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German Pages 290 Year 2018
Johannes Müske, Golo Föllmer, Thomas Hengartner, Walter Leimgruber (Hg.) Radio und Identitätspolitiken
Studien zur Popularmusik
In Memoriam Thomas Hengartner
Johannes Müske, Golo Föllmer, Thomas Hengartner, Walter Leimgruber (Hg.)
Radio und Identitätspolitiken Kulturwissenschaftliche Perspektiven
Lektorat und Druck mit freundlicher Unterstützung des Instituts für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich, des Seminars für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Universität Basel und des Studienkreises Rundfunk und Geschichte e.V.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Johannes Müske, Konstanz, 2016 Lektorat: David Bruder, Konstanz Englisch-Lektorat: www.skandera.com Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4057-1 PDF-ISBN 978-3-8394-4057-5 https://doi.org/10.14361/9783839440575 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Einleitung: Radio und Identitätspolitiken
Johannes Müske, Golo Föllmer, Walter Leimgruber | 9 Identitätsspiele Ein autobiografisch geprägter Rück- und Ausblick
Christine Burckhardt-Seebass | 21 Sounds, Spaces, and Radio Radio listening in Europe before the 1960s
Morten Michelsen | 35
RADIO UND SOUND Sounds like Hamburg … Hamburg-Klänge und mediatisierte Raumkonstruktionen
Hans-Ulrich Wagner | 55 Sciene Fiction im Hörspielmodus Klangliche Praktiken zur Darstellung fiktiver Neuheiten am Deutschschweizer Radio, 1935–1985
Felix Wirth | 73 Radio: Bilder hören Auditive Transkriptivität – Strategien zur Erzeugung von Bildern im Kopf
Roland Jäger | 95
RADIO UND IMAGINIERTE GEMEINSCHAFTEN «… ohne daß er überhaupt merkt, daß er durchtränkt wird.» Die mediale Produktion der «Volksgemeinschaft» in der Rundfunkpolitik des Nationalsozialismus
Kathrin Dreckmann | 115
«Mittagszeit» im Radio Glocken im Ö sterreichischen Rundfunk und ihre identitätspolitische Bedeutung
Thomas Felfer | 127 Tamburica und kroatische nationale Identität Populäre Musik im kroatischen Rundfunk
Martina Novosel | 143
RADIO, POPULÄRE MUSIK UND HEIMAT Blasmusik als Vermittlerin von Heimatgefühlen Eine Fallstudie zu «Swissness» am Radio
Thomas Järmann | 161 «Geschmacklose Verkitschung und charakterlose Ausbeutung» Konflikte um die Schweizer Volksmusik in der Nachkriegszeit
Johannes Rühl | 173 «Sammeln und Wiederbeleben» Volksmusik, Tonbandtechnik und die Zusammenarbeit von Volkskunde und Radio, 1950er-1960er Jahre
Johannes Müske | 181
RADIO, BILDUNG UND KULTURAUSTAUSCH «Ganz Maler im deutschen Sinn war und bleibt nur er» Das Dürer-Jubiläum 1928 – Radiokunstvermittlung zwischen Bildungsreligion und Identitätspolitik
Andreas Zeising | 207 Produktive Missverständnisse Jazz als Kulturtransfer im Kalten Krieg – die Jazz-Programme des amerikanischen Radiomoderators Willis Conover im ehemaligen Ostblock
Rüdiger Ritter | 227
RADIO ALS SOZIALES MEDIUM «A Symbol of Friendship» Identity projections in media practices with Switzerland’s international radio SRI in the Cold War
Fanny Jones | 247 Zur Strategie und Intermedialität von Netzidentitäten Radioauftritte in sozialen Medien am Beispiel von SWR3 auf Facebook
Thomas Wilke | 263
Autorinnen und Autoren | 283
Einleitung: Radio und Identitätspolitiken J OHANNES M ÜSKE , G OLO F ÖLLMER , W ALTER L EIMGRUBER
Der vorliegende Band geht auf eine Tagung des Forschungsprojekts «Broadcasting Swissness» zurück, die in Kooperation mit dem Studienkreis Rundfunk und Geschichte vom 18. bis 20. Februar 2016 an der Universität Zürich stattfand. Die vom Schweizerischen Nationalfonds geförderte Forschungsgruppe von Universität Zürich, Universität Basel, Hochschule Luzern und weiteren Projektpartnern erforschte die Konstruktion und Vermittlung von ‹Swissness› mittels (Volks-) Musik.1 Am Beispiel einer Tonbandsammlung des Schweizer Auslandsradios untersuchte das Projekt die musikalische Populärkultur von der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart aus musikforschender, kulturanthropologischer und ethnomusikologischer Perspektive.2 Der englisch klingende Neologismus ‹Swissness›
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Im Zentrum des Projekts stand der Schweizerische Kurzwellendienst (KWD, ab 1978 Schweizer Radio International), der als Auslandsradio von 1935 bis 2004 ‹Swissness› in der Welt verbreitete und heute im Internet unter Swissinfo.ch über die Schweiz berichtet. Die internationale Tagung war zugleich die Abschlusstagung der ersten Phase des Projekts, das insgesamt vier Jahre (12/2012–11/2015 und 12/2015–11/2016) mit Förderung des SNF im Rahmen des «Sinergia»-Programms lief; Informationen zum Projekt: Müske/Oehme-Jüngling/Hengartner/Leimgruber (2017) sowie unter https:// www.isek.uzh.ch.
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Der Bestand Volksmusik oder die Sammlung Dür, benannt nach dem Gründer und damaligen Leiter der «Sonothek» des Kurzwellendienstes Fritz Dür, umfasst gut 7 600 1/4”-Tonbänder, die zwischen 1957 und 1967 zusammengetragen wurden. Es handelt sich um zeitgenössische Volks- und Populärmusik, die auf Industrietonträgern kaum erhältlich war und daher von der SRG SSR schweizweit produziert wurde, beispielsweise mit regionalen Musikgruppen und den Radio-Orchestern. Mit Glück und Umsicht konnte der Bestand erhalten werden. Die Sammlung Dür ist Eigentum der SRG
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ist seit den 1990er Jahren als Set von positiv konnotierten Vorstellungen und Werten wie Qualität, Verlässlichkeit oder Heimat für die Vermarktung von Schweizerischem populär geworden; die Forschungsgruppe hat sich den Begriff geliehen, um die populärkulturelle Dimension der Konstruktion und Verbreitung von schweizerischer Identität zu betonen. Die Leitfrage des gesamten Projektes war, wie und vor welchen gesellschaftlichen wie institutionellen Hintergründen sich populärmusikalisches Schaffen mit der Institution Rundfunk zu einer wirkmächtigen Stimme zur Verbreitung von – klingender – ‹Swissness› etablieren konnte. Damit nimmt das Projekt eine Perspektive auf, welche die soziale Bedeutung von populärer Musik für Gruppen und damit Identitätsfragen als zentrales Forschungsthema erschließt (Frith 1996).3 Das Radio spielte seit seiner Verbreitung als Alltagsmedium in den 1920er Jahren in vielen europäischen Ländern eine zentrale Rolle bei der Verbreitung von kulturellen Werten. Die Einführung erläutert daher zuerst knapp das kulturwissenschaftliche Konzept der Identität. Anschließend werden grundlegende Aspekte des Radios als kulturpolitischer Institution skizziert und schließlich die Beiträge des Bandes vorgestellt.
W ER BRAUCHT «I DENTITÄT »? «Wer braucht ‹Identität›?», könnte einmal mehr gefragt und darauf verwiesen werden, dass dieses komplexe Konzept bereits in den 1990er Jahren wissenschaftlich eingehend diskutiert und dekonstruiert wurde (z.B. Hall 1996). Doch habe die Dekonstruktion eines essentialistischen Identitätsbegriffs, so der Soziologe Stuart Hall, weder dazu geführt, dass «Identität» als wissenschaftlich unbrauchbarer Begriff verworfen wurde, noch dazu, dass er als Postulat den politischen Alltagsdiskurs verlassen hätte. Gerade in den 1990er Jahren war vielmehr
und wird seit 1997 in Bern von der Schweizer Nationalphonothek aufbewahrt. Der Bestand wurde in transdisziplinärer Zusammenarbeit mit den Projektpartnern SRF, Nationalphonothek und Memoriav digitalisiert, in den Metadaten verbessert und erklingt wieder regelmäßig im Radio. Zur Projektgenese und Überlieferungsgeschichte der Sammlung Dür vgl. die Beiträge von Rudolf Müller und Hans-Rudolf Dürrenmatt in Hengartner/ Müske et al./Forschungsgruppe Broadcasting Swissness (2016). 3
«But popular music is popular not because it reflects something or authentically articulates some sort of popular taste or experience, but because it creates our understanding of what ‹popularity› is, because it places us in the social world in a particular way.» (Frith 1996: 121).
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eine «diskursive Explosion» (Hall 1996: 1) rund um das Konzept zu verzeichnen. Seitdem hat sich der Diskurs hin zum begrifflichen Zwilling der Identitätspolitiken verschoben, womit die strategische Nutzung von Identität bzw. Identitätsmarkern bezeichnet wird. Politiken der Identität kamen in den 1970er Jahren im Umfeld der US-amerikanischen politisch-kulturellen Bewegungen auf (neue soziale Bewegungen, z.B. Civil Rights, LGBT, American Indian movements), verstanden wurden darunter die politischen Aktivitäten und Praktiken marginalisierter Gruppen in ihrem Kampf gegen Ungleichheit und für gesellschaftliche Anerkennung.4 Kulturanthropologische Forschungen mit ihrem Fokus auf Akteur_innen, Praktiken und Interessen, kurz: soziale und kulturelle Faktoren, haben daran einen wichtigen Anteil (Biddle 2012: xvi–xix), einhergehend mit einem ‹weiten› Politik-Begriff.5 Identitätspolitiken können über den Fokus auf neue soziale Bewegungen hinaus verstanden werden als «any mobilization related to politics, culture, and identity» (Bernstein 2005: 48). Identität ist ein komplexes Konzept, das in unterschiedlichsten Alltagssphären genutzt wird und wirksam ist.6 Generell sind Geschichte und Kulturerbe der Gegenstand konkurrierender Interessen (vgl. Biddle 2012: xxii). Berücksichtigt man die Vielschichtigkeit von Identitätskonzepten und politischen Akteur_innen, so sind Identitätspolitiken stets auch auf staatlicher und nationaler Ebene zu beobachten. Lanciert werden etwa nationale Feier-
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Als Identitätspolitiken können die politischen Maßnahmen gefasst, die Ungleichheiten sichtbar machen, gesellschaftliche Aufmerksamkeit für die jeweilige Ungleichbehandlung oder Stigmatisierung schaffen und an der Behebung dieser sozialen und kulturellen Ungerechtigkeiten mitwirken (vgl. z.B. Heyes 2002, Wiarda 2016: 147ff.). Allerdings, so auch die Kritik an den neuen sozialen Bewegungen, würden diese den Fokus ihrer identitätspolitischen Aktivitäten nicht auf die Beseitigung sozialer Missstände legen, sondern die Auseinandersetzung auf das Gebiet des Symbolischen verlagern und damit die eigentlichen gesellschaftlichen Probleme nicht adressieren (vgl. z.B. Heyes ebd.; Bernstein 2005: 49–50. Kritiker_innen der Identitätspolitiken merkten zudem an, dass diese letztlich auf essentialistischen Kulturbegriffen beruhten und bestimmte Identitätsmarker von Minoritäten, etwa im Hinblick auf ‹Rasse›, ‹Geschlecht› oder ethnische Konzepte, eindimensional festschreiben würden.
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Beispielhaft zeigt sich dieses breite ethnografisch gefärbte Politik-Verständnis und das damit einhergehende Forschungsinteresse in der empirisch-kulturwissenschaftlichen Forschung, wo «es um das konkrete Handgemenge der Artikulation, der Aushandlung und der Praktiken von Politik geht» (Schönberger 2018: 35; m. w. Nachweisen).
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Der britische Soziologe Richard Jenkins nennt z.B.: personal identity, life-style, social position and status, politics, bureaucracy and citizenship (2000: unpag. [2f.]).
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tage, zu denken ist ebenso an Denkmäler und die vielfältige Pflege des kulturellen Erbes in den europäischen Nationalstaaten seit dem 19. Jahrhundert. Die Historiker Hobsbawm und Ranger (1983) sprechen von «erfundenen Traditionen», um die Aktivitäten zu beschreiben, mit denen die Entstehung solcher Kulturen gefördert werden soll. Kanonisierende Sammlungen wie die Lieux de mémoire (Nora 1984ff.), die zahlreiche Nachfolgewerke in vielen Ländern inspiriert haben, darunter auch in der Schweiz (Kreis 2010), überblicken diese Kultur- und Geschichtspolitiken auf eindrückliche Weise und sind ihrerseits selbst ein Teil davon. Kern der kulturpolitischen Maßnahmen mit Bezug zur Vergangenheit ist stets die Stärkung einer gemeinsamen Gruppenidentität, d.h. die Promotion eines Sets von kollektiv geteilten Erzählungen und Werten.7 Diese «kulturale Dimension von Identität» (Bausinger 1977) gilt es weiterhin zu erforschen, denn Identität als gefordertes gesellschaftliches Ideal ist weiterhin relevant – «Identitätsangebote aufzuspüren» und «Vorstellungen bruchloser Identität zu relativieren» (ebd.: 215) ist Aufgabe einer empirischen Kulturwissenschaft, die Alltagsphänomene in ihrer Komplexität und geschichtlichen Gewordenheit untersucht.8
R ADIO UND I DENTITÄTSPOLITIKEN Seit Beginn des zivilen Rundfunks wurde das Radio von staatlicher Seite als kulturpolitische Institution behandelt und gefördert und in den 1920er und 30er Jahren in vielen Ländern aus diesem Grund nationalisiert oder zumindest staatlich reguliert. Die von Vereinen, Genossenschaften und Unternehmen gegründeten Radiosender wurden beispielweise in der Schweiz 1931 zur Schweizerischen Rundspruch-Gesellschaft unter einem Dach zusammengeführt, in der die «Studios» weiterhin unabhängig voneinander agierten, aber qua Rundfunkkonzession einen gesetzlich festgelegten Programmauftrag zu erfüllen hatten. Die Program-
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Clifford Geertzʼ berühmte Definition von Kultur ist in diesem Zusammenhang weiterhin aktuell: «The cultures of different countries are very much a part of their identity politics. […] Culture, following anthropologist Clifford Geertz is a shared system of meaning that people use to make sense of the world. […] it is a deeply rooted set of values and beliefs, and ways of behaving. Culture provides a group or a country with its identity» (Wiarda 2016: 151).
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Mit Stuart Hall (1996: 16): Die Untersuchung und Theoretisierung «of identity is a matter of considerable political significance, and is only likely to be advanced when both the necessitiy and the ‹impossibility› of identities, and the suturing of the psychic and the discursive in their constitution, are fully and unambiguously acknowledged.»
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me der Studios wurden gebündelt und über drei Landessender bei Sottens, Beromünster und Monte Ceneri ausgestrahlt, je für die französische, deutsche und italienische Schweiz, sodass die Sender schon früh «nicht einseitigen, lokalen Landesinteressen dienen» sollten; vielmehr sollte die Neuorganisation «ein entschiedener Schritt vom lokalen Radiobetrieb zum grosszügigen schweizerischen Rundspruch sein, der mit anderen Ländern zum mindesten konkurrieren kann und so das Interesse der Hörer stimuliert» (SRG Jahrbuch 1931: 9). 9 Sehr deutlich wird dieses Ziel in der kulturpolitischen Doktrin der «Geistigen Landesverteidigung», die in der Schweiz in den 1930er Jahren als vielschichtiges Maßnahmenbündel entstand. Sie wurde getragen von unterschiedlichen staatlichen Ebenen und staatsnahen Institutionen und hatte das Ziel, angesichts der Bedrohungen aus dem Norden und Süden und parallel zur militärischen und wirtschaftlichen Landesverteidigung, auch auf kulturellem Gebiet die Zusammengehörigkeiten über die Sprachgrenzen der Schweiz hinweg zu vermitteln und so das Nationalitätsgefühl zu stärken. Neben der staatlichen Förderung von Literatur, Filmen und Ausstellungen, die das «Schweizertum» propagierten, förderte die Bundesregierung auch das Radio als neues Medium, da man davon ausging, dass das Radio am besten breiteste Bevölkerungskreise – unabhängig vom Bildungsgrad und auch an abgelegenen Orten – erreichen könne: «Im Laufe des letzten Jahrzehntes hat sich das Radio zum wichtigsten und machtvollsten Kultur- und Propagandawerkzeug ausgewachsen», führte der Schweizerische Bundesrat (1938: 1005) in den zentralen kulturpolitischen Leitlinien aus («Kulturbotschaft»).10 Innerhalb der nationalstaatlichen Grenzen sollte das Radio einen Bildungsauftrag erfüllen, schweizerische Werte propagieren und so zum Zusammenhalt des Gemeinwesens beitragen. 11 Die Gründung des Kurzwellendienstes innerhalb der SRG im Jahr 1938 (nach einer Phase des Probebetriebs ab 1935) verdankt sich der Idee dieser kulturpolitischen Doktrin. In dieser Zeit erfährt die «Kulturwahrung» ihren Höhepunkt, und auch die «Kulturwerbung» im Ausland wird als Ziel der nationalen Identitätspolitiken festgeschrieben. Dem Radio sind diese beiden Aufgaben zugedacht – insbesondere der Kurzwellendienst als Botschafter der Schweiz im
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Zur Geschichte des Schweizerischen Rundfunks vgl. insb. Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft et al. (2000, 2006, 2012).
10 Der Bundesrat erarbeitet in regelmäßigen Abständen solche kulturpolitischen Leitlinien (Kulturbotschaft), zuletzt im Jahr 2015 (für 2016–2020). 11 Einen Bezugspunkt für einige Beiträge in diesem Band bilden die Überlegungen zu Radio und der imagined community von Michelle Hilmes (2012/1997), in Anknüpfung an das Konzept von Benedict Anderson.
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Ausland wird ausdrücklich genannt. Sinnfällig wird dies in einer zentralen Passage in der Kulturbotschaft, die den Auftrag des Auslandsradios programmatisch umreißt: «Wir müssen, ohne aufdringlich oder überheblich zu werden, dem Ausland zeigen, dass wir nicht nur ein Land der Industrie, des Handels und des Fremdenverkehrs sind, dass die Schweiz vielmehr auch ein Land ist von hoher Kultur, von alter, bodenständiger und eigenartiger Zivilisation, und dass wir zu allen Zeiten unsern eigenwertig-schweizerischen Beitrag an die Gesamtkultur Europas und der Welt geleistet haben.» (Schweizerischer Bundesrat 1938: 1011)12
Wie allen internationalen Radios jener Zeit fiel auch dem Kurzwellendienst die Aufgabe zu, für die eigene Bevölkerung im Ausland («fünfte Schweiz» genannt, in Ergänzung zu den vier Sprachregionen) sowie für interessierte Kreise im Ausland attraktive Programme mit Nachrichten und landeskundlichen Informationen in den Äther zu schicken.13 Die betreibenden Nationen erhofften sich von ihren Kurzwellenradios, insbesondere in Zeiten des Kalten Krieges, positive Effekte in Bezug auf die internationale Vermittlung der eigenen politischen Botschaften (Badenoch et al. 2013) sowie Wirtschafts-, Tourismus und Standortförderung (Programme des Schweizer Auslandsradios wurden beispielsweise auch im Swissair In-Flight Entertainment gesendet).
R ADIO , POPULÄRE M USIK UND S OUND – KULTURWISSENSCHAFTLICHE P ERSPEKTIVEN Die in diesem Band versammelten Beiträge behandeln das Thema Radio und Identitätspolitiken aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven. Die kulturwissenschaftliche Forschung zu Klängen bildet einen Schwerpunkt innerhalb des interdisziplinären Forschungsinteresses zur sinnlichen Dimension der Alltagswelt. Dies hängt zweifellos mit der medialen Speicherbarkeit von Klängen zusammen, womit seit der Erfindung des Phonographen vor gut 140 Jahren die An-
12 Dieser Auszug wurde von den Radioschaffenden immer wieder zitiert, um die Arbeit des Kurzwellendienstes zu legitimieren, etwa in den Jahresberichten der SRG für die Jahre 1957 und 1958. 13 Zu Programm und Geschichte von KWD bzw. SRI vgl. die Beiträge der Forschungsgruppe in Hengartner/Müske et al./Forschungsgruppe Broadcasting Swissness (2016).
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lage von umfassenden Quellenkorpora in Rundfunkarchiven, Forschungs- und Kulturerbe-Institutionen möglich wurde.14 Die Beiträge in diesem Band sind nach verschiedenen thematischen Schwerpunkten geordnet und greifen verschiedene Schwerpunktsetzungen innerhalb der Sound Studies auf. Ein gewisser zeitlicher Fokus liegt auf dem mittleren Drittel des 20. Jahrhunderts und ist thematisch bedingt, da in diese Zeit die goldene Ära des weltweiten Kurzwellenfunks wie auch des Radios generell fällt. Auftakt bilden zwei Hauptvorträge, die beide die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Blick nehmen. CHRISTINE BURCKHARDT-SEEBASS geht in einem sehr persönlichen Rückblick den Wellenbewegungen der Popularmusikpraxis und -pflege in verschiedenen Alltagskontexten nach, darunter auch Wissenschaft und privates Musizieren, wobei sie insbesondere die Vereinnahmungen und Emanzipationen von Volksmusik in den Blick nimmt. Die zweite Keynote, von MORTEN MICHELSEN, untersucht die strukturelle Einbettung des Radios in den Alltag und die Zusammenhänge von Radioklängen, -programmen und kulturellem Wandel mit dem Schwerpunkt auf der gesellschaftlichen Modernisierungsphase vor 1960. Der erste Themenschwerpunkt geht auf das Radio als klingendes Medium ein. Die Beiträge sind vor allem medienwissenschaftlich informiert; zentral ist die spezifische Medialität des Radios, in der bearbeitete und unbearbeitete Originaltöne, gesprochenes Wort, Musik, Geräusche und Sounddesign sinnlich inszeniert werden. Mit der Gestaltung der medialen Klangwelt sollen ganz unterschiedliche Ziele erreicht werden, etwa das Evozieren von Stimmungen oder das Authentisieren von Situationen.15 HANS-ULRICH WAGNER untersucht die Konstruktion von Räumen durch Medien am Beispiel der Stadt Hamburg, begriffen als ein Raum, der durch kommunikative Bezugnahmen immer wieder neu hergestellt und verhandelt wird. In seinem Beitrag stellt er ein mehrschrittiges Analysemodell klingender Quellen vor. Auch der Beitrag von FELIX WIRTH geht auf
14 Mit der Erforschung der klingenden bzw. sinnlichen Dimension der Alltagswelt schreiben sich Projekt und Tagung in die interdisziplinären Forschungsfelder Sound Studies und Anthropology of the Senses ein, zu denen in den letzten Jahren verschiedene Forschungsprojekte, Zeitschriften, Buchreihen und programmatische Sammelbände entstanden sind. Vgl. einführend z.B. Bendix (2000), Classen (1997), Pinch/ Bijsterveld (2012), Sterne (2012). 15 Auch geht es um die Erkennbarkeit der Inhalte (z.B. die ausführende Beschreibung von Situationen oder die Unterlegung von Gesprochenem mit passenden Geräuschen) sowie um die Wiedererkennbarkeit von Sendern als Marken; vgl. zur methodischen und theoretischen Annäherung an die Untersuchung der Ästhetik des Radios z.B. Föllmer (2013).
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die klingende Dimension des Radios anhand von historischen Quellen ein; erforscht werden am Beispiel des Deutschschweizer Radios die klanglichen Praktiken, um Science Fiction bzw. imaginative Zukunftsvorstellungen darzustellen. Einen theoretischen Zugang zu dieser Fragestellung wählt ROLAND JÄGER, der auf der Grundlage linguistischer Literatur und am Beispiel einer Quelle ein Konzept der «auditiven Transkriptivität» entwickelt, das erklärt, wie im Hörfunk strategisch Bedeutungen auditiv konstruiert werden. Ein weiterer Schwerpunkt behandelt das Radio und seine Bedeutung für die Konstruktion von imagined communities, wobei die konzeptionellen Überlegungen Hilmes’ (2012/1997) in Anknüpfung an Benedict Andersons Begriff einen wichtigen Bezugspunkt der Beiträge bilden. KATHRIN DRECKMANN zeigt in ihrer Arbeit zu den Wunschkonzerten im Nationalsozialismus, wie das Radio zu einem Baustein der Manipulation wurde und zur Herstellung einer «Volksgemeinschaft» beitrug. Nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere mit der Einführung des UKW-Radios, stellten Radiosendungen vermehrt die regionale Identität in den Mittelpunkt, wie THOMAS FELFER in seinem Beitrag zu Glockensendungen im Österreichischen Radio herausarbeitet. Auch im Konflikt soll das Radio Gruppenidentitäten stärken: MARTINA NOVOSEL untersucht in ihrem Beitrag, wie das Radio im Kroatienkrieg traditionelle Tamburica-Musik sendete, die als besonders ‹kroatisch› galt, um die Moral der Bevölkerung und der Truppen zur stärken. Die Beiträge des dritten, ethnomusikologischen Schwerpunkts sind im Projektzusammenhang von Broadcasting Swissness entstanden und thematisieren die Konstruktion und Vermittlung von Heimat durch das Radio. THOMAS JÄRMANN behandelt die Frage, wie das Radio «Heimatgefühle» mit Hilfe von symphonischer Blasmusik wecken wollte – die Autoren der beiden Werke, die er exemplarisch untersucht, hatten ‹Swissness› in Form von populären Volksliedmelodien in ihre Kompositionen eingeflochten. Die Beiträge von JOHANNES RÜHL und JOHANNES MÜSKE erforschen beide Aushandlungen in den 1950er und 60er Jahren im Zusammenhang mit dem Rundfunk darüber, was die «echte» Volksmusik ausmache. Rühl geht es um in der Schweiz medial diskutierte Definitionsfragen, wie die «echte» Volksmusik vom «Kitsch» abzugrenzen sei, während Müske die Zusammenarbeit von Volkskunde und Radio untersucht, deren gemeinsame Tagungen nicht zuletzt aufgrund von ungelösten Definitionsfragen einschliefen. Das Radio als Medium der Bildung und des Kulturaustauschs wird im anschließenden rundfunkhistorischen Abschnitt untersucht. Der Beitrag von ANDREAS ZEISING über die Radiosendungen zum Dürer-Jubiläum 1928 rückt das Radio als Medium ‹nationaler› Identitätsarbeit im Bildungskontext ins Blickfeld.
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Der Beitrag verdeutlicht, wie präsent der Belehrungsgedanke in den frühen Radioprogrammen war; enge Bezüge zeigen sich zum Abschnitt zur Konstruktion von imaginierten Gemeinschaften, denn unverkennbar enthalten die Bildungssendungen jener Zeit starke nationalistische Töne. Ebenfalls das Radio als Vermittler kultureller Werte behandelt der Beitrag von RÜDIGER RITTER. Die JazzProgramme im internationalen amerikanischen Radio während des Kalten Krieges zeugten von amerikanischem Sendungsbewusstsein und sollten das Beste der amerikanischen Musik vermitteln, dabei gaben sie sich andererseits unpolitisch – so konnten sie den kulturellen Austausch zwischen den durch den Eisernen Vorhang getrennten Blöcken fördern. Schließlich wird das Radio in historischer Perspektivierung als soziales Medium untersucht. Zentral ist das Ziel der Radiosender, für ihre Hörer_innen ein Angebot zu schaffen, mit dem diese sich identifizieren. FANNY JONES erforscht in ihrem Beitrag die Interaktion des Schweizer Auslandsradios mit seinem Publikum weltweit, lange bevor es die heutigen sogenannten sozialen Medien gab. Es wird deutlich, dass etwa Hörerbindung, die Ansprache unterschiedlicher Hörergruppen über das Programm sowie Wissen über die Zusammensetzung des eigenen Publikums zu generieren, schon in den 1950er Jahren wichtige Zielsetzungen der Hörerforschung waren. Sie stellen bis heute das Radio vor Herausforderungen, wie THOMAS WILKE am aktuellen Beispiel des südwestdeutschen Formatradios SWR3 und seines Umgangs mit sozialen Medien (Facebook) untersucht. Hier zeichnen sich neue Strategien der Hörerbindung und neue Kommunikationsformen mit der Sender-Community ab, welche die Redaktionen aber auch vor Herausforderungen stellen, etwa in Bezug auf die nachträgliche Regulierung von geposteten Beiträgen, die ja nicht mehr zuerst eine Hörerbriefredaktion durchlaufen. Die Forschungsperspektiven in diesem Band behandeln das Radio als identity technology (Poletti/Rak 2014) nicht erschöpfend; stärker gegenwartsbezogene und ethnografische Perspektiven etwa könnten Online- und Community-Radios und konvergierende Medien in den Blick nehmen sowie die Frage aufgreifen, wie kulturwissenschaftliche Klangforschung auch medial angemessen repräsentiert werden kann (vgl. z.B. Feld/Brenneis 2004). In der Gegenwart scheint in besonderer Deutlichkeit eine dunkle Seite der Politiken der Identität auf. In vielen – auch demokratischen – Ländern versuchen interessierte Akteur_innen, Medien für ihre Ziele zu nutzen, kritische Medien als unglaubwürdig zu verunglimpfen oder gar in ihrer Arbeit zu behindern. Diese besorgniserregenden Entwicklungen verweisen auf das anhaltende politische Aktivierungspotenzial von Identitätsangeboten. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass die identitätspolitischen Auseinandersetzungen von anderen wichtigen ge-
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sellschaftlichen Problemfeldern – Umwelt, Soziales etc. – ablenken. Die Beiträge in diesem Band verdeutlichen, dass kulturelle Identitäten etwas Spekulatives und Imaginäres, etwas Fließendes bleiben und sich stets im Modus des Werdens und in konstanter gesellschaftlicher Diskussion befinden. Die kulturwissenschaftliche Forschung erinnert daran, dass Vorsicht geboten ist, sobald es um Identität geht.
D ANK Die Herausgeber danken den Autorinnen und Autoren herzlich für ihre Bereitschaft, ihre Tagungsbeiträge für den Band zur Verfügung zu stellen, ebenso unseren Lektoren und dem transcript Verlag für die Begleitung der Publikation. Wir danken zudem dem Kooperationsnetzwerk unserer Forschungsgruppe für die hervorragende Zusammenarbeit, insbesondere bei der Zugänglichmachung der Sammlung Dür für eine breite Öffentlichkeit. Das Projekt Broadcasting Swissness wurde großzügig vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert. Viel zu früh verstarb nach schwerer Krankheit Thomas Hengartner, Leiter der Forschungsgruppe, inspirierender Kollege, Mentor und Freund. Seinem Andenken ist dieser Band gewidmet.
L ITERATUR Badenoch, Alexander; Andreas Fickers; Christian Henrich-Franke, Hg. (2013): Airy Curtains in the European Ether. Broadcasting and the Cold War. Baden-Baden: Nomos. Bausinger, Hermann (1977): Zur kulturalen Dimension von Identität. In: Zeitschrift für Volkskunde 73 (2), 210–215. Bendix, Regina (2000): The Pleasures of the Ear. Toward an Ethnography of Listening. In: Cultural Analysis 1, 33–50. Bernstein, Mary (2005): Identity Politics. In: Annual Review of Sociology 31, 47–74. Biddle, Ian (2012): Music and Identity Politics (Introduction). In: Ders., Hg.: Music and Identity Politics. London/New York: Routledge, xi–xxiv. Classen, Constance (1997): Foundations for an Anthropology of the Senses. International Social Science Journal (UNESCO) 49 (153), 401–412. Feld, Steven/Donald Brenneis (2004). Doing Anthropology in Sound. In: American Ethnologist 31 (4), 461–474.
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Identitätsspiele Ein autobiografisch geprägter Rück- und Ausblick* C HRISTINE B URCKHARDT -S EEBASS
«Unser Leben wird dann sinnvoll, wenn wir es erzählen können.» So notierte sich ein Freund einen Satz von Peter Bichsel als sein Lebensmotto. Als Wissenschaftlerin irritierte mich dies.1 Zwar wird auch ein akademisches Leben seine persönliche Biografie nicht verleugnen wollen oder können, aber ihren Sinn doch eher darin sehen, wenn sie in irgendeiner, aber möglichst reflektierten Weise in Beziehung gesetzt werden kann zum wissenschaftlichen Tun. Für eine Volkskundlerin (die ich immer noch bin) würde es darum gehen, die eigene Umwelt, den sie umgebenden Alltag, den sie analysieren und verstehen möchte, so zu verfremden, mindestens auf Armeslänge von sich entfernt zu halten, dass sie ihn wahrnehmen kann – ohne sich hinter die Sache zurückzuziehen, aber auch ohne sich zu verleugnen und ohne verhindern zu können, dass das daraus entstehende Produkt eben doch ein persönliches Werk ist, meine Sicht, meine «Poesie», und sich damit der künstlerischen Produktion wieder annähert (Burckhardt-Seebass 1995 und 2003). Ich erinnere an die seinerzeit so fruchtbare Writing-Culture-Debatte der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Wäre es also
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Abendvortrag an der Tagung «Populäre Musik und Identitätspolitiken», 19. Februar 2016, Zürich; der Vortragsstil wurde, dem Thema entsprechend, beibehalten.
1
Der Satz lautet genau: «Unser Leben wird dann sinnvoll, wenn wir es uns erzählen können.» (Hervorhebung CBS) Er bekommt dadurch eine andere, weniger irritierende Bedeutung. Peter Bichsel: Die Zeit und das Erzählen. In: Luc Ciompi/Hans-Peter Dauwalder, Hg. (1990): Zeit und Psychiatrie. Bern/Stuttgart, 217–230, hier 226. Meiner Suche nach dem Beleg half Johannes Müske auf die Sprünge, wofür ich herzlich danke.
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nicht nur sinnstiftend, sondern auch legitim, gegen alle zünftischen Sitten an einem wissenschaftlichen Anlass von sich selbst zu erzählen? Ich habe das (ungenaue) Schriftstellerzitat und meine Fragezeichen deshalb an den Anfang gestellt, weil die ehrenvolle Aufforderung zu einem Beitrag im Rahmen des vorliegenden Projekts ohne Zweifel mit meiner Anciennität zusammenhängt, die macht, dass ich die verschiedenen Aufs und Abs der Volkslied- und Volksmusikforschung länger als die meisten der hier versammelten Forscher und Forscherinnen miterlebt habe. Ich nehme darum die Lizenz wahr, ausdrücklich von meinen persönlichen Erfahrungen auszugehen, mit meiner Meinung nicht zurückzuhalten und auszuwählen, was mir wichtig scheint. Deshalb habe ich meinem Beitrag den etwas schrägen Titel «Identitätsspiele» gegeben. Dahinter kann ich mich nicht nur zeigen, sondern auch verstecken. Manches wird Resumé-Charakter haben, anderes Ergänzung bieten, vielleicht auch leisen Widerspruch. Denn so eindeutig und festgeschrieben vieles scheinen mag, so sehr ist es auch Spiel, Musik ohnehin, Politik in anderer Weise auch, und wer über ein paar Jahrzehnte zurückschaut, wird gewahr, welche Rolle in der Wissenschaft der «Zeitgeist» spielt. Grund genug, am Ende von Broadcasting Swissness über Neues, Wiederkehrendes, Eigenes und Globales noch einen Moment nachzudenken. Der Freund, der Bichsel zitierte, lag mit seinem eigenen biografischen Schreiben ganz im Trend. Autobiografien gelten als ‹cool› und sollen der Wissenschaft neue Quellen erschließen. Das passt gut hierher nach Zürich, wo momentan meet-my-life.net anläuft,2 in der Tradition, die vor vielen Jahren (und vor den Kollegen in Wien) Rudolf Schenda begründet hat.3 Ich erinnere mich an die Stunden, in denen ich, beeindruckt und oft erheitert, die Manuskripte im betreffenden Seminarschrank durchstöberte (und dabei auf eine Zitherspielerin in Ap-
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Die Autobiografie-Schreib-Plattform mit diesem Titel wurde von Ernst Bohli in Zusammenarbeit mit Alfred Messerli entwickelt und 2016 aufgeschaltet; sie zeitigte rasch nicht nur mediales Interesse, sondern auch einigen Erfolg.
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Zusammen mit Pro Senectute Winterthur hatte Schenda Achtzigjährige der Region zum Schreiben ihrer Lebensgeschichte aufgerufen. Die Originale der eingegangenen 210 Berichte, die zunächst in einem Schrank im Institut lagen wurden später dem Stadtarchiv Winterthur anvertraut, wie mir freundlicherweise Dr. Meret Fehlmann mitteilte. 37 davon waren von Schenda 1982 veröffentlicht worden im Band Lebzeiten. In Wien war es Michael Mitterauer, der den Verein zur Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen begründete: Der 1. Band der daraus hervorgegangenen Buchreihe Damit es nicht verloren geht ... erschien in Wien 1983.
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penzell stieß; Schenda 1982: 245). Es ist auch bemerkenswert, welche Rolle und welches Gewicht der biografische Teil in dem mit Broadcasting Swissness in gewissem Zusammenhang stehenden Band zur neuen Schweizer Volksmusik einnimmt (Ringli/Rühl 2015). Autobiografisches Erzählen ist aber sicher nicht nur eine Form von Zeitzeugenschaft, nicht nur ein Aufrufen von erlebten Ereignissen und Erinnern an menschliche Begegnungen, sondern es bedeutet (zumindest implizit) für den Schreibenden, die Erzählende auch ein Zu-sich-Kommen, das Chaos des Lebens so in Ordnung und Zusammenhang zu bringen, dass es sich erzählen lässt und für einen selbst sinnvoll erscheint.4 Identität wurde lange primär in diesem Sinn gebraucht, als individualpsychologisches Konzept, das die Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Übereinstimmung mit sich selbst thematisierte und erforschte. Nach den traumatischen Erfahrungen, die unzählige Menschen im Zweiten Weltkrieg machen mussten, war dies eine Frage von höchster Dringlichkeit und auf der Alltagsebene, so scheint mir, präsenter als diejenige nach kollektiver oder gar nationaler Identität (zumindest in der Schweiz). Man las Erik H. Eriksons Identität und Lebenszyklus (deutsch 1973), das war ein Muss. Dass die 1960, d.h. 52 Jahre nach dem französischen Original erschienene englische Übersetzung von Arnold van Genneps Rites de Passage so viel Aufsehen erregen konnte, war wohl, weil sie sozusagen im richtigen Moment ein Modell für die wissenschaftliche Analyse und die kulturelle Bewältigung kritischer Lebensphasen bot. Wenn ich behaupte, dass die Frage der persönlichen Identität viele Menschen in der Mitte des 20. Jahrhunderts in der Schweiz stärker bewegte und betraf als diejenige nach dem gesellschaftlich Verbindenden, so weil über den Zweiten Weltkrieg hinaus die Doktrin der Geistigen Landesverteidigung noch ganz selbstverständlich in vielen Köpfen saß: als ein verpflichtendes Gemeinschaftsverständnis dessen, was die Nation ausmacht und nicht der Diskussion bedurfte. Die Abwehr von Fremdem und das Festhalten am Eigenen bildeten die sozialen Werte, viel mehr als der Aufbau von etwas speziell schweizerisch Neuem. Die Landesausstellung von 1939 hatte zwar eigentlich gerade das angepeilt, mit modernen gestalterischen Ideen und der Präsentation von technischen Innovationen; das ging aber völlig vergessen. Und auch 1955, als Max Frisch, Lucius Burckhardt und Markus Kutter das Manifest Achtung: die Schweiz veröffentlichten, mit dem Vorschlag, statt einer weiteren Landesausstellung eine neue Stadt zu bauen, versank dies nach kurzer aufgeregter Diskussion im Orkus. Für das Lebensgefühl vieler Menschen der mittleren und älteren Generation war das Bestehende, das Nicht-Zerstörte, das Entscheidende. Dabei blieb man, und durch
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Dies war ja auch die These Bichsels im oben erwähnten Vortrag.
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diese gemeinsamen Wertvorstellungen war man der Heimat verbunden. Es war ja auch noch (oder eher: als neue Errungenschaft) Jahrzehnte lang so, dass Beruf, Familie, Stellung und Ortsbezug dem Leben der Einzelnen einen gewissen Rahmen gaben und Kontinuität und Sicherheit versprachen, also nicht dem steten Spiel des Zufalls oder der Willkür ausgesetzt waren. So schien auch im Weltbild und im harmonischen Schönheitsideal der traditionsbewussten musikalischen Vereine, der Jodler und Ländlermusikanten, kein Aufbruch notwendig. Aber es gab doch neue Ensembles, die rassiger spielten, mit mehr Swing. Und es gab ohne Zweifel eine nächste Generation, die vom Gewohnten nichts hielt und andere Musik liebte. Als ich 1975 die Betreuung des Schweizerischen Volksliedarchivs übernahm, war die Zeit des spontanen gemeinsamen Singens, bei der Arbeit, beim Wandern, beim Marschieren im Militärdienst, und einfach zur Unterhaltung, in Familie und Freundeskreis, fast schon vorbei. Ausnahme: Weihnachten, in einigen Gegenden auch Familienfeste und Vereinsausflüge ... Ich selbst hatte bis in die fünfziger Jahre, seit der Kindheit, sehr viel gesungen (und nun wird es ein wenig anekdotisch): am Samstagabend mit dem Vater zur Laute (mit dem Repertoire des Zupfgeigenhansl, auch des Röseligarte und was es sonst so gab in der Kategorie Volkslied, aber immer ohne Noten!). Wir sangen mehrstimmig im Verwandten- und Freundeskreis (das gängige Liederbuch hieß Gesellige Zeit) und sehr viel in der Schule, vor allem im Gymnasium, in den Pausen, in den Lagern und bei Ausflügen. Schließlich lernte ich das deutsche Kunstlied des 19. Jahrhunderts kennen. Ich besitze meine selbstgeschriebenen Liederbüchlein der Jahre 1951 bis 1955 noch, mit 170 Einträgen (zahlenmäßig mit dem Röseligarte gleichauf), und ich glaube, dass sie eine ganz gute Momentaufnahme dessen enthalten, was Volkslied heißen mochte und gesungen wurde. Das erste fängt an mit einem Schweizer Schlager jener Tage: Alles fahrt Schi!5. Dann kommt, was man damals «toll» fand: Studentenlieder, Negro (!) Spirituals, viele französische Film-Schlager und Chansons, einige italienische Hits, Populäres aus England, das uns unser Englischlehrer beibrachte. Lieder aus der welschen Schweiz (Abbé Bovet und Jacques-Dalcroze mit ihrem romantischen Einschlag waren sehr beliebt), und wir waren ja auch stolz auf unsere Sprachkenntnisse. Man kann das als eine deutschschweizerisch-städtische Jugend- oder eher Mädchenbiografie in Liedern lesen. Patriotisches war kaum dabei, wenn man Z’Basel an mym Rhy,
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Das Lied stammt von Hans Roelli (1889–1962); er war lange Jahre Kurdirektor und Skilehrer in Arosa, veröffentlichte aber auch Gedichte und trat als Liedsänger auf. Vgl. Historisches Lexikon der Schweiz, s.v. Roelli, http://www.hls-dhs-dss.ch, 24.5.2016.
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das Beresina- und das Appenzeller Landsgemeindelied und die Gilberte de Courgenay nicht dazuzählen will. Gefunden habe ich in meiner Sammlung einen einzigen deutschen Schlager: Capri-Fischer («Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt» … Italien war noch Sehnsuchtsziel, nicht normale Feriendestination). Meine erste Bekanntschaft mit Gershwin verdanke ich Fritz Dür. Es muss 1951 gewesen sein, im Haus unserer engen Freunde, des Musikwissenschaftlers Ernst Mohr und seiner Familie in Basel. Die beiden Männer traktierten zusammen, teils improvisierend, das Klavier, und in unvergesslicher Weise hat sich für mich der elektrisierende Gershwin-Titel I Got Rhythm mit der lebhaften, musikbesessenen Gestalt von Fritz Dür verbunden. Summertime figurierte dann auch in meinem Liederbüchlein. Zu Neuem kam man auch durch Klassenkameradinnen und ältere Freunde, also von Mund zu Mund, was aber nicht heißt, dass Vieles nicht auch älteres Liedgut war, wie es sich in Liederbüchern der Jahrhundertwende fand, etwa dem der ETH-Studenten oder der Zofingia oder in der beliebten Sammlung von Friedrich Niggli Lieder der Heimat in Querformat, die in vielen Haushalten herumlag. Wir sangen aber nicht aus Gedrucktem, und geistige Landesverteidigung trieben wir durchaus nicht, wir liebten das Spiel mit verschiedenen Identitäten. Verbreiteter Auffassung zufolge war es das Radio, das der Menschheit allmählich das gemeinsame Singen austrieb oder abnahm, jedenfalls das Singen bei der Arbeit. Hatten die Baselbieter Bauerntöchter beim Kirschenpflücken früher gejodelt, hängten sie später den kleinen Transistor an einen Ast. Konzentriertes Werken an einer Maschine in der Fabrik oder die Tätigkeit im Büro duldet keine musikalische Ablenkung, höchstens Hintergrundmusik. Im militärischen Marschieren in Kolonnen hatte früher das Singen die Marschmusik ersetzt; veränderte strategische Einsichten forderten das Gegenteil: unauffälliges und geräuschloses Bewegen. Nur Bauarbeiter singen manchmal noch, oder einer summt vor sich hin – dass uns das auffällt, zeigt, wie ungewöhnlich es geworden ist. Diese «historische» Welle ebbte also ab. Was weiter blüht, ja zunimmt, ist das Singen als Freizeitbeschäftigung im Chor. Und: Das Radio (und bald die Erfindung der Musikkassette) förderte das Zuhören und Mitsingen, eine neue, sicher nicht unwichtige Form musikalischer Teilnahme. Wilhelm Schepping begann in den siebziger Jahren, diese volkstümlichen Varianten des Musikmachens zu dokumentieren und zu erforschen (Schepping 1979). In die gängigen musikalischen Kategorien und wissenschaftlichen Fächer passte dies aber (noch) nicht, und es ließ sich weder politisch noch touristisch verwenden. Seither ist auch dies Geschichte; jeder hört seine Musik nun für sich, ob in der Gruppe (oder Truppe), in der Öffentlichkeit oder allein, mit dem Knopf im Ohr. Laut mitmachen ist nur in den Live-Konzerten der Stars angesagt, die es in den Zeiten des spontanen Sin-
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gens noch nicht gab, und in den Fußballstadien, wo sich eine eigene, hoch ritualisierte Klangkultur manifestiert, die die kollektive Identität der Fans formen hilft. Auch so ein Spiel.6 1981 wurde das Schweizerische Volksliedarchiv 75 Jahre alt. Um seine Daseinsberechtigung zu überprüfen, aber auch unter Beweis zu stellen, organisierte ich ein Kolloquium mit dem Titel Volksliedforschung heute (gedruckt 1983). Rolf Wilhelm Brednich, der lange das Deutsche Volksliedarchiv in Freiburg geleitet hatte, formulierte in seinem Vortrag die These, dass «... von der Volksliedforschung in den abgelaufenen Dezennien wiederholt wesentliche Impulse für die Entwicklung des Gesamtfachs ‹Volkskunde› ausgegangen sind» (Brednich 1983: 7). Für die Schweiz kann man das nicht behaupten. Hier fand eigentlich 70 Jahre lang gar keine wissenschaftliche Beschäftigung mit Volkslied und Volksmusik statt. Es wurde nur gesammelt, und man kann sagen, dass sich so etwas wie Sammleridentitäten ausgebildet hatten, etwa Alfons Maissen oder Hanny Christen. (Hanns In der Gand zähle ich nicht dazu, er fand seine Identität als Sänger, obwohl er auch ein äußerst sorgfältiger und aufmerksamer Sammler war.) Einer der markanten Anstöße, die Brednich erwähnte, der die verschlafene Volkslied- und Volksmusiklandschaft aufmischte, war die neue Bewegung, die mit Singen und Spielen politischer Gesinnung und politischen Anliegen Ausdruck geben wollte: der Folk. Er fand in der Schweiz ein lebhaftes Echo, zunächst inspiriert durch Irland, England und die amerikanische Bürgerrechtsbewegung. Zudem kamen durch den nunmehr möglichen regen persönlichen Austausch unter Musikanten neue Klänge, Instrumente, Rhythmen aus dem Balkan (vor allem Ungarn mit den alternativen Musikhäusern) und aus Skandinavien. Die Musik, besonders die Balladen, sollten nun von leidvollen, erniedrigenden, widerständigen Erfahrungen der Menschen erzählen, nicht von grünen Alpen, Edelweiß und schöner Heimat. Für den deutschen Sprachraum (vor allem Westdeutschland, aber auch die deutsche Schweiz) muss hier als Anreger und wissenschaftlicher Gewährsmann Wolfgang Steinitz genannt werden. 1955 und 1962 erschienen seine Deutschen Volkslieder demokratischen Charakters in Ostberlin, 1973 brachte Zweitausendeins, der westdeutsche Verlag mit Direktvertrieb, einen handlichen und erschwinglichen Nachdruck heraus, der die Sammlung jenseits von Fachbibliotheken zugänglich machte. Diese Sammlung von Liedern
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Auf die grundlegende Veränderung der populären musikalischen Ausdrucksformen durch die Medialisierung gehe ich bewusst nicht ein; eine Standortbestimmung nahm die Tagung zum 101. Jubiläum des Schweizerischen Volksliedarchivs 2007 vor, die in dem Band Ewigi Liäbi dokumentiert ist (Leimgruber/Messerli/Oehme 2009).
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des Volks nach marxistischem Verständnis schlug hohe Wellen, zwar nicht nur der Begeisterung (es war ja die Zeit des Kalten Kriegs), aber die Wirkung auf die Musikszene war groß. Seit den neunziger Jahren scheint Steinitz, wie die ganze DDR-Volkskunde, aus dem kollektiven Gedächtnis ausgewischt; erst 2005 (das Datum seines 100. Geburtstags) begannen Ansätze zu einer kritischen Neubewertung (Köstlin 2006). In der Folk-Bewegung formte sich eine neue musikalische Identität, politisch eingefärbt, in den Dialekten als schweizerisch erkennbar und inhaltlich sich aus lokalen Quellen und aktuellen Problemen (AKW, Autobahnbau etc.) speisend, aber einer internationalen Solidarität verpflichtet, nach uralten (vornationalen) Wurzeln suchend im Instrumentarium wie in den Inhalten, mit einem Hang zum Mythischen, und im Umgang mit dem musikalischen «Erbe» von großer Unbefangenheit und Spielfreude. Das heißt, es ging, mit ganz wenigen Ausnahmen (etwa die Gruppe Tritonus), nicht um historische Spielpraxis. Es wurden viel fremde Stile nachgeahmt, gefiddelt und gepfiffen, denn auf den Festivals, speziell auf der Lenzburg, trafen sich ja auch Musikanten aus vielen Ländern. Die jurassische Gruppe Tetralyre kombinierte beispielsweise ein in Patois gesungenes Spottlied aus Courroux, das Arthur Rossat (1902: 178f.) aufgezeichnet hatte, mit einer irisch inspirierten Instrumental-Coda. Das Schweizer Liederbuch jener Generation war Urs Hostettlers Anderi Lieder. Von den geringen Leuten, ihren Legenden und Träumen, ihrer Not und ihren Aufständen (1979). Der Titel enthält das ganze neue Programm. Hostettler hatte dafür, obwohl er von Haus aus Mathematiker war, gründlich geforscht, auch im Schweizerischen Volksliedarchiv, er kannte aber auch seinen Steinitz. Seine Auswahl ist mit Quellenangaben und Kommentar versehen. Es ging eben nicht nur ums Singen, sondern um Aussage und Anklage, so in von ihm ausgegrabenen Balladen aus dem Bauernaufstand von 1653. Hostettler spielte und sang auch 1981 am Jubiläum des Schweizerischen Volksliedarchivs, zusammen mit Käthi Siegenthaler; soviel ich mich erinnere, begleiteten sie sich mit Gitarre und Harfe. Im Rahmen der traditionsbewussten Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde und in einem Basler Zunfthaus war das eher ungewohnt; wir hatten damals auch ein Mitglied, das uns einen Alphorn- und Volkstanzauftritt sponsorte, so wie man sich Volkskunde eben lieber vorstellte. Es war ein Zwei-Welten-Abend ... Die anderen zum Kolloquiumskonzert gebetenen Musiker waren übrigens Pietro Bianchi mit seiner französischen Frau und ein paar Tessiner Freunden. Er gestand mir erst nachher, dass er bis dahin mit seiner Band Lyonesse nur keltische Musik, leicht verrockt, gespielt hatte und dies sein erster Auftritt mit Tessinischem war. Es ging nicht lang, wurde er zum Doyen der Volksmusikforschung und -präsentation in seinem Kanton. Er war Radiomitarbeiter, so wie der Protagonist des Bündner En-
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sembles, das ich eingeladen hatte: Men Steiner, der mit Aita Biert rätoromanische Lieder sang. Bald darauf verlieh er mit seiner Geige den Fränzlis da Tschlin sozusagen den neu-traditionellen Dreh. Aus der welschen Schweiz kannte ich nur Claude Rochat von einer Schallplatte, der aber gern nach Basel kam. Tetralyre lernte ich erst später kennen. Die Gruppen waren, da meist aus jungen Liebhaber-Musikern ohne professionelle Ansprüche bestehend, oft nicht lange existent, und die Zusammensetzungen wechselten. Immerhin lässt dieses bescheidene Beispiel erkennen, wie lebendig, wie vernetzt, auch wie klein die Szene war, aber sie ließ doch auch schon leading figures erkennen. Insofern kommt mir dieser Anlass im Rückblick geradezu als ‹Leuchttürmlein› vor, als das er sicher nicht geplant war. Der Gewinn meiner (ehrenamtlichen und daher notwendigerweise bescheidenen) Tätigkeit am Volksliedarchiv lag für mich in diesem Netz von Kontakten, Beziehungen und daraus sich ergebenden Erkenntnissen. Ich lernte durch sie auch die österreichische und bayrische Volksmusikszene kennen, die allerdings unter ganz anderen Bedingungen lebte: Seit den dreißiger Jahren genoss sie nicht nur staatliches Wohlwollen, sondern direkte Unterstützung bei Pflege und Förderung, und es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, dass dies auch von stilistischem Einfluss war. Es gab eine Zeitlang einen gepflegten alpine sound, aber es gibt, scheint mir, nun auch immer mehr originelle widerborstige Formationen. Es ist bekannt, dass die Folk-Bewegung in der Schweiz, die ihren politischen Kulminationspunkt in den Anti-AKW-Demonstrationen in Kaiseraugst und Gösgen fand (was natürlich auch zu politischer Ablehnung beitrug), musikalisch durch den Rock, den Regional- und Mundart-Rock (der nicht weniger politisch sein konnte, aber keine Musik der leisen Töne war), überholt wurde, und die Lenzburg von ihrer Lage her den neuen technischen Anforderungen nicht gewachsen war (Burckhardt-Seebass 1987; Hostettler 1981). Bei Polo Hofer konnte man dafür mitsingen, und die massenhafte Identifikation mit dieser Musik war leichter als mit der individualistischeren und leiseren Folkmusik, die nie ein großes und eher ein städtisch-intellektuelles Publikum ansprach. Also wieder eine Welle, die abebbte, aber doch, um im Bild zu bleiben, ein leicht gekräuseltes Wasser hinterließ. Man kann wohl sagen, dass es auch die politische Identität einer Generation war, die sich änderte, zusammen mit dem musikalischen Stil. Es gab in jener Zeit noch recht viele Mix-Experimente, exemplarisch die Röseligarte-Sendung von Radio Bern mit Polo Hofer, Bruno Spoerri und anderen (1977). Eine Folk-Rock-Szene entwickelte sich aber nicht, der Schritt ging in Richtung Rock. Ein Impuls, den Brednich im genannten Vortrag, bezogen auf das Volkslied, als nebensächlich bezeichnete (Brednich 1983: 13), während er in der allgemei-
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nen deutschsprachigen Fachgeschichte sehr viel auslöste, war die FolklorismusDiskussion. Und gerade dazu war in der Schweiz 1976 ein substantieller, sehr gelehrter musikethnologischer Beitrag erschienen. Ich meine die Dissertation von Max Peter Baumann Musikfolklore und Musikfolklorismus. Seine Unterscheidung und kritische Analyse von Jodel und Jodellied bewirkte allerdings für längere Zeit eine kategoriale Festschreibung, die die Überwindung des Folklorismus-Konzepts (die an anderen Stellen bereits eingesetzt hatte) hemmte. Obwohl Baumann nichts ferner lag als eine ontologische Interpretation, ließ sich seine Typologie leicht missverstehen als Gegensatz von natürlich-echt und künstlich. Demgegenüber hatte 1968 der Musikpädagoge Ernst Klusen in Köln die griffige Formel vom Volkslied als «Fund und Erfindung» geprägt und damit beide als einander gegenseitig bedingende Produkte der Moderne erkennbar gemacht. Die Musikethnologie, meist in Ländern mit ganz anderen kulturellen Entwicklungen forschend, verschloss sich dem länger. Man könnte (in einer schweizbezogenen Terminologie) sagen, sie blieb noch eine Weile bei der Unterscheidung zwischen einer Vereinsjodler-Identität und einer höher bewerteten Naturjuuchz-Identität. 1985 erschien die Schallplatte von Hugo Zemp (ein Musikethnologe, der vornehmlich in Afrika forschte, aber aus dem Kanton Schwyz stammt) mit den Muothataler Jüüzli. Sie hatte großen Erfolg, wurde zum Inbegriff von Echtheit und ist auch heute noch nicht vergessen. 7 Dagegen fand die Dissertation von Sylvie Bolle Zemp Le réenchantement de la montagne (1992) leider nur wenig Beachtung; sie hatte nachzuzeichnen vermocht, wie und aus welchen musikalischen und symbolischen Ingredienzen der typische sound der Greyerzer Sänger gemacht, gepflegt und bewertet wird. Vielleicht wäre die Wirkung größer gewesen, hätte man das auf einer begleitenden CD hören können. Mag auch sein, dass das Beispiel eindeutig regional war und sich nicht verallgemeinern ließ, während das «Urtümliche» des Naturjodels sozusagen eine überregionale emotionale Dimension anzusprechen scheint, die man auch als urschweizerisch fühlen kann (obwohl auch hier Kontext und Bedingungen strikt regional sind). Die Gegensätze in den Auffassungen und Geschmäckern scheinen mir erst in der letzten Zeit zu verschwimmen, nicht nur im FachleuteDiskurs, sondern im aktiven Musizieren. Entsteht daraus etwa eine SwissnessIdentität? Im Ernst: Seit den Zeiten des Folk regte sich bei Freunden und Exponenten von Volksmusik verschiedener Couleur hie und da ein gewisses Unbehagen. Als
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Zemp selbst hat 2015 eine Zweitforschung unternommen und die Veränderungen filmisch dokumentiert: Muotataler Jüüzli 30 Jahre später (DVD, Altdorf: MüliradVerlag, 2015).
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die UNESCO in den siebziger Jahren schon einmal von kulturellem Erbe zu sprechen anfing, wurde das in der Schweiz vernommen, und der damalige Präsident der schweizerischen UNESCO-Kommission, der Unterengadiner Dichter Andri Peer, der vielleicht mit der Musik der alten Fränzlis aufgewachsen war, nahm die Anregung auf und wandte sich an den Leiter der Kulturprogramme von Schweizer Radio International (SRI), Lance Tschannen. Dieser war ja ex officio verpflichtet, Imagepflege für die Schweiz im Ausland zu betreiben. Seine Liebe galt zwar dem Jazz (er war Mitbegründer des Jazz-Festivals Montreux), aber dass er mit allen Spielarten von Musik vertraut war, beweist seine Mitarbeit an der so verdienstvollen Anthologie Musica Helvetica, die auch Werke zeitgenössischer Schweizer Komponisten enthält. Mit dem Schwung, der Begeisterungsfähigkeit und dem Beziehungsnetz, über das alles er verfügte, ging er auf Peers Anregung ein und machte sich sofort ans Werk. Er versammelte eine kleine Taskforce, die einen Plan aushecken sollte zur Unterstützung, Sichtbarmachung, Erforschung und Bereicherung der Volksmusik in der Schweiz. Das mochte noch vage sein, aber die Auswahl, die Tschannen traf, ließ Absichten erkennen, die über ein Propagandainstrument hinausgingen. Man kann es vielleicht so formulieren, dass es ihm darum ging, den Graben zwischen Festgefahrenem in den Vereinen und den wilden und zu wenig schweizerisch klingenden Szenen aufzuschütten, die Volksmusik lebendiger, spontaner zu machen durch vorbildliche Kompositionen und neue Quellen, durch Anleitungen, Informationen, durch Begegnungen und Networking. Er suchte Leute mit Erfahrung; dafür stand Marcel Cellier, der Hobby-Musikethnologe, der die Voix Bulgares und Georges Zamfir aufgespürt und bekannt gemacht hatte und auch eine Waadtländer Ländlerkapelle protegierte: Les Muverans unter Ägide von Michel Steiner. Tschannen suchte die Nähe zur E-Musik (vertreten durch Jean Daetwyler, der ein Konzert für Alphorn und Orchester komponiert hatte), zur Wissenschaft (wozu ich ihm einfiel), er lud den seinerzeit berühmtesten Schweizer Toningenieur Alfred Wettler, der auch eine Plattenserie mit Volksmusik produziert hatte, und den Bündner Kirchenmusiker, Komponisten und Chorleitet Gion Antoni Derungs sowie einige speziellere Ländlermusiker ein. Ich erinnere mich an Emil Wydler, der mit Thomas Marthaler in der Kapelle Zogä-n-am-Bogä spielte, und an Beat Halter, der verschiedene Stubeten sponsorte. Nach zwei lockeren Treffen kam es dann 1979 zur Gründungsversammlung der Gesellschaft für die Volksmusik in der Schweiz (GVS) bei Walliser Wein und Trockenfleisch und in sehr heiterer, ich möchte sagen: hoffnungsfroher Stimmung. 8 Es wurden ein Vorstand und eine
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Vgl. auch die Vereinshomepage mit weiteren Informationen: http://www.gvs-smps.ch, 24.5.2016.
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Geschäftsstelle bestellt, die Beziehung zur SUISA und damit zu gewissen Betriebsmitteln aufgebaut. Der Kreis der Mitglieder und Interessenten wuchs, etwa um Marie Nora vom Radio de la Suisse Romande und um die instrumentenkundige und volksmusikalisch rundum erfahrene Brigitte Bachmann-Geiser. Tschannen rief ein Mitteilungsblatt ins Leben, initiierte ein Buchprojekt und ein Festival, er propagierte Ernst Roths Büchlein über das Schwyzerörgeli (Roth 1979), er nahm im Hinblick auf ein ähnliches größeres Werk Kontakt auf mit Ueli Mooser, dem Volksmusikpädagogen avant l’institution9, und steckte voll von Plänen. Sein plötzlicher Tod (1984) nahm seinen Enthusiasmus mit, nicht aber die Institution. Das geplante Festival wurde von Cyrill Renz in Fribourg übernommen, wodurch es zwar einen populäreren Charakter bekam, aber die Idee doch zu verbreiten half. Mit dem Musiker und Musikpädagogen Werner Schmitt kamen neuer Schwung und unerschütterlicher Optimismus, dazu eine Offenheit, vor der alle eingeschliffenen musikalischen Gattungsgrenzen einfach schwanden, solange die Musik gut war (Schmitt war Solocellist im Berner Sinfonieorchester und Direktor des Konservatoriums!). Das Pflänzchen erwies sich als zäh und lebensfähig. Und es sollte – in der Tat – schweizerischer Identität dienen. Damit war sozusagen die nächste Welle in Bewegung geraten, für die exemplarisch die Entdeckung der Sammlung Hanny Christen steht und alles, was sie direkt und indirekt auslöste. Als das Thema aufkam, nämlich die vollständige Edition der gegen 12.000 Melodien, die das Fräulein aus dem Baselbiet zwischen 1940 und 1960 aufgezeichnet hatte, die aber lange unbeachtet in der Basler Universitätsbibliothek geruht hatten, war ich skeptisch. Es musste sich ja um unzählige lokale Varianten, um Importiertes, um Selbstgestricktes handeln, sodass ich glaubte, nur eine Auswahl könne sinnvoll sein. Fabian Müller und die GVS waren anderer Meinung und nahmen das Riesenwerk in Angriff. Es erschien 2002 in zehn Bänden plus Registerband. Ich habe erst später verstanden, welchen Wert die Fülle hatte: Endlich konnte die Schweiz auch ein großes musikkulturelles Erbe vorweisen, wie andere Länder schon lange – das war sozusagen das Äußere, das Swissness-Argument in der internationalen Szene. Noch wichtiger aber war, wenn ich Fabian Müller richtig verstanden habe, dass hier Musik vorlag, die wirklich früher erklungen war, die man gebraucht hatte, zum Tanz, zur Unterhaltung, im ländlichen Alltag des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Woher sie «ursprünglich» stammte, ob die Spieler etwas von Fremden gehört, vom Großvater gelernt, aus der Nachbarschaft mitgebracht oder auch selbst erfunden hatten, war nicht entscheidend. Wie es seinerzeit geklungen hat,
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Das Buch erschien 1989, herausgegeben von der GVS.
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ließ sich auch nicht rekonstruieren (obwohl Fräulein Christen auch Tonaufnahmen gemacht hatte und manchmal die verwendeten Instrumente und sogar die Tempi angab). Aber aus der Fülle ließen sich Verbreitungsgebiete erkennen, Variationen, bevorzugte Rhythmen und Tonarten, und das Vorhandene brauchte nicht als exakte Vorlage, sondern konnte als Aufforderung zu immer neuer Interpretation verstanden werden. Die Melodien standen für Authentizität, nicht in einem nationalen Sinn und nicht primär durch hohes Alter, sondern durch die beglaubigte Praxis. In diesem Sinn, schon etwas früher, agierte die Oberbaselbieter Ländlerkapelle, indem sie die Melodien (auch aus anderen lokalen Quellen und unter Mitwirkung alter Musiker) der Praxis, dem Tanz, wieder zugänglich machte. Andere benützten das Material, um ihre eigene musical Swissness zu erfinden.10 Wenn das Ziel war, den damaligen Musikern außerhalb der Schweiz nicht nachstehen zu wollen und auch aktuell und international Beachtung und Erfolg zu finden, forderte dies mehr Wissen und Können. Unübersehbar hat die Professionalität in der Volksmusik innerhalb zweier Generationen zugenommen. Ein sehr großer Teil der Aktiven hat eine klassische Ausbildung mit Diplom hinter sich. Die Musik ist anspruchsvoller geworden, erfordert aufmerksames Zuhören, und die Grenze zur E-Musik löst sich auf; in Tongebung, Zusammenspiel, Instrumentierung erinnert viel an klassische Kammer-, nicht mehr an Tanzmusik. Sind es also Musiker oder, was sie früher waren, Musikanten? Hier scheint noch eine gewisse Reibung zu bestehen, wie sie bei den Interviews mit Hans Kennel und Albin Brun im Buch von Ringli und Rühl (2015: 263 resp. 296) explizit wird. Bewegt man sich aber in getrennten Welten, gar einer schweizerischen und einer allgemein-musikalischen, wenn man ausgebildeter Volks-Musiker und Musikant oder gar noch Komponist (wie Fabian Müller) ist? Empfinden die Einzelnen unterschiedliche Identitäten, Rollenwechsel oder Brüche, die man früher nicht kannte? Eine aufmerksame Lektüre der biografischen Interviews im Buch von Ringli und Rühl offenbart alles andere als gradlinige Lebensläufe. Diese prekären Erfahrungen teilen die Musiker aber mit den meisten Mitgliedern ihrer Generation in allen Berufen. Noldi Alder hat sie offen und in berührender Weise thematisiert, sie sich etwa in seinem berühmt gewordenen So-So-Zäuerli von der Seele gesungen. Aber darin liegt auch, was alle Musikanten vor uns Schweigenden (oder Schreibenden) voraushaben: Sie finden in der Musik, in der klingenden
10 Als Beispiel: der Titel Alpenträume, Nr. 2 auf der gleichnamigen CD der HanneliMusik von Fabian Müller, verarbeitet Material der Muotathaler Schottisch 11095 und 11097 und des Walzers 11107 aus dem neunten Band der Christen-Sammlung.
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Vereinigung von Körper und Seele immer wieder zu sich selbst, zu ihrer persönlichen Identität, die keine nationale (oder stilistische) Etikette braucht.
L ITERATUR Baumann, Max-Peter (1976): Musikfolklore und Musikfolklorismus: Eine ethnomusikologische Untersuchung zum Funktionswandel des Jodelns. Winterthur: Amadeus. Bolle-Zemp, Sylvie (1992): Le réenchantement de la montagne: Aspects du folklore musical en Haute-Gruyère. Basel: Société des Traditions Populaires. Brednich, Rolf Wilhelm (1983): 75 Jahre deutschsprachige Volksliedforschung; vom Text zum Kontext. In: Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde, Hg.: Volksliedforschung heute. Beiträge des Kolloquiums vom 21./22. November 1981 in Basel zur Feier des 75-jährigen Bestehens des Schweizerischen Volksliedarchivs. Red.: Christine Burckhardt-Seebass. Basel: Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde, 7–18. Burckhardt-Seebass, Christine (1987): «Gang, hol d’Gitarre ...». Das FolkFestival auf der Lenzburg 1972–1980 und die schweizerische FolkBewegung: eine Skizze. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 83 (3–4), 154–168. Burckhardt-Seebass, Christine (1995): «So wia s Leben, is a mei Schreibn!» Über populare Autobiographie als Werk. In: Hermann Bausinger/Ursula Brunold-Bigler, Hg.: Hören, Sagen, Lesen, Lernen (FS Rudolf Schenda). Bern: Peter Lang. Burckhardt-Seebass, Christine (2003): Das Ich des Ethnologen. In: Revue des Sciences Sociales 31, Straßburg (FS Freddy Raphaël), 146–149. Hostettler, Urs (1979): Anderi Lieder. Gümligen/Bern: Zytglogge. Hostettler, Urs (1981): Über die schweizerische Folk-Bewegung. In: Schweizer Volkskunde 71 (5), 73–77. Klusen, Ernst (1969): Volkslied: Fund und Erfindung. Köln: Gerig. Köstlin, Konrad (2006): Wolfgang Steinitz als Protagonist der DDRVolkskunde. In: Eckhard John, Hg.: Die Entdeckung des sozialkritischen Liedes: Zum 100. Geburtstag von Wolfgang Steinitz. Münster et al.: Waxmann, 25–38. Leimgruber, Walter/Alfred Messerli/Karoline Oehme, Hg. (2009): Ewigi Liäbi: Singen bleibt populär. Basel/Münster: Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde/Waxmann.
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Mooser, Ueli (1989): Die instrumentale Volksmusik: Grundlagen und Musizierpraxis der Ländlermusik, Formen, Modelle, Beispiele, Anregungen. Hg. von der Gesellschaft für die Volksmusik in der Schweiz (GVS). Zürich: GVS. Ringli, Dieter/Johannes Rühl (2015): Die neue Volksmusik. Siebzehn Porträts und eine Spurensuche in der Schweiz. Zürich: Chronos. Rossat, Arthur (1902): Chants patois jurassiens 4: Chansons satiriques. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 6, 161–183 und 257–280. Roth, Ernst (1979): Schwyzerörgeli: Helvetischer Klang auf Zug und Druck: Eine Instrumentenkunde und Wegleitung für Volksmusikliebhaber. Aarau: ATVerlag. Schenda, Rudolf, Hg. (1982): Lebzeiten: Autobiographien der Pro-SenectuteAktion. Zürich: Unionsverlag. Schepping, Wilhelm (1979): Zum Einfluss der Medien auf Singpräferenzen und vokale Reproduktion. In: Ders., Hg.: Volksmusik und elektronische Medien: Protokoll der Arbeitstagung der Kommission für Lied-, Musik- und Tanzforschung in der Dt. Ges. für Volkskunde, 17.–20.9.1978 in Bremen. Neuss: Institut für Musikalische Volkskunde, 75–111. Gesellschaft für die Volksmusik in der Schweiz, Hg. (2002): Schweizer Volksmusik-Sammlung: Aus dem Nachlass von Hanny Christen (Die Tanzmusik der Schweiz des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts). 11 Bde. Zürich: Mülirad-Verlag. Steinitz, Wolfgang (1954/1962): Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten. Berlin: Akademie-Verlag. Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde, Hg. (1983): Volksliedforschung heute. Beiträge des Kolloquiums vom 21./22. November 1981 in Basel zur Feier des 75-jährigen Bestehens des Schweizerischen Volksliedarchivs. Red.: Christine Burckhardt-Seebass. Basel: Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde.
