 334
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industrielle Produktionsweise hervor. Produktive Tätigkeit (Arbeit) löst sich zunehmend von der sozialen Reproduktion ab, um in ein abstraktes Stadium einzutreten: abstrakte Arbeit und abstrakter Raum sind hier zwei Seiten einer Medaille.89 In städtebaulicher Hinsicht forciert die Industrialisierung nicht nur das Erscheinen neuer städtebaulicher Kompositionsformen aber auch die Transformation der Komposition selbst. Das hat Auswirkungen auf das Raumverständnis ebenso wie auf dessen epistemologische Bedingungen. Als Konvergenz von Dingen und Zeichen funktioniert der abstrakte Raum der Architektur und des Städtebaus ›objektal‹. Im 20. Jahrhundert schlägt sich dies sowohl in der Materialität (Glas und Stein, Beton) der Architektur als auch in der städtebaulichen Funktionstrennung von Wohnen, Arbeiten, Freizeit nieder. Der formale und qualifizierte Raum des Objektalen negiert die Differenzen zwischen Natur, Zeit und Körper. Arbeit meint, Leben in Produktionseinheiten zu zerlegen. Mit dem abstrakten Raum erscheint nicht nur der Mensch als arbeitendes Wesen, auch gelangt die Arbeitsteilung und mit ihr die kapitalistische Produktionsweise zu ihrer endgültigen Raumwirkung: die Funktionsweise des Kapitalismus, die sowohl strahlend als auch verborgen ist.90 Reproduktion des Sozialen vermengt sich mit der biologischen Reproduktion. Der regierungstechnische Zugriff auf die Körper durch die Ökonomisierung des Raums, wie sie im 19. Jahrhunderts begonnen hatte, nimmt zu. In der Raumpraxis dominieren die Produktionsbeziehungen, der konzeptuelle Raum überschreibt den gelebten Raum fast vollständig, Tauschwert ersetzt den Gebrauchswert und Raum geht selbst in eine Warenform über. Auch die Qualität von Zeit beginnt sich zu ändern: Zyklen werden auseinandergerissen und Zeit und Rhythmus linearer gemacht, die Inanspruchnahme von Zeit durch Arbeitszeit, die Maschinentaktung, die Arbeitsteilung usw. geordnet. Der wissenschaftliche Rationalismus setzt beides voraus: den Verzicht auf jede finalistische Erklärung des universellen Raums und die Behauptung seines unendlichen Charakters. Eingetaucht in die unendliche Zeit der langen Dauer sind die Körper zerteilt zwischen einer geographischen und einer sozialen Zeit und somit von jeder Form einer Universalität der Natur ausgeschlossen. Der Städtebau verräumlicht, was die Philosophie der Aufklärung theoretisch vorbereitet hatte. In Absetzbewegung zur mittelalterlichen Theologie, die Raum mit Wahrheit als offenbarter Religion – vor jeder aktiven Aus89 90
Ebd., S. 60 Ebd., S. 61
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übung philosophischen Denkens – verband, erhebt die Aufklärung das Subjekt zum Einsatzpunkt einer gewaltigen Umkehrung. In ihm liegt nun die Souveränität eines Denkens, das seine Wirkmacht daraus erhält, dass es sich nicht mehr auf eine ihm vorausgehende Wahrheit beruft. Anstatt innerhalb der Welt zu sein, tritt das Subjekt aus dieser heraus. Das cogito steigt zu einem transzendentalen Punkt auf, dessen Ortlosigkeit zur Grundproblematik der modernen Philosophie avanciert. Währendem avanciert das Büro zu dem zentralen Ort, von aus dem der Städtebau die verwaltete Verräumlichung der ortlosen Subjekte in Form der »neuen Stadt« denkt, organisiert und plant. Dem abstrakten Raum wohnt eine widersprüchliche Bewegung inne: Während er innerlich zur Homogenisierung drängt, erzeugt er externe Fragmentarisierung. Nirgendwo ist besser illustriert als in Friedrich Engels bahnbrechender Studie Lage der arbeitenden Klasse in England, wie die industrielle Fabrik klinische Ordnung im Innern und Chaos im Äußeren, den sie umgebenen Städten, hervorruft. Als Maschine der Akkumulation, Kalkulation und Funktion zeigt sich die Fabrik als Apotheose des abstrakten Raums. Sie subsumiert alle inneren Vorgänge unter Planung, um gleichlaufend Chaos in den Städten zu erzeugen. Mit der Fabrik erscheint eine völlig neue Klasse in der Stadt: das Proletariat. Man sollte hier an ein raumgeschichtliches Paradox erinnern. Es besteht darin, dass das Proletariat einerseits eine rein urbane Klasse ist (sie existiert nicht ohne die Stadt), andererseits aus dem durch die Fabrik provozierten Niedergang der Stadt hervorgeht. Nehmen wir das Beispiel des berühmten Stadtumbaus von Paris durch Haussmann Mitte des 19. Jahrhunderts. Diese chirurgische Restrukturierung der Stadt behandelt nicht nur Problematiken einer explodierenden Stadtbevölkerung, wie etwa Hygiene, Zirkulation, polizeiliche Ordnung und philantropische Wohlfahrt. Sie ist auch eine direkte raumpolitische Reaktion auf das städtische Phänomen Proletariat.91 Mit dem Aufstieg des abstrakten Raums entsteht der Städtebau als Wissenschaft. Einst positioniert als Kunst, muss Städtebau jetzt wissenschaftliche Legitimation vorweisen. Aus diesem Wechsel resultieren tiefe Konflikte innerhalb der Disziplin. Der Preis für den Kampf um Anerkennung ist hoch: Raum, vom Städtebau in zahllose Einzelaspekten zerlegt, gerinnt zum Fragment. »Die soziale Arbeitsteilung prägt sich immer schärfer aus (ohne deswegen rational organisiert zu sein); schließlich umgreift jede Beschäftigung nur mehr staubkorngroße Bereiche, sowohl auf materiellem Gebiet als auch
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Vgl. Dell: Ware: Wohnen!
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bei unproduktiven, aber sozial notwendigen Tätigkeiten (geistigen, wissenschaftlichen).«92 Aus solch spezifischer Produktions- und Organisationsweise emergiert der Städtebau »als Träger einer begrenzten tendenziösen Rationalität, deren Objekt (Ziel) der scheinbar neutrale und unpolitische Raum ist.«93 Die neuen Entwurfsdoktrinen orientieren sich am Abstrakten. Sie fußen auf der Annahme eines pathologischen Raums, der sich mit Rezepten aus dem Labor heilen lässt. In organisationaler Hinsicht steht der Stadt die Fabrik Modell. Ziel des wissenschaftlichen Städtebaus ist die generalisierte Organisation der Stadt. Empirische Grundlage dessen bilden die neue Erhebungstechnik der Statistik und ein immenser Verwaltungsapparat. Indes, wo der Städtebau auf das Bild von Stadt als homogenem Gebilde aus Zeit und Raum insistiert, treibt er tatsächlich ihre Zersetzung voran. Man hat es hier mit einem klassischen Fetisch zu tun: Das gewöhnliche Objekt Stadt erlangt eine Aura, durch die eine entkörperlichte Dimension hindurchscheint. Unter den sozialen Bedingungen des Kapitalismus mobilisiert der Städtebau die Fetischfunktion um Stadt als geordnetes Warenuniversum erscheinen zu lassen. Im Hinblick auf die Gestalt der Stadt erlaubt uns dieser Hinweis eine Reaktualisierung von Marx’ Fetischbegriff. So wie Geld als universelles Äquivalent unmittelbar jeden Exzess verkörpert, der einen Gegenstand zur Ware macht, soll die Stadt den Exzess verkörpern, der das Menschentier in eine rationale Ordnung eintreten lässt. Stadt »bevölkert sich also mit Objekten, deren Zusammenhang nur ein scheinbarer ist, auch wenn dieser Schein durch zwingende Systematisierungen gestützt wird.«94 Das Paradox besteht also darin, dass der Urbanismus die Unordnungen, die er bekämpfen will, selbst produziert. Aus diesem Grund gelingt es ihm nicht, den von ihm mit betriebenen »hochkomplexen und konfliktgeladenen Doppel-Prozeß: Industrialisierung-Verstädterung«95 konstruktiv zu bespielen. Seine abstrakte Raumkonzeption übersieht entweder die Produziertheit des Raums oder rekurriert auf eine rein begriffliche Konstitution einer solchen. Im Glauben, durch die richtige Analyse den Raum beherrschen und auf jedes Raumproblem eine Lösung finden zu können, entgeht dem Städtebau beides: erstens die Tatsache, dass seine Raumkonzeption selbst Bedingungen unterliegt bzw. in Produktions- und Machtverhältnisse eingelagert ist, und
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Lefebvre: La production de l’espace, S. 211 Ebd. Lefebvre: Revolution der Städte, S. 51 Ebd., S. 196
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zweitens, dass sich produzierter Raum sowohl vollständiger Objektivierung als auch Kommodifizierung widersetzt.96 Der Städtebau als Wissenschaft existiert folglich nur, weil es in seiner Mitte eine Kluft gibt. Nur diese Kluft erklärt die mysteriöse Tatsache der rationalen Planung, das heißt ein SelbstBewusstsein als Effekt einer Verkennung von Ursache und Wirkung bei gleichzeitiger Behauptung eins objektiven kausalen Vorgehens, ganz unabhängig davon wie komplex und kontingent die städtische Wirklichkeit sein mag. Das erklärt, warum beinahe jede vom Städtebau lancierte angebliche Problemlösung in Wahrheit x neue Probleme herbeiführt.
3.6 Der differentielle Raum Endlich die Entfaltung der urbanen Form. Sie lässt die Bindung der Raumproduktion an die Logik geometrischer Form und mit ihr des abstrakten Raums erodieren. Die Logik des »differentiellen Raums« entsteht. Mit der Rede vom differentiellen Raum ist eindeutig definiert, dass die Unterschiede (stadt-)räumlicher Arrangements nicht aus einem euklidischen bzw. physischen Raum hervorgehen, sondern aus dem, was sich dort ereignet, als Nutzung emergiert und an Kontrasten ausbildet. Die klassische Unterscheidung von Figur vs. Grund verliert ihre ordnende Funktion: »Überfluß, Gewimmel, alles ist hier verdeutlicht.«97 Die differentielle Bewegung führt die heterogenen Elemente des Stadtraums zusammen – alles scheint lesbar. Die Ordnung der urbanen Wirklichkeit ist indes weder unverbrüchlich noch lückenlos. Wer das Differentielle, das heißt die vergleichende Abgrenzung des Städtischen, entziffern will, steht vor der ebenso schließenden wie öffnenden Tatsache, dass sich die Ordnungen der Stadt als eigenartig ordnungslos, porös, instabil, diskontinuierlich, brüchig enthüllen. Mit dem Urbanen zeigen sich Formen, denen keine eindeutige hermeneutische Zuschreibung zugewiesen werden kann. Raumepistemologisch bedeutet dies, dass sich das Lesen von Raum auf die differentiellen Vektoren der urbanen Raumproduzierenden richtet. Deren agonale Konflikte formen sich zu unterschiedlichen Gefügen aus. Insofern ist die urbane Wirklichkeit, als Stadt, räumlich versammelnd und Unterschiede hervorbringend zu verstehen.
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In dem Zusammenhang bleibt zu bedenken, dass auch das Urbane – als ein durch Raumproduktion Hergestelltes – an ein ganz bestimmtes geschichtliches Modell von Gesellschaft gekoppelt ist: das der verstädterten Gesellschaft. Diese Gesellschaftsform, die sich aus der Agrar- über die Industriegesellschaft entwickelt hat, trägt bestimmte Merkmale. Die Produktion von Dingen im Raum (so wie sie Marx für die Industriegesellschaft beschrieben hatte), wendet sich hin zu einer Produktion von Raum als solchem. Richtete die industrielle Produktionsweise den Fokus auf das Objekt Produkt (begleitet von der Perfektion der Produktionsmittel, ihrem Besitz und ihrer Verwaltung), so verlagert sich der Fokus im Urbanen auf die Organisation der Produktion. Anders gesagt: In der urbanen Gesellschaft stehen nicht die Produkte, sondern vor allem die Produktionsbeziehungen im Vordergrund. Solches manifestiert sich auch in der qualitativen Bestimmung des Raums: »Der soziale Raum enthält, indem er ihnen ihre (mehr oder weniger) geeigneten Orte zuweist, die sozialen Reproduktionsverhältnisse das heißt die biophysiologischen Beziehungen zwischen den Geschlechtern, den Altersstufen sowie die jeweilige Organisation der Familie, und die das heißt die Aufteilung und Organisation der Arbeit, also die hierarchisierten sozialen Funktionen.«98 Wie aber konvergiert der Begriff der Produktionsbeziehungen innerhalb des differentiellen Raums mit dem Begriff der Produktionsverhältnisse wie ihn Marx definiert hat? Marx zeigt, wie sich der ›spezifische, historische und vorübergehende Charakter‹ der »Verhältnisse, welche die Menschen in ihrem gesellschaftlichen Lebensprozess, in der Erzeugung ihres gesellschaftlichen Lebens eingehen«99 in der gesellschaftlichen Ordnung als Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnis konkret niederschlägt. Marx zielt vor allem auf das »unmittelbare Verhältnis der Eigentümer der Produktionsbedingungen zu den unmittelbaren Produzenten […], worin wir das innerste Geheimnis, die verborgene Grundlage der ganzen gesellschaftlichen Konstruktion und daher auch der politischen Form des Souveränitäts- und Abhängigkeitsverhältnisses, kurz, der jedesmaligen spezifischen Staatsform finden.«100 Bezugspunkt
Dünne/Günzel: Raumtheorie, S. 331 Marx, Karl: »Das Kapital. Dritter Band«, in: Marx-Engels-Werke (MEW), Band 25. Berlin 1956, S. 885 100 Ebd., S. 800 98 99
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für Marx sind hier die industrielle Gesellschaft und ihre spezifischen Probleme der Eigentumsfrage sowie der Fabrikarbeit. Im Kontext der urbanisierten Gesellschaft nimmt der Begriff ›Produktionsbeziehung‹ eine neue Bedeutung an. Michel de Certeau hat hervorgehoben, dass es die individuellen Bewegungs- bzw. Aneignungs- und Umfunktionsformen innerhalb der gegebenen Eigentumsverhältnisse sind, die das Urbane von der industriellen Gesellschaft unterscheiden.101 Mit der Entwicklung der Produktivkräfte und der damit einhergehenden Vergesellschaftungsprozesse differenzieren sich die Realisierungsmöglichkeiten und -bedingungen des im Kapitaleigentum implizierten Ausbeutungsverhältnisses aus. Weist de Certeaus Betonung des ausgehandelten Charakters sozialer Relationen nicht auf eine Gesellschaftsform hin, in der über alle Interaktionsmuster, von der Raumaneignung bis zur ethnischen Identität neue Übereinkünfte getroffen werden müssen? Orientieren sich die Raumproduzierenden des Urbanen nicht eher am Verhaltenstyp kapitalistischer Unternehmer aus, die ihr eigenes Büro zur Kreation und Wahrnehmung von Lebenschancen managen, als am Typus der Angestellten?102 Und bilden Individuen, wie Pierre Bourdieu herausstellt, über die Anhäufung kultureller und sozialer »Produktionsmittel« und über den immer bewussteren Konsum nicht ein subversives Potential aus, welches die »bislang stillschweigend akzeptierten Zielsetzungen der Herrschenden tiefgreifend unterminiert?«103 Die Produktionsbeziehungen des Urbanen differenzieren sich auf »nichtvorhersehbare« Weise aus. Man kann daraus den Schluss ziehen, dass sich die Raumproduzierenden mit stets neuen Spielräumen konfrontiert sehen. Ihr Imperativ lautet: »perform yourself!« Diese Aspekte offenbaren, dass sich auch der in die Produktionsbeziehungen eingelagerte Arbeitsbegriff wandelt. Oskar Negt und Alexander Kluge haben zu recht bemerkt, dass man Produktionsverhältnisse nicht verstehen kann, »wenn man sie nur oder auch nur vorwiegend in den Fabriken sucht. […] Was wir in der gesellschaftlichen Praxis, die die Lebens- und Arbeitszusammenhänge nach Berufs-, Produktions-, Konsumtionssparten und in private und öffentliche Teile zertrennt, als Arbeitsvermögen betrachten, sind die scheinbaren Bewegungen. Die wirklichen Bewegungen, die sie 101 Vgl. Dell: Replaycity 102 Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1986 103 Bourdieu: Die feinen Unterschiede. S. 276
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machen, sind nicht sinnenklar. Sie treten erst aufgrund eines spezifischen Arbeitsvorgangs ans Licht: Wenn wir sie in der Zerstreuung der falsch zusammengesetzten Gesamtarbeit wieder einsammeln und ihre spezifische, als Doppelprogramm zur Realität stattfindende Selbstregulierung für die Sinne rekonstruieren.«104 Unter urbanen Produktionsverhältnissen ist die Frage der Raumproduktion nicht nur auf Probleme der Aneignung durch die Raumproduzierenden, sondern auch deren »Eigensinn« zurückzuführen. In diesem Zusammenhang tritt ein neues Ausformen des Sozialen und Hinterfragen der Grundmuster von Begegnungen, Körperaktivitäten (Aneignung, Entäußerung) in den Vordergrund.105 Wenn Produktion von Raum nicht in der Herstellung von Sachen aufgeht, aber auch soziale Relationen impliziert, gilt, dass die Bestimmung der Objektalität des Raums in Frage steht. Raum ist als Totalität in den Blick zu nehmen. Im Gegensatz zur Hegel’schen Bestimmung heißt Totalität hier nicht metaphysische Ganzheit aber relationale Einheit der Produktionsbeziehungen. Diese Umkehrung signalisiert erstens: die Prominenz der Produktionsbeziehungen löst Marx’ Frage nach den Produktionsmitteln nicht ab, rückt sie aber in den Hintergrund. Zweitens wird der wissenschaftlichen Städtebau als ein Instrument der Verwaltung und Organisation von Territorien nach der Logik bzw. Ideologie des Wachstums sichtbar, deren Modi des Raumlesens zur Disposition stehen. Die beste Formel diese Lage zu charakterisieren stellt vielleicht die sogenannte neue ökologische Klasse dar. Im Gegensatz zu den Gruppierungen, die an den Klassenkämpfen der Industrialisierung beteiligt waren ist der Klimaaktivismus weit entfernt, eine Beteiligung an den Produktionsmitteln zu fordern. Insofern der ökologischen Klasse die Produktion zum Synonym für Zerstörung geworden ist, zieht sie sie als solche in Zweifel.106
3.7 Kritik des Städtebaus? Die urbanistische Standardfrage, die heute oft gestellt wird, lautet: Bedeutet Verstädterung der Welt, dass das Ländliche verschwunden ist? In seinem Ar104 Negt, Oskar/Kluge, Alexander: Geschichte und Eigensinn. Frankfurt a.M. 1981, S. 192f. 105 Vgl. Dell, Christopher: Die improvisierende Organisation. Bielefeld 2012 106 Vgl. u.a.: Latour, Bruno/Schultz, Nikolaj: Mémo sur la nouvelle classe écologique. Comment faire émerger une classe écologique consciente et fière d’elle-même. Paris 2022
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tikel Sollen wir den ländlichen Raum aufgeben? weist der Stadtplaner Ton Matton auf das grundlegende Paradoxon hin: »Die Stadt hat das Land doch schon längst eingenommen: wir gucken die gleichen Fernsehprogramme, benutzen das gleiche Internet, fahren die gleichen Autos.«107 Matton will damit sagen: Das Rurale verschwindet nicht. Es geht vielmehr im Urbanen auf. Der Unterschied zwischen Peripherie und Zentrum ist nicht aufgehoben, sondern verschiebt sich. Je stärker das Urbane mit seiner Präsenz auf sich aufmerksam macht (durch Unterbrechungen, Konflikte, Infrastrukturmängel), desto stärker ist der Wunsch nach einer seiner Verdörflichung. Nichts bezeugt dies besser als der Hang des neuen Urbanismus zum townhouse, zur homogenen community und zum Pseudo-Grün. Oder anders herum gesagt: je getreuer die townhouse-Siedlungen die Dörflichkeit des Landes wiederzugeben zu suchen, desto stärker ist der Eindruck, dass wir es mit etwas »Unauthentischem« zu tun haben. Wo der Gegensatz zwischen Land und Stadt, Natur und Kultur erodiert, so ist Raumproduktion nicht die unmittelbare Präsenz der Akteure, zu der man gelangt, wenn man sich »der Stadt« entledigt und »aufs Land« flüchtet. Sie ist vielmehr jener Rest der Authentizität, deren Spuren wir in den alltäglichen Handlungen des Urbanen erkennen können. Kurzum, die raumproduzierenden Subjekte sind etwas, das in seiner unvollkommenen Repräsentation gewesen sein wird. Niemand hat dies besser ausgedrückt als Rem Koolhaas. In seiner Stadtforschungsstudie Delirious New York108 sprach Koolhaas die amerikanische Metropole als ein phantasmagorisches Projekt der Moderne an, dessen Übersteuerungen nur in Form des Retroaktiven Manifests erklärbar werden. Man sollte also darauf hinweisen, dass Verstädterung nicht als eine äußerliche Konsequenz zu verstehen ist. Es handelt sich vielmehr um eine inhärente, qualitative Veränderung. Dieser Prozess hat zwei Aspekte: zum einen das Wachstum der quantitativen Produktion von Raumstrukturen (Wohnbauten, shopping malls, Gewerbeflächen, Verkehrsinfrastrukturen, Bürotürme usw.) und zum anderen die qualitativen Folgen dessen. Aus diesen Aspekten geht die urbane Problematik hervor. In geschichtlicher Perspektive ergibt sie sich aus dem Scheitern des funktionalistischen Städtebaus des 20. Jahrhunderts. Dessen Strategie, die Rationalität der Fabrik, der industriellen Erfahrung und deren Modelle und Repräsentationsschemata auf die urbane Rea107 Matton, Ton: »Sollen wir den ländlichen Raum aufgeben?« | Debatten zur Baukultur. h ttps://www.BKULT.de 108 Koolhaas, Rem: Delirious New York. New York 1978
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lität zu übertragen, stellt sich als dysfunktional heraus. Dennoch restituiert sich dieser »Urbanismus als Ideologie«109 in stets neue Formen. Als städtebauliche Leitbilder wie etwa »Gegliederte und Aufgelockerte Stadt«, »Autogerechte Stadt«, »Urbanität durch Dichte«, »Europäische Stadt«, »Wachsende Stadt« oder, aktuell, »Nachhaltige Stadt« gehen diese Formen in die Geschichte der Stadtentwicklung ein.110 Städtebauliche Leitbilder kommen und gehen. Ein konsistentes Merkmal ist ihnen allen eigen: Sie pointieren den Städtebau als Disziplin, die sich vermittels der von ihr hergestellen Repräsentationen von Raum die ihr eigenen Blindfelder baut. Das Blindsein äußert sich in der Ohnmacht angesichts der Form des Urbanen. Weder die Form noch die ihr inhärenten Vektoren und Spannungen können in den Repräsentationen des Städtebaus sichtbar werden.111 Man hat es hier nicht nur mit einer passiven Blindheit zu tun, vielmehr verdeckt das Leitbild aktiv »die städtische Wirklichkeit selber mit ihrer Problematik und ihrer Praxis.«112 Die Ideologie der »Guten Stadt« verlegt die urbane Wirklichkeit »ins Okkulte.«113 Je weniger der Städtebau von der städtischen Wirklichkeit sieht, je mehr Repräsentationen produziert er. Sie hindern den Urbanismus daran, auf die jene Fragestellungen zu stoßen, die hinter den Problemen stehen, die er zu lösen vorgibt. So stopft der Städtebau jedes »Loch zu, füllt das Dazwischen auf«114 , um auf diese Weise immer mehr Löcher und Resträume im urbanen Gefüge zu produzieren. Das ist es, was man vom Städtebau erwartet, »und gerade das versprechen die ›Städteplaner‹ nur allzu oft.«115 Sich auf das Objekt-Produkt Stadt kaprizierend, entgeht dem Städtebau die Differenz zwischen industrieller Stadt und verstädterter Gesellschaft. Sie interpretieren eines als das Resultat des anderen. Aus dieser Betrachtung erwächst »ein Pseudokonzept des Städtischen; der Urbanismus nämlich, die Anwendung der Industrierationalität, die Ausschaltung der städtischen Rationalität.«116 Wie ist dieses Pseudokonzept beschaffen und wie funktioniert es? Hier hilft es, auf Jacques Lacans Begriff des Realen zu verweisen. Das Reale ist 109 110 111 112 113 114 115 116
Lefebvre: Espace et politique, S. 73 Vgl. Dell: Ware: Wohnen!, S. 146f. Lefebvre: Die Revolution der Städte, S. 59 Ebd., S. 60 Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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ein Triebsystem, dessen Kernmerkmal darin besteht, sich der Symbolisierung zu entziehen. Indes, anders als das, was Kant »Ding an sich« nannte, die Wirklichkeit wie sie dort draußen ist, unabhängig von uns und unserer verzerrten Wahrnehmung, ist dieses Reale weit entfernt, ein stabiler transhistorischer Kern zu sein. Für Lacan ist das Reale kein äußeres Ding, das sich dem Einfangen durch die Repräsentation widersetzt, sondern der Riss in der Repräsentation selbst. Das Reale ist ein Effekt dieser Lücke und nicht etwas, das den symbolischen Raum verzerrt. Das führt zur Grundthematik der Psychoanalyse: Wie kann ein Trauma symbolisiert und in ein Bedeutungssystem integriert werden? Wie kann ich die Blockaden lösen, mit denen das Trauma mich versorgt, und die ich immer aufs Neue aktualisiere, ohne dass ich mir dessen bewusst bin? Man nehme das beliebte Argument, der Städtebau der Moderne misslang deshalb, weil er anstrebte, der Wirklichkeit eine utopische (=illusorische) Vision der Menschheit überzustülpen und dabei nicht berücksichtigte, wie sehr die Menschen von der Macht der Tradition geprägt sind. Am besten zusammengefasst ist diese These wohl in Alexander Mitscherlichs Inkunabel Die Unwirtlichkeit der Städte.117 Aber liegt darin wirklich der Grund für ihren Niedergang? Das Gegenteil ist der Fall: der Urbanismus der Moderne scheiterte und scheitert daran, dass seine funktionalistische Version – die heute noch unsere Baunutzungsverordnung bestimmt – gar zu realistisch war, weil er das Reale der Illusion unterschätzte, die die menschlichen Tätigkeiten weiterhin determiniert (»das kleinbürgerliche Ressentiment« usw.) und den Aufbau der »neuen Stadt« aus einer tabula rasa als eine rücksichtslos »realistische« Mobilisierung der Stadtbewohner zur Errichtung einer neuen Ordnung begriff. Man ist daher versucht zu sagen: Während etwa Hans Scharoun oder Ludwig Hilbersheimer dem Realen der Illusion der Moderne, ihrem emanzipatorischen Potential treu blieben, war Le Corbusier ein schlichter Realist, der um die Durchsetzung seiner Werke kämpfte. Analoges lässt sich vom gegenwärtigen Städtebau sagen. Aufgerieben zwischen öffentlichen und privaten Interessen lebt er vom »Kompromiss zwischen dem Neo-Liberalismus (der der Programmierung und den sogenannten ›freiwilligen‹ oder ›konzertierten‹ Aktionen einen gewissen Platz einräumt) und dem Neo-Dirigismus (der der ›freien Marktwirtschaft‹ ein gewisses Betätigungsfeld zubilligt).«118 Da er dem Realen seiner Illusion folgt, das heißt auf einer Vereinheitlichung und Homogenisierung des Raums zielt, kann der Städtebau mit dem Antagonismus, den 117 118
Mitscherlich, Alexander: Die Unwirtlichkeit der Städte. Frankfurt a.M. 1965 Lefebvre: Die Revolution der Städte, S. 59.