Sounds, Spaces, and Radio Radio listening in Europe before the 1960s M ORTEN M ICHELSEN
Through the years radio has offered a wealth of spaces represented in and through sound. Some have been created meticulously by radio producers and sound engineers, others in the minds of listeners. Some spaces have been reproduced as carefully as possible (for example, in order to create the illusion of listening in a concert hall), while others have been created from scratch and do not resemble any spatial experiences known to man (for example, in radio feature experiments). Such aural representations of (more or less) three-dimensional Euclidian spaces as well as verbal commentary have contributed to the huge palette of imaginary spaces brought forth by radio. However, radio has also contributed to the ongoing production of social spaces by becoming an integrated part of most homes in the western world before the spread of television. Suggestions on how to organize your private and public life came forth from the loudspeakers, either directly in instructive programmes for men, women and children or indirectly through the choice of music, the organization of the programme flow and of the organisation of sound in space. As the radio and the loudspeaker were introduced into homes as status symbols and as centres of entertainment, the physical and auditive layout of living rooms changed along with the relations within the family (Moores 1988: 26–31; Lacey 1996: 151–61). Early radio also helped build complex social spaces by contributing to the articulation of democratic and fascistic systems being developed all over Europe. Through mediated sound, radio made a lot of things and persons heard and thus less mysterious. Prime ministers and kings suddenly came alive in your living room through their voices; but radio also reminded of the distance between them and yourself. Radio made the difference between closeness and distance more distinct thanks to the sound (Lacey 2013: 34).
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Via transmissions, radio reported from other places. From your own living room you listened in on what was happening in other rooms (or open spaces). For example, in the first years of radio, Scandinavian listeners listened in on opera relayed from opera houses although it was a social, musical and physical space that most of them did not care for much. Many listened anyway because the radio was the only entertainment available. On the other hand, according to 1920s listener surveys the majority of listeners wanted to bring the musical and social spaces of old dance music into their living rooms, which only happened every once in a while. The sequential combination of opera and old dance music meant that many listeners used the musical radio as identity support and as a means of listening to something different. In such ways, radio has contributed to modernization processes by stressing sound and its related space as mediated. All the new sounds (and music) available through the receiver reorganized the world as sounding – one consequence being the ‹invention› of live music as one part of two in a dichotomy, the other being ‹mechanical› music, that is, recorded or broadcast sounds (Auslander 1999/2008: 56). Pre-war radio culture has been investigated by many (for example Lacey 2000, 2002, 2013; Hilmes 1997; Douglas 1999/2004; Michelsen 2016a), so here I would like to turn my attention to post-war radio. What happened here was not as fundamental as before the war, however, I would like to demonstrate that some events had a decisive impact anyway. The first has to do with the growing quality of radio sound because of the introduction of FM in Germany, the UK, and Scandinavia in the 1950s, and its influence on the home. The point being that this increase in quality contributed to further consolidation of the middle class family structure in its primary habitat: the home. The second has to do with radio content. As the number of national broadcast channels grew, there was more room for specialized reporting and for new types of magazine programmes. I will focus on how radio dealt with the decolonization of Africa, not so much in words but how they used spatialities, sounds, and musics in combination with the listeners’ imaginations to provide the idea of what actually happened in this little known and much mythologized continent.
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ROLE OF SPACES
By now I have mentioned several types of spaces, ranging from the concrete spaces and mediated representations of space, to imagined spaces, and to metaphorical spaces. I mention them in order to point to the many variations of space
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and to highlight the multiplicity of space and spatial imagination (Michelsen forthcoming) that occur in relation to sounding radio. Among the metaphorical spaces I have mentioned two social spaces, the home and public social space. Here, my use of ‹social space› is based on Jody Berland’s assumption that «social processes cannot be understood outside of space» (1990: 186), and it refers to dynamic, more or less partial and distinct communities regulated through negotiations and power struggles unfolding in more or less well-defined physical or virtual places/spaces. In order to understand how radio has contributed to the articulation of social spaces I have elsewhere (Michelsen 2016a) suggested regarding radio in the home as ‹radio hereness›, as radio close by either for use in identity work, for radio programming’s structuring of the family and its gender and age relations in private places, or the auditive structuring of the home. For (larger) social spaces I suggest ‹radio thereness› to refer to radio’s ordering and reordering of public spaces; for example, the political scene, the nation, and, internationally, the likes of the United Nations’ discourse on international collaboration. To grasp the mediations between the two (ideally between place and space), I suggest the term ‹radio in between›. It points to radio combining places and spaces by making the public private and vice versa.1 This tripartite division supports the inherent dynamics of what is close by and what is far away and the constant – and often imaginary – mediation between place and space by way of radio. Some of the cultural practices taking place around radio are concerned with listening. In her recent book, Listening Publics: The Politics and Experience of Listening in the Media Age (2013), Kate Lacey analyses the modernization of listening as radio came of age. Her point of departure is that listening is not passive but active and that the passive/active dichotomy has been treated far too simply and is, indeed, problematic. Her example is that hearing and listening are considered passive and active respectively, while listening is considered passive in relation to other activities. Instead, she posits «listening as a public act [and] as a
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By calling on the space/place conceptual dyad I intend to qualify further smaller and larger social spaces. Often, ‹radio hereness› may attain the qualities of place, while ‹radio thereness› can often be characterized as space. As a conceptual dyad, space and place are not dichotomously ordered. Instead, it names a continuum from place to space, which might be understood along the lines of trajectories from, say, the more concrete to the more abstract, from the stable to the mobile, from the affective to the non-affective, from what is close by to what is faraway (see Augé 1992/1995). A precise border between the two cannot be established. It is dependent on researchers’ actual analytical projects and perspectives. ‹Radio in-between› will often highlight the trajectories and relations between place and space.
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communicative activity» (2013: 5) and she continues by discussing different modes of listening: «‹to listen› is both an intransitive and a transitive verb. In other words, it is possible to listen without necessarily listening to anything. Listening can therefore be understood as being in a state of anticipation, of listening out for something. The listening public is in this sense an always latent public, attentive but undetermined.» (Lacey 2013: 7)
Contrary to most, Lacey considers the listening public a parallel to the reading public. Both are potentially critical and definitely not passive. Listening out is complemented by listening in, meaning listening to something. At a definitional and analytical level she states that listening out is «an attentive and anticipatory communicative disposition» while listening in is «a receptive and mediatized communicative action» (ibid.: 8). In a recent text on music, sound, and space, Georgina Born has noticed a specific trait concerning the historical development of the technologies making transphonia (mechanically and electro-acoustically relocated sounds, see Uimonen 2013: 33) possible (telephone, gramophone, and radio), namely that they are «both interiorising, in the domestic provenance of early sound media and the intercorporeal, prosthetic uses of telephony, and exteriorising, in those media oriented more to engendering collective forms of life and work» (Born 2013: 3). The thennew technologies made possible a new sensation of privacy and intimacy when, say, the telephone aided the transmission of a speaker’s articulatory sounds to the listener’s inner ear and, at the same time, it became possible to transport music to public places like the factory using gramophone or radio. Born continues by arguing for three distinct lines in music/sound/space research. The first is concerned with space in (art) music as it appears in a (more or less metaphorical) pitch space. The second springs from multichannel recording studios and is mainly based on the illusory space created by the stereo signal, but also on a wealth of outboard devices like digital delays. By now, research in both traditions is well established. The third one has developed around sound art and electronic music. In this tradition, conceptions of space reach beyond the actual sounds as delimited objects in order to also investigate the space in which the sound sounds, and, to some extent, determines the sound. Summing up these three, Born writes that: «[…] in all three lineages of cognising spatiality in music and sound […] space is regarded as an element of the creative imagination and as an artefact of musical and artistic practice: space is both produced and transformed. But only in the third lineage is the ineluctably
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social nature of these processes to the fore; space is conceived as multiple and constellatory, as mediated and mediating.» (Born 2013: 20; italics in the original)
In the following I will draw on all three lineages, but I have a special interest in how the actual sounds and musics are intertwined with the articulation of related social spaces. In doing this, I will relate to the complex nature of space (and place) that Born highlights: space is never something in itself but is always constellatory and multiple (e.g., representations of social and physical spaces intermingle constantly) and it is mediated and mediating.
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CLOSING :
FM,
THE NATIONAL , AND SOUND QUALITY
Characteristic to ‹radio hereness› is an inward movement, a tendency towards closure around the point of audition of the individual or larger or smaller social groups, resulting in a temporary re-ordering of place. Radio might be a help at several levels with regard to identity work, to construct temporary or more stable selves and groupings, to erect fences and lay out border areas which control the admission to persons or groups, and, of course, to help in pinpointing the Other beyond the confines. Radio’s contribution to cultural and societal closing may be related to the development and consolidation of the middle classes, especially in the psycho-social construction of the nuclear family in its home. By sounding in peoples’ rooms, it helped define and support the family, the gender, and the age structure, for example in the daily programme schedules. It became part of new strategies of listening, as you needed to decide what to listen for and what not to listen for in the potentially continuous stream of sound. As furniture and commodity, radio was important, and it helped define the spatial qualities of the family rooms. In apartments, radios could also help territorialize it by erecting a sound screen against adjacent apartments and their noises. Radio made possible much more intensive constructions of imaginary communities at a national level than earlier media had (Hilmes 1997: 11–23; Western 2015). This was a double process. Radio sounds reached out towards all inhabitants regardless of where they lived, but they also established a clearer centre/ periphery structure at a national level and more definite borders between countries than heretofore. Such borders became defined through sounding culture (music, speech) and less by geographical points. This I will demonstrate with two examples: FM’s suspension of radio contact beyond national borders, and FM and other radio industry technologies' contributions to better sound quality.
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In Europe, FM slowly took over from AM as the preferred way of broadcasting in the 1950s. In 1948 the allies and other European countries sat down in Copenhagen to decide on a new distribution of the European radio frequencies. The result was the European Broadcasting Convention that left Germany practically without any radio frequencies in the AM area. As a consequence, Germany became the first country to turn to FM. Several countries followed suit soon after, and in 1955 the BBC entered the FM bandwidth with three national channels. Using FM had two huge consequences: the reach of the radio signal became shorter; and the sound quality got better. The shorter reach changed listening practices around Europe. Earlier on, the radio scale display had ordered known and unknown places in Europe in curious ways, either along a continuous scale or in a circle. Each place sounded via its radio signals and, depending on time and weather, listeners all over Europe could listen in on these strange sounds. With FM, the effect of state monopolies on the spreading of radio signals became more evident. You could still find plenty of broadcasts on the medium and short wave bands but, as convenience has always been important, most listeners, having tuned into the FM band, stayed there, thus limiting their choice. In this way, FM contributed to the closing of international radio space. Radio became even more an exclusive, national phenomenon than before the Second World War, when ideologies of nationalism and internationalism could coexist without any problems (Michelsen 2016b; Western 2015). The second FM consequence, better sound quality, must be seen in connection with the rapid developments in radio equipment production that also had better sound as a major element in the competition. Not least because of its status as Europe’s largest radio equipment producer in the 1950s, the German radio company Grundig is an obvious place to look for articulations of the discourse on commercial radio technology and its uses. In a catalogue from 1953, the company mentions the conflation of FM and radio technology: «UKW, die Welle der Freude – 1949 in Deutschland eingeführt – sichert einen praktisch störungsfreien Empfang und bringt neben den Darbietungen auf den übrigen Wellenbereichen zusätzlich ein weiteres Programm in einer Tonqualität, die Sie bisher nicht für möglich gehalten hätten.» (Grundig 1953)
Also, notions belonging to the hi-fi discourse, which reached full bloom a couple of years later, popped up, for example in the phrases: «Musik wie sie wirklich ist» and «die allerletzten Nuancen der Klangvollkommenheit» (Grundig 1953). The goal was to render mediation transparent despite the fact that the equipment was a costly commodity and status symbol.
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Figure 1: The front page of a Grundig brochure presenting the 1955/56 collection including the new 3D system and the remote conductor for radios.2
Perfection was a major Grundig buzz-word, and what was perfected was the sound. Perfected sound was mainly relevant to music listening, as the names of the two production series indicated. The 1956 models came in two main series, the music model (Musikgerät) and the concert model (Konzertgerät) – in the world of Grundig, radio equalled music listening. As shown in figure 1, you could adjust
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I would like to thank Mr. Ingo Pötschke from the GFGF archive in Hainichen who has made the Grundig pictures available to me.
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or perfect the sound using either the knobs on the radio panel in the background or the new Grundig Fern-Dirigent (remote conductor) whose presets included 3D, language, orchestra, solo, and jazz. The more expensive radio sets contained five separate speakers, and Grundig also launched a 3D sound that resulted in a «wohltuend plastische Klangfülle». The consequence was – again according to Grundig – that the sound reproduction changed from ‹directed› to ‹spatial›,3 thus enveloping the listener in a 1950s edition of surround sound that caressed rather than addressed you. It was a sound that was a part of the interior decoration rather than a sound agent in the living room.
Figure 2: The front page of a 1953 Grundig radio brochure.
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«Die ungewöhnlich gute Wiedergabequalität erhielt durch die Einführung der 3-DTechnik eine wohltuend plastische Klangfülle», and «Aus der ‹gerichteten› Rundfunkwiedergabe eine ‹räumliche› geworden» (Grundig 1957). The first Grundig stereo radios came on the market in 1960. They did not become successes as there were no stereo radio signals. Thus, the stereo sound experience had to wait for a few years.
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1950s’ listening situations are depicted in several pictures and drawings in Grundig sales folders and advertisements. Many of the pictures depict solitary, introverted women juxtaposed with a receiver (see figure 2). This juxtaposition suggests that she is listening intently to the sounds emanating from the radio. The text «Vollendet bis ins Letzte» is a comment on the technology and perhaps also on the listening experience because of its place between woman and apparatus. Others, as in figure 3, have solitary women listening in the confines of their living rooms. Here, the woman looks at the remote conductor she is holding in her hand. The remote is simpler than one pictured from 1955/56. The separate loudspeaker placed on the table next to the radio contributes to the 3D sound. Each in their own way, Grundig’s technology, discourse, and pictures all point to the luxury of listening silently at home. In many of the sales folders the pictorial representation of listening is feminized and solitary. Before the Second World War radio was described as the hearth around which the family gathered. Apparently, radio listening had become more intimate, but whether listening is concentrated or if the radio sounds afford reverie is impossible to decide. FM (and a number of technologies, including better receivers) contributed to the consolidation of the middle class family home by pointing to sound as a specific and luxurious quality that will fill your rooms. Because of the quality, it is not aggressively loud; rather, it is embracing. This becomes one part of the new middle classes’ way of dealing with their new homes in the suburbs. Becoming conscious of sound, sound becomes part of what living in a detached house is about and thus a signifier of the individuality of the middle class family and its members and an aid to negotiating changed identities. All this may be partly real and partly imagined by the figure of the consumer appearing at that time. The imaginative part can be seen in the public image of the equipment. This is, of course, only one discourse on one practice. A somewhat parallel, solitary listening situation developed in Europe as car radios became popular, while advertising discourse on the transportable transistor radios stressed youth and sociality. Also, radio used for background listening, as the 3D push buttons on the Grundig «FernDirigent» makes possible, would probably continue as the most widespread way of listening.
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Figure 3: The front page of the Grundig 1956 catalogue presenting the whole line of radio, tape recorders, transistors, and televisions. The following year television became the main attraction and thus a front page motive.
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OPENING : WORLDS OF MUSIC
‹Radio thereness›, on the other hand, describes an outwards movement, a tendency of opening up towards the world, be it other sounds, other people, or other spaces – a temporary ordering of space from the perspective of your favourite listening armchair. Again, it relates to individual or collective identity work, but also to the curiosity of humans and the need to reshuffle boundaries by contacting and letting in the Other in some form or other. Radio also functioned as an ear towards the
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world outside of the home; it opened up towards, and structured, imagined communities at national and international levels. One way of doing this was, of course, to tell stories from faraway places. More important, though, were the transmissions; actual, real-time reports from what went on in the same faraway places. According to some contemporary listeners this was radio’s raison d’être (Michelsen forthcoming). Before radio caught on as a mass medium proper, the whole idea of amateur radio had been to get into contact with people far away. Amateurs roamed the airwaves trying to catch signals from other amateurs. If lucky, the meetings in space were documented by the exchange of so-called QSL cards stating that the one had indeed listened to the other. This was originally a radio amateur practice and as broadcasting became normal in the 1920s commercial stations answered such requests as well (Taylor et al. 2012: 240). While this exploratory spirit was to some extent retained by mass radio, it also became subsumed under the idea of education. That is, that the broadcasting corporations provided knowledge about places far away. Books, of course, had done this for centuries. What was new was the sound of places far away. In this way, distant places came closer, and, depending on the concrete situations, either lost or gained in allure. What interests me here is how the two, speech and music, were combined with other kinds of sound in order to give more nuanced and affective impressions of the world, especially the world outside Europe. In the 1950s, BBC broadcasts on African music made it possible for at least some listeners (if they wanted, were awake after 10 pm, and listened to the Third Programme) to receive a more complex notion of what Africa was about. It was an Africa whose music was different from, but on a par with, European music, an Africa whose music had both an old and a contemporary tradition, and an Africa where music and context were hard to separate. This Africa was presented to British and European listeners by way of sound and no longer only through spoken and written narratives. And it was a documentary sound, not the imaginary sound of Africa heard through a symphony orchestra. The many field recordings set in motion a new imaginary where you heard a specific music recorded in a specific and sometimes named place. Apparently, most of these broadcasts were governed by scientific (and ‹objective›) thinking underlining the documentary aspect and thus moving the sound of Africa away from the exotic imaginary towards concise knowledge, taking away (some of) the mystery of the ‹Dark Continent›. In this way, sound and music contributed to the notion of the imagined community of empire, by bringing colonies and commonwealth members into your living room, while at the same time disassembling the notion of empire by dividing it up into singular countries each with their characteristics.
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In the Danish radio archive there is a surviving broadcast using speech, interviews, and on-location recordings of music and soundscapes.4 The broadcast was part of a series called African Voices. The subtitle of the actual broadcast was «A Village and a High School in Africa». It was aired on May 19, 1958. The content might be summed up like this (the time slots not mentioned are filled out by the speaker alone): 00:00 – 01:06 Speaker 01:06 – 02:08 Drums and voices of villagers 02:08 – 03:06 As before plus voiceover (speaker) 03:46 – 10:44 Interview with local Dane (leader of high school) 11:11 – 12:44 Music 12:44 – 14:45 Choir of village elders 15:04 – 17:15 Drums, solo singing and choir plus voiceover (speaker) 18:15 – 20:00 Interview with village dweller 20:20 – 21:09 The chief’s public speech (in Swahili and translated by someone into English) 22:20 – 24:45 The chief thanks Denmark for economic support for the high school 24:45 – 28:20 Interview with local Dane (leader of high school) 28:20 – 28:50 Solo song, choir 29:10 – 29:40 Three part choir 30:48 – 35:30 Interview with a Danish family in Denmark going to the village 36:10 – 36:42 Choir (Danish National Radio 1958)
The broadcast has seven different spaces or sound stages: the speaker alone; the speaker and the high school leader; speaker and village dweller; speaker, chief, and translator; speaker and Danish family; music situations; and chief and local translator. The anchor, or the speaker’s space, can be interpreted to represent the ‹home› of the broadcast. It is a traditional radio-institutional voice with hardly any reverberation. As the space without connotations it is the objective voice, the panoptical centre of the broadcast. It is not just the voice of journalist Jørgen VedelPetersen (well-known to generations of Danish listeners), it is also the voice of the institution – all in all, the paternal voice in a non-marked space where knowledge and overview reside. The space in which he talks with the high school leader (an-
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In the BBC Genome archive (http://genome.ch.bbc.co.uk/) there is only one radio broadcast from the period in question dealing with Africa. It only contains interviews which means that sound-wise it is not that interesting here.
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other person of knowledge) has nearly the same characteristics, while the interviews with the chief (speaking in his own language) and the village inhabitant has background noise from the village. These interviews move us towards the most foreign space, that of African music. In this way, we, as listeners, move between well-known and little-known spaces. The surprise comes when we suddenly listen to a Danish family in Denmark. They speak in a local Danish dialect and there is some background noise. In this way they are marked as different from the speaker, not as knowledgeable. And even more surprisingly, the broadcast ends by taking us back to the village – an opening towards Africa. Spatially and narratively it is quite an interesting composition. It establishes power in a conventional way, but the way it moves between positions in Africa and between Africa and Denmark is quite fascinating. There is movement through geographical space, from out there to back home, with a short coda. Also, the amount of music used exceeds the common use of music as filler or arousal. There is time to get used to the foreign sounds. It makes the unknown at least a bit known through repetition. The village soundscape turns the abstract and general space of Africa into a place, not so much by naming but mainly by sounding it. The establishment of place in conjunction with interviews with people inhabiting the place (though conducted in English) affords a relationship between the (Danish) listener and the Africans. It is made concrete, even if it is fragile and temporary. In the series, Vedel-Petersen uses on-location recordings of soundscapes and music to different extents. Nevertheless, repetition also works at a series level as the establishing of a series of sounding relationships with people from different cities and villages in Africa. Thus, presumably, creating a possibility for international understanding.
I N BETWEEN :
MIDAIR MEETINGS
Radio brought about meetings of different acoustic spaces. One type was the simultaneous meeting of the listening environments and the spaces as represented by the broadcasts. Another was the sequential combination of spaces that might be quite disparate. The disparity might be defined acoustically as different sound stages or they might be defined at an imaginary level, going from the sound world of one city to that of another. The category ‹radio in between› is suggested in order to point to the many trajectories between place and space which radio affords, that is, movements between closing and opening, between being deeply involved and being at a distance, in more or less complex patterns. Radio both establishes and
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mediates between these two positions. Music may affect the same listeners’ movement between opening and closing. Identity work might be deeply personal, but it takes place in a context. The middle class family member is still also a citizen, and radio supports both ways of socialization via public service radio’s obligations to educate and entertain. Although these two obligations are seen as a dichotomy by many, radio has questioned it by integrating the two functions and thus pointing towards the ideal middle class citizen in whose world the categories of education and entertainment are hardly ever mutually exclusive. In this sense, ‹radio in between› is both a movement and a position between the two positions. In a field, across which movement between opening and closing takes place, radio mediates between place and space, between here and there, between local and global, between now and then, producers and listeners, and between the private and the public. In the context of this article it also mediates between two very different radio milieus – say, the middle class home and the African Village – not in a one-to-one exchange but an exchange that is partial and incomplete. Radio mediates between place and space in many ways but mainly in trajectories from one to the other. Radio names and concretizes space, turning it into specific places with certain qualities demonstrated by sound (the microphone in the street or the postcard piece of music) and by narrative. On the other hand, places may dissolve into space as they become generalized. In the Africa broadcast on Danish radio, the sound of the African village is a concretization of Africa and a token for the whole idea of Africa. In all this mediation, one could ask if the category of ‹in-between› consists of more than just trajectories or if there might be some kind of stability in that position as well. I would argue that there is: that transmissions from events to broadcasting houses and on to listeners may establish mid-air meetings between sender and receiver, so to speak. A good example would be broadcasts in the genre of variety. The variety broadcast consists of a series of unrelated items put together by the producer – a little something for each taste that results in an extremely varied sound palette. A specific broadcast, the Danish Broadcasting Corporation’s Let Lørdag (Saturday Light) from 6 August 1955, consisted of the following types of sound stages: music in the studio; talk (interviews) in the studio; street noise recording for background; several music recordings on tape and record; live recordings from stage shows; and a montage. All in all, throughout the 60 minutes there are 27 separate items. The many divergent sound stages constitute a pastime produced in a new way for non-concentrated listening. Several steps had led to the radiogenic forming of this listening mode: programme hosts speaking between records and the non-stop
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music broadcasts, for instance. But, thanks in part to the new technology, the constant stream of music was interrupted as the constant change of topics debated on very different sound stages created a pell-mell of information and sound, intruding not in an irritating manner, but as a constant flicker of sound not being internalized and yet not belonging to the world out there. Basically, radio blurs the borders between close and faraway, between private and public, and sometimes establishes positions in between; positions defined by their lack of specificity and, perhaps, lack of commitment.
C ONCLUSION The tri-partite structure of radio ‹hereness›, ‹between here and there›, and ‹thereness› covers a trajectory from radio as part of personal and family life, typically in the home, over radio as a mediator between the local and personal on the one hand and the global and public on the other, towards radio as a structuring of the world out there, be it just outside your house or international politics. By introducing this structure, I have sought to address and explicate the interiorising and exteriorising tendencies in mass media technologies mentioned by Born. My conceptual triad is intended to traverse the same thematic field, and a dialectic between interiorising and exteriorising seems to be especially true for radio, as it may help listeners construct intimate spaces of ‹hereness› adjacent to the shared ones of ‹thereness›. The structure is conceived of as places and/or spaces for several reasons. First, because matters of geography are important to the mass medium (and vice versa); second, because space and spatiality are apt metaphors for other types of structuring, in this case, the social; third, because sound and music production in radio and in general become intertwined with the social and political in places and spaces, be they concrete or abstract. It is important to note that the three spaces might very well overlap, either because different listeners understand the situation differently or because one situation might suddenly turn into another.
(This article is based on Michelsen 2016a and Michelsen forthcoming.)
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R EFERENCES Archival sources Archiv der Gesellschaft der Freunde der Geschichte des Funkwesens e.V. - Grundig (1953): Vollendet bis ins Letzte [brochure]. N.c.: Grundig. Accessible at http://www.hifimuseum.de/1953-grundig-radios.html, Jan. 8, 2016. - Grundig (1955/56): Grundig 3-D-Revue [catalogue]. N.c.: Grundig. - Grundig (1956): Grundig Hi-Fi-Wunschklang-Serie [catalogue]. N.c.: Grundig. - Grundig (1957): Grundig Prospekt 1957 [catalogue]. N.c.: Grundig. Accessible at http://www.hifimuseum.de/1957-grundig-radios.html, Jan. 8, 2016. The BBC Genome archive, http://genome.ch.bbc.co.uk/, 16 June 2017.
Radio Programmes Danish National Radio (1958): En landsby og en højskole i Afrika [A Village and a High School in Africa], by Jørgen Vedel-Petersen. Broadcast May 19, 1958, Programme 2: 19:35–20:15. Source: www.larm.fm, June 16, 2017. Danish National Radio (1955): Let lørdag [Saturday Light], Anon., Broadcast August 6, 1955, Programme 1: 21:00–22:00. Source: www.larm.fm, June 16, 2017.
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Radio und Sound
Sounds like Hamburg … Hamburg-Klänge und mediatisierte Raumkonstruktionen in der Frühzeit des Radios H ANS -U LRICH W AGNER
K OMMUNIKATIVE K ONSTRUKTION VON R ÄUMEN Medien spielen eine entscheidende Rolle für die permanente Konstruktion von Räumen, für andauernde Prozesse der Bildung von raum-bezogenen Zugehörigkeiten und Identitäten, kurz von imagined communities. Damit gehen Forschungsfragen einher, die in einem Projekt gestellt werden, das Teil einer transdisziplinär angelegten Initiative an den beiden Universitäten Bremen und Hamburg ist und mit dem Konzept «kommunikative Figurationen» arbeitet.1 Mit dem heuristischen Konzept der kommunikativen Figurationen eint die beteiligten Kolleginnen und Kollegen ein Modell, das medienübergreifende Muster der wechselseitigen Verflechtung von Menschen durch Praktiken der Kommunikation untersucht (vgl. Hepp 2013; Hepp/Hasebrink 2013). Zentrale Elemente des Konzepts der kommunikativen Figurationen sind die Akteurskonstellation, der Relevanzrahmen und die kommunikativen Praktiken. Mit der Akteurskonstellation rückt das Netzwerk von miteinander kommunizierenden Individuen in den Blick. Die Konstellation der über unterschiedliche Machtpositionen verfügenden Akteure bildet die strukturelle Basis. Mit dem dominanten Relevanzrahmen wird gleichsam das Thema untersucht, das handlungsleitend für die Akteure ist und mit Hilfe dessen sich die zu untersuchende soziale Domäne definiert. In diesem Fall ist das die Medienstadt
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Zum Forschungsverbund Kommunikative Figurationen vgl. http://www.kommunika tive-figurationen.de (1.7.2017).
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Hamburg, begriffen als ein Raum, der durch kommunikative Bezugnahmen immer wieder neu hergestellt und verhandelt wird. Schließlich werden im Konzept der kommunikativen Figurationen jene sozialen Praktiken analysiert, die mit dem Medienensemble verbunden sind. Mit seinem Konzept von Medienumgebung und Medienensembles unternimmt der Forschungsverbund «Kommunikative Figurationen» einen Vorstoß, gesellschaftliche und mediale Wandlungen nicht mehr in Bezug auf einzelne Medien zu analysieren. Unter Medienumgebung wird die Gesamtheit aller Medien verstanden, die zu einer bestimmten Zeit in einer Gesellschaft zur Verfügung steht. Die Medienensembles sind eine Teilmenge davon, die alle Medien umfasst, die von einer bestimmten sozialen Domäne genutzt werden – in diesem Fall in der Medienmetropole Hamburg vorhanden sind und von den Akteuren verwendet werden. Dieser Ansatz, nicht mehr nur von Einzelmedien her zu denken, ist speziell für die Kommunikations- und Mediengeschichte besonders anregend. Im Forschungsverbund beschäftige ich mich als Medienhistoriker mit dem historischen Wandel und arbeite zu Raumkonstruktionen durch Medien, zu Raumvorstellungen, zu vorgestellten Zusammengehörigkeiten (collectivities) bzw. zu imagined communities im langen Zeitraum der analogen Medien.2 Forschungspragmatisch wird diese Zeitspanne von Anfang der 1920er Jahre bis etwa Mitte der 1970er Jahre angesetzt. Die konkreten Untersuchungsgegenstände, die sogenannten sozialen Domänen, sind die Medienmetropolen Hamburg und Leipzig. Inge Marszolek hatte – zusammen mit Yvonne Robel – das Konzept der kommunikativen Figurationen auf medienvermittelte Raum-Konstruktionen in der Vergangenheit angewandt und speziell die Beziehung von «global connections» und «specific locality» untersucht (Marszolek/Robel 2016: 4). Ihre Studie widmete sich dabei vor allem den 1950er Jahren und galt den durch den Kalten Krieg asymmetrisch verflochtenen raumbezogenen Konstruktionsprozessen anhand von Visualisierungen in Hamburg und in Leipzig. Die hier vorliegende Studie entstand im selben Arbeitszusammenhang, doch fokussiert sie einen enger gefassten Zeitraum, die Jahre um 1930, und beschränkt sich auf einen Ort, nämlich Hamburg. Jedoch rückt sie erstmalig die Dimension des Sounds in den Mittelpunkt und wählt ein sonisches Beispiel aus der frühen Radiogeschichte, in dem Raumrepräsentationen entworfen und Raumvorstellungen verhandelt werden.
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Das Arbeitsprojekt leitete ich zusammen mit meiner Bremer Kollegin Inge Marszolek, die im August 2016 nach kurzer Krankheit verstarb.
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S OUND UND K OMMUNIKATIONSPROZESSE IN DER V ERGANGENHEIT Insofern ist der Beitrag auch Teil des rasant wachsenden Forschungsfeldes der Sound Studies bzw. der Sound History (Smith 2004; Morat 2011b; Müller 2011; Paul/Schock 2013). Innerhalb der inzwischen vielfältigen Richtungen verortet sich die vorliegende Studie explizit dort, wo kommunikationsgeschichtliche Perspektiven eingenommen werden und so Fragen der Zeitgeschichtsforschung mit Bezug auf massenmediale Verhandlungen neu gestellt werden (Morat 2011a). Konkret heißt das, dass Tondokumente in einem Zusammenhang mit Kommunikationsprozessen in der Vergangenheit (vgl. Lindenberger 2004) bzw. mit kommunikativen Praktiken untersucht werden (vgl. Depkat 2003). Für die Fragestellung nach Raumkonstruktionen ist der Ausgangspunkt ein historisches Radio-Dokument von 1931. Damit gerät zwar das neue, seit der zweiten Hälfte der 1920er Jahre sich institutionalisierende Medium Rundfunk sowie dessen Positionierung in der Medienumgebung dieser Zeit in den Blick. Doch handelt es sich bei historischen Radio-Dokumenten mitnichten um ‹originale› oder gar ‹authentische› Töne, sondern um Klangereignisse, die hochgradig konstruiert sind, also von verschiedenen Akteuren produziert, gespeichert und distribuiert wurden und von einem zeitgenössischen Publikum wahrgenommen wurden (Wagner 2011). Dazu kommen vielfältige Archivierungsprozesse, die es uns – in diesem Fall mehr als 85 Jahre später – überhaupt erst ermöglichen, die Kopie der Kopie der Kopie dieser damaligen Aufzeichnung anzuhören. Die historische «Hamburg»-Aufnahme ist also als ein singuläres sonisches Dokument zu verstehen, als ein einzelner medialer ‹Text›, der in einem damaligen Kommunikationsprozess entstanden ist und wahrgenommen wurde. In diesem Fall ist die Schallplattenaufnahme sofort als ein sogenannter staged sound zu begreifen. Karin Bijsterveld führte diesen Begriff im Zusammenhang mit ihrem Forschungsprojekt Soundscapes of the Urban Past ein und fragte, «how these urban sounds have been staged in texts, radio plays and film productions in the long twentieth century» (2013: 14). Im vorliegenden Fall wurden die Sounds von Hamburg und vom Hamburger Hafen hochgradig gestaltet und auf einer Schallplatte gespeichert. Insofern ist diese eine Aufnahme ein Moment aus vielfältigen Kommunikationsprozessen, die von Räumen handeln, Repräsentationen von Räumen entwerfen und Raumvorstellungen verhandeln. Den so miteinander verflochtenen Elementen gilt heuristisch die Aufmerksamkeit. Mithilfe methodisch reflektierter Schritte soll ein weiterführender Beitrag zur historischen Raumforschung geleistet werden. Im Zentrum meiner Forschungsarbeit stehen zunächst einmal spatial stories, also «Quellen, die uns
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Zugang zu den räumlichen Praktiken der historischen Subjekte gewähren» (Rau 2013: 178), mediale Dokumente der Repräsentation von Räumen, also nicht reale Gemeinschaften selbst, etwa in Form von interpretive communities, auditiven Medienkulturen oder pioneer groups. Diskursanalytisch handelt es sich demzufolge jeweils um eine «Äußerung», also das «konkrete, für sich genommen je einmalige und unwiederholbare Zeichen- und Kommunikationsereignis» (Keller 2016: 66). Für die vorliegende Studie werden diese Perspektiven zusammengebracht und es wird nach dem speziellen Stellenwert von Klängen, von Sounds gefragt, wenn Medien Raumvorstellungen konstruieren und vermitteln. 3 Konkret bedeutet dies, die folgenden Fragen anzugehen: Welche (typischen) Klangvorstellungen von Hamburg wurden im neuen Medium Radio (neu) verhandelt – Klangvorstellungen, die Identitäten und Vergemeinschaftungen bilden sollten? Wie und in welchen Kontexten entstanden solche Klangvorstellungen von Hamburg, von der weltoffenen Hafenstadt? Wer war an diesen Konstruktionen, an diesen Aushandlungsprozessen beteiligt? – Das damit verbundene Ziel ist, einen Beitrag zu leisten zum Thema, wie Sound-Dokumente in die Analyse von mediatisierten raumbezogenen Identitätsbildungsprozessen einbezogen werden können.
F ALLBEISPIEL : E INE W ERBEPLATTE FÜR DAS H AMBURGER H AFENKONZERT AUS DEM J AHR 1931 Im Folgenden soll ein historisches Sound-Dokument modellhaft analysiert werden. Dies geschieht in vier Schritten.4 Zunächst wird das Tondokument vorgestellt, die vorhandenen formalen Daten wiedergegeben, und eine erste quellenkritische Überprüfung vorgenommen. In einem zweiten Schritt wird das Tondokument in Zusammenhang mit der zeitgenössischen Medienumgebung und dem Medienensemble gebracht. Des Weiteren zeigt eine Analyse der Medialität die medialen Grundlagen der semiotischen Potentiale auf. Abschließend erfolgt eine Analyse des sonischen Ereignisses. Ausgangspunkt ist hier die Frage, wie Bedeutungen in dem vorliegenden performativen Klangereignis generiert werden.
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Zur klingenden Konstruktion von ‹Swissness› vgl. Gutsche/Oehme-Jüngling (2014).
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Für die Analyse von Tondokumenten gibt es kein verbindliches Vorgehen. Selten genug wird in der Literatur überhaupt darauf Bezug genommen, wie unlängst von Morat und Blanck (2015), die ein fünfstufiges Verfahren vorschlagen (s. speziell 722–725). Das von mir angewendete Verfahren lehnt sich mitunter an Morat und Blanck an, weicht aber auch von deren Schritten ab bzw. erweitert diese.
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1. Schritt: Beschreibung und Validierung der äußeren Struktur Das konkrete Tondokument ist ein Audiofile der Länge 4 Minuten 51 Sekunden (Mono-Aufnahme), das im Schallarchiv des Norddeutschen Rundfunks unter der Archivnummer F803955 gespeichert ist. Erfasst ist es als «Hamburger Hafenkonzert. Werbeplatte für die Funk- und Phonoausstellung 1931 in Berlin». Es wurde der Forschungsstelle Mediengeschichte als digitale Kopie zur Verfügung gestellt. 5 Mit diesem digitalisierten Tondokument sind die folgenden Datenbank-Angaben verknüpft: Es handelt sich um den Umschnitt einer Platte der Reichs-RundfunkGesellschaft (RRG) mit der Signatur «Hmb. 88», die zunächst 1975 auf Magnetofonband umkopiert wurde, 2002 wurde ein Digitalisat hergestellt. Als «Produktionsanfang» vermerkt der Datenbankeintrag den 28. Juli 1931, als «Aufnahmeort» gibt er «Hamburg (Hafen)» an. Als Mitwirkende der Aufnahmen werden genannt: Kurt Esmarch als Leiter des Hafenkonzerts; als Solist Gerhard Gregor an der Orgel; als Orchester die Kapelle der Ordnungspolizei Hamburg, das kleine NORAG-Orchester, das Orchester Matrosenkapelle (Schifferklavier, Schiffergeige, Ziehharmonika, Mandoline, Teufelsgeige); als Chor-Dirigenten Wilhelm Schierhorn (Obermusikmeister) und Fritz Gartz. Alle Angaben, so ist zu vermuten, waren auf der originalen Platte vermerkt und wurden von dem/der Dokumentar/in so übernommen. Die originale Platte, vermutlich eine Decelith-Folie, ist nicht mehr erhalten. Ein Katalog der RRG liefert den Nachweis, dass diese Aufnahme für die Funkausstellung 1931 in Berlin produziert wurde – zusammen mit weiteren Aufnahmen, beispielsweise zur Eröffnung des Ostseejahres in Travemünde und Lübeck, zu Hagenbecks Tierpark und zum Stapellauf des Panzerkreuzes A «Deutschland» (Schallaufnahmen der Reichs-Rundfunk G.m.b.H. 1936: 193ff.). Die Produktion einer sogenannten «Werbeplatte» erscheint naheliegend, wenn man sich vergegenwärtigt, dass vom 21. bis 30. August 1931 die 8. Große Deutsche Funkausstellung und Phonoschau in Berlin stattfand. Wie in jedem Jahr wurden auch auf dieser Leistungsschau des Rundfunks und der Schallplattenindustrie zahlreiche funkund phonotechnische Innovationen vorgestellt, und die Sendegesellschaften nutzten das Branchentreffen auf dem Berliner Messegelände unter dem Funkturm, um sich zu präsentieren. Speziell 1931 gab es eine «Deutschland-Ausstellung» der RRG, eine Sonderschau im Obergeschoss der alten Funkhalle, zu der jede regionale Sendegesellschaft einen Hör- und einen Ausstellungsraum beisteuerte. Die Nordische Rundfunk AG (NORAG), so heißt es im Offiziellen Katalog der Großen
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Ein besonderer Dank gilt Herrn Alexander Eisenreich, Leiter des NDR-Schallarchivs, und Frau Jutta Kröger, Leiterin der NDR-Wortdokumentation, für ihre freundliche Unterstützung.
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Deutschen Funkausstellung und Phonoschau, präsentierte sich mit einem Schallplattenquerschnitt, einem Modell des neuen Funkhauses sowie einem weiteren Modell, zu dem ausgeführt wird: «Die häufig veranstalteten Konzerte aus dem Hamburger Hafen, die von fast allen deutschen Sendern übernommen werden, werden ebenfalls in Form eines großen Modells behandelt» (Funkalmanach 1931: 60). Es besteht also die begründete Möglichkeit, dass das vorliegende Tondokument im Juli 1931 für diesen Hör- und Ausstellungsraum der NORAG produziert und im August 1931 während der Berliner Funkausstellung verwendet wurde. 2. Schritt: Im Kontext der Medienumgebung und des Medienensembles Das beschriebene und quellenkritisch überprüfte Tondokument wird in einem zweiten Schritt kontextualisiert. Die Schallplattenaufnahme der norddeutschen Sendegesellschaft aus dem Jahr 1931 führt zum einen zur Frage nach der Rolle des neuen Mediums Radio in der Medienumgebung der ausgehenden 1920er und beginnenden 1930er Jahre; zum anderen gilt es, das Medienensemble der Stadt Hamburg um 1930 zu beleuchten. Zunächst zur Medienumgebung: Der Rundfunk als Programmmedium trat 1923/24 einen Siegeszug im Deutschen Reich an. Nach und nach wurden in den großen deutschen Städten regionale Sendegesellschaften gegründet. Im Mai 1924 ging die NORAG in Hamburg an den Start. Die Zahl der angemeldeten und somit zahlenden Hörer kletterte bis 1930 rasant an; 1931 gab es eine Stagnation, gefolgt von Sparmaßnahmen und Personalabbau bei der NORAG. Bis zu diesem Zeitpunkt positionierte sich das neue Medium als vielseitiger Akteur in der Medienumgebung nach dem Ersten Weltkrieg, als informatives und belehrendes sowie als attraktives in vielfältiger Weise unterhaltendes Medium. Viele der ersten leitenden Rundfunkmitarbeiter wurden von der Tagespresse rekrutiert. Eine neue Angebotsform in der Presselandschaft entwickelten Rundfunk und Verlage mit den Rundfunkzeitschriften. Das neue Medium Radio bediente sich einer sehr modernen Presse- und Öffentlichkeitsarbeit und vermittelte die Leistungen des neuen Mediums u.a. in Broschüren, Jahrbüchern und öffentlichen Auftritten. Die neuen Rundfunkgebäude um 1930 prägten mit ihrer Architektur das Stadtbild und verkörperten den Erfolg des neuen Mediums. Mit den bestehenden Kultureinrichtungen – den Theatern, der Oper, den Orchestern, den Literatur- und Kulturvereinen – ging der Rundfunk Verträge ein, unterhielt Kooperationen und hatte gemeinsame Veranstaltungen. Insgesamt fällt auf, dass der Rundfunk darum bemüht war, nicht als Konkurrent aufzutreten, der bestehende Medien verdrängen oder ersetzen wollte, sondern als ein neuer Akteur in Erschei-
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nung zu treten, der viele mediale Möglichkeiten aufgreifen und weiterentwickeln wollte.6 Besonders deutlich wird dies am Beispiel des kulturellen Engagements des Rundfunks und speziell der NORAG. Das neue Medium war rechtlich als ein Kulturinstrument definiert, das in die Zuständigkeit der Länder, nicht des Reiches, fiel. Es präsentierte sich auch in besonderer Weise als Akteur im kulturellen Bereich. Besonders die NORAG als Sendegesellschaft im Norden des Deutschen Reiches verstand sich dezidiert als «Träger und Erhalter der Heimatkultur» (Stapelfeldt 1929); der Sender wurde zu einem Zentrum der Heimat- und Volkstumsbewegung (von Saldern 2004; Schmitt 2005; Stegemann/Wagner 2010). In den Spitzenpositionen arbeiteten mit Kurt Stapelfeldt, Hans Bodenstedt und Hans Böttcher Philologen und Publizisten, die beispielsweise eng mit den Heimatbewegungen, etwa dem Quickborn, verbunden waren. Ein undatierter Zeitungsausschnitt zeigt Intendant Hans Bodenstedt und erklärt den Leserinnen und Lesern: «Im Rundfunk hat die niederdeutsche Dichtung und Bewegung den wichtigsten Helfer gefunden» bzw. der Rundfunk ist das «Sammelbecken aller niederdeutschen Bestrebungen» (Sieker 1933). Sodann zum Medienensemble der Stadt Hamburg: In den 1920er Jahren professionalisierte Hamburg wie viele andere Großstädte seine Öffentlichkeitsarbeit: Die Selbstdarstellung der Freien und Hansestadt Hamburg bediente sich vieler Medien, auch um eine Selbstvergewisserung der städtischen Gesellschaft zu erzielen, vor allem aber um Werbung für Hamburg zu machen und gezielt Stadtmarketing zu betreiben (vgl. Amenda 2008). Im Frühjahr 1922 wurde eine Staatliche Pressestelle ins Leben gerufen, 1930 wurden drei verschiedene Initiativen zusammengefasst und daraus die Fremdenwerbezentrale e.V. gebildet. Der Schriftsteller und Publizist Alexander Zinn wurde im Rang eines Staatsrats zunächst zum Direktor der Staatlichen Pressestelle, dann in Personalunion auch zum Leiter der Fremdenwerbezentrale ernannt. Die Aufgaben der Staatlichen Pressestelle bestanden in der Nachrichtenvermittlung zwischen Verwaltung und Öffentlichkeit, der regelmäßigen Unterrichtung von Senat und Behörden über die öffentliche Meinung sowie dem Vermitteln von Gesetzen und Maßnahmen über die Presse und die Hamburg-Werbung. Zinns Hauptaufgabe bestand darin, mit der Staatlichen Pressestelle gezielt ein positives Image von Hamburg in den Medien zu erzeugen (Amenda 2008: 43). Mit der Fremdenverkehrswerbung sollten Besucher angelockt und die «Marke Hamburg» profiliert werden. In dieser Zeit erschienen zahlreiche Hamburg-Plakate, -Broschüren, -Inserate, die die seit Ende des 19. Jahr-
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Konkrete Beispiele für die Positionierung der NORAG in der Medienumgebung geben Stegemann/Wagner (2010).
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hunderts verwendeten Schlagworte der «Welthafenstadt» und des «Tors zur Welt» nun massenmedial popularisierten (Amenda 2008: 26ff.). Auch und gerade die Verbindung zum jungen Medium Rundfunk lag nahe und wurde sehr schnell hergestellt. 1926 verlangte die Rundfunkpolitik die Einsetzung von Überwachungsausschüssen bei den regionalen Sendegesellschaften. Als Vertreter Hamburgs wurde Alexander Zinn in das Kontrollgremium der NORAG entsandt und von den Mitgliedern zum Vorsitzenden gewählt (Tiews/Wagner 2014). In diesem Zusammenhang wurde auf dem Höhepunkt der wirtschaftlichen Krise in der Weimarer Republik die Sendereihe Hamburger Hafenkonzert eingeführt. Ihr Stapellauf erfolgte am 9. Juni 1929. Unter dem Titel Hamburger Hafenkonzert kündigte die Direktion ein Frühkonzert an, das jeden Sonntag frühmorgens von einem im Hafen liegenden Ozeandampfer direkt übertragen werden sollte. Die Zeitschrift Die Norag begrüßte diesen Entschluss «aufs wärmste» und prognostizierte, dass «die Übertragung eines solchen Konzerts […] werbend für Hamburg und seinen Hafen wirken wird» (Das Hamburger Hafenkonzert 1929). Die Gründungslegende der bis heute im Programm zu findenden maritimen Sendung besagt, dass NORAG-Direktor Hans Bodenstedt seinen Mitarbeiter Kurt Esmarch (1894–1980) beauftragt habe, «eine Sendung, die nach Tang und Teer riecht» zu kreieren (Tiews 2014). Esmarch, bei der NORAG damals zuständig für alle Fragen rund um die Seefahrt, erfand demzufolge dieses attraktive unterhaltende Musik-Wort-Format. Es vereinigte Interviews mit Gästen, Gespräche rund um den Hafen und maritime Fragen mit viel Musik von Blaskapellen und Orchestern, es unterstrich den Live-Charakter der hier vor Ort im Hafen stattfindenden Veranstaltung mit der Faszination, diese technisch an alle Rundfunkhörer übertragen zu können. Mit ihr positionierte sich das neue Medium Rundfunk als machtvoller Akteur in Hamburg und in Norddeutschland, der die wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung des Hafens und der Seefahrt unmittelbar vermittelt. Gleichzeitig konnte Hamburg sich als bedeutende Hafenstadt und Schifffahrtsmetropole darstellen und für sich werben. Dieser explizit werbende Charakter des Hamburger Hafenkonzerts war sehr bald gegeben. So ist beispielsweise für die HamburgAmerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft (HAPAG) belegbar, dass sie sehr genau verfolgte, inwieweit das Hafenkonzert Werbung für Hamburg machte. 7
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Am 11.11.1931 schrieb der Werbeleiter bei der Hamburg-Amerika-Linie an Staatsrat Zinn: «Vielleicht darf ich Sie vertraulich darauf aufmerksam machen, dass vom 24. Mai bis heute nur sieben Hamburger Hafenkonzerte auf Schiffen der Hamburg-AmerikaLinie stattgefunden haben […]. Wenn diese Verhältnisse keine Korrektur erfahren, ist damit zu rechnen, dass die Hafenkonzerte, die für Hamburg eine Werbung darstellten, die man nicht unterschätzen sollte, sich totlaufen werden […]. Mir sind in dieser Sache
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3. Schritt: Aspekte der Medialität Die kommunikativen Praktiken, die so ins Blickfeld rücken, sind untrennbar mit den besonderen Qualitäten des Mediums verbunden. Das neue technisch-apparative und sich sehr schnell fest institutionalisierende Medium des Hörfunks erfand sich in dieser Zeit als ein hervorragendes Mittel des Dabeiseins, als ein Instrument, das die Teilhabe an einem räumlich entfernten Geschehen ermöglichte. Die zeitgenössische Diskussion ging sogar noch weiter und stellte den Rundfunk als ein Raum schaffendes Medium vor: «Städte erstehen im Funk» wurde selbstbewusst verkündet (Marek 1930). Beide Aspekte lassen sich beispielhaft belegen. Im Mai 1929 feierte die NORAG ihr fünfjähriges Bestehen und unterstrich dies vor allem durch ihre Leistungen auf dem Gebiet der Funkberichterstattung: «Die Regie des Rundfunks der Gegenwart ist eine Regie des Ungesehenen […]. Was kann der Rundfunk heute? Er kann uns ein Hörbild geben. Man denke nach: Ein Bild, das man hört» (Bodenstedt 1929: 45). Der Rundfunk trat als ein modernes Medium auf, das mit seinen technischen Möglichkeiten der Aufnahme- und Übertragungstechnik neue Raumerfahrungen ermöglichte. Mikrofon und Sendemast wurden zu Ikonen des neuen Mediums. Journalisten wurden mit dem Mikrofon in der Hand dargestellt und gaben damit das Versprechen, das sich hier vor Ort ereignende Geschehen mit den räumlich abwesenden Hörern zu verbinden. Der Reporter als Beruf und die Reportage als journalistische Form erhielten eine enorme Aufwertung. Speziell die NORAG wurde innerhalb des Deutschen Reiches zu einem Zentrum der neuen Möglichkeiten der Reportage. Ihre Mitarbeiter, allen voran Hans Bodenstedt selbst, sorgten mit spektakulären Berichten als Taucher vom Meeresgrund, als Insasse eines Flugzeugs, als Passagier auf einem den Atlantik überquerenden Schiff für Schlagzeilen (Wagner 2013). Mit diesen neuen technischen Möglichkeiten verbunden trat der Rundfunk als ein Kulturinstrument auf, das lokale und regionale Geschehnisse mit nationalen und internationalen verbinden konnte. Alle Sendegesellschaften im Deutschen Reich verstanden sich in ihrem jeweiligen Sendegebiet als Akteure in dieser Region bzw. des jeweiligen Kulturraums. Doch die Funktechnik konnte eben auch über Grenzen hinausgehen und das lokale Hier und Jetzt mit der Welt in Verbindung setzen. Hans Bodenstedt sprach vom «Weltfunk», als er die Jungfernfahrt des damals größten deutschen Schiffes, der «Bremen», mitmachte und seine
durch unsere Verhältnisse zum Lloyd die Hände gebunden. Deshalb bin ich so frei, Ihnen die Entwicklung der Dinge zu schildern in der Hoffnung, dass Sie es für richtig halten werden, sich damit zu befassen.» Zinn schickte einen Auszug aus diesem Brief «zur vertraulichen Kenntnisnahme» an Bodenstedt, 4.12.1931 (StA HH. Staatliche Pressestelle. 135-1, I-IV, 587).
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Reportage davon als «Jungfernfahrt des Weltfunks» darstellte: «Millionen deutscher und ausländischer Hörer erlebten durch ihn [den Weltfunk, HUW] das Ereignis, das die deutsche Geltung in der ganzen Welt neu verankerte und das Vertrauen zu deutscher Tatkraft hob» (Bodenstedt 1930: 44). Vor diesem Hintergrund ist der Anspruch zu verstehen, den Rundfunkmacher damals aufstellten, nämlich Räume zu erschaffen. Carolyn Birdsall machte bereits auf «reality codes of urbanity» in frühen Radiodokumentationen aufmerksam (2013). Die Medialität des Radios hervorhebend, konstatierte man bei der NORAG damals unmissverständlich: «Städte erstehen im Funk» (Marek 1930). Hans-Günther Marek (1902–1967), Verfasser des Beitrags im Norag-Jahrbuch, war seit 1928 Sprecher am Sender und gehörte zu den bekannten Reportern im norddeutschen Raum.8 Anlass des Artikels war eine Reihe von Städte-Porträts, die die NORAG produzierte. Marek erklärte grundsätzlich: «Nicht der Reporter geht durch die Stadt, die Hörer sollen durch sie hin gehen mit wachen Sinnen, mit geschärften Ohren» (ebd.: 75). Und in Bezug auf sein technisches Instrument führte er aus: «Das Mikrophon sieht und hört. Es hört als eigenlebig, eigengesetzlich nach den Aeußerungen, nach dem Herzen der Dinge Strebendes. Es sieht durch das Auge seines Kameraden, des Funkreporters […]. Der Funk hört alle Lebensäußerungen einer Stadt, ihren Rhythmus, ihre Arbeit und ihre Lust. Hier ist der Unterschied: Städte spiegeln sich in der Kamera – Städte erstehen im Funk» (ebd.: 73; Hervorhebungen im Original).
4. Schritt: Analyse des sonischen Ereignisses Vor diesem Hintergrund kann das historische Tondokument abschließend als sonisches Ereignis des Jahres 1931 analysiert werden, das Geräusch, Musik, Stimme und Sprache umfasst. Auf der Ebene der Geräusche ist auffällig, dass in dieser Aufnahme ausschließlich Dampfpfeifen und Schiffshörner von verschiedenen Schiffen zum Einsatz kommen – darunter lang anhaltende und kurze Signale; meist laut und deutlich vernehmbar, seltener leise in der Ferne; zu Beginn der Aufnahme zwei Mal für mehrere Sekunden allein stehend, dann häufig im Hintergrund vom Sprechertext. Das Pfeifen und Tuten der Schiffe wird hier zum ‹ikonischen› Sound
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Marek machte mit seiner Begabung als Reporter Karriere. Im «Dritten Reich» avancierte er zum Leiter der Abteilung Zeitgeschehen beim Deutschlandsender und trat als Reporter bei großen politischen Ereignissen in Aktion. Von 1939 bis 1941 leitete er als Intendant den Reichssender Böhmen. Über seine Arbeit in der Nachkriegszeit ist bislang nichts bekannt.
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des Hafens als Raum mit vielfachen Schiffsbewegungen. Im Zusammenhang mit den akustischen Signalen werden mehrere «Dampfer» und «Schiffe» namentlich vom Sprecher benannt – die «Hamburg», die «Cap Arcona», die «Kiel» und die «Rugia»; darüber wird erwähnt, dass weitere Schiffe, Schlepper und Motorboote unterwegs sind und die Signale der Kommunikation der Schiffe untereinander dienen. Das Klangbild, das Esmarch am Ende der Aufnahme sprachlich zeichnet, wird auf der Geräuschebene allerdings nicht entworfen. Auf der Ebene der Musik sind zwei Mal Sequenzen mit Blasmusik im Hintergrund zu hören. Der Sprechertext suggeriert, dass es sich um Kapellen auf vorüberfahrenden Schiffen handele. Gegliedert ist die Werbeaufnahme durch drei längere Musik-Stücke. Zunächst ertönt die Hamburg-Hymne «Hammonia – Stadt Hamburg an der Elbe Auen», gespielt – so die Datenbankangaben – von der Kapelle der Ordnungspolizei Hamburg. Im Zentrum steht sodann das Volkslied Muß i denn … zum Städele hinaus, angeblich gespielt von einer Matrosenkapelle auf einem ausfahrenden Schiff. Esmarchs Stimme hat an dieser Stelle eine vollkommen andere Atmo. Den Abschluss der Werbeplatte bildet die gut eine Minute lange Komposition «Hamburger Flagge» von Hans Bodenstedt und Hermann Beyer, gespielt auf einer Konzertorgel und auf Blasinstrumenten. Diese StudioAufnahme der NORAG ist ganz offensichtlich der Reportage hinzugefügt worden; es besteht keine sprachliche Verbindung mit der vorangegangenen Reportage. Auf der Ebene der Stimme fällt auf, dass Kurt Esmarch – mit der bereits erwähnten Ausnahme beim Atmo-Wechsel – laut, kräftig, klangvoll, mit heller Klangfarbe, modulierend und rhythmisch abwechselnd spricht. Er spricht weitgehend Hochdeutsch, wechselt einmal ins Plattdeutsche und «vernuschelt» eine Klangbeschreibung ins leicht niederdeutsch Klingende («Rauschen/Rooschn der Kielwasser»). Insgesamt stellt er sich als souveräner Berichterstatter vor, der inmitten eines klanglichen Ereignisses steht. Esmarch begrüßt zwar einleitend «alle Hörer», es erfolgt indes keine direkte Anrede des Publikums. Auffallend auf der semantischen Ebene ist die Betonung des «Hier» und «Heute». Der Sprecher – «wir» – gibt eine genaue lokale Verortung: Mit seinem Mikrofon stehe er «auf der Peil-Kompass-Brücke» des Dampfers «Hamburg». Er betont den Live-Charakter: Von hier aus spiele «heute» das Hafenkonzert. Von dieser seiner herausgehobenen Stellung beschreibt er den Hafen («von der Brücke […] haben wir einen prächtigen Überblick […]»), gibt Informationen über den Raum («Hier im Kaiser-Wilhelm-Hafen […]»; «Dort hinten im Elbstrom […]») und strukturiert den Raum («Vor uns und neben uns […]»; «Über die Dächer der Schuppen hinweg sehen wir auf […]»). Auf der Ebene der Sprache fällt auf, wie Esmarch am Ende der Aufnahme ein Klangbild entwirft. Mit acht substantivierten Verben von Geräuschen baut er eine
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rhythmisierte Reihung von sonischen Phänomenen auf (dem Knirschen, dem Klopfen etc.). Die beschriebenen, aber selbst so nicht hörbaren Geräusche werden interpretativ gefasst als «Symphonie der Arbeit» und als «Hohelied des unermüdlichen Schaffens». Mit einem letzten Schiffstuten als Signal fasst der Reporter zusammen: «Hier», an diesem lokalen Ort, an dem er stehe, sei «einer der Brennpunkte der deutschen Wirtschaft» und «die Verkörperung des Wiederaufbaus der deutschen Schifffahrt», also ein Ort der nationalen Leistung. Der kurze Schlusssatz fasst schließlich das Lokale und die Welt zusammen: «Hier ist eines der wichtigsten Tore der Welt: Hamburg». Die an dieser Stelle zusammengefassten Raumbezüge kommen indes nicht überraschend, sondern sind vorbereitet worden durch zahlreiche Ortsbestimmungen – lokal mit Verweis auf die Kaimauer im Kaiser-Wilhelm-Hafen und mehrere Hamburg-Bezüge; national mit dem Hinweis auf den «Glockengruß» von St. Michaelis, der «über die deutschen Gaue» geschickt werde sowie mit internationalen Bezügen von Schiffen «aus aller Welt» und «in alle Welt», konkret mit topografischen Verweisen auf New York, Westindien und Australien.
Z USAMMENFASSUNG UND AUSBLICK Der analysierte historische Ton aus dem Jahr 1931 erweist sich als bewusst gestaltetes sonisches Dokument, das auf eine ganze Reihe von klanglichen Ereignissen Bezug nimmt. Im Zentrum der Werbeaufnahme für die Radiosendung «Hamburger Hafenkonzert» steht die Verbindung von lokalem Ort, nationaler Bedeutung und Weltbezug. Mit den Praktiken des professionellen Reporters, mit den genutzten technischen Mitteln des Mikrofons und der Sendetechnik, mit dem Einsatz der radiophonen Qualitäten des neuen Mediums wird aus dem konkreten Ort Hamburger Hafen ein sozialer Raum (vgl. Lefèbvre 1991). Der NORAG-Reporter entwirft mit seiner Stimme und Sprache sowie einer Reihe von sonischen Elementen speziell einen Raum des Transitorischen, einen Raum der Mobilität und der Arbeit. Er konstruiert und vermittelt durch klingende Bilder und Symbole einen «Repräsentationsraum» (representational space, Lefèbvre 1991: 39) und vermittelt diesen an die Einbildungskraft der zeitgenössischen Hörerinnen und Hörer. Das Tondokument liegt im Schnittpunkt verschiedener zeitgenössischer Kommunikations- und Aushandlungsprozesse in der Vergangenheit – kommunikativer Prozesse, in denen das neue Medium Rundfunk eine zentrale Akteursrolle übernimmt. Die regionale Sendegesellschaft in Norddeutschland versteht sich als heimatverbunden und weltläufig, ihre sonntägliche Sendung Hamburger Hafenkonzert ist regionale maritime Unterhaltung und Werbung für die Wirtschaft der
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Hafenstadt. Die Werbeplatte auf der Großen Deutschen Funkausstellung und Phonoschau wirbt für das neue Medium und für die Hansestadt. Mit dem Slogan «Tor zur Welt», den sie – leicht abgewandelt – aufgreift und vor allem vielfältig klanglich repräsentiert, reiht sie sich in die Marketingstrategie der Staatlichen Pressestelle ein; mit dem Slogan der «Symphonie der Arbeit» greift sie einen Topos der modernen Großstadt auf, der vor allem in den filmisch-dokumentarischen Stadtsymphonien dieser Jahre um 1930 gefeiert wird (vgl. Ochsner 2013: 103). Die gut 4-minütige Aufnahme trägt dazu bei, dass aus dem bereits diskursiv verhandelten Arrangement von Hafenarbeit und Schiffsirenen ein «Hafenklang» (Amenda 2012; 2011) wird, ein «inszenierter Klang» (staged sound, Bijsterveld 2013: 14), eine Repräsentation urbaner Identität, hier von Hamburg als einem relationalen Raum, als einem «Tor der/zur Welt», einem Ort in der Spannung von Lokalem, Nationalem und Internationalem. Das konkrete Beispiel demonstrierte, wie das Radio einen typisch hamburgischen Klang praktizierte, konstruierte und vermittelte – ‹Broadcasting Hamburgness› also. Diskursanalytisch ist das Radio-/Sound-Dokument ein Aussageereignis (Keller 2016: 64). Die fortschreitende Arbeit im Forschungsverbund «Kommunikative Figurationen» wird über einzelne Beispiele hinaus ein Quellenkorpus für eine historische Diskursanalyse ermitteln, mit dessen Hilfe untersucht werden kann, wie die permanente kommunikative Produktion diskursive Ordnungen schafft und wie verschiedene Medien dabei identitätsbildende Prozesse entscheidend mitgestalten.
Q UELLEN
UND
L ITERATUR
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ANHANG Transkript Geräusch #00:00:06-2# Schiffstuten (allein, zweimal) #00:00:12-4# Sprecher #00:00:12-4# (Wort allein mit gelegentlichem Schiffstuten) Die NORAG grüßt vom Dampfer «Hamburg» der Hamburg-Amerika-Linie alle Hörer nah und fern, in Stadt und Land, an der See und auf der See, alle unsere Landsleute im Auslande und all unsere plattdütschen Landslüt. Die «Hamburg», die am Freitag von ihrer Reise nach New York zurückgekehrt ist, liegt an der Kai-Mauer im Kaiser-Wilhelm-Hafen. #00:00:35-9# Geräusch #00:00:35-9# Schiffstuten (allein) #00:00:37-3# Sprecher #00:00:37-3# (Wort mit Schiffstuten im Hintergrund) Wir stehen mit unserem Mikrofon auf der [Schiffstuten] Peil-Kompass-Brücke des Ozeandampfers [Schiffstuten], auf dem heute [anhaltendes Schiffstuten] unser Hafenkonzert spielt #00:00:48-5# Musik #00:00:48-5# Hamburg Hymne Hammonia – «Stadt Hamburg an der Elbe Auen» #00:01:07-2# Sprecher #00:01:07-2# [Blasmusik im Hintergrund] Von der Brücke der «Hamburg» haben wir einen prächtigen Überblick über einen Teil des Hamburger Hafens. Vor uns und neben uns [Schiffstuten] liegen größere und kleinere Dampfer, die aus aller Welt kommen und in alle Welt fahren. Über die Dächer der Schuppen hinweg sehen wir auf die gewaltigen Werftanlagen von Blohm+Voss, die die Wiege waren für die größten Dampfer der Welt und die manches Schiff bauten, das sich das blaue Band des Ozeans errungen hat, kürzlich erst die «Europa» des norddeutschen Lloyd. Dort hinten liegt im Elbstrom an den Pfählen die weißleuchtende [anhaltendes Schiffstuten/Musik endet] Cap Arcona der Hamburg Süd, das schnellste Schiff des Südatlantiks, und hinter der Cap Arcona das riesige Häusermeer, aus dem die Türme der Kirchen Hamburgs steigen. Der schönste und stattlichste unter ihnen: der große Michel, das Wahrzeichen [anhaltendes Schiffstuten] der deutschen Seefahrer, der an jedem Sonntagmorgen seinen Glockengruß über die deutschen Gaue schickt. Hier im Kaiser-Wilhelm-Hafen rüsten Schiffe zur Fahrt in die Welt. An Deck die Matrosenkapelle [Musik ertönt im Hintergrund] [andere Atmo] Schifferklavier, Schiffergeige, Triangel und Mandoline klingen und die Teufelsgeige, eine Stange mit Saiten und Trommel raschelt dazu. [Schiffstuten] Uns gegenüber der Dampfer «Kiel» und hinter uns der Dampfer «Rugia», beides Schiffe der HAPAG. Sie hören die Signale der Dampfer, die Schlepper antworten
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[leises Schiffstuten]. Mit langsamer Fahrt ziehen die gedrungenen, stählernen Schleppdampfer die Ozeanriesen ins Fahrwasser. Die «Rugia» fährt nach Westindien mit Passagieren und Ladung, die «Kiel» mit Fracht nach Australien. Hier kommt schon, gezogen von zwei starken Schleppern, die «Rugia» an uns vorüber [Schiffstuten]. Von Bord Musik. #00:02:57-3# Musik #00:02:57-3# Musik startet – «Muß i denn, muß i denn zum Städele hinaus» #00:02:58-1# Sprecher #00:02:58-1# [Musik spielt weiter – «Muß i denn, muß i denn zum Städele hinaus»] Das alte Lied, mit dem der Seefahrer die Heimat verlässt. #00:03:02-1# Musik #00:03:02-1# Nur Musik #00:03:11-7# Sprecher #00:03:11-7# Dort zieht ein deutsches Schiff in die Welt hinaus. Der Hamburger Hafen wartet auf seine glückliche Heimkehr. Der Hafen mit seinem Rasseln der Winden, dem Knirschen der Kräne [Musik endet], dem Schnaufen der kleinen Motorboote, dem Rooschn [Rauschen] der Kielwasser, dem Klopfen, Hämmern, Nieten und dem metallischen Klingen auf den großen Werften, das sich vereinigt zu einer Symphonie der Arbeit, zu einem Hohelied [anhaltendes Schiffstuten] des unermüdlichen Schaffens. Hier ist einer der Brennpunkte der deutschen Wirtschaft, die Verkörperung des Wiederaufbaus der deutschen Schifffahrt. Hier ist eines der wichtigsten Tore der Welt: Hamburg #00:03:51-2# Musik #00:03:51-2# Orgel mit Blaskapelle – «Hamburger Flagge» (laut NDR Datenbank) #00:04:56-4#
Science Fiction im Hörspielmodus Klangliche Praktiken zur Darstellung fiktiver Neuheiten am Deutschschweizer Radio, 1935–1985 F ELIX W IRTH
Wie klingt Science Fiction? Oder anders gefragt: Wie klingt etwas, das nicht oder noch nicht existiert? Eine Frage, welche die Hörspielregisseure und Studiotechniker des Schweizer Radios1 seit den 1930er Jahren bei Vertonungen nicht-existenter Neuheiten und futuristischer Welten immer wieder beschäftigt hat. Ein mediales Format, das besonders viele dieser auditiven Imaginationen in sich versammelt hat und dessen historische Entwicklung eine vielversprechende Annäherung erlaubt, ist das Science-Fiction-Hörspiel.2 Obwohl zwischen 1935 und 1985 nur wenige Schweizer Autorinnen und Autoren Science-Fiction-Originalhörspiele, also eigens für das Radio verfasste Texte, schrieben (Weber 1995: 186; 203), sendete der Deutschschweizer Rundfunk – bis in die 1960er Jahre bekannt als Radio Beromünster – seit den 1930er Jahren in regelmäßigen Abständen Science Fiction in Form von Hörspieladaptionen (Wirth 2015: 34–35). In diesem Artikel soll untersucht werden, wie diese Neuheiten – subsumiert unter dem Begriff des «Novums» – mit dem Einsatz von Stimmen, Geräuschen und Musik inszeniert wurden und wie sich diese Klangpraktiken im Verlauf der Zeit entwickelt haben. Die Leitfrage lautet: Welche Klänge hat Science Fiction –
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Mit «Schweizer Radio» ist jeweils der Deutschschweizer Rundfunk – bis 1967 Radio Beromünster, danach Schweizer Radio (SR) und bis 2012 Radio- und Fernsehgenossenschaft der deutschen und rätoromanischen Schweiz (DRS) – gemeint.
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Der Autor forscht seit 2015 an der Universität Freiburg, Schweiz, bei Prof. Dr. Christina Späti im Rahmen einer Dissertation zum Thema «Science Fiction am Deutschschweizer Radio zwischen 1935 und 1985».
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verstanden als fiktional-ästhetischer Modus – im Medienformat Hörspiel hervorgebracht? Den Quellenfundus bilden rund 20 ausgewählte Science-Fiction-Hörspiele (sowohl Originalhörspiele als auch Hörspieladaptionen), welche zwischen 1935 und 19853 von den Radiostudios in Bern, Basel und Zürich produziert und via Landessender Beromünster ausgestrahlt wurden. Für eine Analyse des Phänomens «Science-Fiction-Hörspiel» ist die Frage, was mit «Science Fiction» überhaupt gemeint ist, unumgehbar. Dies ist kein einfaches Unterfangen, denn eine abgeschlossene und allgemein gültige Definition von Science Fiction existiert nicht. Gewisse Wissenschaftlerinnen sprechen gar von einem «definition war» (Hoagland und Sarwal 2010: 5). Im Folgenden soll daher der Fokus auf diejenigen theoretischen Aspekte gelegt werden, die vor dem Hintergrund radiofoner Science Fiction von Bedeutung sind. Für Horst G. Tröster, einem der profiliertesten Kenner des deutschsprachigen Science-FictionHörspiels, bedeutet Science Fiction zunächst einmal «phantasievoll ausgemalte Spekulation» (1993: 47), welche die Gegenwart in eine, je nach Standpunkt des Autors, erhoffte oder befürchtete Zukunft extrapoliert. Im Unterschied zur reinen Phantastik muss die Abweichung der erzählten Welt von der Realität der Lesenden unter «Bezugnahme auf ein wissenschaftliches Weltbild» (Steinmüller 1995: 16) legitimiert werden. Der renommierte Science-Fiction-Forscher Darko Suvin prägte für diese Abweichungen den Begriff des Novums: «a fictional ‹novum› (novelty, innovation) validated by cognitive logic» (1979: 63). Die fiktive Neuheit, also das Novum bzw. mehrere Nova, bezeichnet demnach Besonderheiten, die zwar als unmöglich gelten, aber dennoch wissenschaftsähnlich begründet werden. In Science-Fiction-Geschichten findet sich vielfach nicht nur ein Novum, sondern ein komplexes Geflecht von Nova (Schröder 1998: 14–16). Der Fokus auf das Novum erlaubt es, Hörspiele dem Genre «Science Fiction» zuzuordnen, auch wenn die Akteure selber den Begriff gar nicht verwendet haben. Gerade im Zusammenhang mit dem Deutschschweizer Radio ist diese Herangehensweise von Vorteil: Radio Beromünster war bis in die späten 1950er Jahre sehr zurückhaltend mit der Verwendung des US-amerikanischen Begriffs «Science Fiction». Bis in den frühen 1960er Jahren war vorwiegend von «phantastischen» oder «utopischen» Hörspielen die Rede. Gelegentlich wurde auch der Begriff «Zukunfts-Hörspiel» verwendet. Erst im Verlauf der 1960er Jahre wurden Hörspiele in der Anmoderation oder Radiozeitung als «Science-Fiction-Hörspiel»
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Der Untersuchungszeitraum begründet sich durch die vermutlich erste Produktion eines Science-Fiction-Hörspiels 1935 und der Schließung der Abteilung Dramatik bei Radio DRS im Jahr 1985, womit dem Hörspiel eine wichtige institutionelle Basis entzogen wurde (Weber 1995: 178).
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bezeichnet. Science-Fiction-Hörspiele bildeten somit nicht ein von Beginn weg konsolidiertes Genre mit fixen Konventionen, Motiven oder Figuren. ScienceFiction-Produktionen des Schweizer Radios werden im Folgenden deshalb nicht als starres Gerne, sondern im Sinne des Filmwissenschaftlers Simon Spiegel als ein «fiktional-ästhetische[r] Modus» (2007: 39) verstanden. Dieser Modus wird durch das Novum bestimmt und beschreibt den Aufbau sowie die Darstellungsweise einer fiktionalen Welt (Spiegel 2007: 39–51). Zur Darstellung des Novums konnten Science-Fiction-Filme im Verlauf des 20. Jahrhunderts auf visuelle oder audiovisuelle Techniken zurückgreifen. Das Hörspiel war dagegen auf rein akustische Mittel angewiesen. Den Hörspielabteilungen standen verschiedene «hörspielgestalterische Mittel» (Weich 2010: 6), so genannte «Zeichensysteme» (Schmedes 2002: 9) wie Sprache, Stimme, Geräusche, Musik, Blende, Schnitt oder Mischung zur Verfügung. Für die Geschichts- und Kulturwissenschaft bildet gerade die semantische Dimension dieser Zeichensysteme ein interessantes Forschungsfeld. Die Semantik von Klang kann in mehrere Ebenen aufgeteilt werden, wobei die so genannte «Kontextsemantik» (Görne 201: 106) die Beziehung eines Klangobjekts mit seiner narrativen Umgebung beschreibt. Ein wichtiges Phänomen, das sich auf der Ebene der Kontextsemantik ansiedelt, umfasst das Auftreten von Stereotypen. Stereotypen konstituieren sich durch regelmäßige intertextuelle Wiederholungen. Es werden immer die gleichen Zeichenträger für eine gewisse Bedeutungsherstellung verwendet. Dabei sind Stereotypen zeitlich und kulturell determiniert, also nur während einer bestimmten historischen Phase und Kultur wirksam. Die Filmwissenschaftlerin Barbara Flückiger sieht gerade in der Science Fiction ein Genre, das besonders häufig von Stereotypen übersät ist (Flückiger 2002: 178–79). Eine wichtige Funktion von Stereotypen ist dabei die Komplexitätsreduktion. Stereotype reduzieren das Gesehene oder Gehörte und orientieren damit die Rezipierenden. Je öfter Stereotypen verwendet würden, desto schneller und automatischer erfolge die Orientierung, so Flückiger (ebd.: 176–82). Dieser Aufsatz soll deshalb untersuchen, wie das Schweizer Radio die Nova von Science-Fiction-Geschichten zwischen 1935 und 1985 akustisch umgesetzt hat. Der analytische Fokus der Studie liegt dabei auf den Zeichen Stimme, Geräusche und Musik. Ziel ist es, klangliche Techniken, Praktiken oder Stereotypen zu identifizieren, die spezifisch für Science-Fiction-Hörspiele sind. Eine historische Betrachtungsweise vermag dabei Auskunft über das imaginäre und audiotechnische Repertoire der zeitgenössischen Radioakteure zu geben. Schlussendlich soll untersucht werden, wie radiofone Science Fiction die Grenzen des «akustisch Möglichen» (Butzmann und Martin 2012: 193) seit den 1930er Jahren ausgelotet und erweitert hat.
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S TIMMEN DER Z UKUNFT Die Stimme gilt als eines der wichtigsten Zeichensysteme im Hörspiel. Werner Hausmann, Regisseur im Radiostudio Basel und späterer Leiter der Hörspielabteilung, hielt 1959 fest, dass gerade das Wort im Hörspiel «Wesensart» erkennen lasse und er erinnerte daran, dass die Verschiedenheit von «sprachlicher und empfindungsmäßiger Eigenart» (1959: 3) Ablehnung hervorrufen könne. Hausmanns Vorstellung klar unterscheidbarer «Wesensarten» mag aus heutiger Sicht antiquiert sein, sie verweist aber darauf, wie wichtig Wort, Sprache und Stimme für das damalige Hörspielschaffen waren. In der Forschung werden Stimme und Sprache als Kommunikationssysteme verstanden, welche über eigene Bedeutungsstrukturen verfügen (Schmedes 2002: 71). Für Dieter Hasselblatt, früherer Hörspielleiter des Bayerischen Rundfunks und selber Autor von ScienceFiction-Hörspielen, ist die Stimme immer auch ein Jemand, also ein Identifikationsangebot nach Alter, Geschlecht oder Existenz (Hasselblatt 1993: 27–28). Für ihn ist es die Stimme, welche in Hörspielen einen «Eindeutigkeit ermöglichende[n] Kondensationskern» (ebd.: 28) bereitstellt. Zur Herstellung solcher Eindeutigkeit können die Hörspielmacher unter anderem spezifische, kollektiv und historisch geformte Sprechstile einsetzen (Morat und Blanck 2015: 714), oder mittels elektroakustischer Manipulationen die Stimmen der Hörspielerinnen und Hörspieler bearbeiten und verfremden. Seit den ersten Science-Fiction-Hörspielen von Radio Beromünster war eine bestimmte Art und Weise, wie über mögliche Alternativen und Zukunftsvisionen gesprochen wurde, vorherrschend. Das primäre Novum der Science-Fiction-Geschichten wurde stets von Wissenschaftlern, Professoren, Doktoren oder anderen männlichen Experten erläutert. Der Sprechstil dieser Männer zeichnete sich durch ein gepflegtes Hochdeutsch aus, sachlich und nüchtern im Ton, klar und deutlich in der Artikulation. Die Wissenschaftler verkörperten einerseits die positiven Aspekte des technologischen Fortschritts. Andererseits konnten sie auch die Rolle des Mad Scientist einnehmen, also des verrückten Wissenschaftlers, der nach der Weltherrschaft strebte oder in seinem Labor grauenvolle Experimente durchführte. Die durchgängig verwendete männliche Form des Terminus «Wissenschaftler» verweist auf ein konstitutives Merkmal dieses Stereotyps: Der Wissenschaftler ist ein (weißer) Mann (Frizzoni 2004: 24). Im Fall des Science-FictionHörspiels wird die Einengung auf den Wissenschaftler durch den Einsatz von Männerstimmen audiospezifisch verstärkt. Dies kann als eine Informationsverdopplung verstanden werden, womit dem Radiopublikum eine eindeutige, vom Hörspiel vorgegebene Perspektive aufgezwungen wird (Flückiger 2002: 130). Die
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Persistenz dieses Stereotyps ist frappant: Stimmen weiblicher Wissenschaftlerinnen, die das Novum in Science-Fiction-Hörspielen erläuterten, tauchten am Schweizer Radio in den untersuchten Hörspielen nicht auf. Parallel zu den weit verbreiteten Gelehrtenstimmen brachten die ScienceFiction-Hörspiele der 1960er Jahre weitere Sprechstile zur klanglichen Realisierung des Novums hervor. Mit apathischen und emotionslos wirkenden Stimmen thematisierten die Protagonisten die Gefahren und Abgründe des technischen Fortschritts. Im Originalhörspiel Ein Mensch kehrt zurück (1963) des Berner Schriftstellers Walter Adrian kehrt der US-Raumfahrer Aldus Macdonald (Sprecher: Herbert Steiniger) als erster Mensch vom Mond zurück. Gesundheitlich ist Macdonald nach seiner Landung schwer angeschlagen. Seine Seele hat die ungeheure Einsamkeit im Weltraum nicht verkraftet. «Ich bin ja längst gestorben» (Ein Mensch kehrt zurück, 13’15”)4 gibt Macdonald gequält von sich. Gemäß den Regieanweisungen im Manuskript sollte Steiniger den Satz «leidend, wie aus der andern Welt, langsam und mühsam, jedes Wort suchend» (MS Ein Mensch kehrt zurück, 7) aussprechen. Ähnlich apathische Stimmen kamen auch in anderen Science-Fiction-Hörspielen zum Einsatz, so etwa die eintönigen Stimmen der Venusbewohner in Friedrich Dürrenmatts Hörspiel Das Unternehmen der Wega (1968), die gequälte Tonbandstimme eines Mannes, der in der Geschichte Das Experiment (1972) von Eva Maria Mudrich den Freitod eines Freundes telepathisch mitverfolgt oder die beängstigend sanften Worte der «Weißen», einer Gemeinschaft, die in Hans Widmers (P.M.) Tucui (1984) nach Ruhe und Besinnung strebt. Während mit den bisher skizzierten Klangpraktiken stets menschliche Akteure inszeniert wurden, erforderte das Auftreten nicht-menschlicher Charaktere in den Science-Fiction-Vorlagen neue und ungewohnte Stimmen. Die Fortschritte in der Audiotechnik schufen vielversprechende Möglichkeiten, um über den Klang ausserirdischer Wesen und technischer Apparaturen zu spekulieren. Radio, Fernsehen und Film etablierten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mannigfaltige Vorstellungen über die audiovisuelle Beschaffenheit extraterrestrischer Wesen, nachdem bereits seit der frühen Neuzeit Denker wie Johannes Kepler oder Giordano Bruno Ideen von fremden Planeten und deren Bewohnern entwickelt hatten (Heuser 2008: 55–80). Bei Radio Beromünster erfolgte die wahrscheinlich erste radiofone «Begegnung der Dritten Art» im Hörspiel Der Ruf der Sterne (1935). In der Geschichte gelangt eine bemannte Rakete von der Erde auf den Mars und stößt dort auf Außerirdische. Den Marsmenschen ist es problemlos möglich, mit den
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Zitate aus den Hörspielen werden mit der Laufzeit (Minuten und Sekunden) angegeben, Zitate aus den Manuskripten (MS) mit Seitenangaben.
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fremden Besuchern in deren Sprache zu kommunizieren. Im Gegenzug gelingt es dem Protagonisten Dr. Hellmut Kühl (unbekannter Sprecher), dem «Führer» (MS Der Ruf der Sterne, 2) der deutschen Raumrakete «Astrea», nicht, den Namen von Oktavia, einer Marsbewohnerin, auszusprechen: «Oktavia: Ich heisse: (folgen drei Flötentöne) Kühl: Wie? – (versucht nachzuahmen; es misslingt) Oktavia: Nein, so: (flötet nochmals ihren Namen) Kühl: (fröhlich) Das werde ich nie erlernen.» (MS Der Ruf der Sterne, 26)
Die Stimme von Oktavia wird im Hörspiel unter anderem mit einer Flöte inszeniert, was nicht zuletzt auf die begrenzten audiotechnischen Möglichkeiten der 1930er Jahre zurückgehen dürfte. Leider sind vom Hörspiel, das angeblich eine aufwendige und teure Produktion war, keine Aufnahmen überliefert. 5 Nach Oktavia herrschte während zwei Jahrzehnten mehr oder weniger außerirdische Funkstille. 1956 kamen im Hörspiel Eusebius Bittelerli bei den Marsbewohnern erneut Außerirdische zu Wort. Beim Stück handelte es sich um eine Adaption des französischsprachigen Originalhörspiels Désiré Biquet chez les Martiens (1955) von Franz Walter alias Terval. In der Geschichte wird der Protagonist Eusebius Bitterli auf den Mars entführt und trifft dort auf eine hochtechnisierte Welt und deren Bewohner. Anwesend ist auch ein gewisser «Professor Ox» von der Erde, der ihn über die lokalen Besonderheiten aufklärt. Bitterli erfährt, dass die Zivilisation auf dem Mars derjenigen der Erde um 3000 Jahre voraus sei und sich dementsprechend auch die Marssprache weiterentwickelt habe. Die Idee, dass der Mars die Zukunft der Erde verkörperte, war nicht neu, sondern ein weit verbreiteter Topos in Science-Fiction-Geschichten des 19. Jahrhunderts (Innerhofer 1996: 284–89). Die akustische Umsetzung dieser Vorstellung erfolgte im Bitterli-Hörspiel unter anderem in Form einer speziell kreierten Marssprache. Als beispielsweise der Marspräsident (Sprecher: Hans Haeser) eine Ansprache hält, erklingt eine unverständliche, geschlechtslose, um einige Tonlagen nach oben transponierte und rückwärts eingespielte Stimme (Eusebius Bitterli bei den Marsbewohnern, 29’18”). Obwohl die Sprache des Marspräsidenten nicht verständlich
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Interessant sind die Rezensionen zu Der Ruf der Sterne. Ein Kritiker würdigte zwar die «regietechnischen und akustischen Resultate» des Hörspiels als eine wirksame «Hörausdrucksform» und «erfindungsreiches Experiment» (NZZ 1935: 3). Das Ganze habe aber als «problemstellendes Phantasiestück» zu wenig zu sagen vermocht und sei als pure Unterhaltung zu «schwerfällig» und «lang» gewesen (ebd.).
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ist, erweckt die Phrasierung seiner Stimme, also die melodisch-rhythmische Einteilung von Klangfolgen (Tempo, Dynamik, emotionaler Ausdruck etc.), den Eindruck einer Rede. Dass dieser Eindruck nicht zufällig ist, geht aus den Regieanweisungen im Manuskript hervor, wo an entsprechender Stelle vom Sprecher ein «Rednerton» gefordert wird (MS Eusebius Bitterli bei den Marsbewohnern, 16). Selbst eine unverständliche Marssprache kann also den Kondensationskern zur Herstellung von Bedeutung im Sinne Hasselblatts bereitstellen. Verdrehte «Mickey-Mouse»-Stimmen wie bei Eusebius Bitterli blieben aber die akustische Ausnahme. Das Medienformat Hörspiel eignete sich nur bedingt, eine für die Hörerschaft unverständliche extraterrestrische Sprache zu entwickeln. Im Gegensatz zu Fernsehen und Film, wo in Produktionen wie Star Trek (VI: The Undiscovered Country, 1991) eigene Sprachen wie «Klingonisch» kreiert wurden, konnte das Hörspiel nur auf eine phonetische, nicht aber eine körperliche Gestik zurückgreifen (Butzmann und Martin 2012: 178). Vor diesem Hintergrund ist es kein Zufall, dass beinahe alle Außerirdischen in einer für das Radiopublikum verständlichen Sprache kommunizierten. Prominentes Beispiel dafür findet sich in der fünfteiligen Hörspielserie Reise ins Weltall (1958). Beim Stück handelte es sich um die Adaption des bekannten Originalhörspiels Journey into Space (1953– 1958) der British Broadcasting Corporation (BBC). Albert Werner, Mitarbeiter bei Radio Basel, übersetzte, bearbeitete und kürzte das englischsprachige Original und Hans Hausmann führte bei der Produktion Regie. Die Geschichte spielt im Jahr 1965 und handelt von der Rakete «Luna» und deren Expedition zum Mond. Zu hören ist auch ein außerirdisches Wesen, ein so genannter «Zeitfahrer» (MS Reise ins Weltall, 3. Folge, 20; Sprecher: Leopold Biberti), der via Radioempfänger zur Besatzung einer Weltraumrakete spricht. Seine Stimme klingt erhaben, wohlüberlegt und ist mit viel Hall und Echo ausgestattet. Der Sprechfluss ist langsam, ohne Hinweise auf einen Dialekt und in einem unverfälschten Bühnendeutsch (Reise ins Weltall, 4. Folge, 39’59”). Bei der Vertonung des Außerirdischen hielt sich Radio Basel, jedenfalls was Sprechstil und elektroakustische Manipulation betraf, eng an die BBC-Vorlage. Die Science-Fiction-Hörspiele verliehen nicht nur Aliens eine Stimme. Auch Roboter und Computer kamen zu Wort. Im Stück Der künstliche Planet (1953) sollte ein Lautsprecher an Bord einer Weltraumrakete «(roboterhaft) Alle Luken schliessen. Alle Luken schliessen» (MS Der künstliche Planet, 8) von sich geben. Leider sind von diesem Hörspiel keine Aufnahmen überliefert, so dass der Klang des «Roboterhaften» nicht untersucht werden kann. Erst Aufnahmen späterer Science-Fiction-Hörspiele geben Auskunft über deren klangliche Beschaffenheit. Im Hörspiel Der Weg zu den Planeten (1964) spricht unmittelbar nach der Landung eines Raumschiffes eine krächzende Roboterstimme: «Ausgang vordere
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Luftschleuse. Wir sind gelandet» (Der Weg zu den Planeten, 5’31”). Die Stimme, von einem unbekannten Hörspieler gesprochen, wirkt durch ihre abgehackte, jede Silbe betonende Redeweise verstellt und mechanisch. Zusätzlich wurde sie elektroakustisch bearbeitet, um einige Tonlagen transponiert und mit viel Hall ausgestattet. Das Stück basiert auf der Kurzgeschichte The Songs of Distant Earth (1958) des Science-Fiction-Autors Arthur C. Clarke. Interessanterweise wird in Clarkes Geschichte die Stimme als eine «smooth, synthetic voice» (Clarke 1958: 28) beschrieben. Während im literarischen Original das Novum eines sprechenden Raumschiffes als eine ruhige, synthetische und geschlechtslose Stimme beschrieben wird, transferiert der fiktional-ästhetische Modus des Science-Fiction-Hörspiels die Vorlage in eine verzerrte, mechanische und eingeschlechtliche Stimme. Diese Art und Weise technische Apparaturen zu inszenieren, war kennzeichnend für die Deutschschweizer Science-Fiction-Hörspielproduktion der 1960er und 70er Jahren. Beispiele für ähnlich klingenden Inszenierungen finden sich in den Rollen von «Roboter QT 1» in Pannen der Zukunft (1970) oder «Charly» in Daisy Day (1971). Erst im Verlaufe der 1980er Jahre erfolgte ein Wandel dieser Klangpraktik. Im Originalhörspiel Routineuntersuchung eines unbekannten Planeten (1981) sprechen zwei Frauen (Charlotte Acklin und Christa Pillmann) die Rolle des «Bordcomputers» (Routineuntersuchung eines unbekannten Planeten, 55”). Ähnlich wie der Computer «Hal 9000» (Stimme: Douglas Rain) aus Stanley Kubricks 2001 (1968) verhindert der Bordcomputer im Hörspiel den Abflug einer Erdencrew von einem unbekannten Planeten. Die Sprechweisen der weiblichen Computerstimmen gleichen demjenigen von «Hal 9000», der in 2001 langsam, direkt und beherrscht spricht. Zusätzlich werden die Frauenstimmen aber mit metallisch klingendem Hall versehen und in der Tonlage leicht versetzt. Während also der Science-Fiction-Film bereits Ende der 1960er Jahre eine «smooth, synthetic voice» im Sinne Arthur C. Clarkes verwendete, griffen die Deutschschweizer Hörspielstudios deutlich später auf solche Stimmpraktiken zur Darstellung von Androiden, Automaten und Computern zurück.
Science Fiction auf Schweizerdeutsch Nachdem es in den 1950er Jahren nur vereinzelte Science-Fiction-Hörspiele mit Mundartpassagen gab, entstanden in den 1970er Jahren reine Science-FictionDialekthörspiele. Die Welt von Morgen wurde je nach Radiostudio in Berner, Basler oder Zürcher Mundart vorgetragen. 1972 übersetzte und modifizierte der Berner Autor Rudolf Stalder die Kurzgeschichte Outcast of the Stars (1950) von Ray
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Bradbury ins Hörspielformat. Unter dem Titel Ds Ruumschiff (1972) ließ Stalder die Geschichte im Jahr 2049 spielen. Nachdem die europäische Raumfahrtbehörde die Schaffung einer Flugbasis im schweizerischen Mittelland durchgesetzt hatte, erwies sich die Ausscheidung von Natur- und Kulturreservaten (NAKU) als dringliche Gegenmaßnahme. Die Menschen in diesen Reservaten leben sehr zurückgezogen und im NAKU-Reservat «Aare» benutzen einige sogar den «alten, fast ausgestorbenen bernischen Dialekt» (Ds Ruumschiff, 2’11”). Zur Darstellung dieses sprachlichen Novums verwenden die beiden Hauptfiguren Kurt und Maria (Sprecher: Franz Matter und Barbara Giovanoli) zahlreiche urchige berndeutsche Begriffe wie «Stöderi» (5’42”, kleiner Junge), «Glööu» (15’11”, Albernheit) oder «Lugibänne» (22’32”, alter, kaputter Wagen). Weitere Schweizerdeutschpassagen finden sich in Stücken wie Abträtte (1975) oder Ökotopia (1981). Das Hörspiel Ökotopia, 1980 unter der Regie von Charles Benoit am Studio Bern inszeniert, präsentiert die Schweiz im Jahre 2022 als nachhaltiges Naturreservat mit grüner Technologie, konservierter Berner Mundart und befreit von gesellschaftlichen Zwängen. Das ökologische Novum zeigt sich unter anderem in Sprache und Stimme der Protagonisten. Während ein deutscher Journalist (Sprecher: Rainer Zur Linde), der in Ökotopia zu Besuch ist, in schnellem, «kühl» und überheblich wirkenden Bühnendeutsch spricht, benutzen die Ökotopianer ein breites und unverfälschtes Berndeutsch. Ein Gegensatz zwischen Ökotopia und der Aussenwelt kommt verbal deutlich zum Ausdruck. Das Stück Abträtte, eine Adaption des Theaterstücks Fiktion (1975) von Friedrich Christian Zauner, wurde von Arnim Halter in den Zürcher Dialekt übersetzt und unter der Regie von Walter Baumgartner am Radiostudio Zürich inszeniert. Die Geschichte handelt von einer Schweizer Familie im 21. Jahrhundert. Das Novum besteht darin, dass jede und jeder im Alter von 75 abtreten bzw. sterben muss. Klanglich erinnert die Geschichte in keiner Hinsicht an Science Fiction, was von einem zeitgenössischen Kritiker in der Neuen Zürcher Zeitung durchaus bemerkt und geschätzt wurde: «Abträtte ist ein recht makabres kleines Hörstück [...]. Die Leute, um die es geht, sind keine vom Geräuschschatten futuristisch-elektronischer Klänge umgebene Wesen [...]. Hier heisst es noch ‹Gopferteckel!›, und es wird noch gesprochen, wie man bei uns oder zumindest bei uns im Dialekthörspiel immer noch spricht. [...] Walter Baumgartner hat in seiner Inszenierung konsequent auf diesen bodenständigen Ton gesetzt, und dass von einer andern Zeit die Rede ist, merkt man erst nach und nach aus manchen Einzelheiten.» (NZZ 1975: 36, Hervorhebungen im Original)
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Dem Rezensenten zufolge dürfte es sich bei den erwähnten «Einzelheiten» weniger um akustische Zeichenträger (Stimme, Geräusche oder Musik), sondern mehr um sprachlich-inhaltliche Elemente gehandelt haben. Die Science-Fiction-Dialekthörspiele Abträtte, Ökotopia oder Ds Ruumschiff zeigen auf, dass Science Fiction auch in Mundart möglich war. Mit volkstümlicher Sprache und paraverbalen Codes, beispielsweise einer variantenreichen, dynamischen und temperamentvollen Sprechweise, präsentierten sie eine zukünftige Schweiz. Dabei entwarfen die Radiostudios Klangbilder, die in ihrer Ästhetik nicht futuristisch, progressiv oder technisiert wirkten, sondern an eine «gute alte Zeit» erinnerten, wo jede Sprache einer gewissen «Wesensart» im Sinne Hausmanns zugeordnet wurde.
Der Klang startender Raketen und rasender Züge Der Deutschschweizer Rundfunk vertonte die fiktionalen Welten und deren Nova nicht nur mit verbalen Zeichenträgern. Vielfach griff man auch auf Geräusche und Klänge zurück. Geräusche können in diesem Zusammenhang als Kommunikationssystem verstanden werden, das zur Herstellung von Bedeutung beiträgt. Mit dem Einsatz von Geräuschen kann in Tondokumenten Raum signalisiert, Assoziationen ausgelöst oder Existenzbeweise geliefert werden (Rühr 2008: 205–22). Im Science-Fiction-Hörspiel wurden Geräusche vor allem für die Darstellung verschiedener Mobilitätsformen verwendet. Die Vertonung von Raumschiffen, einem lange Zeit sehr populären Novum, erforderte den Einsatz vieler Geräusche. Noch vor dem ersten Weltraumflug 1961 und der erfolgreichen Mondlandung 1969 spekulierten verschiedene Hörspiele über den Klang dieser neuartigen Transportvehikel. Beim Stück Planeten-Express (1936) sollte der «FrischluftAbschluss» [sic] (MS Planeten-Express, 5) einer Weltraumrakete gemäss Manuskript folgendermaßen klingen: «kurze scharfe Sirene, unmittelbar anschließend dumpfer Knall und blitzschnelles hohes Pfeifen, das langsam abblendet» (ebd.). Wichtige Raketenbestandteile wie die «Luft-Schleuse» wurden mit «Kettenrasseln» und einem «dumpfe[n] Rollen» (ebd.) erzeugt. Ähnliche Klangpraktiken finden sich in der Hörspiel-Adaption Der Ruf der Sterne (1935). Dort wurde das Raumschiff «Astrea» mit einem «leichte[n] Motorengeräusch» (MS Der Ruf der Sterne, 4) vertont und das Schiebegeräusch der Luken erzeugte man mit einer «Blechplatte mit Eisenketten» (Der Ruf der Sterne, Technische Installationen: unpag.). Leider existieren von keinem der beiden Hörspiele Bandaufnahmen, so dass die akustische Übersetzung der Manuskriptvorgaben nicht untersucht werden kann.
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Ein fiktiver Raketenstart, von dem Audioaufnahmen überliefert sind, findet sich im Stück A. P. I. startet zum Mond (1948). Die Geräusche zur Darstellung des Starts einer «Atom-Rakete» werden im Manuskript als «Pfeifton» und «grelles, leiser werden des [sic] Pfeifen» (MS A. P. I. startet zum Mond, 6) beschrieben. In den Audioaufnahmen des Hörspiels ist zunächst während fünf Sekunden ein hoher an- und abschwellender Sinuston zu hören. Anschließend setzt ein langanhaltendes (ca. 15 Sekunden) lautes Geräusch ein, das an das Triebwerk einer zündenden V-2-Rakete oder eines überfliegenden Düsenjets erinnert. Woher das verwendete Geräusch stammt, geht aus den Unterlagen nicht hervor. In der Science-Fiction-Serie Reise ins Weltall (1958) klingt das Abheben des Raumschiffes «Luna» annähernd gleich wie in A. P. I. startet zum Mond. Beim Start der Weltraumrakete ist ebenfalls ein lautes, düsenartiges Geräusch zu vernehmen (Reise ins Weltall, 1. Folge, 2’45”). Da die Basler Hörspielabteilung den größten Teil der Geräusche direkt vom BBC-Original Journey into Space (1953– 1958) übernahm, dürfte es sich bei dem Startgeräusch mit großer Wahrscheinlichkeit um die Aufnahme eines Düsenjets beim Flughafen London Heathrow gehandelt haben (Chilton 1989). Als am Ende der 1960er Jahre die Raumfahrttechnik mit der erfolgreichen Mondlandung einen ihrer größten Erfolge feierte, hatten sich die Praktiken zur Darstellung von Raumschiffen und Raketen in den Deutschschweizer Hörspielstudios bereits stark verändert. Der Einsatz von Raumfahrtgeräuschen schien für ein Publikum, das inzwischen viel über die klangliche Beschaffenheit der Weltraumfahrt wusste, obsolet geworden zu sein – zumindest verzichtete das Schweizer Radio in Science-Fiction-Hörspielen wie Die Feuerballons (1967), Das Unternehmen der Wega (1968) oder 2052, am Forschungstag 1 (1977) weitgehend darauf. Die veränderten Klangpraktiken zur stereotypen Darstellung von Start-, Flug- und Landeprozessen bei Raumschiffen verweisen somit einerseits auf ein anfängliches Bedürfnis nach Orientierung und einer Reduktion der komplexen technischen Vorgänge. Andererseits zeigt die zurückgehende Verwendung dieser Geräusche einen Wandel in den Hörgewohnheiten an und verdeutlicht damit die historische Bedingtheit solcher Stereotypen im Sinne Flückigers. Nebst der Weltraumfahrt stellte das Science-Fiction-Hörspiel auch andere Transportmöglichkeiten mit Geräuschen dar. In mehreren Werken wurde die Zugfahrt der Zukunft thematisiert. Beispielsweise unternimmt Eusebius Bitterli auf
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dem Mars eine Fahrt in einem «fliegende Pfyl» der «Mars-Bundes-Bahnen» (Eusebius Bitterli bei den Marsbewohnern, 37’59”).6 Die eingespielten Bandaufnahmen zur Darstellung der blitzschnellen Zugfahrt (38’19”) wurden gemäss Regieanweisungen mit den Geräuschen einer «Autotür» und einem «Staubsaugermotor» generiert (MS Eusebius Bitterli bei den Marsbewohnern, 19). Die laut summenden Zuggeräusche auf dem hochtechnisierten Mars nahmen im Bitterli-Hörspiel noch viel akustischen Raum ein. Dagegen wurde das Zugfahren in der grünen Science-Fiction-Utopie Ökotopia als dezentes Klangereignis präsentiert. Während bei der Anreise mit einem Taxi noch störende Geräusche wie Motorenlärm und seichte Hintergrundmusik zu hören sind (Ökotopia 1981, 1’07”), klingt die elektromagnetische Zugfahrt mit 250 km/h innerhalb Ökotopias wie ein leises Summen (6’13”). Damit werden in Ökotopia der Gegensatz zwischen einer lauten, hektischen Aussenwelt und einer ruhigen, natürlicheren Innenwelt mit dem Einsatz verschiedener Klangkulissen zum Ausdruck gebracht. Ein weiterer Grund für diese leisere Inszenierung einer ökotopianischen Zugfahrt könnte unter anderem darin bestanden haben, dass analog zu den Raumfahrtgeräuschen das Publikum mit dem Klang futuristischer Transportmöglichkeiten vertraut und eine explizite Darstellung überflüssig geworden war.
E LEKTRONISCHE M USIK VOM M ARS Abgesehen von stimmlichen und geräuschvollen Darstellungen wurden die Nova auch musikalisch inszeniert. Bei musikalischen Einlagen stehen in erster Linie die symbolische Repräsentation von Ideen, Vorstellungen und Intentionen im Vordergrund (Faltin 1981: 45–49). In der Forschung wird zwischen Hörspielmusik (Musik als eigenes dramaturgisches Mittel) und Musik im Hörspiel (Musik selbst als Bestandteil der Handlung) unterschieden (Schmedes 2002: 81). Da die Vertonung des Novums mit hörspielgestalterischen Mitteln im Vordergrund steht, liegt der Fokus im Folgenden auf musikalischen Einlagen, die als Bestandteil der Handlung auftreten und damit in der Funktion von Musik im Hörspiel wirken. In den frühen Science-Fiction-Hörspielen wurde das Novum größtenteils mit konventioneller Musik dargestellt. Im Stück Und wenn vielleicht in hundert Jahren … (1944) besteht ein bedeutendes Novum aus den so genannten «Sympathie-
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Im Manuskript werden die «Mars-Bundes-Bahnen» nicht erwähnt. Möglicherweise entstand diese Idee während den Aufnahmen und sollte das Publikum darüber informieren, dass es sich bei den anschließenden Geräuschen um eine angebliche Zugfahrt handelte.
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strahlen» (MS Und wenn vielleicht in hundert Jahren…, 3). Damit waren radioaktive Strahlen gemeint, die von der Seele ausgehen und das Gefühl der Liebe vermitteln. Laut Manuskript sollte die Tonalität dieser «Sympathiestrahlenmusik» (ebd.: 5) je nach Person variieren und zwischen «leise[r], zarter Musik» und «Töne[n], wie aus einer gestopften Trompete» (ebd.: 4) schwanken. Über den Klang dieser Sympathiestrahlen kann aufgrund der fehlenden Aufnahmen nur spekuliert werden. Mit großer Wahrscheinlichkeit wurden sie vom Zürcher Radioorchester eingespielt. In den 1950er Jahren war die Musik im Hörspiel geprägt von der aufkommenden Neuen Musik. Pierre Schaeffers musique concrète und elektronische Musik im Stile von Louis und Bebe Barron schienen wie geschaffen für die Vertonung fremder Science-Fiction-Welten. Gerade der Film war bestrebt, neueste Techniken und Ästhetiken zu verwenden, um die Vorstellungen futuristischer Szenarien zu verstärken (Butzmann und Martin 2012: 194). Im Gegenzug dienten diese Filme der Popularisierung avantgardistischer Musik und boten ihr eine «significant popular culture platform» (Brend 2012: 38). Vor diesem Hintergrund erfolgte im Verlaufe der 1950er Jahre eine Konsolidierung des Science-Fiction-Genres. Zentrale Traditionen wie die Assoziation ferner Welten mit elektronischem Klang oder die Vertonung von Robotern und anderen extraterrestrischen Wesen wurden etabliert. Zur Klangerzeugung verwendeten die Toningenieure der großen USamerikanischen Filmstudios elektronische Instrumente wie das russische Theremin (entwickelt 1917), das französische Ondes Martenot (1928) oder das deutsche Trautonium (1929). Besonders das Theremin kam in Science-FictionFilmen der frühen 1950er Jahren häufig zum Einsatz und verfestigte sich damit zu einer «aural signature» (Telotte 2014: 171) für etliche Science-Fiction-Produktionen. Elektronische Musik erklang in mehreren Science-Fiction-Hörspielen. Ausführlich kam sie in Eusebius Bitterli bei den Marsbewohnern (1956) zum Zuge. Dort wird Bitterli zu Ehren ein Musikstück auf dem Mars aufgeführt. Vorgetragen wird es von Robotern, welche alles, was ihnen der Komponist vorsetzt, unmittelbar und mit absoluter Präzision in Klang umsetzen. Anschließend erfolgt eine halbminütige Kostprobe dieser Robotermusik (Eusebius Bitterli bei den Marsbewohnern, 33’18”). Zu hören sind undefinierbare, arrhythmische und dissonante elektronische Klänge. Gegen Schluss des Stücks setzt eine hohe Melodie ein, die entweder mit einem Theremin eingespielt oder durch eine Frauenstimme erzeugt wurde. Das Stück endet abrupt mit einem kurzen elektrischen Summ- und Knallgeräusch, ganz so, als ob eine Sicherung durchgebrannt wäre. Im französischsprachigen Originalmanuskript von 1955 (Zitat rechts) und der deutschen Übersetzung (links) finden sich folgende Anweisungen zum Klang der Marsmusik:
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«Marsmusikstück. Nach Angabe von TERVAL soll als Basis konkrete Musik dienen, die mit Lokomotivpfiffen, Tierstimmen, Mitrailleusen durchsetzt ist. Ich würde auf die Tierstimmen verzichten, evtl. auch normale Musik schnell [l]aufen lassen und dazu elektronische.» (MS Eusebius Bitterli bei den Marsbewohnern, 18).
«Symphonie martienne. Pour réaliser cette symphonie, il conviendrait de faire un petit montage, en prenant comme base un fragment de musique concrète – si l’on en possède un – et de le farcir de cris d’animaux, grincements divers, sifflet de locomotive, rafales de mitrailleuse et autres condiments de ce genre.» (MS Désiré Biquet chez les Martiens, 28).
Mit «ich» im deutschsprachigen Zitat war sehr wahrscheinlich Hans Haeser gemeint, der als Mitarbeiter bei Radio Basel das Stück übersetzt und bearbeitet hat. Für die Anfangs-, Zwischen- und Schlussmusik war Hans Moeckel, damaliger Arrangeur und stellvertretender Dirigent beim Radioorchester Basel, zuständig. Ob Moeckel auch das «Marsmusikstück» komponiert hat, lässt sich nicht mit Sicherheit bestimmen. Bei der Realisierung der Robotermusik hielt man sich nur teilweise an die Vorgaben aus dem französischsprachigen Manuskript. Von Lokomotiven, Tieren oder Geschützen ist jedenfalls nichts zu hören. Dagegen erinnert das Stück hinsichtlich Machart und Klangästhetik an die erwähnte konkrete Musik. Die wirren, dissonanten und chaotisch angeordneten Töne wirken, zusammen mit dem Theremin-ähnlichen Klang und dem elektronischen Kurzschlussgeräusch, wie eine Parodie auf die Stilrichtungen der Neuen Musik. Hans Moeckel, der 1966 Dirigent des Unterhaltungsorchesters des Schweizer Radios wurde, gestaltete in zahlreichen anderen Science-Fiction-Hörspielen die musikalische Realisierung der Nova mit. In der Serie Reise ins Weltall komponierte er die so genannte «Sphärenmusik» (MS Reise ins Weltall, 1. Folge, 12), eine elektronisch erzeugte und unheimlich wirkende Musik, die jeweils beim Heranpirschen außerirdischer Raumschiffe erklingt. In der beliebten Hörspielreihe Verzell du das im Fährima (1958) ergänzte Moeckel die von ihm komponierte Orchestermusik stellenweise mit einem Theremin oder einem ähnlich klingenden Instrument (Verzell du das im Fährima, 17’13”). Schließlich kreierte er 1961 zusammen mit Hans-Ruedi Steiner und Pitt Linder erneut Musik vom Mars. Das Stück Ist die Erde bewohnt? (1961) beinhaltete eine Komposition des «marsopolitischen Landessinfonieorchesters» mit dem Titel «Avanti Con Motor» (Ist die Erde bewohnt?, 31’56”). Das Lied dauert knapp zwei Minuten – was bemerkenswert lange für eine Musikeinlage in einem Science-Fiction-Hörspiel ist – und weist viele Ähnlichkeiten mit dem «Marsmusikstück» bei Eusebius Bitterli auf.
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Insgesamt ist es aber rhythmischer, variantenreicher und technisch elaborierter. Möglicherweise wurden Teile davon auf einer Klavioline oder einem analogen Synthesizer eingespielt. Die Bezeichnung als «MARSOPOLITISCHE KAKOPHONIE» im Manuskript (MS Ist die Erde bewohnt?, 20, Herv. i. O.) dürfte auch in diesem Fall auf eine parodistische Intention von Seiten der Radioschaffenden hindeuten. Nebst Hans Moeckel war Ernst Neukomm, Tontechniker bei Radio Basel, seit den 1960er Jahren für den Sound in Science-Fiction-Hörspielen zuständig. In Stücken wie Wackere neue Welt (1969), Ihr werdet es Utopia nennen (1969) oder Ausbruch (1974) vertonte Neukomm mit elektronischen Klängen die Welt von Morgen. Die Abgrenzung von Musik und Geräuschen kann dabei nicht immer eindeutig ausgemacht werden. Während im Stück Ihr werdet es Utopia nennen ein «Melodien-Komputer [sic]» (MS Ihr werdet es Utopia nennen, 27) tiefe, wummernde Synthesizerklänge von sich gibt (Ihr werdet es Utopia nennen, 36’59”), klingen die Atmosphären im «Befruchtungsraum» (Wackere neue Welt, 17’12”) der Wackeren neuen Welt oder der «autogene Einschlafton» (Ausbruch, 6’52”) in Ausbruch ähnlich: Ein leises Brummen, das wellenartig an- und abschwillt – geräuschhaft in seiner Funktion, musikalisch in der Machart. Wie die «Sphärenmusik» in Reise ins Weltall sollten die elektronischen Klänge auch in diesen Hörspielen eine düstere und angstvolle Atmosphäre erzeugen. Im Verlaufe der 1970er Jahre kamen elektronische Klänge zur Darstellung von Nova immer seltener zum Einsatz. Elektronische Musik war inzwischen im Mainstream angekommen und konnte dem Publikum nicht mehr als «Sound der Zukunft» verkauft werden. Ähnlich wie im Falle der Raumfahrtgeräusche bildeten sich seit den späten 1960er Jahren neue Klangpraktiken heraus, welche die klischierten und inzwischen zu Stereotypen verdichteten Klangdispositionen zunehmend aufbrachen.
V ERÄNDERTE K LANGPRAKTIKEN , T RANSFORMATIONSPROZESSE UND DIE F RAGE NACH DEM SPEZIFISCH «S CHWEIZERISCHEN » Gerade letztere Beispiele der Geräusche und elektronischen Klänge weisen auf die historische Bedingtheit und Wandelbarkeit von akustischen Stereotypen und Klangkonventionen hin. Welche Inszenierungspraktiken hat die Übersetzung von Science-Fiction-Texten ins Hörspielformat also hervorgebracht und wie haben sie sich im Verlaufe der Zeit verändert? Auf stimmlicher Ebene klangen die Nova seit den 1930er Jahren wissenschaftlich, plausibel und männlich. Das Stereotyp des Wissenschaftlers – ob verrückt
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oder nicht – findet sich in beinahe allen untersuchten Science-Fiction-Hörspielen zwischen 1935 und 1985. Überall, wo eine Neuheit erzählt werden musste, ergriffen nüchterne Männerstimmen das Wort. Weniger konsistent waren die Klangpraktiken zur Inszenierung außerirdischer Wesen, einem Novum, das besonders in den 1950er und 60er Jahren große Beliebtheit genoss. Während einzelne Aliens rätselhafte und verschlüsselte Laute von sich gaben, kommunizierte die Mehrheit der Extraterrestrischen in einer für das Radiopublikum verständlichen Sprache. Im Gegensatz zu den Stimmen der Wissenschaftler erklärten die Stimmen der Außerirdischen meist das, was über die gefestigten Erkenntnisse der Wissenschaft hinausging. Weniger erklärend oder erzählend, als vielmehr zu illustrativen Zwecken, traten Roboter und andere technische Apparaturen in Erscheinung. Dabei zeigte sich ein Wandel weg von mechanischen, abgehakten und verzerrten Roboterstimmen hin zu organischeren und menschenähnlicheren Sprechweisen. Gerade die anfänglichen Roboterinszenierungen, die bis zur Mitte der 1970er Jahre vorherrschend waren, kombinierten die Zeichenträger Stimme und elektroakustische Manipulation in dem Maße gleich, so dass von einem Stereotyp oder einer «aural signature» gesprochen werden kann. Das Novum wurde nicht nur mit dem Einsatz verschiedener Stimmen zum Ausdruck gebracht. Eine wichtige Rolle in der Vertonung fiktionaler Welten nahmen auch Geräusche und musikalische Klänge ein. Hierbei zeigte sich ein weitreichender Einfluss elektronischer Musik. Besonders häufig kamen elektronische Musikeinlagen in den 1950er und 60er Jahren zum Einsatz. Sie waren wichtiger Bestandteil eines Narrativs, das von einer düsteren, entmenschlichten Zukunft berichtete. Während die Science-Fiction-Hörspiele der 1950er und frühen 1960er Jahre elektronische Musik explizit als solche und im Sinne von Musik im Hörspiel verwendeten, nahmen elektronische Klänge in späteren Produktionen eher eine geräuschhafte Funktion ein. Elektronische Musik mutierte im Laufe der 1970er Jahre zu Hintergrundmusik und bildete den Soundscape einer nach wie vor finsteren Zukunft. Ein ähnlicher Funktionswandel vollzog sich auch bei Geräuschen zur Inszenierung von Raumfahrt. Nahmen Start-, Flug- und Landegeräusche von Weltraumraketen bis in die 1960er Jahre noch viel Raum und Zeit in Anspruch, wurden sie in späteren Produktionen lediglich im Hintergrund angedeutet. Science Fiction im Hörspielmodus bedeutete somit eine Transformation von Text zu Ton, wobei im Zuge der akustischen Übersetzung Informationen hinzugefügt wurden, welche die Rezipierenden in mehrfacher Hinsicht über die Welt von Morgen orientierten. Stimmen erzählten von der Beschaffenheit fiktionaler Welten und gaben dabei immer auch Auskunft über das Geschlecht einzelner Ak-
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teure wie etwa Professoren oder Roboter. Geräusche und elektronische Klangerzeugungen informierten das Publikum über komplexe Vorgänge wie beispielsweise die Fortbewegung von Raumschiffen oder die schrecklichen Apparaturen einer künftigen Welt. Die Konventionen zur Vertonung der Nova waren nur bedingt und während gewisser historischer Phasen konstant. Klischierte und stereotype Darstellungen kamen durchaus vor, veränderten sich aber immer wieder aufgrund neuer Hörgewohnheiten und einer sich ständig weiterentwickelnden Audiotechnik. Die Science-Fiction-Hörspiele weiteten demnach die akustischen Möglichkeiten beständig aus – gleichzeitig gewöhnten sich die Ohren des Radiopublikums an die neuen Klänge, was wiederum neue und unkonventionelle Darstellungsweisen nach sich zog. Die Übersetzungsprozesse zwischen Text und Klang bilden ein Forschungsdesiderat, dem sich erst vereinzelte Studien im Bereich der Filmwissenschaften und Sound Studies gewidmet haben. Im Falle der Science-Fiction-Hörspiele des Schweizer Radios kommt ein einflussreicher Aspekt hinzu, der bislang kaum Beachtung erhalten hat: Die radiofone Produktion von Science Fiction erfolgte in der Schweiz durch eine öffentliche Institution, die an eine Konzession gebunden war. Eine Konzession, welche die Anstellung von Personen mit «schweizerischer Nationalität» sowie die Bewahrung und Förderung der «geistigen und kulturellen Werte» der Schweiz forderte (SRG Konzession 1953: 347–48). Vor diesem nationalen Hintergrund könnten weiterführende Forschungen folgende Fragestellungen bearbeiten: Welche Science-Fiction-Texte wurden von den Radiostudios ausgewählt bzw. abgelehnt und welche Änderungen nahmen Regisseure, Studiotechniker oder andere Radiomitarbeitende für die Hörspielproduktion vor? Welches institutionelle respektive nationale Selbstverständnis liegt hinter der Selektion, Bearbeitung und Produktion von Science-Fiction-Texten? Gerade die Science-Fiction-Hörspiele auf Schweizerdeutsch bieten zur Beantwortung dieser Fragen ein interessantes Untersuchungsfeld. Wie die erwähnten Beispiele gezeigt haben, setzten die Science-Fiction-Mundarthörspiele der 1970er Jahre auf stimmlicher und klanglicher Ebene mehr auf Nähe, Vertrautheit und einen bodenständigen Ton als auf unverständliche Aliens, verzerrte Roboterstimmen oder düstere elektronische Klangatmosphären. Ob die Schweiz von Morgen als dystopische Welt wie in Abträtte oder als grüne Utopie wie in Ökotopia erzählt wurde, spielte dabei keine Rolle. In klangästhetischer Hinsicht teilten die Mundartstücke viele Gemeinsamkeiten, die in einem deutlichen Kontrast zu den hochdeutschen Produktionen standen. Weshalb gerade für die schweizerdeutschen Science-Fiction-Hörspiele solche Klangpraktiken verwendet wurden, sollte mit Blick auf das nationale Selbstverständnis des Schweizer Radios eingehender untersucht werden.
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Q UELLEN
UND
L ITERATUR
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Callenbach, Ernest/Lukas Hartmann (Übersetzung und Bearbeitung) (1981): Ökotopia. Regie: Charles Benoit. Hörspiele, Radiostudio Zürich Lange, Arthur/Albert Rösler (Bearbeitung) (1948): Die Windrose, ein Radiofeuilleton. Nr. 2. «A. P. I. startet zum Mond», eine Raketenfahrt ins Weltall. Regie: Albert Rösler. Marsus, Jean/Hans Hellwig (Übersetzung) (1977): 2052, am Forschungstag 1. Regie: Walter Baumgartner. Widmer, Hans (P.M.) (1984): Tucui. Regie: Rudolf Straub. Zauner, Friedrich Christian/Arnim Halter (Übersetzung und Bearbeitung). (1975): Abträtte. Regie: Walter Baumgartner. Hörspielmanuskripte Adrian, Walter (1963): Ein Mensch kehrt zurück. Regie: Amido Hoffmann. Manuskript. Archiv Radiostudio Bern. Chilton, Charles/Albert Werner (Übersetzung und Bearbeitung) (1958): Reise ins Weltall. Eine Utopie in fünf Folgen. Regie: Hans Hausmann. Musik: Hans Moeckel. Manuskript. Archiv Radiostudio Basel. Dolezal, Erich/Fred Hernfeld (Bearbeitung) (1935): Der Ruf der Sterne. Regie: Werner Düby. Manuskript. Archiv Radiostudio Bern. Flatau, Else (1944): Und wenn vielleicht in hundert Jahren…. Regie: Arthur Welti. Musik: Hans Vogt. Manuskript. Archiv Radiostudio Zürich. Hugin, Irmtraut (1936): Planeten-Express. Ein Rendez-vous im Aether und ein Weekend auf dem Mond. Regie: Hans Haeser. Musik: Hans Vogt. Manuskript. Archiv Radiostudio Basel. Lange, Arthur/Albert Rösler (Bearbeitung) (1948): Die Windrose, ein Radiofeuilleton. Nr. 2. «A. P. I. startet zum Mond», eine Raketenfahrt ins Weltall. Regie: Albert Rösler. Manuskript. Archiv Radiostudio Zürich. Parr, Charles/Brian Aldiss und Albert Werner (1961): Ist die Erde bewohnt? Eine Sendung von Radio Marsopolis. Regie: Albert Werner. Musik: Hans Moeckel. Manuskript. Archiv Radiostudio Basel. Schmitz, Emil-Heinz (1969): Ihr werdet es Utopia nennen. Regie: Martin Bopp. Musik: Ernst Neukomm. Manuskript. Archiv Radiostudio Basel. Vitali, Felice (1953): Der künstliche Planet. Eine Reportage, die noch nicht stattgefunden hat … Regie: Robert Bichler. Manuskript. Archiv Radiostudio Zürich.
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Walter, Franz (Terval)/Hans Haeser (Übersetzung und Bearbeitung) (1956): Eusebius Bitterli bei den Marsbewohnern. Regie: Hans Hausmann. Musik: Hans Moeckel. Manuskript. Archiv Radiostudio Basel. Walter, Franz (Terval) (1955): Désiré Biquet chez les Martiens. Fantaisie policière gaie de Terval. Manuskript. Archiv Radiostudio Basel. Ungedruckte Quellen Chilton, Charles (1989): Interview with Charles Chilton. In Round Midnight, 18. Mai 1989, BBC Radio 2. Hausmann, Werner (1959): Für das Jahrbuch 1959 der S.R.G. Das Hörspiel. Msse [Manuskripte] von Werner Hausmann und andere Texte. Archiv Radiostudio Basel. Gedruckte Quellen Clarke, Arthur C. (1958): The Songs of Distant Earth. In: Worlds of Science Fiction: 6.–29. Juni (1958). Konzession der Schweizerischen Rundspruchgesellschaft (SRG) (1953): Konzession für die Benützung der Radiosende- und -übertragungsanlagen der Schweizerischen Post-, Telegraphen- und Telephonverwaltung zur Verbreitung von Radioprogrammen. In: Bundesblatt 42 (3): 345–354. [NZZ] Ltg., W. (1935): Radio. Schweizerische Radiochronik. In: Neue Zürcher Zeitung, 19. Februar 1935. [NZZ] Tau. (1975): Am Radio gehört. Bernhard Bossert tritt ab. In: Neue Zürcher Zeitung, 5. Juni 1975.
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Radio: Bilder hören Auditive Transkriptivität – Strategien zur Erzeugung von Bildern im Kopf R OLAND J ÄGER
I MPLIKATION I: «R EZIPIENTEN VON R ADIOBEITRÄGEN STELLEN SICH VISUELLE MENTALE I MAGES VOR .» Die Metapher, Radio erzeuge ‹Bilder im Kopf› des Hörers, wurde unter anderem durch das Handbuch «Radiojournalismus» in der Rundfunkbranche verbreitet. In dem Standardwerk heißt es, Reporter seien die Kameramänner des Hörfunks (La Roche/Buchholz 1980: 141). Die Metapher impliziert (erstens), dass sich Hörer während der Rezeption von Radio-Kommunikaten visuelle mentale Images vorstellen und (zweitens), dass Reporter Kamera-analog arbeiten, indem sie visuelle Eindrücke aufnehmen und in eine Montage sprachlicher und nicht-sprachlicher Zeichen übertragen, die einander bedeutungsmodulierend beeinflussen. Beide Annahmen werden hier unter linguistischen Gesichtspunkten überprüft. Die Frame-Theorie liefert einen Erklärungsansatz zur Generierung von Vorstellungsbildern. Um die zweite Implikation zu untersuchen, wird die Theorie der rekursiven Transkriptivität (L. Jäger 2002) nach Vorbild von Holly (2009) auf den Hörfunk übertragen. Die Analyse einer Non-Live-Reportage auf Grundlage dieser Theorien soll Strategien zur Erzeugung von Bildern im Kopf offenlegen, die im Hörfunk angewandt werden.1 Die Kognitive Linguistik geht davon aus, dass mentale Repräsentationen die Grundlage aller Vorstellungsprozesse bilden. Dabei basiert sprachliches Denken
1
Die Vorgehensweise und Analyse dieses Artikels basieren auf R. Jäger (2016).
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auf propositionalen Repräsentationen, wohingegen bildliche Vorstellungen (visuelle mentale Images) durch Aktivierung piktorialer Repräsentationen2 erzeugt werden. Beide Arten von Repräsentationen sind Teil von übergeordneten multimodalen Wissensstrukturen, die «Konzepte» oder «Schemata» genannt werden: «Unter ‹Schemata› verstehe ich im Folgenden ein allgemeines, modalitätsunspezifisches Strukturformat, unter ‹Frames› hingegen eine semantische Organisationseinheit. Der Begriff ‹Schema› fungiert also als Oberbegriff für alle komplexen konzeptuellen Strukturen.» (Ziem 2008: 257)
Schemata sind gestalthaft: Die verschiedenen in einem Schema instanziierten verbalen und piktorialen Repräsentationen «existieren mental nicht als einzelne, isolierte Elemente, sondern vielmehr als integrale Bestandteile eines ganzheitlichen Strukturgefüges» (ebd.: 269). Ein solches Gefüge ist in Abb. 1 skizziert.
ͥͤ
Abb. 1: Repräsentationsformate verschiedener Modalität in Relation (eigene Darstellung).
Wenn der Klang eines Wortes eine sprachliche Repräsentation aufruft, wird das gesamte Schema, inklusive piktorialer Teilrepräsentationen, abgerufen. Allerdings kann nicht zu jeder sprachlichen Repräsentation eine visuelle mentale Vorstellung generiert werden. Leicht fällt dies nur während der Rezeption von Wörtern des basic level, die hinsichtlich ihres Abstraktionsgrades unter Begriffen des superordinate level, aber über konkreteren Begriffen des subordinate level lie-
2
Diese Erklärung bildlichen Vorstellens, die piktorialistische These, wurde maßgeblich von Kosslyn (1980/1994) geformt. Dem Piktorialismus steht der Deskriptionalismus entgegen, der die Existenz bildlicher Repräsentationen bestreitet. Gottschling (2003) diskutiert beide Perspektiven. Vgl. hierzu auch Ganis (2013).
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gen (vgl. Rosch 1978: 34). Das Basislevel-Wort «Pferd», zu dem vergleichsweise leicht eine visuelle Vorstellung aufgebaut werden kann, ist beispielsweise zwischen dem Hyperonym «Nutztier» (superordinate level) und dem Hyponym «Schweizer Warmblut» (subordinate level) angesiedelt. Basislevel-Wörter sind kurz, kontextneutral und treten in alltäglicher Kommunikation häufig auf (vgl. Buchholz 1998: 107). Laut Buchholz (ebd.) sind die Begriffe bzw. Konzepte des Basislevels nicht nur gegenstandsbezeichnend (wie «Pferd», «Kutsche», «Haus», «Auto» usw.), sondern auch handlungs- und eigenschaftsbezeichnend (wie «ziehen», «gehen», «reiten» und «hell», «dunkel», «warm», «kalt»). Für Hörfilme, die Gemeinsamkeiten mit Radioreportagen aufweisen, hat Fix (2011) die Verwendung von Basislevel-Wörtern untersucht. In Hörfilmen beschreibt ein Erzähler Bildinhalte für sehbehinderte Rezipienten, um – wie im Hörfunk – Bilder im Kopf zu erzeugen. Die Audiodeskriptoren nutzen häufig Basislevel-Wörter, denn «Basiskategorien sind […] die allgemeinste Ebene, auf der der Rezipient eine bildliche Vorstellung (bzw. ein Schema) zu einer ganzen Kategorie abrufen kann» (Fix 2011: 317). Um Strategien zur Erzeugung von visuellen Vorstellungen zu identifizieren, müssen Analysen daher klären, ob Basislevel-Wörter verwendet werden und zudem herausarbeiten, wie diese Wörter in Beziehung zu ebenfalls verwendeten nicht-sprachlichen Zeichen stehen.
I MPLIKATION II: «R EPORTER ÜBERTRAGEN VISUELLE E INDRÜCKE IN EINE M ONTAGE SPRACHLICHER UND NICHT - SPRACHLICHER Z EICHEN .» Das Zeichenrepertoire des Hörfunks beinhaltet Lautsprache, atmosphärische Töne (kurz: Atmos) sprachlichen, tierischen und artifiziellen Ursprungs, Spezialeffekte (kurz: SFX) und Musik.3 Diese Zeichenarten sind für das Verständnis eines Radiobeitrages relevant im Sinne der dritten Konversationsmaxime nach Grice (2010: 199f.), denn die Redakteure halten sowohl intradiegetische 4 Töne (Zeichen, die in der originären Reportage-Situation aufgenommen wurden), als auch extradiegetische Töne (Zeichen, die einer Aufnahme im Schnitt beigefügt wer-
3
Wobei Musik (entweder im Vordergrund als «Hook» oder im Hintergrund als «ModBed» (Moderationsbett) untermalend eingesetzt) im Folgenden ausgeblendet wird. Die Untersuchung der Wechselwirkung von Musik und Text erfordert eine musiktheoretisch fundierte Analyse.
4
Zur Unterscheidung von extra- und intradiegetischen Geräuschen vgl. Burger/ Luginbühl (2014: 97).
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den und nicht aus der originären Reportage-Situation stammen) für Elemente, die zur Erfüllung der Kommunikationsfunktion radiospezifischer Kommunikate beitragen. Wäre dies nicht der Fall, würden diese Zeichen dem Sprechertext nicht aufwendig im digitalen Produktionsprozess beigemischt. Die Bedeutungen, die intra- und extradiegetische nicht-sprachliche Zeichen in HörfunkKommunikate einbringen, dürfen in einer linguistischen Betrachtung nicht einfach vernachlässigt werden.5 Daher wird in dieser Arbeit die Hypothese aufgestellt, dass die in Hörfunk-Kommunikaten verwendeten Zeichen in besonderer Art und Weise kombiniert werden: Sie greifen reißverschlussartig, im Prozess «auditiver Transkriptivität», ineinander und bilden dabei verschiedene Muster (vgl. Holly 2009). Diese Transkriptionsmuster spiegeln Strategien wider, die Hörfunkreporter anwenden, um auf Seiten der Rezipienten mentale Bilder zu erzeugen. Die Zeichenarten, die im Hörfunk verwendet werden, operieren ausschließlich im auditiven Modus, unterscheiden sich aber bezüglich ihrer Einordnung als Symbol, Ikon oder Index und somit auch hinsichtlich ihrer arbiträren oder aber wahrnehmungsnahen Kodierungsstruktur. Kode/Zeichenart (Symbol, Ikon, Index)
Modalität
Kodierungsstruktur
Atmo: natürlich (indexikalisch)
auditiv
wahrnehmungsnah
Atmo: sprachlich (symbolisch, indexikalisch)
auditiv
wahrnehmungsnah
Atmo: tierisch (indexikalisch)
auditiv
wahrnehmungsnah
Atmo: kulturell/artifiziell (indexikalisch)
auditiv
wahrnehmungsnah
Spezialeffekte: Atmo-ähnlich (ikonisch)6
auditiv
wahrnehmungsnah
Lautsprache (symbolisch)
auditiv
arbiträr/teilmotiviert
Abb. 2: Die semiotischen Merkmale der Kodes des Hörfunks (Auswahl) in Anlehnung an Holly (2009: 392) bzw. Sachs-Hombach (2003: 96).
5
Zur Diskussion, ob nicht-sprachliche Zeichen Teil von Texten sind vgl. Fix et al. (2002).
6
Andere Arten von SFX fungieren referentiell («Soundlogos») oder überformend: Überformende SFX modulieren die Bedeutungen von Geräuschen oder Sprache durch Beimischung von Übersteuerung, Verzerrung, Hall oder Verzögerung.
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Das Merkmal der Kodierungsstruktur beschreibt die Art der Bedeutungszuweisung der Zeichenarten: Während Sprache ein symbolisches Zeichensystem und somit arbiträr ist, sind ikonische bzw. indexikalische Atmo-Töne und Spezialeffekte wahrnehmungsnah kodiert. Der Begriff der Wahrnehmungsnähe besagt, dass für die Interpretation dieser Zeichen der Rekurs auf Wahrnehmungskompetenzen konstitutiv sei und die Struktur der Zeichenträger (im Unterschied zu arbiträren Zeichen) zumindest Hinweise auf die Zeichenbedeutung enthalte (vgl. Sachs-Hombach 2003: 88). Holly fasst den Unterschied zwischen Sprachkode und (Bild-)Zeichen prägnant zusammen: «Man könnte auch sagen, dass Sprache ‹wahrnehmungsfern› sei. Bilder sind sinnlich, Sprache ist abstrakt […]» (Holly 2013: 1). Diese Beschreibung lässt sich auf den auditiven Zeichenbereich übertragen: Ebenso wie Bilder sind auch nicht-sprachliche wahrnehmungsnahe Töne ‹sinnlich›. Dies wird (in der altbekannten metaphorischen Beschreibungsweise) auch in Journalisten-Handbüchern betont: «Was Sie an Geräuschen und Atmos im Kasten haben, liefert später, in Ihrem fertigen Feature, sozusagen ‹die Bilder zum Film›. Gerade weil wir in einer einseitig auf das Auge ausgerichteten Zeit leben, beeindrucken Geräusche und Atmosphären […] Hörer unerwartet stark. Sie sprechen ohne Umwege Gefühle an und geben Stimmungen direkter wieder als Worte. Sie geben Ihren Features sinnliche Tiefe […].» (Zindel/Rein 2007: 115)
Dieses Zitat belegt zwar die Bedeutung der Kopfkino-Metapher in der journalistischen Ausbildung, genügt linguistischen Ansprüchen aber nicht. Daher sollen die atmosphärischen Töne genauer beschrieben werden: Atmo-Töne lassen sich unterteilen in solche natürlichen, sprachlichen, tierischen sowie kulturellen/ artifiziellen Ursprungs. Wahrnehmungsnahe natürliche Atmos werden weder von Maschinen, noch von Lebewesen erzeugt. Die Lautstrukturen dieser Zeichen sind den physikalischen Voraussetzungen ihrer Hervorbringung unterworfen, sodass die Struktur der Zeichenträger bestimmte Hinweise auf die Zeichenbedeutungen enthält. So unterscheidet sich etwa das Rauschen einer lauen Windböe vom Tosen eines Sturmes oder das Plätschern eines Baches vom Donnern eines Wasserfalls. Ein (intradiegetisches) Windgeräusch ist z.B. ein Index dafür, dass ein Reporter nicht im Studio steht, sondern ‹vor Ort› ist. Ist auf einer Aufnahme hingegen die Lautsprache von Windgeräuschen und sonstiger natürlicher Atmo isoliert, verliert eine Reportage die Elemente, die sie von einer Studioaufnahme unterscheiden, womit ihre Authentizität schwindet.
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Sprachliche Atmo zeigt die Präsenz von Menschen in der Umgebung des Reporters an. Was diese Personen sagen, ist nicht zu verstehen, weshalb der arbiträre Charakter der Sprache in den Hintergrund tritt. Sprachliche Atmo deutet eher (indexikalisch) an, von welcher Gesellschaft der Reporter umgeben ist bzw. in welcher Stimmung diese Menschen sind. Tierische Atmo kann oft nicht eindeutig interpretiert werden. Ein Vogelzwitschern dürfte von den meisten Hörern als ein ebensolches wahrgenommen werden (und nicht z.B. als Balzruf eines Rotkehlchens identifiziert werden können). Tierische Atmo ist indexikalisch: Die Töne zeigen die Präsenz bestimmter Tiere oder Tiergattungen an. Kulturelle/artifizielle Atmo-Geräusche werden von Menschen und menschlichen Tätigkeiten (z.B. Händeklatschen) bzw. Produkten (z.B. Motorgeräuschen) hervorgebracht. Auch diese Atmo-Töne sind wahrnehmungsnah kodiert: Beispielsweise klingt der Motor eines Traktors tiefer als der Antrieb eines modernen Hybrid-Autos. Computergenerierte extradiegetische Spezialeffekte bilden eine weitere Kategorie non-verbaler Geräusche. Effekte können Atmo-Tönen täuschend ähnlich sein, d.h. ikonische Züge tragen. Solche SFX imitieren Atmo-Geräusche und werden von Hörfunkredakteuren zur Erfüllung derselben Funktionen eingesetzt. Effekte klingen besonders präsent und werden nicht von Störgeräuschen überlagert. Werden sie dezent und dramaturgisch geschickt eingesetzt, können sie die Atmosphäre eines Beitrages verdichten und ergänzen. Lautsprache als System bedeutungstragender und -unterscheidender Zeichen ist arbiträr kodiert7 (wobei komplexe mehrgliedrige Wörter, die etwa durch Komposition entstehen, allerdings zumindest teilmotiviert gebildet werden 8). Im Hörfunk wird Sprache sowohl intra- als auch extradiegetisch eingesetzt: Während in Live-Reportagen und Moderationen unmittelbar zu den Hörern gesprochen wird, werden die sprachlichen Bestandteile von im Studio produzierten Beiträgen digital bearbeitet und geschnitten. Einige Typen von RadioKommunikaten haben Volkmer (2000) und Burger/Luginbühl (2014) auf die Spezifika der Lautsprache hin untersucht. Holly fasst die Kennzeichen von Lautsprache zusammen:
7
Mit der arbiträren Lautsprache gehen allerdings weitere wahrnehmungsnah kodierte Zeichenbestandteile einher. Paraverbale Zeichen, die den «stimmlich-artikulatorischen Ausdruck» bilden, lassen Rückschlüsse auf die Gemütsverfassung von Gesprächspartnern, Moderatoren oder Reportern zu (vgl. Bose 2010: 58).
8
Hinweis von A. Burkhardt (Gespräch am 8. März 2016).
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«Merkmale gesprochener Sprache sollen sein: kürzere, weniger komplexe Sätze, Parataxe, Ellipsen, Anakoluthe, Herausstellungen, Modalpartikeln, Sprechersignale, Referenzen auf die eigene Person, Einstellungsbekundungen, ein schmaleres Vokabular, Vagheit, direkte Rede, Verzögerungsphänomene, Selbstkorrekturen, weniger Kohärenz, aber mehr Personalisierung.» (Holly 1996: 34, Hervorhebung im Original)
Nach dieser komprimierten semiotischen Analyse der Zeichenarten gilt es, deren Interaktionsmuster aus einem «Beitrag mit Einspieler» (kurz: BmE) herauszuarbeiten. Dies erfordert eine genaue Verschriftlichung des Kommunikates. Dennoch konnten die hörbaren Geräusche nicht immer eindeutig in die beschriebenen Kode-Kategorien sortiert werden, da die Kodes einander überlagern. Diese Überlagerungen sind authentisch, wenn sie intradiegetisch (in einem einzigen Take und z.T. nicht intentional) aufgenommen wurden. Überlagerungen können auch extradiegetisch erzeugt werden, wenn im Produktionsprozess mehrere Atmo-Aufnahmen übereinander montiert werden, um die Töne kontrollierter, plakativer und dramaturgisch sinnvoller mit dem Text zu verweben (vgl. Zindel/ Rein 2007: 117). Die Überlagerung der Kodes, die für eine Analyse eine Herausforderung darstellt, ist zugleich Voraussetzung für wechselseitige Bedeutungsbeeinflussung: Erst die parallele Anordnung der Kodes ermöglicht das Ablaufen transkriptiver Prozesse, in denen die Zeichen einander ‹anders hörbar› machen (vgl. Jäger/Holly 2011).
AUDITIVE T RANSKRIPTIVITÄT : B EDEUTUNGSMODULIERUNG DURCH WECHSELSEITIGE B EZUGNAHME DER Z EICHENARTEN Ludwig Jäger zweifelt am traditionellen Sprachzeichenmodell, demzufolge Form- und Inhaltsseite eines Zeichens fest miteinander verbunden und dauerhaft mental präsent sind (vgl. Saussure 2001: 79; Jäger 2004). Stattdessen erhielten sprachliche Zeichen erst im Gebrauch ihren jeweiligen Inhalt; Bedeutungen konstituierten sich in Prozessen ‹rekursiver Transkriptivität› (vgl. Jäger 2002). «Transkriptiv» sind alle Prozesse, «die durch die wechselseitige Bezugnahme differenter Medien», das hieße intermedial, oder aber intramedial, bei Bezugnahme «symbolischer Mittel desselben Systems aufeinander» Bedeutungen hervorbringen (Jäger 2004: 48). Jägers Konzept kann hier nur komprimiert dargelegt werden: Transkriptionen sind Prozesse der Konstitution von Bedeutung, in denen eingeschränkt lesbare, gestörte Präskripte (d.h. Bedeutungen), durch interoder intramediale Bezugnahme auf andere Zeichen bzw. Zeichenarten in anders
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lesbare, ungestörte Skripte (d.h. spezifizierte Bedeutungen bzw. Bedeutungskomplexe) überführt werden. Transkriptionen können auch fehlschlagen, falls Präskripte zu unlesbaren Skripten umgeformt werden (vgl. Jäger 2002: 33f.; Holly 2011: 159). Holly (2005, 2007, 2009) überträgt Jägers Idee der «rekursiven Transkriptivität» auf das audiovisuelle Medium Fernsehen, fasst dabei jedoch die Sprache (und ebenso das Filmbild) nicht als Medien, sondern als Zeichensysteme auf.9 Hollys Theorie der «performativen Dynamik audiovisueller Transkriptivität» zeigt, dass das Konzept der Transkriptivität auch mit der traditionellen (nonmedialen) Perspektive auf Sprache vereinbar ist. «Das Erschließen von Sinn durch ‹Transkribieren›, d.h. Kommentieren, Erklären oder Paraphrasieren von Botschaften eines Zeichensystems […] durch ein anderes» (Stöckl 2011: 47) funktioniert aber nicht nur auf audiovisueller, sondern auch auf rein auditiver Grundlage. Das Konzept der «auditiven Transkriptivität» unterscheidet sich in einigen Punkten von Jägers rekursiver Transkriptivität. Da Sprache hier als System von Zeichen mit (relativ) festgefügter Bedeutung angesehen wird, impliziert dies, dass Transkriptivität nicht bedeutungskonstituierend fungieren kann, sondern lediglich bedeutungsmodulierend: In Prozessen auditiver Transkriptivität werden defizitäre, gestörte Präskripte (mit eingeschränkt identifizierbaren bzw. interpretierbaren Bedeutungen) durch Bezugnahme auf andere Zeichen bzw. auf andere Zeichenarten in transparente Skripte (mit präzisierten, ‹anders hörbaren› Bedeutungen) überführt. Als ‹Defizite› werden, nach Holly (2007: 392), die semiotischen Eigenschaften der Zeichenarten aufgefasst, welche die durch sie aufgerufenen Präskripte transkriptionsbedürftig erscheinen lassen. Die Tabelle zeigt Defizite und Potenziale von Atmo und Lautsprache bezüglich der glaubwürdigen Darstellung von Sachverhalten (Abb. 3).