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Konflikten der Stadt, nicht konstruktiv verfahren. Im Glauben, urban zu sein, folgt er in Wirklichkeit der Logik des Profits, des Industrieraums und dem Raum der Ware und reproduziert so seine eigenen Blockaden. Aber weist diese Lücke zwischen Wirklichkeit des Planungsbüros und seiner Darstellungsräume und der Wirklichkeit der Stadt-Handelnden, in das sich der Exzess das Planens einschreibt, nicht erneut die Struktur dessen auf, was Marx als Warenfetischismus beschrieben hat – ein gewöhnliches Objekt (etwa die Stadt) erlangt eine Aura und eine andere, unkörperliche Dimension, beginnt durch es hindurchzuscheinen? Bekanntermaßen hat Marx mit Fetisch das angesprochen, was bei ihm Ideologie, »verkehrtes Bewusstsein« heißt. Jedes verkehrte Bewusstsein braucht einen Treiber. Marx nennt eben dies einen Fetisch. Der Städtebau als Ideologie beinhaltet Fetischismus auf zwei Ebenen. Der erste Fetischismus zielt auf die Zufriedenstellung dessen, was die Ideologie als »Bedürfnisse« identifiziert. »Man kann diese Bedürfnisse kennen, indem einmal die Betroffenen sie darlegen, und sich zum anderen Experten mit ihnen befassen. Sie können klassifiziert werden. Für jedes Bedürfnis wird ein Objekt geliefert.«119 Indes ignoriert der Urbanismus soziale Bedürfnisse gerade dort, wo er deren Fragestellungen auf die Befriedung durch gestaltete Objekte reduziert. Der zweite Fetischismus ist der Raumfetischismus.120 Er entzündet sich an zwei Vorstellungen. Die erste Vorstellung besteht in der Hypothese, Raum sei Schöpfung. Aus ihr resultiert die zweite, die besagt: Es braucht nur eine gute Schöpfung, um Stadt lebenswert zu machen: »Wer den Raum erschafft, erschafft das, was ihn ausfüllen wird. Der Ort lässt das Ding und der gute Ort das gute Ding erstehen.«121 Indem sich der Städtebau auf einen ›guten‹ Raum bzw. gute Gestaltung beruft, inszeniert die Diagnostik eines ›kranken‹ Raums: »Entweder ist die Raumkrankheit eine Entschuldigung für die Leute, dafür aber eine Anklage gegen die Kompetenzen; oder die Krankheit der Leute in einem guten Raum ist unentschuldbar.«122 Der Fetischbegriff klärt in dem Zusammenhang darüber auf, dass die heute üblich gewordene kulturalistische Kritik des Urbanismus keineswegs hinreicht (man diskutiert den Städtebau allein bezüglich seiner ästhetischen Wirkung im Sinne von »der neugestaltete Platz ist nicht schön, er ist zu modern, er ist nicht ›menschlich‹
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Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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etc.«).123 Im Gegenteil: Eine solcher Tadel verstärkt vielmehr den Fetischismus dessen, was er vermeintlich kritisiert. Mit dem Aufzeigen des Fetischcharakters will Marx die adäquate gültige Gedankenform und doch zugleich »falsche« Wahrnehmung des gesellschaftlichen Seins sichtbar machen, das tatsächlich aus der sozio-ökonomischen Formgegenständlichkeit und Verdinglichung sozialer Beziehungen hervorgeht. Der Fetisch verdeckt die Objektivationen, die den sozialen Verhältnissen und den in ihr sich artikulierenden Bedürfnissen zukommen. Marx stellt indes heraus, dass eine Aufhebung des Fetischismus nicht durch Aufhebung eines Bewusstseinsphänomens gelingen kann. Positiv formuliert: Nur durch die Aufhebung der das Bewusstsein konstituierenden Form gesellschaftlicher (Produktions-)Verhältnisse und der damit verknüpften resultierenden Praxis, kann ein Fetisch bewältigt werden: »Die verdrehte Form, worin die wirkliche Verkehrung sich ausdrückt, findet sich natürlich reproduziert in den Vorstellungen der Agenten dieser Produktionsweise.«124 Marx schlägt daher vor, dass jede Fetischanalyse die doppelte Stoßrichtung von Herrschafts- und Erkenntniskritik zu berücksichtigen hat. Es ist diese Forderung, die Lefebvre auf den Urbanismus transponiert. Die Untersuchung der Form des Urbanen und der gesellschaftlichen Relation von Dingen und Menschen darf nicht bei morphologischen Fragen stehen bleiben. Sie muss auch die ökonomischen Verflechtungen und Bedingung des Urbanismus selbst beleuchten. In ökonomischer Hinsicht ist der Städtebau als Teil des Immobiliensektors an der Distribution von und Spekulation mit der Ressource Boden beteiligt. Wobei man den Immobiliensektor als einen sekundären ökonomischen Sektor bezeichnen sollte, »der parallel zu dem der Industrieproduktion verläuft, die den Markt mit mehr oder weniger kurzlebigen ›Gütern‹ versorgt, als ›Immobilien‹ es sind.«125 Dieser sekundäre Sektor, der erst seit dem 19. Jahrhundert besteht und dessen Inhalt es ist, das Produkt »Wohnen« zu vermarkten,126 absorbiert die Krisen, die in den Primärsektoren auftreten. Sobald diese Krisen erscheinen – etwa eine Finanzkrise –, »strömt ihm das Kapital zu. Anfänglich mit fantastischen Profiten, die aber bald geringer werden. Hier, auf diesem
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Ein Beispiel hierfür ist die Urbanismuskritik aus dem Lager des Instituts für Stadtbaukunst an der TU Dortmund und dessen »Zehn Grundsätze zur Stadtbaukunstheute«, h ttps://www.aknw.de/?modus=aktuelles_detail&id=2397 124 Marx: »Deutsche Ideologie«, S. 163 125 Lefebvre: Die Revolution der Städte, S. 203 126 Vgl. u.a. Dell: Ware: Wohnen!
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Sektor, gibt es kaum Wirkungen, die sich ›multiplizieren‹: induzierte Tätigkeiten sind selten.«127 Je mehr Kapital in den Immobiliensektor fließt, je mehr nimmt die Kapitalzirkulation ab. Obwohl dies negative Effekte auf die Primärwirtschaft hat, »nehmen Rolle und Funktion dieses Sektors unaufhörlich zu. Während der Anteil des globalen Mehrwertes, der in der Industrie gebildet und realisiert wird, absinkt, nimmt der Teil des Mehrwertes zu, der durch die Spekulation und auf dem Bausektor gebildet und realisiert wird.«128 Der Ökonomie gelten diese unproduktiven Investitionen als »ungesunde Korrelation« zwischen Wirtschaftskrisen und Bautätigkeit oder auch als »Fehllokation« von Kapital.129 Es ist hier die Ideologie des Städtebaus, die dazu beiträgt, die Konflikte und Probleme, die durch die Sektorenverschiebung in der Ökonomie auftreten zu verdecken, mehr noch: Städtebau agiert als Mittler des Konfliktes ohne diesen selbst zu sehen: »Der Urbanismus, der sich am Drehpunkt zwischen den beiden Sektoren (Produktion ›beweglicher‹ Güter und ›Immobilien‹) befindet, versteckt diesen Drehpunkt. Wenn wir die Metapher weiterführen dürfen, können wir sagen, er ermögliche auch die Schmierung dieses Drehpunktes.«130 In dieser Funktion steigt der Urbanismus zum »Klassenurbanismus« auf. Als Treiber einer unternehmerischen Stadt verkauft der Städtebau glückliches und freies Leben, »Lebensstil« und sogar Gemeinschaft innerhalb eines ökonomischen Regimes der Fragmentierung, Verteuerung und Destabilisierung von Wohnraum.131
3.8 Schaltung Philosophische Rationalität des 19. und 20. Jahrhunderts bildet Definitionen der Welt, deren demokratische Verallgemeinerung sich im Rationalismus der Meinung und der Haltungen äußert und so gesellschaftliche Realität mitbestimmt. Die Bürger der Aufklärung erhalten ihr Ansehen dadurch, dass sie zu einer vernünftigen Meinung über jede Tatsache und jedes Problem befähigt sind. Wo Irrationalität war, soll Vernunft werden. Man hat es hier mit ei-
Lefebvre: Die Revolution der Städte, S. 203 Ebd. Vgl. u.a.: https://www.guardian.co.uk/business/2012/jan/11/skyscrapers-china-india-r ecession 130 Lefebvre: Die Revolution der Städte, S. 203 131 Ebd. 127 128 129
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nem perpetuum mobile zu tun: Eine allgemeine Weisheit formt den Gemeinwillen, der jetzt gesellschaftliche Orientierung liefern soll. Umgekehrt entspringt die Weisheit der Allgemeinheit, das heißt der öffentlichen Konfrontation von Ideen und Meinungen. Genau aus diesem Rationalismus geht Ende des 19. Jahrhunderts Städtebau als Disziplin hervor: Sein Metier ist die Form methodischer Analyse der Elemente von Produktion, Organisation, welche sich in Struktur und Funktion auf das Terrain (der Stadt als Form) projizieren lassen. Einsichtig ist, dass rationaler Urbanismus die städtischen Elemente mit einer planerischen Finalität verknüpft. Offen bleibt indessen, woher derlei Finalität kommen soll und wer für sie von wo aus spricht. Legitimation und Adresse der eigenen Position erweisen sich als jene neuralgischen Punkte, die, basierend auf radikaler Externalisierung, wiederum eine spezifische Form urbanistischer Rationalität hervorbringt. Städtebaulicher Rationalismus leitet Finalität aus einer Verkettung von Operationen ab und meint, das telos (als Ensemble und die Orientierung des Ensembles) der Stadt lenke sich selbst. Operativität proklamiert sich somit als Sinn, dessen Finalität als Objekt der Entscheidung gelten soll. Aus diesem Verständnis resultiert wiederum eine bestimmte Strategie, deren ideologische Absicherung durch die Einführung des Begriffs ›System‹ nur noch verstärkt wird. Die realen Unbestimmtheiten der Stadt, mit denen sich der Städtebau heute konfrontiert sieht, weisen auf, dass dasjenige, was der Städtebau einst als rational notwendig angegeben hatte, noch lange nicht ›logisch‹ sein muss. Was für den Stadtraum gilt, gilt auch für die Verortung von Wissenschaft. Wie sie sich als objektiv geriert, so ist sie stets gesellschaftlich vermittelt und mit politischem Interesse und Klassenstrategie verknüpft. Innerhalb dessen verabsolutiert der Städtebau nicht nur die gestalterische Subjektivität, indem er sie in das Gewand eines objektiven Rationalismus steckt. Er verwischt auch seine eigene historische, ökonomische und politische Vermitteltheit. Wer Resultate ›rationaler‹ Planung in ihrer Verwirklichung untersucht, stellt schnell fest: Das Ergebnis langjähriger Planung auf dem Terrain zeigt sich kaum rational geordnet, sondern eher durchsetzt von Kontingenz. Ferner gerät mit der Externalisierung, also der Berufung auf ein rational bestimmbar gegebenes Außen (als Raum), die Situation der Planer (auch ihnen selbst) aus dem Blick: »In der von ihnen auf kritische Art und Weise beobachteten ›Realität‹ – Vororte, urbanes Gewebe und subsistente Kerne – erkennen die Rationalisten nicht die Bedingungen ihrer eigenen Existenz.«132 Von dieser 132
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Konstellation rührt eine merkwürdige Aporie her: Je stärker seine Planungen Kontigenz evozieren, je mehr will der Städtebau das Urbane mit neue Formen der Kohärenz versorgen. Er verliert dabei beides aus dem Auge: Das, was sich im urbanen Alltag tatsächlich abspielt und das, was er selbst an Raum mitproduziert. Solche Planung entwickelt zuvorderst kein Verhältnis zu sich selbst, sondern wird metasprachliches Konstrukt, das nach Verräumlichung sucht. Ein neues Verständnis von Stadt würde demnach auch ein neues Selbstverhältnis des Städtebaus implizieren. Gefragt ist die Befähigung, konstruktiv mit der Unbestimmtheit performativer Stadt umzugehen. Als ein tendenzimmanentes Beispiel dieser Reversionen können die rezenten städtebaulichen Vorschläge zu dem gelten, was man »Bauen im Bestand« nennt. Von Interesse ist hier der Übertritt vom Design zum Redesign:133 Städtebaulicher Entwurf wandelt sich zur Umgestaltung von Bestehendem.134 Wenn das Umgestalten den externalisierenden Raum der Vernunft – vormals sicherer Ort urbanistischer Schau – ersetzt, kommt es auch zu einer Neuverhandlung über städtische Wirklichkeit. Die Untersuchung des Bestehenden steigt zu einem Kernmerkmal des Städtebaus auf. Indes, von der Szenografie jener rationalistischen Handlungstheorie, auf die sich einst der heroische Städtebau der Moderne berief, bleibt dann nicht mehr viel übrig: keine Hybris, keine Meisterschaft, kein Appell an das Außen, kein Traum von der Ausbürgerung in einen externalisierten Raum, der keinerlei Lebenserhaltung benötigt, keine Natur, keine große Geste des radikalen Aufbruchs.135 Worum es stattdessen geht, ist, in die Situationen des Urbanen performativ selbst hineinzukommen; nur dort sind die Strukturen des Umgestaltens zu gewinnen. Redesign stellt den Städtebau vor die Herausforderung, die Umfunktionen, die sich im Gebrauch des Raums durch die Raumgebrauchenden ereignen, lesbar zu machen. Keinesfalls aber sollte man diese Argumentation mit dem von Teilen des avancierten Städtebaus vorgebrachten Einwand vermengen, demzufolge der Raumgebrauch, wenn man ihn darstellbar oder lesbar macht, seine »Authentizität« oder seine taktische Ortlosigkeit verliere. Die Rede von der Authentizi-
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Vgl. Dell: Die improvisierende Organisation Latour, Bruno: »A Cautious Prometheus? A Few Steps A Cautious Prometheus? A Few Steps Toward a Philosophy of Design (with Special Attention to Peter Sloterdijk)«. 2008, Online verfügbar unter https://www.bruno-latour.fr/sites/default/files/112-DES IGN-CORNWALL-GB.pdf, S. 4 Ebd.
3 Geschichtliche Situiertheit des Raums
tät der Raumgebrauchenden läuft ihrerseits auf eine essentialistische Fetischisierung hinaus. Man hat es hier mit einer subtilen Form der Diskriminierung zu tun. Der Städtebau geriert sich dann so, wie ein Kolonialisierende gegenüber Kolonialisierten. Von einer Art leerem globalen Standpunkt aus werden die lokalen Raumhandelnden eines bestimmten Stadtteils als »Eingeborene« betrachtet, deren Sitten genau zu studieren und deren »Identität« zu »wahren« und zu »respektieren« sind. Dieser Respekt vor der Authentizität des Anderen ist nichts anderes als die Behauptung der eigenen Überlegenheit. Der »aufgeklärte« Städtebau, der »für die Menschen« entwirft, begreift das Andere als in sich geschlossene »authentische« Gemeinschaft. Zu ihr wahrt er eine Distanz, die durch seine privilegierte universelle Position möglich wird. Das Problem liegt hier nicht nur in der Essentialisierung von Identität innerhalb eines hierarchischen Gefälles. Der entscheidende Punkt ist eher, dass sich eine solche städtebauliche Identitätspolitik bestens in die globale kapitalistische Raumproduktion integrieren lässt. Die Bezugnahme auf eine partikulare lokale Formel stellt dann einen Schirm dar, der die Anonymität des den städtischen Raum durchfurchenden Kapitals verdeckt. Das zu sagen bedeutet auch: Der von de Certeau eingebrachte Gegensatz zwischen Konzept-Stadt und Tatsache Stadt ist in epistemologischer und politischer Hinsicht problematisch. Mein Punkt ist nicht, dass das Raumhandeln in die soziale Struktur des Urbanen als dessen konstitutive Leere eingeschrieben ist. Sondern das Raumhandeln bezeichnet die Kontingenz eines Akts, der gerade die Ordnung der verstädterten Gesellschaft erst schafft und aufrechterhält. Für die Konstitution der Wissensformen des Städtebaus bedeutet das, sich die Fähigkeit und die Instrumente anzueignen um situative Elemente des Urbanen analysieren, dokumentieren, relational ordnen und konstruktiv ins Spiel bringen zu können.136 Müssen wir deshalb nicht annehmen, dass die Negation, die in der Krise des Städtischen begriffen liegt, eine essentielle und originäre Prekarität darstellt, die, in Form eines Vektors, eine entscheidende Rolle in der Konstitution des Urbanen einnimmt? Und somit genetisch und nicht nur epistemologisch wirkt? Wäre die Krise der Stadt somit nicht nur als Negativ des Städtischen, sondern dessen generative Kraft zu lesen? Und gilt dies nicht auch im Hinblick auf das zentrale Produkt der urbanen Gesellschaft: die urbane Praxis als Handlung in Unbestimmtheit?
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4 Welches Handeln? Bruno Latour
Mit Lefebvres Raumtheorie zeigt sich sozialer Raum als durch materielle und symbolische Praktiken produziert. Raum ist heterogen. Diese Heterogenität sorgt dafür, dass sich das Produkt Raum der Interpretation als teleologisches Ergebnis verweigert. Das hat zur Konsequenz, dass dort, wo sich Raum in der ontologischen Doppelbestimmung von Induziertem und Induzierendem artikuliert, auch eine Rekonturierung des Begriffs der Produktion selbst angezeigt ist.1 Diese Fragestellung resoniert auf eigentümliche Weise mit der von Bruno Latour in Umlauf gebrachten Modernekritik. Seine berühmte These »Wir sind nie modern gewesen« richtet sich auf die Naivität derer, die er die »Modernen« nennt. Die Modernen glauben, das jegliche Produktion auch produziert, was laut ihres Telos auch produziert werden soll. Mit anderen Worten: Die Modernen sind der tautologischen Ansicht, dass die Produktion rationaler Bürokratien bürokratische Rationalisierung, die Produktion universeller Wissenschaften universelle Wissenschaften, und die Produktion des effizienten Städtebaus effizienten Städtebau hervorbringt.2 Eine solche Erwartung ist zutiefst metaphysisch, insofern sie missversteht, dass die Lücke der Unbestimmtheit, die die Produktion von ihrer inneren Teleologie trennt, die konstitutive und positive Bedingung ihres Funktionierens ist. Durchaus mag das Wort Produktion Effekte beschreiben, die zu respektieren sind. Keineswegs besteht jedoch Grund zur Annahme, dass das Wort als Ursache für seine Effekte zu interpretieren ist. Latours Untersuchungen – die im Übrigen für eine ganze Bewegung der Wissenschaftsgeschichte stehen, die unter dem Label science in the making firmiert – haben ein erbarmungsloses Licht auf die wirkliche Heterogenität dessen geworfen, was die Modernen als homogen »sehen«. Sobald 1 2
Vgl. Dell: Das Urbane Latour, Bruno: Nous n’avons jamais été modernes. Paris 1997, S. 157
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Raum und Handlung
man Latours Linse verwendet, kommen die vom teleologischen Produktionsglauben ausgeblendeten hybriden sozio-materialen Schnittstellen, Kopplungen, Mediationen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren zum Vorschein. Ob eine Tür, eine Tiefgarage, ein Kühlschrank oder ein Esstisch, ein Kabel, ein Drucker, ein Gehsteig, sie alle intervenieren in unseren Alltag. Die Tür klemmt, die Tiefgarage ist zu niedrig für den Lastwagen, die Lebensmittel im Kühlschrank sind aufgetaut, weil der Strom ausgefallen ist, das Kabel hat einen Wackelkontakt, die Chipkarte für den Metroeingang funktioniert nicht, so dass man versuchen muss, über das Drehkreuz zu springen – die Liste der Unbestimmtheiten ist endlos. Das führt zu folgender Pointe: weit entfernt, passiv zu sein, stellen sich die Dinge als aktiv heraus. Wie sie auf eine jeweils situationsspezifische Weise zum Handeln affizieren, zur Auseinandersetzung mit den in ihnen eingelagerten Skripten (vergangener Handlungen und Vorstellungen) aninieren und zum Spiel mit den Eigenlogiken jeweiliger materialer Bedingungskonstellationen einladen, so offenbaren sich die Dinge selbst als Handelnde. Aber mit welcher Form des Handelns hat man es hier zu tun? Dem Ziel, dies zu entziffern, ist Latours Arbeit gewidmet. Im Zuge dessen legt Latour die entscheidende Täuschung der Moderne offen: Sie besteht darin, das Soziale auf menschliche Akteure zu beschränken. Was aber, wenn sich aber die Rede von der Existenz einer als Natur angenommenen Realität außerhalb des Sozialen nicht halten lässt? Welche Folgen ergeben sich daraus für das Verständnis von Raum? Eine Raumkonzeption, die Raum als erste Natur, als einen der sozialen Praxis vorgängiges Behälterobjekt an sich begreift, lässt sich nicht mehr halten. Raum ist nicht von universellen Kompositionsgesetzen durchzogen. Auch wenn er konzeptionell vermessen, gerastert und bebaut werden kann – wesentlich ist, dass Raum nicht ohne instrumentelle Praktiken existiert. Man denke an die traditionellen Objekte der Gesellschaftstheorie – Staat, Klassen, Produktion, Berufe, Organisationen. Ohne die unzähligen Objekte, die ihre Dauer sicherstellen, bleiben von ihnen nur noch Mysterien übrig.3 Mit anderen Worten: Strukturen existieren nicht ohne unsere Handlungen. Sie sind auf die performative Aufrechterhaltung durch Raumproduktion angewiesen. Die handlungstheoretische Annahme, das menschliche Handeln würde von den gesellschaftlichen Strukturen reguliert, erfährt hier eine gewichtig zu nehmende Einschränkung. Wir haben gesehen, dass Löws Raumtheorie – mit Giddens und Bourdieu – auf die Dualität von Handlung und 3
Ebd., S. 162ff.
4 Welches Handeln?
Struktur rekurriert. Dabei geht sie von dem Gegensatz handelnde Subjekte vs. dinghafte Strukturen aus. Dadurch gerät sie in Schwierigkeiten vor allem hinsichtlich der Frage, wie man mit der Relationalität des Raums praktisch verfahren soll. Entweder bleibt das Handeln zu rätselhaft oder die Struktur zu determiniert. Latour hingegen bietet ein Konzept an, das das Augenmerk auf die Verbindungen lenkt, die in die Assemblagen von menschlichen und nicht-menschlichen Handelnden eingelagert sind. Insofern Latour damit die »Kosten« der Verbindungen thematisiert, zeigt er, dass Handeln nur unter bestimmten Voraussetzungen auftritt: Handeln geschieht, wenn es »dislokal, artikuliert, delegiert und übersetzt«4 ist. Keineswegs leugnet Latour, dass es Interaktionen und Strukturen gibt. Ausschlaggebend ist für ihn die Weise, wie man auf Interaktionen und Strukturen blickt. Entgegen der herkömmlichen Sichtweise insistiert Latour darauf, dass es unmöglich ist per externalisierender Beobachtung in eine Handlung zu treten, an einen Ort zu kommen oder einen Kontext als solchen zu fixieren. Wenn es keine Möglichkeit gibt, Interaktion und Struktur handhabbar zu machen, »so bedeutet das ganz einfach, dass diese Orte unerreichbar sind.«5 Man darf vermuten, dass Lefebvre in seinen Diagnosen zur Stadt genau aus diesem Grund mit parametrischen Skalierungen wie etwa von 0 % global zu 100 % global operiert. Das erlaubt beispielsweise, Überlappungen von privaten und öffentlichen Flächen oder Flächennutzungskonflikte parametrisch und diagrammatisch zu denken, statt sie auf ein fixes Ereignis zu reduzieren. Der springende Punkt für den Städtebau besteht dann darin, die Idee aufzugeben, man käme durch das Überplanen von Unbestimmtheit irgendwo an. Man sollte sich dagegen dazu entscheiden, »von den Unbestimmtheiten zu zehren, anstatt sie aufzulösen, [dem] ist es jetzt auch wieder möglich, von diesem endlosen Wechsel zwischen polaren Gegensätzen zu profitieren und daraus etwas über die wirkliche Topographie des Sozialen zu lernen.«6 Latours Theorie hilft, die prozessualen Bewegungen der Stadt und die darin liegenden Unbestimmtheiten zu akzeptieren. Was epistemologisch nichts anderes heißt, als ein Zu-Vermeidendes in eine Ressource umzuinterpretieren. Erneut sollte man auf Rem Koolhaas’ Studie Delirious New York verweisen. Insofern Koolhaas bereits in dem Titel des Buches seine Definition der modernen Stadt zusammenfasst, übersetzt er die Einheit der Stadt in das in sich 4 5 6
Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Frankfurt a.M. 2007, S. 288 Ebd., S. 295 Ebd.