9
Dies gilt zumindest für ältere Publikationen, etwa Holly (2005/2007/2009). In jüngeren Arbeiten, die zum Teil in direkter Zusammenarbeit mit Jäger entstanden, vertritt Holly hingegen ebenfalls eine medienorientierte Sprachauffassung, vgl. Holly (2011: 149) sowie Holly/Jäger (2011).
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Atmo/SFX darstellbar?
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Sprache
Darstellbarkeitsdefizit:
Darstellbarkeitspotenzial:
- nicht alles kann erklingen
- ich kann fast alles (genau)
- Atmo ermöglicht keine ein-
sagen
deutigen Aussagen glaubwürdig?
Glaubwürdigkeitspotenzial:
Glaubwürdigkeitsdefizit:
- was erklingt, klingt
- nicht alles, was ich sage, hat
authentisch
Beweiskraft
Abb. 3: Defizite und Potenziale von Sprache und Atmo.10
Mit der arbiträr kodierten Sprache können Sachverhalte äußerst präzise geschildert werden (Potenzial). Zugleich ist die Glaubwürdigkeit sprachlicher Äußerungen eingeschränkt (Defizit), da prinzipiell alles Mögliche und Unmögliche behauptet werden kann. Die verschiedenen indexikalischen Atmo-Typen ermöglichen es hingegen, aufgrund ihrer Wahrnehmungsnähe, sprachlich geschilderte Sachverhalte zu authentifizieren (Potenzial). Aus diesen Boni und Mali ergeben sich hörfunkspezifische Muster auditiver Transkriptivität, d.h. Muster des Zusammenspiels von Sprache und Atmos bzw. SFX: 1. Atmo-Geräusche mit Worten hören, d.h. Atmos durch lautsprachliche Äußerungen erläutern oder erklären: Da eine eindeutige Interpretation aufgrund der Wahrnehmungsnähe von Atmo-Geräuschen kaum möglich ist (vgl. Merkmalsmatrix Abb. 3), wird Atmo häufig durch lautsprachliche Zeichen transkribiert. An Holly (2009: 399) angelehnt ließe sich dieses Muster mit den Worten «Wenn man uns sagt, was wir hören, dann hören wir es auch» beschreiben. Das Muster steht in Wechselwirkung mit dem zweiten Muster. 2. Mit Atmo-Geräuschen untermalen bzw. authentifizieren, d.h. die lautsprachlich formulierte Behauptung der Vor-Ort-Präsenz mit Atmo-Geräuschen ‹beweisen›: Wenn wir hören, dass vom Ort des Geschehens berichtet wird, dann schenken wir dem Bericht mehr Glauben. Von großer Bedeutung ist hier die natürliche Atmo, die anzeigt, dass sich ein Reporter außerhalb eines Studios befindet. Die eventuell zusätzlich hörbare sprachliche, tierische oder kulturelle/artifizielle Atmo muss die Situation widerspiegeln bzw. ergänzen, die der Reporter lautsprachlich schildert. Offen hörbare Widersprüche können zum Verlust der Authentizität eines Beitrages führen.
10 Bei dieser Übersicht handelt es sich um eine abgewandelte Form der Merkmalsmatrix aus Holly (2010: 372).
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3. SFX mit Worten hören, d.h. auf atmo-ähnliche und insofern wahrnehmungsnahe Spezialeffekte lautsprachlich Bezug nehmen: Grundsätzlich intendiert Muster III die gleichen Funktionen wie Muster 1. Es ermöglicht eine eindeutige Identifizierung von atmo-ähnlichen Spezialeffekten. 4. Mit SFX untermalen, d.h. mit Spezialeffekten lautsprachliche Äußerungen paraphrasieren: In diesem Fall sind die atmo-ähnlichen Effekte und die lautsprachlichen Äußerungen zumindest teilweise redundant (wenn beispielsweise Motorgeräusche während der lautsprachlichen Beschreibung eines Autos eingeblendet werden). Zugleich können die zur Untermalung oder Illustration eingesetzten Effekte dem im Zuge der Transkription entstehenden Bedeutungskomplex neue Nebenbedeutungen hinzufügen. 5. Durch Sprecherwechsel explizieren und personalisieren, d.h. die lautsprachlichen Äußerungen eines Sprechers (z.B. des Reporters) mit lautsprachlichen Äußerungen eines anderen Sprechers (z.B. eines O-Ton-Gebers) transkribieren: In diesem Fall liegt zwar keine wechselseitige Bezugnahme verschiedener Zeichensysteme mit spezifischen Kodierungsstrukturen vor, aber es wird ebenfalls ein Präskript (angerissen vom ersten Sprecher) zu einem anders lesbaren Skript umgedeutet (durch den zweiten Sprecher). Ein BmE soll nun auf das Vorhandensein dieser hypothetischen Transkriptionsmuster hin überprüft werden. Um das Hörerlebnis der Rezipienten nachzuvollziehen, sollte der Beitrag zuerst gehört und danach anhand der Verschriftlichung gelesen werden. ♫ Hörbeispiel 1: Wittenbecher (2011), https://doi.org/10.5167/uzh-156844 (Ausschnitt, 1’52 min).
ANALYSE : B M E (N ON -L IVE -R EPORTAGE ) I M S ATTEL DURCHS L AND Im Beitrag Im Sattel durchs Land (Wittenbecher 2011) stellt eine Redakteurin ein Reiseangebot in der sachsen-anhaltischen Altmark vor. Der Beitrag verfügt nicht über eine durchgehende Atmo-Kulisse. Nur zu Beginn und Ende sind die lautsprachlichen Äußerungen von eingeschnittener (extradiegetischer) Atmo unterlegt. Daran zeigt sich, dass die Reporterin strenggenommen gar nicht rapportiert: Sie hat ihren Text nicht (quasi-)live auf dem Reiterhof gesprochen, sondern im Studio aufgenommen und bearbeitet. Demgegenüber stehen die O-Töne ihrer Gesprächspartner, die von intradiegetischer Atmo unterlegt sind.
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Zeile 1
Atmo, SFX11
Lautsprache (Reporterin [r]) tierische Atmo sowie kulturelle/artifizielle Atmo
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. Trabgeräusche,
[r] Auf den Straßen von Hohenberg-Krusemark sieht man . Quietschen viel häufiger Kutschen und Pferde als Autos. (‒) Zwischen . 5
den flachen Wiesen und idyllischen Dörfern ziehen zwei . große Pferde die Kutsche von Uwe und Eike Trumpf. Die . beiden Brüder haben hier einen großen Reiterhof mit einer . kleinen Pension; ein wahres Pferdeparadies. (‒)
Der Klang trabender Pferde läutet den Beitrag ein. Zugleich ist ein Quietschen zu hören, von dem unklar ist, woher es stammt (Z. 1). Die tierischen bzw. kulturellen/artifiziellen Atmo-Töne sind wahrnehmungsnah kodiert und rufen daher ‹gestörte›, nicht eindeutig identifizier- und interpretierbare Präskripte auf. Den Interpretationsrahmen, der zur Einordnung der Klänge notwendig ist, liefert wenig später das (laut-)sprachliche Zeichensystem, indem die Reporterin «Kutschen und Pferde» (Z. 4) nennt. Das Transkriptionsmuster 1 (Atmo mit Worten hören) macht die unscharfe Bedeutung der Atmo-Geräusche ‹anders hörbar›: Das Quietschen stammt von einer fahrenden Kutsche, die von trabenden Pferden gezogen wird. Die Reporterin verwendet fast ausschließlich Basislevel-Wörter (Z. 3‒6: «Straßen», «Kutschen», «Pferde», «Autos», «Wiesen», «Dörfer», «ziehen»). Indem die sprachlichen Repräsentationen dieser Wörter aufgerufen werden, werden auch die zu diesen Repräsentationen gehörigen multimodalen Schemata (inklusive piktorialer Repräsentationen) abgerufen und damit die Vorstellung von Bildern ermöglicht. Die Begriffe «Kutsche» und «Pferde» werden sprachlich und zugleich non-verbal attribuiert, da die Beschreibung der Reporterin durch die wahrnehmungsnahe Geräuschkulisse der Fahr- und Trabgeräusche «untermalt und authentifiziert» wird (Transkriptionsmuster 2). Die Reporterin verschweigt in ihrer Schilderung einige Details, da sie weder das Aussehen der Kutsche beschreibt, noch die Rasse der Pferde nennt. Die Hörer können diese Leerstellen mit individuellem Vorwissen füllen und so eigene Vorstellungen entwickeln.
11 Die Punkte in der rechten Tabellenspalte deuten an, bis wann die jeweiligen Geräusche zu hören sind, hier: Trabgeräusche und Quietschen bis etwa Zeile 8.
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Im letzten Abschnitt (Z. 6‒8) wird der thematische Bezugsrahmen des gesamten Beitrages durch den Frame «Reiterhof» aufgerufen. Indem der Rahmen aufgerufen wird, werden zugleich instanziierte «Standardwerte» abgerufen (vgl. Ziem 2008: 335ff.). Der Hörer nimmt unbewusst eine Art Erwartungshaltung ein; setzt das Vorhandensein typischer Personen, Tiere und Gegenstände, die wiederum typische Handlungen vollziehen, voraus. Durch diese Erwartungen wird das eigentlich abstrakte Determinativkompositum «Pferdeparadies» visualisierbar: Es beinhaltet das Basislevel-Wort «Pferd» als Bestimmungswort. Außerdem steht es in Bezug zum Frame «Reiterhof» welcher wiederum ausführlich beschrieben wird. Der Hof liegt zwischen Wiesen und Dörfern, ist groß, beinhaltet eine kleine Pension und verfügt über (bereits hörbare) Pferde und Kutschen. Der Ausdruck «Pferdeparadies» ist also an Basislevel-Wörter und die mit diesen verbundenen piktorialen Repräsentationen gekoppelt. Der Beitrag wurde gekürzt, um den Rahmen dieser Arbeit nicht zu sprengen. Daher werden die Vorstellung der Betreiber des Hofes sowie eine Szene, die in einem Pferdestall spielt, übersprungen. Zeile 31
Lautsprache (Reporterin [r], O-Ton-Geber [o-t])
Atmo, SFX
[r] Für unter fünfzig Euro kann man sich als Familie schon einmieten in helle, urige und sonnenlichtdurchflutete Zimmer im Dachgeschoss. (‒) Die Tage verbringt man mit langen
35
Ausritten, Kutschfahrten oder Reitunterricht. (‒) . Knistern, natürliche Atmo, sprachliche Atmo und kulturel-
Stimmen
le/artifizielle Atmo
.
[r] An warmen Sommerabenden werfen die Brüder für ihre klappernde 40
Gäste auch den Grill an und reichen ihren selbstgebrannten Gegenstände Johannisbeer-Schnaps. (‒) Dann erinnert sich Bauer Uwe
.
auch mal an sehr besondere Gäste zurück:
.
tierische Atmo und kulturelle/artifizielle Atmo 45
48
[o-t] Joa, das war ʼn Wanderer, weinm [vermutl.: «Weiß
. Hufgetrappel
nicht mehr ...»; R.J.]
.
der war auf ʼm Jakobswech unterwechs und äh, der stand
.
irjendwann vor mir und ich sachte brauchen Seʼn Zimmer?
.
Och, sachter, ʼn Zimmer wolltʼ ich nich habm, äh ich
.
wolltʼ ma janz jerne in ʼner Pferdebox schlafen.
.
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Die konkreten und damit leicht vorstellbaren Tätigkeiten «(aus-)reiten», «(Kutsche) fahren» und «reiten (lernen)» werden nicht näher beschrieben und lassen entsprechende Interpretationsspielräume (Z. 33‒34). Die Handlungen sind Standardwerte des Frames «Reiterhof» und damit stereotypisch zu erwarten. Danach (Z. 36) werden natürliche Atmo (Knistern), sprachliche Atmo (Stimmen) und kulturelle/artifizielle Atmo (Klappern) eingeblendet und durch lautsprachliche Zeichen transkribiert, indem die Reporterin die potenziell visualisierbaren Basislevel-Wörter «(Sommer-)Abend» und «Grill» nennt und die zuvor gestörten Geräusche eindeutig interpretierbar macht: Zu hören ist das Knistern glühender Kohlen sowie das Klappern von Besteck auf Tellern. Hier greift erneut das Transkriptionsmuster 1 (Atmo mit Worten hören) und umgekehrt das Muster 2 (mit Atmo untermalen bzw. authentifizieren). Gleiches gilt für die Anwesenheit der Gäste, die einerseits sprachlich betont und zugleich durch sprachliche Atmo authentifiziert wird. Die Szene leitet in den nächsten Teil des Beitrages über, indem die Reporterin die Erinnerung des Bauern an «sehr besondere Gäste» ankündigt (Z. 40). An dieser Stelle wird der Frame «Pension» vom Beginn des Beitrages reaktiviert. Bis zu diesem Moment ist an den Pensions-Frame die Erwartung einer Schilderung eines ‹typischen Gasts› gekoppelt: Ein Gast, der bucht, anreist, übernachtet, zahlt und wieder abreist. Die Schilderung der Reporterin kündigt an, dass diese Erwartung nicht erfüllt werden wird. Der O-Ton-Geber erzählt von einem Wanderer, der in einer Pferdebox übernachtet hat (Z. 43‒48). Es greift das Transkriptionsmuster 5 (durch Sprecherwechsel explizieren und personalisieren): Der Hörer weiß nach der Rezeption des O-Tons, was den Gast ‹besonders› macht. Die Reporterin schließt thematisch an diese Anekdote an. Zeile
Lautsprache (Reporterin [r])
Atmo, SFX
50
[r] Wir haben das weiche Federkernbett bevorzugt und schlafe Atmo-ähnlicher SFX
. Hahnen-
[r] lange, bis wir vom Krähen des Hahns geweckt werden.
krähen
Auf dem Weg zum Frühstück kommt uns schon der Duft von 55
heißem Kaffee entge gen. Es gibt frische Eier aus dem Hühnerstall und selbstgemachte Erdbeermarmelade. (‒) Inzwischen sind uns die beiden Brüder, ihre Pferde, Hunde und
60
Katzen schon sehr ans Herz gewachsen. (‒) tierische Atmo
. Hufgetrap-
[r] Am liebsten würden wir mit dem Pferd nach Hause reiten.
pel .
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Es werden weitere Basislevel-Wörter verwendet, die im Bezugsrahmen «Pension» stereotypisch zu erwarten sind; zum Beispiel wird das Bett als «weich» attribuiert (Z. 50). Auf die Schilderung der Übernachtung folgt die (stereotypisch erwartbare) Schilderung des Frühstücks unter Verwendung weiterer Wörter des Basislevels, die nicht nur mit piktorialen, sondern auch geschmacklichen 12 Repräsentationen verbunden sein können: Es gibt «heißen Kaffee», «frische Eier» und «selbstgemachte Erdbeermarmelade» (Z. 54‒55). Die Reporterin kehrt zum Bezugsrahmen «Reiterhof» zurück, indem sie Tiere aufzählt, die typischerweise auf einem Bauernhof bzw. Reiterhof zu erwarten sind: Zuerst wird Hahnenkrähen eingespielt, das die Reporterin auch sprachlich erwähnt.13 Es ist nicht klar zu unterscheiden, ob hier das Transkriptionsmuster 2 (mit Atmo untermalen) oder 4 (mit SFX untermalen) eingesetzt wird. Zusätzlich wird erwähnt, dass die frischen Eier «aus dem Hühnerstall» (Z. 54) kommen. Dann werden «Pferde, Hunde und Katzen» (Z. 56) genannt – allesamt potenziell visualisierbare Basislevel-Wörter. Zum Schluss werden erneut die Begriffe verwendet, die für den Bezugsrahmen «Reiterhof» von zentraler Bedeutung sind, nämlich «Pferd» und «reiten», untermalt (Muster 2) vom Geräusch trabender Hufe (Z. 60).
F AZIT : S TRATEGIEN ZUR E RZEUGUNG VON B ILDERN IM K OPF Die Analyseergebnisse werden nun zu Strategien zusammengefasst, die von Hörfunkreportern angewandt werden, um visuelle mentale Images auf Seite der Rezipienten zu erzeugen. Prinzipiell sind weitere Transkriptionsmuster bzw. Strategien denkbar, die in anderen Kommunikattypen (etwa in Jingles bzw. Trailern oder Live-Reportagen) angewandt werden. Die Analyse hat gezeigt, dass das Transkriptionsmuster 1 (Atmo mit Worten hören) häufig genutzt wird. Reporter nehmen sprachlich gezielt Bezug auf die Geräuschkulisse von Beiträgen, um die nicht-sprachlichen Geräusche leichter erkenn- und interpretierbar zu machen. Umgekehrt wird die Geräuschkulisse genutzt, um sprachliche Äußerungen zu unterlegen und zu authentifizieren
12 Zu gustatorischem bzw. olfaktorischem Imaging vgl. Bensafi et al. (2013). 13 Werden Atmo bzw. Spezialeffekte wie in diesem Fall redundant eingesetzt, kann die Authentizität einer Reportage leiden bzw. die Transkription fehlschlagen, weil gegen Griceʼ Maxime der Quantität verstoßen wird: Die SFX machen Beiträge in solchen Fällen informativer als nötig. Einfacher gesagt: Sie überfrachten eine Reportage.
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(Muster 2). Entweder ist die Kulisse zufällig aufgenommen (intradiegetisch) oder aber die Geräuschkulisse wird vom Reporter künstlich hergestellt. In diesem Fall werden isoliert aufgenommene Atmo-Stücke gezielt im Produktionsprozess montiert und somit eine extradiegetische Geräuschkulisse erstellt. Reporter beachten, dass Bilder im Kopf auf Grundlagen von individuellen Vorwissensbeständen der Hörer generiert werden. Aus diesem Grund werden häufig Basislevel-Wörter verwendet, aber kaum Hyponyme des subordinate level. Je konkreter eine Beschreibung ist, desto größer ist auch die Gefahr, dass der Erfahrungshorizont der Hörer verlassen wird (siehe oben). Daher ist die Verwendung von Basislevel-Wörtern der Schlüssel zur Generierung visueller mentaler Images. Reporter bedienen stereotypisierte Erwartungshaltungen: Der thematische Bezugsrahmen eines Beitrages wird durch die Nennung von Stereotypen (Standardwerten) dieses Rahmens zügig geklärt. Sobald der thematische Frame eines Beitrages aufgerufen ist, präsupponieren Hörer das Vorhandensein bestimmter Personen, Gegenstände und Tätigkeiten. Diese Implikationen werden von Reportern entweder in lautsprachlichen Äußerungen oder aber durch den Einsatz von nicht-sprachlichen Zeichen aufgegriffen. Dies sind einige der Strategien, die Reporter anwenden, um möglichst anschaulich zu schildern und somit ‹Bilder im Kopf› der Hörer zu erzeugen. Weitere Transkriptionsmuster, die zum Beispiel SFX und Musik einbeziehen, werden in R. Jäger (2016) beschrieben.
Q UELLEN UND L ITERATUR Quelle Wittenbecher, Christin (2011): Im Sattel durchs Land, gesendet bei MDR 1 Radio Sachsen Anhalt.
Literatur Bensafi, M./B. Tillmann/J. Poncelet/L. Przybylski/C. Rouby (2013): Olfactory and Gustatory Mental Imagery: Modulation by Sensory Experience and Comparison to Auditory Mental Imagery. In: Simon Lacey/Rebecca Lawson, Hg.: Multisensory Imagery. New York et al.: Springer, 77‒91.
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Radio und imaginierte Gemeinschaften
«… ohne daß er überhaupt merkt, daß er durchtränkt wird.» Die mediale Produktion der «Volksgemeinschaft» in der Rundfunkpolitik des Nationalsozialismus 1 KATHRIN D RECKMANN
E INLEITUNG «… ohne daß er überhaupt merkt, daß er durchtränkt wird.»: Als Joseph Goebbels am 25. März 1933 im Berliner Haus des Rundfunks diesen Satz in seiner Ansprache an die Intendanten und Direktoren der Rundfunkgesellschaften richtete, beschrieb er an dieser Stelle seine zu diesem Zeitpunkt in Teilen schon durchgesetzte rigide Zensurpolitik. Das «Kulturinstrument» Radio, wie es ab 1923 von Hans Bredow in Deutschland eingeführt worden war, sollte abgeschafft und in totalitärer Weise politisiert werden. Mit seiner Ansprache nahm Goebbels im Wesentlichen die NS-Medienpolitik der folgenden zwölf Jahre vorweg. Er machte den Intendanten und Rundfunkmitarbeitern deutlich, dass sich der NS-Rundfunk klar von dem Programm und der Geschichte des Weimarer Rundfunks als einem «Tummelfeld dieser geistigen Asphaltexperimente» zu distanzieren hatte, ja mehr noch: Der kommende NSRundfunk solle vom Erbe des Weimarer Rundfunks «bereinigt» werden. Goebbels wollte die Massen manipulieren und dies mit dem allermodernsten Mittel, dem Rundfunk, der in den Jahren zuvor «Abfallprodukte» produziert habe, und zwar von Mitarbeitern «kranken Gehirns» (Goebbels 1971/72: 94f.). Goebbels’ Apparat zielte also zunächst auf eine systematische Umgestaltung des bisherigen Rund1
Dieser Beitrag ist im Rahmen der Dissertation der Autorin entstanden, vgl. Dreckmann (2018).
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funkprogramms mit dem Ziel, die Zuhörerschaft vor den Rundfunkgeräten zu formieren. Dabei formulierte er Strategien der medialen Aneignung und Rezeption, die sich unter dem propagandistischen Konzept der «Volksgemeinschaft» subsumieren lassen. In seiner Rede an die Intendanten sagte Goebbels bereits, dass ihm der Rundfunk ein Mittel «zur Vereinheitlichung des deutschen Volkes in Nord und West und Süd und Ost, zwischen Katholiken und Protestanten, zwischen Proletariern und Bürgern und Bauern» sei. Es müsse den Intendanten bewusst sein, führt Goebbels seine Rede fort, dass sie niemals Einzelne durch den Rundfunk ansprechen dürfen, sondern sie müssten «immer nur zum Volk sprechen, zum Volk in seiner Gesamtheit» (Goebbels 1971/72: 93). Das zentrale Ziel des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda (RMVP) mit Goebbels an seiner Spitze war es, mit ästhetischen Mitteln das Volk nicht mehr kulturell zu erziehen, sondern es «gleichzuschalten». Das Rundfunkprogramm sollte also so gestaltet sein, dass das Volk sich mit den politischen Zielen des NS identifizierte, ohne es zu bemerken. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, mit welchen medialen Mitteln und Strategien der Propaganda-Apparat die «Volksgemeinschaft» im Rundfunk inszeniert hat.
D IE I DEOLOGISIERUNG
DES ÄTHERS UND DAS PROPAGANDISTISCHE K ONZEPT DER «V OLKSGEMEINSCHAFT » Dass Goebbels das «Volk am Lautsprecher» (Goebbels 1971/72: 93) als einheitliche Hörerschaft zusammenfassen wollte und dies mit propagandistischen Mitteln schon sehr früh umzusetzen beabsichtigte, hob er mit solchen Einlassungen hervor. Ihm ging es dabei nicht so sehr darum, was, sondern «wie man es macht». Dieses «wie» bezeichnet ohnedies Übertragungsstrategien, die auf manipulative Aneignungs- und Rezeptionspraktiken zielten. Das «Volk am Lautsprecher» sollte durch das «bloße» Zuhören ideologisch «durchtränkt» werden, freilich ohne es zu bemerken. Programmgeschichtlich lässt sich heute anhand der noch vorliegenden Sendemanuskripte, der SD-Berichte, der Programmzeitschriften und der Goebbels-Tagebücher herausarbeiten, mit welchen technischen Mitteln dieses Ziel der Übertragung erreicht werden sollte.
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Zunächst wurde die Medientechnik im Reichsgebiet stark ausgebaut. Neben neuen Sendemasten, mobilen Übertragungswagen und neuesten Lautsprechersystemen2, die wie Katalysatoren der Stimme Hitlers im ganzen Land wirkten, musste das Volk erst einmal mit kostengünstigen Empfangsgeräten ausgestattet werden, die anders als Radiogeräte aus der Zeit der Weimarer Republik, über ein eingeschränktes Frequenzspektrum für Auslandssendungen verfügten (Fickers 2006: 83f.). Der VE301 hingegen ermöglichte es, Hitlers Stimme im gesamten Reichsgebiet mit dem Volk zu verschalten. Dies lässt sich auch in Zahlen ausdrücken: Vor der Machtergreifung 1933 gab es in Deutschland nur etwa vier Millionen Haushalte mit Rundfunkgerät, bis 1938 waren es bereits neun Millionen, 1941 gar 13 Millionen. Dies war einerseits durch die Massenproduktion des VE301, des «Volksempfängers», der 1933 vorgestellt wurde, möglich geworden. Des Weiteren wurde diese Entwicklung durch Ratenzahlsysteme und natürlich andererseits durch die Popularisierung des Radios mit Hilfe der Praxis des Gemeinschaftsempfanges in Betrieben, in der Gemeinde und bei Versammlungen aller Art begünstigt. Das Programm wurde schließlich vollständig auf eine Dauerbeschallung der Zuhörerschaft durch ideologische Direktpropaganda ausgerichtet. Hitlers Stimme und die der anderen politischen Redner der NSDAP ertönten als Direktübertragungen im ganzen Land, allein im Jahre 1934 ging Hitler 77 Mal «on air» (Diller 1983: 149f.). Die Direktübertragungen von politischen Versammlungen aller Art ermöglichten schließlich ein Live-Erleben, das es so vor einem ausgewählten Massenpublikum noch nie zuvor gab. Ausgewählt bedeutet hier Zensur, also Einschluss und Ausschluss. Dies bedeutet einerseits, dass Inhalte und Formate aus dem Bestand des Weimarer Rundfunks stark beschnitten und ideologisch umfunktioniert wurden. Vor allem Inhalte, die dem Apparat als avantgardistisch, bolschewistisch, jüdisch galten, wurden zensiert (Dreckmann 2017: 190ff.). Andererseits wurde auch der Zuhörerkreis festgelegt auf diejenigen, die qua Definition zur ideologisch nationalsozialistischen «Volksgemeinschaft» gehörten. So blieb vor allem den jüdischen Deutschen der Zugang zum Rundfunkempfänger verwehrt.
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Die Neugründung der NSDAP erfolgte fast zeitgleich mit entscheidenden Innovationen auf dem Gebiet der Lautsprechertechnik. Die NSDAP setze bereits ab 1926 Lautsprechertechnik ein. Die Massenansprache per Lautsprecher stellt, folgt man Cornelia Epping-Jäger, einen der zentralen Grundpfeiler des vom NS-Staat eingeführten PhonoZentrismus dar, da sie die räumliche Fokussierung auf ein Zentralsubjekt ermöglichte und zur gleichen Zeit die emotionale Resonanz des Publikums für den Redner in Bezug auf die eigene Rede spürbar machte; vgl. Epping-Jäger (2013: 180).
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Auf diese Weise war der imaginative Hörraum im NS-Rundfunk auch immer ein ‹arisierter› und sanktionierter medial besetzter Hörraum des Einschlusses und Ausschlusses – inszeniert als ein Raum der wechselseitigen Wahrnehmung bzw. Be- und Verstärkung des Gedankens einer «Volksgemeinschaft». Das Volk hörte nämlich im Rundfunk nicht nur die Stimme des «Führers», sondern auch sich selbst. Dies lässt sich an vielen Mitschnitten der rundfunkmedialen Direktpropaganda Hitlers nachvollziehen. Am bekanntesten ist seine am 3. Oktober 1941 gehaltene Rede aus dem Berliner Sportpalast. In dieser Rede wird die Reaktion des Volkes, vor allem das massenhafte Skandieren des «deutschen Grußes» zum integralen Bestandteil der akustischen Inszenierung.3 Genau dieses Prinzip des skandierenden Volkes, das sich selbst in der Live-Übertragung des Rundfunkereignisses am Lautsprecher hören konnte, wurde gerade in den ersten Jahren der Rundfunkprogrammierung ab 1933 durch die Nationalsozialisten als ein Akt der Partizipation am eigentlichen Ereignis stilisiert. Es lässt sich sagen, dass sich im Akt des Zuhörens das Volk seiner Zugehörigkeit zum «Volkskörper» versichert, während die gesendeten Medieninhalte durch den ideologischen Kontext der Zugehörigkeit zugleich kodiert werden.
Z ENSUR
UND
H ÖRRAUM
IM
ÄTHER
Dies gilt sowohl für Wort- als auch für Musikbeiträge. Damit ist eine zentrale Übertragungs- und Aneignungsstrategie der Nationalsozialisten angesprochen, die sich im Inneren des Hörenden abspielt und ihn zugleich partizipieren lässt. ‹Ohne dass er es bemerkt›, so könnte man schlussfolgern, wird er ‹durchtränkt› mit demjenigen, was in einer Art drittem Körper als imaginärem Hörraum im Äther geschieht. Vor dem Hintergrund dieser Annahme erweist sich das propagandistische Konzept der «Volksgemeinschaft» als diskursleitend für die Auseinandersetzung mit den Mediendispositiven der nationalsozialistischen Übertragungsapparaturen der medialen Rezeption und Aneignung. Im Anschluss an den Historiker Michael Wildt beschreibt der Begriff nämlich keine soziale Ordnung, die «dem Begriff von Anfang an inhärent gewesen sei». Es geht nicht so sehr um die «Feststellung eines sozialen Ist-Zustandes, sondern mehr um die Verheißung», da in der Mobilisierung die politische Kraft der Rede von der «Volksgemeinschaft» lag (Wildt 2007: 4). Gerade die Instrumentalisierung von Ferdinand Tönnies’ Gemeinschaftsbegriff durch die Nationalsozialisten bedeutet ja nicht nur die Indienstnahme einer soziologischen Kategorie. Als
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Vgl.: youtube.com/watch?v=muPeB7_zdZk, 17.5.2017.
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völkisch-rassistische Idee ist diese soziologische Beschreibungsebene der Gemeinschaft als Positivfolie medial in Szene gesetzt, um als mediale Wirklichkeit Ideologie erfahrbar zu machen. «Gemeinschaft» wird hier als politische Kampfvokabel und politische Utopie nationalsozialistisch vereinnahmt und auf Gleichschaltung hin programmiert. Dem Gemeinschaftsbegriff selbst wohnte ja schon immer etwas Imaginäres inne. Mit Rekurs auf Jacques Lacans Begriff der jouissance und auf Slavoj Žižek kann man allen Gemeinschaftskonzepten diese schmerzhafte Lust unterstellen (Žižek 1994: 137). So lässt sich vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen festhalten: Dass nur Rezipienten ‹arischer› Herkunft Zugang zum Volksempfänger hatten, dass das Personal der Rundfunkanstalten nun von Nationalsozialisten gestellt wurde und die Zensurpolitik nur noch ‹arische› oder ‹arisierte› Inhalte erlaubte, zeigt hier die Ebene der Indienstnahme eines Abstraktums, das medial besetzt wurde. Die Medialität des NS-Radios wird zur Botschaft und steuert demnach die Weltwahrnehmung aus der Perspektive der «Volksgemeinschaft» – «the medium is the message»! Die spezifische Medialität des NS-Rundfunks bildet die Matrix der Hörwahrnehmung im Äther und schreibt sich der Hörwahrnehmung ein. Gemeinschaftliches Zuhören im ‹arisierten Ätherraum› bildet die kulturelle Kontextualisierung des in ihm Vernommenen aus. Das Gehörte wird kodiert. Alles Radiohören ist ein imaginatives Gemeinschaftserleben. Das imaginative Gemeinschaftserleben ist zum einen durch die unzähligen Direktübertragungen der Hitlerreden, Massenereignisse und Kundgebungen gegeben. Zum anderen ist die «Volksgemeinschaft» auch jenseits dieser Live-Übertragungssituationen und ritualisierten Gemeinschaftsempfänge (veranstaltet durch die Deutsche Arbeitsfront) mit ästhetischen Mitteln in Szene gesetzt worden. Ein nächster Schritt ist schließlich der Versuch über die Programmplanungen vor allem im Unterhaltungsbereich die lose Zuhörerschaft als ein Volk vor dem Rundfunkgerät als Gemeinschaft zu formieren.
V ON DER W ORTPROPAGANDA ZUR IDEOLOGISCHEN U NTERHALTUNGSSENDUNG Die frühe Redenpropaganda bereitete den Hörraum als ein wechselseitiges Wahrnehmen im Akt des Zuhörens und als ästhetisch gestalteten Identifikationsraum vor.4 Dies galt etwa bis 1934/35. Ende der 1930er Jahre war nicht mehr der Gemeinschaftsempfang als Erfahrung des Zuhörens in Gemeinschaft zu erproben. Es
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Vgl. hierzu vor allem Epping-Jäger (2005 und 2013).
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folgte eine massenmediale, politisch-totalitäre Programmgestaltung, die eine gemeinsame Hörerfahrung als unterhaltendes Gemeinschaftserleben in Gedanken evozierte. Dies betrifft vor allem die Einrahmung der Unterhaltungsbeiträge durch Worteinlagen. Sketche, Ansagen, Hörspiele sowie schließlich auch politische Kommentare, die insbesondere im Kriegsfunk «einen immer größeren Stellenwert» (Sarkowicz 2010: 228) erhielten, vermittelten die rassistisch-völkische Ideologie innerhalb unterschiedlicher Unterhaltungsformate. Die Unterhaltungssendungen sind selbst in der Phase ab 1936/38 schließlich zum Inbegriff der Gestaltung der «Volksgemeinschaft» im Rundfunk geworden. Darunter sind die Sendereihe Froher Samstagnachmittag oder die Bunte Stunde, jedoch vor allem das Wunschkonzert zu fassen, in denen ganz gezielt Identifikationsangebote für die Mitglieder der «Volksgemeinschaft» in Szene gesetzt wurde. Doch wie ist dies konkret umgesetzt worden? Zum Beispiel wurden schriftlich eingereichte Wünsche der Hörer nach «standardisierten Rollenmustern» geordnet und vorgetragen. Das Wunschkonzert hielt dabei für jedes Familienmitglied eine Identifikationsfläche bereit. Dies geschah durch die «soziale Verortung der Wünschenden», durch «geschlechtsspezifisch aufbereitete Kontaktanzeigen» oder durch eine sozial- oder rollenspezifische Verortung der betreffenden Personen. Nach dem Beginn des Krieges «bestand (zum Beispiel) weiblicher Alltag in der Sorge um die Angehörigen an der Front und der Versorgung der Kinder», während «Berufstätigkeit [...] nicht vor[kam]» (Pater 1998: 234f.). Als ein zentrales Mittel mit dem Ziel der Vergemeinschaftung der Hörerschaft verwendeten die Redakteure oft familienähnliche Metaphoriken oder bezeichneten die Gemeinschaft der Hörer sogar direkt als Familie. Dies belegt ein Auszug aus der Kreuzzeitung, die die Übertragung eines Wunschkonzertes kommentierte: «Ganz Deutschland ist gestern Abend für ein paar kurzweilig ausgedehnte Stunden zu einer einzigen großen Familie zusammengewachsen» (Pater 1998: 233). Die nationalsozialistische «Volksgemeinschaft» fand also im Format des Wunschkonzerts ihren repräsentativen Ausdruck, ja mehr noch, sie wurde gar als klassische Aufstellung einer prototypischen, nach «den Vorstellungen der NS-Ideologie konstruierten Familie» inszeniert, «die sich umeinander sorge» (ebd.). So war das Wunschkonzert für die Wehrmacht, entstanden aus dem Wunschkonzert für das Winterhilfswerk, das bereits seit 1935 über den Äther ging, mehr als nur eine Konzertreihe. Zunächst nur über den Deutschlandsender ausgestrahlt, wurde es ab 1936/37 aus dem Großen Sendesaal des Hauses des Rundfunks in der Masurenallee viermal im Winter übertragen, und zwar immer sonntags von 17 bis 20 Uhr (Koch 2010: 258). Im Krieg erreichte das erfolgreiche Format Wunschkonzert für die Wehrmacht unter anderem deshalb eine so große Zuhörerschaft,
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weil es – im Gegensatz zu der Vorkriegsvariante, die nur über den Deutschlandsender ausgestrahlt wurde – auch von den Reichssendern aus gesendet wurde (ebd.). Ein inhaltliches Argument für die Beliebtheit und Bekanntheit des Wunschkonzertes ist, dass sein Hörraum als Vertrauensraum stilisiert wurde. Die Hörer wurden zu einer großen medial inszenierten ‹Volksfamilie› vereinigt – einer Familie, die im Kriege in Wirklichkeit nicht mehr bestand, da sie auseinandergerissen worden war, und Frauen, Mütter und Kinder von ihren Männern getrennt waren (Koch 2010: 258). Die medial inszenierte ‹Volksfamilie› ersetzte damit die eigentliche Familie, deren (männliche) Mitglieder an der Front kämpften oder bereits gefallen waren. Im imaginären Hörraum waren sie jedoch wieder vereint, und so wurde im Rundfunk einmal mehr das individuelle Hörerleben zu einem Zuhören in vertrauter Gemeinschaft in Szene gesetzt. Das inszenierte Familiäre ist damit Teil der medial inszenierten Gemeinschaftsideologie, die auf das Volk bezogen ist, aber konkret die persönlichen Bindungen und Beziehungen bekannter sozialer Bindungen anspricht. Das Ideologische erhielt vermeintlich nur eine Nebenrolle in diesem ‹Hörspiel›, verfehlte seine Wirkung jedoch nicht. Neben den Wortbeiträgen wurden ganz offensiv immer wieder die vertrauten Lieder von vertrauten Stimmen gesungen, die in einem ideologischen Zusammenhang mit den humoristischen oder poetischen Einlagen standen. Überhaupt ist stark mit akustischen Mitteln der Wiedererkennung gearbeitet worden, sodass eine gewisse Vertrautheit mit der Sendung beim Publikum vorausgesetzt werden konnte: «Mit regelmäßig wiederkehrenden Elementen wie dem einleitenden Signal, der ‹Wunschkonzert-Fanfare›, der Dreiteilung des Programms und den stets gleichen Schlussworten des Moderators, nach denen die Melodie ‹In der Heimat, da gibt’s ein Wiedersehen› einsetzte, besaß die Sendung einen unverwechselbaren Wiedererkennungseffekt, durch den sie sich deutlich von anderen Musiksendungen unterschied. Zu diesen ‹Markenzeichen› gesellten sich die bekannten Stimmen der Moderatoren Heinz Goedecke und Wilhelm Krug.» (Koch 2010: 267)
Vor dem Hintergrund dieser Annahmen waren die in Wortbeiträgen vermittelten Identitätsangebote der «Volksgemeinschaft» auch Teil einer musikalischen und akustischen Erfahrung, die individuell zwar nicht sagbar,5 jedoch durch das Imaginäre der «Volksgemeinschaft» vermittelbar waren. So lässt sich feststellen, dass
5
Dazu Theweleit: «Die Wünsche und Vorstellungen, die eine Musik transportiert, setzen sich sehr genau fest in der Empfindung des Hörers. Was sich zwischen der Musik […]
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nicht nur der ideologisch festgelegte Zuhörerkreis und mit ihm sein Äther a priori nationalsozialistisch bestimmt war, sondern auch eine Verstärkung oder Selbstvergewisserung ideologischer Praktiken medial vollzogen wurde. Folgt man dem französischen Philosophen Jean-Luc Nancy, wurde zum Beispiel Beethoven ideologisch in den Dienst dieser gesteuerten Medienwirkung gestellt, was ihn im Akt des Hörens zum ‹Volksgenossen› machte (Vgl. Nancy 2006: 133). In der Rezeption erfährt die Musik Beethovens und auch Wagners demnach eine übersignifikante Aufladung, sie wird «transponiert», «transfiguriert» und «defiguriert», «da kein Platz mehr ist für etwas anderes als das Hervorstoßen und die Überzeugung eines Sinns vermittels einer Form, von der man annimmt, sie sei der angemessene Ausdruck dieses selbst als Grund (fond) gedachten Sinns» (Nancy 2006: 133). Weiter heißt es bei Nancy: «So gelingt dem Gefühl, sich zugleich als Signifikat und Signifikant von Wirklichkeiten, Bildern oder Begriffen wie ‹Volk›, ‹Gemeinschaft›, ‹Schicksal›, ‹Auftrag› und so weiter zu identifizieren» (ebd.). Als letzter Grund eines musikalischen Ausdrucks ist das ‹Arische› schließlich selbst als ein Gefühl deklariert worden, das auf Zugehörigkeit hin angelegt ist. Angewendet auf die politisch-ideologische Musikästhetik der Nazis bedeutet die «Gleichschaltung der Gefühle» (Dümling 2006: 106) die Verengung und Disziplinierung des körperlichen Empfindens hin auf einen Sinn. Vor allem die musikalische Disziplinierung des Körpers scheint am Beispiel der sich im Marschrhythmus bewegenden Soldatentruppen in den Wochenschauen offensichtlich zu sein. Aber auch das andächtige Lauschen beim Spiel einer Beethoven-Sinfonie, wie es u.a. im Film Das Wunschkonzert zu sehen ist, gehört dazu. Das «Schunkeln» zu Schlagern wie Davon geht die Welt nicht unter oder Lili Marleen, oder der gemeinsame Gesang, ganz gleich ob Volkslied, Kantate oder das Stuka-Lied, sind weitere Beispiele – und auch sie alle sind im Rundfunkformat Das Wunschkonzert gespielt worden. Alle diese Beispiele für manipulative mediale Rezeptionspraxis, gleichgültig ob von Beethoven, Wagner, Zarah Leander, Lale Andersen oder Heinz Rühmann, sind im Wunschkonzert vereint. Eine seelische Vorstellung von Gemeinschaft, Nation und Militarismus wurde also medial und hier vor allem im Rundfunk so inszeniert, dass sie zugleich auch
und meinem Körper abspielt, kann ich mir bewusst machen (oder es auch lassen). […] In meinem Bewusstsein werden aus der Musik Formen von Nicht-Musik: Gedanken, Einsichten, Vorstellungen, Wünsche. Die primäre körperliche Sensationierung selber, die die Musik vornimmt […], wird nicht verbalisiert und ist auch nicht verbalisierbar. Sie lebt im Körper als gespeicherte Schwingung. Sie wird etwas anderes, wenn ich sie mit meinem Bewusstsein verarbeite.» (2007: 29f.); vgl. auch Bauer (2004: 8).
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eine körperliche Erfahrung war.6 Zwar sind die im Körper gespeicherten Schwingungen «nicht verbalisierbar» (Theweleit 2007: 29f.), aber sie sind im Cortex zu etwas anderem geworden und haben sich mit Wünschen und Vorstellungen verbunden, die durch das imaginäre Bild der «Volksgemeinschaft» repräsentiert sind. Musikalische Disziplinierung – so das zentrale Ergebnis dieser Überlegungen – bedeutet, dass die «Volksgemeinschaft» sich im Körper sedimentiert. Dies liegt jenseits des Bereiches der Ratio, und hier treffen sich individuelles und kollektives Gedächtnis.
AUSBLICK Für weitere Forschungen wäre es besonders erhellend, wie und wo die Kontinuitäten der Körperspeicher, die sich auch durch den NS-Rundfunk konditionierten, nach 1945 vor dem Hintergrund der allliierten Rundfunk- und Kulturpolitik zu bestimmen sind. Vor allem stellt sich die Frage, inwiefern die Zensurpolitik der Alliierten nationalsozialistische Körpererfahrungen, die sich ja nach 1945 nicht einfach verbieten ließen, auch weiterhin in der Kultur zirkulierten. Ein gutes Beispiel ist der Schlager Davon geht die Welt nicht unter oder Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern. Obwohl sie nicht zu den verbotenen Liedern gehörten, ist mit ihnen Ideologie vermittelt worden, die sich auch nachträglich medientheoretisch und -geschichtlich bestimmen lässt. So ist eben auch nach den ideologischen Auswirkungen des NS-Rundfunkprogramms nach 1945 zu fragen, obgleich de jure eine neue Werte- und Normenordnung zu gelten hatte. Es stellt sich deshalb die Frage nach Hörräumen, die über die historische Epoche hinaus ganze Generationen geprägt haben. Das jahrhundertealte Medienaxiom «verba volant scripta manent» – man müsste eigentlich sagen «scripta manent, verba et cantus volant» – ist unter den Vorzeichen der Körperspeicher neu zu denken: In das (Körper-) Gedächtnis schreibt sich nicht nur das ein, was – nach Nietzsche – nicht aufhört, weh zu tun (Nietzsche 1977: 802), sondern auch das, was psychisch und physisch intensiv war.
6
Vgl. dazu die entsprechende Szene aus dem Film Das Wunschkonzert (1940), https:// www.youtube.com/watch?v=p8D126NPTrU, 3.4.2017.
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«Mittagszeit» im Radio Glocken im Österreichischen Rundfunk und ihre identitätspolitische Bedeutung T HOMAS F ELFER
Täglich, genau zur Mittagszeit1 werden von den Landesstudios des Österreichischen Rundfunks (mit Ausnahme von Wien) Glockenklänge ausgestrahlt. Der Ablauf der Mittagsglocken2 ist immer identisch. Der Sprecher oder die Sprecherin sagt: «Es ist zwölf Uhr, Sie hören die Glocken der Pfarrkirche ...», gefolgt vom Namen der jeweiligen Kirche aus Österreich und dem Klang ihres Geläuts. Täglich erklingt eine andere Gemeinde, ergänzt mit Informationen zur Kirche und den Glocken. Anschließend folgen Nachrichten, Wetter und Verkehrsinformationen. Glocken wurden und werden von unterschiedlichen Radiostationen in Europa ausgestrahlt, wobei unterschiedliche Ziele im Vordergrund standen – das Schweizer Radio etwa sendet seit 1925 die Glocken der Heimat. Sie hatten die wichtige Funktion, die Schweiz über das Schweizer Auslandsradio auch zu entfernt lebenden Landsleuten zu bringen. Deutschlandradio Kultur schickt immer sonntagsmittags Klänge der Berliner Freiheitsglocke über den Äther und setzt damit eine Tradition fort, die der RIAS 1950 begonnen hatte. Die Spuren der Glocken in Österreich lassen sich ebenfalls bis zu den Anfangszeiten des Rund-
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Der Titel Mittagszeit bezieht sich auf die gleichlautenden Sendungstitel der Mittagssendungen einzelner Landesstudios, in denen Kirchenglocken ausgestrahlt werden.
2
Die Glockensendungen sind keine eigene Sendung im engeren Sinn, d. h., sie haben auch keinen eigenen Titel; in den Programmheften finden sie sich oft unter «Mittagsglocken», weshalb dieser im Rundfunk gebräuchliche Name hier ebenfalls verwendet wird (jedoch nicht kursiv geschrieben, da es sich nicht um einen Sendungstitel handelt).
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funks in Österreich zurückführen. Glocken im Rundfunk scheinen ein beliebtes Genre zu sein. Dies schlägt sich am Beispiel von Österreich auch in einer großen Anzahl an Glockenaufnahmen nieder. Die Landesstudios des österreichischen Rundfunks verfügen über viele Aufnahmen von Glocken, die allerding nur im geringen Maß dokumentiert sind. Wie kann diese Klangpraxis verstanden werden bzw. welchen Zusammenhang hat das Ausstahlen von Glocken mit unterschiedlichen Konzeptionen von Hörerschaft? Der folgende Aufsatz stellt, aus der Perspektive einer kulturwissenschaftlichen Klangforschung, eine erste Annäherung an Glocken im österreichischen Rundfunk dar.3 Glocken im Rundfunk werden im Hinblick auf ihre identitätspolitische Funktion untersucht. Anhand der Glockensendungen wird das Verhältnis zwischen Produzenten und Radiohörenden beleuchtet. Anhand der Übertragung von Glocken im Rundfunk wird versucht zu zeigen, wie Inhalte in einer Wechselbeziehung zwischen Produzenten und Hörerschaft entstehen können. Als Forschungsquellen dienen Jahresberichte der Rundfunkstationen, Radioprogramme, Leserbriefe und narrative Interviews, die im Jahr 2016 im Rahmen des Forschungsprojekts geführt wurden. Der Aufsatz gliedert sich in zwei Teile. Ausgehend von einer allgemeinen Betrachtung zu Glocken erfolgt im Anschluss eine Annäherung an die Glockensendungen im österreichischen Rundfunk. Anhand eines kurzen Auszugs der Rundfunkgeschichte wird untersucht wie Glocken eine identitätspolitische Bedeutung entwickeln können. Die österreichische Praxis wird dabei mit Fallbeispielen verglichen. Dadurch wird herausgearbeitet wie Glocken dazu verwendet werden eine Hörerschaft zeitlich und räumlich als Gruppe zu verorten und zu imaginieren.
G LOCKEN –
SYMBOLISCH AUFGELADENE
S IGNALKLÄNGE
Glocken sind auf der ganzen Welt verbreitet, sie werden zu der Instrumentengattung der Idiophone (Selbstklingende Musikinstrumente) gezählt, und kaum ein anderes Klangobjekt ist in derart unterschiedlichen Größen ausgeführt (Price 1983: XIV). Glocken erfüllen, wie kulturgeschichtliche Studien herausgearbeitet
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Es handelt sich um einen Laborbericht (2016) meines laufenden Dissertationsprojekts zum Thema Klangerfahrung am Beispiel von Kirchenglocken. Ausgehend von den Glockenabnahmen während des Ersten Weltkriegs untersuche ich an Hand von Archivquellen und narrativen Interviews, wie sich die Hörwahrnehmung von Glocken während des 20. Jahrhunderts verändert hat.
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haben, vielfältige gesellschaftliche Funktionen. Im Folgenden werden einige kurz dargestellt, da sie wesentliche Voraussetzungen für ihren späteren Einsatz im Radio bilden. Glocken wird oft eine Verbindung zu «höheren Mächten» nachgesagt – die Volkskundlerin Gerlinde Haid beschreibt dies am Beispiel des Wetterläutens und zeigt, wie der Symbolgehalt der Glocken durch den Glauben an besondere Fähigkeiten der Glocke genährt wurde (Haid 2008: 59). Glocken können als Bindeglied zwischen einem Glaubenssystem und Alltagserfahrungen verstanden werden. Sie haben eine starke symbolische Bedeutung; der Komponist und Musikpädagoge R. Murray Schafer beschreibt Glocken als den auffälligsten Klang, den die Menschheit je hervorgebracht hat und verweist auf ihre raumstrukturierende Funktion: «In a very real sense it defines the community, for the parish is an acoustic space, circumscribed by the range of the church bell» (Schafer 1977: 53). In Schafers Zitat wird eine wichtige Funktion von Glocken deutlich, Räume einzugrenzen. Räume werden mit den Klängen der Glocken nicht nur eingegrenzt, sondern auch ausverhandelt. Der Stadtforscher Rowland Atkinson zeigt am Beispiel von Florenz der Renaissance, wie Glocken eine klangliche Architektur konstituierten. Die Machtstruktur der Stadt wurde mit Glocken in gewisser Weise hörbar. Atkinson beschreibt ein «akustisches Regime» (Atkinson 2012), welches sich anhand der Abfolge unterschiedlicher Geläute beschreiben lässt. «Urban communities were constituted by the ringing of bells, which brought them together in prayer, work, commerce, civic defence, celebration, and mourning» (Atkinson 2012: 42). Atkinson zeigt, wie die Glocken im Florenz der Renaissance durch die Abfolge von bürgerlichen und religiösen Läuten als Verschränkung von kirchlicher und weltlicher Macht gelesen werden können: «What the ear heard was an intimate dialogue between mutually reinforcing institutions that shared in the construction of fluid sacred and profane topographies, while what the eye saw was the space that separated and defined them as distinct institutions.» (Atkinson 2012: 48)
Schafer sowie Atkinson beschreiben, wie durch Glocken «community/Gemeinschaft» akustisch konstruiert wurde, und ihre Untersuchungen zeigen, dass Glocken nicht nur in religiöse, sondern auch in bürgerliche Dienste gestellt wurden. Eine der ausführlichsten Studien zur symbolischen Bedeutung von Glocken liefert der Historiker Alain Corbin. In seiner Untersuchung über Glocken im ländlichen Frankreich des 19. Jahrhunderts schreibt er:
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«Die ländliche Gesellschaft war besessen davon, Gemeindeidentität zu markieren, sie war auf der Jagd nach spezifischen Merkmalen, die die einzelnen Gruppen voreinander auszeichneten, ihre Sorge galt dem Kapital der Ehre, sie gierte nach Herausforderungen, und da reihte sich die Glocke, dieses einzigartige Objekt, ganz natürlich ein in das Arsenal der Symbole des Selbst.» (Corbin 1995: 111)
Wie diese «Symbole des Selbst» dazu verwendet wurden um Räume zu definieren und dadurch Machtverhältnisse auszuhandeln, zeigt Corbin anhand der französischen Revolution. Das Klangnetzwerk der Glocken wurde dazu verwendet die Landkarte entsprechend der Machtverhältnisse neu zu zeichnen. Doch nicht nur «Raum» wurde mit Glocken definiert, auch das Zeitempfinden war unmittelbar mit dem Läuten von Glocken verbunden. Glocken dienten dazu, das tägliche Leben oder besondere Feste zu markieren, und sie begleiteten Rites de passage. Corbin zeigt, wie mit Glocken auch der Übergang von einer «qualitativen» Zeit des Läutens zur «quantitativen» Zeit des Schlagens der Uhrzeit vermittelt wurde (Corbin 1995: 158). Das Läuten der Glocken kann nicht nur als Machtinstrument eingesetzt werden, Eingriffe und Änderungen im «Läuteverhalten» sind auch ein Eingriff in bestehende Hörgewohnheiten – und dies kann Widerstände erzeugen. Das regelmäßige Läuten der Glocke erzeugt einen Bezugspunkt zu den jeweiligen Alltagswelten. Glocken definierten in einem ganz konkreten Sinne den physischen Raum und das Zeitempfinden einer Gruppe, sie bildeten durch ihre Verbindung zu den Mächtigen, die über sie verfügen konnten, weitere symbolische Bedeutungen aus. Die dadurch geformten Hörgewohnheiten sind als Dialog zu verstehen. Zum einen wird das Läuten verwendet um ein spezielles Bedeutungssystem herzustellen und zu kommunizieren, auf der anderen Seite wurde das Läuten für Alltagspraktiken individuell adaptiert. Glocken wurden kulturgeschichtlich mit unterschiedlichen Bedeutungen aufgeladen. Die Regelmäßigkeit des Erklingens hilft dabei, ein konstituierendes Moment für die Alltagserfahrung zu erzeugen. Unsere Lebenserfahrungen sind stark von Periodika beeinflusst und wir organisieren unser Leben vielfach anhand Periodika. Wiederholungen wirken strukturierend, Glocken helfen dabei die Alltagserfahrung klanglich zu periodisieren. Die besonderen semantischen Eigenschaften von sich wiederholenden Klängen wird von den Philosophen und Stadtforschern Jean-Francois Augoyard und Henry Torgue (2005) in ihrer Untersuchung zur alltäglichen Klangerfahrung hervorgehoben: «[…] the repetition effect is one of the tools for locating periodicities of the world. From a ticking clock to a factory siren, an angelus bell, a train whistling at regular hours, or bird
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songs heard every morning and evening – an indefinite variety of sounds constantly define time.» (Augoyard/Torgue 2005: 93)
Wiederholung ritualisiert durch den «repetition effect» den Alltag und formt Bedeutungen; gemeinsam mit der symbolischen Bedeutung des Klangs der Glocke wird ein raum-zeitlicher Bezug hergestellt. Die Hörwahrnehmung von Glocken ist historisch abhängig dies verweist auch auf eine allgemeine Historisierung des Hörens (Morat 2017). Wie wir Glocken in der Gegenwart hören unterscheidet sich von der Hörwahrnehmung der Vergangenheit, auch wenn der Klang derselbe ist so ändern sich die Bedeutungszuschreibungen. Eine ‹radikale› Erweiterung ihres Radius’ erfährt die Glocke, sobald sie im Radio ausgestrahlt wird. Zum einen kann dieselbe Aufnahme beliebig wiederholt werden, und zum anderen wird durch die Übertragung im Radio ihre Reichweite über die Dorfgrenzen erweitert und erreicht damit auch eine vielfach größere Hörerschaft.
G LOCKEN IN DER G ESCHICHTE DES Ö STERREICHISCHEN R UNDFUNKS Wie schwingen diese vielfältigen historischen Funktionen von Glocken mit, wenn es um ihre Verwendung im Radioprogramm geht? Bezieht sich die Adaption im Rundfunk auf bestehende Alltagspraktiken? Indem Glocken im Radio ausgestrahlt werden, wird ihre Reichweite um ein Vielfaches erweitert. Allerdings können die Glocken selektiver gehört werden, wenn ich das Radio nicht einschalte höre ich auch keine Glocken. Die Hörerschaft erhält daher bei einer Ausstrahlung eine andere Bedeutung. Für die Ausrichtung der Programminhalte werden unterschiedliche Vorstellungen von Gruppen herangezogen. Der Medienhistoriker David Hendy schreibt in Bezug darauf: «Producers may design programmes to deliberately attract certain audience sectors – and they will always have some notion of who they expect to listen. These concepts of ‹the radio audience› shape programming, and mould our listening experience.» (Hendy 2000: 115)
Diese Vorstellung einer bestimmten Hörerschaft ist im Hinblick auf Identitätskonzepte entscheidend, da Vorstellungen von Gruppenidentitäten bzw. nationale Identitäten auch durch das Radio konstituiert werden können (Lacey 2017, Hilmes 1997, Robertson 2008: 460).
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Glocken im Rundfunk greifen auf bestehende kulturelle Praktiken zurück, um wie im Falle einer Glocke in einem Dorf, raum- und zeitstrukturierende Bedeutungen herauszubilden. Dabei ist die zuvor erwähnte Repetition von wesentlicher Bedeutung. So, wie Glocken von einer Wiederholung geprägt sind, so ist auch das Radioprogramm periodisch organisiert. Indem Glocken aufgezeichnet werden können sie unabhängig ihres «Ursprungsort» gehört und beliebig oft wiederholt werden. Die Mittagsglocken werden in den Regionalradios des Österreichischen Rundfunks ausgestrahlt. Die Glockenpraxis wird vor dem Hintergrund einer episodischen Geschichte des österreichischen Rundfunks beschrieben. Dabei ist die Entstehung der österreichischen Regionalradios von besonderer Bedeutung, da sie sich als «wichtiger Träger für die regionale Berichterstattung» sehen (Public Value 2009: 168). Die österreichischen Landesstudios wollen «nah bei den Bürgern» (ebd.: 121) sein. Im Programmauftrag findet sich «die Förderung der regionalen Identitäten der Bundesländer» (ORF-Gesetz, Paragraf 4.1). Der Beginn der österreichischen Radiogeschichte wird vielfach im Jahre 1924 mit der Gründung der Österreichischen Radio-Verkehrs AG (RAVAG) angesetzt (Godler 2004: 8). In den Folgejahren entstanden die ersten Landesstudios: Graz (1925), Klagenfurt, Innsbruck (1927), Linz (1928) Salzburg (1930), Bregenz und Dornbirn (1933) (Godler 2004: 77). Der österreichische Rundfunk basiert grundlegend auf einer föderalen Struktur die bis in die Gegenwart im ORF-Gesetz verankert ist. Wie sind die Glocken in diese regionale Ausrichtung einzuordnen, und können die Mittagsglocken als Ausdruck dieser regionalen Ausrichtung gelesen werden? Bereits in den Anfangsjahren werden Glocken im österreichischen Radio an feierlichen Anlässen ausgestrahlt, um die Bedeutung des Augenblicks zu unterstreichen. So wird im Jahresbericht der RAVAG für 1927/28 erwähnt: «Die ehernen Stimmen der Glocken, die die Jahreswende einläuteten, waren verklungen und die brausenden Töne der Orgel ertönten [...]» (RAVAG Jahresbericht 1927/28: 17). Diese Klangpraxis hat sich bis in die Gegenwart gehalten. Die «Pummerin» im Stephansdom in Wien wird bis heute zur Neujahrswende geläutet und ausgestrahlt. Sie ist im Unterschied zu den lokalen Mittagsglocken während der Woche eine ‹besondere› Glocke. Nicht nur dass sie die größte Glocke Österreichs ist, sie wird auch wie im Titel der gleichlautenden Dokumentationen von 1955 und 2016 als «Stimme Österreichs» bezeichnet. Die «Pummerin» wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. Der Neuguss der Glocke wurde auch meta-
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phorisch als Neubeginn für eine ganze Nation gesehen.4 Die «Pummerin» könnte als «nationales Symbol» bezeichnet werden, das sich an eine nationale Hörerschaft wendet. In den Anfangsjahren der RAVAG finden sich auch noch weitere Erwähnungen von Glockenübertragungen, zum Beispiel aus dem Vatikan oder aus dem oberitalienischen Rovereto (Glocke der Gefallenen) (Jahresbericht RAVAG 1931). Es bleibt somit bei besonderen Glocken zu besonderen Anlässen. Nach dem «Anschluss» Österreichs ans Deutsche Reich 1938 wurde der Rundfunk in Österreich in «Deutsch-Österreichischer Rundfunk» umbenannt und ab 1939 der Deutschen Reichspost unterstellt (Ergert 1974: 220). Während des Weltkriegs wurden nicht nur Kirchenglocken abgenommen und für die Kriegsindustrie verwendet, auch die Glocken im Radio verstummten (Badenoch 2005: 586). Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die österreichischen Radiostationen den Befreiungsmächten unterstellt (Godler 2004: 52). In den Nachkriegsjahren werden Glocken wieder in den unterschiedlichen Sender übertragen. So leitet die Westgruppe5 ihr Programm mit «Glocken, Orgel, Spruch, Nachrichten und Wetter» ein (Radio Österreich 1954: 10). In dieser Praxis kann ein Wechsel von der Markierung von besonderen Anlässen hin zur Tagesstruktur festgestellt werden. In den 1950er Jahren werden Glocken in immer regelmäßigeren Abständen ausgestrahlt. Die besondere nationale Bedeutung der «Pummerin» wurde ebenfalls durch den Rundfunk verstärkt. Am 24. April 1951 wird die Überführung der neugegossenen Pummerin von Linz nach Wien übertragen (Ergert 1974: 226). In der österreichischen Mediathek findet sich ebenfalls eine Berichterstattung vom ersten Anschlag der Pummerin. 6 Eine besondere Stellung hat der Sender Rot-Weiß-Rot7. Er war ein von den Amerikanern kontrollierter Sender, und wie Viktor Ergert in seiner Abhandlung über den österreichischen Rundfunk schreibt, war «Rot-Weiß-Rot […] in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre zweifellos ein Gegenspieler der Öffentlichen Verwaltung.» (1975: 187). In Bezug auf Glocken ist interessant, dass Rot-WeißRot der erste Sender war, der bereits in den 1950er Jahren täglich Mittagsglocken ausstrahlte (Radio Österreich 1954: 12). Das Erste Programm des österreichischen Rundfunks beginnt ebenfalls in den 1950er Jahren, unregelmäßig Glocken zu übertragen. Ab 1956 finden sich
4
Dies wird auch in den Dokumentationen von unterschiedlichen Interviewpartner beschrieben wird.
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Die Westgruppe wurde in Tirol und Vorarlberg empfangen.
6
Österreichische Mediathek, Suchwort: Pummerin, [zuletzt 21.10.2017].
7
Rot-Weiß-Rot sendete von Wien, Salzburg und Linz (Oberösterreich).
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Hinweise, welche Glocken übertragen werden; hier ist auch die Verlagerung von ‹bedeutungsvollen› Glocken wie dem Wiener Stephansdom, der Berliner Freiheitsglocke oder der Glocken vom Petersdom in Rom hin zu lokalen Glocken aus unterschiedlichen Gemeinden festzustellen (Radio Österreich 1956). Es kann daher ein Wechsel von besonderen Anlässen mit besonderen Glocken hin zu täglichen Läuten mit regionalen Glocken festgestellt werden. Diese Veränderung begleitet auch die Entwicklung des Österreichischen Rundfunks in der Nachkriegszeit.
M ITTAGSGLOCKEN UND AUTOFAHRER Die Mittagsglocken wurden im Rahmen der Sendung Autofahrer unterwegs im Jahre 1957 zu einem festen Bestandteil der Programmstruktur. Autofahrer unterwegs zählte zu den beliebtesten Sendungen der Nachkriegsjahre (Godler 2004: 85). Obwohl die Sendung auf Autofahrer_innen ausgerichtet war, wurde sie zumeist zu Hause gehört. In diesem Bewusstsein wurde auch das Programm gestaltet. Die Sendung war eine Verkaufs- Informationssendung rund um das Auto und den Haushaltsbedarf. Die Interaktion mit dem Publikum durch Anrufer_innen stellte eine wichtige Form der Hörerbindung dar. Michael Hummer vom ORF Oberösterreich schreibt über die Mittagsglocken, die während Autofahrer unterwegs zum festen Bestandteil im ORF wurden: «Ursprünglich sollten sie daran erinnern, dass die Hälfte des Tages vorbei ist. Sie laden uns ein, für einen Moment in unserem Alltagsleben innezuhalten und eine Pause einzulegen. Für alle diejenigen, die im Verkehrslärm die Mittagsglocken während des Tages nicht hören können, überträgt der ORF täglich Mittagsglocken aus einem Ort in Österreich.» (Hummer 2015: unpag.).
Im Jahre 1967 wurde der Österreichische Rundfunk reformiert und neu strukturiert. Statt zwei Mischprogrammen kam die Einführung von drei Strukturprogrammen. Ein Kulturprogramm, ein Unterhaltungsprogramm und ein Bundesländerkanal (Österreich Regional). Mit dem Bundesländerkanal wurde der Grundstein für die regionale Ausrichtung der Landesstudios gelegt. Der erste ORF Generalintendant Gerd Bacher beschrieb 1967 die Aufgaben von Österreich Regional: «Das Programm Österreich Regional (ÖR) hat als Hauptaufgabe die Reflexion des Bundeslandes, die Wiedergabe der österreichischen Vielfalt und die Pflege der bodenständigen, konservativen Unterhaltung.» (Godler 2004: 77–78).
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Österreich Regional wurde dadurch auf eine «bodenständige und konservative» Hörerschaft ausgerichtet und scheint damit die Hörgewohnheiten der Mehrheitsgesellschaft in Österreich während der Nachkriegsjahre getroffen zu haben. Österreich Regional wurde in den 1970er Jahren zum beliebtesten und am stärksten konsumierten Radioprogramm (Godler 2004). Insgesamt erzielen die ORFRegionalradios im Jahre 2017 immer noch einen Marktanteil von 33 Prozent, bei Personen ab 35 Jahren sogar 41 Prozent (ORF Medienforschung 2017). Die Tagesreichweite zeigt eine größere Hörerschaft in den Bundesländern als in der Bundeshauptstadt Wien. Die Glocken werden somit von einem wesentlichen Teil der ländlichen Bevölkerung in Österreich gehört. Der Ablauf, wann welche Glocke gespielt wird, hat sich seit Autofahrer unterwegs kaum geändert. Ein Jahresplan legt fest, wann welche Glocken ausgestrahlt werden. Bei der Auswahl wird auf den Programmablauf Rücksicht genommen. Wenn eine Live-Übertragung stattfindet, wird an diesem Tag das Geläut aus derselben Gemeinde übertragen. Die Glocken versuchen damit einen räumlichen Bezug zu ihren Hörer_innen herzustellen. Hört man in die einzelnen Regionalradios hinein stellt man fest, dass nicht alle Landesstudios die Glocken zur Mittagszeit verwenden. «Wien ist anders», heißt es in der Tourismuswerbung der Stadt Wien, und auch für das Landesstudio der Bundeshauptstadt trifft das zu. Wien überträgt keine Glocken, und das Landesstudio Niederösterreich spielt statt 1:30 Minuten nur 1:00 Minute die Glocken ein. Allgemein wurde im Laufe der Jahre die Abspiellänge von anfänglich drei Minuten auf die Hälfte (1‘30) verkürzt, was auf eine allgemeine Desakralisierung hinweisen könnte. In den Radioprogrammen der Landesstudios werden die Glocken nur in der Steiermark explizit erwähnt. In den anderen Bundesländern werden die Glocken in die Mittagszeit integriert (in den Landesstudios Kärnten, Salzburg und Oberösterreich wird Mittagszeit auch als Sendungstitel verwendet). Indem Glocken zur Mittagszeit ausgestrahlt werden, greifen sie auf bestehende semantische Funktionen von Kirchenglocken zurück. Die Mittagsglocken fügen sich passend zur Mittagszeit in die Tagesstruktur der Hörerschaft ein. Ihre lange Präsenz im Rundfunk in Verbindung mit dem Programmauftrag der Landesstudios deutet auf eine identitätspolitische Bedeutung hin. Die Historikerin Karin Bijsterveld liefert mögliche Anknüpfungspunkte dafür. In ihrer Abhandlung über historische urbane Klänge schreibt sie, dass bestimmte Klänge durch Medialisierung zu sound icons werden können: «Over time, particular sounds can be become iconic for particular locations through the conventional ways in which they are deployed in written narrative, in film and on the radio» (Bijsterveld 2013: 15).
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Glocken, die als besondere «sound icons» gedeutet werden können, werden auch von der Historikerin Emma Robertson beschrieben. Am Beispiel des Overseas Service der BBC zeigt Robertson wie Big Ben verwendet wurde um eine Vorstellungen von ‹Britishness› zu erzeugen. Die Glocken von Big Ben wurden dazu eingesetzt, um Bilder und Erinnerungen an Großbritannien zu evozieren. Die Glocken dienten nicht nur als emotionale Bindung zum britischen Empire, die Glocken wirkten auch alltagsstrukturierend, indem sie suggerierten, dass die einzig relevante Zeitangabe von London kommt (Robertson 2008: 463). Hier findet sich wieder eine raum-zeitliche Funktion von Glocken. Robertson bezeichnet Big Ben als aural iconography (Robertson 2008: 461), dessen besondere Bedeutung nicht nur von den Produzenten erzeugt wurde, es war vielmehr eine Wechselwirkung zwischen Produzenten und Hörerschaft. «The Empire Service did not offer a complete version of Britishness; rather this was formed in the interaction of broadcaster and listener. [...] Big Ben was the surprise star of the Service in 1930s, coming top in survey of listener preferences for a number of years. In response to the listener demand, Big Ben became a regular feature.» (Robertson 2008: 463)
Die Glocken in den Regionalradios des Österreichischen Rundfunks sind zwar keine «nationalen» Symbole, dennoch erzeugen sie eine Verbindung zwischen dem Zentrum der Landesstationen und der Peripherie der einzelnen Gemeinden in denen die Glocken gehört werden. Glocken im Radio dienen insofern als Baustein für eine imagined community. Die Vorstellungen der Gruppe orientiert sich dabei an einer gemeinsamen Erfahrung der Alltagswelt. Die Historikerin Michelle Hilmes (2012) nimmt Benedict Andersons Konzept zur Konstruktion von Vorstellungen über nationale Identität als Ausgangspunkt, der beschreibt, wie nationhood vor allem im 19. Jahrhundert durch die gemeinsame mediale Erfahrung des Zeitungslesens erzeugt wurde. Hilmes wendet diese Analyse auf das Radio als gemeinschaftsbildende Technik an: «Whether intentionally or not, radio really did create the voice round the nation» (Hilmes 2012: 351). Hilmes’ Befund bestätigt sich in Interviews zur Rezeption der Mittagsglocken, die ich mit unterschiedlichen Gesprächspersonen im Jahre 2016 geführt habe. Die Ausstrahlung der Glockensendung zur Mittagszeit fügt sich in die Alltagspraxis vieler Hörer_innen ein. In einem Interview beschreibt ein älterer Gesprächspartner:
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«Das machen wir schon jahrzehntelang. Wir essen meistens halt ziemlich pünktlich zu Mittag, eher ein bisschen vor zwölf und dann schalten wir [das Radio ein] und ich ärgere mich dann wenn ich merk jetzt hab ich es wieder versäumt. Dann sag ich zu meiner Frau, ‹hüt hei ma d’Glocka nit g’hört?›. Aber das ist immer interessant. Erstens hört man unterschiedliche Glocken und zweitens hört man immer die Geschichte [...] und danach kommen die Weltnachrichten, aber die Glocken. Das ist für uns schon immer interessant die Glocken, halt für unsere Generation sind sie noch etwas Kostbares [...]» (Interview mit Karl Kindl (Name geändert), 30.06.2016)
Die Glocken fügen sich in die Alltagspraxis des Gesprächspartners ein; fast jeden Tag zur selben Zeit wird zu Mittag gegessen und dazu Radio gehört. Glocken läuten auch den Mittag in der Gemeinde ein. Die Mittagszeit im Radio und die Alltagswelt stehen in einem engen Bezug, bzw. wird die Alltagswelt durch das Radio begleitet. Wie Glocken im Radio bestehende Alltagserfahrungen aufgreifen, wird auch vom Medienwissenschaftler Alec Badenoch in seinem Aufsatz Making Sunday what it acturally should be (2005) gezeigt. Badenoch beschreibt die Programmgestaltung des Sonntags in den Nachkriegsjahren in Deutschland und zeigt, wie sich das Programm an die Familie richtete, indem man sich an der Wochen und Tagesstruktur der Hörer_innen orientierte. Badenoch erläutert, wie Glocken dazu verwendet wurden um eine neue Form von ‹Heimat› zu erzeugen und die Hörerschaft dahingehend auszurichten. So wie die Sonntagsmesse Menschen zusammenbrachte, so brachte das Sonntagsprogramm im Radio die Familie zusammen. Die Glocken wurden dazu verwendet um diese Vorstellung von ‹Heimat› zu verstärken: «The sound of church bells, just like the church tower at the centre of the townscape, was an important feature of Heimat imagery. Broadcast over the radio, the sound of church bells extends this ‹local› call out to the entire mass of listeners.» (Badenoch 2005: 587)
Die lokale Eigenschaft der Kirchenglocken kann mit dem privaten Bereich der Familie gleichgesetzt werden. Die Glocken wurden aber auch dazu verwendet, um die besondere «Eigenart» der Radiostationen zu reflektieren (Badenoch 2005: 80). Diese Eigenart wurde zum großen Teil als kulturelle Eigenart einer Region verstanden. Die Klangkünstlerin und -forscherin Sophie Arkette schreibt über Radiopraxis und Alltagserfahrung:
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«Radio, with its repetitive format, provides individuals with a secure framework within which to regulate and pace their lives. It could equally be regarded as a surrogate companion which accompanies the individual in work and domestic tasks.» (Arkette 2004: 164– 165)
Das Radio rahmt tägliche Routinen. Die Repetition kann als wesentliche Eigenschaft für die Herstellung von Bezügen gesehen werden. Wiederholung des Alltags, Wiederholung der Glocken, Wiederholung im Radio. In der lokalen Ausrichtung der Landesstudios fügen sich die Glocken nahtlos in die Programmästhetik ein. Den Hörer_innen wird eine Identifikationsmöglichkeit geboten, indem sie ‹ihre› Glocken im Radio hören können, die Landesstudios sind damit wie in ihrer Eigenwahrnehmung «nah bei den Bürgern» (Public Value 2007: 212). Interessant ist auch, dass in den österreichischen Radios ein Vollgeläut erklingt. Vollgeläute sind nur zu besonderen Anlässen zu hören, sie markieren klanglich eine Besonderheit. Normalerweise würde zur Mittagszeit der sogenannte «Angelus» erklingen, hierbei wird nur eine Glocke geläutet. Die Glocken im österreichischen Radio sind daher eine Vermischung von unterschiedlichen Läutanlässen, die nicht nur räumlich sondern auch zeitlich von ihrem eigentlichen Kontext gelöst wurden. Diese Vermischung wird von Produzent_innen und Hörer_innen nicht wesentlich hinterfragt: Für die Produzent_innen sind Glocken weniger Bedeutungsträger als vielmehr Gestaltungsmittel, und für die Hörer_innen sind sie ein «Nebenprodukt» der Tagesstruktur. Anhand der Interviews mit Hörer_innen lässt sich feststellen, dass sich die Hörpraxis der Glocken an der Tagesstruktur der Menschen orientiert. Die Regionalradios werden vorwiegend von einer älteren Hörerschaft gehört. Die Regelmäßigkeit des Alltags wird mit der Regelmäßigkeit der Übertragung verbunden. Die Glocken läuten somit jeden Tag das Mittagsessen ein. Am Beispiel der Glocken ist zu sehen wie Hörmuster und Alltagsstrukturen auf Programmausrichtung treffen.
F AZIT Glocken im Rundfunk stellen zum einen eine Erweiterung der Hörgemeinschaft dar, zum anderen bieten sie lokale Bezugspunkte aufgrund ihrer historischen Bedeutung als räumlich und zeitlich strukturierende ‹Erfahrungsklänge›. Die Signalfunktion der Glocke erlaubt eine einfache Adaption im Radio, auch aufgrund ihres Widererkennungswert in der Alltagserfahrung. So wie die Glocken ‹rufen›,
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so rufen die Glocken im Radio die Hörerinnen zusammen. Glocken im Rundfunk signalisieren nicht nur eine lokale Ebene, sondern auch eine zeitliche, indem sie sich klanglich an die Alltagspraxis des Mittagsgeläutes orientieren. Die Ausstrahlung von Glocken im Rundfunk verweist auf eine Wechselbeziehung zwischen Öffentlichkeit und Privat, die sich auch in der Beziehung zwischen Produzenten und Hörer_innen widerspiegelt. Radiopraxis stellt mithilfe der Glocken Bezüge zur Alltagserfahrung her. Radio hat allgemein die Fähigkeit, «public into private homes» (Hilmes 2012: 354) zu transportieren. Die Glocken eines öffentlichen Raumes die auch für die Herstellung des Raumes verantwortlich waren, werden in den privaten Raum der Hörerschaft übertragen um wieder eine Öffentlichkeit herzustellen. Glocken aus lokalen Bezügen werden an die ‹Masse› der Hörer_innen ausgestrahlt, um wieder ganz ‹lokal› gehört zu werden. Der lokale Charakter steht bei den Mittagsglocken im österreichischen Rundfunk im Mittelpunkt. Die Programmgestaltung orientiert sich ebenfalls an regionalen Inhalten. Radioschaffende gehen von einer bestimmten Vorstellung von ‹ihrer› Hörerschaft aus – die imagined community konstituiert sich also nicht nur über die Gleichzeitigkeit von Medienkonsum über weite Räume, sondern auch über die Programmgestaltung.
Q UELLEN UND L ITERATUR Interviews Narratives Interview zum Thema Klangerfahrung am Beispiel von Kirchenglocken mit Karl Kindl (Name geändert), 30. Juni 2016. Informelle Gespräche mit Mitarbeiter_innen und ehemaligen Mitarbeiter_innen des ORF Vorarlbergs im Sommer 2016.
Archivquellen Dokumentationsarchiv Funk, Wien: - Public Value Berichte des ORF, 2007 bis 2016 - Jahresberichte RAVAG, 1927 bis 1931. - Radio Österreich, Zeitschrift des Österreichischen Rundfunks, Wien, 1953 bis 1956 - Tätigkeitsbericht ORF, 1956 und 1957.
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Literatur Arkette, Sophie (2004): Sounds Like City. Theory, Culture & Society 21 (1), 159–168. Atkinson, Niall (2012): Sonic Armatures Constructing an Acoustic Regime in Renaissance Florence. Senses & Society 7 (1), 39–52. Augoyard, Jean François/Henry Torgue, Hg. (2005): Sonic Experience: A Guide to Everyday Sounds. Montreal: McGill- Queens University Press. Badenoch, Alexander (2005): Making Sunday What It Actually Should Be: Sunday Radio Programming and the Re-Invention of Tradition in Occupied Germany 1945–1949. Historical Journal of Film, Radio and Television 25 (4), 577–598. Bijsterveld, Karin, Hg. (2013): Soundscapes of the Urban Past: Staged Sound as Mediated Cultural Heritage. Bielfeld: transcript. Bundesgesetz über die Aufgaben und die Einrichtung des Österreichischen Rundfunks (ORF-Gesetz), www.zukunft.orf.at, 22.11.2017. Corbin, Alain (1995): Die Sprache der Glocken: Ländliche Gefühlskultur und symbolische Ordnung im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a.M.: Fischer. Ergert, Viktor (1974): 50 Jahre Rundfunk in Österreich. Bd. 1. Wien: Residenz. Ergert, Viktor (1975): 50 Jahre Rundfunk in Österreich. Bd. 2. Wien: Residenz. Godler, Haimo et al., Hg. (2004): Vom Dampfradio zur Klangtapete: Beiträge zu 80 Jahren Hörfunk in Österreich. Wien et al.: Böhlau. Haid, Gerlinde (2008): Klänge gegen Naturgefahren. Alpine Space ‒ Man & Environment 4, 57–74. Hendy, David (2000): Radio in the Global Age. Cambridge: Polity. Hilmes, Michelle (2012): Radio and the imagined community. In: Jonathan Sterne, Hg.: Sound Studies Reader. London/New York: Routledge, 351–362. Hummer, Michael (2015): Eine Reise mit Kirchen- und Turmglocken, http://ooe. orf.at/news/stories/2727471/, 23.11.2017. Lacey, Kate (2013): Listening Publics: The Politics and Experience of Listening in the Media Age. Cambridge: Polity. Morat, Daniel, Hg. (2017): Wissensgeschichte des Hörens in der Moderne. Berlin/Boston: Walter de Gruyter. Neumeier, Lore, Hg. (2003): Autofahrer Unterwegs: Prominente Sprecher erinnern sich. Wien et al.: Böhlau. ORF Medienforschung (2017): Radiotest 2017_2: Ausbau der Marktführerschaft der ORF-Radios, http://der.orf.at/medienforschung/radio/Radiotest2017_2 Radiodaten100.html, 5.10.2017.
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Österreichischer Rundfunk (undat.): Leitbild des ORF, http://der.orf.at/ unternehmen/leitbild-werte/leitbild/index.html, 15.11.2017. Price, Percival (1983): Bells and Man. Oxford et al.: Oxford University Press. Robertson, Emma Robertson (2008): «I Get a Real Kick Out of Big Ben»: BBC Versions of Britishness on the Empire and General Overseas Service, 1932– 1948. Historical Journal of Film, Radio and Television 28 (4): 459–473. Schafer, Murray R. (1994): The Soundscape: Our Sonic Environment and the Tuning of the World. Rochester, Vermont: Destiny [1977].
Tamburica und kroatische nationale Identität Populäre Musik im kroatischen Rundfunk M ARTINA N OVOSEL
Das Buch Invention of Tradition der Autoren Eric Hobsbawm und Terence Ranger machte Geschichtswissenschaft und Kulturwissenschaften auf das Phänomen der «erfundenen Traditionen» aufmerksam. Als erfundene Traditionen werden relativ moderne, für das 19. und 20. Jahrhundert charakteristische Konstrukte bezeichnet, deren Kontinuität und Ursprünglichkeit von bestimmten Interessengruppen in einer Gesellschaft oder Gruppe behauptet wird. Ebenso werden verschiedene Praxen durchgeführt, die mit Symbolen und Riten verbunden sind, um durch die Repetition die Verbindung mit der Vergangenheit performativ herzustellen. Die Vorstellungen von Authentizität beruhen also auf einer Erfindung, weil es sich meistens um Antworten auf aktuelle Lebenssituationen und Fragen handelt, die einen Bezug zur Vergangenheit haben können, aber auch ohne sie konstruiert werden können. Die Bildung der Nationen und damit zusammenhängende Phänomene wie nationale Symbole, Geschichte und Musik haben einen besonderen Platz in der interdisziplinären Untersuchung von erfundenen Traditionen (Hobsbawm 1983: 1–15). Darum soll die Tamburica-Musik, deren Geschichte später im Text dargestellt wird, hier aus der Perspektive des Konzepts der erfundenen Tradition betrachtet werden. Dieser Beitrag untersucht die Bildung der kroatischen nationalen Identität im Zusammenhang mit der Tamburica-Musik, die dabei eine besondere Rolle spielte. Während des Zusammenbruchs Jugoslawiens in den 1990er Jahren begann der kroatische Rundfunk die Volksmusik Kroatiens – insbesondere das Repertoire der Tamburica – verstärkt zu fördern. Die Radiostationen spielten dabei vor allem jene Tamburica-Musik, die sie als «traditionell» und «kroatisch» ansahen. Die Musik in dieser Zeitspanne war besonders politisch konnotiert und sollte die Einheit aller Kroaten stärken. Während der Nachkriegszeit entstanden neue –
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populäre – Formen von Tamburica-Musik, die dieses Repertoire mit anderen Genres verknüpften und so weiterentwickelten. Dennoch verlor die TamburicaMusik an Bedeutung, weil andere Musikrichtungen – vor allem aus der internationalen Popmusik – im Radio dominieren. Im Zentrum des Beitrages stehen der Wandel der Tamburica-Musik von einer traditionellen zu einer populären Musikgattung und die Frage, wie politische und gesellschaftliche Entwicklungen im Programm der Radiostationen, insbesondere in der Nutzung von TamburicaMusik von den 1990er Jahren bis heute, sichtbar bzw. hörbar werden. Die komplexe Rolle der Tamburica im politischen und gesellschaftlichen Kontext wird herausgearbeitet, wobei das Instrument als ein Symbol betrachtet werden kann, welches durch die kroatische Geschichte hindurch sehr unterschiedliche Bedeutungen hatte. Die relevante Literatur zu diesem Thema umfasst überwiegend historische, ethnologische und ethnomusikologische Quellen, die sich allerdings meistens nicht speziell mit dem Rundfunk, sondern mit der Tamburica-Musik im Allgemeinen befasst haben. In den letzten Jahren ist keine neue wissenschaftliche Literatur entstanden, die sich mit der heutigen, kroatischen Tamburica-Musik und aktuellen Problematik dieses Phänomens beschäftigt. Darum habe ich eine qualitative ethnologische und kulturanthropologische Untersuchung durchgeführt, die sowohl die Programmierung der Tamburica im Radio im Zusammenhang mit der kroatischen Geschichtspolitik seit dem Jugoslawien-Konflikt behandelt und ebenso die Rezeptionsseite der Radiohörer_innen umfasst. Meine Quellen bestehen zum Teil aus einer Reihe von Interviews, die ich mit drei Radiomitarbeitern und -mitarbeiterinnen und zehn Radiohörern und -hörerinnen im Januar und Februar 2016 durchgeführt habe. Während meiner Untersuchung habe ich mit denjenigen Radiomitarbeitern gesprochen, die besonderes Interesse für das Thema der Tamburica-Musik und ein Interesse daran haben, die Tamburica-Musik im Radio zu popularisieren. Es handelt sich dabei um Personen aus den Bereichen Redaktion und Moderation. Insgesamt gibt es wenige Radiomitarbeiter_innen, die zurzeit an der Tamburica-Musik im Rundfunk interessiert sind, was sich auch im aktuellen Programm der Radiostationen widerspiegelt. Von den Radiomitarbeitenden, mit denen ich die Interviews durchgeführt habe, arbeiten zwei bei Radiostationen in Zagreb beim Hrvatski radio, und die dritte Radiomitarbeiterin arbeitete an der Radiostation Hrvatski radio Vukovar in der ostslawonischen Stadt Vukovar. Die zehn interviewten Hörer_innen hören regelmäßig diese Radiostationen, aber auch andere Sender, und stammen aus unterschiedlichen Gegenden. Um eine möglichst ausgewogene empirische
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Datenbasis zu erhalten, habe ich Wert darauf gelegt, dass die Befragten zu verschiedenen Altersgruppen gehören und auch verschiedenen Geschlechts sind.1
D IE S UCHE
NACH EINER KROATISCHEN NATIONALEN I DENTITÄT UND DIE ANFÄNGE DER F ÖRDERUNG DER T AMBURICA -M USIK
Im Folgenden untersuche ich die Frage, welche Funktion das Instrument Tamburica (dt. auch Tamburizza) in bestimmten Phasen der kroatischen Geschichte, in denen die Suche nach einer nationalen Identität besonders ausgeprägt war, hatte. Während des 18. und 19. Jahrhunderts wurde von Seiten der Intellektuellen, die sich für politische und gesellschaftliche Fragen interessierten, damit begonnen, die Rolle der Tamburica als eines wichtigen volkskundlichen Instruments in der Region Slawonien (Ostkroatien) und in der multiethnischen Vojvodina-Region zu betonen. So hat im 18. Jahrhundert der einflussreiche Dichter Matija Petar Katančić die Rolle von Tamburica-Musik im Alltagsleben dieser Regionen beschrieben, während ein Lokalpolitiker aus der Stadt Osijek, Pajo Kolarić, im 19. Jahrhundert das erste Tamburica-Amateurensemble gegründet hat, womit in der Praxis ein Aufschwung des Tamburica-Spielens einsetzte. Ebenfalls im 19. Jahrhundert kam es zur Gründung von verschiedenen Tamburica-Ensembles nicht nur in diesen Gegenden, sondern auch in der Nähe der Hauptstadt der heutigen Republik Serbien, Belgrad, und bald darauf, im 20. Jahrhundert, auch im Nordwesten Kroatiens (Bonifačić 1998: 132–134). Da die Tamburica, wie oben erwähnt, nie ein autochthones «kroatisches» Musikinstrument war, besteht kein eindeutiger Grund, weswegen die Tamburica heute als ein Nationalinstrument betrachtet wird. Die Ethnomusikologin Ruža Bonifačić schreibt der Illyrischen Bewegung2 in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle in diesem Konstruktionsprozess zu. Die Tamburica-Ensembles wurden in dieser Zeitspanne sehr aktive Promotoren der damaligen nationalen Ideologie, und sie stimmten mit den Zielen der Anführer dieser Bewegung überein. Tamburica-Ensembles waren daher bei den Südslawen, die gleichzeitig gegen die österreichischen und ungarischen politischen Einflüsse
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Es wurden 13 Interviews geführt; die Gesprächspartner_innen waren zum Zeitpunkt des Interviews zwischen 23 und 62 Jahren alt, davon sieben weiblich, sechs männlich. Die befragten Hörer_innen werden im Text mit K.1 bis K.10 anonymisiert, die befragten Radiomitarbeiter erhalten die Abkürzung R.K.1 bis R.K.3.
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Kroatische nationale Bewegung der 1830er und -40er Jahre.
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kämpften, sehr populär (Bejker 2011: 71). Zudem konnten sie die urbane und ländliche Bevölkerung einen (Bonifačić 1998: 133). Weiterhin wurde das Instrument während der Herrschaft des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen popularisiert; die Kroatische Bauernpartei benutzte es als Symbol des kroatischen Widerstandes (Hrvatska seljačka stranka, vgl. Bejker 2011: 71). Die kroatische Ethnologin Jadranka Grbić Jakopović betont, dass sich jede Generation immer wieder in der Gegenwart entdeckt, indem sie selektiv Ereignisse aus der Geschichte neu entdeckt, rekonstruiert und dadurch Verbindungen mit der Vergangenheit herstellt. Die Vorstellung von «Identität» entsteht in der Anwendung von Manipulationsstrategien in Bezug auf verschiedene Ressourcen, beispielsweise auf die Geschichte, Sprache, Religion und Kultur. Gerade Traditionen haben hier einen besonderen Status, weil aus ihnen zum größten Teil ethnische und kulturelle Marker selektiert werden, sodass jede Generation eine neue modifizierte Form von bestimmten Traditionen besitzt. Obwohl die Vorstellungen darüber, was Teil der Identität sei, sich in einem ständigen Prozess der Änderung und Transformation befinden, kann Identität über lange Zeitspannen hinweg eine unzweifelhafte Kategorie bilden (Grbić Jakopović 2014: 59f.). Einen Beweis dafür, dass die Tamburica zu einem nationalen Instrument geworden ist, liefert ihre gegenwärtige Pflege und Förderung in der kroatischen Diaspora. Massive Emigration aus den kroatischen ethnischen Gebieten begann am Ende des 19. Jahrhunderts, als aus Kroatien, meistens wegen ökonomischer und politischer Gründe, fast eine halbe Million Menschen auswanderten (Čizmić 2005: 12). Wie in den Jahren der großen Emigration konstruiert auch heute die ausgesiedelte kroatische Diaspora ihre kulturelle Identität mit Hilfe verschiedener Tamburica-Aktivitäten. Die Tamburica wird durch verschiedene kulturelle, mehr oder weniger professionelle Manifestationen und ähnliche Anlässe popularisiert. Dabei gibt es auch eine Reihe von Gemeinschaften und Institutionen, die sich der Tamburica-Musik widmen. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Institut für Tamburica in Pittsburgh in den USA.
D IE T AMBURICA -M USIK WÄHREND DES K ROATIEN - KRIEGES IN DEN 1990 ER J AHREN Ruža Bonifačić geht in ihrem Artikel über die Rolle der patriotischen Lieder und der Tamburica-Musik in Kroatien am Anfang der 1990er Jahre auf die Funktion der Musik als außerordentliches propagandistisches Mittel ein. Sie diente der Manifestation und Ausbreitung von politischen Ideen in verschiedenen wichtigen Perioden; auch während der 1990er Jahre in Kroatien spielte Musik eine
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große Rolle (Bonifačić 1993: 186). Der Ethnomusikologe Svanibor Pettan (1998) hebt ebenfalls hervor, dass Musik eine politische Rolle im Krieg haben kann, wobei sich im Kroatienkrieg (1991–95) bestimmte Hauptfunktionen gezeigt hätten: So soll Musik etwa diejenigen ermutigen, die direkt im Kriegsgeschehen engagiert sind. Sie zielt außerdem auf die Provokation und Beschämung des Feindes und ist zugleich ein Appell an diejenigen, die nicht direkt in die Kriegsgeschehnisse eingebunden sind, zu helfen. Das können die Bürger_innen des Landes sein, das im Krieg steht, aber auch die Diaspora und die politischen und anderen Kräfte in anderen Staaten (Pettan 1998: 13). In den Gesprächen mit meinen Interviewpartnern und -partnerinnen bin ich auf Antworten gestoßen, die gerade diese Aspekte aufgriffen, besonders bei den Fragen zu den Funktionen der patriotischen Musik und der Tamburica-Musik während der 1990er Jahre. Die befragte Hörerin K.5 aus Zagreb (Jg. 1956) hob hervor, dass die Tamburica-Spieler die kroatische Bevölkerung moralisch aufbauen sollten und verschiedene Regionen Kroatiens für die slawonische Region, die besonders während des Krieges litt, sensibilisieren sollten. Einer der Radiomitarbeiter, R.K1, bestätigte das und berichtete, dass auch die Medien aus ihren Studios herausgegangen seien, wenn sich die Kriegslage verschlechterte, und dass sie die Programme live in der Nähe von Kriegsschauplätzen aufgenommen hätten, um eine Verbindung zwischen dem Publikum zu Hause und den Soldaten im Feld herzustellen (siehe unten). Er erwähnt auch ein Ereignis, das ihm sehr einprägsam im Gedächtnis blieb. Er fertigte Aufnahmen von einer TamburicaBand an, deren Spieler noch verschmutzt, direkt aus den Schützengräben in einem Kleintransporter zur Aufnahme erschienen. Das Wichtigste sei gewesen, dass die Tamburicas glänzten, die sie mit sich genommen hatten. Während der 1990er Jahre bekommt die Tamburica erneut große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit, als sie wieder als das nationale Instrument inszeniert wird. In diesen Jahren verbinden verschiedene Musiker die TamburicaMusik mit vielen populären Genres (zuvor war die Tamburica meist eingegrenzt auf das Genre der Volksmusik resp. traditionellen populären Musik). Diese Veränderungen geschehen zum Teil, weil die Musiker neue Möglichkeiten und Kombinationen des Instrumentes entwickeln, um es einem breiten Publikum näherzubringen (Pettan 1998: 16). Einige Instrumente, wie zum Beispiel die Harmonika und die Gusle3, eine besondere Art der Fiedel, wurden bald als Kennzeichen der serbischen nationa-
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Die Gusle ist ein Streichinstrument aus dem Balkanraum, das erzählende Dichtung begleitet. Heute ist der Begriff mit vielen Bedeutungen belastet, weil sich der Name
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len Identität betrachtet, was – wahrscheinlich auch aus Gründen der Abgrenzung zum Nachbarland – in Kroatien zur Beliebtheit der Tamburica beigetragen hat. Es wurde bald darauf in der Öffentlichkeit darüber diskutiert, dass die populäre kroatische Musik die Eigenschaften der unerwünschten östlichen Nachbarn, also kulturelle Elemente der unerwünschten Anderen ausschließen sollte, wie die britische Historikerin Ketrin Bejker (2011) schreibt. Diese Sichtweise sei jedoch, so Bejker weiter, aus verschiedenen Gründen zu kritisieren. Einer der Gründe ist, dass die Grenzziehung zwischen ‹europäisch› und ‹östlich› die kulturellen Verhältnisse Slawoniens und der Vojvodina-Region ignoriert, wo die kroatischen wie auch die serbischen Bewohner die Tamburica spielten. Die TamburicaMusik gewann nun, zusammen mit einigen anderen Genres, an Bedeutung und wurde zu dieser Zeit mit musikalischen Elementen verbunden, die als zentraleuropäisch bezeichnet werden können und vom Osten abgrenzen sollen. Die Musik, die in dieser Hinsicht als ‹östlich› bezeichnet worden war, war die Musik mit dem Beiklang der schon erwähnten unerwünschten Instrumente und besonders die sogenannte neu komponierte Volksmusik 4, die charakteristisch für die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien und insbesondere für das serbische Gebiet war. Die Tamburica-Musik sollte daher dazu dienen, das ‹westliche›, also zentraleuropäische Kulturerbe Kroatiens sichtbar zu machen. Weitere musikalische Symbole waren Cro-Dance, eine Musikrichtung, die Rap und englische Texte mit kroatischer Popmusik kombinierte, ebenso verschiedene regionale Musikrichtungen und jüngst auch die neue World-Music-Szene (Bejker 2011: 67–73, 102–106; Marošević 2000–01: 114). Meine älteren Befragten haben oft berichtet, dass die Tamburica-Musik in Kroatien bis die 1990er Jahre stagnierte und dass im Radio wie auch in den weiteren relevanten Medien zu viel Aufmerksamkeit auf einige andere Genres gelenkt wurde, obwohl das Interesse der Öffentlichkeit für die Tamburica sehr groß gewesen sei. Bonifačić hat sich in ihrer Arbeit sehr breit der Tamburica gewidmet. Die Tamburica-Gruppe Zlatni dukati (undat. [1990er Jahre]) hat während der heftigen politisch-nationalen Veränderungen sehr viel an Popularität gewonnen, wofür die Hinwendung der Musik zu patriotischen Themen ursächlich sein dürfte. Das Wochenblatt Globus proklamierte Zlatni dukati zur populärsten kroa-
Gusle auf verschiedene Streichinstrumente, wie zum Beispiel die Lyra oder Geige, beziehen kann (Marošević 2000–01: 108) 4
«Das seltsame Wesen des Turbo-Folk» (Die Presse vom 17. Juli 2011), http://die presse.com/home/blogs/globalist/678728/Das-seltsame-Wesen-des-TurboFolk, 12. 7. 2017; «Ceca – Didule» last modified July 12, 2017, https://www.youtube.com/ watch?v=c3zKbdNLEMQ, 12.7.2017.
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tischen Band 1992 (Bonifačić 1993: 188f.). Mit ihrer Musik und Wirkung hat die Band Zlatni dukati auch dazu beigetragen, dass aus der Tamburica als einem Symbol der breiteren Pannonischen Tiefebene und der Donauebene ein nationales Instrument wurde (Bejker 2011: 69). Die Hauptfunktion der Rundfunk- und der Fernsehsender während der Kriegsjahre war es, die Kommunikationsverbindung zwischen dem Publikum zu Hause und den Soldaten an der Front zu gewährleisten. Die Zuhörer_innen, die sich im Radio bestimmte Lieder wünschten und bestellten, haben sehr oft die Lieder mit Kriegsthematik, aber zugleich auch apolitische und unterhaltsame Lieder ausgewählt (Pettan 1998: 16f.). Bejker betont, dass die staatlichen Medien dadurch sehr häufig über die bloßen Nachrichten hinaus durch ihre Sendungen einen kroatischen nationalen Diskurs vermittelt haben. Zudem führt sie an, dass sie sehr wichtige Faktoren bei der Konstruktion der nationalen und ethnischen Identität waren (Bejker 2011: 24f.), denn das System der staatlichen Fernsehsender strebte beispielsweise an, die Kontrolle über die Musik herzustellen. Auf die Verlagerung der Politik ab den 1990er Jahren von der Sicherung der nationalen Existenz hin zur Festigung der homogenen Nationalität innerhalb des Staates reagierte die Musikindustrie mit der Darbietung von mehreren Arten der nationalen Pop-Musik (Bejker 2011: 7f.). Ins Programm übersetzt, bedeutete dies, dass die kroatischen Medien am Beginn der 1990er Jahre die damals am meisten gespielte schon erwähnte neu komponierte Volksmusik aus dem Repertoire ausgeschlossen haben. Stattdessen wurden andere Genres, wie die internationale und kroatische Pop- und Rock-Musik, sowie zuletzt auch die neuen patriotischen Musikgenres gespielt. So erhielt die kroatische Musik, die von den jugoslawischen staatlichen Strukturen unterdrückt worden war, einen politischen Beiklang (Bejker 2011: 21f.).
D IE T AMBURICA -M USIK WÄHREND DER 1990 ER J AHRE UND BIS HEUTE IM S PIEGEL VON I NTERVIEWS MIT R ADIOHÖRER _ INNEN Über Interviews wollte ich mögliche Interpretationen zur Stellung der Tamburica als eines volkstümlichen bzw. nationalen Intruments erfahren. Zudem wollte ich auch herausfinden, wie oft die Befragten der Tamburica heutzutage in den Medien begegnen, wie sie die Anwesenheit der Tamburica in den Medien vor und während der 1990er Jahre empfanden und mit welchen Erinnerungen sie diese verbinden.
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Die Älteren, die in den 1950er und -60er Jahren geboren waren und die vor und während des Kriegs aktive Radiohörer_innen waren, sagen, dass es in der Zeit kurz vor Kriegsbeginn, Ende der 1980er Jahre, fast unmöglich war, Tamburica-Musik in den populären jugoslawischen Radiosendungen zu hören. Die meisten fügten hinzu, dass in Jugoslawien jedwede Nationalmusik, und eben auch die kroatische volkstümliche Musik, verboten wurde. Viele damalige Musiker, die zu jener Zeit kroatische nationale Musik, abgesehen von der Tamburica-Musik, vorführten, seien verhaftet und eingesperrt worden. Zum Beispiel führt K.2 an: «Viele sind eingesperrt worden, weil sie Ustani bane, Vila Velebita, Oj hrvatska mati usw., gesungen haben … Die Band Prljavo kazalište war auch mit dem Lied Ruža hrvatska national gefärbt, ihre Konzerte füllten die Plätze mit jungen Menschen, die nationale Gedanken und Gefühle hegten. Sie bemerkten, dass die Lieder es auch ermöglichten, Nationalgefühle auszudrücken.» (Interview mit K.2, 15. Januar 2016)
Andere Quellen bestätigen ebenfalls, dass das Singen der patriotischen Lieder während der jugoslawischen Regierungszeit, auch bei informellen Ereignissen, zu Gefängnisstrafen führen konnte (Rihtman-Auguštin 1992: 34). Aus der Sicht der Befragten dominierten in den Medien vor den 1990er Jahren die jugoslawische und die internationale Pop- und Rock-Musik und die schon erwähnte neu komponierte Volksmusik. Im Gegensatz dazu existierten nur wenige professionelle Tamburica-Ensembles. Mit dem Zusammenbruch Jugoslawiens und mit den Kriegen in ihren Gebieten veränderte sich das Repertoire der Radiosender in Kroatien, die das serbische musikalische Repertoire nicht mehr spielten. Zudem rückten die kroatischen, patriotischen Lieder in den Vordergrund. Die zwei Radioangestellten, die heute beim Radiosender in Zagreb arbeiten, sagten, dass wegen der neuen gesellschaftlichen Situation das Programm der Radiosender mit neuem Material hätte gefüllt werden müssen. Ein weiterer Grund dafür ist die offene Propaganda, die einige serbische Musiker für die Seite der Aggressoren machten. Der Radioangestellte K.R.1 führt aus: «Damit kam ein Teil der Estrade5, die serbisch war, einfach nicht in das Radioprogramm. Hätten sie in den 1990ern ein Lied von Bajaga (populärer serbischer Sänger) gesendet, wären wahrscheinlich die Soldaten aus einem Schützengraben gekommen und hätten gefragt, was hier geschehen ist.» (Interview mit K.R.1, 17. Januar 2016)
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Estrade (russisch: Bühne), Bezeichnung für die internationale populäre Unterhaltungsmusik in der Sowjetunion bzw. in Osteuropa (Anm. d. A.).
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Die meisten Befragten, mit denen ich gesprochen habe, stimmten zu, dass die Tamburica-Musik in dieser Zeit an Popularität gewonnen hat, auch in den kroatischen Gebieten, wo diese Musik historisch nicht nachweisbar ist. Natürlich hatten einige Befragte auch eine andere Meinung dazu, wie zum Beispiel die Hörerin K.4 (Jg. 1954) aus Zagreb: «Wir gingen nicht aus, um uns Tamburica-Lieder anzuhören, das haben die Menschen aus Slawonien getan. Wir hörten die Beatles und die Stones. Die Tamburicas sind jedenfalls ein Teil der kroatischen Identität, aber sie sind nicht wirklich ein Teil meiner Identität, weil ich mich mit solcher Musik nicht identifiziere.» (Interview K.4, 28. Januar 2016)
Weitere Interviewpartner_innen aus Zagreb (K.5, Jg. 1956), aus dem Gebiet der Drau (Nebenfluss der Donau, K.6, Jg. 1954) und aus der Herzegowina (K.8, Jg. 1956) erzählten jedoch, dass sie zu Tamburica-Musik ausgegangen seien und dass es auch in diesen Gegenden eine Tamburica-Szene gegeben habe, obwohl sie geografisch nicht zur Region Slawonien gehören. Es ist interessant, dass die Befragten die Tamburica-Musik dennoch ausschließlich mit Slawonien verbinden. Die genannten Beispiele zeigen, dass sich auch während der Kriegszeit nicht alle Menschen, trotz der neuen gesellschaftlichen und politischen Situation und der starken Förderung durch das Radio, für Tamburica-Musik interessierten. Als ich meine Gesprächspartner_innen nach der heutigen Stellung der Tamburica-Musik im kroatischen Rundfunk und in den Medien allgemein fragte, sagten sie übereinstimmend, dass sie nicht oft zu hören sei, und wenn, dann nur in einigen Radiosendungen, die eng auf die volkstümliche und kroatische Musik fokussiert sind. Zum Beispiel sagte K.7 aus Zagreb (Jg. 1954), die eine große Radioliebhaberin ist und jeden Tag einige kroatische Radiosender hört: «Auf den Radiosendern, die ich höre, kann man keine Tamburica-Musik hören. Außer, wenn sich die Band Mejaši unter Tamburica-Musik einordnen lässt, aber dieser Kategorisierung stimme ich nicht zu.» Die Gesprächspartnerin hat hier ein Problemthema angedeutet, mit dem sich der folgende Abschnitt auseinandersetzt, nämlich die neuen Genres der Tamburica-Musik, die sich mit der Pop-Musik verbinden. Sie weisen viele Unterschiede zu den älteren Tamburica-Vorlagen auf, was in Kroatien kontroverse Reaktionen hervorruft. Die Frage, womit meine Gesprächspartner_innen heute die Tamburica-Musik verbinden, war für meine Studie wichtig, weil ich feststellen wollte, ob die Tamburica-Musik heute noch mit der kroatischen nationalen Identität in Verbindung gebracht wird, wie dies in den 1990er Jahren der Fall war (folgt man der Literatur). Die meisten meiner Befragten verbinden die Tamburica-Musik heute mit der nationalen Identität Kroatiens, aber nicht notwendiger-
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weise auch mit ihrer eigenen Identität, obwohl alle meine Interviewpartner_innen Kroaten waren. Was ich besonders interessant fand, ist, dass alle meine Befragten die Tamburica mit der slawonischen Region verbinden, obwohl das Instrument bis heute auch in den anderen Gebieten Kroatiens und darüber hinaus verbreitet ist. In meinem Sample sahen diejenigen Interviewpartner, die aus ländlichen Gebieten stammen, wo die Tamburica-Tradition häufiger gepflegt wurde, die Tamburica als Teil ihrer kulturellen Identität, ebenso diejenigen, die aus dem Osten des Landes stammen, wo die Tamburica-Musik ebenfalls häufiger praktiziert wird als in anderen urbanen Zentren und Gebieten des Landes. Umgekehrt verbanden diejenigen, die aus den größeren Städten oder der Hauptstadt stammen, ihre Identität eher nicht mit der Tamburica-Musik, sondern eher mit internationaler Pop- und Rockmusik. Der Stadt-Land-Unterschied mag Zufall und meinem Sample geschuldet sein, ist aber ein Hinweis auf die Auswirkungen der regional unterschiedlichen Musikpflege, die weiter erforscht werden müssten. Ebenso lassen sich generationelle Unterschiede im Sample finden. Die Informationen, die ich von den jüngeren Interviewten, die während der 1990er Jahre geboren wurden, bekommen habe, waren ebenfalls sehr interessant. Die meisten betonten, dass sie sich mit dieser Musik nicht identifizieren, weil sie nicht über genügend Wissen über diese Musik verfügen. Mithilfe der allgemein verbreiteten Medien hatten sie keine Gelegenheit, viel über die Tamburica-Musik zu erfahren, weswegen sie sich für diese Art von Musik nicht besonders interessiert haben. Dadurch wird, gerade bei den Jüngeren, die Tamburica-Musik heute oft mit der Vergangenheit verbunden und entsteht die verbreitete Assoziation der Rückständigkeit. Die Befragte K.10 aus Zagreb (Jg. 1992) führt aus: «Die Tamburicas werden am meisten von den älteren Kroaten gehört. Meiner Meinung nach hören die Tamburicas nur die jüngeren Generationen, die mit dieser Musik aufgewachsen sind und sie besonders zu schätzen wissen. Der Einfluss der Eltern spielt hier eine große Rolle, und auch die Umgebung, in der sich diese jüngeren Generationen befinden.» (Interview K.10, 12. Januar 2016)
Allerdings habe ich auch mit jüngeren Befragten gesprochen, die TamburicaMusik im Alltag hören, und bei ihnen trifft es tatsächlich zu, dass ihre Familie, Freunde und die Umgebung einen großen Einfluss auf ihre Liebe zu diesem Musikinstrument hatten.
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J ÜNGSTE E NTWICKLUNGEN DER T AMBURICA -M USIK IM R ADIO Im Rahmen der Studie habe ich auch die dominanten Musikgenres und populäre Tamburica-Musik Genres in der heutigen kroatischen Radiopraxis untersucht. Insgesamt dominieren die internationalen populären Genres, etwa aus den USA usw. das Musikprogramm der beliebtesten kroatischen Radiostationen, wie es etwa die Befragte K.10 empfindet: «Meiner Meinung nach sind die populärsten Genres Pop, R’n’B und die Rockmusik. Meistens handelt es sich um die Tanz-Varianten dieser Genres, aber der Einfluss der Gesellschaft und der Medien ist sehr wichtig dabei, weil diese die Popularität einiger Stile bedingen. Die Jugendlichen wenden sich eher diesen Stilen zu.» (Interview mit K.10, 12. Januar 2016).
Doch obwohl Tamburica-Musik insgesamt nicht oft im Radio gespielt wird, gibt es Ausnahmen, etwa Pop-Tamburica-Musik, die gerade in den modernen Radiostationen erklingt. Die dominanten Tamburica-Genres im Radio im vergangenen Jahrzehnt sind die traditionelle Tamburica-Musik und neuere patriotische Tamburica-Lieder der 1990er Jahre, die je nach Image der Radiostation gesendet werden, wenn auch selten. Ein neuer Trend ist die Verknüpfung von Tamburicas mit verschiedenen anderen populären Genres, wie bereits in der Literatur erwähnt wurde (Leopold 1995: 17). Wichtig ist zu betonen, dass sich die Anzahl der Bands, die sich für eine solche Art von kreativen Aneignungen interessiert, ständig wächst und mittlerweile an die Anzahl der Bands heranreicht, die sich auf die traditionellen Genres fokussieren. Die gegenwärtigen Tamburica-Bands, genauso wie die Bands und Musiker, die sich für die Tamburica-Musik interessieren, aber anderen Musikrichtungen angehören, experimentieren und verbinden Tamburica-Musik mit Pop-, Rock-, Rap-Musik und sogar Metal.6 Heute wächst auch die Anzahl von Bands, die einige Instrumente einbeziehen, die nicht charakteristisch für die üblichen und älteren Varianten von Tamburica-Ensembles sind, wie beispielsweise Schlagzeug, Keyboards, Gitarren usw. (stilistisch vergleichbar mit der sogenannten «neuen Volksmusik»). Teilweise stoßen sie damit in der Öffentlichkeit auf Kritik, was auch bei der Befragten K.7 deutlich wird, die zu moderne Tendenzen der Tamburica-Musik
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Z.B. Pop – Od srca do srca (2015); Rock ‒ Ogenj (2016); Rap – Shorty/ Miroslav Štivić (undat./2008); Metal – Dean Kopri/Nightwish (2016).
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nicht schätzt. Allerdings stimmen alle Befragten zu, dass diese Veränderungen zu einer Annäherung der Tamburica-Musik an ein breiteres Publikum führen. Die Radiomitarbeiter erwähnen in diesem Zusammenhang auch, dass es gerade für die jungen Leute in vielen Tamburica-Bands ihre Motivation ist, durch die Kombination mit neuen Musikrichtungen leichter einen besonderen und einzigartigen Stil finden zu können. Wenn man die kroatischen, modernen und im Radio dominierenden Musikrichtungen, also die internationalen populären Genres, betrachtet, ist festzustellen, dass im heutigen Kroatien das Interesse für die traditionellen kroatischen Musikrichtungen, so auch für die Tamburica-Musik, nachlässt. Aber konkret die Tamburica-Musik befindet sich heute in einer paradoxen Lage, wenn ich meine eigenen Erkenntnisse und die Aussagen der Befragten, der Radiozuhörer_innen und -mitarbeitenden, in Betracht ziehe. Denn die Anzahl der gegenwärtigen Tamburica-Bands wächst ständig, wobei sie bei vielen verschiedenen Festivals auftreten, eigene Musikvideos produzieren, für zahlreiche Hochzeitsfeiern, Geburtstage, Gedenktage und Ähnliches gebucht werden. Und auch wenn sie nicht so populär sind, um in den staatlichen Medien zu erscheinen, können ihre Anhänger die Arbeit ihrer favorisierten Gruppen in anderen populären Medien, wie etwa Youtube, verfolgen. Um den Widerspruch zwischen einer gewissen Popularität der Tamburica-Musik und dem seltenen Vorkommen im Radioprogramm zu verstehen, wollte ich in meiner Studie auch erfahren, welche Beziehung die kroatischen Radiostationen zur modernen Tamburica-Musik haben. Meine Frage an die Radioschaffenden war, ob sie denken, dass die Tamburica-Musik wegen ihrer Konnotationen aus den 1990er Jahren heute in der Radiopraxis marginalisiert sei. Nur wenige stimmten dieser Frage zu. Einige meiner Interviewpartner haben versucht, die Gründe für die Frage zu finden, warum die Tamburica-Musik in den Medien selten ist oder möglicherweise unterdrückt werde. Der Befragte R.K.2, Angestellter einer Radiostation in Zagreb und zudem ein kroatischer Tamburica-Musiker, führt an, dass diese Abnahme an Repräsentanz der Tamburica-Musik direkt mit den gesellschaftlichen und politischen Veränderungen und Interessen in dem Land verbunden gewesen sein könnte, weil der Umschwung so abrupt geschah. Er verbindet diese Veränderung damit, dass in den 2000er Jahren die Verhandlungen Kroatiens für den Betritt zur Europäischen Union begonnen haben: Bis zum Ende der 1990er Jahren arbeitete er immer sehr viel mit der Tamburica-Musik, und für ihn stellte es kein Problem dar, in den überregionalen Zeitungen einen Zeitungsartikel über seine neuen Arbeiten und Projekte, zum Beispiel neue Alben im Bereich der Tamburica-Musik, zu bekommen. Ab den 2000er Jahren änderte sich das drastisch, was auch seine Kollegen bemerkt haben, und so kann er sich nicht des Eindrucks erwehren, dass die
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politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in Kroatien hierbei eine große Rolle gespielt haben. Im Gegensatz dazu glauben die Befragten K.1 und K.2, dass dieser Wechsel auf die Veränderungen in der kroatischen politischen Elite zurückzuführen sei, seit die Rechte von der Linken abgelöst wurde. Auch Bejker (2011) beschreibt, wie sehr sich die kroatische Musikszene in den 2000ern, als die Verhandlungen mit der EU begannen, veränderte, weil die neue Regierung, anders als die der 1990er Jahre, nicht mehr an der Konstruktion der musikalischen Nationalidentität arbeitete (Bejker 2011: 245, 269, 273, 281, 282). So entstand in Bezug auf die traditionelle Musik in den Medien ein Vakuum, das sehr vorteilhaft war für die Einflüsse der verschiedenen westlichen, mitteleuropäischen und anderen Privatinteressen. Es bedürfte weiterer Forschung, die Rolle der neuen Medien zu beleuchten und das Paradox zu ergründen, warum die Tamburica-Musik in Kroatien offensichtlich blüht, die befragten Radiohörer_innen aber meinen, dass sie im Radio nicht sehr viel erklingt und eher unbedeutender geworden sei.
F AZIT Ursprünglich ein volkstümliches Musikinstrument, wurde die Tamburica seit dem 19. Jahrhundert immer mehr als kroatisches Instrument wahrgenommen, bis sie als Nationalsymbol galt und als solches ein wichtiger Teil des Konzepts der kroatischen Nationalidentität wurde. Im Zentrum meines Beitrags standen die 1990er Jahre, die Zeit des Zusammenbruchs der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien und der Entstehung neuer Staaten, darunter auch die Republik Kroatien. Die Tamburica hat in dieser Zeit der Kriegswirren verschiedene Rollen gespielt. Die wichtigste Funktion war, die kroatische Nationalidentität zu befördern und zu bestärken, wobei dies auch aktiv von der damaligen kroatischen Regierung unterstützt wurde. Von den lokalen und regionalen traditionellen Musikstücken ausgehend, haben Tamburica-Ensembles patriotische Tamburica-Stücke weiterentwickelt und aufgeführt. Zusammen mit weiteren patriotischen Musikrichtungen, besonders aus dem Bereich der Pop- und Rockmusik, die während der neunziger Jahre auch patriotische Elemente in ihren Liedern benutzt haben, bildeten sie einen großen Teil der kroatischen Radiosendungen. Nach dem Krieg wurden deutliche Veränderungen in den kroatischen Medien bzw. im Radioprogramm erkennbar. Mit der Anerkennung des neuen Staates und nach vielen politischen, gesellschaftlichen und anderen Veränderungen nahm die Politisierung der Musik ab. Somit geriet die Tamburica-Musik in eine unterprivilegierte Lage, sodass heute die internationale Popmusik die Radiomusikszene
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dominiert und die Tamburica-Musik wieder nur auf einigen Radiosendern regelmäßig zu hören ist. In der komplexen politischen Situation wirken, trotz der gesunkenen Politisierung der Musik im ehemaligen Jugoslawien, weiterhin verschiedene gesellschaftliche Aspekte ‹unsichtbar› am Radioprogramm mit, wie ein abschließendes Beispiel verdeutlicht. Meine Interviewpartnerin R.K.3, eine ehemalige Radioangestellte in einer Stadt im östlichen Teil von Slawonien in der Nähe der serbischen Grenze, wo die Beziehungen mit Serbien auch nach dem Krieg immer noch problematisch sind, berichtete über ein Ereignis aus dem Jahr 2007, als Serbien den Eurovision Song Contest gewann: «Wir fragten den Direktor, was passieren wird, wenn Serbien beim Eurosong [Contest] den ersten Platz gewinnt? Wir mussten diese Frage stellen, denn Marija Šerifović trat mit einem sehr guten Song auf, sie war eine der Favoriten. Der Chef antwortete, dass wir das nicht ignorieren sollten. Und dann hat Marija Šerifović in diesem Jahr tatsächlich den ersten Preis gewonnen und wir haben das Lied im Radioprogramm gesendet. Wir haben das getan, und damit es klar ist, das Lied ist ganz gut. Aber die Stadt hat gehört, dass wir das gespielt haben und danach hieß es … ‹Streiche es doch weg [aus dem Programm]!›» (Interview mit R.K.3, 4. Februar 2016)
Das Feld der Traditionen ist weiterhin gesellschaftlich umkämpft, was sich auch in der Aufladung traditioneller Musik zeigt. Verschiedene Interessengruppen in der Gesellschaft werden vermutlich weiter in den Medien ihren Platz für die Förderung der eigenen Interessen finden und damit Einfluss auf Perzeption, Rezeption und Handeln der Konsumenten zu nehmen suchen. Offen bleibt die Frage, wie groß der eigentliche Bedarf an Tamburica-Musik heute ist und welchen Einfluss die kroatischen Medien und deren Radiosender auf ihre Popularität haben. Die Tamburica-Musik blüht dennoch in gewissem Maße, da die Jugendlichen vielerorts neue Tamburica-Bands gründen und der Trend besteht, die Tamburica-Musik mit den zahlreichen modernen Musikgenres zu verbinden.
Q UELLEN UND L ITERATUR Quellen Ceca/Ami G Show (2016): Didule [TV-Performance], https://www.youtube. com/watch?v=c3zKbdNLEMQ, 19.6.2018.
T AMBURICA UND KROATISCHE NATIONALE I DENTITÄT
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Dean Kopri/Nightwish (2016): Nightwish – Last ride of the day (tambura cover by Dean Kopri) [Musikvideo], https://www.youtube.com/watch?v=Fm1sIq gIrQg, 19.6.2018. Die Presse (2011): Das seltsame Wesen des Turbo-Folk. Von Teresa Reiter (Die Presse, 17. Juli 2011), https://diepresse.com/home/blogs/globalist/678728/ Das-seltsame-Wesen-des-TurboFolk, 19.6.2108. Electro Team (undat./2008): Tek je 12 sati [Musikvideo], https://www.youtube. com/watch?v=ECKzv7cH88A, 19.6.2018. Od srca do srca (2015): O.S.D.S. – Živi do kraja (Official Music Video) [Musikvideo]; https://www.youtube.com/watch?v=55C0E70nO8I, 19.6.2018. Ogenj (2016): Ogenj – Lepa Mara (official video) [Musikvideo]; https://www. youtube.com/watch?v=NYliR9W9utg, 19.06.2018. Shorty/Miroslav Štivić (undat./2008): Shorty feat. Miroslav Štivić – Dođi u Vinkovce [Musikvideo]; https://www.youtube.com/watch?v=0wUS31xo_tU, 19.6.2018. Zlatni dukati (undat.): Zlatni dukati – Odavno smo graničari stari [TVPerformance, 1990er Jahre]; https://www.youtube.com/watch?v=ZMYqUT qVTuE, 19.6.2018.
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Radio, Populäre Musik und Heimat
Blasmusik als Vermittlerin von Heimatgefühlen Eine Fallstudie zu «Swissness» am Radio1 T HOMAS J ÄRMANN
Mit größter Wahrscheinlichkeit denken die meisten Personen, wenn man ihnen das Stichwort «Blasmusik» nennt, an Dorfvereine in bunten Uniformen, die marschierend oder im Halbkreis stehend zu Platzkonzerten aufspielen. Dieses aktiv gelebte Amateurmusik-Szenario hat jedoch ein professionelles Pendant, das heute ein vernachlässigtes Dasein fristet. An zwei Beispielen der nur wenig bekannten Gattung der Symphonischen Blasmusik soll in diesem Beitrag gezeigt werden, wie Komponisten versuchten, «Swissness», also Schweizerisches, in ihre Werke hineinzukomponieren und wie diese Kunstmusik beim Schweizerischen Kurzwellendienst, dem Auslandsradio der Schweiz, dazu verwendet wurde, Heimatgefühle bei den Schweizerinnen und Schweizern im Ausland zu wecken. Der Kurzwellendienst (KWD, ab 1978 Schweizer Radio International) wurde Mitte der 1930er Jahre ins Leben gerufen. In einer Zeit gravierender politischer Veränderungen befand es die Landesregierung für nötig, die Demokratie gegenüber den totalitären Staatsformen mit entsprechenden Radiosendungen zu verteidigen. Das 1938 vom Bundesrat ausgerufene politisch-kulturelle Konzept der sogenannten «Geistigen Landesverteidigung» fand zunehmende Beachtung (vgl. Mooser 1997). Unter diesem ideologischen Begriff versammelten sich sehr unterschiedliche politische und auch künstlerische Ansichten mit dem Ziel, die
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Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine angepasste Fassung eines Kapitels meiner Dissertation ‹Swissness› über Kurzwelle. Musik als identitätspolitisches Element am Beispiel der Tonband-Sammlung von Fritz Dür, welche ich 2016 an der Universität Zürich bei Prof. Dr. Thomas Hengartner eingereicht habe.
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Schweiz auf dem Gebiet der Kultur zu verteidigen. Neben der Tagespresse für die Inlandsschweizerinnen und -schweizer wurde auch der Nutzen des Rundfunks schnell erkannt. Für die im Ausland lebenden Schweizerinnen und Schweizer wurde mit Hilfe der weitstrahlenden Kurzwellentechnik ein Radioprogramm in die verschiedenen Erdteile gesendet, das die dort lebenden Landsleute mit Informationen aus der Heimat versorgen und auf der emotionalen Ebene mit dem Herkunftsland verbinden sollte.2 Zugleich richtete sich das Programm an ein internationales Publikum. Es wurde sehr offen kommuniziert, dass die Bedeutung des Kurzwellensenders in der Unterstützung der Geistigen Landesverteidigung liegen sollte: «Nach wie vor soll das Kurzwellen-Programm unseren Landsleuten die Stimme der Heimat vermitteln. Es hat aber inskünftig auch das Interesse und die Sympathien der überseeischen Völker unserem Land zu gewinnen. Je einen Tag pro Woche wird daher eine Art Familienfest der Schweizer in aller Welt bleiben, in welchem ausschliesslich die Landessprachen erklingen und entsprechend dem einstimmigen Wunsch der ‹fünften Schweiz› hauptsächlich die volkstümlich-gefühlsmässigen Werte des heimischen Kunstschaffens gepflegt werden. Das Programm der anderen Tage dagegen soll in der Hauptsprache des Kontinents gehalten sein, für den die Sendung bestimmt ist, sekundiert von je einer der drei Landessprachen.» (Jahresbericht über das Geschäftsjahr 1938/39: 32–33)
D IE H ÖRERSCHAFT
WÜNSCHT
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Jedes Jahr trafen beim Kurzwellendienst mehrere tausend Zuschriften (Briefe, Telegramme, Postkarten etc.) ein, in denen Hörerinnen und Hörer mit dem Sender in Kontakt traten. Die Auswertung nach der geografischen Lage der Absender zeigt, dass die Hörerschaft des Kurzwellendiensts über die ganze Welt verteilt war.3 Dem akustischen Medium Radio ist eigen, dass das Publikum nur durch die menschliche Stimme direkt und auf einer emotionalen Ebene angesprochen wird. Durch das Verfassen und Verschicken von Hörerbriefen artikulierte es seine Hörerlebnisse. Es entstand so eine konkrete und enge HörerSender-Beziehung im sonst eigentlich abstrakten, weil räumlich getrennten, Radio-Prozess (vgl. Hall et al. 2004).
2
Zur Geschichte des Kurzwellendienstes vgl. Hengartner/Müske et al./Forschungsgruppe Broadcasting Swissness (2016).
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Vgl. auch Jones 2016 (publ. unter Gutsche).
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Im Archiv der SRG finden sich Bestände der eingegangenen Hörerbriefe, wobei es sich dabei meistens um Telegramme handelt, die von einer Schreibkraft zusammengetragen wurden. Es muss an dieser Stelle wohl quellenkritisch angemerkt werden, dass die erhaltenen Hörerbriefe sicher einen Prozess der Auswahl, der Zensur durchlaufen haben und somit nicht zwingend repräsentativ sind. Zudem gibt es kaum Kontext- oder Hintergrundwissen zu den einzelnen Verfassern. Die Ähnlichkeit im Inhalt und Wortlaut der gesichteten Unterlagen lässt aber den Schluss zu, dass großer Konsens bei der weltweit verstreuten Hörerschaft bestanden haben muss. Neben allgemeinen Aussagen wurden auch immer wieder Angaben zur Empfangsqualität gemacht, welche für den Sender von großer Wichtigkeit waren, um die Ausrichtung der Kurzwellen zu optimieren. Des Weiteren wurden häufig auch Aussagen zur Musikauswahl gemacht, wie etwa in dieser Zuschrift aus Buenos Aires:
Abb. 1: Hörerbrief von G. Wepfer, Buenos Aires, ARG, 1966.4
Aus dieser Hörerreaktion eines Auslandsschweizers lässt sich der Wunsch nach mehr schweizerischer Musik ablesen. Es scheint in der Tat ein außerordentliches Bedürfnis der Hörerinnen und Hörer nach Musik aus der Heimat bestanden zu haben. Musik war demnach ein wichtiger Faktor der emotionalen Verbindung zum Ursprungsland. Unter dieser Prämisse stellte der Musikwissenschaftler Fritz Dür, der ab 1955 Leiter der senderinternen Sonothek war, eine Tonbandsammlung zusammen, die den Redakteuren die tägliche Arbeit bei der Musikauswahl erleichtern sollte. In dieser Sammlung findet sich – neben der beliebten und für die Übertragung von Swissness über das Radio besonders geeigneten landestypischen Volksmusik – eben auch eine Vielzahl von Musikstücken, deren inhärente Swissness sich erst bei genauerem Hinhören erschließt, wie im Folgenden an zwei Beispielen dargestellt wird.
4
Quelle: SRG SSR, Archiv der Generaldirektion, Bestand Kurzwellendienst, A234029: Hörerreaktionen von 1966, S. 6; vgl. auch den Beitrag Jones in diesem Band.
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S YMPHONISCHE B LASMUSIK :
EIN I MPORTPRODUKT
In der über 7600 Titel umfassenden Sammlung von Fritz Dür finden sich 105 Stücke, die der Gattung der Blasmusik (eine Differenzierung wird weiter unten vorgenommen) zugeordnet werden können. Die Beliebtheit dieser Musikgattung gerade in der Nachkriegszeit spiegelt diese Zahl nicht. Aber es darf aufgrund von Sendeplänen des KWDs, die aufzeigen, dass Blasmusik zum Teil größere Sendefenster erhielt, angenommen werden, dass weitere Titel auf Schallplatten zur Verfügung standen (die Sammlung Dür enthält vor allem Eigenproduktionen des Schweizer Radios und damit Stücke, die nicht auf Industrietonträgern verfügbar waren). Eine musikhistorische Einordnung der Blasmusik, insbesondere der Symphonischen Blasmusik, kann hier nur in wenigen Sätzen vorgenommen werden, doch sollen diese kurzen Ausführungen das Verständnis für die Tragweite dieses Genres wecken, das schlussendlich für die Frage nach der Bedeutung der folgenden Fallbeispiele wichtig ist. Die mit Blechblasinstrumenten besetzte Blasmusik war von je her militärisch konnotiert und hatte sich Mitte des 19. Jahrhunderts aus dem militärischen Feldspiel entwickelt. Sowohl im Konzertwesen, als auch im Amateurbereich erfreuten sich die verschiedenen Formen der Blasmusik bald großer Beliebtheit, da sie im Freien größere Aufmerksamkeit erlangen konnten, als anders besetzte Formationen. Wesentlich zu ihrem Aufkommen haben auch instrumententechnische Verbesserungen beigetragen, die es nicht nur erlaubten, dass es den Instrumentalisten möglich war, alle chromatischen Töne rein zu intonieren, sondern auch die Vergrößerung des Tonumfangs, was einen Tonsatz in allen Lagen ermöglichte. Der Bezug zum militärischen Ursprung zeigt sich auch im Repertoire heutiger Konzerte von Blasmusikvereinen, die in ihren Programmen die obligaten Märsche, neben neuen Originalkompositionen und Arrangements, spielen. Zwischen diesen beiden Polen, den professionellen Militärspielen und den Amateurblasorchestern der Dorfvereine, klafft eine Musikliteratur-Lücke: die der konzertanten Blasmusik. In den großen Konzertsälen findet man sie nämlich nur selten. In diesem Bereich setzte zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Strömung ein, die noch heute, trotz Beiträgen von namhaften Komponisten, einen schwierigen Stand hat. Vor allem die englischen Komponisten Ralph Vaughan Williams (1872– 1924) und Gustav Holst (1874–1934) setzten mit ihren Kompositionen für Blasmusikorchester neue Maßstäbe, indem sie sich von dem damals üblichen, zumeist militärisch geprägten Repertoire bewusst distanzierten. Nicht neue, avantgardistische Kompositionselemente waren es, die diese Werke prägten, sondern gerade gegenteilige: Williams und Holst blickten zurück auf alte For-
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men und Inhalte und füllten diese mit ihrer idiomatischen Musiksprache. Die Musik von Vaughan Williams und Holst war an die traditionelle Volksmusik Englands gebunden und durch die alleinige Verwendung von Blasinstrumenten (reines Blech, oder auch mit Holzbläsern gemischt), ergaben sich neue Klangfarben. Gustav Holsts First Suite for Military Band in Eb op. 28/1 (1909) und Second Suite for Military Band in F op. 28/2 (1911) wurden sehr schnell zu Standardwerken der Blasorchesterliteratur. Im deutschsprachigen Raum zählt Paul Hindemith (1895–1963) zu den Vorreitern dieses Musikgenres. Mit seiner 1926 in Donaueschingen uraufgeführten Konzertmusik für Blasorchester op. 41 leistete er einen Beitrag, der zwar nicht unmittelbar Nachahmer fand, der aber trotzdem von großer musikhistorischer Bedeutung war. 1951 folgte die Symphony in B. Neu an den Kompositionen Hindemiths war, dass er sich im Satz an den Werken für klassisches Symphonieorchester orientierte, und so bezieht sich etwa die Titel-Bezeichnung «Konzertmusik» im ersten Werk «vor allem auf die für Blasorchester neuartige Satztechnik» (Schubert 1980: 91). Hindemiths Ziel war es, mit seinen Beiträgen das Klangbild, das der Hörer von den üblichen Märschen gewohnt war, zu überwinden. In der Schweiz sind als herausragende Komponisten von symphonischer Blasmusik etwa die Komponisten Gian Battista Mantegazzi (1889–1958), Stephan Jaeggi (1903–1957), Jean Daetwyler (1907–1994), Paul Huber (1918– 2001) oder Albert Häberling (1919–2012) zu nennen. Die zeitliche Überschneidung dieser Biografien und das Schaffen dieser Komponisten zeigen die zunehmende Bedeutung und Beliebtheit des Genres Blasmusik in den 1950er und 1960er Jahren, was belegt, dass die unten dargelegten Kompositionen nicht Solitäre in der musikalischen Landschaft waren, sondern exemplarisch für ein sich in dieser Zeit ausweitendes Genre stehen. Im Umfeld dieser Entwicklung fand 1956 im zürcherischen Uster zum ersten Mal die Arbeitstagung für Blasmusik statt. Diese Arbeitstagung (in der Folge «Internationale Festliche Musiktage für zeitgenössische Blasmusikwerke» genannt) wurde vom Dirigenten und Komponisten Albert Häberling ins Leben gerufen. Die jeweils dreitägigen Musiktage fanden anfänglich alle zwei Jahre statt, später nur noch alle vier Jahre, und bestanden aus Konzerten und Referaten von Dirigenten, Komponisten und Musikwissenschaftlern. Die Tagung wurde zu einer Plattform zeitgenössischer Musik für Blasorchester und machte Uster zum Mekka der Blasmusik.
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Z WEI F ALLSTUDIEN AUS DER S AMMLUNG VON F RITZ D ÜR : R OBERT B LUM , O UVERTÜRE ÜBER S CHWEIZERISCHE V OLKSLIEDER (1957) UND ARMIN S CHIBLER , F ANTASIA H ELVETICA «D ER R ÜTLISCHWUR » (1960) Robert Blum wurde am 27. November 1900 in Zürich geboren. Er studierte am Konservatorium Zürich bei Volkmar Andreae und nach dem Ersten Weltkrieg in Berlin bei Ferruccio Busoni. Danach arbeitete er hauptsächlich als Dirigent von verschiedenen Chören und Orchestern, später auch als Lehrer. Blums Œuvre umfasst Werke aller Gattungen, von der Oper bis hin zur Kammermusik für die unterschiedlichsten Besetzungen. Am bekanntesten wurde er jedoch durch seine Filmmusik für viele Schweizer Filme der 1940er und 1950er Jahre (u.a. Uli der Pächter und Wachtmeister Studer). Er schrieb auch Opern, Symphonien und Oratorien sowie Volksmusik. Blum verstarb am 9. Dezember 1994. Die Ouvertüre über Schweizerische Volkslieder entstand 1957, als von Albert Häberling angeregte Neuinstrumentierung der früher entstandenen Ouvertüre über schweizerische Volksliedmelodien (eine kleine Veränderung im Namen!) für Symphonieorchester. Blum reiht in seiner Ouvertüre Volkslieder aneinander, die heute kaum mehr bekannt sind. In jedem Formabschnitt erklingt ein Lied, wobei einer deutlich hörbaren Präsentation der Melodie jeweils ein verarbeitender Abschnitt nachfolgt. Die in den einzelnen Abschnitten verwendeten Volkslieder sind: Introduktion: Vermahnlied an die Eidgenossenschaft und Kappeler-Lied Abschnitt A: Der Bär von Appenzell Abschnitt B: De rot Schwyzer Abschnitt C: Roulez Tambour Abschnitt D: Herz, wohi zieht es di? Abschnitt E: O mein Heimatland Ganz ähnlich arbeitet der Komponist Armin Schibler, der in seiner Fantasia Helvetica geistiges Liedgut verarbeitet, bei dem jedoch der Schweiz-Bezug offenbleibt. Der 1920 in Kreuzlingen geborene Schibler besuchte das Gymnasium in Aarau und studierte danach Musik bei Walter Frey und Paul Müller-Zürich am Konservatorium in Zürich. Von 1942 bis 1945 war er Schüler von Willy Burkhard. In seinen kompositorischen Anfängen schrieb Schibler eine Reihe von Werken, die barocke, spätromantische und impressionistische Einflüsse zeigen. Nach Kriegsende begab er sich auf ein Studienjahr nach England, wo er Kontakte zu Benjamin Britten und Michael Tippett knüpfte. 1949 bis 1953 besuchte er
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wiederholt die Darmstädter Ferienkurse und nahm in dieser Phase auch Zwölfton-Elemente in seine Kompositionen auf, verweigerte sich jedoch den absolut strengen Regeln der Dodekaphonie. Ab 1952 beschäftigt er sich zunehmend mit den Dimensionen von Rhythmus, dem menschlichen Körper und dem Tanz, und so entstanden viele Werke für die Tanzbühne. Von 1944 bis kurz vor seinen Tod war Schibler vollamtlicher Musiklehrer am Züricher Real- und Literaturgymnasium. Er verstarb am 7. September 1986 und hinterließ 227 Kompositionen. Komponiert wurde die Fantasia Helvetica im Frühjahr 1960. Verschiedene thematische Materialien prägen die einzelnen Teile des einsätzigen Werks. Das im Grundsatz atonikale Stück endet nach einer Schlusssteigerung in einem reinen C-Dur-Akkord. Besonders fällt der Choral Wie schön leuchtet der Morgenstern auf, der in Gänze im langsamen Einschub und im Tutti überhöht in der Schlussapotheose erklingt. Die Verwendung dieses Chorales, der von Philipp Nicolai (1556–1608) um 1598 verfasst wurde, wirft einige Fragen auf. Sucht man nach musikhistorischen Verbindungen, dann stößt man schnell auf Johann Sebastian Bachs gleichnamige Kantate, der die Melodie ebenfalls als Grundlage diente. Diese Kantate trägt im Bach-Werke-Verzeichnis die symbolträchtige Nummer Eins. Doch ist dies kein Hinweis für die Beantwortung nach dem Warum. Nicolais Choraltext besingt die Freude des Gläubigen über die Geburt Jesu und bezieht sich auf eine Bibelstelle in der Offenbarung (Offb 22,16): «Ich bin die Wurzel des Geschlechts David, der helle Morgenstern.» Wobei der Morgenstern auf den Beginn der Endzeit hindeutet (Stalmann 2002: 46–47). Diese Bezüge werfen natürlich Fragen nach Schiblers Haltung zu religiösen Themen auf. In der Biografie über ihren Vater zeichnete Gina Schibler ein differenziertes Bild der Religiosität ihres Vaters. So schrieb sie etwa, dass diese sich in einer «Scheu im Gebrauch des Wortes Gott» gezeigt habe (Schibler 2000: 195, Hervorhebung im Original). Doch helfen auch diese Informationen bei der Auflösung des Rätsels nicht. Es bleibt offen, was der Morgenstern-Choral in einem Werk, das den Titel Fantasia Helvetica und zusätzlich noch den Untertitel Der Rütlischwur trägt, zu suchen hat. Weder gibt es vom Choral her Anhaltspunkte zu schweizerischen Verbindungen, noch sind andere musikalische Elemente mit Schweizerischem in Verbindung zu bringen. Es bleibt somit vorerst ungeklärt, womit und woran Schibler das Helvetische in seiner Fantasie festmachen wollte. Es stellt sich nun rekapitulierend nochmals die Frage, welchen SwissnessGehalt die oben genannten Blasmusikwerke besaßen und welche Gründe für sie, da sie ja nicht im eigentlichen Sinne Schweizer Volksmusik darstellen, sprachen, um sie überhaupt in die Sonothek des Kurzwellendiensts aufzunehmen.
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MUSIKALISCH VERMITTELT
Beide ausgeführten Kompositionen stehen in der Tradition der Symphonischen Blasmusik, wie sie sich, aus England kommend, als Zweig der Kunstmusik des 20. Jahrhunderts entwickelt hatte. Sowohl Blum, als auch Schibler verwendeten als thematisches Grundmaterial Melodien aus einer älteren Zeit. Gerade bei Blum stellt sich dabei die Frage, wie gut die von ihm verarbeiteten Lieder bei der Hörerschaft noch bekannt waren. Es dürfte so sein, dass zumindest ein Teil der Lieder nicht völlig unbekannt war, die Lieder aber in dieser Zeit bereits nicht mehr so stark im bewussten Volksliedrepertoire der Leute verankert waren. Die Archivkarteikarte in der Sammlung Dür zur Tonbandaufnahme der Komposition von Robert Blum belegt, dass das Band im Zeitraum von Juni 1966 bis März 1972 sechsmal ausgeliehen wurde, um es für das Programm zu verwenden. 5 Dies zeigt, dass das Stück den Radiomachern zwar bekannt war, es jedoch als Transportmittel einer musikalischen Swissness nicht von sehr großer Bedeutung war, was an der eben angesprochenen Unbekanntheit der zugrunde liegenden Lieder gelegenen haben dürfte. Im Falle von Wie schön leuchtet der Morgenstern als prominentem Tonmaterial in Schiblers Komposition lässt sich kein gültiger Schluss ziehen und eine Bedeutung für eine allfällige inhärente Swissness-Idee herleiten. Zum Tonband zur Komposition von Armin Schibler ist keine Karteikarte erhalten, wodurch sich keine Aussage über eine mögliche Bedeutung für den Radiosender machen lässt. «Nationale Identität» ist in kulturwissenschaftlicher Sicht als konstruierte Einheit von Selbst- und Fremdwahrnehmung zu verstehen und beruht auf einer historisch relativen Konstante von Verhaltensweisen, auf Mentalitäten und ideellen Orientierungen.6 Swissness, von (Auslands-)Schweizerinnen und Schweizern oder von außen, also vom nicht schweizerischen Publikum, gegenüber dem Kurzwellendienst proklamiert, ist Variation und Umspielung des immer Gleichen oder Ähnlichen. Da sich die irrealen Werte, die sich hinter diesem Begriff verbergen, nicht dinghaft manifestieren, müssen sie als Vorstellung konstruiert und durch dauernde Wiederholung gefestigt werden – dies strebte der Kurzwellendienst durch seine Nachrichten und Berichte und entsprechend seinem Pro-
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Wobei wegen fehlender Programmunterlagen nicht geklärt werden konnte, ob die Entlehnungen durch die Redaktion tatsächlich immer auch ins Programm aufgenommen wurden; denkbar ist auch, dass ein Stück nur angehört wurde und wieder ins Archiv gestellt wurde, ohne die Aufnahme für das Programm zu nutzen, weil es etwa nicht zur jeweiligen Sendung passte.