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Unterschiedene. Es geht Koolhaas nicht darum, dass der Städtebau die Gegensätze und Spannungen in der urbanen Totalität in ein harmonisches Ganzes versöhnt. Ganz im Gegenteil konzentriert sich Koolhaas vielmehr darauf, Stadt als einen Ort zu konstruieren, an dem die Menschen und Dinge auf anerkennende Weise mit dem delirierenden Exzess umgehen, um den sich das Urbane dreht. Was Koolhaas vorschlägt, ist nichts weniger als ein radikales Umlesen der Geschichte Manhattans. Üblicherweise interpretierte der städtebauliche Historismus New York als die Akropolis der Moderne. Dieses Urteil wurde natürlich im Nachhinein vom überlegenen Standpunkt des post factum aus gefällt. Die historische Bedeutung von Manhattan hatte sich bereits abgezeichnet. Vor diesem Hintergrund zeigt Delirious New York, dass die Städtebaugeschichte weit davon entfernt ist, das harmonische Gesamtbild einer Epoche zu zeichnen. Der Exzess phantasmatischer Träume und Handlungen lässt sich nicht in die stadthistorische Totalität eingliedern. Was, wenn das, was als städtebauliche Kontur (die unendlich verdichteten Massen an baulichen Volumina und Handlungssituationen) bleibt, aus dem Ganzen der Stadt herausragt, sodass Delirious New York dem ein Bild verleiht, was eine Epoche nicht in ihre Erzählung zu integrieren vermochte? Man muss den Titel Delirious New York gegen den Strich lesen, also nicht in dem Sinn der Bewusstseinstrübung, die sich in Verwirrtheit und Wahnvorstellungen äußert, aber mit dem Schwerpunkt auf den konstruktiven, wahrhaftigen Moment, der im Exzess liegt, der das Eine der Stadt daran hindert sich jemals in ein harmonisches Alles zu verwandeln. Entsprechend ist Delirious New York als eine Medialität zu lesen, die der Unbestimmtheit eine Darstellung verleiht. Das Buch ist das transzendentale Schema, dass zwischen der apriorischen Leere der unmöglichen Darstellbarkeit urbaner Handlungen und den städtebaulichen Darstellungen des empirischen Dings Stadt vermittelt. Besonders in seinen manifestartigen Büchern – zu denen auch S,M,L,XL (1995) und content (2003) zu zählen sind – versucht Koolhaas genau den Status jener städtebaulichen Darstellung zu bestimmen, die noch nicht in einer repräsentationalen Teleologie enthalten ist. Das reale Buch Delirious New York ist seinerseits ein empirisches Objekt, dass auf kontingente Weise zur Würde eines Darstellungsraums erhoben wird, sodass es als Verkörperung einer unmöglichen Darstellung zu funktionieren beginnt. In der diagrammatischen Zirkulation der Zeichen erreicht das Buch sein MetaZiel, indem dem es das direkte Ziel – die empirische Stadt – immer wieder verfehlt. An dieser Stelle muss man jedoch auf zweierlei insistieren: Weder ist die diagrammatische Verzerrung mit dem gängigen repräsentationalen Apparat
4 Welches Handeln?
des Städtebaus gleichzusetzen, noch als ein Verzicht auf ihn zu deuten. Vielmehr schafft das Buch einen Übungsraum, der es dem Städtebau ermöglicht, in iterativen Wiederholungen des Stadtlesens die ewig offene Untersuchung der Stadt zu transformieren. Etwas anders gewendet: Wenn ich darauf insistiere, dass sich Koolhaas’ Darstellungen der Stadt immer innerhalb – und nicht außerhalb – der Sichtbarkeitsregime des Städtebaus abspielen, setze ich nicht die teleologische Lesart der Stadt mit der von Koolhaas gleich. Vielmehr produziert Delirious New York eine funktionalistische Darstellung, die noch nicht in der Finalität des Funktionalismus aufgeht. Innerhalb dessen führt das Konzept des Wolkenkratzers eine neue Form der Beziehung zwischen Kontext und architektonischen Artefakten ein. Je mehr Stockwerke übereinandergestapelt werden, desto größer wird die Unbestimmtheit der Funktion. Nirgendwo ist diese Unterscheidung deutlicher als im Fall des berühmten Downtown Athletic Club. Das immersive Programm dieses außergewöhnliche Gebäudes besaß die surrealistische Genialität, in einem Turm einen Golfplatz (auf der 7. Etage), ein Schwimmbad (auf der 12. Etage), einen Garten (auf der 17. Etage) sowie eine Vielzahl von Boxsälen, Squashkursen, Billardräumen und eine Austernbar unterzubringen. Im Downtown Athletic Club ist jeder »Plan« eine abstrakte Komposition von Aktivitäten. Seine Stockwerke bilden synthetische Plattformen, die ihre jeweils eigenen »Performances« beschreiben. In einer abstrakten Choreografie pendeln die Handelnden des Gebäudes zwischen zahlreichen »Plots« hin und her. Die übersteuerte Konfrontation seiner multiplen Aktivitäten macht jedes Stockwerk des Downtown Athletic Club zu einer Szene einer unendlich unvorhersehbaren Intrige, die die völlige Hingabe an die endgültige Instabilität des Lebens in der Metropole preist.7 Entlang dieser Linien sollte man Koolhaas’ Interpretation Manhattans als Formulierung einer ganz bestimmten Frage verstehen: Was, wenn die moderne Architektur auf die unbestimmte Form der »Planung« des städtischen Lebens an sich verweist? In dem clash von leerer symbolischer Form und ihrem kontingenten Inhalt erscheint nichts anderes als das Reale: ein performativer Punkt, der den leeren Rahmen mit einem Teil seines Inhalts vernäht. Es ist der nie aufgehende, retroaktive Rest irgendeiner »paranoiden« kontingenten Materialität, der gewissermaßen die angeblich neutrale Allgemeinheit des symbolischen Rahmens verzerrt. Das Delirium der Performanz eines jeden Stockwerks ist die Nabelschnur, die das symbolische Rahmenwerk, das gnadenlose Raster des Downtown Athletic Club 7
Koolhaas: Delirious New York, S. 157
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in seinem kontingenten Inhalt verankert. Manhattan ist nichts anderes als das exemplarische Symptom der Moderne. Koolhaas präsentiert den Downtown Athletic Club als einen traumatischen Knoten. Statt mit einer universellen Ordnung ist man mit einem innerweltlichen Phänomen konfrontiert, dessen Existenz als kontingenter Handlungsraum erfahren wird. In dem Moment, indem Koolhaas den Knoten in seiner Kontingenz darstellt, löst er sich auf und man verliert buchstäblich den Boden unter den Füßen. Währendem offenbart sich der Wolkenkratzer als Typologie scheinbar unendlich skalierbarer Verschaltoptionen. Seine heterogenen Serien enthalten Raumhandlungen, die selbst Fragmente des größeren Spektakels der modernen Stadt darstellen. Vor allem Madelon Vriesendorps berühmte, in Delirious New York abgebildete Zeichnung Naked Boxers Eating Oysters (1978) betont den phantasmagorischen Charakter eines Deliriums an Aktivitäten, dessen Stapelung paradoxerweise der Rationalität eines funktionalistischen Rasters entspringt. Um die wahre Herkunft des »falschen Beweises« zu verschleiern, imitiert Vriesendorp hier den exorbitant virilen Stil des Künstlers Tom of Finnland. Oder man denke an Vriesendorps Gemälde Flagrant Délit (1975). Das Bild, das das Cover der Erstausgabe von Delirious New York zierte, zeigt wie Empire State Building und Chrysler Building miteinander ins Bett gehen – in flagranti erwischt vom Rockefeller Center. Verweist der absurde architektonische Anthropomorphismus dieser Szene nicht auf die Tatsächlichkeit der traumatischen Begegnung der raumnutzenden Subjekte mit der Stadt, die sie selbst produziert haben, und deren rätselhafter Botschaften sie ausgesetzt sind? Haben wir es bei dem Gemälde nicht mit einem Hinweis darauf zu tun, dass der Städtebau in dem Versuch besteht, verschlüsselte Botschaften der gebauten Dinge zu internalisieren und ihre Bedeutung zu entschlüsseln? Und bleibt dort, wo die Stadt sich der Übersetzung verweigert, nicht immer ein überschüssiger Kern? Vriesendorps Anlehnung an den Surrealismus und Koolhaas’ Instrumentalisierung von dessen »paranoider Methode« des Freistellens, Fragmentierens und Neu-Versammelns von Elementen der Stadt ist hier erfreulich eindeutig: Der Kern der Stadt, der sich der Darstellung verweigert, ist kein Unmittelbares. Er ist Raum einer traumatischen Begegnung mit den Handlungen der Dinge. Die schockierende Wirkung, von deren Andersheit affiziert oder verführt zu werden, wirft den funktionalistischen Städtebau aus dem Gleis und öffnet eine Lücke, die er selbst neu bespielen kann. Dieses Rätsel, diese Lücke – so sollte man Koolhaas’ Appell lesen – steht also keineswegs im Widerspruch zum Städtebau per se. Vielmehr wäre er Bedingung eines Städtebaus, dessen Darstellungsregime dem Urbanen entspricht.
4 Welches Handeln?
Mit Latour gesprochen: Für die Arbeit am Relationalen ist ein relationales Arbeiten, also das Analysieren (Freistellen, Zerschneiden, Auflisten) und Herstellen von Verknüpfungen, Verschaltungen wesentlich. Es geht um Untersuchungen, die die Bedingungen relationaler Vorgänge in aller Konsequenz sichtbar machen. Kein Beispiel illustriert dieses Vorgehen besser als Latours Buch Aramis or the love of technology. Die Studie, die Latour auch als scientifiction bezeichnet hat, handelt von dem Planungsprozess eines Personenverkehrssystems im Paris der 1970er Jahre. Um die Verkehrsprobleme der Stadt zu lösen, beschließt die Stadtregierung, ein Personal Rapid Transit (PRT) einzuführen. Das Projekt, das schließlich den Namen Aramis erhält, gelangt nie zur Realisierung. In seiner Schilderung des Planungsprozesses lässt Latour unterschiedliche Stimmen derer hören, die an dem Projekt beteiligt sind: die Stimme des jungen Ingenieurs, der über seine soziotechnologische Initiation spricht, der Kommentar seines Professors, der die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) einführt, Felddokumente – einschließlich Interviews aus dem wirklichen Leben – und die Stimme von Aramis. Auf diese Weise erhält Latours Buch die Anmutung eines Quasi-Mysteriums, eines Kriminalromans, in dem es darum geht, herauszufinden, wer Aramis getötet hat. Latour argumentiert, dass die Verkehrstechnologie nicht scheiterte, weil bestimmte Handelnde sie eliminiert hätten. Vielmehr gelang es den an dem Prozess Beteiligten nicht, Aramis durch Verhandlungen und Anpassung an eine sich verändernde soziale Situation aufrechtzuerhalten. Worauf es hier ankommt, ist, dass Latours Untersuchung trotz der – für die Analyse erforderlichen – Abstraktionen wie Handlung oder Struktur, nicht über die ›Kosten‹ die aus den Übersetzungen zwischen Menschen, Dingen und Handlungen resultieren, hinwegsieht. Die Geschichte von Aramis beginnt mit der französischen Firma Automatisme et Technique. Sie ist Teil der europäischen Raumfahrtindustrie, die in den 1960er Jahren versucht, ihre Militärtechnologien in zivilen Projekten anzuwenden, um so neue Märkte zu erschließen. Dabei folgt sie der Maxime: Wer Satelliten herstellen kann, ist auch in der Lage, ein U-Bahnsystem herzustellen. Der Kopf von Automatisme et Technique ist Gérard Bardat, ein Spezialist für Kinematik. Er entwickelt den AT-2000, einen Zug der aus kleinen programmierbaren Fahrzeugen besteht. Grundlegend für das Konzept ist es, den öffentlichen Verkehr als einen Sonderfall des kontinuierlichen Verkehrs zu betrachten.
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Flussdiagramm des AT-2000
1970 kauft das französische Unternehmen Matra, bis dahin vor allem Entwickler von Systemen für Militär- und Raumfahrtanwendungen bekannt, Automatisme et Technique Patente für PRT-Systeme ab. Matra übernimmt das Konzept, benennt es jedoch in Aramis um. Die Argumente für das Projekt bleiben die gleichen: Aramis bietet die Vorteile des Autos, aber zu einer wesentlich besseren Performanz. »Wer sich heute für Aramis entscheidet, gewinnt schon heute die Wette, die unsere Kinder morgen eingehen werden, um in Städten zu leben, die ein menschliches Antlitz haben«8 , wirbt das Dossier des Entwicklers noch im Jahre 1971. Nach dem Gipfel seiner Popularität im Jahr 1972 erfährt das Projekt seinen Abstieg. Dem Ölschock von 1973 folgt ein gesellschaftlicher backlash. PRTSysteme verlieren an politischer Schubkraft. Man kehrt zu traditionellen und bescheidenen Technologien zurück. Aramis schafft es somit nie über das Forschungsstadium hinaus. Mit dem Regierungswechsel von Mitterand zu Chirac im Jahr 1987 wird das Projekt schließlich von der Agenda gesetzt und beendet. Vor diesem Hintergrund zeigt Latour, wie auch in dem Moment, in dem ein Projekt in die entscheidende technologische Entwicklungsphase kommt, soziale Kräfte noch stets dominieren. »Je weiter ein technologisches Projekt fortschreitet, desto mehr nimmt die Rolle der Technologie relativ gesehen ab: Das ist das Paradoxon der Entwicklung.«9
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Engins Matra: A Report on ARAMIS, circa 1971, zit.n.: Latour, Bruno: ARAMIS or the love of technology. Cambridge 1996, S. 40 Ebd., S. 126
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Zentraler Kontrollraum des Aramis
Mit anderen Worten: Es kommt auf die unterschiedlichen Interessengruppen und ihre repräsentationalen Dispositive an, die an infrastrukturellen Projekten beteiligt sind.10 Latour macht deutlich, dass in der wissenschaftlichen Untersuchung technologischer Performanz gemeinhin zu wenig auf die offiziellen Meinungen geachtet wird und zu wenig auf die Handelnden, die mit dem aktuellen Management eines Projekts befasst sind. Was zunächst parasitär erscheint – die in einem Prozess entstehende Metasprache – hat den performativen Charakter einer strategischen Doktrin.11 Zentral in diesem Komplex soziotechnologischer Kompromisse und Aushandlungen stehen die Formen der Übersetzung und des Transfers technologischer Spezifika auf eine breitere Ebene und in einen größeren Maßstab. Der Kontext und damit die eigene, aktive und performative Kontextualisierung ist entscheidend für die Verortung eines Projekts: »Das Einzige, was ein Projekt nicht tun kann, ist, sich selbst zu verwirklichen, ohne sich in einen breiteren Kontext zu stellen. Wenn es sich weigert, sich selbst zu kontextualisieren, kann es technologisch perfekt bleiben, aber unwirklich.«12 In dem Moment, in dem Aramis seine soziale Bindungsfähigkeit verliert, stirbt es. Es gelang denjenigen, die das Projekt vertraten, nicht, die richtigen Positionen für die Vertretung ihrer Interessen zu gewinnen. Mit anderen Worten: Die Wahl der spokes10 11 12
Ebd., S. 99 Ebd., S. 113 Ebd., S. 127
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person entscheidet mit darüber ob die Fraktionen von denjenigen, denen sie ihr Mandat erteilt haben, gut präsentiert werden.13
Aramis und seine Sprechenden. Ein repräsentationales Dispositiv. v.r.n.l.: Claude Qin, Michel Giraud, Jean-Pierre Fourcade, Charles Fiterman, Jean-Luc Lagadére
Die erfolgreichen Sprechenden eines Projektes sind diejenigen, denen es gelingt, ein globales Problem (zum Beispiel die Stadt) in ein lokales Problem (Kinematik, Verkehr) zu übersetzen. Ihre Performanz vollzieht sich in einer Reihe von Zwischenschritten, die jene politisch Entscheidenden, die an einem globalen Problem interessiert sind, für die lokale Lösung gewinnen. Die Entwicklung einer Technologie ist weit davon entfernt nur wissenschaftlicher Gegenstand zu sein. Ihr Gelingen oder Scheitern hängt davon ab, dass sie durch verschiedene Orte geht, die mit dem Wechsel ihrer Performanz konfrontiert sind und unter dem Druck unterschiedlicher, wechselnder soziotechnischer Kriterien stehen. Die Gelingensbedingung eines technologischen Projektes besteht dann darin, Fiktion zu werden, die sich als modular und flexibel erweist: »Eine Fiktion mit ›variabler Geometrie‹: Das ist es, was erfunden werden muss, wenn wir die Variationen eines technologischen Projekts
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Ebd., S. 42
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verfolgen wollen, das das Potenzial hat, ein Objekt zu werden.«14 Indes, über den Transfer von einem Modus in einen anderen, von einer Sprache in eine andere werden nicht nur die Interessen von Gruppen angesprochen und neue Gruppen gewonnen. Ferner transformiert jede neue Gruppe, die sich für ein Projekt interessiert dieses Projekt mit. »Im Übersetzungsmodell gibt es keinen Transport ohne Transformation.«15 Exemplarisch dafür stehen städtische Planungsämter. Innerhalb des Amts vertritt der Fachbereich für Hochbau andere Interessen als der Fachbereich für Verkehrsplanung. der Fachbereich für Konversion andere als der Fachbereich für Bauleitplanung. Sie alle aber kollidieren außerhalb des Amts mit den Leitbildern des Bürgermeisteramts oder einer von der Stadt ausgegründeten Entwicklungsgesellschaft, die vor allem dafür zuständig ist, Flächen der Stadt meistbietend zu veräußern. Keine Verhandlung zwischen diesen Bereichen funktioniert reibungslos. Kurzum: Es gibt keine Verbindung ohne Kosten. »Wenn nun ein Ort einen anderen beeinflussen will, muss er die Mittel dafür bereitstellen.«16 Umgekehrt gewinnt daran die Darstellung der Kosten des Lokalen und der Mittler einen operativen Mehrwert. Nur wenn man Interaktionen zu Zählbarem aufsteigen lässt, kann man aufzählen, was wie zustande kommt. Was sich hier raumtheoretisch verschiebt ist der Fokus von einem ontologischen ›Was‹ der Stadt zu einem performativen ›Wie‹. Es geht weniger darum »was kartographiert wird, sondern wie es möglich ist, irgendetwas aus einem solchen Territorium kartographisch zu erfassen.«17 Die Notationen, die dabei entstehen, dienen als Werkzeuge um relationale Umrisse und Verschaltoptionen nachzeichenbar zu machen. Eine jede Raumproduktion knüpft sich an spezifische Bedingungen ihrer Möglichkeit. Diese Bedingungen schließen das Programm des profanen Alltäglichen mit ein. Seine Kontingenz lässt sich als serielle Liste erschließen, erweitern und modifizieren. Auf den Städtebau übertragen heißt dies: Auch die, die im Großmaßstab als Sprechende für die Stadt auftreten, brauchen kleinmaßstäbliche Dinge um »die aus tausender lokaler Interaktionen und Millionen von Sprechakten extrahierten Elemente zu sammeln und sorgfältig eine sprachliche Struktur zu fabrizieren.«18 Kein städtebauliches Arbeiten ohne ein Büro, einen Computer, ein Kabel, einen Netzste-
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Ebd., S. 24–25 Ebd., S. 119 Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 300 Ebd., S. 301 Ebd., S. 302
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cker, eine Institution, eine Abteilung, Archivschränke, einen Bürostuhl, einen Aufenthaltsort, eine Kaffeetasse oder einen Plotter. Würde man hier die soziologische Perspektive im Sinne von Löw oder Giddens heranziehen, geriete man mit dem Strukturbegriff ins Abseits. Statt von den »grundlegenden Strukturen« menschlichen Handelns zu sprechen, sollte man vielmehr das Augenmerk darauf legen, was man mit den Strukturen machen kann und wie die Handlungen ihrerseits Strukturen hervorbringen.19 Keineswegs ist mit der Abkehr vom soziologischen Strukturverständnis ein informeller Interaktionismus indiziert, der hinter den Strukturen fremde Mächte vermutet. Wo Strukturen »ganz einfach ideale Tracer [anbieten], um herauszufinden, welche Art von Verhältnis letzten Endes zwischen dem Mikro und dem Makro besteht«20 , so geht es operativ darum, die Strukturen in Bewegung zu bringen. Entsprechend fragt Latour: »um wie viel eher müssen dann sozialer Raum und soziale Zeit umgestaltet werden, sobald jede strukturelle Einheit entschlossen auf ihre Produktionsbedingungen rückbezogen wird?«21 Entscheidend ist es, den Strukturbegriff hin zur Epistemologie und zur Darstellungstheorie zu verschieben. In dieser Hinsicht sollte man durchaus von Struktur sprechen, und zwar als konstellatives Diagramm kleiner Elemente und Einheiten der Raumproduktion, die sich anordnen und neu versammeln lässt. Raumtheorie schlägt aus Latours Perspektive den Profit, Raum als materiales Geflecht interpretieren zu können das erstens nicht an sich existiert, sondern immer wieder performativ herzustellen ist, zweitens selbst als DingMensch-Konstellation Wirkmacht entfaltet und drittens als Versammlung von Existenzformen über eine bestimmte (nämlich mit Unbestimmtheiten volle) materiale Ökologie verfügt, die man untersuchen und der man sich bedienen kann. Der Begriff der Ökologie soll hier sagen, dass das Relationale seinerseits keine fixierte Größe ist. Relationaler Raum entsteht performativ im Zusammenspiel von sozialen, materialen und affektiven Ressourcen, Objekten, Infrastrukturen und Handlungen, die auf unterschiedlichen Maßstabsebenen
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Insofern ist es folgerichtig, dass sich beispielsweise Martina Löw im Nachgang ihrer soziologischen Raumtheorie einem typologischen Interaktionismus zugewendet hat. Siehe: Berking, Helmuth/Löw, Martina (Hg.): Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung. Frankfurt a.M. 2008 Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 303 Ebd., S. 304
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an Orten zusammenwirken. Ihre Bewegung ist nicht neutral, aber durchdrungen von vielfältigen Interessen, Bewegungen, Bedürfnissen und Vorstellungen. Soziale Aggregate sind Gegenstand einer »performativen Definition. Sie werden auf die vielfältigen Arten geschaffen, in denen man von ihnen sagt, sie existieren.«22 Es eröffnen sich neue Fragen: Wie bildet Raum das materiale Format unseres Lebens? Was tut Raum mit uns? Wie lässt sich in einer Vielheit von Raum (Metaphysik) zu einer Einheit (Ontologie) gelangen? Diese Fragen implizieren nicht, in einen vormodernen Zustand zurückzufallen und den Dingen eine Magie zuzusprechen. Als Ziel stellt sich vielmehr die Untersuchung des Verhältnisses heraus, das wir zum Raum unterhalten und mithin der Stellungen und Relationen, die wir zum Raum als Raumproduzenten einnehmen (also zum dem, was wir, aus jeweils situativen materialen und sozialen Konstellationen, mit erhandeln). Eine solche Fragestellung hat auch politische Relevanz dort, wo sie auch unsere Sicht auf das verändert, was unsere eigene agency als Existenzform oder Handlungsmacht (mit Raum als Ding) zu bewirken im Stande sein könnte. Wie Hartmut Böhme herausgestellt hat, können Dinge gar nicht anders: Sie kommen nur »als Relata unserer Aktivitäten kognitiver oder praktischer Art«23 vor. Die Erweiterung der Begrifflichkeit von Raum hängt also mit einem Zugang zu einem Verständnis dafür zusammen, was es bedeutet, »das Spektrum der Existenzformen (agency) zu erweitern, alternative Handlungstheorien zu erkunden, ohne die Suche nach der Realität aufzugeben.«24 Kurz: Ich erforsche mit dieser Fragestellung immer auch mich selbst und mein performatives Potential in Relation zu den Dingen. Wo agency aus dem Interagieren von Menschen und Dingen hervorgeht, wird sie von Subjektivität befreit. Weit entfernt, auf naiver Spontanität zu beruhen, hebt agency vielmehr auf das verteilbare Handlungspotential spezifischer Situationen ab. Konsequenterweise fasst Latour den Begriff in sich selbst mehrdeutig und relational. Gustav Roßler, der die deutsche Übersetzung von Latours in Englisch verfasster Inkunabel Reassembling the social besorgt hat, stellt heraus, dass man in der Übertragung des Textes ins Französische zahlreiche Varianten der Übersetzung des Wortes agency findet. Die Varianten sind unter anderem »mode d’existence« (Existenzform), »Entité« (Entität), »actant« (Aktant), »agent« (Agent, Handlungsträger) oder »agence« (Agentur, 22 23 24
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als Pendant zu agency).25 Die Pointe dessen besteht darin, dass Latour hier den agency-Begriff auf sich selbst anwendet: Die begriffliche Konturierung ist davon abhängig, was man mit dem Begriff macht und in welchen Kontext man ihn stellt. Damit zeigt Latour auf, worin das Paradox eines sich als rational verstehenden Städtebaus besteht: Objektivierung von Stadt ist überhaupt erst möglich, wenn man deren agency verdrängt. Gründete der traditionelle Wissenschaftsbetrieb darauf, die Aktivität der Dinge auszublenden und als Gegenstand zu denunzieren, tauchen sie jetzt als wesentlicher Bestandteil einer Beschreibung einer verstädterten Gesellschaft auf. Wo Städtebau als Wissenschaft agency ausgrenzte und als korrumpierbar (oder auch subjektiv) bezeichnete, so stellt sich heraus, dass im Gegenteil davon auszugehen ist, dass die Mechanismen der agency integrierend wirken. Das macht verständlich, warum etwa die Hinwendung zur Performanz des Raums zentrale Integrationsvorgänge der Stadt als materialer Kultur verhandelt. Ich denke an Latours Buch Paris, Ville Invisible. Es führt an Orte, die der Öffentlichkeit normalerweise verschlossen bleiben und an denen die unzähligen Techniken entwickelt werden, die das Leben in Paris ermöglichen. Als serielle Liste zahlreicher kleinmaßstäblicher Handlungen zeigt das Buch, was das Funktionieren von Paris ausmacht, sowohl in soziologischer als auch in architektonischer und städtebaulicher Hinsicht. Es verfolgt die praktischen Probleme, die das Zusammenleben sehr vieler Menschen auf einer sehr kleinen Fläche mit sich bringt. In nummerierten Paragraphen berichtet das Buch von der Bestellung von Aprikosen in einem Gemüseladen, von der Bestellung und Abrechnung eines Getränks im Kaffee, dem Auffinden und Produzieren von Dossiers im Büro des Straßenvermessungsamts, von dem Ordnen und Organisieren von Unterlagen im Büro einer Universitätssekretariats oder von dem Warten an einer Metrohaltestelle. Sofern also Raum nicht mehr als Hinter- oder Untergrund des Handelns zu konzipieren ist, rückt er in den Handlungsverlauf ein. Menschen vollbringen im Alltag eine Verknüpfungsleitung, die einzelne Körper zu einer Anordnung verbindet, sozusagen konstruiert oder vielmehr produziert. Sozialer Raum als Produziertes ist dann nicht als eine bestimmte Typologie, Morphologie oder Konfiguration zu beschreiben. Vielmehr sollte man ihn als Form der Modifikationen, Transformationen lesen die an einem bestimmten Ort bei der Organi25
Siehe Bemerkung Gustav Roßler, in: Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 79
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sation des Relationalen vorgenommen werden. Die Beobachtung dieser kleinteiligen Verschiebungen zeigt auf, welche neuen Kombinationen erkundet und welche Pfade eingeschlagen werden. Das Adjektiv »sozial« verweist dann nur auf den Sachverhalt, dass zur Bestimmung von Raum ein »besonderer Typ von Assoziationen zwischen bislang unassoziierten Kräften«26 gehört. Ebenso wie Raum sind Relationen sind nicht einfach da. Sie werden gemacht. Rekapitulieren wir: Wie Raum als Erhandeltes gilt, so verschiebt sich mit Latours agency Begriff die Perspektive auf Handlung selbst. Traditionelle Handlungstheorien basieren auf der Annahme, dass Handlungen intentional sind und der rationalen Vernunft von Subjekten zugeordnet werden können.27 Subjekte sind ihrerseits in intersubjektive Kontexte eingebettet. Sie verhandeln vermittels repräsentierter Motive, Interessen und Rechtfertigungen. Es treten hier zwei Differenzierungen zu Tage: Zum einen die Differenz von Intentionalität und Spontaneität des Handelns selbst. Diese Unterscheidung besagt, dass einer Aktion immer ein Denkvorgang zeitlich vorgelagert ist. Auf diesem Weg wird Handlung bestimmbar. Ist dies nicht der Fall spricht man gewöhnlich von agency, von Spontaneität (Kant). Die zweite Differenz besagt, dass sich Handlung im Bereich der intersubjektiven Sphäre verortet, also Vergesellschaftung zur Folge und zur Voraussetzung hat. Im Handeln bleiben Menschen unter ihresgleichen. Dinge haben zum Handeln keinen Zutritt. An beiden Differenzen setzt Latour an. Wir können Handlungen nicht denken, ohne die Interaktion mit nicht-menschlichen Handelnden einzubeziehen: Handlungen entfalten sich als assoziierte Hybride von menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten. Dass herkömmliche Handlungstheorien (wie sie auch von den Raumkonzeptionen von Giddens, Bourdieu und Löw herangezogen werden) Dinge aus dem Handeln ausschließen, liegt daran, dass sie den rationalen Anteil von Handlung sichern wollen. Erst wenn Handlung irrational wird, kommen die Dinge als ›Umstände‹ oder ›Sachzwänge‹ ins Spiel. Liegt bei einem Autounfall kein ›menschliches Versagen‹ vor, so wird geprüft, wer für die materiale Konstruktion der Bremse verantwortlich ist. Die Bremse selbst spielt jedoch in ihrer Wirkmächtigkeit keine Rolle. Das hat in juristischen Verhandlungen Sinn. Komplizierter wird es in der unüberschaubaren Menge an Interaktionen zum Beispiel des urbanen Alltags, in denen es weniger auf die Zuweisung 26 27
Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 112 Siehe zu dieser Thematik umfassend: Joas, Hans: Die Kreativität des Handelns. Frankfurt a.M. 1996
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Objekt-Subjekt ankommt, sondern auf die vielfältigen Interferenzen materialer und symbolischer, menschlicher und nicht-menschlicher Anteile bei dem Hervorbringen von Raum als relationaler Handlung. Wie aber kann man den konstruktiven Umgang mit der Unbestimmtheit des Handelns von und mit Dingen konzeptionell fassen? Wie lässt sich die Wirkmächtigkeit der Dinge in ihrer Unbestimmtheit als Handlungsoption begreifen statt als Unfall?
4.1 Fünf Quellen der Unbestimmtheit Wo es nicht die Werkzeuge sind, die nicht funktionieren, aber das Verfahren der Stadtuntersuchung, erfordert dessen Transformation einen neuen Blick auf Stadt als Soziales. Solche Perspektive modifiziert gleichlaufend, was unter ›sozial‹ zu verstehen ist. Latour will das Soziale als ein Netzwerk zeigen, das sich relational entfaltet, indem sich Entitäten gegenseitig ergänzen, miteinander korrelieren und Handlungspotentiale anbieten. Damit ist angestrebt, vor allem jene Erkenntnistheorie zu rekonturieren, die Tatsachen als vereinfacht handhabbare Objekte externalisiert. Alternativ bietet Latour eine Art ›Assoziologie‹ an. Während in ihr die Werkzeuge der Wissenschaft dieselben bleiben, richtet sich deren Einsatz nun auf das Nachzeichnen von Assoziationen. In Anbetracht dessen meint das Attribut ›sozial‹ einen Verknüpfungstyp zwischen Dingen, die selbst nicht sozial sind. Einsicht ins Exempel bringt hier ein Blick auf die Forschungstradition der so genannten social science studies. Sie trennt sich in eine kritische Theorie, die sich und der Sache, um die es ihr geht, detektivisch beikommen will, auf der einen Seite. Auf der anderen Seite die empirische Forschung, die sich ein Repertoire an Begriffen und Methoden erarbeitet hat, die dazu dienen, Gegenstände handhabbar und einordbar zu machen. Kontrastierend hierzu steuert Latour auf ein Drittes zu: Statt Dinge zu erfassen und zu ordnen, zielt seine Analyseform vielmehr auf das Verfahren, das Machen von und Bewegen im Forschen selbst. Wo ein Verzicht auf das Agieren von außen her angezeigt ist, kommt es darauf an, die Forschenden dazu zu befähigen, situativ in das Verfahren als Machen einzusteigen, um daran unterschiedlichste Spuren zu kartographieren. Gleichwohl, und das ist für Wissenschaft ungewohnt, ist ein Verfahren, anhand dessen der Gegenstand oder Sachverhalt sich in der performativen Praxis seiner Produktion finden oder verfolgen lassen soll (das Wort performativ deutet es bereits an) mit der Frage der Unbestimmtheit konfrontiert. Externalisierung geschah ja nicht ohne Grund: Man wollte sich
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vom ›verunreinigenden‹ Machen fernhalten, um Objektivität und Bestimmtheit waren zu können, allerdings – um den Preis der Kosten der Realen selbst, wie sich jetzt herausstellt. In der Folge konturiert Latour die Frage »Kann das Soziale neu versammelt werden?« an dem, was er die fünf Quellen der Unbestimmtheit nennt. Unbestimmtheit entspringt dem Bereich von Gruppen, Handlungen, Objekten, Tatsachen und der Empirie der Wissenschaften selbst. Latours Position ist hier erfreulich eindeutig: Statt Unbestimmtheit zu bekämpfen, auszuschalten oder zu ignorieren und »im vornhinein zu entscheiden, wie das Mobiliar der Welt auszusehen hat«, lautet Latours Alternative »zu lernen, wie man von Unbestimmtheit zehrt.«28 Worauf Latour hinaus will, ist der paradoxe Versuch, Unbestimmtheiten bestimmbar zu machen. Anhand der Auflistung der fünf Unbestimmtheiten spannt Latour einen Bogen auf, der von unterschiedlichen Aspekten geleitet ist. Erstens hat man es mit der Problematik zu tun, dass das Soziale so schwer nachzeichenbar ist. Der zweite Punkt besteht in der Frage, warum es trotzdem so wichtig ist, auf unterschiedlichste Weise zu versuchen, das Soziale darzustellen. Drittens folgt der Schluss, dass es für dieses Nachzeichnen keine feste oder fixierte Form gibt. Von diesem Punkt her erhält die Argumentation ihre wesentliche Pointe: Zwar sind es gerade diese Unbestimmtheiten, die es erschweren, das relationale Konzept der Assoziation zum Handwerkszeug zu machen. Gleichzeitig sind sie es aber auch, die das wertvollste Reservoir der Erkenntnis liefern. Wenn wir ein Verfahren so angelegen müssen, dass es Unbestimmtheiten zulassen kann, stellt sich heraus, dass man Ordnung sehr viel besser dann finden kann, wenn den Akteuren bereits ermöglicht wurde, »das volle Spektrum der Kontroversen zu entfalten, in die sie verstrickt sind.«29
Erste Quelle: Die Gruppe Als erste Quelle der Unbestimmtheit ruft Latour zunächst die These auf, dass das Soziale als Kollektiv zu interpretieren ist, das sich immer erst versammeln muss. Gruppierungen existieren nicht ›an sich‹. Sie werden anhand riskanter und prekärer Assoziationen hergestellt. Die Essenz dieses Ansatzes liegt in folgender Annahme: Es gibt keinen festen Bestandteil, »der als unbestreitbarer
28 29
Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 201 Ebd., S. 44.
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Anhaltspunkt«30 für Beobachtung, Analyse und Bewertung dienen kann. Bei der Produktion von Gruppen bzw. Organisationen sind Handelnde beteiligt, die selbst nicht auf vorgängige Legitimität verweisen können. Mehr noch; wie sie Gruppen herstellen, so sind sie gleichzeitig damit beschäftigt, das Dilemma der Legitimation zu verschleiern. Das Wort Gruppe ist »leer […] da es weder Größe noch Inhalt festlegt.«31 Äquivalent zu Lefebvres Rede von der urbanen Form konturiert sich die Gruppe zunächst als leere Form. Bedeutet das, dass Gruppen nicht existieren? Nein. Es besagt nur, dass Gruppierungen immer wieder performativ produziert werden müssen und damit permanent neuen Umgruppierungen ausgesetzt sind. Kann man deshalb Gruppen gar nicht analysieren? Das Gegenteil ist der Fall. Man sollte an dieser Stelle auf die Idee der leeren Form im Sinne des synthetischen Urteils bei Kant hinweisen. Kant unterscheidet analytische und synthetische Urteile als Erläuterungsurteile.32 Die synthetische Leistung der menschlichen Erkenntnis besteht in der Erweiterung des Begriffs, für die sie aus dem gegebenen Begriff hinausgehen muss. Kant versteht die reinen Begriffe deshalb als leere Formen.33 Reine Begriffe kann man nicht einfach 1:1 benutzen oder im Sinne eines konsistenten Denkens anwenden. Reine Begriffe als leere Formen zwingen zur Reflexion, denn würde man sich beim Denken nur auf bereits gegebene Begriffe und deren Bedeutung beschränken, würde, so Kant, dadurch zwar gedacht, aber durch das Denken nichts erkannt.34 Es ist also das logische Denken als Form der Deduktion in sich selbst zu überschreiten und von der Verkürzung auf rein immanente Denkbewegungen zu lösen. Eine mögliche Realität von Erkenntnis im Sinne Kants wird erst aus der tätigen Bezugnahme des Begriffs auf die Wirklichkeit hervorgebracht. Sie kann weder vom leeren Begriff selbst noch von einer reinen Anschauung her entstehen. Könnte man eine bessere Beschreibung der Fakultät der synthetischen Urteile finden als die Analyse von Gruppen, deren Komposition performativ ist? Letzten Endes stehen die synthetischen Urteile für die Fähigkeit, das zu dekomponieren, was die unmittelbare Wahrnehmung komponiert hat, nicht um einen Allgemeinbegriff »Gruppe« zu abstrahieren, aber um bestimmte
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Ebd., S. 53. Ebd., S. 54. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, Akademie-Ausgabe, Band III, 1787, 1904, 2. Aufl. 1911, Nachdruck 1962 und 1973, B 11 Ebd., B 194 und B 75 Ebd., B 195
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Elemente und Merkmale abgesondert von anderen so zu betrachten, dass die Komposition der Gruppe als performativ Hergestelltes deutlich wird. Hinsichtlich der Darstellungsstrategie deutet sich in diesem Zusammenhang erneut der Wechsel von der Form zur Struktur an – und das bedeutet: vom abgeschlossenen Bild zur strukturellen Darstellung von Handlungsspuren. Die Aussage, dass performativ sich ereignende Versammlungen von Gruppen Spuren hinterlassen, die sich zur Analyse eignen, mag zunächst verblüffen, da sie so trivial ist. Erst in dem Verweis auf die grundlegende Performanz des Sozialen kommt die Radikalität und Komplexität von Latours Aussage zum Tragen. Der Verweis besagt, dass es »keine Gesellschaft, kein Reservoir von Bindungen, keinen großen Topf mit Klebstoff gibt«, (das gemeinhin als das Soziale bezeichnet wird) um alle diese Gruppenformen zusammenzuhalten: »Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob die Mittel, um das Soziale zu produzieren, als Zwischenglieder oder als Mittler verstanden werden.«35 Was hier den Begriff des Zwischenglieds zu dem des Mittlers wendet, ist der empirische Grund, dass Gruppenbildungen in ihren Kontroversen sehr viel mehr Spuren hinterlassen, »als bereits etablierte Verbindungen, die, definitionsgemäß, stumm und unsichtbar bleiben.«36 Von neuem sieht man sich vor die methodologisch noch wenig erforschte Herausforderung gestellt, darauf zu verzichten, sich in der Analyse im Vornhinein auf feste, geschlossene Formen festzulegen. Andererseits bietet die Hinwendung zur Performanz die Chance, die ohnehin nicht leistbare Aufgabe der Auflistung aller in einer Situation enthaltenen Aggregate loszulassen. Stattdessen eröffnet sich die Möglichkeit, die Präsenz von Kontroversen ins Spiel zu bringen. Was anfangs abstrakt und als rein formale Fragestellung erscheint, stellt sich im Nachhinein als eine Verfahrensmodulation heraus, die über das Einzoomen auf das making of der Gruppierung, über ihren »Fabrikationsmechanismus«37 viel konkretere Daten liefert, als es finalistische Konzepte vermögen. Daran knüpft sich eine raumtheoretisch-epistemologische Wende: Gruppen gelten weder mehr als stumme Objekte noch als fixierte Behälter, sondern zeigen sich »als das provisorische Produkt eines ständigen
35
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Zwischenglieder operieren für Latour im Modus Input=Output. Sie transportieren Bedeutung oder Kraft ohne dass eine Transformation statthat. Von Mittlern hingegen lässt sich hinsichtlich ihres Inputs kein eindeutiges Output vorhersagen. Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 69 Ebd., S. 56 Ebd., S. 57
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Lärms von Millionen widersprüchlichen Stimmen, die zum Ausdruck bringen, was eine Gruppe ist und wer zu ihr gehört.«38 Latour zielt auf etwas ganz Einfaches: Während für herkömmliche Theorien Ordnung der Regelfall und Unordnung die Ausnahme bilden, ist nun davon auszugehen, dass Performanz39 und deren Unbestimmtheit die Regel bildet. So »als wären […] Hintergrund und Vordergrund vertauscht«40 , liegt das zu Erklärende nunmehr darin, zu zeigen, wie Ordnung zu Stande kommt oder wie sich die Performanz ordnet. Raumtheoretisch folgt daraus: Städtische Situationen als Gegenstände der performativen Definition hören auf zu existieren, wenn sie nicht länger zur Darstellung gebracht, Aus- oder Aufgeführt, kurz: performed werden. Weil ihre Ordnung nicht gegeben ist, muss, so heißt die Konsequenz, Stadt auf improvisatorischem Weg erforscht werden. Damit steigt Improvisation – als Wissensform und als Technologie – zur grundlegenden Handlungsweise des Stadtforschens auf. Die Rede von der Improvisation impliziert wesentliche handlungstheoretische Folgen. Weil es das Relationale in Rechnung stellt, lässt sich das performativ zu Bestimmende seinerseits nur durch eine relationale Praxis erhellen. Soziale Verknüpfungen müssen »durch die Zirkulation von verschiedenen Trägern skizziert werden, die nicht gegenseitig austauschbar sind.«41 Das ist ganz praktisch gedacht: Genau dann, wenn der Fokus auf die Mittel gelenkt wird, die eine Gruppe braucht, um sich performativ zu erhalten, richtet sich das Augenmerk auf jenen entscheidenden Beitrag, der durch die spezifischen Ressourcen der Stadtforschenden geliefert wird.42 In dem sich die Stadtforschenden ständig mit der Kartographierung ihres eigenen Kontextes und Produktionsweisen, Performanzen beschäftigten, liefern sie Daten und Hinweise, wie jene einzuordnen sind. Das erklärt, warum es geradezu hinderlich wäre, wenn man im Vorhinein definierte, »welche sozialen Aggregate den Kontext für all diese Kartographierungen bereitstellen sollen.«43 Das Paradoxon ist Folgendes: Improvisation, die gewöhnlich nur verwendet wird, wenn etwas schiefläuft, avanciert zur funktionalen Basis einer Forschung, die Unbestimmtheit integrieren kann.
38 39 40 41 42 43
Ebd., S. 58 Ebd. Ebd. Ebd., S. 65 Ebd., S. 64 Ebd., S. 59
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Zweite Quelle: Die Handlung Die zweite Quelle der Unbestimmtheit konturiert sich an der vertiefenden Frage danach, wer handelt und was Handlung ist. Rückblickend konstatiert Latour, dass sich die Reduktion des Handelns auf den Menschen durch die Moderne als fatale, ökologisch fragwürdige Fehleinschätzung erwiesen habe. Heute müssen wir sagen: Ohne die materialen Ressourcen, mit denen wir durch die Kollektive als Netze der Assoziationen verknüpft sind und derer wir uns bedienen, wären wir als Subjekte orientierungslos. Die These der Moderne, dass Handeln transparent sei und unter der vollen Kontrolle des Bewusstseins stehe, erweist sich als so nicht mehr haltbar: Wir haben es vielmehr mit einem performativrelationalen Geflecht zu tun, das nicht nur permanent Unbestimmtheit ausgesetzt ist, sondern deren konstituierende Kraft gar in der Unbestimmtheit selbst begriffen liegt. Handeln entpuppt sich als »ein Knoten, eine Schlinge, ein Konglomerat aus vielen überraschenden Handlungsquellen, die man eine nach der anderen zu entwirren lernen muss.«44 Daraus folgt jedoch kein postmodernes anything goes. Vielmehr wird nun der Fokus auf die Frage gelenkt, welche »Existenz-formen«45 (agencies) herangezogen und mit welchen Figurationen diese versehen werden und durch welche Modi der Aktion sie ins Spiel kommen. Wer Komplexität, Diversität und Heterogenität von Handlung in Betracht zieht, multipliziert ihr Deutungsfeld unabdingbar: In den Kontext der Handelnden gestellt, vervielfältigen sich die Existenzformen. Das wirft Licht auf den performativen und relationalen Charakter des Handelns, das »rätselhafterweise gleichzeitig ausgeführt und an andere verteilt«46 wird. Weil Handeln unterdeterminiert und unbestimmt und an die Kontroverse darüber gebunden bleibt, wer wann wie handelt, ist sein Grund immer improvisational. Relationalität und Performanz bilden hierin eine komplementäre Einheit. Dies liegt zum einen daran, dass sich Handlungen nicht auf eine Form zurückführen lassen, die sie an- oder ausführt. Das was uns handeln macht, und das ist der zweite Punkt, kann, genau weil es »nicht aus sozialem Stoff besteht«47 , auf verschiedene Weisen neu assoziiert werden. Hinsichtlich der Definition des Performativen ist es also wenig hilfreich, sich im Dickicht der Sprachwissenschaften und deren Kampf um die Deu-
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Ebd., S. 77 Ebd., S. 79 Ebd. Ebd., S. 80
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tungshoheit zu verlieren.48 Der Tatbestand, dass das Soziale aus Handlung entsteht, erklärt, warum nicht es selbst, sondern nur seine Spuren lokalisierbar sind. Dass man weder behaupten kann der Ursprung einer Handlung läge im Akteur bzw. der Intentionalität eines Subjekts begriffen noch in einer Institution, in ›der Gesellschaft‹, sorgt für Unbestimmtheit. Dies markiert jenen neuralgischen Punkt, an dem die Sprachtheorie scheitern muss: Wo sie der Sprache als Handlung (parole) einen anderen Ort (an dem das Handeln konkret sei) zuweist als dessen System (langue), verfängt sich linguistische Performanztheorie einem Dualismus, der die Dislokalität von Handlung selbst ausblendet. Was damit aus dem Blick gerät, ist, dass Handlung stets verlagert, verschoben, multipel und unbestimmt bleibt. Aus diesem Grund sollte man de Certeaus These recht geben, dass Handlung keinen Ort hat. Aber erst Handlung macht Ort zu einem Raum. Auf unsere Untersuchung gemünzt bedeutet dies, Improvisation als Reservoir und damit die kontroversen Spuren der Handlungen anzuerkennen und produktiv werden zu lassen. Das Paradox besteht darin, »Unbestimmtheiten, Unschlüssigkeiten, Verschiebungen, Verlagerungen, Verwirrungen«49 zur Grundlage des Forschens zu machen. Nehmen wir das Beispiel einer städtebaulichen Vor-Ort-Recherche, die sich auf eine Straßenecke mit einem Kiosk konzentriert. Es hat wenig Sinn, über diejenigen, die in dem Kiosk arbeiten oder ihn frequentieren soziologische Vorannahmen zu treffen. Statt zum Beispiel die Raumgebrauchenden des Kiosks, über die man ja etwas herausfinden will, mehr oder weniger in die formale Ordnung eines Sozialen einzupassen, das heißt zu vermuten, welchen Typs sozialer Klasse sie zugehörig seien, und wie sie sich in dieser Sozialisierung bewegen, geht es vielmehr darum, zu fragen was sie wie warum mit wem machen – um daraus neue Verbindungslinien, Ordnungen zu ziehen. Hier kommt das in Betracht, was traditionelle wissenschaftliche Forschung behauptet zu vermeiden: Gestaltung. Aber nicht als freies autonomes Spiel, sondern als ein Sich-Bewegen-Lassen von den Raumgebrauchenden, das in eine jeweils eigene Gestalt (Form) zu bringen ist. Damit eröffnet sich die nächste Verschiebung: Einst stand die Meta-Sprache der Forschenden im Zentrum des forschenden Interesses. Sie erklärte den alltäglichen Raumhandelnden die profane Lebenswelt. Jetzt verhält es sich genau umgekehrt: Es sind die Raumhandelnden und ihre Tätigkeiten, die den Forschenden Hinweise auf die Entdeckung des Urbanen als Praxis geben. Der entscheidende Schritt besteht 48 49
Vgl. Ebd., S. 63 Ebd., S. 83
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darin, diejenigen, die vor Ort und im Lokalen performieren, in das Machen der Untersuchung einzubeziehen, statt sie wie externe Informantionen zu behandeln. Die Lektion dieser Verschiebung lautet, »für die vollentwickelte Metasprache der Akteure aufmerksam zu werden, für ihre eigene reflexive Erklärung für das, was sie tun.«50 Anstatt also Ordnung zu schaffen, deren Grund nicht geklärt oder Probleme zu lösen, deren Fragestellung nicht klar ist oder Formen zu gestalten, deren Motivation im Dunkeln liegt, sind die Forschenden gut beraten, agencies »in der Welt zu inventarisieren.«51 Ausschlaggebend ist, sich auf diagrammatische Weise dem Archiv, Katalog, Atlas der Performanz zu widmen um daraus neue Verknüpfungen, Verschaltungen abzuleiten. Die Position des Begriffs »Gestalt«52 ist hier noch einmal zu klären. Wenn Forschende auf die Spuren der Handlungen abheben, geben sie den Handlungsträgern eine Gestalt. Um das zu verstehen, sollte man das Augenmerk auf die Beschreibung der Handlungsträger richten. Sie auf ihre Performativität hin dargestellt, also nicht auf das hin, was sie »sind«, sondern auf das, was sie tun. Das heißt, Handelnde machen einen Unterschied in einer spezifischen Situation. Der Bericht über diesen Unterschied kann wiederum als Bezugsrahmen der Aussage über eine Situation aufgefasst werden. Mag in der Präsenz einer Handlung eine Kraft am Werk sein oder auch nicht, wichtig bleibt die Gestalt der Handlung. In dem Zusammenhang kommt dem Bericht die Aufgabe zu, zu gestalten. Das bedeutet, dass die von den Forschenden vorgenommene Darstellung der Handlung eine Form, eine »Figuration«53 und damit einen Rahmen geben. Diese Konstellation erlaubt es uns, die Frage der Form neu zu stellen. Um der Form Offenheit zu verleihen, darf die Figuration nicht auf antromorphe Gestalten reduziert werden. Sie ist abstrakter zu fassen. Figuration meint hier nicht, etwas auf einen Typ zu reduzieren. Stattdessen kommt es darauf an, eine Rahmung herzustellen, die eine Typologie unterschiedlicher Figurationen von Handlungen zulässt. Wenn also, wie oben beschrieben, die Figur-Grund-Relation umgedreht wird, so verlangt dies auch, Grund figurativ zu erarbeiten und umgekehrt Form vom Grund her (also als leere Form oder Meta-Form) zu betrachten. So bekommen das Aufzeichnen und Beschreiben
50 51 52 53
Ebd., S. 86 Ebd. Ebd., S. 92 Ebd., S. 93
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der Handlungsformen eine Form: Als Diagrammatik, die weder zu früh filtert noch disziplinierend wirkt. Genau aus diesem Grund sind Figuration und Handlungstheorie nicht in eins zu setzen. Keineswegs steht zur Debatte, welcher Typ Handlung zu bevorzugen ist. Vielmehr kommt es darauf an, welche Form eine Handlung in einer spezifischen Situation annimmt und wie es dazu kommt und was diese Situation als Konstellation, als Kollektiv, als relationale Verschaltung von Handlungsformen kann. »Was zählt ist nicht der Typ der Figuren, sondern das Spektrum von Mittlern, die man sich entfalten lässt.«54 Im Kontext Stadt wurde lange Zeit darüber debattiert, welche Formen man für Stadt wählen sollte. Jetzt aber interessiert, wie Stadt – als urbane Form – agiert. Das hat wiederum Folgen für das Wie des Kartographierens. Eine herkömmliche architektonische Zeichnung ist, ebenso wie das rendering (auch wenn es sich um zwei völlig unterschiedliche Figurationen handelt) eine Karte von Stadt, die ein reduziertes set von Handlungsträgern identifiziert. Aus diesem set leitet Städtebau herkömmlicherweise Konsequenzen ab, die nicht mehr sind als Wirkungen von Anderem. Latours Ansatz besteht hingegen darin, die Verkettungen von Mittlern zu kartographieren, »wo von jedem Punkt aus gesagt werden kann«, dass der Mittler »agiert.«55 Der Unterschied besteht darin, dass der traditionelle städtebauliche Entwurf einen Plan x konstruiert, der zu einem Zeitpunkt y realisiert (realisierte Möglichkeiten) werden soll. Der Gegenvorschlag lautet, diagrammatisch vorzugehen. Diagrammatik schafft Rahmungen, die es erlauben, innerhalb eines performativen Prozesses Potentiale abzutasten und zu aktualisieren (aktualisierte Virtualitäten). Ich werde im Abschnitt zur fünften Unbestimmtheit darauf zurückkommen.