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Vgl. z.B. Anderson (1996), Bausinger (1984: 11–27) oder Bonfadelli (1993: 1–47).
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grammauftrag an. Doch wie ließen sich diese Botschaften in die Musik übersetzen? Die klingende Schweiz wurde zwar gerne durch Alphörner, Ländlerkapellen und Jodelchörli dargestellt (dies gilt heute noch), doch der Blick in die Tonbandsammlung von Fritz Dür zeigt, dass der Kurzwellendienst nicht nur dieser Denkart resp. Klangstrategie folgte. Die in der Sonothek zusammengestellten Bänder zeigen ein differenzierteres Bild von klanglicher Swissness. Das Singen von Jodel- und Volksliedern galt zur Zeit der Geistigen Landesverteidigung und auch danach als Ausdruck von Patriotismus, und diese Genres sollten die Hörerschaft auch einer nationalen Einheit versichern. Aber der Sender legte ebenfalls großen Wert auf musikalische Vielfalt. In der Sammlung Dür vereint sind deshalb Tonbänder, die zur Ausgestaltung der Sendungen benutzt wurden und deren Auftrag es war, die Auslandsschweizerinnen und Auslandsschweizer, aber auch die Interessierten in aller Welt über das Leben und die Arbeit in der Schweiz und vom Wesen der Schweizer zu unterrichten. Dieser Doppelauftrag (Kulturbotschaft des Bundesrates 1938: 1101), Kulturwerbung für im Ausland lebende Schweizerinnen und Schweizer, aber auch für interessierte Nicht-Schweizer, wurde in unzähligen Jahresberichten und Dokumenten gleichsam einem Mantra, auch zur Selbstbestätigung, repetiert. Diese ideologischen Leitplanken zur Selbstvergewisserung und -legitimierung liegen auch der Tonbandsammlung und somit den Stücken an und für sich zugrunde. Über das globale Medium Radio trug der Sender zur Konstruktion von Identität und Heimat bei. Als Mittel der Kulturpolitik bot das Radioprogramm einen sinnlichen, klanglichen Zugang zur Welt. Was macht nun aber diese musikalische Swissness aus, und welche Art von Musik wurde eingesetzt, um heimatliche Gefühle zu vermitteln und zu wecken? Obwohl eine explizite Sammlungsstrategie fehlt oder nicht überliefert ist, legen die Archivdokumente im Generalarchiv der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG SSR) nahe, dass es eine klare Vorstellung davon gab, welche Art von Musik im Radio gesendet wurde: Die Musik musste einen SchweizBezug haben, das heißt, dass sie in der Schweiz entstanden sein musste oder zumindest von Schweizer Interpretinnen und Interpreten dargebracht wurde. Die Heterogenität der Tonbänder in der Sonothek belegt eine außerordentliche musikalische Vielfalt zwischen urchigem Naturjodel und professionell eingespieltem Schlager. Dies zeigt, dass der Programmauftrag in musikalischer Hinsicht breit verstanden und ausgelegt wurde. Die klangliche Schweiz wurde also keineswegs nur über ein stereotypes musikalisches Genre konstruiert. Zwar wurde auch die klischeehafte Vorstellung einer Postkarten-Schweiz gesendet, doch mehrheitlich gab es eine große Vielfalt – und so hing die Auswahl der Musik, die für würdig
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befunden wurden, im Radio gespielt zu werden und als Aufzeichnung in die Sonothek aufgenommen zu werden, von der Fähigkeit des jeweiligen Stücks ab, eine Swissness-Sinnstiftung zuzulassen. Das Swissness-Erfordernis galt primär für das Genre der Ernsten Musik, zu dem auch die Kompositionen von Robert Blum und Armin Schibler gezählt werden müssen. So vereint die Sonothek hauptsächlich Musik von Schweizer Komponisten und Musik, die durch ihre Titel einen Schweizbezug vermuten lassen. Darüber hinaus macht es den besonderen Wert dieser Tonbandsammlung aus, dass sie Musik vereint, die einem ganz bestimmten Zeitgeist entsprungen ist. Die Sammlung Dür dokumentiert durch die zum Teil einzigartigen Aufnahmen einen wichtigen Zeitraum von Schweizer Radio- und Musikgeschichte.
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Archivquellen SRG SSR (Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft), Zentralarchiv der Generaldirektion, Bern: - Bestand Kurzwellendienst/Schweizer Radio International, A234-029 Hörerreaktionen von 1966. - Bestand Jahresberichte der SRG; zitierte Jahresberichte: Geschäftsjahre 1938/39 und 1942/43.
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spiel der Rezeption von Swiss Radio International. In: Fanny Gutsche/Karoline Oehme-Jüngling, Hg.: «Die Schweiz» im Klang: Repräsentation, Konstruktion nd Verhandlung (trans)nationaler Identität über akustische Medien. (Online-Publikation: https://edoc.unibas.ch/34225/) Basel: Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde, 119–134. Hall, Stuart/Juha Kovisto/Andreas Merkens (2004): Reflektionen über das Kodieren/Dekodieren-Modell. Ein Interview mit Stuart Hall. In: Juha Kovisto/Andreas Merkens, Hg.: Stuart Hall. Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften. Hamburg: Argument Verlag, 81–107. Hengartner, Thomas/Johannes Müske et al./Forschungsgruppe Broadcasting Swissness (2016): Die Schweiz auf Kurzwelle. Musik – Programm – Geschichte(n). Red.: Johannes Müske. Zürich: Chronos. Järmann, Thomas (2016): Swissness über Kurzwelle: Musik als identitätspolitisches Element am Beispiel der Tonbandsammlung von Fritz Dür. Diss. Zürich 2016. Mooser, Josef (1997): Die «Geistige Landesverteidigung» in den 1930er Jahren. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 47 (4) (Die Schweiz und der Zweite Weltkrieg), 685–708, online: http://dx.doi.org/10.5169/seals-81210, 20.7.2017. Schibler, Gina (2000): Wenn das Tönende die Spur der Wahrheit ist ... Biographie und Werk des Komponisten und Musikschriftstellers Armin Schibler. Bern et al.: Peter Lang. Schubert, Giselher (1980): Kontext und Bedeutung der «Konzertmusiken» Hindemiths. In: Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 4 (Zur Musik des 20. Jahrhunderts), 85–114. Schweizerischer Bundesrat (1938): Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Organisation und Aufgaben der schweizerischen Kulturwahrung und Kulturwerbung. In: Bundesblatt Nr. 50, 90. Jg. Bern, 985– 1035, online: https://www.admin.ch/opc/de/federal-gazette/1938/index _50. html, 20.7.2017). Stalmann, Joachim (2002): Wie schön leuchtet der Morgenstern. In: Gerhard Hahn/Jürgen Henkys, hg. im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland: Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch. H. 4. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 42–52.
«Geschmacklose Verkitschung und charakterlose Ausbeutung» Konflikte um die Schweizer Volksmusik in der Nachkriegszeit J OHANNES R ÜHL
Im Rahmen des Forschungsprojektes Broadcasting Swissness haben wir uns im Teilprojekt Luzern immer mehr auf das generelle Verhältnis von Volksmusik und Radio in der Nachkriegszeit fokussiert. In dieser Zeit, als sich die Medien öffneten und im Kontext veränderter Unterhaltungsansprüche neu positionieren mussten, brachen Konflikte um die Volksmusik aus, die es bis dahin nicht gegeben hatte. Diese Auseinandersetzungen liegen in der vergleichsweise jungen Geschichte der Ländlermusik begründet. Die Volksmusik der deutschsprachigen Schweiz hat sich wesentlich von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg zu dem entwickelt, was auch heute noch für viele als ‹die Schweizer Volksmusik› angesehen wird. Es war die Schweizerische Jodlervereinigung, die 1910 damit begann, das Jodellied, das Alphornblasen und das Fahnenschwingen in ein Regelwerk zu fassen und seit 1932 bis heute als Eidgenössischer Jodlerverband an diesen Regeln festhält. Die Folge war eine Kanonisierung, die bis heute weitgehend Gültigkeit hat. Die instrumentale Volksmusik (im Wesentlichen Ländlermusik) dagegen wurde damals nicht in den Katalog musikalischer Volkskultur aufgenommen. Obwohl sie heute eindeutig als Schweizer Volksmusik wiederzuerkennen ist, hat sich für die Ländlermusik bis heute keine dem Eidgenössischen Jodlerverband vergleichbare reglementierende Institution gebildet. Der 1963 gegründete Verband Schweizerischer Volksmusikfreunde ist im Vergleich zum Eidgenössischen Jodlerverband ausgesprochen liberal.
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Die Geschichte der Ländlermusik – die viel älter ist als die des Jodelliedes – reicht weit ins 19. Jahrhundert zurück. Diese rein instrumentale Musik hat sich wesentlich entlang der technischen Entwicklung und Verbreitung der Musikinstrumente herausgebildet. Sie bestand, bis zum rasanten Aufstieg des Akkordeons ab Mitte des 19. Jahrhunderts, hauptsächlich aus Streichmusik und Bläserbesetzung, oft auch in Mischformationen. In der Schweiz fand das Schwyzerörgeli genannte Akkordeon, das zunächst eher auf dem Land in bäuerlichem Umfeld von Amateuren gespielt wurde, erst langsam Einzug in die ambitionierten Volkmusikensembles. Die Ländlermusik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte zwar ihren Ursprung in einer einfachen bäuerlichen Tanzmusik, kam dann aber zunehmend auch in den Städten in Mode. Was in den Beizen Erfolg haben wollte, musste gefallen und zugleich ländliche Authentizität ausstrahlen – oder zumindest den Vorstellungen des einfachen Publikums entsprechen, was authentisch sei. Diese Musik bestand aus einem stilistischen Gemisch aus Schottisch, Polka, Walzer, Mazurka und zunehmend auch aus moderner Tanzmusik wie dem Fox. Das Publikum hatte an der Ländlermusik in den Beizen im Zürcher Niederdorf sein Vergnügen. Die Musik und die dazugehörigen Ansagen bedienten das Bedürfnis nach derber, alkoholseliger Fröhlichkeit. Ganz im Gegensatz zur gepflegten Musik des Jodlerverbandes, konnte sich die Ländlermusik in ihren besten Jahren zwischen 1930 und 1950 frei entfalten und dem aktuellen Geschmack des Publikums und den Anforderungen der Wirte immer wieder anpassen. Die Veränderungen und Anpassungen kamen vor allem von aktueller Musik der zwanziger Jahre, dem Jazz und dem später aufkommenden Schlager. Das Volksmusikprogramm der legendären Zürcher Landesausstellung 1939 hatte einen wesentlichen Anteil daran, dass die Ländlermusik im Zuge der «Geistigen Landesverteidigung» (vgl. Mooser 1997), als Schweizer Kulturgut in die Gunst nationaler Identitätsmuster aufgenommen wurde (Ringli 2006: 75). Die Ländlermusik war auch gerade deshalb so gut geeignet, den gemeinsamen Geist der Schweiz zu beschwören, weil sie wie das Jodellied für die meisten Hörer an keine spezifische Schweizer Landschaft gebunden war und deshalb für die ganze Schweiz stehen konnte. Damit wurde erstmals als Tradition empfunden, was bisher als anspruchslose populäre Unterhaltungsmusik außerhalb der Milieus, in denen sie praktiziert wurde, kaum Beachtung gefunden hatte. Auch wenn aus heutiger Sicht viele Ländlermusikanten dem nicht zustimmen würden, war die urbane Ländlermusik der Zwischenkriegszeit so etwas wie eine frühe Art volkstümlicher Musik, eine Musik also, von der viele annahmen, es sei Volksmusik. Umgekehrt hatten die Ländlermusiker keine Scheu, sich beim Jazz zu bedienen. Das Saxophon gehörte inzwischen zum selbstverständlichen In-
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strumentarium. Wie übrigens beim sogenannten «Innerschweizer Stil» auch das Klavier. Der Transfer ging also in beide Richtungen. Der Schlager bediente sich volksmusikalischer Idiome und die Ländlermusik suchte den Anschluss an die leichte Unterhaltungsmusik. Mit Ende des Krieges und dem Ende der kulturellen Selbstversorgung der Geistigen Landesverteidigung, als im Radio nichts als klassische Musik, Nachrichten und Volksmusik zu hören war (Dussel 1995: 202), fand man sich in einer durch den Kalten Krieg polarisierten Welt wieder. Die Bevölkerung fühlte sich auf der Seite der Sieger. Auch das Schweizer Publikum sehnte sich nach moderner Unterhaltung nach amerikanischem Vorbild. Die Soldaten der Besatzungsmächte aus dem benachbarten Nachkriegsdeutschland sorgten für eine unmittelbare Tuchfühlung mit amerikanischem Lebensstil im wiederauflebenden Tourismus der Nachkriegszeit (Berthet 2010: 28). Beim Radio entwickelten sich bald populäre Sendeformate, welche die Volksmusik in einen neuen Zusammenhang stellten. Beliebt waren volkstümliche Musik und Schlager, die stilistisch auch in die Ländlermusik einwanderten. Viele Volksmusikanten bemühten sich abermals, ihr Repertoire diesem neuen Unterhaltungsbedürfnis anzupassen. Die Landesausstellung 1939, die sich auch als Bühne der Geistigen Landesverteidigung verstand, hatten ihre Spuren hinterlassen. Nach dem Krieg bildete sich eine Musikantenszene heraus, deren Anliegen die Pflege einer «unverfälschten» Ländlermusik war. Man griff zurück auf ältere meist komponierte Stücke, wie sie Anfang des Jahrhunderts in der aufstrebenden Ländlerszene gespielt wurden und bemühte sich um Setzungen, was die «richtige, echte und ursprüngliche» Schweizer Ländlermusik sei. Zentrale Figuren dieser Bewegung waren ein Professor für Zahnheilkunde und ein Elektroingenieur. Also alles andere als die raubeinigen und geschäftstüchtigen Musikanten vom Typ eines Stocker Sepp in den Niederdorfer Spelunken der 20er und 30er Jahre. In einer Medienanalyse der Nachkriegszeit sind wir den in ausgesuchten nationalen und regionalen Pressetiteln öffentlich ausgetragenen Konflikten um die Volks- und Unterhaltungsmusik nachgegangen. Eine zentrale Rolle spielte dabei zunächst das Radio, durch dessen starke Verbreitung viele Kontroversen auf Landesebene überhaupt erst möglich waren. Nach ersten Versuchen 1953 übernahm das Fernsehen zunehmend die Rolle des Leitmediums. 1958 startete die Schweizer Rundspruchgesellschaft (SRG) den definitiven Fernsehbetrieb mit deutsch- und französischsprachigen Sendungen, während die Tessiner Sender die Programme mit italienischen Kommentaren übertrugen. 1953 standen 1,16 Mio. Radiohörern 920 Fernsehlizenzen gegenüber. Zehn Jahre später waren bereits 370.000 Fernsehgeräte empfangsbereit (Geschäftsbericht SRG SSR 1963).
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Den Printmedien fiel die Bestimmung zu, das Rundfunkprogramm anzukündigen, zugleich gab es in jener Zeit auch eine ausgeprägte Radiokritik, die auch als Bühne für mannigfache Auseinandersetzungen um die Volksmusik genutzt wurde. Hauptvorwurf der erstarkenden Traditionalistenszene – deren Speerspitze der Eidgenössische Jodlerverband war – war die ungezügelte Vermischung von Volksmusik, Unterhaltungsmusik und Schlager, die, wie man monierte, vom Radio und später vom Fernsehen nach Belieben betrieben wurde. Bei der letzten Arbeitstagung zu Volkskunde und Rundfunk 1963 in Bern1 wurde «die Verkitschung der Volksmusik als Zeiterscheinung» angeprangert. Wie viele andere Volksmusikelemente werde auch der Jodel in der Unterhaltungsmusik als «zügige Masche» verwendet. Man war der Meinung, «der Rundfunk sollte darüber wachen, dass die alte und echte Ländlermusik erhalten bleibt.» (Müller 1963: 227) Man blendete die dynamische jüngste Geschichte der Ländlermusik einfach aus und beschwor eine als ursprünglich charakterisierte Musik aus einer nicht näher definierten Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Das Radio rief die Volksmusiker in die Studios, um dort Aufnahmen zu machen. Nicht selten verließ man sich allerdings lieber auf die Profis der Unterhaltungsorchester und machte die Volksmusik gleich selbst. Das ging so weit, dass etliche vermeintliche Volksmusikstücke in Wirklichkeit aus der Feder des Leiters des Unterhaltungsorchesters von Beromünster Cedric Dumont stammten, der sich durch unterschiedliche Pseudonyme wiederholt als Autor verleugnen ließ. Kritiker solcher Praktiken machten auf die Gefahr der Perfektionierung aufmerksam. Das Radio sollte nicht nur die besten, sondern vor allem die echten Ländlerkapellen bei seinen Sendungen berücksichtigen (Müller 1963: 227). Der als regulatorisch empfundene Umgang des Radios mit den Musikern sorgte dabei reichlich für Konfliktstoff. Im bereits in den 1930er Jahren von einflussreichen Ländlermusikern begründeten Verbandsmagazin Schweizer Musiker-Revue wurde 1950 eine längere Auseinandersetzung um die Ländlermusik gar als «Radiokrieg» 2 bezeichnet. Es ging um die zunehmende Standardisierung von Musikstilen und Arrangements im Rundfunk. Die Auseinandersetzung erhitzte sich daran, dass sich die Musiker im Studio von den Redakteuren beeinflussen ließen. Zum Beispiel bei der Frage, ob Saxophon und Klavier zur echten Ländlermusik gehörten oder nicht. Musiker, die sich dem Diktat des Radios beugten, mussten sich gemäß der nachhal-
1
Vgl. zu den Arbeitstagungen genauer Glaser (1997) und auch den Beitrag von Johannes Müske in diesem Band.
2
Vgl. Schweizer Musiker-Revue Vol. 34 (2) (15. August 1958), S. 3; einen ausführlichen Bericht geben Camp/Jäggi (2013).
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lenden Kriegsrhetorik den Vorwurf gefallen lassen, sie seien «gleichgeschaltet» (Aregger 1958: 1). Das Radio, wie später auch das Fernsehen, hatte eine polarisierende Wirkung auf die Ländlerszene. Mehrfach im Radio genannt und gespielt zu werden, brachte den betroffenen Musikern sehr viel Prestige ein. 3 Die weniger bekannten Ländlerkapellen dagegen waren die Verlierer um die Gunst der Gastwirte, die gerne mit bekannten Namen aufwarten wollten. Wie die Unterhaltungskapellen mussten auch die Ländlermusiker wie ehedem den Unterhaltungsansprüchen des Publikums und der Wirte genügen. Schlager, Foxtrott und Tango gehörten zu ihrem Repertoire, um die auch von eingefleischten Musikern und Publikum als abwechslungsarm empfundene Ländlermusik etwas aufzulockern und zeitgemäß erscheinen zu lassen.4 Das Publikum musste an den Chilbis schließlich bis zum frühen Morgen unterhalten und vor allem zum Konsum animiert werden. Obwohl die Volksmusik in den Medien dieser Zeit insgesamt gesehen eine marginale Rolle spielte, schafften es repräsentative musikalische Großanlässe wie z.B. die Jahrestagung des Eidgenössischen Jodlerverbandes in Altdorf 1955 auf die Titelseiten der kantonalen Berichterstattung, wie etwa im Urner Wochenblatt. In ganzseitigen Berichten wurde dieser von vielen Musikveranstaltungen gesäumte Großanlass ausgiebig gewürdigt, obwohl das Jodeln in Uri überhaupt keine Tradition hat. Ländlermusik war im redaktionellen Teil der streng katholisch ausgerichteten Urner Wochenzeitung in den 1950er und 1960er Jahren kein Thema. Im Anzeigenteil dagegen wurden die Tanzanlässe im Umfeld der Kirchweihen von den Gaststätten ausgiebig beworben. Ohne Live-Musik ging offensichtlich gar nichts. Selbst die um eine rege Radiokritik bemühte Neue Zürcher Zeitung mischte bei den Auseinandersetzungen um die Schweizer Volksmusik mit. Im September 1968 erscheint dort ein längerer Kommentar in dem man sich mit einer Sendung des sehr populären Volksmusikredaktors Wysel Gyr, auseinandersetzte. 5 Darin hieß es: «Auf kaum auf einem Felde unseres helvetischen Daseins wird so viel Unechtes als echt ausgegeben, wird Künstliches als Natur behauptet, Ersatz für das Original genommen, wie auf dem Gebiete unseres Brauchtums.» 6 Diese meist von Stadtmenschen vor allem in Radio und Fernsehen praktizierte Volks-
3
René Wicki in einem Interview im Rahmen des Forschungsprojektes Broadcasting Swissness.
4
Gleichlautende Informationen von René Wicki und Jonny Gisler, in Interviews im Rahmen des Forschungsprojektes Broadcasting Swissness.
5
NZZ Mittagsausgabe vom 20.9.1968, Nr. 581, Seite 35.
6
Ebd.
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musik sei reine Staffage und diene nur noch einer Fernsehkultur, deren Aufgabe zuvorderst die Unterhaltung sei.7 Wie aufgeladen die Diskussion damals war, zeigt sich weiter unten im Text, als der Kommentator einmal mehr vehement den Einsatz des Klaviers in einer Toggenburger Musik kritisiert. Der Klang des Klaviers passe überhaupt nicht zur besonderen Klanglichkeit der Volksmusik. Der Autor spricht von einer «Pseudofolklore», die von Wysel Gyr unter das Volk gebracht werde. Solch ein bissiger Frontalangriff gegen Wysel Gyr konnte vermutlich nur gefahren werden, weil die Mehrheit der Leserschaft der NZZ kaum zur behaupteten Mehrheit der Volksmusikliebhaber gehörte. Was am Ende des 19. Jahrhunderts Anlass für die Gründung des Eidgenössischen Jodlerverbandes war, nämlich «den vielfach vergessenen schweizerischen Jodelgesang zu retten und dessen Pflege neu zu beleben» und «den ausländischen Einflüssen und der Verkitschung des noch vorhandenen Liedgutes energisch zu wehren»8, wurde in der Nachkriegszeit wieder aktuell. Heute sind trotz reger Veränderungen und Erneuerungen in der Ländlermusik solche Auseinandersetzungen kaum mehr vorstellbar. Selbst hinter dem auch in der Schweiz einst populären Musikantenstadl steht inzwischen ein großes Fragezeichen, während sich die Ländlermusik wie die Schweizer Volksmusik überhaupt einer überraschend großen Beliebtheit erfreut. Die Konflikte von einst sind jedenfalls vollkommen vergessen.
Q UELLEN UND L ITERATUR Interviews Musikergespräch mit Volksmusikern im Rahmen eines Workshops des Projekts Broadcasting Swissness zum Thema Volksmusik in den 1950er und -60er Jahren, mit: Jonny (Ernst) Gisler, Dolfi (Adolf) Rogenmoser, René Wicki, Hans Aregger, Fini Heinzer (Workshop des Projekts Broadcasting Swissness; 20. Oktober 2014, Haus der Volksmusik, Altdorf (UR). Interview mit René Wicki; 1. Juli 2015, Oberägeri (ZG). Interview mit Jonny (Ernst) Gisler; 27. Juni 2015, Altdorf (UR).
7
Ebd.
8
Urner Wochenblatt, 19. März 1955
G ESCHMACKLOSE V ERKITSCHUNG …
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Archivqellen SRG SSR, Archiv der Generaldirektion: - Geschäftsberichte der SRG SSR, hier 1963.
Literatur Aregger, Hans (1958): Radio und Ländlermusik. In: Schweizer Musiker-Revue Nr. 9, 2–5. Berthet, Danielle (2010): Süsse Zeiten für Luzern? Die «Aktion für amerikanische Armeeurlauber», 1945/46. In: Jahrbuch Historische Gesellschaft Luzern 28, 9–28. Camp, Marc-Antoine/Patricia Jäggi (2013): Three Steps to Becoming Musical Heritage. The Dür Collection of Swiss Radio International. In: Bulletin von CH-EM und GVS/SMPS 2013: 52–59; http://docplayer.org/29359638Bulletin-gvs-smps-ch-em-das-schweizer-zither-kulturzentrum-volksmusikinnovation-und-ausbildung-das-schweizer-hackbrett-heute-und-morgen.html, 15.09.2018. Dussel, Konrad (1995): Hörfunk im Wandel der Zeit. Hörfunkprogramme zur Mittagszeit von den 20’er bis zu den 60’er Jahren. In: Rundfunk und Gesellschaft 21, 201–209. Glaser, Renate (1997): Die Arbeitstagungen «Volkskunde und Rundfunk» 1953– 1963. Regensburg: Roderer. Mooser, Josef (1997): Die «Geistige Landesverteidigung» in den 1930er Jahren. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 47 (4) (Die Schweiz und der Zweite Weltkrieg), 685–708 (http://dx.doi.org/10.5169/seals-81210, 20.7. 2017). Müller, Beat/Paul Schenk et al. (1963): VIII. Arbeitstagung Volkskunde und Rundfunk 1.–5. August 1963 in Bern: Tagungsbericht. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 59 (3–4), 204–232. Ringli, Dieter (2006): Schweizer Volksmusik. Von den Anfängen um 1800 bis zur Gegenwart. Altdorf: Mülirad.
«Sammeln und Wiederbeleben» Volksmusik, Tonbandtechnik und die Zusammenarbeit von Volkskunde und Radio (1950er- 1960er Jahre) J OHANNES M ÜSKE
Volkskunde zu betreiben sei, so ein Bonmot des Schweizer Volkskundlers Arnold Niederer (1914–1998), auch nur gehobener Journalismus.1 Der Kommentar Niederers, der sich als langjähriger Leiter des Zürcher Seminars für Volkskunde immer wieder in den Medien zu aktuellen Themen äußerte, darf sicher als augenzwinkerndes Kompliment und weniger als Kritik an der Volkskunde oder gar am Journalismus gelesen werden. Denn durch seine regelmäßige Zusammenarbeit mit dem Rundfunk waren Niederer – wie auch anderen Volkskundlerinnen und Volkskundlern, um die es hier gehen soll – die unterschiedlichen Ressourcen und Möglichkeiten bewusst, über die Wissenschaft und Rundfunk im Hinblick auf Recherchen und repräsentative Aufmachung verfügen. Zudem fanden und finden volkskundliche Kulturwissenschaftler_innen auf ihren beruflichen Wegen stets auch in die Medien – und mit ihnen gelangen immer wieder entsprechende Themen in die Öffentlichkeit. Es besteht eine weitere Parallele: Oft gibt es eine gewisse Nähe zwischen den Recherchierenden und dem behandelten Gegenstand. Immer wieder sahen sich daher Radiomacher und universitäre Volkskundler bemüßigt, sich von sogenannten ‹Dilettanten› abzugrenzen – denn die Grenze zwischen Liebhaberei und seriöser Behandlung des Themas war umkämpft, und zudem musste die boundary-work2 auf vermintem Terrain ausge-
1
Persönliche Kommunikation mit Dominik Landwehr, Niederer-Schüler und Abteilungsleiter Pop und Neue Medien, Migros Kulturprozent (10.2.2016).
2
Vgl. grundlegend Gieryn (1983); zur Zusammenarbeit von Volkskunde und Radio auch Bürkert (2013).
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tragen werden: Der Beschäftigung mit dem Folkloristischen und Populären haftete damals, und teils bis heute noch, im Gegensatz zur Erforschung der ‹legitimen› Kultur (Bourdieu), ein verdächtiges ‹Gschmäckle› der Trivialität an. Mit dem Ausdruck ‹Gschmäckle› befinden wir uns nicht nur thematisch in der kulturwissenschaftlichen Sinnesforschung, sondern auch geografisch ganz im Thema dieses Beitrags, nämlich in Südwestdeutschland, wo der zeitweise enge Austausch zwischen Volkskunde und Radio inhaltlich wie auch personell seinen Ausgangspunkt nahm und sein Zentrum hatte. Unter dem Titel Volkskunde und Rundfunk fand von 1953–63 eine Reihe von Arbeitstagungen unter dem Dach der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde (dgv)3 und in Zusammenarbeit mit dem Radio statt. Die Tagungen sind im Zusammenhang der Erforschung von Identitätspolitiken als rundfunkgeschichtliches sowie als wissensanthropologisches Untersuchungsthema von Interesse, denn an ihnen lässt sich empirisch zeigen, wie, erstens, Radiomacher_innen ihren Programmauftrag im Austausch mit anderen gesellschaftlichen Akteuren definiert und gestaltet haben und, zweitens, wie Wissen über Kultur durch Volkskunde und Radio mitkonstruiert, akustisch übersetzt und medial verbreitet wurde. Im Folgenden wird auf der Grundlage von Tagungsberichten und weiteren Archivalien untersucht, wie Radio und Volkskunde mit dem Ziel zusammengearbeitet haben, Volksmusik vor dem Verklingen zu bewahren und lebendig zu halten und welche gesellschaftliche Verantwortung sie dabei für die Volksmusikpflege und -überlieferung wahrnehmen wollten: «Sammeln und Wiederbeleben», wie bei der Berner Arbeitstagung pointiert (Müller 1963: 210). Der Artikel untersucht zunächst die Arbeitstagungen Volkskunde und Rundfunk und ihren Schwerpunkt «Volkstumspflege». Dabei wird die Frage nach der Authentizität als ein wiederkehrender Diskussionspunkt dieser Tagungen exemplarisch untersucht. Die Authentizitätsproblematik hat ihre historische Dimension, die bereits im Sammeleifer der frühen Volkskunde angelegt war, wie anschließend untersucht wird. Die ‹Echtheit› der Volksmusik wurde als wichtige Voraussetzung für die Revitalisierung gesehen, stand jedoch aus Sicht des Radios teils in einem Widerspruch zu seinem Unterhaltungsauftrag, der bestimmte Ansprüche an die Sendefähigkeit des Materials stellte. Schließlich wird vor dem Hintergrund des technischen Wandels der Aufnahmetechnik (Tonband) diskutiert, warum der Bedarf an weiteren Tagungen zurückging und sich in andere Netzwerke und Diskussionsforen verlagerte.
3
Bis zur Umbenennung im Jahr 1963 Verband der Vereine für Volkskunde.
V OLKSKUNDE UND R ADIO
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G LEICHZEITIGKEITEN : V OLKSKUNDE , R UNDFUNK UND DIE V OLKSTUMSPFLEGE Zwischen 1953 und 1963 wurden in Westdeutschland, Österreich und der Schweiz insgesamt acht Arbeitstagungen zum Thema Volkskunde und Rundfunk abgehalten, wie die Volkskundlerin Renate Glaser (1997) in der einzigen größeren Untersuchung zum Thema systematisch erforscht und dokumentiert hat. 4 In dem Arbeitskreis trafen sich Fachvertreter_innen und Radiomacher_innen fast im Jahresrhythmus. Die zeitweise enge Zusammenarbeit war kaum Zufall, denn es gab Verbindungen durch die gemeinsame Thematik der «Volkstumspflege» (Revitalisierung), und auch durch Technologien, Quellen und Methoden. Beispielsweise war anlässlich von Feiertagen immer wieder Expertenwissen in den Medien gefragt. Auch beim Aufnehmen und Archivieren von Klang zeigen sich Verbindungen: Die Praxis, Klänge auf Wachswalzen und später Tonbändern aufzunehmen und zu archivieren, ist in den ethnografischen Wissenschaften und der Volkskunde seit ihrer institutionellen Entstehung am Ende des 19. Jahrhunderts eine gängige Praxis (Brady 1999; Herlyn 2009; Stangl 2000), und als das Radio in der Nachkriegszeit selbst damit anfing, Archive anzulegen, warb man gar gezielt Volkskundler an, denn diese waren die Fachleute mit SammlungsKnow-how und dem Wissen, um große Sammlungen produktiv zu strukturieren (Thompson 1953 : 89–154).5 Neben der Langzeitarchivierung – in der Volkskunde für spätere Forschergenerationen, beim Radio für die spätere Programmgestaltung – besaß auch die Arbeitspraxis ‹im Feld› mit Mikrofon und Befragung durchaus Ähnlichkeiten. Ebenso bestanden große Gemeinsamkeiten im Hinblick auf die Themen. Denn während die Volkskunde danach strebte, auf wissenschaftlichem Wege die möglichst «authentische»6 Volksüberlieferung zu sammeln, zu dokumentieren und nach Wegen suchte, sie dem Volk «zurückzuerstatten» (s.u.), suchte das Radio
4
1953 Stuttgart, 1954 Klagenfurt, 1955 Bremen, 1956 Nürnberg, 1958 Baden-Baden, 1959 Innsbruck, 1961 Kötzting, 1963 Bern.
5
So berichtet von Åke Campbell 1950 auf einem internationalen Symposium zum Thema Volkskunde und Vermittlung in Bloomington (Thompson 1953: 149); der Auftrag der Rundfunkarchive liegt nicht in der Sammeltätigkeit, sondern im Programmauftrag, d.h., dem Bedürfnis, Wichtiges für das Programm verfügbar zu halten; die methodischen Parallelen sind jedoch evident; vgl. zu den Spezifika von Heritageund Programmarchiven Hengartner/Müske (2012).
6
Dahmen formulierte etwa als Ziel die «Sendung authentischer Klang-Aufnahmen von Original-Volksliedsängern und -sängerinnen […]» (1953: 29).
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nach Inhalten, um seinen Programmauftrag mit Leben zu füllen. Volkskundliche Themen sollten bei dieser Aufgabe, Informationen, Unterhaltung und Erbauung für ein schuldig-geschundenes Land zu produzieren und am Demokratieaufbau mitzuwirken, eine wichtige Rolle spielen. Mit dem Kriegsende trat die Volkskunde, nach ihrer Gründungs- und Konsolidierungsphase von den 1890er Jahren bis 1945, in eine neue Entwicklungsphase ein. Die Disziplin stand in Deutschland und Österreich vor einem Neuanfang und existenziellen Problemen; in der Schweiz hingegen gab es Kontinuitäten. Nach der NS-Zeit wurde aufgrund der Verstrickung der Volkskunde in die Naziideologie und -forschung gar die gänzliche Auflösung des Faches diskutiert (Maus 1988/1946).7 Es bestand der Bedarf, das eigene wankende Dasein zu festigen. Die Volkskunde traf auf ein Radio, das ebenfalls an einem Neubeginn stand. Es war auf der Suche nach neuen Inhalten, wobei diese auf der Hand lagen – in einer Zeit der gesellschaftlichen Modernisierung und der Integration von bis zu 14 Millionen geflüchteten Deutschen waren große Fragen zu adressieren: Wie waren die Themen der Gegenwart aufzugreifen, und wie konnte gleichzeitig die Vorgabe erfüllt werden, die Hörerschaft demokratisch zu bilden, zu unterhalten und dabei ein Publikum mit unterschiedlichsten sozialen, kulturellen und geografischen Hintergründen anzusprechen? In dieser Situation kamen der in Stuttgart und Tübingen lehrende Volkskundler Helmut Dölker (der gleichzeitig Vorsitzender des Volkskundeverbands war) und der Radiojournalist und Volkskundler Hermann Josef Dahmen vom Süddeutschen Rundfunk, ebenfalls in Stuttgart, auf die Idee, den Austausch zwischen Volkskunde und Rundfunk zu intensivieren. Sie lancierten eine Reihe von Arbeitstagungen. Dabei konnten sie auf Berührungspunkte von Volkskunde und Rundfunk aufbauen, die es seit den Anfängen des Rundfunks in den 1920er Jahren gab,8 denn Volksmusik war ein wichtiger Bestandteil des Programms. 9 Die
7
Ein Überblick über die Verstrickungen, die breit erforscht sind, findet sich mit ausführlicher Bibliografie z.B. bei Gerndt (1995).
8
Der Radio-Volkskundler Wilhelm Kutter zum Beispiel blickte bei der ersten Arbeitstagung 1953 auf seine «bald zwanzigjährige Heimatrundfunkarbeit» zurück (1953: 44); ein bekanntes Beispiel ist auch die Zusammenarbeit Richard Wossidlos und anderer Volkskundler mit dem Radio (Schmitt 2005).
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Das Radio in Zeiten der Propaganda sollte Unterhaltung und Optimismus verbreiten, das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken und die Hörer_innen auf den Frequenzen der landeseigenen Sender halten. So stand etwa beim Schweizerischen Radio die ‹Wiedereroberung des Publikums› im Zentrum der Geistigen Landesverteidigung
V OLKSKUNDE UND R ADIO
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nationalen Radios waren Medien par excellence, um über populäre Melodien subkutan die jeweils gewünschten Werte zu vermitteln (vgl. auch Dreckmann in diesem Band). Das gemeinsame Interesse an der Volksmusik mündete nach dem Krieg in einen institutionalisierten Austausch: «Was für beide Seiten gleich ist, ist die Sache» (Kutter 1953: 43). Die Arbeitstagungen unter dem Motto Volkskunde und Rundfunk behandelten als thematische Schwerpunkte zum Beispiel Volk und volkstümliche Bildung (1958) oder Volkskultur im Zeitalter der Technik (1959). Die Referate trugen programmatische Titel wie Was ist Volkskunde, Das Volkslied in der Großstadt, Volkstümliche Bildung als Gegenstand und Aufgabe des Rundfunkprogramms. Einige Volkskundler sprachen ganz unverkrampft weiterhin von «Volkstumsarbeit» (Kutter 1953) oder «geistig-seelischer Blutauffrischung», die man sich für die Bildungsarbeit von den Liedern der «Ostvertriebenen» erhoffte (Künzig 1953: 39).10 Thematisch war man mit dem Radio auf einer Wellenlänge, sich der Volksmusikpflege zu widmen, wie auch die Beiträge der Radioschaffenden verraten, die ihre Sendungen und Redaktionen vorstellten. Die Tagungsprogramme führen volkskundliche Exkursionen auf und enthalten stets eine Adressliste mit Ansprechpartnern. Ausgerichtet (und größtenteils bezahlt) wurden die mehrtägigen Veranstaltungen von den Radiostudios. Die Vertreter_innen von Volkskunde und Rundfunk erhofften sich die Zusammenarbeit bei gesellschaftlich relevanten kulturellen Themen, wie etwa der Förderung des Verständnisses für die Vertriebenen, die nun in West- und Ostdeutschland integriert werden wollten.11 Die Volkskunde, mit ihren entsprechenden staatlich alimentierten Forschungsstellen, erhielt gerade durch die ins Land geströmten Heimatvertriebenen die besondere Aufgabe zugewiesen, die neue volkskulturelle Vielfalt einzuordnen12 – in die volkskundlichen Archive, aber
beim Radio, um die Abwanderung von Hörer_innen zu ausländischen Sendern zu stoppen, wie Radioverantwortliche erkannt hatten, vgl. Reymond (2000: 102ff.). 10 Die Begriffe sind ein Hinweis auf das teils ungebrochene Fortleben von Konzepten aus der NS-Zeit und der Vor-NS-Zeit, vgl. Bausinger (1965) und Gerndt (1995). 11 So z.B. der Volkskundler Johannes Künzig (1953: 39): «Ostdeutsches Kulturgut muß darum in vollem Umfang und überall in unser Bildungsgut aufgenommen werden, d.h. in unsere Schulbücher und Jugendarbeit, in unsere Vortragsprogramme, in die Vorlesungspläne der Hochschulen, in die Heimatzeitschriften, in Presse und Rundfunk.» 12 Z.B. das heutige Institut für Volkskunde der Deutschen des östlichen Europa (IVDE), Freiburg oder das Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) resp. ihre jeweiligen Vorgängerinstitutionen.
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auch als gesellschaftliches Orientierungswissen, das über das Radio verbreitet wurde.13 Der Rundfunk erhoffte sich von der Zusammenarbeit, dass die Volkskunde wissenschaftlich geprüften content (wie man heute sagen würde) bereitstellt oder das Radio auf interessante Inhalte und Personen hinweist, während die Volkskunde umgekehrt hoffte, mit Hilfe des Leitmediums Radio ihre Forschungs- und Vermittlungstätigkeit zu legitimieren. Zunächst einmal wollte man ein gegenseitiges Verständnis für die Themen und unterschiedlichen Arbeitsweisen schaffen, wobei bereits auf beiden Seiten Vorwissen bestand, zumal es in einigen Sendern auch volkskundliche Redaktionen gab. Die Volkskundler legten für die Zusammenarbeit mit dem Radio insbesondere Wert auf Gegenwartsthemen. Bereits im Eröffnungsvortrag sprach Helmut Dölker (1953) von den Möglichkeiten, das Radio für den Schulfunk, aber auch die Lehrerbildung zu nutzen, wobei aber unbedingt die Echtheit des Überlieferten sichergestellt sein müsse. Eine andere Hoffnung, die formuliert wurde, war auch ein «größtmöglicher Austausch der Archive» zwischen Volkskunde und Radio (Kutter 1953: 49). Doch völlig harmonisch sollte die Zusammenarbeit des Radios und der Wissenschaft nicht verlaufen. Schon nach einigen Tagungen zeigten sich Ermüdungserscheinungen und fand der Gedankenaustausch in immer größeren Abständen statt, bis er schließlich «einfach eingeschlafen» ist (Glaser 1997: 128). Glaser macht dafür externe und interne Gründe aus, die mit der Weiterentwicklung der Volkskunde und ihrem Abschied vom Volksleben (Geiger et al. 1970) sowie mit Schwierigkeiten innerhalb der Arbeitsgruppe zusammenhingen. Doch neben den wissenschaftlichen und organisatorischen Gründen bereiteten vor allem die unterschiedlichen institutionellen Logiken Schwierigkeiten, worauf fol-
13 Dies zeigt gerade das Beispiel Künzigs, der zahlreiche Radiosendungen zum Thema produzierte; exemplarisch ein Schlusswort: «Jeder soll sich in seiner Umgebung umsehen, soll ein Ohr dafür haben, wie viel Schönes uns hier aus dem Osten als Mitgift mitgebracht worden ist. Wir sagen es doch immer wieder, die Ostvertriebenen hat ein schweres Schicksal, tragisches Schicksal hierhergeführt, mit leeren Händen, aber nicht mit leeren Herzen. Sie sind wahrlich nicht nur eine Last, sondern ein Segen. Sie haben die Aufgabe, uns zur Besinnung zu rufen, dass wir unsere eigenen ererbten Güter nicht verfallen lassen. Und wenn wir diese Dinge verfallen ließen, die sie im Osten treuer bewahrt haben, als es im Westen geschehen ist, dann würden wir mit Schuld sein, dann wäre wirklich Vätergut in letzter Stunde noch vertan worden.» (Künzig in der Sendung Ein Besuch bei der Zentralstelle für Volkskunde der Heimatvertriebenen (Südfunk Stuttgart, Erstsendung 3.2.1954, Archiv IVDE).
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gend der Blick gelenkt werden soll. Zwei neuralgische Diskussionspunkte der Tagung zeigen, dass es trotz des gemeinsamen Nenners «Volkstumspflege» höchst unterschiedliche Auffassungen über die ‹Echtheit› der Aufnahmen einerseits und ihre pädagogische Eignung für das Radio andererseits gab, die sich als Zielkonflikt zwischen Authentizität und Sendefähigkeit darstellten.
AUTHENTIZITÄT ODER S ENDEFÄHIGKEIT – H ERAUSFORDERUNGEN IN DER PRAKTISCHEN Z USAMMENARBEIT VON V OLKSKUNDE UND R ADIO Radio und Volkskunde hatten den gemeinsamen Anspruch, die Hörer_innen in ihren Programmen zu bilden. «Das von der Zivilisation gefährdete Gut sollte gesammelt, wiederbelebt und Neues hinzugeschaffen werden. […] Heute haben wir in unseren technischen Mittlern die besten Helfer dazu [dem Verklingen entgegenzuwirken]» (Müller-Blattau in Müller 1963: 209f.). Das «Sammeln und Wiederbeleben» (ebd.: 210), was sollte es zum Inhalt haben? Im Folgenden werde ich die Entstehung des Authentizitätsgedankens wissenschaftsgeschichtlich rekonstruieren, um anschließend am Beispiel der Arbeiten des Volkskundlers Johannes Künzig zu zeigen, inwiefern die Zusammenarbeit mit dem Radio herausfordernd war. Laienmusiker hatten es nicht leicht beim Radio, denn wenn nicht gerade O-Töne aus dem ‹Volk› benötigt wurden, galten ihre Stile oder Instrumentierungen oft nicht als radiotauglich. Während die Volkskunde das volkstümliche Wissen im Volk dokumentieren wollte, verstand der Rundfunk unter Wissensvermittlung auch Unterhaltung und stellte gewisse Ansprüche an die Musiker_innen. Die Volkskunde versuchte demgegenüber, unauthentische Aufnahmen, Lieder oder Stile vom Radio fernzuhalten und warnte vor «Folklorismus». Bei allen Gemeinsamkeiten in der Zielsetzung zeigten sich hier Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit von Radio und Volkskunde. Volksliedarchive und Forschungspraxis: Dokumentation, Authentisierung und Revitalisierung Die volkskundliche Sammeltätigkeit und Erforschung der klingenden Volkskultur reicht bis in die frühe Institutionalisierungsphase der Volkskunde um die Jahrhundertwende 1900 zurück. Wie die Volkskundlerin Christine BurckhardtSeebass (1990) schreibt, sollten die Sammlungsbemühungen des frühen Volksliedarchivs vor allem späteren Wissenschaftlergenerationen dienen. Eduard Hoffmann-Krayer, der Gründungsvater der schweizerischen Volkskunde, hatte 1906 mit seinem Freund und Universitätskollegen John Meier das Schweizeri-
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sche Volksliedarchiv aus der Taufe gehoben; es befindet sich bis heute in den Archivräumen der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde (SGV, gegr. 1896 in Basel). Bald darauf ging Meier nach Freiburg im Breisgau, wo er 1914 das Deutsche Volksliedarchiv gründete. Eines der vielen Sammlungsprojekte der SGV war die Sammlung von Volksliedern im rätoromanischen Teil von Graubünden in den 1930er Jahren. 14 An der Consolaziun-Sammlung beteiligt waren verschiedene volkskundliche Enthusiasten, darunter Alfons Maissen und Hanns In der Gand, die größtenteils schriftliche Aufnahmen von geistlichen Volksliedern anfertigten (ein Band mit weltlichen Liedern war geplant, konnte aber nicht umgesetzt werden). Die volkskundlichen Musikforscher besuchten vornehmlich ältere Sängerinnen und Sänger in ihren Orten und fertigten mit ihnen die Aufnahmen an, indem sie sie sich mehrmals vorsingen ließen, teilweise unter Vorlage von Gesangbüchern. Die Melodien und Texte und Varianten wurden per sogenannter «Gehöraufnahme» schriftlich fixiert und veröffentlicht. Ziel des Projekts war es, wie es Maissen in seiner Einführung schrieb, die Lieder in ihren Melodien wieder für das Volk zugänglich zu machen: «Möge das durch die Wissenschaft dem Volke hier zurückerstattete Lied wieder gross und ganz zur Ehre Gottes in der Kirche, auf dem Feld und in der Zurückgezogenheit der bäuerlichen Stube neu für Jahrhunderte erklingen!» (Maissen 1945: X).
Sammeln also nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für das Volk. Dem Sammlungsprojekt kam zugute, dass die geistlichen Lieder bereits im Text do-
14 Consolaziun dellʼ olma devoziusa (Trost der andächtigen Seele); die Sammlungskooperation von Hanns In der Gand und der SGV begann 1930, die Sammlungstätigkeit von Alfons Maissen im Auftrag der SGV dauerte von 1938 bis 1944. Die Aufnahmen fallen damit in die Phase der sogenannten «Geistigen Landesverteidigung», die offiziell 1938 in der «Kulturbotschaft» beschlossen und Leitlinie des kulturpolitischen staatlichen Handelns wurde (Schweizerischer Bundesrat 1938); im Zuge der Geistigen Landesverteidigung wurde das Rätoromanische zur vierten offiziellen Landessprache der Schweiz. Das wissenschaftliche Programm der Volkskunde bis in die 1950er Jahre kann mit den Begriffen Retten, Sammeln, Zugänglichmachen gefasst werden, verfolgte aber auch eine kulturpolitische Agenda. Im Falle der Consolaziun veröffentlichten die Herausgeber um Alfons Maissen geistliche Volkslieder aus dem gleichnamigen Gesangbuch aus dem 17. Jahrhundert, was von der SGV unterstützt wurde, vgl. auch Albin (2011) und Schw. Nationalphonothek: http://www.fonoteca.ch/green/invento ries/maissenA.htm, 10.7.2016.
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kumentiert waren und die Sänger teilweise aus dem Buch vorsingen konnten. Hanns In der Gand, der damals schon bekannte Soldatensänger und erfolgreiche «Volksliedjäger» (Meuli 1947: 280), konnte für das Consolaziun-Projekt trotz knapper Forschungsmittel Walzenaufnahmen mit dem Phonographen anfertigen. Er nutzte für die volkskundliche Forschung die damals modernste vorhandene Technik und setzte sich als ausgebildeter Musiker auch mit der Methodik Hornbostels auseinander, wie er in einem Bericht an die SGV schreibt: «Richtunggebend waren für mich frühere Beratungen Hornbostels über Tongebung, Tonfärbung, Tonhöhe, Singmanieren, Vortragsweise, Atemführung, Phrasierung, Notpausen, dynamische Schattierung u.a.m. […] Ich weiss zu gut, mit welchen Gefahren und Zufälligkeiten eine phonographische Aufnahme verbunden ist, zumal wenn man den Liedträger nicht dazu einarbeiten kann und ihm keine Zeit lässt, sich einzusingen. […] Ich weiss, dass ein Phonogramm so falsch sein kann wie eine schlechte Photographie. Trotzdem sollte man, wo der Liedträger sich irgendwie eignet, ihn reden lassen und nicht den Sammler, also von Gehöraufnahmen absehen und in unserm Archiv eine Phonothek ausbauen; denn der Sänger kann vor allem ein in starkem musikalischen Affekt gesungenes Lied nie wiederholen.» (In der Gand, in: Maissen/Wehrli 1945: LXIV, Hervorhebungen im Original)
Der Vorteil der ethnografischen Forschung mit dem Phonographen lag zum einen darin, einen möglichst umfassenden und lebendigen Eindruck der Volkskultur – performiert von Vertretern und Vertreterinnen aus dem Volk selbst – zu dokumentieren, denn die Sammler waren sich dessen bewusst, dass sie selbst bei größtem Aufwand nur kleine Ausschnitte der Volksüberlieferung erhalten konnten. Zum anderen wurde der Variantenreichtum und wurden auch die performativen Aspekte als entscheidende Details wahrgenommen, denn erst sie bürgten für die Authentizität der regional und lokal verankerten Brauchtümer. Das Phonogramm sei gegenüber der transkribierten «Gehöraufnahme» authentischer, da jeder Übersetzungsschritt weg vom «Liedträger», so die zeitgenössische Terminologie, eine Entfernung vom lebendigen Zusammenhang des Volkslebens bedeute. Kaum reflektiert bei den frühen ethnografischen Tonaufnahmen wurden ethische Aspekte, wie In der Gands Bericht zeigt (vgl. dazu auch Müske 2018/ im Druck).15
15 In der Gand schreibt zur Entstehung der Aufnahme: «Rufer: Walter Schleiß, geb. 1895. […] Ich erfuhr am 19.7.1938, daß Schleiß den Betruf gerufen habe, von Fridolin Schnyder, Rinderhirt auf dem vorderen Chrummflüchli. Auf meine Anfrage war Schleiß nur sehr zögernd bereit, ihn mir auf die Walzen zu rufen, weil er das nicht für recht schicklich hielt. Erst rief er ihn im Freien, ob dem Chrummflüchlistall, am 22.
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Wie ein Hörbeispiel verdeutlicht, ließ zudem die Qualität der frühen Tonaufnahmen stark zu wünschen übrig und konnten die Walzen nur wenige Male abgespielt werden, weil sich bei jedem Abspielen der Wachszylinder stark abnützte. ♫ Hörbeispiel 1: Tonaufnahme mit dem Phonographen von Hanns In der Gand (1938), https://doi.org/10.5167/uzh-156844 (Ausschnitt, 0’24).16
Radiopraxis: «authentische» Tonaufnahmen in der Diskussion Die frühen Tonaufnahmen waren nicht für den Rundfunk geeignet (und auch nicht gedacht). Durch die angestrebte engere Zusammenarbeit mit dem Radio entstand das Problem der Sendefähigkeit von Tonaufnahmen. So schildert der Volkskundler und Radiomitarbeiter Wilhelm Kutter, zusammen mit Dahmen einer der Ideengeber für die Arbeitstagungen, in seinem Referat die Schwierigkeiten bei Feldaufnahmen. Nach Probevorsingen von jüngeren, mittelalten und älteren Bewohnern und Bewohnerinnen eines Dorfes stellte sich heraus, dass die Lieder aus der Jugendzeit der ältesten Bewohnerinnen am geeignetsten für den geplanten Heimatabend waren. Doch: «Und schon in diesem Augenblick entstand das Darstellungsproblem für den Rundfunk. Die alten Bäuerinnen mit ihren brüchigen Stimmen, die uns die Lieder vorgesungen haben, konnten sie im Rundfunk nicht singen.» (Kutter 1953: 45)
Juli 1938, hernach kam er ins Berghaus von Herrn Heinr. Steinfels, war aber sehr schwer an den Schallbecher zu bringen, daher bringen die Walzen Weisen u. Text so ungleich stark.» (In der Gand, undat. [1944], ebd., Herv. i. O.). Schweizer Volksliedarchiv, Nachlass Hanns In der Gand, Archivschachtel 28473–28920, Mappe 28705–28711, Tb. Euthal SZ 3+1 (Eingangsnr. 1236). 16 Ave Maria, Sänger: Walter Schleiß, Phonogramm des Betrufes der hinteren Chrummfluch, Euthal, Kt. Schwyz, Walze 2 (SGV-Archiv-Nr. 28706), Nachlass Hanns In der Gand, Schweizer Volksliedarchiv, wie Anm. 15). Die Problematik der Abnutzung konnte durch die Fertigung von kupfernen Negativmatrizen (Galvanos), von denen sich wiederum Walzenkopien anfertigen ließen, gemindert werden, wie etwa am Berliner Phonogrammarchiv praktiziert. Die Walzenaufnahmen des Schweizer Volksliedarchivs wurden 1965 auf Tonband umkopiert und im Jahr 2000 in einem weiteren Projekt mit SGV, Memoriav und der Schweizer Nationalphonothek digitalisiert (www.memoriav.ch).
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Das Problem konnte hier gelöst werden: Nicht, indem Berufssänger die Lieder einsangen (denn dadurch wäre etwas ‹Fremdes› ins Liedgut gelangt), sondern indem der örtliche Chorleiter mit jungen Sängerinnen die Lieder einübte und aufnahm (ebd.: 45f.). Wie man beim Radio durch Zuschriften und Hörerforschung wusste, waren die Hörer_innen geradezu verrückt nach der aktuellsten Musik, und sie konnte gern etwas flotter sein. So arbeiteten die Radios eng mit Berufsmusikern oder mindestens professionellen Laien zusammen, wie zum Beispiel an der Sammlung Dür17 des schweizerischen Radios nachgewiesen werden kann. Beim Schweizer Radio wurde Volksmusik als «[e]ines der wesentlichsten ‹Verkaufselemente›» bezeichnet, mit deren Hilfe die Sendungen und Aussagen über die Schweiz ‹verkauft› werden sollten, wie es in einem Geschäftsbericht hieß (SRG Jb. 1957: 46). Die Unterhaltung stand beim Radio klar im Mittelpunkt, denn sie machte die Hörer_innen neugierig auf den eigenen Sender, die Musik durfte dem populären Geschmack gern entsprechen, und dieser war ‹modern›. Eine Repertoireanalyse der einzigartigen Sammlung Dür, die im gesamten Schweizer Radio in den 1950er und -60er Jahren für das Auslandsradio zusammengestellt wurde (siehe unten), ergab zum Beispiel, dass mit dem ‹Authentischen› kreativ umgegangen wurde. Melodien und Instrumentierungen durften gern aus der älteren ländlichen Musikpraxis übernommen werden, doch wurden sie frei mit modernen Instrumenten, etwa Hammondorgel, rekombiniert, umkomponiert oder für Big Bands neu arrangiert. 18 ♫ Hörbeispiel 2: Volksmusik im Schweizer Radio (Sammlung Dür, 1957–67), https://doi.org/10.5167/uzh-156844 (Ausschnitte, 0‘47).19 (Mehr Hörbeispiele unter: https://www.srf.ch/sendungen/sammlungduer/sendungen)
17 Vgl. die Beiträge in Forschungsgruppe Broadcasting Swissness et al., Hg. (2015). 18 Musiker arrangierten beispielsweise Volkslieder bzw. traditionelle Melodien neu und sicherten sich auf diese Weise für ihre Version die Urheberrechte (und Tantiemen), wie Musiker in einem Gruppeninterview berichteten, die in den 1950er/60er Jahren mit dem Radio zusammenarbeiteten und deren Stücke in der Sammlung Dür vorhanden sind; Gruppeninterview mit Volksmusikern zum Thema Volksmusik in den 1950er und -60er Jahren (2014). 19 Drei von 7.618; Hörbeispiele: Streichmusik Edelweiss Trogen: Polka III in G-Dur (Alter Appenzeller Tanz) (Trad., Aufn. Studio Zürich, 1955); Harmonika Duett Lustenberger-Landolt: Tätschbach-Rauschen (Trad., Aufn. Studio Basel, 1953); DRS Band/Hans Moeckel: Trotzköpfchen (Walter Wild, Bestand Cédric Dumont/Studio Zürich, 1959); zur Geschichte der Sammlung Dür vgl. Müske (2016).
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Im Gegensatz dazu blieb selbst mit dem Einsatz besserer Technik, wie sie ab den 1950er Jahren mit dem Tonband gegeben war, das Problem der Eignung von volkskundlichen Tonaufnahmen für den Rundfunk bestehen. Dies wird an den Arbeiten Johannes Künzigs besonders deutlich. Künzig produzierte ab 1949 zahlreiche Beiträge für den Süddeutschen Rundfunk, meist für die Sendung Südwestdeutsche Heimatpost, was ihm ein Freund beim SDR, Wilhelm Kutter, vermittelt hatte.20 (Einen seiner ersten Radiobeiträge widmete Künzig seinem Lehrer John Meier zu dessen 85. Geburtstag.) Mit dem Wachsen des Instituts21 begann Künzig in den 1960er Jahren mit der Produktion einer eigenen Schallplattenserie, die sich als Quellenedition verstand. Unabhängig vom Radio konnte die Volkskunde so ihre Vorstellungen authentischer Volksüberlieferung verwirklichen. ♫ Hörbeispiel volkskundlicher Tonbandaufnahmen (Künzig/Werner 1967), https://doi.org/10.5167/uzh-156844 (Ausschnitt, 0’26).22
20 Archiv des Instituts für Volkskunde der Deutschen des östlichen Europa (vormals Johannes-Künzig-Institut für ostdeutsche Volkskunde), Korrespondenzordner Radio – Süddeutscher Rundfunk Stuttgart. 21 Künzigs 1950 gegründete Zentralstelle für Volkskunde der Heimatvertriebenen wurde durch die Radiosendungen bekannter, sie erhielt ab 1953 Fördermittel vom Bund und wurde 1964 vom Land Baden-Württemberg übernommen und dauerhaft finanziert. Künzig benannte seine private Forschungs- und Beratungsstelle nun in Zentralstelle für Volkskunde der Heimatvertriebenen um und stellte sie gleich im Radio vor, «Ein Besuch bei der Zentralstelle für Volkskunde der Heimatvertriebenen» (vgl. Anm. 13). Künzig war ein Schüler von John Meier (ebenso wie Alfred Quellmalz, der im Auftrag des SS-Ahnenerbes eine berühmt gewordene Sammlung mit Südtiroler Volksmusik anfertigte, vgl. Nußbaumer 2008). Auch Künzig war in die NS-Volkskunde verstrickt und wurde nach dem Krieg in den Ruhestand versetzt. Er arbeitete dann für die Caritas vor allem mit deutschen Flüchtlingen aus dem östlichen Europa, die nach Kriegsende nach Deutschland umgesiedelt waren. Hilfe und Volkskunde gingen Hand in Hand, und der Volkskundler fand ein reiches Betätigungsfeld und eine identitätspolitische Mission: «Der Einheimische, in dessen Lebenskreis der Ostdeutsche eingewiesen wurde, wird bei zunehmender Erkenntnis von dessen Eigenart ihn achten und schätzen lernen und ihn dadurch in seiner Lebenslinie stützen. Umgekehrt kann der aufgeschlossene Einheimische von dieser menschlichen Begegnung großen Gewinn haben.» (Künzig 1953: 39); vgl. zu Künzig und seinem Forschungsinstitut genauer Mezger (2005). 22 Wir sind drei Herrn mit unserm Stern, gesungen von Nestl Petsche, undat. Aufnahme.
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Die «authentischen Tonaufnahmen», wie es auf den Plattencovern der Reihe Quellen deutscher Volkskunde heißt, klingen, bis auf die verbesserte Aufnahmequalität, noch wie die Arbeiten In der Gands. Aufnahmen dieser Art waren für das Radio jedoch aus den genannten Gründen wenig brauchbar. Allgemein ließ sich im Radio «eine authentische Tonaufnahme […] schlecht verwenden» (Kutter 1953: 46). ‹Authentisch› bekam schließlich beim Radio eine neue Konnotation und bedeutete, dass «die Gesangsstimmen nicht gut oder unrein klingen, oder wenn die Instrumente schlecht stimmen oder in den Harmonien falsche Töne blasen» (ebd.). Solche Aufnahmen könnten allenfalls für «ländliche Hörbilder» verwendet werden, in denen «die echte Atmosphäre des Dorfes entstehen soll […], nicht zuletzt, weil eben diese kleinen Unebenheiten die echte Atmosphäre mitschaffen helfen» (ebd.). Im Ergebnis arbeitete man beim Radio daher oft mit professionellen Musikern und Musikerinnen zusammen, während die Volkskunde mit den neu verfügbaren technischen Möglichkeiten nun vom Radio unabhängig ihre Ziele weiterverfolgen konnte.
N EUE T ECHNIK , NEUE N ETZWERKE – ZUM E NABLING -P OTENZIAL DES T ONBANDES FÜR V OLKSKUNDE UND R ADIO Das weiterhin bestehende Authentizitätsideal der Radio-Volkskunde der 1960er Jahre wirkt im Vergleich zum Radioschaffen geradezu aus der Zeit gefallen; in ihrer Suche nach dem «Echten» folge sie einem «konservative[n], illiberale[n] Impuls», der das «Naturwüchsige» misstrauisch dem «Gemachten» entgegensetzt (Carl Dahlhaus 1967, zit. nach Moser 1989: 68). Die letzte der acht Arbeitstagungen fand 1963 bei Radio Bern auf Einladung des Landessenders Beromünster statt. Hier wurde nochmal das Sammeln und Wiederbeleben als gemeinsame Aufgabe beschworen, als sich schon das Auseinanderdriften von Volkskunde und Radio abzeichnete. Geplante Folgetagungen verliefen aus inhaltlichen und persönlich-organisatorischen Gründen im Sande (vgl. Glaser 1997: 120–124; Bürkert 2013: 473ff.). Der Konflikt über Authentizität und Sendefähigkeit von volkskundlichen Aufnahmen mag eine Rolle gespielt haben, denn obgleich sich in der Praxis immer wieder Kompromisse gefunden hatten, konnte der Widerspruch zwischen ‹Laien›-Musikern und den Ansprüchen des Radios nicht gelöst werden. Noch entscheidender für das Diminuendo in der Zusammenarbeit war, dass die Hauptorganisatoren der Veranstaltungen, Dahmen, Dölker und ihr Netzwerk, innerhalb des sich abzeichnenden Generationswechsels im Fach Volkskunde
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weniger anschlussfähig waren. Wissensgeschichtlich betrachtet, stand die Zuwendung zum vergangenen «Volkstum» in einem gewissen Gegensatz zur Gegenwartsorientierung der Volkskunde in den 1960er Jahren, und auch die internationale Ausrichtung, die sich in der aufkommenden Fachbezeichnung Europäische Ethnologie zeigte, fehlte. So mündeten die Volkskunde- und RadioArbeitstagungen nach der Neuaufstellung des Volkskundeverbandes als Deutsche Gesellschaft für Volkskunde auch nicht in einen offiziellen Status als Kommission. Beim Radio zeichnete sich andererseits ab, dass der große Boom der Volks- und Unterhaltungsmusik mit dem Aufkommen von Beat und Pop vorbei war. Das ‹Fade-out› des institutionalisierten Wissensaustauschs zwischen Volkskunde und Rundfunk kann, entgegengesetzt dieser Lesart, auch als Erfolgsgeschichte gesehen werden, wie abschließend dargestellt werden soll. Zieht man den technischen Wandel und sein Enabling-Potenzial (vgl. Schönberger 2007) in Betracht, der insbesondere mit dem Aufkommen des Tonbands neue Formen der Zusammenarbeit ermöglichte, zeigt sich das Bild einer Volkskunde, die eigenständiger und selbstverständlicher als zuvor Klänge in ihre Methoden einbezog und ein Radio, das die individuelle redaktionelle Zusammenarbeit mit der Volkskunde weiterhin pflegte. Johannes Künzig etwa arbeitete weiterhin für den Rundfunk, und auch andere Volkskundler_innen erlangten eine gewisse mediale Präsenz, etwa Arnold Niederer in der Schweiz oder Hermann Bausinger in Tübingen, der regelmäßig Beiträge für die Presse schrieb. Zum Teil entstanden auch andere Foren des wissenschaftlichen Austauschs, wie etwa der Studienkreis Rundfunk und Geschichte, der 1969 gegründet wurde. Die neue Aufnahmetechnik des Tonbandes begünstigte diese Prozesse wesentlich. Zwar hatte die Volkskunde bis in die 1960er Jahre die Technik lange aus ihren Erkenntnisinteressen ausgeschlossen und sich als ‹Rettungswissenschaft› vor allem auf die ländlich-bäuerliche Kultur beschränkt. Doch wurde in der Nachkriegszeit zum einen die Technisierung der Alltagswelt unübersehbar und spiegelte sich in Titeln wie Volkskultur in der technischen Welt (Bausinger 1961) wider. Zum anderen bediente sich die Volkskunde seit ihren Anfängen paradoxerweise stets der modernsten Technik, etwa des Phonographen, der Fotografie und moderner Archivierungs- und Ordnungstechniken, um die (in ihren Augen von der Technik bedrohte) Kultur zu dokumentieren und zu erforschen. Kaum wurde die Tonbandtechnik verfügbar, begannen Volkskundler_innen sie für Interviews und volksmusikalische Quellenerhebungen zu nutzen. So erwähnt etwa Künzig bereits 1952 in einer Nachricht an Dahmen seine Sammlung von 60 Tonbändern mit volkskundlichem Material seiner Zentralstelle und ersuchte Dahmen, ihn bei der Planung der ersten Arbeitstagung in Stuttgart im
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Programm zu berücksichtigen.23 Wie auch Künzigs ab 1958 (und systematisch ab 1967) herausgegebene LP-Quellenedition24 zeigt, brauchte die Volkskunde das Radio immer weniger für ihre Dokumentationsbemühungen. Erstmals war es möglich, mit der Tonband-Infrastruktur Projekte in Eigenregie durchzuführen, was gleichzeitig bedeutete, dass bei der Herausgabe der Lieder und Märchen als ‹authentische Tonaufnahmen› weniger Kompromisse eingegangen werden mussten. (Dass ‹wissenschaftlicher› unter Unterhaltungsgesichtspunkten auch ‹weniger unterhaltsam› hieß, steht auf einem anderen Blatt.) Generell erfahren die ethnografischen Sammlungen im deutschsprachigen Raum, aber auch international, in den 1960er Jahren einen Aufbau- und Modernisierungsschub. Erst mit dem Tonband konnten sich die Archive praktisch überhaupt von Papier- zu Liedarchiven mit klingenden Beständen wandeln: Das Deutsche Volksliedarchiv in Freiburg etwa machte sich «die Entwicklung der modernen Tonbandtechnik zunutze und begann mit dem Aufbau einer besonderen Tonabteilung zur Archivierung volkskundlicher Tonaufnahmen» (Brednich 1964: 317) – zum 50-jährigen Bestehen (1964) meldet man stolz 4189 Walzen, Platten und Tonbänder (ebd.: 312).25 Wie das Tonband allein durch seine technischen Ermöglichungspotenziale Schwung in den wissenschaftlichen Austausch brachte, zeigt ein Blick auf die andere Seite des Atlantiks, wo ein regelrechtes «Vagabundieren» (Müller/Müske 2013) von ethnografischen Klangarchivalien einsetzte. So hatte die Columbia University 1948 George Herzogs Archives of Folk and Primitive Music als «indefinite loan» an die Indiana University gegeben, nachdem Herzog von New York nach Bloomington gewechselt war. In den
23 Schreiben Künzigs an Dahmen, 12.12.1952, in dem Künzig sich selbst für die geplante erste Arbeitstagung vorschlägt (IVDE-Archiv, Korrespondenzakten Rundfunk). 24 1958: «Tonbildbuch» Ehe sie verklingen … Alte deutsche Volksweisen vom Böhmerwald bis zur Wolga; 1967ff.: Quellen deutscher Volkskunde, hg. zusammen mit Waltraud Werner. 25 1914 gegründet, wurde das Liedgut im DVA zunächst rein schriftlich oder in «Lichtbildwiedergabe» (Fotografie, z.B. von fliegenden Blättern) gesammelt; es bestanden sicher auch früh Pläne zu phonographischen Aufnahmen; allerdings finden sich erst im Jahresbericht 1927 Hinweise darauf, dass diese Pläne beginnen, sich einer, «wenn auch zunächst bescheidenen, Verwirklichung zu nähern» (Meier 1927: 17). Es bestand zwar ab 1917 eine musikwissenschaftliche Abteilung des Volksliedarchivs in Berlin unter der Leitung von Max Friedlaender, die räumliche Entfernung hatte sich aber als «unpraktisch und falsch» erwiesen (Matter 2005: 40); die Trennung dieser Abteilung wurde institutionell mit der Ablösung vom Volksliedarchiv und Eingliederung ins Staatliche Institut für deutsche Musikforschung (1935) nachvollzogen.