Dritte Quelle: Die Dinge Aus unserer Gewohnheit, den Dingen in Relation zum Menschen eine geringere Wertigkeit zukommen zu lassen erschließt Latour die dritte Quelle der Unbestimmtheit. Man hat es hier mit einer Unbestimmtheit an der Funktion zu tun, die den Dingen in der Konstitution von Welt zukommt. Die Rolle der Dinge ist tacit. Sie ist in unser Wissen hineinsedimentiert. Wir werden ihr nur gewahr, wenn Pannen, Unfälle oder Ungeschicklichkeiten auftreten. Daraus resultiert jene Unbestimmtheit, die auf habitueller Ebene mit einer Desensibilisierung für die Frage einhergeht, welche Aktionen für welche Objekte tau54 55
Ebd., S. 101 Ebd., S. 104
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gen. Hier wird erneut deutlich, warum Latour von Netzwerken bzw. Kollektiven spricht. Er will das Spektrum der Akteure erweitern, um zu zeigen, dass »die Kontinuität eines Handlungsverlaufs nur selten aus Mensch-zu-MenschVerbindungen […] oder aus Objekt-Objekt-Verbindungen besteht«56 , sondern vielmehr aus Handlungssträngen, sich in unterschiedlichen Kategorien vermischen und kreuzen. Der Kern der Volte besteht erneut in der Transformation des Handlungsverständnisses. Objekte als Akteure anzuerkennen, heißt, von einem relationalen Handeln auszugehen, das den Finalismus überschreitet. Die Rede von den handelnden Dingen ist indes weit entfernt, einen neuen Okkultismus oder Animismus zu befördern. Sie besagt einfach, dass Dinge in gewisser Weise (und genau diese Weise hat zukünftig Gegenstand der Untersuchung zu sein) an Handlungen beteiligt sind. Wie soziale Aggregate in ihrer Seinsform auf soziale Kräfte angewiesen sind, so hängt ihr Funktionieren auch von der agency der Objekte ab. Man hat es dann mit der Potentialität einer objektalen agency zu tun. Sie besteht in der Fähigkeit von Objekten, Handlungen, Handlungsmodi und Handlungsskripte auf materiale Weise zu transportieren.
Vierte Quelle: Das Wissen Weit entfernt, einen Determinismus zu lancieren, wirft Latours Ruf bring the objects back in! vielmehr Licht auf eine spezifische Potentialität der Dinge. Die Tatsache, dass sich deren Wirkmacht (agency) sich nur im Konnex von Gruppen und Handlungen erschließen lässt führt zur vierten Quelle der Unbestimmtheit. Sie eröffnet die Fragestellung, wie und auf welcher Wissensgrundlage sich Gruppen, Akteure und Objekte überhaupt versammeln lassen. Was hier in den Blick gerät, ist die Verfasstheit dessen, was man Tatsachen nennt. Die Frage lautet: Wie entstehen wissenschaftliche Tatsachen? Diese Frage erschüttert das traditionelle Verständnis davon, wie wir Wissen über das Reale erlangen. Lange Zeit galt es als selbstverständlich, dass wissenschaftliche Fakten und Entitäten wie etwa Zellen, Quarks und Prionen »da draußen« in der Welt existieren, bevor sie von Wissenschaftlern entdeckt werden. Latour stellt diese Vorstellung auf den Kopf. Er vertritt die Ansicht, dass wissenschaftliche Tatsachen stattdessen als Produkt wissenschaftlicher Forschung betrachtet werden müssen. Tatsachen, so Latour, sind vernetzt; sie stehen und fallen nicht mit
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Ebd., S. 105
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der Stärke ihrer inhärenten Wahrhaftigkeit, sondern mit der Stärke der Gruppierungen, Institutionen und Praktiken, die sie produzieren und verständlich machen. Wie die Epoche der Moderne in ihrem Selbstverständnis davon geprägt war, eine Polarität von Natur und Gesellschaft, Objekt und Subjekt ins Werk zu setzen, so disqualifizierte sie die kategoriale und praktische Einheit zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten prämoderner Gesellschaften als unaufgeklärt. Die modernen Naturwissenschaften behaupten ihre Erkenntnisformen als unbestreitbare Tatsachen (fait indiscutables)57 , die sich jenseits geschichtlicher Bedingungen befinden. Erkenntnis gilt dann als das Entdecken immer schon seiender Tatsachen. Natur tritt in diesem Dispositiv nur als ein passiver Speicher des Wissens auf. Das Gleiche gilt für Artefakte, Geräte oder auch materiale Institutionen. Es überrascht daher nicht, dass die Wissenschaften glauben, dass es erst ihre Performanz sei, die es den Speichern erlaubt, die Bühne der Gesellschaft zu betreten, um fortan Bestandteil des unveränderlichen Fundus positiven Wissens zu sein. Dabei übersehen die Wissenschaften, dass sie selbst auch Produzenten des Wissens sind und ihre Experimente Produktionen dessen, was sie entdecken: »Schon die Etymologie hätte sie erschaudern lassen müssen: Wie konnte eine Tatsache so solide sein, wo sie doch Tat-Sache ist und also dem Tun entstammt und verfertigt ist?«58 Der Politik hingegen wird das Feld der umstrittenen Tatsachen (faits discutables, matters of concern) zugewiesen: Sie organisiert die historischen Handlungen, Interessen, Motive, die jenseits der unbestreitbaren Tatsachen liegen. In dieser Sicht besteht Gesellschaft aus handelnden, vergesellschafteten Subjekten, die über die rationalisierte Natur als Dingwelt verfügen. Geschichte erscheint als teleologischer Prozess der Kämpfe von Interessen und Interessensgruppen. Nicht-menschliche Entitäten haben als stumme Schatten keinen Repräsentationsbereich in Gesellschaft. Wenn es aber, wie sich jetzt herausstellt, gar keine fait indiscutables (unbestreitbare Tatsachen, matters of fact) gibt, haben wir uns darauf zu besinnen, mit gemischten Erklärungen zu arbeiten, die der Hybridität zwischen Subjekten und Objekten ebenso Rechnung tragen wie der Voraussetzung, dass jedes Faktum in einer Gemeinschaft performativ hervorgebracht wird. Keineswegs steht in Abrede, dass die Naturwissenschaften wirksame Arbeit geleistet haben, indem sie die Fragmente von Wirklichkeit freileg57 58
Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 199 Ebd., S. 195
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ten. Falsch ist nur der Schluss, den man herkömmlich daraus zieht. Wer die wissenschaftlichen Verlautbarungen als Enthüllung einer Wirklichkeit oder Aussagen über ontologisch feststehende Entitäten begreift, lässt außer Acht, dass diese stets einer Produktionsweise unterliegen und anhand von experimentellen Versuchsanordnungen erst hervorgebracht werden. Angesichts dessen sind wissenschaftliche Erkenntnisse eher als Artikulationen von Dingen zu verstehen, die ihre eigenen Darstellungsweisen mit sich führen. Wenn wir Experimente als Verfahren bezeichnen, vermittels derer sich Dingwelten erschließen lassen, haben wir eine doppelte Übersetzungsleistung zu berücksichtigen. Einerseits erlangen die Dinge durch diese Übersetzungsleistung eine Performanz uns gegenüber. Dazu gehört andererseits die räumliche und mediale Bedingung, dass sie auf der Bühne der öffentlich gemachten Erkenntnis erscheinen können. Diese Dualität macht darauf aufmerksam und erinnert daran, dass Wissen immer sozial und gesellschaftlich vermittelt ist – wobei das Soziale als ein Ding verstanden werden muss, das als Übersetzung Transformationen mediatisiert.59 Erkenntnis selbst ist dann noch einmal in ihre Bestandteile zu zerlegen: als performative Form, als versammeltes Kollektiv, das aus Laboren, Versuchsaufbauten, Apparaten, Beobachtungen, Beschreibungen, Forschenden und ihren Diskursen in und außerhalb der Labors besteht. Mit der Rede von der Produktion von Wissen ist deshalb eine Fragestellung berührt, die ihre eigene Wissenschaft erzeugt hat: Die Wissenschaftsforschung. Auch hier tritt die performative Konstitution des Sozialen hervor: Erkenntnisse bleiben als Objektivitäten nur stabil, wenn sie durch die aktive Performanz der Disziplinen und Forschungsleitungen verstetigt werden. Erkenntniskritik besteht dann nicht darin, die Objektivität von Wissenschaft anzuzweifeln, sondern vielmehr darin, den Akzent auf die Verfahren und forschenden Praktiken hin zu verschieben. Eine solche Wissenschaftsforschung thematisiert, dass die Repräsentationen die die Kollaborateure der Episteme hervorbringen, nicht-repräsentational funktionieren. Sie bilden nicht etwas direkt ab. Aber sie weisen auf einen Produktionsmodus hin. Insofern erfahren wissenschaftliche Tatsachen eine Wendung vom Status des Undiskutierbaren hin zu dem des Diskutierbaren. Man sollte hier nicht außer Acht lassen, dass Latour weder die Existenz der Realität in Frage stellt noch eine post-truth Ansicht vertritt. Nehmen wir das Beispiel des Klimaaktivismus. Seine Proteste haben deutlich gemacht, dass das traditionelle Bild der Fakten von Anfang an nicht haltbar war. Wenn 59
hierzu: Ebd., S. 188
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überhaupt, dann ist unser gegenwärtiger Post-Wahrheits-Moment weniger ein Produkt von Latours Ideen als vielmehr eine Bestätigung derselben. So wie die Menschen die Dinge erst bemerken, wenn etwas mit ihnen nicht stimmt, wird uns die Rolle, die Gruppierungen bei der Produktion und Aufrechterhaltung von Wissen spielen, erst jetzt bewusst, da dieses Wissen angegriffen wird. Innerhalb des oben Gesagten erfährt der Begriff der Konstruktion eine Rekonturierung. Die wissenschaftliche Unterscheidung, die etwas als entweder nicht-konstruiert und damit als wirklich oder als konstruiert, artifiziell und damit nicht-wirklich ausweist, verkennt das Gemacht-Sein von Wissen überhaupt. Für die Raumhandelnden hingegen ist es selbstverständlich, in spezifischen Projekten oder Werken Artifizialität und Objektivität auf spezifische Art und Weise miteinander zu verknüpfen. Dieses, nennen wir es praktisches Wissen, sollte nicht mehr gegen eine objektive Realität, die immer schon da und bestimmt ist, ausgespielt werden. Das entlastet Stadtforschung vom Behauptungszwang und bringt sie zum Konkreten zurück: Prüfen lässt sich nur, ob eine Konstruktion des Städtischen funktioniert oder nicht: »Wenn wir sagen, dass eine Tatsache konstruiert ist, meinen wir einfach, dass wir die solide objektive Realität erklären, indem wir verschiedene Entitäten mobilisieren, deren Zusammensetzung auch scheitern könnte.«60 Immer dort, wo sich unbestimmt Handelnde in unbestimmte Handlungen manifestieren – vorzugsweise an der alltäglichen städtischen Schnittstelle zwischen Handelnden, Handlungen und Diskursen an Orten – eröffnet sich die Frage nach einer gestalterischen Form der Forschungshandlung, die dieser Manifestation gerecht wird. Hat man es bei dieser Form des Handelns nicht mit Improvisation zu tun? Was, wenn es sich um eine Improvisation handelt, die technologisch geworden ist, die übt, wie man aus Unbestimmtheit schöpft, statt im vornhinein zu entscheiden »wie das Mobiliar der Welt auszusehen hat?«61
Fünfte Quelle: Der Raum der Darstellung Die Herstellung von Wissen durch Forschung ist immer eine Form der Konstruktion. Sie ist mit den heterogenen Wirklichkeiten konfrontiert, die in die Produktion von Raum eingehen. Das gilt auch für die Stadtforschung.
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Ebd., S. 158 Ebd., S. 201
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Konkret: Wer die heterogenen Assoziationen urbaner Performanz nachzuverfolgen sucht, benötigt unterschiedlichste Aufzeichnungswerkzeuge wie Kameras, Notizblöcke, Hefte, seismographische Geräte etc. Deren heterogener Gebrauch indes erzeugt und bindet sich seinerseits an eine relationale Praxis des Notierens von Stadt als »sehr praktisches welterzeugendes Unternehmen, dass darin besteht, Entitäten mit anderen Entitäten zu verknüpfen.«62 Die auf diese Weise entstehenden Berichte oder Protokolle ruft Latour als die fünfte Quelle der Unbestimmtheit auf. Mit anderen Worten: Wer Unbestimmtheit als grundlegende Quelle des Stadtlesens ernst nimmt, ist dazu aufgefordert auch die Repräsentationen, die in ihrem Verlauf entstehen, mit Unbestimmtheit zu versorgen. Das Paradox besteht darin, dass es die Integration der Unbestimmtheit ist, die einem Forschungsbericht zur Genauigkeit verhilft. Das gelingt aber nur, wenn der Bericht in einer Weise verfasst ist, die die Unbestimmtheit konstruktiv werden lässt. Insofern muss also der Bericht zweierlei bewerkstelligen: Er muss einerseits beschreiben, was Akteure und Aktanten tun. Andererseits muss er thematisieren, dass dieses Tun keine neutrale Transportangelegenheit ist, sondern Unbestimmtheit enthält. Ein solches Handeln ist weder teleologisch determiniert noch formlos. Stattdessen kann es strukturell zur Transformation einer beobachteten Situation führen. Jedes in einen Bericht eingelagertes Handeln vermag Schnittstelle einer neuen epistemologischen Verschaltung zu werden. Was der Bericht auf diese Weise thematisiert, ist die Produziertheit einer beobachteten oder aufgezeichneten Situation. Weder lassen sich die in einer Situation Handelnden auf die Dichotomie von aktiv vs. passiv reduzieren, noch bilden die Dinge den situativen Hintergrund kausal geschlossener Ketten. Vielmehr können alle an einer Situation Beteiligten eine potentielle Rolle im Handlungszusammenhang einnehmen. In einem solchen Versuchsaufbau kann alles zu Daten aufsteigen: »angefangen beim ersten Telefonanruf bei einem möglichen Interviewpartner, dem ersten Termin mit einem Betreuer, den ersten Korrekturen, die von einem Auftraggeber an einem Finanzierungsplan vorgenommen werden dem ersten Starten einer Suchmaschine, der ersten Liste der Fragen eines Fragebogens.«63 Folglich erscheint das Verfassen des Berichts selbst als eine Praxis statt nur neutraler Behälter einer Beschreibung von Praxen zu sein. Der Bericht
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einer Performanz der Stadt erlaubt es nicht nur, die an einem Handlungszusammenhang Beteiligten zu versammeln. Er gestattet auch, Performanz neu zu verschalten. Insofern hat man es bei dem Bericht mit einer Metaform zu tun, einer Form, die Handlungszusammenhänge der Stadt allen seinen Beteiligten zu repräsentieren, es von neuem zu präsentieren und das heißt, »eine Performanz, eine Form zu geben.«64 Eine Metaform ist ein Medium, das es erlaubt, Nachbarschaftsordnungen von Elementen zu verschieben. Einen Bericht zu liefern ist eine Handlung, die darin besteht, eine heterogene Versammlung so in Form zu bringen, dass sie offen für Neuversammlungen bleibt. Da nunmehr die Produktion der Stadt zur Diskussion steht, lässt sich nicht entscheiden, wie unsere Berichte über die Stadt zu zeichnen sind, wenn wir nicht das Projektionsprinzip verstehen, das der Städtebau der Moderne für seine Darstellungen verwendet hat. Hinsichtlich dieser Fragestellung kommt dem Begriff Handlungszusammenhang65 Gewicht zu. Weit entfernt, nur einzelne Handlungen oder Interaktionen zu beschreiben, zielt der Bericht im konstruktiven Gebrauch der Unbestimmtheit darauf, in seriellen Taktungen wiederholt Iterationen von Interaktionen urbaner Situationen als Handlungszusammenhänge sichtbar zu machen. Formal bedeutet dies, dass der Bericht strukturell Ordnung hält, während er Unordnung nutzt. Das geschieht durch die formale Konstitution als serielle Diagrammatik. Man sollte im Gedächtnis behalten, dass es sich hier nicht um eine konstruktivistische Diagrammatik handelt, wie sie etwa von Peter Eisenman, Gregg Lynn oder Ben van Berkel vertreten wird. Stattdessen ist eine Diagrammatik avisiert, die auf die Produziertheit der empirischen Interaktion von Menschen und Nicht-Menschen abzielt. Diese Diagrammatik ist also selbst performativ: Sie kann – und das macht sie für den Städtebau so ungemein fruchtbar – die Performativität der Handlungszusammenhänge nachzeichnen aber auch als operative Partitur für die Produktion neuer Handlungszusammenhänge dienen. Finden wir nicht eines der besten Beispiele einer solchen Diagrammatik in der Liste? Das Medium Liste erlaubt, einen Handlungszusammenhang anhand der auf ihr versammelten und sequenzierten Eigenschaften zu definieren. Man denke an das Buch Made in Tokyo66 von Atelier Bow Wow. In dem unermesslichen Meer an Häusern, Schnellstraßen oder Bahnlinien, dass die Topo64 65 66
Ebd., S. 242 Vgl. hierzu genauer: Dell: Epistemologie der Stadt Atelier Bow Wow: Made in Tokyo. Tokyo 2001
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logie von Tokyo bestimmt, machen sich Atelier Bow Wow auf, die Nischen der Stadt aufzuspüren, in die sich die Menschen mit ihrem Gebrauch einschreiben. Atelier Bow Wows dérive öffnet den Blick auf jene städtischen Situationen, die im Alltag unbeachtet bleiben, aber unter der spezifischen Linse der Untersuchung als Besonderes hervortreten. Über das Dach eines dreistöckigen Einkaufszentrums am Bahnhof führt eine Bahnlinie, die auch als Brücke fungiert. Ein Infrastrukturkörper verschränkt sich mit in einem flyover. Auf dem Dach eines Einkaufszentrums findet sich eine Fahrschule. Die unteren Ebene eines zwölfstöckigen Wohnblocks beherbergt einen Bahnhof und einen Taxistand. Verortet am Ufer eines Flusses und auf zwei Seiten von Bahnlinien eingekeilt, ist das Gebäude nur über eine Außentreppe an der hinteren Schmalseite erreichbar. Die Kontur eines Kaufhauses folgt einer Kurve, die die Straße über ihm umschreibt. Ein Apartmenthaus nimmt neben Wohnungen ein Restaurant, einen Golfplatz, und ein Parkhaus in sich auf. All diese heterogenen Punkte zeigt das Buch Made in Tokyo mit einer ganz spezifischen Darstellungsform. Seine Weise des Zeigens ermöglicht, die agency zu erkennen, über die diese scheinbar unbedeutenden Schnittstellen und Überlagerungen verfügen. Der Mix aus – in der traditionellen Sicht des Städtebaus unvereinbar erscheinenden – Funktionen innerhalb ein und desselben Baus führt zu neuen, konstruktiven Gebäudetypen und Gebrauchsweisen. In aller wünschenswerter Klarheit legt das japanische Architekturbüro hinsichtlich der Darstellungsstrategie des Buchs offen, wie formal und funktional unterbestimmte Stadträume als verräumlichte Handlungszusammenhänge in Listen eingefügt und serialisiert werden können. Auf diese Weise erlaubt der Darstellungsraum jene Iterationen, aus denen schließlich eine neue städtebaulichen Kategorie resultiert. Atelier Bow Wow nennen sie Da-Me Architektur, die Nicht-Gute-Architekur. Auch an den diagrammatischen Listen des Büros Christophe Hutin Architekten ließe sich das Verfahren der Liste veranschaulichen. Innerhalb des Konversionsverlaufs des Quartiers Beutre bei Bordeaux demonstrieren die Listen, wie die Architektur vom Entwurf zur Recherche wechselt. Ziel ist jetzt das Beobachten und Zeigen dessen, was die Wohnenden im Quartier tun, wie sie ihre Häuser umbauen, Gärten erweitern, Fenster einziehen, Funktionsräume verschieben, durch Erweiterungen die ganze Topologie ihres Hauses verändern.67 All diese – von Unbestimmtheit durchquerten – Aktionen zwischen Menschen 67
Vgl. Howa, Marion: La transformation comme conception ouverte. Unveröff. Dissertation. Toulouse 2022
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und Dingen, die schließlich den städtischen Raum produzieren, tauchen mit der Liste in einer neuen Ordnung auf. Baulich bedeutet dies: Anstatt ganze Häuser abzureißen und neu zu bauen, wird mit minimalen Interventionen und Transformationen operiert. Hinsichtlich der Darstellung sind dabei zwei spezifische Handlungen relevant: Erstens kommt es darauf an, Eigenschaften, Dinge, Akteure, Handlungen oder Aussagen freizustellen. Auf diese Weise werden die Elemente eines Handlungszusammenhangs listenkompatibel gemacht. Im zweiten Schritt gelangen die freigestellten Elemente in einen neuen Darstellungsraum, der sich dadurch auszeichnet, dass man die Elemente neu versammeln kann. Womit man es hier zu tun hat, ist ein abstrakter Raum, der von einer minimalen Struktur zusammengehalten wird. Es ist die minimale Struktur, die es gestattet, die heterogensten Elemente zu versammeln. Ihre Syntax ist nachrangig, das Herzstück ist die Sequenz und die Nachbarschaftsordnung der Elemente untereinander. Man sollte hier von einem performativen Charakter der Liste selbst sprechen. Ich habe deshalb an anderer Stelle den Begriff »offene Partitur«68 für eine solche Liste eingeführt. Der partituriale Effekt der Liste besteht darin, dass sie nicht nur abbildet, sondern auch zum Weiterschreiben einlädt, zum Verfertigen neuer (An-)Ordnungen mit den gleichen Elementen. In epistemologischer Perspektive ist wesentlich, dass eine solche Diagrammatik in ihrem Erscheinen ihre eigene historische Situiertheit thematisiert. Das setzt ein spezifisches Programm der Analyse voraus. Es versteht Stadt als Versammlung von heterogenen Serien, die durch keine teleologische Kausalität miteinander verbunden sind. Anders formuliert: Stadt verfügt über keine vorgegebene Struktur. Sie befindet sich in einem permanenten Aushandlungsprozess. Alles – sei es menschlicher oder nicht-menschlicher Provenienz – kann in eine Diagrammatik aufgenommen, kann Eigenschaft der Stadt werden. Worauf Latour hinaus will – und das ist wohl nirgends besser exemplifiziert als in Made in Tokyo – ist, den Bericht weder als Narrativ noch als Methode noch als Theorie, aber als Reiseführer erscheinen zu lassen. In diesem Sinn ist Made in Tokyo weder Entwurfskompendium noch Werkkatalog, aber eine Notation der Welt als Stadt. Man sollte Made in Tokyo als einen Bericht einer Reise verstehen, den Atelier Bow Wow zurückgelegt haben und den ich beim Lesen des Buches aufs Neue zurücklegen und in anderen Stadtwelten hinein transponieren kann. Made in Tokyo serialisiert, sequenziert, iteriert unbestimmte Orte Tokyos und animiert mich zu deren Neuverschaltung in 68
Dell: Stadt als offene Partitur
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eigenen Reiselisten. Der Repräsentationsraum des Buches lässt – und darin nimmt er diagrammatisch auf seinen Referenten Tokyo Bezug – unterschiedliche, nicht kompatible Ordnungsmodelle des Städtebaus und der Architektur aufeinanderprallen. Funktionsüberlagerungen, die in der Planung nicht vorgesehen sind, können somit als Wissen erscheinen, ohne auf ein übergeordnetes Ordnungsprinzip reduziert zu werden. Was die Orte zusammenhält, ist die Serie selbst, die innere Struktur der Versammlung als Liste. Im Übrigen, wenn Made in Tokyo innerhalb und außerhalb des städtebaulichen Diskurses zu zirkulieren beginnt, ist auch die Idee der Homogenität des Raums aufs Spiel gesetzt. Was Atelier Bow Wow aushebelt, ist die tiefe, unausgesprochene Komplizenschaft zwischen Darstellung und Diskurs. Auch dies macht die Diagrammatik zum handelnden Ding: Wo sie nämlich anhand ihres eigenen Darstellungsraums ein spezifisches Raumverständnis artikuliert, so regt sie Lesende zum Neudenken des städtischen Raums an. Zwei Raumlogiken spielen hier ineinander: Zuerst die Logik der Multiplizität, die alles mit allem verschalten kann. Sodann die Konzeption der Relationalität, die die Beziehung der menschlichen und nicht-menschlichen Handelnden untereinander mit der Logik der Assoziation versieht. Genau das macht die Darstellungsform der Diagrammatik dynamisch: Sie ist kein fixiertes Abbild, sondern offene Partitur, durch die Räumlichkeit erst hergestellt wird. Die erste Logik schneidet aus, stellt frei, während die zweite Logik das Zusammenfügen organisiert. Wie verhält es sich dann mit den traditionellen, abbildenden Darstellungsformen wie etwa Grundriss, Schnitt, Perspektive oder Fotografie? Die vielleicht beste Formel ihre Rolle zu charakterisieren stellt erneut Made in Tokyo dar. Gewiss verwendet das Buch die konventionellen Medien Text, Isometrie, Schwarzplan und Fotografie. Die Volte aber ist, dass diese Medien innerhalb der Diagrammatik einen anderen Gebrauch erfahren. In der Terminologie von de Certeau formuliert: Der diagrammatische Darstellungsraum des Buches funktioniert die Medien um. Das wird dann einsichtig, wenn man den Darstellungsraum selbst als relational versteht. Man sollte hier im Gedächtnis behalten, dass ein zentrales medientheoretisches Merkmal der Diagrammatik darin besteht, nicht abbildhaft oder arbiträr, aber strukturell auf einen Referenten Bezug zu nehmen. Das bedeutet, die Struktur, das relationale Gefüge der Darstellung, setzt sich ins Verhältnis zu der Relationalität des Dargestellten. Wir sehen nun, warum Atelier Bow Wow mit Made in Tokyo eine spezifische Form des Darstellungsraums konzipieren. Um die performative Relationalität des Stadtraums darstellbar zu machen, müssen sie selbst einen
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Darstellungsraum schaffen, der dem der Stadt entspricht. Das erinnert erneut daran, dass Stadtraum produziert wird. Seine Bedeutung entspringt seinem Gebrauch. Das Gleiche gilt für die Diagrammatik: Sie erlangt ihre Bedeutung aus der Art und Weise, wie ich mich von ihr im Lesen affizieren lasse, wie ich sie verwende. Medien sind nicht nur Gegenstand ontologischer Bestimmung. Ihre Funktionsweise hängt auch ab von Bedingungen der Verortung, des Kontexts, des Gebrauchs, der Dissemination und der Zirkulation. Das wiederum erlaubt einen Rückschluss auf die Stadtforschung: auch ihre Praxis besteht daraus, sich von den Dingen der Stadt affizieren zu lassen. Genau das haben Atelier Bow Wow getan. Bevor sie das Buch machten, ließen sie sich auf ihren Stadtspaziergängen treiben – um von denjenigen städtebaulichen Situationen affiziert zu werden, die sie schließlich seriell in dem Buch festhielten. Das Politische an einer solchen medialen Form ist, dass sie das Prinzip der Identität und der Ordnung öffnet, denaturalisiert und als ein stets umkämpftes Terrain sichtbar macht. Wo in ihr die Logiken von diskursiver Artikulation und operativer Assoziation aufeinanderprallen, so entlastet die Diagrammatik beide, um sie für Neuversammlungen zu öffnen. Es ist diese prinzipielle Unabgeschlossenheit der Diagrammatik, ihre konstruktive Affirmation – es hätte auch anders sein können, lasst uns überlegen, was mit den Mitteln des Gewordenen anders werden könnte – die sich gegen jede Schließung des Politischen wendet. Was ins Zentrum rückt, ist der Kampf um Teilhabe an und Mitkonstruktion von Ordnung selbst. Weder verfügt die Liste über ein finales Narrativ, noch eine vorgefertigte Richtung das sie organisiert, noch über eine vorgegebene Lektüre. Die Normativität der Diagrammatik liegt in ihrem Anwendungsbezug: Man muss sie selbst als handelndes Ding aktivieren, mit ihr spielen, um weiterzukommen. Der Imperativ der Diagrammatik lautet: Benutze mich als Medium um die Möglichkeit zu erhalten, das Kollektiv Stadt neu zu verschalten oder umzukomponieren. Als Medium ist die Liste also weit entfernt, bloß passives Instrument zu sein. Qua ihrer performativen Kraft prononciert sie sich als affizierender Motor der Neuversammlung, die das Wunder des konstruktiven Umgangs mit der Unbestimmtheit zelebriert – Improvisation. Wichtig bleibt daran die Frage des Maßstabs und der maßstäblichen Übertragung. Eine größere Raumeinheit wie zum Beispiel die Stadt enthält ein ganzes Konvolut von Skripten, Codes, in denen das Kooperieren von Stoffen, Aggregaten und Menschen angelegt ist. Wird das Kooperieren auch durch sie determiniert? Sicherlich, jedoch nur bis zu einem gewissen Grad. Die Bestimmung liegt in der, den Faktoren und dem Kooperieren eigenen
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Unbestimmtheit begründet. Auf diese Weise lässt sich Lefebvres Rede von der Raumproduktion näher spezifizieren. Zwar kann Raum als produziert verstanden werden. Raumproduktion hat jedoch kein Subjekt (weder als Individuum noch als »Arbeiterklasse«), sondern artikuliert sich als ein Kollektiv im Sinne Latours. So erweist sich Raum als performativ hergestellt und Raumproduktion als eine improvisationale Handlung, die einem Akteur-Aktanten-Hybrid entstammt. Eine solche Argumentation hebelt beispielsweise die marxistische Debatte um Entfremdung im Ding dort aus, wo gefragt werden muss, wie denn, wenn man die Dinge zum Kollektiv braucht, eine Verdinglichung schaden kann? Zeigt sich Entfremdung hier nicht vielmehr als Positivum, und zwar als der Versuch, das Skript eines Dings sich anzueignen? Das handlungstheoretische Konzept, die agency des Dings Raum zu berücksichtigen eröffnet dem Städtebau die Möglichkeit, aus den redundanten Konfrontationen von Stadtpolitik, Bauindustrie, Verwaltung und zivilgesellschaftliche Organisation auszusteigen. Es ringt ihm jedoch den Verzicht darauf ab, immer neue Vorschläge zur Lösung von Problemen zu machen, die auf dem Postulat undiskutierbarer Tatsachen fußen sollen. In nuce tritt damit als fünfte Quelle der Unbestimmtheit »die Untersuchung selbst«69 auf den Plan. Das Improvisationale der Untersuchung ergibt sich aus dem Vorgang, die Unbestimmtheit der relationalen Praxis und den konstruktiven Umgang mit ihr nicht nur zu untersuchen (zu externalisieren) aber auch – und das ist ihre Gelingensbedingung – als Verfahren auf sich selbst anzuwenden und damit diskutierbar zu machen. Die improvisatorische Aufzeichnung von Situationen ermöglicht, Diagrammatiken zu erstellen, die sowohl menschliche als auch nicht-menschliche Handelnde auf derselben epistemologischen, ontologischen und politischen Ebene einschließen.
4.2 Schaltung Anhand von Latours Argumentation lassen sich diskursive Linien einer neuen Handlungstheorie nachzeichnen. Sie gestattet es unter anderem den Begriff der Struktur neu zu fassen. Danach erweist sich Struktur weder mehr als Behälter noch als Substanz. Stattdessen prononciert sich Struktur einfach als relationales Medium, das auf unterschiedlichen Maßstäben Spuren transportieren kann. Gemäß dieser Lesart kann man Latours Fokus auf die »Verbin69
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dungen, Kabel, Transportmittel, Vehikel, die Orte miteinander verknüpfen«70 parallel zu de Certeaus Ansicht lesen, dass ein Ort nur durch Handlung zum Raum wird. Als Äquivalent zu diesem Diktum gilt für Latour, dass ein Ort ohne Relationalität strukturell nicht funktioniert. Diese These kommt vielleicht bei der Rede von den städtischen hubs am besten zum Ausdruck. Das sind jene städtischen Orte, an denen sich Relationen verdichten, sich überlagern und strukturelle Anschlussstellen für weitere Verschaltungen eröffnen. Der exemplarische Fall ist eine U-Bahn-Station, die von einer S-Bahn Trasse gekreuzt wird, von einer mehrspurigen Straßenkreuzung überbaut ist und deren Passage unterschiedliche Läden enthält. Mit Bernd Kniess gesprochen sind solche städtische hubs Areale an denen Handlung stattfindet, sich bündelt und sich den herkömmlichen Lesarten entzieht. Sie stellen somit ein besonders ergiebiges Terrain für die städtebauliche Aufgabe dar, »Zusammenhänge städtischer Nutzung […] neu zu erschließen.«71 Das führt zur Darstellungsfrage zurück: Je komplexer die Medien sind, mit denen Handlungen aufgezeichnet werden, je komplexer können auch die Strukturen sein, die sich daraus destillieren lassen. Strukturelles Arbeiten in diesem Sinne impliziert, relational und das heißt diagrammatisch vorzugehen. Die diagrammatische Konzeption und Produktion von Struktur ermöglicht, die Weisen und Stile der Relationalität städtischer Handlungszusammenhänge zu untersuchen und aufzuzeigen, bzw. sichtbar zu machen. Damit ist noch nichts über eine konkrete bauliche Gestalt bzw. Form ausgesagt, sondern nur über ein Prinzip, aus dem Formen entstehen, produziert werden können. Zwingt das den Städtebau nicht dazu, auch die gebaute Umwelt nicht mehr als Form – ›in‹ der sich Handlungsträger aufhalten – sondern als bestehend aus den spezifischen Bewegungen, die durch die Handlungsträger hindurchgehen, zu verstehen? Sind etwa Häuserzeile, Block, Gebäude je in ihrer Verwendung in toto sichtbar, wie dies herkömmliche Modelle, Renderings und 3D-Animationen suggerieren?72 In diesem Zusammenhang kommt es darauf an, noch einmal mit Lefebvre darauf hinzuweisen, dass die im städtebaulichen Diskurs so prominenten Parameter Struktur, Form und Funktion in sich selbst relational sind. Das wird
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Ebd., S. 304 Kniess, Bernd: »Explore Migration«, Vortrag im Seminar Kartographie des Masterstudiengangs Urban Design, HCU Hamburg, 29.06.09 s. hierzu: Yaneva, Albena: Scaling up and down. Oxford 2005; Robbins, Edward: Why architects draw. London 1994
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besonders dann deutlich, wenn man skalar an eine städtische Situation herangeht. Skalar zu agieren heißt hier, zu vermeiden, im vornhinein festzulegen, in welcher Größe agiert bzw. beobachtet wird. Man hat also bei jeder Untersuchung im Blick zu halten, welche Maßstabsebene man gewählt hat, wie im Maßstab zu wechseln ist und welche Perspektive man gerade parametrisch anlegt. Oft legen Forschende den Maßstab bereits fest, bevor sie an eine Sachlage herangehen, um hinterher auch sogenannte viable Ergebnisse zu erzielen. Damit gerät aber die performative Dimension des Maßstabs aus der Sicht. Man verliert aus den Augen, wie die Akteure »indem sie sich gegenseitig skalieren, verräumlichen und kontextualisieren«73 die Größenordnung »durch den Transport bestimmte Spuren in bestimmte Transportmittel«74 überhaupt erst bestimmen. Latours Aussage »Maßstab ist die Leistung der Akteure selbst«75 ist auch in wissenstheoretischer Hinsicht von Bedeutung. In dem zooming-in und zooming-out liegt eine bestimmte improvisatorische Fähigkeit der Raumhandelnden begriffen, die ihrerseits Gegenstand der Untersuchung zu sein hat. Hierin liegt beispielsweise eine der entscheidenden Leistungen von Rem Koolhaas’ Buch S,M,L,XL: Als Stadtuntersuchung indiziert, zeigt dieses Buch nicht nur auf, dass die Situationen des Urbanen eben nicht vorsortiert in Maßstäben geordnet vorliegen. Es offenbart ferner, dass die Raumhandelnden immer mit einer Orientierungs- bzw. Deutungsleistung im und am Urbanen beschäftigt sind und auch, dass diese Art und Weise wert ist, aufgezeichnet zu werden. Die Sicht auf Städtebau die Koolhaas hier vertritt, ist eindeutig: »Eine Sache, die ich im Städtebau beobachte, ist die enorme Gefahr, mit der Planung zu beginnen oder eine Planung einzuführen. Ein solches Vorgehen kann sich leicht gegen die Vitalität einer Stadt richten. Deshalb denke ich, dass man sehr genau analysieren muss, was als Stadt passiert und, wenn möglich, warum. Aus dem Ergebnis könnte ein rückwirkendes Konzept extrapoliert werden. Oder es könnte die Grundlage für eine vorausschauende Extrapolation bilden.«76 Wiederholen wir: Mit Latours Argumentation rückt ein modifizierter Handlungsbegriff ins Zentrum städtebaulicher Entwurfskonzeption. Unter dem Paradigma einer Intentionalität des Handelns kann man schwer behaupten,
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Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 317 Ebd., S. 317 Ebd., S. 319 Koolhaas, Rem: Conversations with Students. Houston 1996, S. 47
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Dingen wie eine Straße, ein Häuserblock, ein Architekturmodell könnten handeln. Man bleibt in der Dichotomie zwischen materiell und reflexiv, zwischen kausal und symbolisch hängen. Gefragt ist stattdessen eine Gestaltungsweise, die fähig ist, differentielle Handlungsmodi und Materialtypen zu verschalten. Sie lässt sich als ermöglichenden Gestaltung fassen. Eine ermöglichende Gestaltung ist dadurch charakterisiert, dass sie die Wirkmächtigkeit der Dinge mit der Unbestimmtheit des Handelns und der Gruppierung zusammenzudenkt, bzw. arrangiert. Könnte städtebauliches Gestalten nicht aus dem Angebot, dass die Dinge machen, einen Nutzen ziehen? Muss Städtebau noch neue Formen erfinden? Ist nicht die Rede vom Bauen im Bestand schon der Verweis auf ein Redesign, eine situative Könnerschaft, welche die Angebote der Dinge in einer Vielfalt der Handlungsmodi verschaltet, arrangiert und so zu einem situativen Verfahren gelangt? Aber muss dann nicht auch die Frage der Form erweitert werden hin zur seriellen Arbeit an Katalogen, Typensammlungen, Indizes von a) Dingen, b) Situationen und c) Arrangements? Bestünde die ermöglichenden Gestaltung dann nicht darin, aufzuzeigen, wie die an urbanen Situationen Beteiligten »versammelt werden, um einen Weg aufzuzeigen, wie sie als dauerhaftes Ganzes handeln können?«77 Angesichts dieser Fragen sollte man sich eingestehen, dass sich die Aktantenrolle der Dinge dort als schwer nachzeichenbar erweist, wo sich ihre Handlungsmodi inkommensurabel zeigen. Aber muss dies die Konsequenz nach sich ziehen, dem Handeln von Menschen nur rationalen, kommensurablen Charakter zuzuschreiben? Problematisch an dieser Lösung ist, dass sie jene Externalisierung von Welt voraussetzt, die Latour überzeugend zurückgewiesen hat. Zu fragen wäre also stattdessen, wie kollektives Handeln möglich ist, als »Aktion, die verschiedene Typen von Kräften versammelt, die zusammengewoben werden, weil sie verschieden sind.«78 Für das Gestalten erweist sich die Form des Raumproduzierens als eine Frage der Relationen zwischen heterogenen Handelnden. Damit wird keine Überwindung einer Subjekt-Objekt-Dichotomie angestrebt. Diese Differenz ist im Kontext des hier vorgeschlagenen Kollektiv-Gedankens obsolet. Folglich steht ein Ergebnis unserer Untersuchung bereits fest: Stadtgestaltung rückt dort in Stadtforschung ein, wo sie ihr Augenmerk auf die heterogenen Wirklichkeiten von Stadt richtet, die in die Produktion von Raum eingehen. Ein städtebauliches Gestalten das Schnittstellen zu den Wissensfor77 78
Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 125 Ebd., S. 129
4 Welches Handeln?
men der Stadtforschung bildet, beinhaltet eine spezifische Form der Ökologie: Es muss gar nicht alles selber machen, alles selbst gestalten. Stattdessen besteht die Aufgabe des Gestaltens darin, kluge Orchestrierungen her- und Arrangements zusammenzustellen. Ziel ist es dann, Dinge so versammeln, dass sie »andere dazu bringen, Dinge zu tun.«79 Damit ist Gestaltung weder allein Träger einer handwerklich besten Lösung für eine bereits bestimmte Funktion oder ein fixiertes Problem noch künstlerisch autonome Gestaltung von Schönem für eine bessere Welt, sondern ein gekonnt improvisatorischer Vorgang, der Transformationen hervorbringt, die sich in »unerwarteten Ereignissen […] manifestieren.«80 Aus diesem Grund sind die seriellen Verschaltungen transformatorischer Vorgänge, die aus einem solchen Gestalten hervorgehen, nicht auf simple Ursache-Wirkungsmechanismen zu reduzieren. Als Produktion von vektorialen Relationen bleibt ihr Verfahren nur als retroaktive Anordnung bespielbar. Rein kausale Erklärungen greifen hier nicht. Angesichts dessen bedeutet das Wort vektorial nichts anderes, als dass ein Faktor einen Akteur in einer seriellen Reihe von Akteuren darstellt, und keine »Ursache, auf die eine Reihe von Zwischengliedern folgt.«81 Kommt es heute nicht genau deshalb darauf an, die Kategorien des Raumes und der Stadt bzw. des Städtischen in eine über die Disziplinen hinweg greifende Gesellschaftsanalyse zu integrieren? Wie aber verknüpft sich eine solche Analyse mit der Transformation gesellschaftlicher Verräumlichung? Dieses Fragen verlangt im nächsten Schritt, die Bedingungen der Möglichkeit gesellschaftlicher Emanzipation genauer zu beleuchten.
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5 Die emanzipierten Raumgebrauchenden Jacques Rancière
Kehren wir noch einmal zur Ausgangslage zurück. Der Städtebau ist in der Krise. Sein Geltungsanspruch erodiert. Demographischer Wandel, Klimawandel, Sozialabbau und leere kommunale Kassen sorgen dafür, dass Deutungsmodelle und stadtplanerische Instrumentarien aus der Ära des Wachstums an Bedeutung verlieren. Man geht nicht fehl, wenn man die aktuell zu konstatierende Zunahme an sogenannten Bürgerbeteiligungen als Reaktion auf diesen Zustand deutet. Kaum überraschend zeitigt das Format Bürgerbeteiligung indes kaum Effekte politischer und dezisiver Partizipation. Was stattdessen herauskommt, ist vielmehr ein steigender Anteil an Ehrenamtlichen in der Stadtteilarbeit. Sie entlasten den Staat hinsichtlich seiner Sozialaufgaben. Der Rückgriff auf Kultur spielt in dieser Doppelbewegung von bürgerschaftlicher Selbstermächtigung einerseits und Abwälzung kommunaler Aufgaben andererseits eine vorgeordnete wenngleich zwiespältige Rolle. Kultur kann, so sieht es die Kuratorin Babara Steiner, »emanzipativ, aber auch befriedend wirken und damit einen Boden für die Akzeptanz radikaler gesellschaftlicher Einschnitte bereiten.«1 Ernüchternderweise ist man bei der gängigen Praxis der Stadtkultur ebenso wie bei gewöhnlichen städtebaulichen Beteiligungsverfahren oft eher mit einem Simulakrum des Spektakels konfrontiert. Verfahren zur wirklichen Ermächtigung oder Partizipation werden selten geboten. Stattdessen bringt die Inszenierung von Schein-empowerment »die tatsächliche Aktivierung der Betroffenen«2 zum Erliegen. Dies hat besonders dort fatale Wirkung, wo der Städtebau künstlerische Strategien adaptiert,
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Steiner, Barbara: »Komplizenschaft? Zur Rolle von Kunst und Kultur in Stadtplanung und Marketing«, in: Müller, Vanessa J./Schafhausen, Nicolaus (Hg.): Under Construction. Perspektiven institutionellen Handelns. Köln 2006, S. 88 Ebd.
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»ohne deren gesellschaftlich emanzipativen Anspruch einzulösen.«3 Resultat ist eine Kulturalisierung der Stadtplanung, die unter dem populistischen Postulat einer »Kultur für Alle« die Instrumentalisierung von Partizipation betreibt. In den 1980er Jahren begann der Städtebau – zunächst in den USA und später auch in Europa – im Schulterschluss mit der Wirtschaft, die tragende Funktion der Kultur zu erkennen und zu nutzen. Kultur stieg als weicher Standortfaktor zum Imageproduzenten der Stadt auf. In diese Zeit fiel etwa der Startschuss für die sogenannten Kulturhauptstädte Europas. Achim Könneke, der ehemaligen Kulturamtsleiter Hamburgs, berichtet: Das »so genannte neue Interesse an der Kultur in den 80er Jahren« war insofern neu als »es eines der Wirtschaft und des Kapitals war.«4 Als Beispiel führt Könneke die Stiftung Lebendige Stadt an, die von dem Unternehmen Otto ausging und massiven Einfluss auf die Stadtentwicklung in Deutschland nahm.5 In historischer Perspektive erwies sich in diesem Zusammenhang die unkritische Position vieler Stadtplanungsämter als verhängnisvoll. Um Stadt als »Konsum und Erlebnisstandort« im globalen Wettkampf attraktiver zu machen, gingen sie »Wachstumskoalitionen mit den Unternehmen«6 ein. Heraus kam eine Eventisierung der Stadt, die das Öffentliche des Stadtraums mit Privatem überschrieb und ihm so die Voraussetzungen für politische Agonalität nahm. Dass in diesem Rahmen auch bottom-up Projekte bei ihrem Engagement für Partizipation und Emanzipation scheitern können belegt ein Beispiel aus der bildenden Kunst. Die Rede ist von dem amerikanischen Kollektiv Group Material. Ursprünglich war Group Material ein Synonym für ein Ladenlokal in der 244 East 13th Street in New York. An diesem Ort, der sowohl Produzentengalerie als auch Studio war, produzierten Group Material Shows, die sich um Themen wie kulturellen Aktivismus, Entfremdung, Wahlpolitik und Konsum drehten. Im Jahr 1980 beschloss das Kollektiv die »Nachbarschaft, ihre Interessen und ihre Bedürfnisse« in ihre künstlerische Arbeit einzubeziehen. Die Ausstellung The People’s Choice sollte ausschließlich Artefakte präsentieren, die aus der Nachbarschaft in New Yorks Lower East Side kamen. Am 22. Dezember 1980 gingen die Mitglieder der Gruppe in der dreizehnten Straße von Tür zu Tür, um die dort Wohnenden um einen bedeutungsvollen Gegenstand zu
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Ebd. Ebd., S. 89 s.u.a. Göschel, Albrecht (Hg.): Kultur in der Stadt. Opladen 1998 Steiner: »Komplizenschaft?«, S. 90
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bitten – Familienfotos, Figuren oder religiöse Bilder. Gleichwohl, was aktivierend wirken sollte, misslang: Weder eignete sich die Nachbarschaft den Ausstellungsraum an, noch hatte sie Interesse an dem breiteren kulturellen Aktivismus, wie ihn Group Material vertrat. Eine engere Zusammenarbeit kam nicht zustande. Auf dem Flugblatt Caution! Alternative Space! vom September 1981 räumte Group Material später die Schwierigkeiten ein und kündigte die Schließung des Ladenlokals an. Was Group Material übersehen hatten, war, dass sich die ökonomischen Zusammenhänge des städtischen Raums nicht ignorieren lassen. Obgleich das Kollektiv auf »Angebote für eine einkommensschwache Schicht«7 zielte, lief das Projekt letztendlich auf die dilettantische Substituierung von Sozialmaßnahmen hinaus. Diese Umkehrung signalisiert, dass Kultur im Kontext der Stadtentwicklung beides ist: kritische Folie ebenso wie affirmative Instanz. Wie aber kann Städtebau von Kultur lernen, »einen existierenden Status Quo zugunsten emanzipativer Vorstellungen zu verändern?«8 Angesichts dieser Frage will ich zunächst in disziplinübergreifender Perspektive untersuchen, was Emanzipation im Bereich des Theaters bzw. der performativen Künste bedeutet. Welcher Modus der Kritik ist in die performativen Künste eingelassen? Wie wird Emanzipation in der Domäne des Performativen verhandelt? Und welche Relevanz hat dies hinsichtlich der Bestimmung des Verhältnisses von Raum und Handlung? Wohl niemand hat die Beziehung zwischen den performativen Künsten und der Frage der Emanzipation erhellender auf den Prüfstand gestellt als Jacques Rancière. Der ausschlaggebende Bestandteil seiner Position ist der Zweifel an der konventionellen Annahme, bereits die Forderung nach gesellschaftlicher Veränderung zugunsten emanzipativer Vorstellungen wirke emanzipativ. In dem berühmten Text Der emanzipierte Zuschauer entfaltet Rancière diese Skepsis als Absetzbewegung gegen ganz bestimmte Formen kritischer Kunst. Es sind die Formen, die aufgrund pädagogischer Prämissen und vermittels künstlerischer Arbeiten einerseits zur Beseitigung falschen Bewusstseins und Entfremdung und andererseits zur Aktivierung passiver Zuschauender beitragen wollen.
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5.1 Zuschauen und Emanzipation Rancière beginnt mit zwei Punkten. Zunächst ist für ihn die Ausgangslage der Untersuchung entscheidend. Das gegenwärtige Theater befindet sich in einer Krise. Seine gesellschaftliche Deutungshoheit ist erodiert, sein Status und seine Wirkmacht im Schwinden begriffen. Rancières zweiter Punkt besteht in der Grundformel, die seiner Ansicht nach die Basis der Auseinandersetzung mit und Kritik von Theater darstellt. Es handelt sich um das fundamentale Paradoxon, dass es kein Theater ohne Zuschauende gibt.9 Für viele Kritiker liegt deshalb die Katastrophe bzw. Krise des Theaters in der Person oder Funktion des Zuschauers begriffen und zwar aus zwei Gründen. Der erste Grund fußt auf der Behauptung, Betrachten sei das Gegenteil von Wissen. Das Publikum findet sich vor einer Erscheinung und weiß weder etwas von dem Prozess der Produktion dieser Erscheinung noch kennt es die Wirklichkeit, die diese Erscheinung zeigen soll. Zum Zweiten ist Zuschauen das Gegenteil von Handeln: Die Zuschauenden sind immobil und zur Passivität verurteilt. Einer Theatervorführung zuzuschauen heißt demnach, sowohl vom Wissen wie vom Handeln getrennt zu sein. Aus dieser Diagnose eröffnen sich zwei mögliche Schlussfolgerungen. Die erste besagt, dass das Theater eine Einrichtung ist, die überwunden werden muss, um wieder zum Wissen und zur Aktion zu gelangen. Dies ist eine Platonische Formulierung: Das Theater versorgt die Menschen mit Illusionen, hält sie von der Wahrheit ab und überträgt die Krankheit der Unwissenheit (ignorance). Eine gerechte Gemeinschaft kann nur diejenige sein, welche die theatrale Mediation grundlegend ablehnt. Die zweite Schlussfolgerung möchte nicht auf Theater als Medium verzichten, sie sieht die Problematik vor allem in der Position der Zuschauenden selbst begriffen. Wer diese Richtung vertritt, sagt: »wir brauchen ein neues Theater, eines ohne Zuschauende im herkömmlichen Sinn.«10 Hier tritt das Drama auf den Plan, die mobilisierende Handlung selbst. Es will ein Theater, in dem die Zuschauenden aktiv Partizipierende werden, statt passive Voyeure zu sein. Geschichtlich hat diese Argumentation zwei Formen des Theaters hervorgebracht, diejenige Bertolt Brechts und diejenige Antonin Artauds. Brecht sucht die Zuschauenden durch radikale Verfremdung aus der Passivität zu reißen, sucht sie für Empathie und Identifikation mit den Personen auf der Bühne zu gewinnen. Man zeigt den Zuschauenden ein befremdendes Spektakel 9 10
Rancière, Jacques: Le spectateur émancipé. Paris 2008, S. 8 Ebd., S. 9
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im Selbst, ein Rätsel, das sie fesselt und das sie selbst lösen müssen. Man bietet dem zuschauenden Selbst eine Parabel, sozusagen ein exemplarisches Problem, wie es ihm auch im Alltag begegnen könnte und an dem es sich abarbeiten und bilden soll. In der zweiten Form (Artaud) wird die in der ersten Form angestrebte Distanz der Vernunft als Ort der Problematik selbst ausgemacht. Die Zuschauenden müssen aus ihrer Position der Beobachtenden heraus- und in den magischen Zirkel der theatralen Aktion hineingezogen werden, dorthin wo sie das Privileg des rationalen Beobachters gegen den Besitz der vitalen Energien des Theaters eintauschen.11 Die Reform des zeitgenössischen Theaters läuft entlang der Demarkationslinie zwischen distanzierter Untersuchung und vitaler Teilhabe. Man sollte hier an die Antike erinnern: Platons Ziel war es, das Theater abzuschaffen und durch den Chor12 zu ersetzen. Die unwissende demokratische Gemeinschaft des Theaters sollte einer Gemeinschaft der Choreographie weichen, die in einer völlig neuen, durch mathematische Proportion getakteten und harmonisierten Performanz der Körper aufgeht. Man kann nun klar sehen, dass Brecht und Artaud die platonische Dichotomie von Chor vs. Theater hin zur Opposition von Wahrheit des Theaters vs. Simulakrum des Theaters verschieben. Mit anderen Worten: Sie machen das Theater zu einem Ort an dem sich die als passiv angenommene Öffentlichkeit der Zuschauenden in ihr Gegenteil verwandelt: Den aktiven Körper einer Gemeinschaft, das sein vitales Prinzip in Aktion setzt.13 Schließlich setzen Brecht und Artaud das Theater als eine exemplarische Form der Vergemeinschaftung voraus. Gleichzeitig argumentieren sie gegen das ›falsche‹ Schauspiel an. Brecht vertritt bekanntermaßen die Ansicht, Theater sei ein Versammlungsort, an dem sich die Zuschauer ein Bewusstsein über ihre eigene Lage erarbeiten. Artaud zufolge ist Theater Ort des Rituals, in dem sich die Kollektivität Energien aneignet. Beide Formen kämpfen sich zu einer ›Wirklichkeit‹ oder ›Essenz‹ des Theaters vor.