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1960er Jahren, als man an der Columbia ein Center for Studies in Ethnomusicology aufbaute, erinnerte man sich des Archivs und fertigte Tonbandkopien von den Walzenaufnahmen für Lehre und Forschung an (was in der Folge auf Grund von Copyright-Implikationen nicht nur aufwändige Vertragsverhandlungen, sondern auch noch einen immensen zweimaligen Verwaltungsaufwand erforderte, da die Einwilligungen von zirka einhundert Personen eingeholt werden mussten – erst für die Transferierung des Archivs von der Columbia an die IU Bloomington, dann für den ‹Rückweg›, d.h. die Anfertigung von Kopien).26 Das Tonband begünstigte nicht nur die wissenschaftliche Arbeit, sondern auch den Austausch zwischen Volkskunde und Radio und die volkskundliche Arbeit beim Radio. Berühmtestes Beispiel sind vermutlich John und Alan Lomax, Vater und Sohn, die mit ihren Feldaufnahmen regelmäßig zahllose Radiosendungen produzierten und ethnografisches Material zur Musik der Welt herausgaben.27 Auch im deutschsprachigen Raum fand der Austausch mit dem Rundfunk nicht mehr in den institutionalisierten Tagungen statt, sondern vermehrt in individuellen Netzwerken. Johannes Künzig etwa arbeitete weiterhin mit dem Rundfunk zusammen. Für die Radiosendungen brauchte es nun aber keine aufwändige Technik (Techniker, Übertragungswagen) mehr, sondern es konnten direkt die mit Tonband aufgenommenen Feldaufnahmen der Volkskundler für die Radioproduktionen verwendet werden. Wie die Korrespondenz belegt, fuhr dafür ein Redaktionsmitarbeiter «mit kleinem Aufnahmegerät» ins Archiv von Künzig, um die gewünschten Aufnahmen für den Rundfunkgebrauch zu kopieren, was die Produktion stark vereinfachte.28
26 Siehe die Korrespondenz zwischen Frank Gillis, Archives of Traditional Music (Indiana University, Bloomington, IN), George List, Archives of Traditional Music), Willard Rhodes, Department of Music (Columbia University, New York, NY) und weiteren involvierten Personen 1964–1967 (ATM, Dossier Columbia University, folder 2, 1965–) 27 Vgl. z.B. die Webseite von Alan Lomaxʼ Association for Cultural Equity, http://www. culturalequity.org/, 31.3.2018. 28 Kleinere Verwerfungen blieben allerdings nicht aus; offenbar tat man sich beim Radio schon früher schwer mit Belegkopien, wie eine Reklamation Künzigs, adressiert an den SDR, belegt: «Sehr geehrter Herr Programmdirektor! Am Ostersonntag wurde von mir eine Sendung […] vom Südd. Rundfunk übertragen […]. Alle Rechte der Sendung liegen bei mir, da es sich ausnahmslos um eigene Tonaufnahmen handelt.» Künzig, Schreiben an Dr. Kehm, 28.7.1960, IVDE-Archiv, Korrespondenzakten Rundfunk.
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Ein weiteres Beispiel für die Auswirkungen des Tonbandes auf die Volkmusikarbeit beim Radio wurde bereits mit der Sammlung Dür beim Schweizerischen Kurzwellendienst angesprochen. Die Besonderheit der Sammlung ist, dass sie überhaupt erst durch das Tonband ermöglicht wurde: Fritz Dür, Musikwissenschaftler und Leiter der Sonothek beim Kurzwellendienst (KWD), stellte für das Schweizerische Auslandsradio von 1957 bis 1967 eine Sammlung mit Schweizer Musik zusammen, um sie für das Programm nutzen zu können. Die zirka 7600 Magnettonbänder (1/4 Zoll) wurden vom Kurzwellendienst aus allen Teilen des Schweizer Radios kopiert und im Archiv zusammengetragen, da der KWD den Anspruch hatte, die gesamte Schweiz im Ausland zu repräsentieren. Die Zusammenarbeit zwischen Musikern, Radio und Archiven basierte auf der neuen Technik, die seit den 1950er Jahren vom Studio Basel ausgehend im ganzen Rundfunk eingeführt wurde: Mit dem Tonband und moderner Mikrofonierung ließen sich nicht nur hervorragende Aufnahmen anfertigen, sondern auch noch praktisch verlustfrei kopieren. So konnten Aufnahmen aus allen Radiostudios der Schweiz, die mit regionalen Volksmusikern im Studio, aber auch anlässlich von Volksmusikveranstaltungen, in Stubeten (Live-Musik in Gasthäusern) oder mit den Radioorchestern angefertigt worden waren, kopiert und weitergenutzt werden. Bei der Sammlungsarbeit waren akademische Volkskundler_innen zwar nicht direkt involviert, allerdings kann davon ausgegangen werden, dass die Diskussionen um Volkskunde und Rundfunk auch in der Schweiz bekannt waren, da die Teilnehmerverzeichnisse der Tagungen Schweizer Radioleute aufführen. Zudem veranstaltete Studio Bern, aus dem substantielle Teile der KWDSammlung stammen, selbst die letzte der Arbeitstagungen (vgl. Müller et al. 1963), muss daher das Programm der Arbeitsgruppe seit Jahren verfolgt haben. Heute wird der Sammlung ein großer Wert als kulturelles Erbe (klingendes Helveticum) zugeschrieben; viele Stücke wurden in den Originalarchiven gelöscht und sind nur noch in der Sammlung Dür vorhanden, sodass die Kopien zu Originalen avanciert sind, die das Musikschaffen des Radios in einer Epoche widerspiegeln, in der das Radio das führende Unterhaltungsmedium war (Müske 2016; Forschungsgruppe Broadcasting Swissness 2016). Die Kritik, die in kulturgeschichtlichen Untersuchungen im Umfeld von Sound Studies oder Anthropology of the Senses immer wieder vorgebracht wird, dass die Geistes- und Kulturwissenschaften akustisch-sinnliche Momente der Alltagswelt aus ihren Betrachtungen lange ausgeschlossen haben,29 muss – zu-
29 Vgl. stellvertretend für die Breite der Literatur z.B. Bendix (2005), Classen (1997) und auch Johannes Fabians Kritik am Herausfiltern der Felderfahrungen in der Ethnografie: «[T]hese recommendations not only exaggerate (the visual), they omit dimen-
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mindest für die frühe Phase ethnografischen Forschens bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts – kritisch hinterfragt werden. Denn betrachtet man Praxis und forschungstheoretischen Zugang der damaligen Volkskunde, mit denen die Dokumentation und Reaktivierung der oralen Überlieferung von Narrativen und Melodien erforscht wurden, so kann von Sinnesarmut keine Rede mehr sein.30 Sammlungsprojekte, bei denen der Phonograph und später das Tonband zum Einsatz kamen, gab es in der deutschsprachigen Volkskunde und in vielen weiteren Ländern, in denen um 1900 Phonogramm- oder Lautarchive gegründet wurden.31 Der Einsatz modernster Aufzeichnungstechnik wurde von den ethnografischen Wissenschaften paradoxerweise, anders als die moderne Zivilisation, nicht kritisch beäugt, sondern als ‹Authentisierungsmittel› begrüßt. Erst die Tonaufnahme im Archiv bürgt für die Echtheit der überlieferten Volkskultur. Mit Hilfe von Tonband und Radio wurden Ideen von ‹authentischer› Volkskultur breit vermittelt. Bei allen Unterschieden in den Zielen der volkskundlichen Einrichtungen und der Rundfunkanstalten gab es gewisse gemeinsame inhaltliche Suchbewegungen, die in den Tagungen des Arbeitskreises Volkskunde und Rundfunk ihren Ausdruck fanden: Dem Radio bot sich mit volkskundlichen Themen ein geeignetes Feld, den Unterhaltungs- und Bildungsanspruch umzusetzen (und dabei noch regionale Schwerpunkte zu setzen), gleichzeitig konnte die Volkskunde an
sions of experience. No provision seems to be made for the beat of drums or the blaring of bar music that keep you awake at night; none for the strange taste and texture of food, or the smells and the stench. […] Often all this is written off as the ‹human side› of our scientific activity. Method is expected to yield objective knowledge by filtering out experiential ‹noise› thought to impinge on the quality of information. But what makes a (reported) sight more objective than a (reported) sound, smell, or taste?» Fabian (1983: 108). 30 Später, vor allem ab den 1950er Jahren, wurde auch Kritik an der Ethnomusikologie/ Musikanthropologie als armchair anthropology geübt: Tonaufnahmen seien «dekontextualisierte» und unlebendige «Dinge», deren Nutzung methodisch fragwürdig sei. Archivierte Aufzeichnungen anderer Wissenschaftler_innen seien als Forschungsdaten generell weniger geeignet als eigene Feldforschungserfahrungen und -aufzeichnungen, vgl. Sewald (2005: 4–12). 31 Zum Beispiel: 1899 Phonogrammarchiv der Akademie der Wissenschaften in Wien, 1900 Berliner Phonogrammarchiv und Musée Phonétique de la Société d’Anthropologie, 1909 Phonogrammarchiv der Universität Zürich, 1911/26 Phonogrammarchiv der Russischen Akademie der Wissenschaften, St. Petersburg.
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klassische Themen des Fachkanons anknüpfen und dabei Modernität im Umgang mit aktuellen Problemen, etwa der Integration der Vertriebenen, signalisieren. Auch heute begreift sich die Volkskunde als Alltagswissenschaft, die die Gegenwart aus der Historie erklärt, und auch die Vermittlungsaktivitäten sind sich verblüffend ähnlich: Online-Inventare wie die «Lebendigen Traditionen» oder das Immaterielle Weltkulturerbe, erste Versuche, die digitalen Daten mit neuen Methoden analysierbar (oder überhaupt erstmal recherchierbar) zu machen, stoßen unter dem Schlagwort Digital humanities auf großes Interesse. Es ist verblüffend, wie sehr die heutige Zusammenarbeit in neuen Netzwerken in einer gewandelten Medienlandschaft der damaligen Situation gleicht – Beiträge zu Radio- und Fernsehsendungen, Zeitschriftenbeiträge, aber auch Blogs und immer wieder gemeinsam organisierte Veranstaltungen zusammen mit dem jeweiligen ‹Feld› bleiben weiterhin Praktiken volkskundlich-kulturwissenschaftlicher Arbeit. Es stimmt hoffnungsvoll, dass trotz des stetigen Wandels die kulturwissenschaftliche Forschung weiterhin ihre Publika findet.
Q UELLEN UND L ITERATUR Interviews Gruppeninterview: Gespräch mit Volksmusiker_innen zum Thema Volksmusik in den 1950er und -60er Jahren, mit: Hans Aregger, Jonny (Ernst) Gisler, Fini Heinzer, Dolfi (Adolf) Rogenmoser, René Wicki (Workshop des Projekts Broadcasting Swissness, 20. Oktober 2014, Haus der Volksmusik, Altdorf (UR). Gruppeninterview: Gespräch mit Tontechnikern des Bayerischen Rundfunks zum Thema Produktionspraxis von Volksmusiksendungen, Schwerpunkt 1960er–1980er Jahre, mit: Günther Hess, Klaus-Jürgen Krause, Hans Scheck, 23. August 2017, München.
Archivquellen Archives of Traditional Music (ATM), Indiana University, Bloomington: - Correspondence files, Archive of Folk and Primitive Music/George Herzog Collection (Columbia University, folder 2, 1965–). Archiv des Instituts für Volkskunde der Deutschen des östlichen Europa (IVDE), Freiburg:
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- Korrespondenzakten, Rundfunk (Süddeutscher Rundfunk Stuttgart, SWR Media GmbH). - Tagungsdokumentationen (Typoskripte) der Arbeitstagungen Volkskunde und Rundfunk der Jahre 1953 (1. Arbeitstagung, Stuttgart), 1954 (2. Arbeitstagung, Klagenfurt), 1955 (3. Arbeitstagung, Bremen), 1956 (4. Arbeitstagung, Nürnberg), 1961 (7. Arbeitstagung, Kötzting), 1963 (8. Arbeitstagung, Bern, auch online vorhanden, siehe Literaturverzeichnis). - Zitierte Autoren: Dahmen, Hermann Josef (1953): Volkskundeforschung und -pflege im Rundfunk. In: Süddeutscher Rundfunk/Verband der Vereine für Volkskunde, Hg.: Volkskunde und Rundfunk (Arbeitstagung, 30.1.– 1.2.1953, Stuttgart). Stuttgart: Eigenverlag/Typoskript, 26–33. - Künzig, Johannes (1953): Die Stimme der Ostvertriebenen. Ebd., 38–41. - Kutter, Wilhelm (1953): Die praktische Volkstumsarbeit im Rundfunk. (Mit Berichten und Bandbeispielen aus der Volkskundearbeit beim Süddeutschen Rundfunk). Ebd., 43–49. - Radiosendungen in den Anmerkungen nachgewiesen. Schweizer Volksliedarchiv, Basel: - Nachlass Hans In der Gand. SRG SSR (Schweizer Radio- und Fernsehgesellschaft), Generalarchiv der SRG, Bern: - Bestand Schweizer Kurzwellendienst/Schweizer Radio International. Sammlung Dür (Sammlung Schweizer Musik, Kurzwellendienst) - Karteikarten: SRF-Archiv, Bern (ehem. Radio Bern) - Tonträger: Schweizer Nationalphonothek, Bern/Lugano Zentrum für Populäre Kultur und Musik (ZPKM), Freiburg (ehemals Deutsches Volksliedarchiv): - Sammlung zur Geschichte des Deutschen Volksliedarchivs – Berichte zu deutschen Volksliedsammlungen - Zitierter Bericht: Meier, John (1927): Fünfter Bericht über die Sammlung deutscher Volkslieder, April 1926 bis April 1927, erstattet vom Volksliedausschuß des Verbandes deutscher Vereine für Volkskunde. Freiburg i.Br.
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Radio, Bildung und Kulturaustausch
«Ganz Maler im deutschen Sinn war und bleibt nur er» Das Dürer-Jubiläum 1928 – Radiokunstvermittlung zwischen Bildungsreligion und Identitätspolitik A NDREAS Z EISING
I. Darüber, ob die neue Erfindung Rundfunk die technischen Voraussetzungen bot, um bildende Kunst in angemessener Form zu vermitteln, wurde in den zwanziger Jahren ausgiebig und kontrovers debattiert.1 Dies soll jedoch hier nicht das Thema sein, denn es geht weniger um das Wie als vielmehr um das Was der Vermittlung. Dass bildende Kunst in den Rundfunkprogrammen ihren ausgewiesenen Platz habe, wurde zur Zeit der Weimarer Republik von keinem der Verantwortlichen in den Ministerien, Sendergesellschaften und Kulturbeiräten bezweifelt. Gemäß herrschender Auffassung war bildende Kunst ein zentraler Baustein jenes bürgerlichen Volksbildungskonzepts, das die Rundfunkpolitik der Weimarer Republik prägte. Anknüpfend an die idealistische Ästhetik, verstand man Kunst als identitätsstiftendes Vehikel, das vermittels einer «Veredelung» der Persönlichkeit wahre «Volk-Bildung» im Sinne des neuen republikanischen Gemeinschafts-
1
Der vorliegende Text beruht auf meinen inzwischen als Buch publizierten Forschungen zur Vermittlung bildender Kunst im frühen Rundfunk, vgl. Zeising (2018). Alle nachfolgenden Einzelnachweise zu Sendebeiträgen beruhen auf den Angaben in der zeitgenössischen Programmpresse.
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gedankens herbeiführen sollte, was man angesichts der wachsenden Klassengegensätze und des zunehmenden Stadt-Land-Gefälles als dringende Notwendigkeit erachtete. Nach der glanzlosen militärischen Niederlage und der ‹Schmach› von Versailles, galt es zudem, im Spiegel der Kulturnation und ihrer inneren Werte wieder zu sich selbst zu finden. Im autoritativ gelenkten Rundfunk, dem Medium ‹für alle›, fanden Bildungsutopie und Identitätspolitik zusammen. Exemplarisch lässt sich diese Verquickung politischer Zielsetzungen und kultureller Inhalte am Dürer-Jubiläum des Jahres 1928 aufzeigen, das im Rundfunkmedium in beispielloser Weise zelebriert wurde.
Abb. 1: Logo zum Nürnberger Dürerjahr 1928 nach einem Entwurf von Max Körner.
Vergleichbar ist die Fülle der Ehrungen nur mit dem Goethe-Jubiläumsjahr 1932, das in ähnlichem Umfang im Hörfunk Beachtung fand.2 Selbstredend war in beiden Fällen die geradezu kultische Überhöhung weder neu noch auf den Rundfunk beschränkt.3 Doch erwies sich das Radio – so die These – als symbolisches Medium der Teilhabe, das es vermochte, die Begeisterung bis in die Provinz hineinzutragen und alle Bevölkerungsschichten in unterschiedsloser Weise zu adressieren – mithin eine Verbindung zwischen den Trägern und Verwaltern von Kultur und Bildung und dem ‹Volk› herzustellen.
2
Zum kulturpolitisch organisierten Goethe-Hype des Jahres 1932, auch in den Medien, vgl. Welzbacher (2009: 220–228). Die Funk-Stunde etwa sendete 1932 eine ausgreifende Reihe zum Goethe-Jahr. Auch in den vorangegangenen Jahren war der Weimarer Dichter immer wieder in den Hörfunkprogrammen thematisiert worden. Exemplarisch sei lediglich der wochenlange Goethe-Zyklus der Wiener Ravag genannt. Dazu: [O. Verf.] (1926): Goethe. Ein Zyklus von Vorträgen der Radio-Volkshochschule. In: Radio Wien 2 (22), 877.
3
Vgl. Ausst.-Kat. Nürnberger Dürerfeiern 1828‒1928 (1971: insb. 117‒138).
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II. Als nationale Identifikationsfigur galt Dürer spätestens, seit Wilhelm Heinrich Wackenroder ihm 1796 mit seinen frühromantischen Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders ein literarisches Denkmal gesetzt und ihn neben den göttlichen Raffael platziert hatte.4 Altdeutsch, fromm und volkstümlich – das waren seither die Werte, die man mit Dürer in Verbindung brachte. Schon im Jahr seines dreihundertsten Todestages, 1828, trieb der Kult bizarre Blüten, oszillierend zwischen kommerzieller Vermarktung und kultischer Verehrung. 5 Höhepunkt war die Grundsteinlegung zum Nürnberger Dürerdenkmal, das vermutlich erste öffentliche Denkmal für einen bildenden Künstler überhaupt (vgl. Mende (1972).
Abb. 2: Christian Daniel Rauch: Albrecht Dürer-Denkmal, Nürnberg, 1828–1840, Aufnahme aus dem Jahr 1928.
4 5
Dazu jetzt auch Tiemann/Hübner (2015). Zur Dürer-Verehrung siehe Schmidt (2000); mit einigen sachlichen Fehlern Campbell Hutchinson (1977); Dürers Gloria. Kunst – Kult – Konsum. Ausst.-Kat. Kunstbibliothek der Staatlichen Museen Berlin, 1971; Nürnberger Dürerfeiern 1828–1928, Ausst.Kat. Museen der Stadt Nürnberg im Dürerhaus, Nürnberg 1971.
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Die Verehrung hatte ihren Wallfahrtsort, von dem sie in der Folge reichlich Gebrauch machte. Die Fertigstellung des Denkmals im Jahr 1840 markiert zugleich einen Wandel von der romantischen Schwärmerei zur historisierenden Vergegenwärtigung, die mit der Konsolidierung der akademischen Kunstgeschichte und damit einer zunehmenden wissenschaftlichen Dürerforschung einherging. Der Gründerzeit war Dürer kein nazarenisches Traumbild mehr, sondern eine Figur der deutschen Geschichte, welche man sich freilich gern in phantasievollen Farben ausmalte. Wahrhaften Auftrieb erhielt die Dürer-Verehrung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Nach der vom militärischen Sieg über den «Erbfeind» Frankreich beflügelten, jedoch unter politischen Vorzeichen vollzogenen Reichsgründung richteten sich die erstarkenden Nationalgefühle auf kulturelle Ewigkeitswerte, die nationale Kontinuität auch über Zeitgrenzen hinweg zu dokumentieren schienen. Die Devise «Ehrt Eure deutschen Meister» hatte Richard Wagner bereits 1868 seinem Meistersinger Hans Sachs in den Mund gelegt. Es war die Zeit der Entdeckung einer «Deutschen Renaissance», die man als Zeitalter von Reichsglanz und Bürgermacht interpretierte, welche so recht zum neuen Selbstverständnis zu passen schien. Dass sich im Jahr der Reichsgründung, 1871, der Geburtstag Dürers zum vierhundertsten Mal jährte, schien eine sinnhafte Fügung. In eine problematische Richtung entwickelte sich die Dürer-Bewunderung dann in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Sprechenden Ausdruck fand sie im reformkonservativen Dürerbund, den der Verleger Ferdinand Avenarius 1902 ins Leben rief, und der sich mit seiner Zeitschrift Der Kunstwart zum einflussreichen Anwalt nationaler Erneuerung machte (Kratzsch 1969, 2001; Bruch 1998). Kennzeichnend war die Grundüberzeugung einer allgemeinen Krise der nationalen Kulturentwicklung, für die der wissenschaftsgläubige, zweckorientierte und materialistische Charakter der Epoche verantwortlich gemacht wurde. Abhilfe versprach nach dem Willen des Dürerbunds eine erneuerte ästhetische Gefühlskultur, für die der Name Dürer emblematisch stand, wie die Abhandlung Dürer als Führer eindringlich zeigt, die zuerst 1904 im Kunstwart erschien (Langbehn/Nissen 1928). Dürer wurde hier als Gegenbild zu den ‹Krankheitserscheinungen› der Moderne stilisiert, als Beschützer deutscher Seele, ja als Wahrer einer «sittliche[n] Vogesengrenze», wie es wörtlich hieß (ebd.: 14).
III. Angesichts der abstrusen Vorgeschichte der Dürerverehrung in der Zeit des wilhelminischen Kaiserreichs konnte sich der Umgang mit dem Nürnberger Maler
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zur Zeit der Weimarer Republik nur widerspruchsvoll gestalten. Weiterhin hielten konservative Kräfte die Ideologie vom ‹deutschem› Genius hoch: «Dürer als Führer» erlebte 1928 eine Ausgabe in Buchform. Dass der Nürnberger Künstler nunmehr auch als Heilsbringer des vermeintlich entwürdigten Deutschlands gehandelt wurde, zeigt nicht nur die Tatsache, dass Hermann Kosel seine Dürer-Romantrilogie von 1923/34 plakativ Albrecht Dürer. Ein deutscher Heiland betitelte (Kosel 1923/24). Längst versuchten auch rechtsnationale und völkische Kreise Dürer zu vereinnahmen. Schon 1927 hielt die NSDAP erstmals ihren Reichsparteitag in Nürnberg ab, das als Dürer- und Meistersingerstadt dafür die willkommene Kulisse abgab (Schmidt 2013). Jenseits solcher Übertreibungen und ideologischer Vereinnahmungen galt Dürer auch bürgerlichen Kreisen längst als unbestrittener Klassiker und nationale Größe, der allenfalls Goethe und Beethoven das Wasser zu reichen vermochten. 6 Das populäre Interesse an Dürer war denn auch ungebrochen: Die im Jahr 1928 erschienene Fülle an Monografien und Bildmappen ist kaum zu überblicken (vgl. Mende 1971). Dürer war – anders gesagt – eine Integrationsfigur, die jenseits von Klassenschranken, gesellschaftlichen Interessenkonflikten und politischen Partikularbestrebungen Zuspruch erfuhr. Daher verwundert es nicht, dass auch die offizielle republikanische Kulturpolitik im Jubiläumsjahr ihren Zugang zu Dürer suchte. Sie fand ihren Ausdruck in den offiziellen Feierlichkeiten zu Ehren des Nürnberger Künstlers, die in bewusster Gratwanderung zwischen Bildungsreligion, Künstlerverehrung und Identitätspolitik pendelten. Dem Rundfunk als Vermittler fiel dabei eine tragende Rolle zu. Heute undenkbare Formen nahm die Programmgestaltung am 6. April 1928, dem vierhundertsten Todestag Dürers an. Schon im Vorfeld machten die Programmzeitschriften die Hörer auf das kulturelle Ereignis des Jahres aufmerksam (vgl. Behne 1928).7 Zu allem Überfluss fiel der Gedenktag auf einen Karfreitag. Nur beim Bayerischen Rundfunk herrschte an diesem hohen kirchlichen Feiertag komplette Funkstille. Auf allen anderen Sendern mischten sich Besinnlichkeit des Festtagsprogramms und feierliche Künstlerandacht.
6
Typisch dafür ist etwa Karl Scheffler, der Dürer 1928 als «Symbol» eines deutschen Dualismus zwischen mystizierender Gotik und humanistischer Klassik bezeichnete. Vgl. ders.: Dürer als Symbol. In: Nürnberger Zeitung (NZ am Mittag), 11.4.1928.
7
Die besagte Ausgabe brachte außerdem Dürers «Tanzendes Bauernpaar» als Titelmotiv.
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Abb. 3a und 3b: Titel der Zeitschriften Der Rundfunkhörer und Der Deutsche Rundfunk zum Dürer-Jubiläum 1928.
Die Berliner Funk-Stunde übertrug am Vormittag zunächst die staatsoffizielle Dürer-Feier aus dem Plenarsaal des Reichstags, veranstaltet von der Gesellschaft für deutsches Schrifttum unter Ehrenvorsitz des Reichspräsidenten von Hindenburg (Abb. 4).8 An diesem symbolischen Ort war die Feier bildhafter Ausdruck für das Bemühen, politische Gegensätze mit Hilfe von Ästhetik und Geschichte zu überbrücken und das nationale Empfinden pseudoreligiös zu verbrämen. Nach Klopstocks Halleluja und dem Wach auf!-Choral aus Wagners Meistersingern las der nationalkonservative Dichter Wilhelm Schäfer aus dem Dürer-Kapitel seines mystifizierenden Erfolgsbuchs Die dreizehn Bücher der deutschen Seele (vgl. Schäfer 1922). Um 18.45 Uhr folgte beim nämlichen Sender eine Dürer-Gedenkrede, der Vortragende war der Dürer-Biograf Kurt Pfister.9 Auch alle anderen Sender hatten entsprechende Vorträge im Programm. Beim Südwestdeutschen Rundfunk in
8
Dürer-Feier. Veranstaltet von der Gesellschaft für deutsches Schrifttum e.V. Übertragung aus dem Plenar-Saal des Reichsstages, Funk-Stunde Berlin, 6.4.1928, ab 11.30 Uhr. Den Ablauf der Feier verzeichnet der Programmplan in: Funkstunde 14, 1928, 450.
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Kurt Pfister: Albrecht Dürer. Funk-Stunde Berlin, 6.4.1928, 18.45–19.30 Uhr.
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Frankfurt übernahm diese Aufgabe Oswald Götz, Assistent am Städelschen Kunstinstitut, beim Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart war es Hans Hildebrandt,
Abb. 4: Sendeplan der Berliner Funk-Stunde für den 6. April 1928.
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Professor an der dortigen Technischen Hochschule.10 Beim Mitteldeutschen Sender sprach der Leipziger Universitätsprofessor Johannes Jahn über Dürers Werk,11 bei der Norag Max Sauerlandt, der Direktor des Hamburger Museums für Kunst und Gewerbe.12 Auch die Sender Breslau und Danzig hatten entsprechende Würdigungen im Programm.13 Der westdeutsche Sender brachte gar die Übertragung einer Dürer-Gedenkfeier aus der westfälischen Arbeiterstadt Dortmund.14 Das war freilich nicht alles, steuerte Werag-Redakteur Fritz Worm in diesem Jahr doch auch noch eine geschlagene zwanzig Folgen umfassende Vortragsreihe über den Nürnberger Künstler bei, die der Sender sogar als Begleitbuch publizierte (Worm 1928b, Abb. 5).15 Selbstverständlich fanden auch außerhalb des eigentlichen Gedenktages die offiziellen Feierlichkeiten zu Ehren des Nürnberger Künstlers in den Programmen Berücksichtigung. So übertrug die Funk-Stunde bereits im März die Eröffnung der Dürer-Jubiläumsausstellung in der Berliner Akademie der Künste, der die versammelte Prominenz der preußischen Kulturpolitik beiwohnte.16 Über die Deutsche Welle fand sodann die Übertragung der offiziellen Dürer-Gedenkfeier vom 10. April aus dem Nürnberger Rathaussaal deutschlandweite Verbreitung. 17
10 Oswald Götz: Albrecht Dürer. SWR, 6.4.1928, 19.00–19.30 Uhr; Hans Hildebrandt: Albrecht Dürer (zum 400. Todestag). Sürag, 6.4.1928, 17.00–17.45 Uhr. 11 Johannes Jahn: Aus seinem Schaffen. Albrecht Dürer zu seinem 400. Todestage. Mirag, 6.4.1928, 18.00–18.30 Uhr. 12 Max Sauerlandt: Albrecht Dürer. Dem Gedächtnis seines 400. Todestages. Norag, 6.4.1928, 17.30–18.00 Uhr. 13 Margarete Steinberg: Zum 400. Todestag von Albrecht Dürer. Schlesische Funkstunde, 6.4.1928, 19.50–20.30 Uhr; Dr. Abramowski: Zu Albrecht Dürers Gedächtnis (zum 400. Todestag). Sender Danzig, 6.4.1928, 17.00–17.30 Uhr; Albrecht Dürer (zum 400. Todestage des deutschen Meisters). Ostmarkenrundfunk, 6.4.1928, 17.40–18.00 Uhr. 14 Übertragung aus dem Lichthof des Städtischen Kunst- und Gewerbemuseums: Albrecht-Dürer-Gedenkfeier anläßlich des 400jährigen Todestages. Werag, 6.4.1928, 11.30–12.30 Uhr. 15 Ein Teil der Texte wurde auch abgedruckt im Jahrbuch der Werag 1929. 16 Siehe die entsprechende Abbildung und den Hinweis in: Funk-Stunde 13, 1928. Die Ausstellung wurde am 10. März 1928 eröffnet. In den Programmplänen ist die Übertragung nicht vermerkt. 17 Albrecht Dürer. Gedenkfeier zum 400. Todestag. Übertragung aus dem großen Rathaussaal Nürnberg» Deutsche Welle und Deutsche Stunde in Bayern, 10.4.1928, 19.45– 21.10 Uhr.
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Abb. 5: Begleitheft der Werag-Bücherei zur Vortragsfolge von Fritz Worm über Albrecht Dürer, Köln 1928.
Umrahmt von geistlicher Musik hielt kein Geringerer als Heinrich Wölfflin den Festvortrag,18 der populärste Kunsthistoriker dieser Jahre, zugleich auf dem Feld der Dürer-Forschung eine weithin anerkannte Autorität. Im Anschluss an den offiziellen Festakt verfolgte die Deutsche Welle gegen 22 Uhr noch eine Huldigung der deutschen Künstlerschaft, die sich mit einem Fackelzug am Dürerdenkmal neben der Sebalduskirche eingefunden hatte, welches an diesem Abend von zwei Feuerschalen flankiert war. Dort fand der fränkische Heimatkünstler und DürerSchwärmer Rudolf Schiestl huldvolle Worte, die er mit dem Wagner-Zitat «Deutsch sein heißt: eine Sache ihrer selbst willen tun» beschloss.19
18 Es handelte sich dabei um die später auszugsweise abgedruckte Rede in Wölfflin (1941: 127‒129). 19 Bericht über die Veranstaltungen und den Verlauf des Dürerjahres Nürnberg 1928, hg. vom Stadtrat, Nürnberg (1928: 37). Schiestl war seit 1910 Professor für Grafik an der Nürnberger Kunstgewerbeschule. Hermann Nasse nannte ihn einen «Bruder und Enkelsohn» Dürers im Geiste, vgl. Nasse (1926: 25).
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Abb. 6a und 6b: Dürer-Feier im Nürnberger Rathaus am 10. April 1928; Rundfunkübertragung vom Festakt im Nürnberger Rathaus im Programm der Deutschen Stunde für Bayern und der Deutschen Welle, 10. April 1928.
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Abb. 7: Rudolf Schiestl: Sautreiber, Holzschnitt, 1922.
Besondere Relevanz verzeichnete das Dürer-Jubiläum des Jahres 1928 in den Sendeplänen des stets auf regionale Kultur bedachten Bayerischen Rundfunks, wo man die nunmehr auch offiziell gebrauchte Bezeichnung «Dürerjahr» gewissermaßen zum Jahresmotto machte. Schon im Januar 1928 brachte die Deutsche Stunde eine Übertragung der seit langem mit Dürer assoziierten Wagner-Oper Die Meistersinger aus dem Münchener Nationaltheater. Auch die Tatsache, dass der Münchener Kunstgeschichtsprofessor Hans Rose im Vorprogramm über Genius und Historie in der bildenden Kunst sprach,20 legt nahe, dass man die Sendung als Prolog zu dem anstehenden Jubiläum des berühmtesten Nürnberger Künstlers verstanden wissen wollte. Übers Jahr verteilt griff man das Thema dann beim Bayerischen Rundfunk kontinuierlich auf. In mehreren Folgen, die in Erwartung des Jubeltages im März 1928 ausgestrahlt wurden, widmete sich der schon erwähnte Hans Rose populären Dürerbildern und Dürerstichen.21 «Unverrückbar steht er im
20 Deutsche Stunde in Bayern, 28.1.1928, 17.15–17.50 Uhr. 21 Hans Rose: Zwei Dürerbilder. Deutsche Stunde in Bayern: 1.3.1928, 19.00–19.30 Uhr; 9.3.1928, 18.45–19.00 Uhr; 15.3.1928, 17.10–17.30 Uhr u. 30.3.1928, 17.40–18.30
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Mittelpunkt unserer Liebe», ließ die Bayerische Radio-Zeitung in ihrer Programmankündigung die Hörer wissen ([K.W.] 1928: 6), und unterstrich einmal mehr den «volkstümlichen» Zug des Nürnberger Meisters, der in Wesen und Charakter «ein deutsches Schicksal, ja beinahe das Schicksal Deutschlands» war: «[V]olkstümlich, allen vertraut, jedem Einzelnen, jedem Folgegeschlecht sich mitteilend, das in sich fassend, was der deutsche Mensch unter bildender Kunst versteht, von einem Bildner geschenkt erhalten will, was ihn erfreut, befriedigt, bewegt; ganz Maler im deutschen Sinn war und bleibt nur er, Albrecht Dürer.» (ebd. 6 u. 5)
Besonders rege Aktivität entfaltete im Dürerjahr aus naheliegenden Gründen der Sender Nürnberg. In der gesteigerten Medienpräsenz kam dabei nicht zuletzt die damals wiederholt thematisierte Konkurrenz zwischen der übermächtigen RadioMetropole München und dem kleinen fränkischen Nebensender zum Ausdruck. Gerade im Dürerjahr konnte und wollte man in Franken den Rang als eigenständiges kulturelles Zentrum auch rundfunkpolitisch untermauern. Zu den zahlreichen Beiträgen, die aus Nürnberg beigesteuert wurden, gehörten Lesungen aus Dürers Briefen22 ebenso wie ein Vortrag über die seinerzeit populärste DürerZeichnung, nämlich das im Berliner Kupferstichkabinett aufbewahrte Porträt der Mutter, über das der Nürnberger Archivar Reinhold Schaffer sprach.23 Andere Sendungen trugen Titel wie «Albrecht Dürer an der Schwelle einer neuen Zeit»24
Uhr; ders.: Dürers Meisterstiche. Deutsche Stunde in Bayern, 22.3.1928, 19.40–20.00 Uhr. 22 Alexander Starke: Dürerbriefe. Deutsche Stunde in Bayern, 11.3.1928, 15.15–15.30 Uhr u. 24.4.1928, 17.35–18.15 Uhr. Drei Abbildungen dazu brachte die Bayerische Radio-Zeitung 11, 1928, 5. Starke war Schauspieler und als Dramaturg am Nürnberger Stadttheater tätig. 23 Reinhold Schaffer: Dürers Mutter. Ein Porträt. Deutsche Stunde in Bayern, 18.3.1928, 17.35–18.05 Uhr. Dazu: [O. Verf.:] Dürers Mutter. In: Bayerische Radio-Zeitung 12, (1928: 5) sowie eine Abbildung des Verfassers in: Bayerische Radio-Zeitung 12 (1928: 9). 24 Georg Gustav Wieszner: Albrecht Dürer an der Schwelle einer neuen Zeit. Deutsche Stunde in Bayern, 22.6.1928, 17.00–17.30 Uhr. Wieszner, von Haus aus promovierter Germanist, bestritt in den zwanziger Jahren seinen Lebensunterhalt vor allem mit Tätigkeiten in der Volksbildung.
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oder «Albrecht Dürer in der fränkischen Dichtung», welchen die Kritik freilich als «wenig erfreulich» qualifizierte.25 Ebenfalls aus Nürnberg steuerte Theodor Hampe einen Grundsatzvortrag über «Dürer als Mensch und als Künstler» bei,26 der am 22. März 1928, im Anschluss an den Radio-Lehrkurs für Geflügelhaltung und den Vortrag «Die Bienenzucht als Glied der Landwirtschaft», über den Sender ging – in der Mischung typisch für das, was beim konservativen Bayernfunk zwischen Heimatpflege und Volksbildung den Hörern geboten wurde. Der Vortragende Hampe war Zweiter Direktor des Germanischen Nationalmuseums, dem im Dürerjahr zentrale Bedeutung zufiel: Am 11. April 1928 eröffnete man hier, untermalt vom Chorgesang des örtlichen Lehrergesangsvereins, die wichtigste – im Übrigen sagenhaft bestückte – Jubiläumsausstellung dieses Jahres, wozu sich nicht nur offizielle Repräsentanten aus Politik und Kultur, sondern auch eine Reihe diplomatischer Vertreter des Auslands eingefunden hatten. Abermals war auch in diesem Fall das Radio zugegen.27 Auch über nachfolgende Ausstellungsaktivitäten des Dürerjahrs hielt man die Hörer auf dem Laufenden.28 Alle diese Rundfunkaktivitäten standen in koordiniertem Zusammenhang mit dem Nürnberger Festjahr, das durch ein Bündel konzertierter Maßnahmen gezielt vermarktet wurde.29 Die Nürnberger Stadtväter, die zum Zwecke der Öffentlichkeitsarbeit nicht nur eigens einen Werbefilm produzieren ließen, sondern auch Presse und Nachrichtenbüros mit Aufsätzen «bekannter Dürerforscher» samt zugehöriger Bildvorlagen kostenlos belieferten (vgl. ebd.: 5), waren sich der Resonanz der neuen Massenmedien für Fremdenverkehr und Stadtmarketing sehr bewusst, ging es doch erklärtermaßen darum, «Volkskreise für den Museumsbesuch zu gewinnen, die ihm bisher ganz fern standen», wie es in der
25 Theodor Ries: Albrecht Dürer in der fränkischen Dichtung. Deutsche Stunde in Bayern, 1.9.1928, 17.00–17.25 Uhr. «Das Ergebnis war wenig erfreulich, da der Sprecher […] vor dem unerbittlichen Mikrophon mit seiner Sprechtechnik nicht zu bestehen vermochte.» [O. Verf.:] Kreuz und Quer durchs Programm. In: Bayerische Radio-Zeitung 38 (1928), 8. 26 Theodor Hampe: Dürer als Mensch und als Künstler. Deutsche Stunde in Bayern, 22.3.1928, 19.00–19.40 Uhr. 27 Feierliche Eröffnung der großen Dürer-Ausstellung in Nürnberg. Deutsche Stunde in Bayern, 11.4.1928. 28 Vgl. zu den Nürnberger Aktivitäten auch: Die Nürnberger Dürerfestlichkeiten. Bericht von Hermann F. Dollinger. Deutsche Stunde in Bayern, 8.5.1928, 21.15–21.25 Uhr. 29 Dies ist in minutiöser Auflistung zu entnehmen dem bereits zitierten Bericht über die Veranstaltungen und den Verlauf des Dürerjahres Nürnberg 1928 (wie Anm. 3).
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Kunst für alle hieß ([W.] 1928/29: 184). Der Erfolg gab ihnen recht: Die Nürnberger Retrospektive verzeichnete rund 200.000 Besucher. Erwähnt sei schließlich noch das Beispiel der Ravag in Wien. Während man hier ansonsten gerne die österreichische Sonderart herausstrich, stimmte man im Falle Dürers in den Chor der Begeisterung für das ‹Deutsche› ein. Schon Ende März las man im Jugendprogramm eine Stunde lang aus Albrecht Dürers Tagebüchern, wozu einmal mehr ein profilierter Dürer-Forscher, nämlich der Wiener Universitätsprofessor Hans Tietze die Erläuterung lieferte (Tietze 1928a). Tietze, der im selben Jahr den ersten Band seines kritischen Werkverzeichnisses zu Dürer vorlegte (Tietze/Tietze-Conrat 1928), war es auch, der zum Jubiläum einen sechsteiligen Vortragszyklus beisteuerte, der charakteristischerweise mit dem Grundsatzthema «Dürer und wir» eröffnete.30 Die Senderillustrierte Radio Wien belieferte die Hörer dazu auf geschlagenen acht Seiten mit Abbildungen, außerdem waren zur Sendung Radioskop-Bildstreifen erhältlich.
Abb. 8: Bilderbeilage der Zeitschrift Radio Wien zu Hans Tietzes Vortragsreihe über Albrecht Dürer, 1928.
Damit nicht genug, initiierte die Wiener Sendegesellschaft begleitend zu Tietzes Vortragszyklus eine Kooperation mit der Akademie der bildenden Künste, die den
30 Hans Tietze: Albrecht Dürer. Sechsteiliger Vortragszyklus. Ravag, 4.4.1928– 25.4.1928.
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Hörern Dürers Werke in einer eigens zu diesem Zweck konzipierten Ausstellung nahebrachte.31 Radiokunstgeschichte sollte hier einmal tatsächlich über das Hörmedium hinausreichen, um dem Adressaten auch das ‹Sehen› zu ermöglichen. Die unentgeltlich zugängliche, also barrierefreie Sonderschau wartete zwar nicht – wie in Nürnberg – mit Originalen auf, dafür aber mit einigen Hundert «erstklassigen Reproduktionen», welche «infolge der streng systematischen Anordnung», wie es weiter hieß, «ein klares Bild des Werdens von Dürers künstlerischer Persönlichkeit» vermittelten (Richtera 1929a: 31).32 Wie Tietze in Aufbietung geläufiger Superlative erörterte, ging es bei alledem nicht um museale Weihen, sondern um die bleibende Aktualität, Volkstümlichkeit und «Unvergänglichkeit» Dürers, also darum, «den Dürer des deutschen Volkes von heute» zu zeigen (Tietze (1928b: 959).
IV. Versucht man eine Bilanz des Dürer-Radiojahrs zu ziehen, so fällt sie zwiespältig aus. Einerseits spricht aus den zahllosen Sendebeiträgen, Feierstunden und Artikeln der Programmzeitschriften das aufrichtige Bemühen, den «deutschesten aller deutschen Künstler», so Wölfflins Charakterisierung (1919: VII), jenseits nationalistischer Rhetorik, wie sie rechtskonservative Kreise anschlugen, zu würdigen und im Lichte der bürgerlichen und republikanischen Gesinnung zu vermitteln, die als rundfunkpolitische Richtschnur galt. Auffällig ist vor allem bei den offiziellen Rednern das Fehlen rückwärtsgewandter oder gar chauvinistischer Töne. Zwar war man bemüht, Dürer als unumstößliches Denkmal nationaler Größe zu würdigen, doch ging es dabei nicht um völkische Überlegenheitsgefühle oder deutsche Sonderleistungen, sondern um Menschentum und Persönlichkeit: «Nicht als ästhetische Natur, sondern durch das Ganze seines menschlichen Wesens ist Dürer unser volkstümlichster Maler geworden, das Urbild des deutschen Künstlers», so wiederum der Schweizer Wölfflin in der Nürnberger Festrede (1941: 129). Dazu passte, dass in den staatstragenden Ehrungen wiederholt das «Europäertum» Dürers hervorgehoben wurde. In diesem Sinne äußerte sich etwa Wölfflin über Dürers Italienreisen: «Sollen wir wirklich bedauern, daß Dürer aus der Gebundenheit heimatlicher Überlieferung heraustrat und sich neue Horizonte öffnete? Es ist immer eine Bereicherung, den Umkreis
31 [O. Verf.:] Die Dürerausstellung der «Ravag». In: Reichspost (Wien) 96, 5.4.1928. 32 Vgl. auch ders. (1929b).
222 | A NDREAS ZEISING des Begriffes ‹Mensch› zu erweitern, vorausgesetzt, daß man über dem Fremden nicht das Eigene verliert.» (Wölfflin, zit. n. Schmidt 2000: 9)
Der Nürnberger Oberbürgermeister Luppe ließ sich gar zu Formulierungen hinreißen, die sich ohne Weiteres bis heute für jedes Grußwort verwenden ließen: «Echte Kunst kennt nicht die Grenze von Ländern und Völkern, sie schafft Menschheitswerte, gemeinsames Kulturgut aller Völker.»33 In den zwanziger Jahren sprach aus solcher Rhetorik der Geist von Locarno, das heißt die damals von Seiten der Regierung betriebene Politik der europäischen Aussöhnung, die 1926 zur Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund geführt hatte. Andererseits stand der Kult um Dürer, den man im Rundfunk zelebrierte, in einem merkwürdigen Spannungsverhältnis zum Image des modernen Zeitgeistmediums, den das Radio bei anderer Gelegenheit gerne für sich in Anspruch nahm (was freilich nicht für alle Sender galt). Besonders eklatant wurde dieser Widerspruch beim Westdeutschen Rundfunk in Köln. Intendant Ernst Hardt hatte dem Sender seit Herbst 1927 einen radikalen Imagewandel verordnet. Seither bestimmten gesellschaftliche Zeitfragen, die Lebenswelt der Großstadt und die modernistische Ästhetik der Neuen Sachlichkeit das Programm. Umso deutlicher fällt der kulturpessimistische Unterton ins Auge, mit dem Redakteur Fritz Worm das Thema Dürer 1928 aufgriff. Nach Worms Verständnis war die Dürerzeit nicht zuletzt ein Gegenbild zur innerlich zerrissenen und von Vereinzelung und Partikularinteressen gekennzeichneten Kultur der Moderne: «Kunst ist in unserer Zeit und vielleicht in noch besonderem Maße in unserer Nation eine Angelegenheit ganz Weniger geworden, sie zieht nicht an, sie bildet keine Gemeinschaft, sie ist nicht Herzenssache des Volkes», wohingegen sie zu Zeiten Dürers als «unmittelbar lebendiges Erzeugnis jedem verständlich, jedem unentbehrlich.» (Worm 1928a: 5)
Worms Haltung zum Medium Rundfunk war ambivalent, da er in ihm einerseits ein Zeitgeist- und Unterhaltungsmedium sah, das geradezu symbolisch für Vermassung, Zerstreuung und Abkehr von ‹wahrer› Kultur stand, die sich mit dem Namen Dürers verband. Anderseits sah Worm im Radio ein mächtiges Instrument zur «Sozialisierung des Geistes», welches – richtig gebraucht – an «Lebenswerte» heranführen könne, «die vom ‹ungebildeten›, besser: unverbildeten Hörer mit Dankbarkeit entgegengenommen werden» (Kuerten 1932: 572).
33 Bericht über die Veranstaltungen und den Verlauf des Dürerjahres Nürnberg 1928 (wie Anm. 3), 39.
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Abb. 9: Fritz Worm: Albrecht Dürers geistige Gestalt, aus Werag, Heft 15, 1928.
In einer Zeit zivilisatorischer Entfremdung, materialistischer Technikgläubigkeit und individualistischer Vereinzelung, dessen beredtster Ausdruck das Radio selbst war, stellte sich dem verantwortungsvollen Rundfunkmacher die Aufgabe, die Massen wieder an «seelische Werte», freilich auch an «das Wesentliche deutschen Geistes» heranzuführen, wie Worm es ausdrückte. Für Worm ging es nicht nur um die Vermittlung einer ‹geistigen› kulturellen Einheit aller Deutschen, die sich im Bildungsprogramm längst zur «sakrosankten Leitidee» (Leonhard 1997: Bd. 2, 624) ausgewachsen hatte, sondern um eine Reanimation wahrhaft ‹volkhaften› Empfindens durch Technik und eine «Erziehung zum Menschentum», die innerliche Werte schaffen sollte. «Dürers geistige Gestalt» gab dafür das Vorbild ab.
L ITERATUR Behne, Adolf (1928): Albrecht Dürer. In: Der Deutsche Rundfunk 14, 893f. Bruch, Rüdiger vom (1998): Kunstwart und Dürerbund. In: Diethart Krebs/Jürgen Reulecke, Hg.: Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880‒1933. Wuppertal: Hammer, 429‒438.
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Campbell Hutchinson, Jane (1977): Der vielgefeierte Dürer. In: Reinhold Grimm/Jost Hermand, Hg.: Deutsche Feiern. Wiesbaden: Akad. Verl.-Ges. Athenaion, 25‒41. [K.W.] (1928): Dürers Ruhm. In: Bayerische Radio-Zeitung 12, 4–6. Kosel, Hermann (1923/24): Albrecht Dürer. Ein deutscher Heiland. Roman aus Nürnbergs Blütezeit. 3 Bde. Berlin: Bong. Kratzsch, Gerhard (1969): Kunstwart und Dürerbund. Ein Beitrag zur Geschichte der Gebildeten im Zeitalter des Imperialismus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Kratzsch, Gerhard (2001): Ferdinand Avenarius und die Bewegung für eine ethische Kultur. In: Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. Ausst.-Kat. Institut Mathildenhöhe, 2 Bde. Darmstadt, Bd. 1, 97‒102. Kuerten, Wolf H. (1932): Wer macht die Rundfunkprogramme? (Teil II: Westdeutscher Rundfunk). In: Die Sendung 27, 571f. Langbehn, Julius/Momme Nissen (1928): Dürer als Führer. Vom Rembrandtdeutschen und seinem Gehilfen. München: J. Müller. Leonhard, Joachim-Felix, Hg. (1997): Programmgeschichte des Hörfunks der Weimarer Republik. 2 Bde. München: dtv. Mende, Matthias (1971): Dürer-Bibliographie. Zur fünfhundertsten Wiederkehr des Geburtstages von Albrecht Dürer. Wiesbaden: Harrassowitz. Mende, Matthias (1972): Das Dürer-Denkmal in Nürnberg. In: Hans-Ernst Mittig/Volker Plagemann, Hg.: Denkmäler im 19. Jahrhundert. Deutung und Kritik. München: Prestel, 163‒181. Nasse, Hermann (1926): Rudolf Schiestl. In: Die Graphischen Künste 49, 25‒36. Nürnberger Dürerfeiern 1828‒1928. Ausst.-Kat. Museen der Stadt Nürnberg im Dürerhaus, Nürnberg 1971. Richtera, Leopold (1929a): Rundfunkexperiment, Sonderausstellung, Wandermikrophon. In: 5 Jahre österreichischer Rundfunk. Festschrift von Radio Wien. Wien, 30‒33. Richtera, Leopold (1929b): Über die Veranschaulichung von Rundfunkvorträgen. In: Radio Wien 5 (18), 289f. Schäfer, Wilhelm (1922): Die dreizehn Bücher der deutschen Seele. München: Georg Müller. Schmidt, Alexander (2000): Große Kunst und Dürerschnitzel. Nürnberger Dürerfeiern zwischen nationalem Pathos, künstlerischem Anspruch und Geschäftstüchtigkeit. In: I believe in Dürer. Ausst.-Kat. Kunsthalle Nürnberg. Nürnberg, 15‒24.
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B ILDNACHWEISE Abb. 1: Quelle: Bericht über die Veranstaltungen und den Verlauf des Dürer-
jahres Nürnberg 1928, hg. vom Stadtrat, Nürnberg 1928. Abb. 2: Quelle: Wikimedia Creative Commons/Bundesarchiv, Bild 10205582. Abb. 3a und 3b: Titel der Zeitschriften Der Deutsche Rundfunk und Der Rundfunkhörer zum Dürer-Jubiläum 1928. Abb. 4: Quelle: Funk-Stunde, 1928. Abb. 5: Begleitheft der Werag-Bücherei zur Vortragsfolge von Fritz Worm über Albrecht Dürer. Köln 1928. Abb. 6a: Quelle: Bayerische Radio-Zeitung, 1928.
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Abb. 6b: Quelle: Bericht über die Veranstaltungen und den Verlauf des Dürer-
jahres Nürnberg 1928, hg. vom Stadtrat, Nürnberg 1928. Abb. 7: Rudolf Schiestl: Sautreiber, Holzschnitt, 1922, Privatarchiv des Autors. Abb. 8: Bilderbeilage der Zeitschrift Radio Wien zu Hans Tietzes Vortragsreihe über Albrecht Dürer, 1928. Abb. 9: Fritz Worm: Albrecht Dürers geistige Gestalt, aus: Werag, Heft 15, 1928.
Produktive Missverständnisse Jazz als Kulturtransfer im Kalten Krieg – die Jazz-Programme des amerikanischen Radiomoderators Willis Conover im ehemaligen Ostblock R ÜDIGER R ITTER
W ILLIS C ONOVER –
EIN
M YTHOS
DER
J AZZWELT
Seit 1955 strahlte der US-amerikanische Auslandsradiosender Voice of America (VOA) allabendlich die von Willis Conover moderierte Sendung Music USA – Jazz Hour aus. Bald schon genossen die Sendung und ihr Moderator außerordentliche Beliebtheit, und zwar insbesondere bei Hörern in den Ländern des ehemaligen «Ostblocks». Als Conover zu Beginn der 1960er Jahre diverse Reisen dorthin unternahm, wurde er mit geradezu religiöser Verehrung als «God of Jazz» (Lees 2003) empfangen. Ein Mythos um seine Person und seine Sendung bildete sich aus, seine Hörer bezeichneten sich als «Children of Conover» (Lees 1992). Mit der Symbolfunktion, die Jazz insbesondere in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten als Musik des American way of life und als ‹Fenster zum Westen› hatte, lässt sich diese emotionale Aufladung Conovers und seiner Sendung nur teilweise erklären. Jedenfalls stellt die Rezeption gerade dieses Radioprogramms einen Faktor gesellschaftlicher Mobilisierung dar, die auch nach ihrem Höhepunkt in den 1960er Jahren bis zum Ende des Staatssozialismus, ja sogar noch darüber hinaus, anhielt.
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Umso bemerkenswerter ist es, dass dieses Phänomen bislang nicht zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Betrachtung gemacht wurde. 1 Eine Biografie des Radiomoderators beschränkt sich auf die Zeichnung eines panegyrischen Bildes, ohne den Mythos zu hinterfragen (Ripmaster 2007). Dabei treten die Widersprüche offen zutage: Die in der Formulierung «Children of Conover» suggerierte weltweite Einheit und Einigkeit einer weltumspannenden Jazz-Gemeinde war eine Fiktion, die Gegensätze und Parteiungen im Jazz-Milieu negierte. Dass die einzelnen im Mythos vorgebrachten Beschreibungen unvereinbar miteinander kollidierten, fiel nicht weiter auf: Einerseits behauptete man, Conovers Sendung sei «unpolitisch», andererseits erklärten seine Anhänger allen Ernstes, der Zusammenbruch des Sozialismus sei wesentlich Conovers Verdienst. Conovers Hörerschaft war allein quantitativ bedeutend. Weltweit werden ca. 30 Millionen Hörer angegeben, im sozialistischen Osteuropa waren es ca. 2–3 Millionen. Auch wenn Jazz und Jazzhören keineswegs immer in der Mitte der Gesellschaft angesiedelt waren, so weisen doch allein diese Zahlen darauf hin, dass mit der Rezeption von Conovers Sendung gesellschaftliche Prozesse verbunden gewesen sein müssen, die eine genauere Untersuchung des Sinnes des Mythos und der ihm zugrundeliegenden Prozesse sinnvoll erscheinen lassen. Dieser Beitrag untersucht Jazz als Mittel des Kulturtransfers im Kalten Krieg am Beispiel der Radiosendungen von Willis Conover. Der weltpolitische Rahmen, in den Conover, seine Sendung und ihre Rezeption gestellt werden müssen, ist der Ost-West-Konflikt des Kalten Krieges, der sich ja keineswegs auf den politischen Bereich beschränkte, sondern alle Lebensbereiche gleichermaßen erfasste. Eine etwas genauere Betrachtung zeigt, dass es sich hier nicht einfach um ein weiteres Beispiel US-amerikanischer Public diplomacy bzw. Cultural diplomacy2 handelt, sondern um ein Beispiel für einen wechselseitigen Kulturtransfer, bei dem beide Seiten gleichermaßen agierten und reagierten. Der Rezeption der Sendung und die Aufnahme ihres Moderators im Ostblock entsprach nämlich auch einer Ankunft einer Vielzahl von Jazz-Musikern und Jazz-Ensembles in den USA, die Conover unter Ausnutzung seines Einflusses ins Land holte – entweder für immer oder für Gastauftritte. Nicht nur der Jazz in Europa wurde
1
Immer wieder finden sich kurze Hinweise auf die Bedeutung dieses Phänomens, ohne das jedoch weiter auszuführen, so z. B. Yurchak (2006: 162f.).
2
Dieser Begriff fungiert im US-amerikanischen Sprachgebrauch aktuell als die Bezeichnung der offiziellen US-amerikanischen Bemühungen, die eigene Kulturarbeit weltweit zu propagieren, vgl. Cull (2008, S. xiv–xvi). Im sowjetischen und auch im heutigen russischen Sprachgebrauch hingegen spricht man unbefangen von den entsprechenden eigenen Bemühungen als Propaganda.
J AZZ
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«amerikanisiert», sondern auch der Jazz in den USA wurde «europäisiert» (vgl. Nicholson 2005). Diese wechselseitigen Kontakte hatten wiederum ihrerseits Rückwirkungen auf den Kulturtransfer, so dass es sich hier um Prozesse handelt, die vorzugsweise mit Konzepten der «Verflechtungsgeschichte» (vgl. Becker 2004) bzw. der Histoire croisée (vgl. Werner/Zimmermann 2006) zu beschreiben sind. Die Rezeption Conovers in den Ostblockstaaten dient in diesem Beitrag als Fallstudie für den Verlauf von Prozessen des Kulturtransfers während des Kalten Kriegs. Dabei geht es zum einen um das Spannungsfeld zwischen künstlerischer Autonomie und politischer Instrumentalisierung der Kunst, des Weiteren um den Stellenwert ideologischer Argumente im Kulturtransferprozess sowie um die Aufdeckung teilweise weitreichender struktureller Parallelen der Argumentation und des praktisch-politischen Handelns hinter den vordergründig so unterschiedlichen Positionen der beiden Lager. Ebenso wie einige der bedeutendsten US-amerikanischen Jazz-Musiker, allen voran Benny Goodman, wurde auch Willis Conover von der US-Regierung als Jazz-Botschafter zu propagandistische Zwecken eingesetzt, auch wenn er sich, ebenso wie die Musiker, nur bis zu einem gewissen Maße vor den Karren der US-Politik spannen ließ.3 Man finanzierte ihm Reisen nach Polen, Jugoslawien, Ungarn, die ČSSR und die Sowjetunion. Weitere Reisen führten ihn in die Türkei, nach Indien und in verschiedene westeuropäische Länder. Für die Rolle von Conover und seiner Sendung im Kulturtransferprozess während des Kalten Kriegs sind insbesondere die Rezeption seiner Sendung in der Sowjetunion (vor allem im Baltikum, in Moskau und Leningrad), in Polen, in der ČSSR und in Ungarn und seine Reise in diese Länder von Bedeutung. Das Ende des Kalten Krieges und die Öffnung der Archive bieten erstmals die Möglichkeit, Beschreibungen unterschiedlicher Parteien nebeneinanderzulegen. Zum Tallinner JazzFestival des Jahres 1967 beispielweise existieren neben Conovers eigenen autobiografischen Aufzeichnungen und den Erinnerungen Charles Lloyds Berichte des US-amerikanischen Botschafters, KGB-Dossiers und Erinnerungen von Conovers russischen Gesprächspartnern.4
3
Grundlegend dazu van Eschen (2004).
4
Vgl. detaillierte Beschreibung bei Ritter (2019)
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V OM G EGNER LERNEN : D ER U MGANG MIT J AZZ AUF OFFIZIELLER E BENE Die offiziellen Stellen in den USA, aber auch in den Ostblockländern, begriffen den Umgang mit Jazz von vorneherein als kulturpolitische Aufgabe im Zeichen des Kalten Kriegs. Die USA suchten ihre kulturpolitischen Maßnahmen möglichst direkt auf den ideologischen Gegner auszurichten und konzentrierten alle Bemühungen auf die Sowjetunion und die europäischen Ostblockstaaten (obwohl VOA weltweit zu empfangen war und Conovers Sendungen gerade in Schwarzafrika oder Asien ebenfalls beliebt waren). Damit griff man die sowjetischen Machthaber frontal an, die einen ideologisch motivierten Erziehungsauftrag des Radios in den Mittelpunkt ihrer Politik stellten (vgl. Moskovskij 1970). Die Sowjetunion und die Ostblockstaaten ihrerseits suchten das Radio und das Format der Jazz-Sendung ebenfalls für ihre Zwecke nutzbar zu machen. Ergebnis war ihr «Lernen vom Gegner»5: Die Vorstellung, sich in einem ideologischen Wettstreit mit dem Gegner zu befinden, führte zur Ausspionierung der Methoden dieses Gegners mit dem Ziel, diese selbst anzuwenden und den Gegner mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Das war ein wechselseitiger Prozess: So untersuchten sowjetische Publikationen den Sender VOA als gelungenes Vorbild für Propagandaarbeit mit Musik (siehe z.B. Kurčatov 1971) und publizierten ihre Untersuchungen, und genau diese Untersuchungen wurden wiederum im Studio von Conover aufmerksam rezipiert, um entsprechende Gegenmaßnahmen vorzubereiten.6 Conovers Sendungen und Aktivitäten galten den politisch Verantwortlichen und auch ihm selbst als Kampfmittel im Kalten Krieg. Dies ist die traditionelle Sichtweise in der Forschung über die sog. Radio battles (vgl. Hixson 1997).7 So bezeichnete Conover es als «großen Coup», dass er seine Kommentare zu den Mitschnitten der Debreceni jazznapok (Debrecener Jazztage) im ungarischen
5
Dieses Paradigma übernehme ich von Aust/Schönpflug (2007).
6
Z. B. Lukin (1976) – im Nachlass Conovers findet sich eine Kopie einiger Seiten dieser Schrift, in der die VOA betreffenden Passsagen mit Rotstift von Conovers Assistenten markiert sind.
7
Dieser Ansatz findet sich insbesondere bei Arbeiten zu Radio Free Europe/Radio Liberty, wo man im Vergleich zu VOA erheblich schärfere Formen propagandistischer Einflussnahme bevorzugte, vgl. Johnson/Parta (2010); Parta (2007). Entsprechende Arbeiten zur Gegenseite fehlen fast vollkommen; lediglich in jüngster Zeit werden Radio battles auch aus Sicht der betroffenen Länder analysiert, vgl. Machcewicz (2007).
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Radio senden lassen konnte.8 Tatsächlich waren seine Aktivitäten und Sendungen aber auch für die Gegenseite nützlich. Der enorme Identitätseffekt, den das Senden des «eigenen» Jazz in einer staatssozialistischen Radiostation mit sich brachte, war für die Regierungen der Länder höchst willkommen, erhöhte er doch die Attraktivität der eigenen Radiosender, so dass diese sich als Alternative zu VOA präsentieren konnten. Das Auftreten Conovers in einem sozialistischen Radiosender war also nicht einfach nur ein Coup des Westens, sondern entsprang auch einem rationalen Kalkül staatssozialistischer Herrscher. Das ist der eigentliche Grund dafür, weswegen es Conover gelang, spezielle Radiosendungen für Polen, Ungarn und die ČSSR zu produzieren, auf Tonband aufzunehmen und mittels guter Bekannter in den sozialistischen Radiostationen dieser Länder senden zu lassen.9 Wenn Conovers Radiojazz also eine Waffe im Kalten Krieg war, dann eine, die von beiden Seiten benutzt wurde. Hinzuweisen ist hier auf die radikale Kehrtwende, die sozialistische offizielle Stellen gegenüber dem Jazz vollzogen hatten. Galt Jazz zu stalinistischen Zeiten noch als «Musik der geistigen Nichtigkeit» (Gorodinskij1950), so vermochte sich Jazz in der Sowjetunion seit den 1960er Jahren mehr und mehr zu etablieren. Am radikalsten war der Wandel in Polen, wo man nach Jahren der Verbannung des Jazz in die «Katakomben»10 seit 1956 Jazz-Musik sogar in die offizielle staatliche Förderung aufnahm. Selbst in Polen jedoch verblieb eine charakteristische Unsicherheit, da man nie sicher sein konnte, ob ein konservativer Funktionär mit stalinistischer Argumentation eine zuvor genehmigte JazzVeranstaltung in letzter Minute doch verbot.11 In jedem sozialistischen Land bildeten sich hier je eigene Praktiken heraus. Wenn es das Ziel der US-Strategen war, Jazz als Mittel zur Destabilisierung des Ostblocks zu benutzen, muss man diese Mission für gescheitert erklären. Vielmehr bekamen die Hörer eine Möglichkeit angeboten, den grauen sozialistischen Alltag besser zu ertragen, indem man sich wenigstens für die Dauer einer
8
Sämtliche hier angeführten Einzelheiten zu Leben und Handlungen Conovers sind durch entsprechende Dokumente in seinem Nachlass (University of North Texas Denton, TX, USA, Willis Conover papers) belegt. Einzelnachweise unterblieben hier aus Platzgründen.
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Conover nannte dieses Sendeformat Music with friends. Seine Kontaktpersonen waren Andrzej Jaroszewski für Polen, Imre Kiss für Ungarn und Stanislav Titzl für die ČSSR.
10 Die Periode von 1948 bis 1955 gilt in der polnischen Jazz-Geschichte als Zeit des «jazz katakumbowy», vgl. Brodacki (2010). 11 So konnte das Warschauer Jazz Jamboree des Jahres 1982 nicht stattfinden.
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Radiosendung in eine andere Welt träumen konnte.12 Insofern erweist sich die Strategie der sozialistischen Machthaber und Radiosender als erfolgreich, die durch eine Politik dosierter Toleranz Jazz für ihre eigene Zwecke einsetzen konnten. Allerdings gelang es auch ihnen nicht, dem Jazz etwas Eigenes entgegenzusetzen, so dass man wohl oder übel mit ihm umgehen musste.
GEGEN W EST – ODER EHER USA UND UdSSR GEGEN DIE EUROPÄISCHE «H OCHKULTUR »?
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Von den Zeitgenossen wurde der Ost- West-Systemgegensatz als die beherrschende Konfliktlinie angesehen. Es lässt sich aber noch eine weitere Konfliktlinie ausmachen, und zwar eine zwischen den USA und der UdSSR einerseits und den europäischen Ländern andererseits. Traditionell war Europa der Ursprungskontinent der Kunstmusik gewesen, und zu Beginn des Kalten Krieges suchten die USA ebenso wie die UdSSR, auf diesem Gebiet auf Europa einzuwirken (Saunders 2001). Erst als man, gleichsam durch Zufall, die enorme Breitenwirkung von Jazz- und Unterhaltungsmusik der amerikanischen Soldatensender auf die europäische Bevölkerung entdeckte, rückte Jazz ins Blickfeld der Strategen. Im Rahmen der charakteristischen Bedeutungsverschiebungen des Kulturtransfers jedoch begannen Musiker und Musikpublizisten in Europa bald, auch Jazz als eine Form der Kunstmusik aufzufassen und zu behandeln. Das ist der Grund dafür, dass sich in Europa über den Eisernen Vorhang hinweg Jazz-Musiker aus dem Osten wie aus dem Westen auf gleicher Grundlage verständigten. Conover, der in dieser Entwicklung das Positive für den Jazz sah, unterstützte diese Prozesse durch seine Sendung und durch seine Anwesenheit auf den Festivals ganz wesentlich. Er vertrat eine Auffassung von Jazz als der Kunstmusik der USA, die er als gleichwertig mit der europäischen Kunstmusik früherer Jahrhunderte darstellen wollte. Im Gegensatz dazu bezeichnete er Rockmusik als eine Form der Unterhaltungsmusik und scheute sich auch nicht, ihr einen deutlich geringeren Stellenwert zuzuweisen.13 Einmal mehr ist bemerkenswert, wie nahe Conover hier der Argumentation der sozialistischen Kulturpolitiker kam, für die der
12 Vgl. dazu das Kapitel «Hörer, Hörerforschung» in Ritter (2019). 13 Es zeigt sich hier, dass die bis heute gängige Zuordnung des Jazz zum Oberbegriff der sog. Popularmusik zumindest unglücklich ist. Auch die Bezeichnung von Jazz als «Protestmusik» ist verfehlt, es sollte besser von Jazz als einer Form widerständiger Musik gesprochen werden, vgl. Ritter (2008).
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künstlerische Wert von Musik – also auch von Jazz – von entscheidender Wichtigkeit für eine positive Bewertung war. Hier liegt der Grund für Conovers selektive Rezeption der tschechoslowakischen Entwicklungen. Bereits in der Zwischenkriegszeit war Jazz von den führenden tschechoslowakischen Komponisten (z. B. Erwin Schulhoff) nicht nur rezipiert worden, sondern wurde geradezu als elaborierte Form der Kunstmusik aufgefasst14 und in das eigene Kulturleben integriert. 15 Diese an der Hochkultur orientierte Stilistik des Jazz setzten die tschechoslowakischen Jazz-Musiker zunächst fort, so dass sie Conovers Wertschätzung fanden. In dem Maße jedoch, in dem sich der tschechoslowakische Jazz dem Rock zuwandte, kehrte sich Conover von dieser Entwicklung ab und beschränkte sich auf «orthodoxen» Jazz, so dass er die eigentlich musikalisch und gesellschaftlich wichtigen Entwicklungen in der tschechoslowakischen Kultur, nämlich die Entstehung der Charta ’77 aus der Wirksamkeit der Rockgruppe Plastic People of the Universe und die Wirksamkeit der Jazz-Sektion mit Schweigen überging. Auch als beide Gruppierungen Ende der 1980er Jahre politisch motivierte Prozesse über sich ergehen lassen mussten, verhielt Conover sich passiv. Bemerkenswert ist hier, dass sich in der auf den ersten Blick vollkommen anders aussehenden Musiklandschaft des 20. Jahrhunderts eine Konstellation wiederholte, die während der Phase der Nationalmusikbewegungen des 19. Jahrhunderts schon einmal ganz ähnlich bestanden hatte: Mitteleuropäische Musikkulturen, allen voran die deutsche, italienische und französische, hatten die Standards gesetzt, die europaweit nachgeahmt wurden. Insbesondere für die russische Kultur stellte es ein Problem dar, dass der russische Staat zwar eine politische Großmacht, musikalisch aber ein Entwicklungsland war. Die USA hatten in dieser Zeit zwar noch keine erkennbaren Großmachtambitionen, litten aber ebenfalls an der Rolle eines musikalischen Entwicklungslands. So suchten beide Staaten, die europäischen Entwicklungen zu kopieren. Nun, im 20. Jahrhundert, als es beiden Mächten gelang, die politische Dominanz über Europa zu erreichen, sah man sich unversehens mit der trotz allem immer noch wirkungsmächtigen kulturellen Dominanz Europas konfrontiert. Diese Konstellation ist eine weitere Ursache für die strukturellen Parallelen im kulturpolitischen Vorgehen beider Supermächte im Kalten Krieg.
14 Bereits im Jahr 1928 veröffentliche Emil František Burian eine Geschichte des Jazz in tschechischer Sprache, vgl. Burian (1928). 15 Immer noch grundlegend für die Geschichte des tschechoslowakischen Jazz: Dorůžka/ Poledňák (1967). Über die Affinität europäischer Kultureliten zum Jazz vgl. Rasula (2004).