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Ebd., S. 10 »Kariye (Chora)« bedeutet im Altgriechischen »außerhalb der Stadt, auf dem Lande«. Platon nennt »chora« den leeren Raum. Ein Raum, in dem wir uns geistig versammeln und alles, was wir mit den Sinnen erfahren können, erleben: sehen, hören, betasten, denken. (Vgl. Platon: Timaios, 52b) Rancière: Le spectateur émancipé, S. 11
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Diese Argumentation gründet in der Annahme, dass hinter dem Spektakel die Gefahr der Täuschung lauert. Sonst müsste man ja nicht gegen diese Täuschung angehen. Wie man weiß, war es Guy Debord, der diese Fragestellung zum Kern seiner Arbeit erhob. Dem Apologet der Situationistischen Internationale zufolge spricht das Spektakel von der Exteriorität, von der Teilung des Seins.14 Die Formel besitzt wünschenswerte Deutlichkeit: Je intensiver ich in Spektakeln kontempliere, je mehr verliere ich den Zugang zur wirklichen Welt, je mehr werde ich meiner vitalen Handlungsfähigkeit beraubt. In der Perspektive dieser Logik entfaltet das ›reformierte‹ Theater ein spezifisches Dispositiv, dessen Prinzipien lauten: Äquivalenzen zwischen Theaterpublikum und Gemeinschaft, zwischen Beobachtung und Passivität, zwischen Mediation und Simulakrum auf der einen und Gegensätze zwischen Kollektiv und Individuum, Bild und Wirklichkeit, Aktivität und Passivität, der Besetzt des Selbst und Entfremdung auf der anderen Seite.15 Man geht nicht fehl, wenn man konstatiert, dass es dieses Dispositiv war, das einst die berühmte Selbstanklage des Theaters der Moderne hervorgebracht hat, nämlich : »Ich wirke entfremdend!« Entsprechend fordert sie – neben Läuterung – die Inversion der theatralen Effekte zum Besseren. Am Telos dieser Drehung soll die Partizipation der Zuschauenden sich prononcieren. Was das Theater nun als seine Aufgabe sieht, ist, seinen Zuschauern jene Mittel beizubringen, die es ihnen erlauben mit dem Zuschauersein aufzuhören und Agenten einer kollektiven Praktik zu werden.16
5.2 Wissen und Emanzipation Nun leitet Rancière aus der vorhergehenden Formel zur aktivierenden Pädagogik des Theaters eine gewichtige Problemstellung ab. Er setzt sie parallel zur Debatte um den emanzipatorischen Intellektualismus und den Streit um die Logik der pädagogischen Beziehung. Rancière greift hier auf Erörterungen seines Buches Der Unwissende Lehrmeister 17 zurück. Die pädagogische Logik stützt sich auf die Hypothese, dass es eine Kluft zwischen Wissenden (in der
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Debord, Guy: La société du spectacle. Paris 1992, S. 25 Rancière: Le spectateur émancipé, S. 13 Ebd., S. 14 Rancière, Jacques: Der unwissende Lehrmeister. Wien 2007
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Diktion von Rancière die »Meister«) und Unwissenden gibt. Diese Kluft soll gefüllt, aber niemals geschlossen werden. Sie ist einzig von Seiten der Wissenden bestimmbar. Was damit institutionell abgesichert und ins Unendliche verlängert wird, ist die Unterlegenheit der Lernenden. Lehrende haben die Aufgabe, die Distanz zwischen ihrem Wissen und der Unwissenheit der Lernenden zu überwinden. Leider tun sie dabei nichts anderes als den Graben zwischen Wissen und Unwissenheit zu verbreitern. Das liegt an der pädagogischen Logik selbst, nach welcher die Unwissenden nicht nur weniger wissen als die Lehrenden. Die Unwissenden haben weder eine Ahnung davon, was sie nicht wissen, noch davon, wie die Lehrenden davon wissen können. Der pädagogischen Logik zufolge sind die Unwissenden nicht dazu befähigt, überhaupt ein Urteil darüber fällen, ob diese implizite Zweiteilung an sich nicht zur Disposition steht. Die Lehrenden wissen nicht nur mehr als die Unwissenden, sie sind ist auch die Einzigen, die wissen, wie man ein Objekt des Wissens herstellt, zum welchem Moment und nach welchem Protokoll. Nach dieser Logik ist es keineswegs so, dass die Unwissenden nichts wüssten. Es verhält sich nur so, dass von den Lehrenden aus gesehen, das Wissen der Unwissenden dasjenige von Unwissenden ist. Die Lehrenden erkennen dies an der Form des Wissens: Die Unwissenden lernen durch zufällige Begegnung, durch Autodidaktik, durch eigenes Vergleichen und Ansammeln. Was die Unwissenden von den Lehrenden unterscheidet ist das Wissen über die Distanz selbst: Ihnen fehlt das Wissen über Unwissenheit, über »die exakte Distanz die das Wissen von der Unwissenheit unterscheidet.«18 Der grundlegende Unterschied besteht also darin, dass die Unwissenden denken, Wissen sei eine Ansammlung von Wissen während die Lehrenden wissen: »es ist eine Position.«19 Weit entfernt, aus einer vorgegebenen Regel hervorzugehen, entsteht das Maß der Distanz vielmehr aus dem Spiel besetzter Positionen. Man sollte darauf hinweisen, dass auch die progressive Pädagogik so verfährt: Sie stellt zuallererst die Distanz zwischen Wissen und Unwissenheit her und bemüht sich dann mit allerlei »progressiven« Formeln, den Unwissenden zu »helfen«. Die Positionierung – und auf die kommt es hier an – bleibt dieselbe. In jedem Akt des Positionierens manifestiert sie die Bestätigung dessen, dass es zwischen Intelligenzen Ungleichheiten gibt, während sie parallel dazu von Gleichheit des Wissens spricht. 18 19
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Mit dem Verweis auf den Reformpädagogen Jean Joseph Jacotot nennt Rancière dieses Verfahren Abstumpfung, Verdummung (abrutissement). Dem gegenüber stellt er dasjenige, welches er als die intellektuelle Emanzipation bezeichnet: »Die intellektuelle Emanzipation ist die Bestätigung der Gleichheit der Intelligenzen.«20 Diese Gleichheit sagt nicht, dass Wissen relativ und alle Äußerungen oder Manifestationen von Wissen gleichwertig seien. Sie besagt nur, dass jedes intelligente Selbst, das sich in Manifestationen des Wissens ausdrückt, gleich ist. Es gibt keine Unterschiede in der Intelligenz, nur Unterschiede in Wissensformen. Die, die nicht schreiben können, finden andere Wege, zu zählen, zu arbeiten und Wissen mitzuteilen, als die, die schreiben können. Beide Gruppen wenden Techniken an – sie übersetzen zum Beispiel zwischen Zeichen zu oder stellen Vergleiche an –, um ihre »intellektuellen Abenteuer zu kommunizieren und zu verstehen, was sich eine andere Intelligenz anschickt, einem verständlich zu machen.«21 Es ist diese Übersetzungsarbeit, die den Kern einer wirklichen emanzipatorische Praktik ausmacht. Sie wird durch diejenigen ausgeübt, die Rancière die »unwissenden Lehrenden«22 nennt. Die unwissenden Lehrenden ignorieren die pädagogische Distanz nicht, aber die beschäftigen sich einfach nicht damit, eine Position zu besetzen. Stattdessen kümmern sich die unwissenden Lehrenden darum – wie ich es sagen würde – zu improvisieren, das heißt: die Kunst der Übersetzung besser ausüben zu können. Improvisation hat das Wissen über die Unwissenheit aufgegeben und somit Meisterschaft vom Wissen dissoziiert. Improvisation im Unterricht bedeutet demnach, Lernenden nicht das eigene Wissen als Lehrende beizubringen, sondern sie zu ermuntern, ihre Abenteuer im Wald der Zeichen und Dinge zu bestehen, zu zeigen und zu sagen, was sie erlebt und gesehen haben und so die Abenteuer zu bewahrheiten. Die improvisierenden Lehrenden machen sozusagen einen Raum auf, der ermöglicht, dass unterschiedliche Akteure auf gleicher Wissensebene miteinander in Austausch treten.
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5.3 Position des Zuschauens Was hat dieser Exkurs oben zum Lehren und Lernen nun mit dem Theater und der Frage der Zuschauenden zu tun? Wir leben in einer Zeit, in der keine Theatermachende mehr auf die Idee kämen, Zuschauenden über kapitalistische Ausbeutungsverhältnisse und falsches Bewusstsein aufklären zu wollen. Man kann sich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass die Überzeugung, es gebe ein »falsches Bewusstsein« der Zuschauenden weit davon entfernt ist, zu verschwinden. Geändert hat sich nur, dass die Theatermachenden nicht nur nicht mehr wissen, was zu tun ist, sondern dieses auch zugeben und die Frage einfach an die Zuschauenden weiterreichen. Nach dem Verlust der Illusionen könnten es ja die Zuschauenden sein, die wissen, was man tun soll. Die Lösung besteht dann darin, neue Formen des Theaters zu kreieren, die die Zuschauenden ihrer passiven Haltung entledigen, um sie in aktive Partizipanten einer gemeinschaftlichen Welt zu verwandeln.23 An diesem Punkt treffen sich Reformtheater und Reformpädagogik: in der Unterscheidung zwischen zwei Positionen. Obschon die Theatermachenden nicht mehr wissen, was sie wollen, was die Zuschauenden machen sollen, so wissen sie doch eins genau: Sie wissen, dass etwas getan werden muss und zwar muss der Graben zwischen Passivität und Aktivität überwunden werden. Nun aber wagt Rancière mit folgender Frage die Abkehr vom reformistischen Milieu: Warum nicht die Begriffe des Problems herumdrehen, indem man sich fragt, ob man nicht dasjenige zu überwinden sucht, was die Distanz zuallererst kreiert hat? Was erklärt die Zuschauenden zum passiven Betrachter, wenn nicht die radikale Opposition von Passivität und Aktivität? Die Gegensätze von Passivität vs. Aktivität, Betrachten vs. Wissen, Erscheinung vs. Realität sind alles andere als logisch oder wohl definiert. Im Gegenteil: Sie sind der Legitimation von und dem Kampf um Form unterworfen. Sie definieren die Teilung des Erfahrbaren, sie stellen eine Verteilung a priori der Positionen und der Kapazitäten bzw. Nicht-Kapazitäten dar, die an diese Positionen geknüpft sind.24 Emanzipation beginnt dort, wo man beginnt, diese Gegensätze anzuzweifeln, dort, wo man erkennt, dass die Beweisführungen, welche die Bestimmung von Sehen, Hören, Tun strukturieren, selbst Teil der Herrschaftsstrukturen sind. Emanzipation beginnt dann, wenn man auch dem Betrachten
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eine aktive Rolle zuspricht. Und hier sollte man die Parallele zwischen der Pädagogik und Theater verorten: Die Zuschauenden sind nicht die unbewussten Akteure, die sich an einen Inhalt klammern, der ihnen verabreicht wird. Sie agieren ebenso, wie es die Lernenden oder die Wissenden tun.25 Sie sind Subjekte, die das grundsätzliche Paradoxon akzeptieren, dass die einzige Art und Weise, das Stück, dass sie sehen, zu verstehen darin besteht, das Verstehen loszulassen. Die Zuschauenden lesen aus jedem Schauspiel ihre eigene Version zusammen, assoziieren und dissoziieren Teile der Performance, arbeiten an der aktiven Interpretation des Spektakels. Hier liegt der entscheidende Punkt von Rancières Argumentation: Die Zuschauenden verstehen etwas für sich, wenn sie sich aus dem Gebotenen ihr eigenes Werk zusammenfügen, so wie es Theatermachende tun. Dieser Vorgang der werkhaften Aneignung kann nicht eintreten, wenn Theatermachende wollen, dass die Zuschauenden dieses oder jenes ›verstehen‹, ebenso wenig wie die Lehrenden wollen können, dass die Lernenden dieses oder jenes ›verstehen‹. Man könnte anführen, dass Theatermachende gar nicht belehren wollen. Sie wollen ja nur eine bestimmte Energie hervorrufen, eine Form des Bewusstseins. Dies ist richtig. Was aber bleibt, ist die Position derer, die sich als Auslöser sehen: Ursache und Wirkung bleiben immer noch im gleichen hierarchischen Verhältnis. Das Angebot der Gleichheit gründet auf dem Verhältnis zwischen den wissenden Lehrenden und unwissenden Lernenden und der diesem Verhältnis immanenten Distanz ebenso wie dem Wissen über das Medium. Dabei werden zwei Distanzen verwechselt oder in einen Topf geworfen: Die zwischen Theatermachenden und Zuschauenden und jenen, welche sich in der Performanz selbst befinden. Aufgrund dieser Konflation wird der medialen Dimension (als die der Performanz inhärenten Distanz) die Form eines Verhältnisses zwischen Idee der Theatermachenden Künstlers und Rezeption der Zuschauenden zugeschrieben.26 Das Problem besteht natürlich genau darin, dass in der Logik der Emanzipation zwischen den unwissenden Lehrenden und den emanzipierten Lernenden immer eine Dritte Sache enthalten ist – ein Buch oder irgendeine Form der Schrift –, die beiden gleich fremd ist und auf die sie sich beziehen können, um gemeinsam zu verifizieren, was die Lernenden sehen, sagen, denken.
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Das gleiche gilt für die Performanz.27 Performanz ist kein Übertragungsmittel für das Wissen des Performers an den Zuschauer. Sie ist eine dritte Sache, die niemandem gehört, deren Deutungshoheit niemand besitzt, die sich zwischen Performer und Zuschauer auftut und alle Transmission von etwa Identitäten oder Ideen unterminiert. Eine solche Vorstellung von Emanzipation läuft diametral jenem Politischen Theater entgegen, das sich auf eine wie auch immer geartete Konzeption der Entfremdung beruft. Problematisch an der Entfremdungsthese ist, dass sie Emanzipation als Wiederaneignung einer Beziehung zu sich selbst ansieht, die in einem Prozess der Separation verlorenging.28 Nach einer solchen Logik hat Mediation durch ein Drittes immer nur als die fatale Illusion von Autonomie herzuhalten. Daraus leitet sich dann ab, dass Emanzipation voraussetzt, alle Schranken niederzureißen und alle Gräben zu überwinden. Performanz will nach diesem Diktum jegliche Exteriorität brechen, die Distanz zwischen Zuschauer und Performer im Saal aufheben, die Performances an anderen Orten stattfinden lassen, um so performativ von der Straße, der Stadt oder dem Leben Besitz zu nehmen.29 Gewiss lässt es sich nicht abstreiten, dass solche Bewegungen neue Formen des Theaters hervorbringen. Aber es ist doch etwas anderes, das Theater an neuen Orten zu verteilen, als eine Gemeinschaft zu versammeln, um der Separation ein Ende zu setzen. Hinter Letzterem steht immer noch der Glaube, das Theater sei jener Ort, der im Besonderen Gemeinschaft fördere, dass Theater sozusagen eine besondere Maschine zur Gemeinschaftsvereinigung sei. Weil auf der Szenerie lebendige Körper erscheinen, die sich an am gleichen Ort versammelte Körper richten, sei anscheinend schon ausreichend, um aus dem Theater den Vektor eines Gemeinschaftssinns zu machen.30 Dem ist aber nicht so, insistiert Rancière. Egal ob im Theater, im Museum oder einer Performance, es ist überall gleich: Es gibt dort nur Individuen, die ihren eigenen Weg im Wald der Dinge, Akte und Zeichen verfolgen, die sie umgeben.31 Die Macht, die den Zuschauenden eigen ist, resultiert keineswegs aus ihrer Zugehörigkeit zu einem kollektiven Körper einer Theatergemeinschaft oder einer spezifischen Form der Interaktion. Es ist vielmehr die Macht eines
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jeden Subjekts auf seine Weise zu übersetzen, was es wahrnimmt.32 Alle bauen sich aus ihrem Abenteuer ihre Welt der Erfahrungen zusammen. Was eine Performance verifiziert, ist deshalb nie die Partizipation an einer in der Gemeinschaft inkarnierten Macht. Was eine Performance stattdessen zeigen kann, ist die Kapazität aller Handelnden. Es ist die Kapazität, die alle auf eine gleiche Ebene des Wissens bringt. Diese Kapazität entfaltet sich jenseits irreduzibler Distanzen, sie zeigt sich durch unvorhersehbare Improvisationen der Assoziation und Dissoziation. Genau in diesem improvisatorischen Assoziieren und Dissoziieren liegt die Emanzipation des Zuschauers begriffen. Daraus ergibt sich zwangsläufig der Schluss: Zuschauend zu sein ist keine passive Kondition, die in Aktivität umgewandelt werden müsste. Sie ist vielmehr unser Normalzustand.33 Wenn Rancière an den Zuschauenden ein relationales Netz unzähliger Anfänge, Übergänge, Überkreuzungen entfaltet, die uns ermöglichen, zu lernen, antizipiert er dann nicht die These, dass es gar keine privilegierte Form gibt, es sei denn die der privilegierten Ausgangssituation aller? Ein weiteres entscheidendes Faktum ist, dass es weder darum geht Unwissende zu Wissenden noch die Zuschauenden zu Partizipierenden zu machen. Vielmehr gilt es, das Wissen der Lernenden als Form ebenso zu erkennen wie die den Zuschauenden gemäße Aktivität. Jedes Subjekt ist bereits Akteur und Zuschauer seiner Geschichte. Die simple Chronik dieser Geschichte(n) führt direkt zur Reformulierung der etablierten Beziehungen zwischen Sehen, Tun, Sprechen usw. Und genau hierin liegt das politische Element dieser Arbeit und der Unterminierung der Distanz zwischen Theatermachenden und Zuschauenden begriffen: indem sich das Subjekt unter dieser Prämisse zum emanzipierten Zuschauenden macht, arbeitet es an der »Neuaufteilung von Sichtbarem und Sagbarem«34 , an der gegenwärtigen Rekonfiguration der Aufteilung des Raums und der Zeit, des Arbeitens, Wohnens und Lebens.35 Um die Geschichten jedoch vernehmen zu können, braucht es auch ein Durcheinanderbringen der Grenzen zwischen empirischer Geschichte und philosophischer Theorie, zwischen den Disziplinen und den Hierarchien, zwischen den Niveaus der Diskurse.36 Damit löst man sich von der
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Ebd. Ebd. Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Berlin 2006 Rancière: Le spectateur émancipé, S. 26 Ebd., S. 27
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erkenntistheoretischen Vorannahme, es gebe hier Tatsachen und dort ihre Interpretation, hier eine Realität und dort ihre Repräsentation. Was es gibt, sind unterschiedliche Übersetzungs- bzw. Erzählweisen von Geschichten, welche die ihnen jeweils gemäße Form zu finden haben. Im Moment erleben wir im Theater eine Suchbewegung nach der Form. Es gibt beispielsweise performative Installationen, Theater ohne Handlung, Performances, die kein Theater sein wollen und künstlerische Handlungsanweisungen, die sich von der Performancekunst distanzieren usw. Diese Vermengung der Formen ist jedoch nicht bereits an sich eine emanzipatorische Angelegenheit. Rancière stellt in diesem Zusammenhang drei Kategorien auf, unter denen sich diese Formenunschärfe ordnen lässt. Die erste Kategorie ist jene, die sich an der totalen Kunst abarbeitet und die Grenzen von Kunst und Leben zu überwinden trachtet. Sie steht in der Tradition des Gesamtkunstwerks des 19. Jahrhunderts. Zum Zweiten gibt es jenen Formenpluralismus, der sich aus der Postmoderne heraus entwickelt hat. Seine Merkmale sind mediale Hybridisierung, Rollen- und Identitätentausch, Spiel mit Realität und Virtualität. Wie die erste Kategorie benutzt auch der Formenpluralismus die Grenzverwischung zur Erhöhung des performativen Effekts, ohne seine Prinzipien in Frage zu stellen. Es bleibt schließlich eine dritte Verfahrensweise, die nicht auf die Effektverstärkung abzielt, aber das Bezugssystem von Ursache-Wirkung ebenso in den Blick nimmt wie das Spiel der Vorannahmen, welche die Logik des abrutissement unterstützen.37 Diese dritte Form interpretiert die Form des Theaters als Szenerie, als Plattform, auf der heterogene Performances von unterschiedlichen Individuen, die sich auf Augenhöhe befinden, auf unterschiedliche Weise übersetzt werden. Die Theatermachenden bringen ihre jeweiligen Kompetenzen ein und die Zuschauenden beobachten, wie diese Kompetenzen in einen neuen Zusammenhang mit wieder anderen Zuschauenden gebracht werden und was diese Kompetenzen durch die Kontextverschiebung produzieren können. Theatermachende agieren dann wie Forschende, die einen Versuchsaufbau auf solche Weise ins Werk setzen, dass Ursache und Wirkung offen liegen und gleichzeitig der Unbestimmtheit anheim gegeben werden, ganz so wie es das emanzipatorische intellektuelle Abenteuer verlangt. Die entscheidende Volte ist, dass die Wirkung des Idioms nicht antizipiert werden kann.38 Damit prononciert sich Performance als eine Bühne der unterschiedlichsten Übersetzungen aktiver Interpreten: der 37 38
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emanzipierten Zuschauenden. Weit entfernt überflüssig zu sein, ist Theater dann einfach der Ort, an dem wir überprüfen können wie Worte, Bilder, Geschichten und Performances »etwas auf der Welt, in der wir leben, ändern können.39
5.4 Schaltung Kehren wir schließlich zur Frage des Verhältnisses von Raum und Handlung und der am Anfang des Kapitels angerissenen, heute im Stadtdiskurs ubiquitären Fragestellung der Bürgerbeteiligung und der Partizipation zurück: Welche raumtheoretischen Implikationen beinhalten Rancières Überlegungen in diesem Zusammenhang? Man kann es so formulieren: Anstatt sich in paternalistisch-pädagogischen Konzepten zu üben, die die Raumgebrauchenden als unwissende Lernende ausweist, sollten die Disziplinen Architektur und Städtebau dazu übergehen, an einer neuen Politik des Sinnlichen zu arbeiten. Es geht darum Szenen bzw. Plattformen zu produzieren, um Erfahrungsfelder der Stadt zu verschieben und so Raum als Kollektiv der »emanzipierten Raumgebrauchenden« neu zu versammeln. Damit würde an die Grundthese handlungstheoretischer Raumkonzeptionen angeschlossen, dass Stadt kein fixiertes Objekt, keine Tatsache darstellt, die eine fixierte Interpretation bzw. Repräsentation durch Experten bedarf, sondern aus Handlung vieler entsteht. Performativität des Urbanen ist ein aus polyphonen Improvisationen Produziertes. Das Städtische wäre mit Rancière als »ein Operator, der Regionen, Identitäten, Funktionen und Fähigkeiten zusammen- und auseinanderbringt«40 zu fassen. Was hier ad acta gelegt werden kann, ist die unergiebige Behauptung des Städtebaus, er baue »für die Menschen«, weil er wisse welche »Bedürfnisse« sie hätten. Die den zahlreichen Bürgerbeteiligungsangeboten inhärente Rede vom »Abholen der Menschen wo sie sind«, ist eine Antwort des Städtebaus auf jene Unordnung, die durch die Tatsache entsteht, dass es improvisierende Raumgebrauchenden gibt. Was ihm dabei entgeht, ist, dass die Raumgebrauchenden an etwas teilhaben und durch ihr Abenteuer an dieser Teilhabe die sozialen Positionen in Bewegung bringen. Daraus lassen sich zwei Schlüsse ziehen. Erstens kommt auf den Städtebau die Forderung zu, jene humanistisch geprägte Planungslogik zu verweigern, 39 40
Ebd., S. 29 Rancière, Jacques: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Frankfurt a.M. 2002, S. 52
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die sich durch »gute Gestaltung« der unwissenden Raumgebrauchenden annehmen will. Die zweite Forderung besteht darin, sich nicht um jene ausdauernden Mahnungen aus Politik und Verwaltung zu kümmern, die nicht müde werden vor zu »elitären« Weltverbesserungsvorschlägen zu warnen, an denen sich keiner beteilige und die an »den Menschen im Brennpunkt-Viertel« vorbei gingen. Verfehlen diese Warnungen nicht genau die Sache, eben weil sie den Raumgebrauchenden Unwissenheit unterstellen? Enthalten sie nicht eine viktimisierende Überheblichkeit denen gegenüber, die man zu schützen vorgibt? Die Lösung, die sich stattdessen anbietet, hat der bildende Künstler Thomas Hirschhorn so formuliert: Es geht darum, »eine Erfahrung zu machen, eine gemeinsame Erfahrung mit den Anwohnern, den Besuchern, den Passanten und dem Künstler. Ich denke, dass Partizipation ein Geschenk ist, eine Gabe. Es ist eine Gabe im Sinn eines Potlatch: Ich muss zuerst etwas geben und damit den anderen herausfordern zu geben, mehr zu geben!«41
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Thomas Hirschhorn im Interview mit Sebastian Egenhofer: »Partizipation kann nicht provoziert werden.« E-Mail-Interview mit Thomas Hirschhorn, geführt vom 14. bis 13.9.2007, in: Paradoxien der Partizipation. 31 – Das Magazin des Instituts für Theorie 10/11, 12.2007, S. 97–104
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6 Abschluss und Ausblick
Welche Schlüsse lassen sich aus der hier unternommen Analyse ziehen? Im Bruch mit einem traditionellen Raumbegriff, der das Verständnis von Raum als statische, handlungsunabhängige und neutrale Entität vertritt, legen die hier dargelegten Raumkonzeptionen den Schwerpunkt auf die sozialen (Per-)Formierungen von Raum. Aus der Heterogenität der unterschiedlichen Ansätze heraus beginnen sich bestimmte Deutungsaspekte in den Vordergrund zu schieben. Erstens: Raum wird als dynamische, relationale (An-)Ordnung von Gütern und Menschen begriffen. Raum ist sozialer Prozess. Auf topologische Weise kontextualisiert das Zusammenspiel von Handlungen und Syntheseleistungen Orte und setzt sie in ein räumliches Bezugsystem.1 Daran schließt zweitens das Konzept eines durch Handlung entstehenden und Handlung affizierenden, performativen Raumes an. Mit ihm erhält die Untersuchung kultureller, künstlerischer und sozialer Praktiken der Aneignung und Umnutzung von Raum Relevanz.2 Der dritte Aspekt ist die Doppelgesichtigkeit des Raums. Das meint Folgendes: Zum einen produziert soziale Praxis Raum. Zum anderen wird ihr verräumlichtes Ereignen durch Raum bedingt. Anders formuliert: Raum existiert nicht vor der gesellschaftlichen Praxis. Er ist sowohl Effekt gesellschaftlicher Konstituierung als auch notwendige Bedingung für die Reproduktion des Sozialen.3 Raum ist heterogen und antagonistisch. Seine Konflikthaftigkeit lässt sich weder leugnen noch befrieden. Sie ist Differenz und Motor des Städtischen selbst. Angesichts dessen wandelt sich das Lesen der Stadt »von einer Reihe fester Schauplätze im homogenen Raum zu einer Vielzahl qualitativ unterschiedlicher Räume, die sich mit den wechselnden Stimmungen und Perspek-
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Löw: Raumsoziologie De Certeau: Kunst des Handelns Lefebvre: The Production of Space. Oxford 1991
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tiven des menschlichen Bewusstseins verändern.«4 Die Vorstellung, dass es eine universelle Sprache des Raums gibt, eine Semiotik des Raums, die unabhängig von praktischen Aktivitäten und historisch situierten Handelnden ist, muss zurückgewiesen werden.5 Von solchen Überlegungen her rührt, was Edward Soja endlich als spatial turn bezeichnet hat.6 Der Tenor des spatial turn lautet: Gesellschaftliche Spannungen und Konflikte drücken sich in räumlichen Relationen aus. In der Konsequenz ist der Städtebau mit einer entscheidenden Frage konfrontiert: »Wie stellt man Gleichzeitigkeit dar, Koexistenz des Diversen im Raum, wo einem für das Narrativ doch nur die Sequenz, das Nacheinander zur Verfügung steht?«7 Statt das Augenmerk auf den Raum als Kulisse, als Bühne des Geschehens zu richten, in der sich der Referenzcharakter realistischen Planens bewahrheitet, besteht die Aufgabe des Städtebaus jetzt darin, die Unbestimmtheiten, die aus der Differenz zwischen planender Serie und handelnder Verräumlichung hervorgehen, übersetzbar und verhandelbar zu machen.
6.1 Das Politische des Raums Hierin kehrt das Politische des Raums zurück: Das Politische existiert, weil die Ordnung von Gesellschaft keine Naturtatsache ist. Das Politische geschieht, wenn eine Umcodierung stattfindet oder gegen eine bestehende politische Ordnung Widerstand geleistet wird. Das Politische besteht nicht in der Ausübung der Macht oder dem Kampf um die Macht. Sie ist vielmehr die Gestaltung eines spezifischen Raumes. Solche Gestaltung betrifft »die 4 5 6
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Ebd., S. 267 Harvey, David: The Condition of Postmodernity. An Enquiry into the Origins of Cultural Change. Cambridge 1996, S. 216 Edward Soja verwendet den Begriff »spatial turn« zum ersten Mal in seinem Buch Postmodern Geographies (Soja, Edward: Postmodern Geographies. Oxford 1989, S. 16). Zwei Jahre später greift Fredric Jameson den Begriff in der Schrift Postmodernism auf: »A certain spatial turn has often seemed to offer one of the more productive ways of distinguishing postmodernism from modernism proper, whose experience of temporality – existential time, along with deep memory – it is henceforth conventional to see as a dominant of the high modern.« (Jameson, Fredric: Postmodernism. Or, The Cultural Logic of Late Capitalism [orig. 1991]. New York 1995, S. 154) Harvey, David: The Condition of Postmodernity. An Enquiry into the Origins of Cultural Change. Cambridge 1996, S. 216, in: Kittsteiner, Heinz Dieter (Hg.): Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten. München 2004, S. 261–283; hier S. 274
6 Abschluss und Ausblick
Abtrennung einer besonderen Sphäre der Erfahrung, von Objekten, die als gemeinsam und einer gemeinsamen Entscheidung bedürfend angesehen werden, diese Objekte zu bestimmen und darüber zu argumentieren.«8 Umgekehrt gilt: Das Wie dieser Auseinandersetzung ist immer an das Verständnis von und die Arbeit an gesellschaftlichem Raum, dessen (An-)Ordnung und dessen Produktion gebunden. Daraus erwächst nicht nur die städtebauliche Verantwortung, Raum epistemologisch auszuloten und zu zeigen. Ferner sind die Episteme der Gegenwart als im Zeichen der ›Lage‹ stehend, also durch die relationale Konstitution potenziell inkommensurabler Ordnungen geprägt zu deuten. Spannungsfelder der seriellen Reihung und der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen verlangen nach einer »Heterotopologie.«9 Das ist die Untersuchungsmethode des Raums, die dazu befähigt, heterogene Räume aufeinander zu beziehen und auf diese Weise gegebene Raumsysteme umzucodieren. In diesem Sinn impliziert der hier verfolgte handlungstheoretische Schwerpunkt nicht nur den Versuch, Handeln als Vermittlungskategorie »zwischen den materiell wahrnehmbaren Aspekten der Räume und den sozialen Folgen räumlicher Strukturen«10 zu fassen. Die Untersuchung des Verhältnisses von Raum und Handlung schafft vor allem den konzeptionellen Rahmen, der es gestattet, die in dieses Verhältnis eingelassenen Unbestimmtheiten zu thematisieren.11 Hier ist zweierlei zu bedenken: Erstens geht es mir nicht darum, einen Raumdeterminismus gegen einen Raumvoluntarismus auszuspielen. Weder bestimmen übergeordnete Strukturen das Raumproduzieren noch ist die Produktion von Raum ein informeller, strukturungebundener Akt. Vielmehr erweist sich eine solche Dichotomie auf Grund ihrer teleologischen Grundausrichtung und dem von ihr mitgeführten intentionalen Handlungsbegriff als nicht mehr tragend. Es ist mir jedoch bewusst, dass die Betonung der performativen Hervorbringung von Raum die Gefahr in sich birgt, in die Nähe eines voluntaristischen Denkens gerückt zu werden, welches die kreativen Aspekte der Raumhervorbringung in den Mittelpunkt stellt, und materielle, ökonomische und politische Konstellationen vernachlässigt.
8 9 10 11
Rancière, Jacques: Das Unbehagen in der Ästhetik. Wien 2007 Foucault, Michel: »Andere Räume (1967)«, in: Barck, Karlheinz (Hg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig 1993 Löw/Steets/Stoetzer: Einführung, S. 58 Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft
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Raum und Handlung
6.2 Ermöglichungsgestaltung Dies führt zum nächsten Punkt. Ein dem Urbanen gemäßes Raumverständnis ist nicht ohne die volle Analyse der Bedingungen jeweilig spezifischer Raumsituationen zu haben. Gefragt ist also ein Anschluss des Städtebaus an eine disziplinübergreifende Stadtforschung, die auch und gerade auf die materialökonomischen Konstellationen und die Handlungswirksamkeit (agency) räumlicher und gebauter Arrangements, Assemblages, Gefüges und deren Redesign (Umarrangieren) abhebt. Innerhalb dessen hat eine performative Raumkonzeption den erkenntnistheoretischen Vorteil, nicht über dasjenige eine Aussage machen zu müssen, über das kaum eine Aussage zu machen ist, nämlich was Raum ›in Wirklichkeit‹ sei. Man kann stattdessen auf die erfolgversprechendere Variante abheben, nämlich wie Raum konzipiert, gedacht und gemacht wird und was Raum macht. Für den Städtebau folgt daraus die Wendung zu einer Gestaltung die nicht festschreibt aber ermöglicht. Eine solche Ermöglichungsgestaltung habe ich an anderer Stelle als Raumproduktion zweiter Ordnung bezeichnet.12 Wo sie von der Prämisse ausgeht, dass Form aus Bewegung entsteht und nicht umgekehrt, so inspiriert, ermöglicht und provoziert Ermöglichungsgestaltung Raumproduktion. Statt der tabula rasa-Strategie des traditionellen städtebaulichen Entwerfens zu folgen, wechselt Ermöglichungsgestaltung in dem Modus eines Redesign über. Entscheidend bei dieser Definition ist a) die Konvergenz zwischen Konzeption und Handlung zu denken, b) die Befähigung aus bestehenden Ressourcen heraus zu agieren und c) spezifische Situationen konzeptionell auf Ressourcen hin so zu zerlegen und zu scannen, dass d) ein beständiges Redesign, also Neuversammeln und Verschalten (oder mit Latour: Kollektivieren) der vorhandenen Ressourcen in Interaktion möglich wird. In Bezug auf Gestaltung impliziert dies die Bildung von a) Metaformen, auf die eine Organisation oder Gruppe sich einigt, um den Prozess offen zu halten und trotz erhöhter Konfliktbildung gemeinsam arbeiten zu können und b) minimaler Strukturen, die es ermöglichen offene Prozesse stabil und konstruktiv zu halten sowie c) diagrammatische Darstellungsformen, die eine Iteration und Speicherung von Prozesshandlung ermöglichen ohne abschließend zu wirken. Diese Konzeption steht auf der Basis einer improvisatorischen Strategie des Umgangs mit Raum.
12
Vgl. Dell: Replaycity
6 Abschluss und Ausblick
Bernd Kniess, Christopher Dell: Urban Design Matrizes, 2008
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Raum und Handlung
Dies ist deshalb relevant, weil es sich bei der Ermöglichungsgestaltung um eine konzeptionelle aber auch strategische Fragestellung handelt: Es geht darum, den Aspekt der Transformation von Stadt bzw. Raum auch im epistemologischen Sinn ins Zentrum zu rücken. Städtebau ist heute nicht mehr auf die Dichotomie von Taktik und Strategie rückführbar. Der Fehler des modernen Städtebaus bestand darin, dass er Weltverbesserung mit einer naiven Vorstellung von der Wirkungskraft strategischer Projektion verknüpfte. Die Postmoderne hingegen verlor durch ihren Fokus auf die taktische Ebene mikropolitischer Bewegung Totalität und Geschichte gesellschaftlicher Praktiken aus dem Blick. Die Frage heute ist deshalb, wie sich aus einer kritischen städtebaulichen Praxis neue Ziele, neue Fragestellungen des Urbanen und seiner Kondition ableiten lassen, Fragestellungen, die eine Dichotomie von Taktik und Strategie überschreiten und sich mit dem Verfahren von Modulation und Transposition zwischen diesen politischen Ebenen und Räumen auseinandersetzen. Als Bernd Kniess und ich im Jahr 2008 damit begannen, den Lehr- und Forschungsbereich Urban Design an der HafenCity Universität aufzubauen, haben wir im Laufe des Prozesses das oben abgebildete Schema entworfen. Das Diagramm der Urban Design Raum-Matrizes stammt aus dem Jahr 2009. Es ist der Versuch, die unterschiedlichen Begriffsebenen und Fluchtlinien zu zeichnen, die sich zwischen urbaner Praxis, Gestaltung und Ermöglichung eröffnen. Unser Schema weist deutliche Parallelen zu dem im Lefebvre-Kapitel gezeigten Diagramm von Atelier Bow Wow aus dem Jahr 2008 auf – ohne dass wir voneinander wussten. Wie das Diagramm von Atelier Bow Wow greift auch unser Schema die Rahmenstruktur als Erfindung der Moderne wieder auf. Diese Rahmung ermöglicht es, in Form der Denkfigur des manuals, aus einem bestimmten regulativen Prinzip Formen zu modulieren (man erinnere an das Maison Domino von Le Corbusier oder die paranoide Methode wie sie Rem Koolhaas in Delirious New York dargelegt hat), und als Konzeption zu verschieben. Im Falle der Ermöglichungsgestaltung wird das Prinzip des Modulierens auf die Stadt und ihre Konzeptionalisierung selbst angewendet. Der strukturelle Rahmen ist zum einen der Weg, anhand dessen man eine Serie von Experimenten mit unterschiedlichen urbanen Lebensformen, Situationen vornehmen kann. Zum anderen steht der Rahmen für den indexikalen Modus, diese Situationen (als Erfahrungen) zu Wissen zu machen, zu ordnen, zu lesen und wieder neuen Modulationen zur Verfügung zu stellen. Diese Konstellation erlaubt, die Elemente und Potentiale von Situationen
6 Abschluss und Ausblick
anschlussfähig zu machen und in Programmen neu zu verschalten. Wie städtebauliches Gestalten hier eine Wandlung vom Entwerfen hin zur Recherche erfährt, kommt es auf das Untersuchen der singulären und heterogenen, kleinmaßstäblichen Praktiken und das Zusammenspiel ihrer Verräumlichung an, die ein urbanes Gefüge hervorbringen. Das bereits angeführte Projekt Universität der Nachbarschaften war unsere Probe aufs Exempel.13 Stadt lässt sich nun als kontingenter Prozess fassen. Der Name für diesen Prozess lautet: das Städtische. Mit diesem Wechsel verändern sich die Modi des Erkennens bzw. Lesens von Stadt. Externalisierungsstrategien – man erinnere an die gängige städtebauliche Diagnose »dort funktioniert Stadt nicht, ich denke mir eine Lösung aus und dann implementiere ich sie« – verfangen nicht mehr. Stattdessen geht es nun für den Städtebau darum, in städtische Situationen hineinzukommen und Situationen zu kreieren, anhand derer man sich Zugang zur Seinsweise der Raumgebrauchenden verschafft. Zum zentralen methodischen Angelpunkt avanciert darin die Kultur des konstruktiven Umgangs mit Unbestimmtheit in Gemeinschaft. Das ist das, was ich Improvisation als Technologie nenne. Sie ist die wesentliche Ressource des Städtischen. Diese Konstellation erlaubt es mir, die vorliegende Schrift als ein Übungsfeld zu verstehen, dessen Funktion darin besteht, raumtheoretische Positionen in einer ganz bestimmten Perspektive auszuleuchten. Innerhalb des Wechsels von Entwurf zur Recherche, ist es das Ziel, einen Begriffsrahmen zu schaffen, der die methodologischen und terminologischen Voraussetzungen für einen improvisational ausgerichteten Urbanismus bereitstellt.
6.3 Raumimprovisation Zu sagen, dass die die topologische Wucherung von Raumpraktiken als Stadt aus improvisierten und ausgehandelten Beziehungen besteht, deckt noch nicht die ganze Fragestellung ab. Weit entfernt, nur Effekt der Auflösung alter traditioneller Muster zu sein, findet die Topologie der Raumimprovisation ihre Apotheose in der Methode, mit dem Exzess der in die Kluft zwischen Handlung und Raum eingelassenen Unbestimmtheit des Urbanen und ihrer prinzipiellen Undarstellbarkeit zurecht zu kommen. Diese Unbestimmtheit ist keine Negation. Dass zum Beispiel der moderne Städtebau versuchte, sich der Wunde Unbestimmtheit zu entledigen, sie zu heilen, ist letztlich ein 13
Kniess/Dell/Peck (Hg.): Tom paints the fence. Re-negotiating Urban Design
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Raum und Handlung
Zeugnis dafür, dass er sich mit ihr identifizierte. Dies ist die Ambiguität, die in den modernen Städtebau eingeschrieben ist. Symbolisiert sein Ordnungsfetischismus nicht paradoxerweise genau den Exzess der Stadt, das Mehr, das über den Kreislauf von Entstehung und Verfall hinaus geht? Wenn ich betone, dass sich die Raumimprovisation der Darstellung entzieht, dann lege ich den Akzent nicht auf das Nicht-Repräsentationale im Gegensatz zum Repräsentationalen. Ich ziele vielmehr auf die Absenz klar zuweisbarer Funktionen. Raumimprovisation steht nur für eine bestimmte Position des Handelns, diejenige des positiven Abkoppelns von Teleologie, für die sie ihre paradoxalen Formen der nicht-repräsentationalen Darstellung schafft. Das Urbane eröffnet mir lediglich die Möglichkeit, mich durch den Sprung in die Improvisation zu realisieren. In der iterativen mimesis wiederhole ich die Geste der Stadt, aus freien Stücken den Exzess des Lebens auf sich zu nehmen, statt ihn auf irgendeine Figur des Anderen zu projizieren oder zu verschieben. Der Grid der Moderne wechselt über in einen Meta-Grid des Diagrammatik als Rahmen eines Katalogs situativer Serien. Dies ist als Verfahren iterativer graphischer Notationsweisen ebenso zu verstehen wie als regulatives Moment gestaltender Projekte selbst. Kritische Untersuchung und gestalterisches Moment gehen ineinander über, arbeiten an der ihr jeweilig eigenen Grenze. Der gestalterische Aspekt daran wäre als praktische Ästhetik, als technologische Improvisation zu bestimmen, die die Formen desjenigen generiert, was wir ›gemeinsam‹ haben und diese in der Erfahrungswelt distribuiert. So können die Projekte und Untersuchungen des Städtebaus als Reflexion darüber verstanden werden, wie urbane Gemeinschaften heute existieren und neue Formen von Kollektivität und des ›Politischen‹ produziert werden können. Die Konzeption der Raumimprovisation wirft auch ein Licht auf die von Rancière behandelte Frage der Emanzipation und Partizipation. An diesem Punkt kommen Epistemologie und Politik zusammen. Kein Beispiel illustriert dies besser als das von Anne Lacaton und Jean Philippe Vassal in Zusammenarbeit mit Frédéric Druot realisierte Konversionsprojekt Tour Bois le Prêtre aus dem Jahr 2011. Das Projekt zeigt nicht nur, dass sich Großbauten der 1960er und 1970er Jahre auf diagrammatische Weise zeitgemäß aktualisieren lassen – bei etwa gleichbleibender Miete. In konzeptioneller Hinsicht relevant ist auch die dem Umbau vorausgehende Recherche. Man hat es hier mit einem Wohnkatalog zu tun, der einen seriellen, relationalen und nicht abbildhaften Zugang zum Gebrauch jeder einzelnen Wohnung in Relation zu den anderen Wohnungen erlaubt. Mit anderen Worten: Der Katalog zeigt die mannigfaltigen Improvisationen des Wohnens im Standard, das Einzelne in seiner relationalen
6 Abschluss und Ausblick
Vielheit. In den Dekorationen, Um- und Einbauten, relationalen Platzierungen von Dingen äußert sich im räumlich Konkreten das, was man die Form der Einzelnen nennen kann: die persönliche Lebensgeschichte. Es kann eine Aktivität sein, eine Beziehung, die Bäckerei bietet einen Kurs für Kinder an oder eine Rentnerin gibt Nachhilfe in Englisch und Mathematik. Man kann hier den Schluss ziehen, dass die Details, die für den transformatorischen Umgang mit Architektur und Städtebau von Belang sind, nicht von einem Außen erschließbar sind. Was hier zum wissensrelevanten aufsteigt, sind die Handlungen, die die Stadt konstituieren, die die Gebäude gebaut und bespielt haben bzw. bespielen. Weder werden hier die Raumgebrauchenden als »Betroffene« stigmatisiert noch als Ehrenamtliche animiert. Wesentlich ist, dass Lacaton & Vassal und Druot das Wohnen der Raumgebrauchenden als technologische Improvisation lesen. Gemäß der Forderung Lefebvres gestattet es diese Linse, das Wohnen zum epistemologischen Terrain aufsteigen zu lassen. Mit den Worten Rancières: Man baut nicht »für« die »unwissenden« Raumgebrauchenden. Stattdessen wird die Form des Wohnens als Diagramm interpretiert, auf dem heterogene Improvisationen von unterschiedlichen Raumgebrauchenden, die sich auf Augenhöhe befinden, auf unterschiedliche Weise übersetzt werden. Die Architektur bringt ihre Kompetenz darin ein, den Wohnraum lesbar zu machen. Sie beobachtet, transkribiert und stellt die Wohnweisen der Raumgebrauchenden dar, bringt sie in einen neuen Zusammenhang mit wieder anderen Wohnweisen und versucht herauszubekommen, welche Kompetenzen diese Wohnweisen enthalten und was sie in der Kontextverschiebung produzieren können. Lacaton, Vassal und Druot agieren dann wie Forschende, die einen Versuchsaufbau auf solche Weise ins Werk setzen, dass Ursache und Wirkung offen liegen und gleichzeitig mit Unbestimmtheit versorgt werden, ganz so wie es das emanzipatorische Wagnis verlangt. Der entscheidende Unterschied zum herkömmlichen Entwerfen besteht darin, offenzulegen wird, dass die Wirkung der Recherche weder antizipiert werden kann noch soll.14 Damit prononciert sich die Wohnimprovisation als eine Bühne der unterschiedlichsten Übersetzungen aktiver Raumgebrauchenden. Ein Gebäude ist dann einfach der Ort, an dem wir überprüfen können wie Worte, Bilder, Geschichten – mit einem Wort: Improvisationen – die Stadt, in der wir leben, ändern können. Städtebau ist nicht nur eine technische Herausforderung. Städtebau ist eine grundlegend soziale Handlung, die darin besteht, einen Ort der 14
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Zugehörigkeit für die Gemeinschaft zu schaffen. Stehen die alltäglichen Raumimprovisationen der Stadt nicht paradoxerweise für den Kern des Städtebaus, für die Position von Schamanen, die die Phantasmen des Urbanismus hervorbringen, obwohl sie sie eben durch ihre Praktiken verschleiern? Ich bin der Meinung, dass der Städtebau der Moderne, hätte er dieses Paradox anerkannt, in seiner Theorie einen Platz für die fundamentale Erfahrung der Stadt – die Erfahrung der Heterogenität – geöffnet hätte. Diese städtische Andersheit bedarf ihrerseits der Stadt als Ort ihrer Offenbarung. Der hier vorgelegte Begriffsrahmen ermöglicht es nun, klar zu sehen, dass die Niederlage des modernen Städtebaus in dem Versuch bestand, den Begriff der heroischen Tat in den abgründigen Exzess der Stadtgeschichte einzuschreiben. Der Exzess ist letztlich die monströse Geste der tabula rasa, die in dem Phantasma besteht eine neue polis zu gründen, statt die Anerkennung des Bestehenden zu üben und daraus Transformation zu ermöglichen. Das zu sagen bedeutet nicht, dass dem Städtebau gegenläufige Phantasma einer vollständigen Kontextualisierung von Raumsituationen zu fordern. Vielmehr sollte man betonen, dass die Improvisation des Raums nur als jene Fähigkeit existiert, die Koordinaten bestimmter städtischer Situation gleichzeitig anzuerkennen und zu transzendieren. Die Arbeit besteht darin, die Voraussetzungen des Handelns in einem kontingenten Gefüge von Akteuren, Dingen, Diskursen an Orten zu erforschen, aber auch zu »setzen« und so die Situation an der man handelnd beteiligt ist, neu zu definieren. Entgegen der Klassenkämpfe des 19. und 20. Jahrhunderts richtet sich der gesellschaftliche Konflikt heute nicht mehr auf den Kampf um die Beteiligung an den Produktionsmitteln. Stattdessen stehen in der verstädterten Gesellschaft vielmehr die fortschrittsorientierten, teleologischen Modi bisheriger Produktion selbst zur Disposition.15 Innerhalb dessen ist es die Frage nach der Bewohnbarkeit unseres Planeten, die den Fokus auf die prinzipielle Frage der Aneignung von Raum und die Kritik unserer bisherigen Weisen des Raumproduzierens lenkt. Wenn man sich hier auf die materialistische Tradition beziehen will, muss man akzeptieren, dass es sich nicht mehr um dieselbe Produktionsweise handelt wie bei Marx oder Lefebvre, denen es um die durch Menschen ausgeführte Produktion ging. Das neue Klimaregime zwingt uns heute, die Prozesse neu zu definieren, durch die Gesellschaften
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Vgl. u.a.: Latour, Bruno/Schultz, Nikolaj: Mémo sur la nouvelle classe écologique. Comment faire émerger une classe écologique consciente et fière d’elle-même. Paris 2022
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Raum produzieren und weiter existieren. Nun hat sich die Richtung des Handelns selbst umgekehrt. Seinerzeit wurden die Energien mobilisiert, wenn es darum ging, die Produktion zu steigern, während es heute darum geht, sich bewusst zu werden, dass die Produktion selbst in enge planetarische Grenzen eingebettet ist. Darin läge ein Neuanfang des politischen Handelns rund um das Bewohnbarmachen unseres Planeten – indem Raum als Improvisation neu überdacht und ein glaubwürdiger politischer Horizont neu definiert wird. Cité internationale des arts, Paris, den 20. März 2023
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Soziologie Michael Volkmer, Karin Werner (Hg.)
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