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J AZZ -P ROPAGANDA UND IHRE G RENZEN : «S CHWARZER » J AZZ UND JÜDISCHE J AZZMUSIKER Jazz stellte die Regierungen vor ein prinzipielles Problem: Sowohl die USA als auch die Sowjetunion mussten den Anschein erwecken, mit Jazz frei und offen umzugehen, um die Behauptungen der eigenen Propaganda von der Überlegenheit des eigenen Systems glaubhaft zu machen. Im eigenen Land ergaben sich aber Notwendigkeiten, die eigene Außendarstellung durch selektive Freigabe von Informationen zu steuern. So wurde in den USA intern ein kontroverser Diskurs darüber geführt, wie man bei Außendarstellungen der US-amerikanischen Gesellschaft mit dem Rassismusproblem umgehen solle.16 Conover, der persönlich bereits in den 1950er Jahren für die Desegregation Washingtons eingetreten war, suchte nach Möglichkeit gerade vor seinen Gesprächspartnern aus dem östlichen Europa zu verschleiern, dass die USA nicht nur auch noch in den 1970er Jahren intensive Problem mit dem Diskurs zwischen Schwarz und Weiß hatte, sondern dass er selbst auch persönlich von Vertretern der Black Nationalists-Gruppierung angegriffen wurde (Kofsky 1970). Zu gut wussten Conover und seine Vorgesetzten, dass die Sowjetunion sowie die anderen Regierungen staatssozialistischer Länder jedes Eingeständnis Conovers in dieser Richtung sofort propagandistisch für ihre eigenen Zwecke ausnutzen würden. Die Sowjetunion nutzte jede Blöße der USA, sich hinsichtlich der ‹Rassenfrage› als tolerantes Land darzustellen, ja sich sogar als eigentliche ideelle Heimat der Schwarzen anzubieten, da man doch qua Staatsideologie Heimat für alle vom Kapitalismus unterdrückten Personengruppen sein wollte. Mit einer solchen Argumentation versuchten die Sowjetunion und die Ostblockstaaten davon abzulenken, dass sie in Afrika analog zu den Bemühungen der USA Blockpolitik im Sinne des Kalten Kriegs betrieben (Baldwin 2002). Die Rezeption dieser Thematik ist ein Beispiel für die charakteristischen Bedeutungsverschiebungen, die dem Prozess des Kulturtransfers inhärent sind. Lag nämlich dem Diskurs über «schwarzen» und «weißen» Jazz in den USA das ungelöste Rassismusproblem zugrunde, so wurde dieses Thema in den Ostblockstaaten in die eigenen kulturellen Zusammenhänge eingebaut. Wohl gab es hier kulturelle Tiefenstereotypen über «Neger» und «Mohren», zugleich jedoch zeigen die Besprechungen zu afroamerikanischen Jazz-Musikern in der Szene eine
16 Vgl. exemplarisch: Racial Issues in the US. Some Policy and Program Indications of Research, o. D. [handschriftliches Datum: 3. April 1964], National Archives and Records Administration Washington D.C. (NARA), RG 306, Entry 1009, Box 22, Folder S-3-66.
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außerordentlich positive Aufgeschlossenheit ihnen gegenüber. Die staatssozialistische Propaganda nun suchte aus dieser Aufgeschlossenheit Kapital zu schlagen, indem sie die Unterdrückung der Afroamerikaner und ihre schlechte wirtschaftliche Lage in den USA brandmarkte und zur Diffamierung des Jazz insgesamt zu nutzen versuchte. In den Ostblockstaaten ging es im Diskurs über Afroamerikaner also nicht um eine Bürgerrechtsdiskussion wie im USamerikanischen Civil rights movement, sondern um die Positionierung gegenüber der USA als dem Anderen, wozu die People of colour lediglich als Mittel dienten.17 Umgekehrt lenkten sowjetische Autoren erfolgreich davon ab, dass die große Anzahl der jüdischen Jazzmusiker in der Sowjetunion sich immer wieder mit mehr oder weniger deutlichen Erscheinungen eines traditionell russischen wie auch sozialistischen und stalinistischen Antisemitismus konfrontiert sahen (Kostyrčenko 1994). An dieser Stelle lag ihrerseits der wunde Punkt der sozialistischen Regierungen. Sie hatten jedoch Glück, denn der ideologische Gegner begriff diesen Zusammenhang nicht, so dass es nicht zum Ausschlachten in ähnlich intensiver Weise kam, wie es die Ostblockstaaten hinsichtlich des Rassismusthemas taten. Es steht zu vermuten, dass Conover die Tragweite dieser Erscheinung nur unvollkommen begriff (und teils nicht erfassen konnte, denn die ‹Outings› der jüdischen Jazzmusiker fanden mit geringen Ausnahmen erst in den letzten Jahren der Perestrojka statt, vgl. Stratton 2000). Es war also hauptsächlich Unkenntnis über diesen Zusammenhang, der dafür verantwortlich war, dass die USA den Umgang mit jüdischen Jazzmusikern in der Sowjetunion nicht ebenso für ihre eigenen propagandistischen Zwecke auszunutzen suchte, wie die sozialistischen Regierung das mit der Anprangerung der Behandlung der Schwarzen in den USA taten.
«P RODUKTIVE M ISSVERSTÄNDNISSE » DES K ULTURTRANSFERS Einerseits wurde Jazz im Ostblock, wie überall in der Welt, als Musik Amerikas und als Symbol für den American way of life wahrgenommen. Anderseits spielten sich aber gerade in Europa gegenläufige Prozesse ab, indem man, vor allem seit den 1960er Jahren, den europäischen Charakter des ‹eigenen› Jazz mehr und
17 Bis heute liegen so gut wie keine Untersuchungen zu dieser Thematik vor. Ansatzpunkte bieten ältere Publikationen: Blakely (1986); Gnammankou (1999); Nolan (1951).
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mehr zu betonen begann, so dass schon bald auch im Bewusstsein amerikanischer Jazz-Kritiker und Conovers selbst der europäische Jazz als wichtiger Faktor neben den amerikanischen Jazz zu treten begann. Im Falle der Sowjetunion bzw. des russischen Jazz ergab sich eine interessante, musikwissenschaftlich bislang noch nicht erschöpfend untersuchte Symbiose aus westlichem Jazz und genuiner strada-Musikkultur.18 Ähnliches lässt sich beispielsweise auch für das Zusammenwirken von ungarischer «Zigeunermusik» (so der traditionelle, auch im Ungarischen [cigányzene] verwendete Begriff) und Jazz sagen. Das weist darauf hin, dass die bisher bei der Beschreibung der gesellschaftlichen Wirkung des Jazz bemühten Kategorien wie «Amerikanisierung» nicht ausreichend sind. Unbestritten kam es in vielen Ländern Europas, auch und gerade in den Ostblockstaaten, zu Prozessen der Amerikaorientierung oder «SelbstAmerikanisierung».19 Aber man kann nicht einfach von einer Übernahme amerikanischer Kulturelemente sprechen, sondern beobachtet charakteristische Bedeutungsverschiebungen, wie sie gerade für den Prozess des Kulturtransfers typisch sind. Darüber hinaus erhielten seit den 1960er Jahren gerade die europäischen Jazz-Szenen gegenüber den USA auch eine Geberrolle, ein Prozess, den Conover ganz wesentlich förderte,20 so dass es sich hier um Prozesse eines wechselseitigen Kulturtransfers handelt. Darüber hinaus transportiert Jazz seit jeher Einstellungen, Werte und Ideen. Wie die Ausführungen zum Rassismusdiskurs und jüdischen Jazzmusikern gezeigt haben, gab es zwischen Ost und West große Gegensätze in zentralen Themen, die zu charakteristischen Erscheinungen des Unverständnisses führten. Auch hier kam es eben nicht einfach zu einer Amerikanisierung im Sinne einer deckungsgleichen Übernahme von mit dem Jazz verbundenen Einstellungen. Charakteristisch für die Bedeutungsverschiebungen im Kulturtransfer ist, dass dieselben Worte und Begriffe mit unterschiedlichen Inhalten gefüllt werden. Das zeigt das Beispiel der Verbindung von Jazz und Freiheit: Für die politisch Verantwortlichen beider Seiten sollte Jazz zur Herstellung bestimmter poli-
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strada ist die Bezeichnung für die offizielle populäre Unterhaltungsmusik in der Sowjetunion; vgl. Fejertag (1981) und Stadelmann (2003).
19 Die meisten Publikationen behandeln das Paradigma Amerikanisierung/Amerikaorientierung/Anti-Amerikanismus in Bezug auf den ‹Westen›. Einige Ausnahmen: Behrends (2005) sowie Siefert (2006). 20 Conover verhalf einer Vielzahl von Musikern aus den Ostblockstaaten zu Reisen in die USA und legte dabei oftmals die Grundlage für Musikerkarrieren. Zu nennen sind beispielsweise John Hammer, Adam Makowicz, Gábor Szabó und viele andere (vgl. University of North Texas Denton, TX, Willis Conover papers).
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tischer Orientierungen wirken, für die Angehörigen der Jazz-Szenen und die Hörer von Jazz-Sendungen jedoch ging es um die Herstellung eines politikfreien Raums. Conover selbst nahm eine charakteristisch ambivalente Haltung ein: Einerseits war für ihn Jazz ein Abbild der Struktur der US-amerikanischen Gesellschaft, und er trat in Rededuellen im Ostblock immer wieder gerne für die Sache der USA ein. Andererseits vertrat Conover mit gleicher Überzeugung die Idee des Jazz als autonomer Kunstmusik, die zwar aus sozialen Bedingtheiten entstanden sei, aber keineswegs in ihrer stilistischen Entwicklung allein durch gesellschaftliche Prozesse und Anforderungen beschrieben werden könne.21 Der Freiheitsbegriff wurde von politisch Verantwortlichen und den Hörern der JazzSendungen jeweils diametral anders interpretiert: Während US-Strategen Jazz als Transportvehikel des US-amerikanischen Gesellschaftsmodells, das man als «freiheitlich» bezeichnete, propagierten,22 so ging es den Rezipienten im Ostblock beim Jazz vor allem um Freiheit von jeglicher Politik, jeglicher staatlichobrigkeitlichen Kontrolle und um Freiheit als Möglichkeit konkreter persönlicher Selbstverwirklichung. Das beste Beispiel hierfür ist die Praxis der tschechoslowakischen Jazz-Sektion, deren Mitglieder den Hauptzweck ihrer Organisation darin sahen, sich Freiraum für vom Staat nicht kontrollierte, unzensierte Herausgebertätigkeiten zu organisieren (Srp 1994). Der Freiraum Jazz ist, so betrachtet, ein weiteres Beispiel für den Versuch der Entpolitisierung der Kultur im Staatssozialismus (Murašev 2004). Trotz dieser unterschiedlichen Auffassungen zwischen Regierungen und Jazz-Interessierten, trotz dieser und weiterer Missverständnisse zwischen Ost und West, trotz dieser Reibungen im Kulturtransfer sind die internationalen JazzDiskurse von einer für den Kalten Krieg geradezu unwirklichen Harmonie und Übereinstimmung gekennzeichnet. An diesem Punkt wird die Wirksamkeit des außerordentlichen Charismas von Conovers Persönlichkeit sichtbar. Das Studium seines Umgangs mit den entsprechenden kontroversen Themen ist geradezu ein Lehrstück dafür, wie scheinbar unversöhnliche Gegensätze mit einer Leichtigkeit überbrückt werden können, die den Anschein erweckt, als könne es gar nicht anders sein. Hier liegt einer der wesentlichen Gründe für die Kraft des Mythos Conover. Der Moderator stand für die Einheit von Ost und West, für die Überwindung scheinbar unüberwindlicher Gegensätze und für ein Ideal der Verständigung, das so ganz anders war als der tagespolitische, verbissene Kampf der
21 Hier liegt eine interessante Parallele zur Hanslick’schen Idee der «absoluten Musik» vor. 22 In diesem Sinne argumentiert auch noch ein Großteil der Radio battles-Literatur; vgl. z. B. Puddington (2000).
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ideologischen Kontrahenten. Äußere Faktoren unterstützten diese Wirkung Conovers noch. So gehörte zum Mythos um Conover die Faszination, die von seiner charakteristischen Bariton-Stimme ausging.
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DAS UNBEKANNTE
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Für die politisch Verantwortlichen aller beteiligten Staaten, aber auch für die Radiosender und für Conover selbst waren Kenntnisse über das Verhalten der Hörer und ihre Interessen wesentlich. Meinungsforschungsinstitute und staatliche Kommissionen zur Hörerforschung23 wurden gegründet sowie mitunter Spezialeinheiten der Geheimpolizei eingesetzt, um hier zu Erkenntnissen zu gelangen. Auch unterhielten die US-amerikanischen Auslandssender eigene Monitoring-Abteilungen, um etwa durch Befragung von Flüchtlingen oder Emigranten wenigstens näherungsweise zu Erkenntnissen über die Hörerstruktur im Ostblock zu gelangen.24 Heutzutage ist es möglich, die Erkenntnisse beider Seiten nebeneinanderzulegen und Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu analysieren. Erste Ergebnisse zeigen, dass die Ergebnisse der Forschungen in beiden Systemen nicht allzu weit auseinander lagen (Parta 2007). Die Ergebnisse der Hörerforschung lassen ein differenziertes Bild über die Hörgewohnheiten und das Verhalten der Rezipienten zu, so dass man eine differenzierte Typologie der Hörer zeichnen kann. Grob gesagt kann man zwischen folgenden Hörertypen unterscheiden: junge Intellektuelle, die sich gegen ihre Eltern und/oder das Establishment auflehnten, professionelle Musiker, zumeist mit klassischer Musikausbildung, die ein musikalisches Erweckungserlebnis erfuhren, Dissidenten und Angehörige der politischen Opposition, aber auch Kinder der sozialistischen Nomenklatura (insbesondere in der Sowjetunion). In den ersten Jahren war die Verbindung von Jazz und sozialistischer Jugendkultur von hoher Bedeutung. So war Conovers Sendung und der Jazz die Musik der polnischen iBikiniarze [etwa: Bikini-Boys] (Chłopek 2005), der tschechischen Potápky [Haubentaucher] (Koura 2016), der russischen Stiliagi [etwa: Stil-Jäger] (Dmitrieva 2010) und ähnlicher Gruppen in anderen Ländern. Für die Generation
23 So war z. B. die entsprechende Kommission in Polen am Komitet do spraw radiofonii (Komitee für Radioangelegenheiten) eingerichtet, einer Regierungseinrichtung für Radioorganisation und Programmgestaltung der staatlichen polnischen Radiosender. 24 Das belegen entsprechende Archivmaterialien aus den Open Society Archives (OSA), Budapest, und der National Archives and Records Administration (NARA), Washington, D.C.
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der sowjetischen Šestdesjatniki gehörte Conovers Sendung zu einem habituell verfestigten Komplex. Zusammen mit der Stiliagi-Kultur nimmt sie bis heute einen festen Platz im kollektiven Gedächtnis dieser Generation ein (Korotkov/ Litvinov 2008).25 Die Sendungen Conovers gehörten über Jahrzehnte zum Alltag einer ganzen Generation, so dass sich anhand der Kenntnis der Hörgewohnheiten habituelle Verhaltensweisen der Radiohörer aufzeigen lassen.26 Der typische Jazzhörer des Ostblocks war keineswegs ein von der Propaganda beider Seiten bestimmter, bloß reagierender Rezipient, sondern nutzte selbstbewusst und kritisch das vorhandene Angebot.
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UND
AUSBLICK
Lange vor Internet, Handy und Facebook stellte die Hörerschaft Conovers ein globales Netzwerk dar, das dem Individuum die Teilhabe an einer weltweiten, virtuellen Gemeinschaft suggerierte und dadurch ein virtuelles Gegengewicht zum grauen sozialistischen Alltag setzte. 27 Diese imaginierte Gemeinschaft galt den Rezipienten als so hohes Gut, dass man bereitwillig über Brüche und Disharmonien hinwegsah, etwa dann, wenn der Jazz in einem Land eine andere Richtung nahm, als es Conovers Geschmack entsprach. 28 Es ist bemerkenswert, wie lange Conover trotz der fortlaufenden Veränderung der politischen Rahmenbedingungen, trotz seiner älter werdenden Hörerschaft, trotz der Veränderungen
25 Es handelt sich um das Buch zum gleichnamigen Film Stiliagi [etwa: Die Stil-Jäger]. 26 Vgl. die konzeptionellen Ansätze zur Erforschung des Radiohörens bei Falkenberg (2005). Hier werden Interviews mit literarischen und autobiographischen Quellen kombiniert, um die sozialen Bedeutungen des Radiohörens nachzuzeichnen. 27 Der beste Beweis für die Wirksamkeit dieser Gemeinschaft ist die Tatsache, dass die Sicherheitsdienste der sozialistischen Staaten versuchten, durch Geheimdienstarbeit Informationen über die Zusammensetzung dieses Netzwerks zu erlangen. Einer der ältesten Bekannten und Freunde Conovers in Polen, Roman Waschko, zugleich einer der Pioniere des modernen polnischen Jazz, arbeitete insgeheim als Informant der polnischen Geheimpolizei; vgl. Chojnowski (2008). 28 Mit dem Jazz des sowjetischen Ganelin-Trios etwa konnte Conover nicht viel anfangen, da diese Art des modernen Jazz nicht so recht in sein Konzept passte. Conover war zu klug, seine musikalischen Vorlieben offen zu legen, so dass Vladimir Tarasov in seinen Erinnerungen dennoch seine Hörerfahrungen mit Conovers Sendung positiv darstellte; vgl. Tarasov (2009). Über die Begrenztheit von Conovers Musikgeschmack gerade im Hinblick auf die Sowjetunion vgl. Fejgin (2009: 23).
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der Stilistik des Jazz und trotz seiner eigenen Konstanz an Verhaltensweisen und musikalischen Vorlieben, im Zentrum dieses Netzwerks blieb. Knotenpunkte dieses Jazz-Netzwerks bildeten die großen Jazz-Festivals im östlichen Europa, auf den Conover meist persönlich anwesend war. Zu nennen sind hier das Warschauer Jazz Jamboree, die Debreceni jazznapok im ungarischen Debrecen sowie die Pražské jazzové dni in Prag. Für den sowjetischen Jazz spielte Conovers Anwesenheit auf dem Tallinner Festival von 1967 und seine Anwesenheit in Moskau 1969 eine entscheidende Rolle (Ritter 2016). Wie sehr dieses Kapitel amerikanisch-europäisch-sowjetischer Kulturpolitik an die Rahmenbedingungen des Kalten Kriegs geknüpft war, zeigte sich nach 1989/91, als das politische System des Ostblocks und mit ihm die bisherige politische Weltordnung zusammenbrach. Nach einer anfänglichen Euphorie über die nun vermeintlich phantastischen Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen Ost und West kehrte schnell herbe Ernüchterung ein: Jazz verlor als Mittel der Kulturpolitik jegliche Relevanz für die Regierungen in Ost und West und wurde insofern auch nicht mehr staatlicherseits gefördert. Das hatte einschneidende Folgen für das Jazzleben: Hatten die Organisatoren der großen Festivals im östlichen Mitteleuropa durch geschicktes Taktieren Unterstützung sowohl von den USA als auch von ihren eigenen sozialistischen Regierungen erhalten, so mussten sie sich nun den Regeln des freien Marktes unterwerfen. Jazzmusiker des Ostblocks freuten sich anfangs über die neuen Möglichkeiten internationaler Präsenz, genossen nun aber nicht mehr die Grundfinanzierung als staatlich anerkannte Künstler, mussten ihren Lebensunterhalt selbst verdienen und standen sich meist erheblich schlechter als zuvor. Jazz überlebte diesen Wandel zwar, musste sich jedoch auf eine bislang nicht gekannte Weise dem anpassen, was bislang als ‹Kommerz› verpönt war. Auch das Medium Radio wandelte sich: Hatte das Radio neben dem Amateurfunk lange Zeit als einzige Möglichkeit gegolten, Kontakt mit der ‹großen weiten Welt› aufzunehmen, so ordneten sich auch hier die Koordinaten mit dem Siegeszug des Internet vollkommen neu. Auch das Radio überlebte diesen Wandel; eine Sendung wie diejenige Conovers, die über Jahrzehnte einen Alleinvertretungsanspruch in einer ganzen Musikrichtung geltend machen konnte, gehörte fortan aber der Vergangenheit an.
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Q UELLEN UND L ITERATUR Archivquellen National Archives and Records Administration (NARA), Washington, D.C.: - Record Group 306 University of North Texas, Denton: - Willis Conover papers Open Society Archives (OSA), Budapest: - Bestände zu Radio Free Europe: listeners’ monitorings
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Radio als soziales Medium
«A Symbol of Friendship» Identity projections in media practices with Switzerland’s international radio SRI in the Cold War F ANNY J ONES
AN UTOPIA TO BEGIN WITH : «T HE BELLS OF S WITZERLAND AS A SYMBOL OF FRIENDSHIP BETWEEN THE NATIONS OF THE WORLD » In 1954 in the little town of Hastings, New Zealand, Mrs. Stent took part in a street parade at the Blossom Festival, accompanied by her wagon pulled by a donkey named Nettie. On top of the wagon, Mrs. Stent put 30 different flags belonging to nations of the world, together with Swiss cow bells. All this she had «ordered» from various international shortwave stations and embassies around the world, such as the Swiss Shortwave Service. Her slogan, «symbol of friendship», suggests that motives like world peace and international understanding might have played a role in the choice of her motto. She also sent a letter to the Swiss Shortwave Service in Bern that included pictures of her and her winning wagon with the subtitle «From the Nations Beyond – A Symbol of Friendship. The Flags of 30 Nations and the Bells of Switzerland». In the next couple of years, Mrs. Stent continued to write letters to the Swiss Shortwave Service and reported her ongoing activities concerning the wagon with the flags and the bells. Remarkable is not only the fact that Mrs. Stent is a woman, when most of the archival sources that show the listeners’ views on radio were created by men. What is even more impressive here is that Mrs. Stent not only listened to international radio stations like SRI; she also interacted extensively
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with the radio station and managed to gain access to the audience research activities. The station was always looking for listeners’ feedback and inspiration for future programming, especially from places as far away as New Zealand.1
Fig. 1: Mrs. Stent and Nettie, 1955 (source: SRG SSR archives, Bern).
In this article I want to examine the reception of the Swiss Schortwave Service (renamed Swiss Radio International, SRI, as of 1978)2 and to take the perspective of the Swiss international radio’s audience members such as Mrs. Stent and others. I pose the following questions: How did listeners use the Swiss shortwave radio in their everyday lives and what reasons did they give for listening to it (listeners’ practices)? What associations and identity projections referring to their image of Switzerland are revealed in these practices? On the one hand, this article is about the effects of transnational radio; on the other hand, it is about its use and interpretation by the listeners. From a media anthropology perspective, this approach
1
KWD/SRI: KWD/SRI 1935–1998, Unternehmenskommunikation/Marketing [SRI 1935–1998, Corporate communications/Marketing], Mail from Mrs. Stent/New Zealand, 1953–55, SRG SSR archives, A 234-1699.
2
Swiss shortwave radio was founded in 1935 as an departement of the Swiss Broadcasting Corporation and would broadcast on shortwave until 2004, but also via satellite from the 1990s. The abbreviation SRI will be used henceforth in the article, referring to the Swiss Shortwave Service.
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is characterized by strong social-science aspects. It places the actors at the center of attention and examines their ways of dealing with media. It stresses the meaning of perception, imagination and emotion in human interactions with media. After briefly introducing my theoretical framework I will present some empirical data in the form of quotes from listeners’ letters to SRI stored in the radio archives. This will be followed by a short exploration of the perspective of the radio station’s audience researchers on the listeners. Finally, I will give a conclusion about the role of SRI as a symbol of friendship in the Cold War.
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AS CONSTRUCTIONS AND THE MEDIA ARCHIVE AS A SOURCE FOR ITS ANALYSIS
In order to analyze the discursive level of the use of Switzerland’s international radio station, I look at practices of its listeners, such as Mrs. Stent. By using gifts from the radio stations like the flags and the bells in her everyday life and declaring them as national symbols, she contributes to the construction of national identity (see Anderson 2005; Hall 1990). As Stuart Hall puts it: «Identity is not as transparent or unproblematic as we think […] we should think, instead, of identity as a ‹production›, which is never complete, always in process, and always constituted within, not outside, representation» (Hall 1990: 222). In the view of Mrs. Stent (as well as other listeners), Switzerland becomes a country that is associated with freedom, explicitly put in her words «the Freedom Bells of Switzerland». The media anthropologist Nick Couldry also dealt with the question of what people do with media in various situations and contexts and why they do it. Couldry suggests using practice theory to analyze media usage behavior. From this perspective, listening to the radio as such, a media practice can be a part of another practice and expresses certain needs: for example, the wish to be informed about what is happening in other countries, etc. In this way, people construct their image of the world using media. «In many cases, ‹media consumption› or ‹audiencing› can only be understood as part of a practice which is not itself ‹about› media: what practice this is depends on who we are describing and when» (Couldry 2010: 45). There are a lot of things to say about the historic time span upon which this study is focused. In the 1950s, World War II was still present in the collective memory of Western societies. At the same time, these countries experienced an economic upswing. The 1950s saw Rock’n‘Roll and petticoats; but also the war in Korea, the McCarthy era with its massive anticommunism in the USA, and an
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arms race in West and East without precedent; the strategy of atomic revenge culminated in a feeling of constant threat. According to Badenoch et al. (2013), transnational broadcasting in the Cold War was an instrument of understanding and reconciliation for its audiences; it was a perfect tool for peaceful ways of communication and cultural exchange. By receiving the cross-border signals and programmes, listeners had the opportunity on the one hand to obtain transnational information and to avoid national media and news monopolies. At the same time, radio producers could use their medium to portray and transmit the political attitude of the broadcasting country or its agreement with a certain ideology or approval of one of the two blocs: i.e. international radio stations as instruments of propaganda. «As such, broadcast technologies played a deeply ambiguous role within the Cold War – simultaneously as barrier and bridge-builder» (Badenoch et al 2013: 362). Is this assumption also true for a radio station of a politically neutral country like Switzerland? At what point between the two poles of barrier and bridgebuilder was SRI located? In the following analysis I will look at ‹Western› listeners from the early years of the Cold War, because that was the main group of listeners with which SRI was in contact, also due to censorship in the communist countries. In the archives of the Swiss Broadcasting Corporation in Bern, of which SRI was an enterprise unit,3 there are hardly any listeners’ letters from Soviet or socialist countries. Yet, all the listeners’ mail that found its way to the radio station, and later on also into its archive, is very well sorted and edited, so that one can reconstruct the radio staff’s view on the audience and also get an idea of which kind of feedback would be arriving at the station and was used to feed into the programming. These were especially those sorts of letters that emphasized the political neutrality and high quality of journalism at SRI, which perfectly aligned with the intended image and self-perception of the station.
3
After SRI had been closed down as a radio station and transformed into an online information service (swissinfo.ch) in 2004, the archival materials were transferred to the central archives of the general directorate of the Swiss Broadcasting Corporation (see also footnote 4).
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Fig. 2: Edited quotes from listeners’ letters in the SRI archives, 1959 (source: SRG SSR archives, Bern).
Figure 2 shows an example of my empirical data: a document from the archives of the Swiss Broadcasting Corporation (SRG SSR). It demonstrates that the original letters had not been archived. Instead, the radio staff took quotes from the letters and copied them into a newly edited document that contained different listeners’ voices. In this «collage», only name, date and place of residence of the author are noted. No other socio-demographic data are provided; the rest of the content of their letters is gone. Speaking about the listeners’ view in the following, one has to keep in mind that the archival materials have been pre-selected by the radio staff, whose criteria of choice remain in this case unknown.4
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Since the archives of the Swiss Broadcasting Corporation has never been a scientific archive and always had a shortage of space, it has not been documented what was kept
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E XAMPLES
FROM THE RADIO ARCHIVES : IDENTITY CONSTRUCTIONS IN LISTENERS ’ LETTERS In 1953, the International Short Wave Club (ISWC) 5 carried out a «Short Wave Station Popularity Vote». Shortwave listeners were asked to vote for their favorite international radio station. SRI was ranked third, after the BBC Overseas Service (first) and Radio Australia (second). The listeners were also invited to write a few lines about the reasons for their choices. The authors of the six best letters were selected and won prizes. Two of them wrote about SRI; one of them was Peter B. from Bristol, England. He wrote: «I prefer the Swiss Short Wave Service because their programmes are free from political propaganda and are very educational and informative. The broadcasts are well balanced, while their musical features are designed to suit all tastes.»6
In a more flowery way Harold B. from Dunedin, New Zealand, expressed his thoughts: «I had no trouble in deciding that the Swiss Broadcasting Corporation deserved first place, even without counting the number of times I listen. Switzerland fascinates me; its gay, lilting folk melodies pleases me more than most music, its achievements in science, politics and agriculture made among the towering mountains demand my respect and the sight of the rugged grandeur of its beautiful mountains reflected in the Alpine lakes is my ambition. It is this interest that makes me enjoy Swiss programmes to a certain extent and the music completes my enjoyment.»7
and what was disposed of. According to a member of staff at the archive today, the sources were randomly chosen or were returned by individual staff members who gave them back to the archive when they retired after having kept them in their offices. Special items like the photos and letters from Mrs. Stent were stored because of their scarcity value. 5
The International Short Wave Club was the first all-shortwave broadcast DX club. It was organized by amateur radio pioneers 1929 in Klondike, Ohio. The ISWC operated for more than three decades (see: https://www.americanradiohistory.com/InternationalShort-Wave-Club.htm, accessed Sept. 2, 2018).
6
KWD: September 1953: Short Wave Station Popularity Vote, SRG SSR archives, A 233.2-003, p. 2.
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Ibid.
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Fig. 3: Cover of the ISWC magazine, 1942 (source: SRG SSR archives, Bern).
The statements reflect an opinion which can be found in many other letters to SRI and which must be situated in the context of the Cold War and the belief in the neutrality of Swiss journalism. In another letter, a listener from New York wrote: «I think your international opinion and your comments are the very best. Living here in the United States you can easily realize which side of the ‘Iron Curtain’ I am on. But being able to hear the English-speaking transmissions of Radio Moscow as well as our own, you can
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easily understand how much I would appreciate your comments and opinions as they are coming from a neutral country.»8
In 1958, another American listener wrote: «In these times when the international situation may change overnight I certainly look forward to listening to your ‘Foreign Affairs’. I think these programmes have some very fine commentaries.»9
And a German-speaking listener from Brazil wrote in 1959 that he particularly liked the calm and «factual» [sachlich] reporting of SRI, especially in times of crisis. He liked the Swiss’s «reassuring objectivity, without any embellishments or sensationalism».10 While praising the peace-building role of international radio and the neutrality of SRI, the letters at the same time assume the Cold War rhetoric and block thinking. By opposing a dictatorial communism to a democratic capitalism, they rarely question the Western viewpoint or its actions and, thus, confirm and manifest the conflict and a bipolar world view. In these quotes, the advantages of the Swiss shortwave radio are neutral news coverage, diverse musical styles, social performance and beautiful landscapes. Similar reasons for liking SRI can be found in nearly all of the archived documents. They refer to positive associations with Switzerland as a country and highlight political values like democracy and neutrality, but also to its culture and its nature – both seen as beautiful and genuine. Personal interests in the country also play a role in the positive assessments of SRI’s radio programmes, as well as pictures that come to the listeners’ minds: radio is never only sound, it comes together with images – real ones such as those in the programme schedules, as well as imagined ones.
8
KWD: Presseausschnitte 1947 [SRI Press review, extracts 1947], SRG SSR archives, A 233.4-003).
9
KWD: Dokumentation über die Hörerreaktionen auf die Sendungen des Schweizerischen Kurzwellendienstes [Documentation of the listeners’ reactions to the programmes of the Swiss Shortwave Service], SRG SSR archives, A 234-022, p. 7.
10 Ibid.
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DIGRESSION : THE IMAGE OF THE LISTENER AT
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SRI
According to the SRI listener statistics from 1958, the radio station received 25,000 letters from listeners that year, coming from 101 countries across all continents11. Most of the senders lived in the United States and Canada (more than one fifth of all letters originated there), followed by Spain, Sweden, Great Britain and Italy. It indicates in a report attached to the statistics that 90 per cent of the listeners were very satisfied and only 2 per cent unsatisfied. SRI estimated that 90 per cent of their audience did not have a personal relation with Switzerland, i.e. were neither Swiss expats nor their descendants. There were, according to SRI, three major groups of listeners.12 Firstly, listeners who used shortwave radio to follow technical hobbies such as DXing.13 Secondly, listeners whose interest stemmed from a professional interest, as in the case of journalists and diplomats. Referred to as opinion leaders, they were seen as the most important listeners for promoting national interests abroad but hardly ever wrote letters to SRI. Sometimes, it says in SRI document, one would meet them at international conferences, where they would express their appreciation for the news programmes of SRI. This group of opinion leaders was the crucial target audience for SRI, and they worked hard in order not to disappoint them. This was a tough job because the needs of this influential group stood in contradiction to the needs of the third and also biggest of the major audience groups in terms of size: the listeners who listened for personal reasons. This was a very heterogeneous group including «arm-chair travelers» as well as people who had travelled extensively or were planning to travel and were therefore interested in other countries. At the same time, the audience also included people who longed for a change to their usual national commercial radio programmes, especially in the USA. Another part of this third group of listeners were people for whom the radio had become an important part of their lives. As SRI put it, these people were
11 According to SRI, other international radio stations of similar size received the following numbers of listeners’ letters: Canada 22,000 letters, Holland 28,000 letters, Federal Republic of Germany 18,000 letters. 12 The following quotes are taken from an archival source from SRI with the title «The English Broadcasts of the Swiss Shortwave Service. Its tasks and problems», approximately from the 1950s. Original document in German; translated by F. Jones. 13 DXing is the hobby of receiving and identifying distant radio signals, or making twoway radio contact with distant stations in amateur radio. Many DXers also attempt to obtain written verifications of reception or contact, referred to as «QSLs». The name of the hobby comes from DX, telegraphic shorthand for «distance» or «distant».
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«[…] notorious letter writers and record wishers whose main concern is to find letters with a foreign postmark in their mailbox as often as possible or to hear their name on the international radio waves.»14
Last but not least, SRI also counted lonely people among the third group, i.e. listeners who seek company or a connection to society through the radio: «We have to carry out a human duty to these people that reaches beyond all national interests.»15 In the view of SRI, these listeners may not have been very important in terms of their intellect, but for the goodwill towards Switzerland that they radiate, they are meaningful for the country. SRI dedicated request programmes, listeners’ mail programmes and other programmes in a popular style to them.16 These sources show that not only did the listeners use the radio and were affected by it; it also worked in the reverse direction as well: the listenership also had effects on the radio programming and its philosophy and was used to legitimate the existence of the station. The third group described above – «listeners for personal reasons» – is best portrayed in the archive and shall be looked at in greater detail.
M EDIA PRACTICES
AROUND THE S WISS SHORTWAVE SERVICE AS A FORM OF ACCESS TO A TRANSNATIONAL COMMUNITY Listeners often refer in their mails to the motive of friendship, as the following quotes from the 1950s illustrate. One listener from Meadville, Pennsylvania/USA wrote that he had often received the Swiss shortwave radio during World War II. After a long break he had recently tuned in again: «It was almost like finding a long lost friend. […] A friend of mine, also of Meadville, has a relative living in your country and we frequently talk about listening to your programmes.»17
14 KWD: Das englische Programm des Schweiz. Kurzwellensenders [The English programme of the Swiss Shortwave Service], SRG SSR archives, A 231.2-011, p. 3. 15 Ibid. 16 Cf. ibid. 17 KWD: Auszüge aus Hörerbriefen im 1. Halbjahr 1953 [Extracts from listeners’ letters, 1st half year, 1953], SRG SSR archives, A 233.2-003, p. 2.
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Here, listening to SRI is like «finding a long lost friend», but also serves as a mutual hobby and a topic of conversation between two friends and hence strengthens social relations in «real», i.e. face-to-face life. Similar processes happened in listeners’ clubs. Here, mostly teenagers and young adults collected money to buy a high-quality shortwave receiver and gathered around it to listen to international radio stations together. It was also common practice that listeners would ask SRI to organize pen-friendships between listeners. One listener from Colombo, Ceylon (today Sri Lanka) who used to cut out and frame the pictures of Swiss landscapes from the SRI’s programme schedule wrote: «I have had a keen interest in listening to foreign stations like Switzerland and the Scandinavian countries […] because they broadcast better and healthy music than even our home service.»18
And another listener from Wellington, New Zealand wrote: «I have learnt a great deal about your own country just by listening to your stations. It most certainly helps people to get to know something about other peoples’ countries.» 19 The interest in entertainment and music had a big influence on listening habits and the preferential use of some radio stations compared to others. Also, the setting of reception had an influence on the choice of the station, i.e. it mattered if you listened alone or in a group, for example with your family. One Australian listener wrote that he would listen to SRI together with his wife and his little daughter, because he saw in the Swiss station a welcome break from Australian radio programmes. Another listener from Oranjestad in Netherlands Antilles (Caribbean) said that his children loved the musical features of the Swiss international radio, in particular Swiss folk music, and that they tried to make him switch on the radio by asking «Paps, what about Switzerland tonight?»20 Another radio-family has the motto «Don’t miss the Swiss!»21 Some listeners even developed a kind of informal relationship with the staff of SRI. It happened frequently that listeners stopped at the studio while travelling through Switzerland to meet the presenters personally.
18 Ibid., p. 3. 19 Ibid., p. 2. 20 Ibid., p. 7. 21 KWD: Dokumentation über die Hörerreaktionen auf die Sendungen des Schweizerischen Kurzwellendienstes [Documentation of the listeners’ reactions to the programmes of the Swiss Shortwave Service], SRG SSR archives, A 234-022, p. 5.
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The ingredients for the Swiss shortwave station’s recipe for success in the 1950s were, one the one hand, external factors like the tense international political situation and the listeners’ need for information and entertainment from abroad. On the other hand, internal factors like the style of their programmes, especially the combination of Swiss popular and folk music, news and documentaries, were also important. However, when reading through the listeners’ mail one gets the impression that the decisive element that made SRI so popular was the positive image of Switzerland. It combined a politically neutral impression with a rational, matter-of-fact image and hence was popular in the crisis-ridden middle of the twentieth century. The Swiss shortwave radio gave the listeners a feeling of reliability that was influenced and vice versa influenced itself the goodwill towards the country. SRI delivered an informative and supposedly balanced overview of world affairs in its news programmes; in the features, documentaries and music programmes it created an opportunity to swap reality for the world of a – formulated to the extreme – peaceful and stable little country with beautiful music and old customs in impressive landscapes.22 Moreover, the strong and vivid interactions between listeners and producers in the form of mail and personal visits encouraged the trust and the emotional charge in the relationship to SRI. This sympathy towards the radio station was transferred to Switzerland as a whole.
C ONCLUSION :
THE S WISS S HORTWAVE S ERVICE AS SYMBOL OF FRIENDSHIP IN THE C OLD W AR ?
Based on the analysis of listeners’ mail and other archive material, this article has given an impression of the media practices of the listenership of SRI in the midtwentieth century. The practice-theoretical approach (Couldry 2010; Postill 2010) stressed how people handle media and thus revealed meanings and functions of human media interaction in different situations and contexts. The analysis showed that certain identities are projected on SRI and Switzerland as a whole. It becomes
22 Swiss media scholar Tanja Hackenbruch described the transfer of the recipient in a reality created by media as «medial reality transfer» [medialer Wirklichkeitstransfer]. Using this concept one assumes that the recipient, or here the radio listener, in this phase of media usage transfers his reality to the reality of the medium. This can have various effects on his primary reality. These effects are individually and situational different. This approach differs from the common understanding in media studies that the reception of a message is an absorption of meaning (Hackenbruch 2007: 7).
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clear that the practice of shortwave listening, especially at a time of international crises, was an expression of the need for world peace and understanding, yet also the attempt to participate in a culture of transnational communication. At the same time it can also be observed that the listeners received the SRI broadcasts in a relatively uncritical way and transferred their positive listening impression to Switzerland as a whole. In doing so, the heterogeneous transnational shortwave audience constructed a rather homogenous national identity of an idealized sending nation, which was mirrored both in the archival sources and the radio programmes of SRI. The analysis of the archived listeners’ mail also shows that the reception of SRI was part of an ensemble of everyday media practices and can be described and reconstructed as such. It consisted of different acts such as writing letters, taking pictures, looking for the stations, listening to a programme in a group of people or alone, reading the programme schedule, etc. The listeners used the medium of shortwave radio to get an idea of the world, to create imaginations of this planet. International radio stations generated a new awareness and impression of the world that was marked by a feeling of simultaneity and connectedness of living environments in different places on Earth. Listeners participated through their (in some cases lonely) media practices in a transnational community that consisted of radio listeners and producers. Hence one can understand the use of international radio stations as an attempt to participate in this transnational culture. However, in the case of SRI, using international radio stations also led to the conformation of certain, sometimes all too narrow, images of Switzerland. In the listeners’ choice and the valuation of the radio stations they expressed national stereotypes as well as political and cultural moral values that led them to prefer some stations to others. These evaluations are, on the one hand, the results of the broadcasts but are also influenced to a great extent by ways of thinking and national stereotypes that had been internalized before the act of listening. The way of perceiving international radio is therefore shaped by the actual broadcasts as well as by moral concepts of nation, culture and space held by the listeners. The Swiss international radio was a knowledge resource and a projection surface for the values and ideals of the people interacting with it. At the same time the listeners also affected the self-conception of SRI enormously. The listeners’ image of the station and the wish as well as the existential necessity to please also contributed to the construction of a certain programming strategy and thus to an image of Switzerland in international radio. By generating intensive contact to its listeners, SRI reinforced the good will towards Switzerland abroad. Every single letter received an answer. This mutual interest in communication away from the
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radio programming itself led to a loyal listenership. Looking at the media practices of its listeners, was SRI a barrier or a bridge-builder? The answer is: most likely a balancer that had calming effects. SRI as an example of an international radio station was to some extent a «symbol of friendship» between the people of the world, as Mrs. Stent put it. But it was certainly a bridge-builder between the world and Switzerland.
R EFERENCES Archival sources SRG SSR archives, Berne (Swiss Broadcasting Corporation, archives of the general directorate) - Collection KWD/SRI 1935–1998 – Unternehmenskommunikation/Marketing [SRI 1935–1998 – Corporate communications/Marketing]. - Dokumentation über die Hörerreaktionen des Schweizerischen Kurzwellendienstes [Documentation of the listeners’ reactions to the programmes of the Swiss Shortwave Service], KWD 1959, Box A 43/2. - September 1953: Short Wave Station Popularity Vote, KWD 1953, Box A 18/15. - Auszüge aus Hörerbriefen im 1. Halbjahr 1953 [Extracts from listeners’ letters, 1st half year, 1953], KWD 1953, Box A 18/15. - Das englische Programm des KWD [The English programme of the Swiss Shortwave Service], KWD (undat.), Box A 47/1.
References cited Anderson, Benedict (2005): Die Erfindung der Nation: Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. 2nd extended edition. Frankfurt a.M.: Campus. Badenoch, Alexander/Andreas Fickers/Christian Henrich-Franke (2013): Broadcasting and the Cold War: Some Preliminary Results. In: Alexander Badenoch/Andreas Fickers/Christian Henrich-Franke, eds.: Airy Curtains in the European Ether: Broadcasting and the Cold War. Baden-Baden: Nomos, 361–373. Couldry, Nick (2010): Theorising media as practice. In: Birgit Bräuchler/John Postill, eds.: Theorising Media and Practice. New York: Berghahn, 35–54.
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Hackenbruch, Tanja (2007): Menschen im medialen Wirklichkeitstransfer. Eine theoretische Betrachtung der Versetzung der Rezipienten in die durch die Medien geschaffene Wirklichkeit. Bern: Stämpfli. Hall, Stuart (1990): Cultural Identity and Diaspora. In: Jonathan Rutherford, ed.: Identity: Community, Culture, Difference. London: Lawrence & Wishart, 222–237. Lebendige Traditionen (undat.): L’esprit de Genève (Spirit of Geneva). Die lebendigen Traditionen der Schweiz [The Living Traditions of Switzerland], http://www.lebendige-traditionen.ch/traditionen/00126/index.html?lang=de, June 1, 2016. Postill, John (2010): Introduction: Theorising Media and Practice. In: Birgit Bräuchler/John Postill, eds.: Theorising Media and Practice. New York: Berghahn, 1–32.
Zur Strategie und Intermedialität von Netzidentitäten Radioauftritte in sozialen Medien am Beispiel von SWR3 auf Facebook T HOMAS W ILKE
Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit dem Zusammenhang von Radio und sozialen Medien, insbesondere Facebook. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass sich Radio unter den Bedingungen der Digitalisierung verändert und im World Wide Web eigenständig Räume besetzt, beispielsweise in Form von Webseiten oder Profilen in sozialen Medien. Der Beitrag untersucht, wie diese Auftritte inhaltlich, kommunikativ und auch ästhetisch gestaltet sind, ob sie als eine Fortführung des Radiosenders bzw. des Radioprogramms betrachtet werden können oder ob es sich hierbei um eine eigenständige Form handelt, die unter der Marke des jeweiligen Radios auftritt. Anhand einer Fallstudie werden Dimensionen der Problematisierung, der theoretischen und methodischen Fokussierung sowie des operationalisierbaren Forschungsdesigns exemplarisch diskutiert. Gegenwärtig ist es nicht nur ein Gemeinplatz, sondern nahezu selbstverständlich, dass die Offline-Existenz an eine Online-Präsenz gekoppelt ist, sei es bei Privatpersonen, Firmen, Organisationen oder staatlichen Institutionen, ja die Dichotomie zwischen Offline und Online gänzlich aufgegeben wird. Prominent ist das beispielsweise in der Digitalen Agenda 2014‒2017 der Bundesregierung (2014: 5) formuliert: «Ein Gegensatz zwischen ‹realer› und ‹virtueller› Welt existiert nicht. Die Digitalisierung verschafft dem Leben vielmehr eine zusätzliche Dimension.» Diese Netz-Präsenz ist mittlerweile vielgestaltig und kann nach wie vor die Webseite sein, aber auch der Twitter-Account, der YouTube-Kanal, Mailkontakt oder eben soziale Medien wie Facebook, Instagram oder Snapchat. Das findet sich auch in der Radiolandschaft wieder.
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Der folgende Beitrag wird von einer scheinbar einfachen Frage geleitet: Was macht das Radio im Netz? Die sich daraus ergebenden Überlegungen lassen es notwendig erscheinen, diesen Zusammenhang stärker in die Forschung einzubeziehen. Insbesondere in der deutschen Radioforschung wurden bei einem solchen Zuschnitt bislang entweder stärker die Nutzer und ihre sich ändernden Gewohnheiten (vgl. Schröter 2016, Mende 2011) fokussiert, explorativ die Chancen des digitalen Hörfunks (vgl. Klingler/Kutteroff 2011), die Anmutung des Radios (vgl. Bose/Föllmer 2015) oder die technologische Dimension hinsichtlich Digital Audio Broadcasting (DAB), Podcasts und Streaming-Angeboten (vgl. ALM 2013).1 Dabei schieben sich in der Argumentation und Darstellung im Wesentlichen zwei Aspekte in den Vordergrund: eine Verhältnisbestimmung des Radios im medialen Zusammenspiel und die sich verändernden Anforderungen an das Radio durch die Digitalisierung. Neben der Relevanz derartiger Forschungsperspektiven ist im deutschsprachigen Raum – im Gegensatz zum anglophonen Bereich – bisher kaum die Verbindung von Radio, sozialen Medien und der sich daraus ergebenden möglichen Veränderungen des Radios an sich in den Blick geraten (vgl. Bade 2009). Insbesondere unter Berücksichtigung so genannter Netzwerkeffekte erscheint dies durch eine entgrenzte Veralltäglichung von Facebook, des Monopolisten sozialer Medien, von Interesse. Die Rückbindung an die einleitende Frage verliert sich somit nicht in einer Beschreibung allgemeinen ‹Radio-Machens›, das über eine phänomenale Beschreibung zur Faktizität gerinnt. Sehr viel stärker konzentriert sich die Frage im Folgenden auf eine Charakteristik des Radios, das sich in sozialen Medien im Allgemeinen und auf Facebook im Besonderen präsentiert und – so die Vermutung – eine Erweiterung und damit eine substantielle Veränderung erfährt. So wird im Folgenden zuerst kursorisch die Radionutzung mit einem starken Bezug auf Deutschland dargestellt, um dann den Bezug zu sozialen Medien im Allgemeinen und zu Facebook im Besonderen herzustellen und dies dann anhand eines konkreten Beispiels zu veranschaulichen und mit Blick auf Kommunikationsstrategien entsprechend zu kontextualisieren.
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Dass gleichwohl international der Zusammenhang gerade von Praktikern als evident betrachtet wird, zeigt die Konferenz «Radio Asia 2013», die unter dem Motto «Radio and Social Media: Where to next» stand. Vgl. hierzu Man (2013), für den amerikanischen Bereich exemplarisch Ramsey (2014), für die europäische Radioforschung in Bezug auf digitalen Radiocontent Gazi/Starkey/Jedrzejwski (2011).
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OFFLINE / ONLINE
Radio gehört als Tagesbegleiter auch noch 2015 neben dem Fernsehen zum reichweitenstärksten und am häufigsten genutzten Medium. Knapp drei Viertel der Deutschen zwischen 14 und 29 Jahren hörten durchschnittlich 137 Minuten Radio am Tag (vgl. Klingler/Feierabend/Turecek 2015, sowie im Langzeitvergleich Feierabend/Klingler/Turecek 2016). Dabei ist Spaß das Top-Motiv, gefolgt von Information, Entspannung und Gewohnheit (vgl. Engel/Bräunig 2015: 313f.; ebenso verstärkend Gattringer/Klingler 2015). Die Studien weisen eindrücklich darauf hin, dass dies keine singuläre Mediennutzung darstellt, sondern dass es durchaus normal ist, mehrere Medien gleichzeitig zu nutzen. Radio überrascht als Stimmungsmanager bspw. durch Musik, es orientiert als Informations- und ServiceInstrument im Alltag und begleitet durch diesen. Nachhörfunktionen und zusätzliche (Kommunikations-)Angebote auf den Webseiten oder im Social-Media-Bereich der Radiosender verweisen auf eine parallele, zeitlich entkoppelte sowie entbündelte Nutzungskombination von Radioinhalten. Die Entbündelung des Programms und das zeitversetzte Nachhören einzelner Beiträge werden zum Bestandteil des Hörfunkangebots. Das Internet nutzen der ARD/ZDF-Online-Studie 2015 zufolge (vgl. Frees/ Koch 2015: 366ff.) mittlerweile knapp 80 Prozent der Deutschen über 14 Jahren zumindest gelegentlich. 63 Prozent nutzen es täglich durchschnittlich 158 Minuten. Dabei ist die Altersgruppe der 14- bis 49-jährigen überdurchschnittlich stark vertreten. Und so nimmt es auch nicht wunder, dass für 43 Prozent das Internet zu einem alltäglichen Begleiter geworden und für 15 Prozent das Internet auch unterwegs unverzichtbar ist, Tendenz steigend. In der Studie werden verschiedene Onlinetätigkeiten in folgende Kategorien unterteilt: Informationssuche, Kommunikation, Mediennutzung, Transaktionen und Spielen. Diese unterliegen diversen Binnendifferenzierungen. So zählen das Aufsuchen von Blogs sowie der Konsum von Informationen via Radio zur Mediennutzung, die gezielte Suche danach in die Kategorie Informationssuche, die Facebook-Nutzung zählt zur Kategorie Kommunikation. Auch wenn die regelmäßige Nutzung von Facebook 2015 auf 34 Prozent um fünf Prozentpunkte abgenommen hat, sind derzeit noch 22 Prozent der Online-Nutzer täglich bei Facebook, 61 Prozent mindestens einmal wöchentlich. In ihrer täglichen Nutzung verwenden die 14- bis 29-jährigen 98 Minuten ihrer Online-Zeit für Kommunikation, zu denen eben neben dem Schreiben und Lesen von E-Mails auch Social-Media-Angebote zählen, für die Gruppe der 30- bis 39jährigen sind es 68 Minuten. Audio, Radio und Streaming gewinnen bei der Internetnutzung zunehmend an Bedeutung (vgl. Koch/Schröter 2015: 392ff.). Die Gründe sind vielfältig und auf
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verschiedenen Ebenen angesiedelt: Erstens machen Musikplattformen und Streamingdienste wie Soundcloud oder Spotify ein großes Volumen an Musik zugänglich, sie bündeln und strukturieren Audio- und Radioinhalte. Die Geräteherstellung ist, zweitens, von einer größeren Varianz und Marktdurchdringung geprägt, und drittens spielt der Ausbau der Distributionswege eine nicht zu unterschätzende Rolle.2 Radio wird auch 2015 hauptsächlich nicht über das Internet gehört. Dabei dominieren die klassischen UKW-Programme, trotz der neuen Nutzungsmöglichkeiten und Angebote über oder im Netz. Ein Großteil der Radionutzung im Internet entfällt auf Simulcast-Sender, also UKW-Sender, die das Internet als zusätzlichen Distributionsweg nutzen und dort das gleiche Programm zeitgleich ausstrahlen. Nur 24 Prozent nutzen Web-only-Radioangebote.3 Aus diesen Zahlen wird deutlich, dass die Position des Radios innerhalb der massenmedialen Kommunikation eine unangefochtene Relevanz hat und sich die Nutzungsgewohnheiten trotz der Digitalisierung, der Diffusion des Internets und Veralltäglichung seiner Nutzung in Bezug auf das Radiohören nicht grundlegend gewandelt haben. Unbenommen davon verändert sich die Wahrnehmung des Radios durch die vielfältige Webpräsenz. Diese intermediale Dimension wurde bisher in der qualitativen medienwissenschaftlichen Forschung nur unzureichend berücksichtigt. Es ist davon auszugehen, dass diese komplexe Entwicklung hinsichtlich der Kommunikation, der Interaktivität, der Partizipation, der Orientierung, der Identifikation, der intermedialen Verschränkung und der Reputation von Institutionen und Unternehmen im Zusammenhang mit Social Media über die Experimentierphase hinaus noch nicht abgeschlossen ist, insbesondere mit Blick auf zunehmende Ökonomisierungsprozesse.
2
Der Audio-Nettowert liegt bei der Gesamtbevölkerung ab 14 Jahren (inklusive der Offliner) 2015 bei 13 Prozent, wonach rund drei Millionen Menschen täglich Radio, Musikdateien und Streamingdienste online nutzen. In der Gruppe der 14- bis 29-jährigen hören 35 Prozent täglich Audioangebote im Netz, dabei liegt der Fokus auf der eigenen Musik (vgl. Koch/Schröter 2015: 392ff.).
3
Vgl. Koch/Frees (2015: 378). Dabei kommt die Studie von Gattringer/Klingler (2015: 397 f.) zu dem Schluss, dass «gleichzeitig [...] Audios von Radiosendungen auf einer täglichen Basis nicht genutzt werden (gerundete 0 % 2014 und 2015). Daraus lässt sich auf eine geringe tägliche Relevanz des Nachhörens von Radiosendungen (außerhalb des Formats Podcast) schließen, die auf einer wöchentlichen Ebene mit 4 Prozent durchaus gegeben ist.»
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R ADIO UND SOZIALE M EDIEN (F ACEBOOK ) 2015 verliert Facebook in Deutschland zwar fünf Prozentpunkte und sinkt auf 34 Prozent Verbreitung bei den über 14-Jährigen, bleibt jedoch die führende soziale Plattform. Facebook beansprucht für sich eine weltweite Verbreitung und schafft sein soziales und wirtschaftliches Kapital über eine konstante Datengenerierung sowie kontrollierte Datenflüsse (vgl. Gerlitz 2011). Gerlitz argumentiert im Zusammenhang von digitalem Raum und Wertschöpfung, «dass die entstehende Like Economy eine performative Wechselbeziehung zwischen digitalen Räumen, sozialer Interaktion und Datenerhebung schafft» (ebd., 102). Das geht nur, wenn die Rahmenbedingungen (für die digitalen Räume, die soziale Interaktion, die Datenerhebung) in den Blick genommen werden, die Inhalte und das Nutzerverhalten. Der jeweilige Radiosender betritt Facebook in der gleichen Art und Weise wie der Hörer oder die Hörerin. Man kann ihn als potenziell gleichberechtigten Kommunikationsteilnehmer betrachten, indem ihm das gleiche ästhetische Gestaltungsset und die gleichen Kommunikationsmittel zur Verfügung stehen. Auch wenn die Unterscheidung zwischen persönlichen und institutionellen Profilen unstrittig ist, ergibt sich eine strukturelle Ähnlichkeit durch Bilder, Beiträge, Verlinkungen, Freunde etc. zu den Auftritten anderer Profile, die in ihrer Direktheit vom Status her auf eine formale Gleichberechtigung schließen lässt. Im Vordergrund steht nicht eine wie auch immer geartete subjektive Präsentation wie bei privaten Profilen, sondern sehr viel stärker eine Identifikation durch Repräsentation. Radiosender nutzen demnach durch das bestehende Offline-Corporate-Design Farben, Slogans, Bilder, um sich als Radiosender positionieren zu können, um sich identifizierbar und damit wiedererkennbar zu machen. Das stößt allerdings an Grenzen und unterliegt Einschränkungen, denn der Hauptidentifikationsrahmen ist beim Radio auditiv angelegt: der Sound, die Ansprechhaltung der Moderatoren und Moderatorinnen, die Sprache, die Musikauswahl, Spots, Jingles, Brands etc. (vgl. Föllmer 2013). Die auditive Ebene des Radios ist in den sozialen Medien in ihrer Übertragbarkeit eingeschränkt, wenn es über die Einbindung von Videos aus der Redaktion oder weiterführende Links hinausgeht. Ebenso entsteht eine Diskrepanz in der Wahrnehmung der Radiosender, vergleicht man das ‹reine› Hören mit der visuellen Erscheinungsweise durch Slogans, Schriftbild sowie Schriftgrößen. Insbesondere die in das Profil eingebundenen senderbezogenen Videos müssen zwangsläufig in ihrer Ansprechhaltung und der Corporate Identity (CI) pars pro toto den jeweiligen Sender repräsentieren bzw. auditive Defizite kompensieren oder Inhalte erweitern. Hier entsteht zwingend ein Transformationsprozess, der aus einer bestehenden Hörerbindung eine ‹Community aus Followern› werden
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lässt, die stärker der Eigenlogik sozialer Medien verhaftet ist, als der Bindung an das Radioprogramm. Die Hörerbindung wird damit nicht aufgelöst oder relativiert, vielmehr ist zunächst zu vermuten, dass sie durch den andersartigen Charakter im Sinne einer partizipativen Wahrnehmung tendenziell verstärkt wird. Wenn dem so ist, dann unterscheidet sich auch im Vergleich und in der Grundsubstanz der Inhalt des Gesendeten im Radio vom Content des online Geposteten: «They [die geposteten Beiträge – TW] are all, in their own way, remarkable content. They are ‹unique and compelling›. They are also ‹highlights› designed to exist on their own in any context that carries or embeds them. They are not a ‹tease›, they are not a ‹contest›, they are not a long-form ‹podcast›, they are not a ‹promo›, they are not an ‹ad›, they are not a part of a larger whole. They are self contained content chunks. They are content as marketing and marketing as content.» (Ramsey 2014, o.S.)
Dem Medienberater und Blogger Mark Ramsey folgend, besteht hier die notwendige Unterscheidung zwischen eigenständig verfasstem und redaktionell betreutem Content. Zwar ist der Call-In während einer Radiosendung durchaus ebenso als Content zu betrachten, diesem vorgeschaltet ist jedoch ein redaktioneller Prozess sowie eine Auseinandersetzung in situ, die gegebenenfalls vom Moderator auch wieder abgebrochen werden kann. Reaktionen darauf unterliegen ebenso einem Redaktionsprozess und sind linear in die verfügbare Sendezeit integriert. In einem solchen Sinne führt das dazu, dass auf Facebook niedrigschwellig zwar über radiophone Inhalte, Personen, Ereignisse oder Musik ‹gesprochen› wird, die Inhalte selbst letztlich aber nur im Radio im Set der dafür notwendigen Bedingungen gesendet werden (können). Radiokommunikation im Internet bzw. in sozialen Medien – nicht zu verwechseln mit Radiohören über das Internet – wäre demnach ereignishafte Metakommunikation und so in einer Content-Marketing-Logik nicht mehr einem Redaktionsprozess unterworfen, dieser würde sich bei einem Transfer in eine Sendung erst im Anschluss ergeben. Kommunikate werden zu Kommunikationsereignissen, die wiederum einen Anlass zur Anschlusskommunikation in Bezug auf das Ereignis oder auf bereits erfolgte Kommentare geben. Zu differenzieren wäre dann zwischen einem kommunizierbaren und einem sendefähigen Inhalt. Während radiophoner Content auf Facebook von den Radioseitenbetreibern mit der Community diskutiert werden kann, ist Facebook-Content nicht per se sendefähig oder kompatibel, sei es aus Gründen der fehlenden Hintergrundrecherche, der Ansprechhaltung, der Themenselektion. 4 Insofern stellt die FacebookSeite auch keinen Rückkanal des Radios im Brecht’schen Sinne dar, sondern weist
4
Vgl. hierzu aktuell Stefan Primbs (2016).
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eine Eigenständigkeit auf, die im besten Falle inhaltliche Kopplungen zum laufenden Programm zur Folge hat. Eine solche dreidimensionale Kopplung ist als wechselseitig ausgerichtet zu verstehen, indem erstens das laufende Programm Kommunikate für das Netz initiiert und diese dann wiederum aufgreift, wie beispielsweise die langjährige Show «Mysputnik.de» auf MDR Sputnik. Zweitens kann die Netzkommunikation ereignishaft dem Radioprogramm nachgeordnet sein, indem dynamisch auf Radiogeschehen reagiert und dieses erweitert wird und beispielsweise themenorientiert Diskussionsplattformen oder Zusatzmaterialien angeboten werden. In einer dritten Kopplung reagiert das Radio auf Kommunikate aus dem Netz bzw. aus den sozialen Medien begleitend.
E INE F ALLSTUDIE : SWR3 IN B ADEN W ÜRTTEMBERG IM V ERGLEICH Im Folgenden werden anhand des öffentlich-rechtlichen Senders SWR3 einzelne theoretisch diskutierte Aspekte exemplifiziert. Die reichweitenstärksten Sender in Baden-Württemberg 2015 sind laut der Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse für den Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk der SWR3 (25,4 Prozent) und für den Privaten Rundfunk Antenne 1 bzw. Radio Regenbogen (beide 8,2 Prozent), der Jugendsender des SWR DasDing erreicht 3,1 Prozent, die landesweite private Jugendwelle BigFM Der neue Beat (7,2 Prozent; vgl. AGMA). Die Facebook-Likes der Sender unterscheiden sich im Vergleich zur Reichweite ganz wesentlich: Die SWR3-Seite verzeichnet 295.071 Likes, Antenne1 82.636 Likes, DasDing 189.493 Likes und BigFM insgesamt 426.208 Likes (Stand: 19.9.2017). Die Einbindung von Bildern, Videos und Video-Streams auf den Webseiten von Radiosendern ist mittlerweile eher als Standard denn als Ausnahme zu betrachten. Gleichwohl wurde 2015 das «Visual-Radio»-Konzept des SWRJugendsenders DasDing für den Deutschen Radiopreis als innovatives Konzept nominiert. Hierbei kann auf der Webseite das Studio per Webcam in Echtzeit beobachtet werden, Platten/CD-Cover werden eingeblendet, mehrere Kameras bieten unterschiedliche Perspektiven des Studios, der Moderatoren und der Gäste, und schließlich ist das Tages-Update mit O-Tönen und aktuellen Informationen aus der Musikwelt als Video auf der Facebook-Seite abrufbar. Ähnliche Features bietet auch die Webseite von SWR3 als ein klassisches One-to-Many-Angebot, indem redaktionell aufbereitete aktuelle Informationen, Service und Unterhaltung als Text, Bild und Video abgerufen werden können. Bei der wochentags von 13– 15 Uhr stattfindenden Visual Radio Show sind zudem Kommentare möglich. Die
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Partizipationsangebote und -möglichkeiten für die Hörer_Innen halten sich gleichwohl in Grenzen, und letztlich ist das Webseitenangebot von SWR3 ein SimulcastAngebot, über das das laufende Programm online gehört werden kann (Abb. 1).
Abb. 1: Screenshot SWR3-Webseite (17.2.2016, 14.26 Uhr).
Gänzlich anders verhält es sich mit der Facebook-Präsenz von SWR3, die sich nicht nur auf eine Seite beschränkt, sondern eine Hauptseite des Senders aufweist. Des Weiteren gibt es eine Facebook-Seite SWR3 «Musik», eine Seite SWR3 «Band» und eine Seite SWR3 «Eilmeldung». Die Eilmeldungsseite scheint in Bezug auf die Aktualisierungsfrequenz nicht besonders produktiv. Das kann daran liegen, dass der gleichnamige Twitter-Account sehr viel stärker frequentiert ist, was die Posts und die Follower (30-fache Anzahl) anbelangt. Aber auch hier gibt es gravierende Unterschiede zum Twitter-Account des Senders, der sich nicht auf Meldungen im Sinne von Nachrichten kapriziert, sondern auf unterhaltsame Meldungen oder Verkehrsnachrichten. Die Twitter-Aktivitäten wurden für die folgende Fallstudie nicht erfasst. Zu erwähnen ist noch der Youtube-Kanal von SWR3, der im eigenen Corporate Design ebenfalls anlassbezogen und unregelmäßig Videos einstellt. Darüber hinaus sind einzelne SWR3-Veranstaltungen und -Sendungen als Einzelseiten angelegt, wie das «[Konstanzer] Seenachtsfest», «Clubbing», «Comedy», «Rockcafé», «DanceNight» oder «Elchparty», die jedoch zum Teil nicht mehr gepflegt werden, da sie in der Vergangenheit liegen und ihre Aktualität nur anlassbezogen ist. Einzelelemente auf den SWR3-Facebook-Seiten, die auf eine CIWiedererkennbarkeit rekurrieren, sind der SWR3-Elch, als Maskottchen und als
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Logo, die Schriftart und der Rot-weiß-Kontrast. Sonst bleibt das CI von Facebook präsent, der SWR ist und bleibt in Facebook eingebettet und nutzt die zur Verfügung stehenden Tools. Diese stellen als Text, Bild oder Video Kommunikationsereignisse dar und ermöglichen für die ‹Community› die Anschlusskommunikation. Deutlich ist auch hier die Diskrepanz zwischen der potenziellen Partizipation, den Aufrufen von Videos, der Anerkennung via Like-Button5 und Inhalt-Teilen sowie den einsehbaren Kommentaren als höchster Form der Aktivierung. Weitere Elemente sind Veranstaltungshinweise, Apps, die auf ein Abonnement via Pushup-Meldung bzw. RSS-Feed hinauslaufen, Videos, die von Facebook mittlerweile in eine automatisch weiterlaufende Video-Timeline eingebunden sind, sowie eine Extra-Rubrik für Besucherbeiträge, die themenunabhängig gepostet werden. Die Abbildungen 1 und 2 zeigen sehr deutlich eine organische intermediale Verschränkung. Am 17.2.2016 fand im Nachmittagsprogramm von SWR3 in der Sendung Popup ein Gespräch über soziale Medien und Facebook mit dem Medienwissenschaftler Prof. Dr. Marcus S. Kleiner statt. Hörer_innen wurden zugeschaltet, Kommentare der Webseite, SMS und Mails sowie Facebook-Posts wurden vorgelesen, diskutiert, kommentiert und kontextualisiert. Dabei konnten die Zuhörenden- bzw. Zuschauenden via Live-Stream auf der Webseite das Geschehen On-air mit Bild verfolgen. Im Studio waren verschiedene Kamerapositionen montiert, sodass über ein Regiepult und entsprechende Schnittwechsel auf die Sprecher für visuelle Abwechslung gesorgt wurde. Zudem untertitelten Statements und Aussagen als sogenannte «Binde» das Bild. On-air wurden die Aktivitäten im Netz kommentiert, auf der Facebook-Seite wurde die Sendung audiovisuell thesenhaft und polarisierend angekündigt, im Nachgang der Sendung gab es noch einmal einen Filmclip, der die Sendung zusammenfasste. Es zeigt sich, dass hinter dem hör- und sichtbaren Ergebnis ein Aufwandsmultiplikator steht, um die anderen Kanäle in einer on-air-adäquaten Qualität zu bedienen. Nicht mehr die Sendung an sich und die thematische Auseinandersetzung stehen allein im Vordergrund, sondern auch die Inszenierung, die mediale Diversifikation sowie die mediale Vor- und Nachbereitung.
5
Harald Rau (2014: 809) sieht als zentrales handlungsleitendes Moment den «Wechsel von einem massenmedialen hin zu einem sozialmedialen Paradigma. Folgt die Massenkommunikation der zentralen Größe Aufmerksamkeit, so spiegelt sich diese in der medienvermittelten ‹sozialen› Kommunikation (‹Social Media›) im Wert Anerkennung. Der anerkennungsökonomische Kontext lässt sich im Netz gut nachvollziehen, wenn man die Funktionsweise des sozialen Netzwerkes Facebook betrachtet. Die Währung dort sind ‹Likes›, im deutschsprachigen Raum ‹Gefällt mir›-Angaben.»
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Abb. 2: Screenshot SWR3-Webseite (17.2.2016, 14.45 Uhr).
Betrachtet man allgemein die Themenselektion der geposteten Beiträge auf der Facebook-Seite von SWR3, dann fällt auf, dass Kommunikation über soziale Netzwerke nicht nur ‹formal› völlig anders verläuft als in den klassischen Nachrichtenmedien, sondern auch inhaltlich.6 Obwohl Radiosender regelmäßig Nachrichtendienste in ihrem Programm haben, weichen die Postings, die auf der jeweiligen Facebook-Seite gemacht wurden, sehr von journalistischer Berichterstattung
6
Allfällige Themenkategorien für eine quantitative Inhaltsanalyse sind nach Bruns und Marcinkowsky (1997), Längsschnittstudie Politische Information im Fernsehen: Vielfalt der Sachgebiete und speziell im politischen Bereich der Politikfelder, Vielfalt der Akteure und Vielfalt der räumlichen und zeitlichen Bezüge. (vgl. Bruns/Marcinkowsky 1997: 99f.) Da scheinbar die Außenpolitik bei Facebook keine Rolle spielte, hätte man vermuten können, dass zumindest innenpolitische Themen, die unter Östgaards Nachrichtenfaktor «Sensationalismus» fallen, auftreten würden.
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ab. Denn es zeigt sich zuerst einmal sehr deutlich darin, dass Themen aus den Bereichen Politik, Wirtschaft, Recht, Religion kaum bis gar nicht auftauchen. Die produzentenseitige Kommunikation auf Facebook setzte als Stimulus andere und auch neue Schwerpunkte wie Humor/Unterhaltung, Tipps/Ratgeber, Gewinnspiele und Werbung. Damit soll keinesfalls vorschnell einer Boulevardisierung oder Deprivation das Wort geredet werden, denn die Frage, ob dies ‹noch› Radio sei oder zum Radio zwingend dazu gehöre, bleibt offen, wenn es um Partizipation, Anerkennung und Aufmerksamkeit geht. 7 Den größten Einfluss spielen Kommunikationsereignisse in der Kategorie «Human Interest/Gesellschaft». Dieser Bereich ist relativ weit gefasst, da prinzipiell alle Posts Teil dieser Kategorie sind, die in irgendeiner Weise mit dem Alltag der Menschen zu tun haben; Ereignisse, bei denen jeder mitreden kann, und Ereignisse, die mit Menschen, welche in der Öffentlichkeit stehen, zu tun haben. Hier spielt die Variable «Akteure», die die Sozialwissenschaftler Bruns und Marcinkowsky in ihrer Studie mituntersucht haben, offensichtlich eine Rolle, insbesondere wenn es sich dabei um Prominente handelt, über die berichtet wird oder um Moderatoren des Senders.
N ETZAKTIVITÄTEN ALS (B INDUNGS -)S TRATEGIE UND T EIL DER U NTERNEHMENSKOMMUNIKATION Es ist eine ganz offensichtliche Tendenz, dass Community-Building eine zentrale Strategie der Facebook-Aktivitäten von Radiosendern darstellt, auch wenn die erhobenen Daten darauf hinweisen, dass die Aktivitäten keinesfalls durchgehend konzeptionell angelegt zu sein scheinen.8 Themen werden inhaltlich und formal
7
Ein ganz zentraler Punkt ist der Kampf um die Aufmerksamkeit, wenn man davon ausgeht, dass im Netz und in sozialen Medien der Kampf um Aufmerksamkeit noch nicht ausgefochten ist. Denn – wie Georg Franck (2014: 366) schreibt: «Charakteristisch für die Informationsgesellschaft ist nicht, dass Information einen besonderen Wert annähme. Charakteristisch ist vielmehr deren nicht mehr zu bewältigende Flut. Zum Engpass wird die Kapazität zur Verarbeitung: Aufmerksamkeit. Bemerkenswert ist, dass die Aufmerksamkeit, sobald sie überhaupt in die Ökonomie eingeht, eine Rolle nicht nur als knappe Ressource, sondern auch als Form des Einkommens spielt. In der Informationsökonomie [...] macht die Aufmerksamkeit dem Geld Konkurrenz.»
8
Zu Konzepten, den möglichen Strategien und dem Selbstverständnis von CommunityBuilding, im Weiteren zu potenziellen Konflikten und zu benennenden Verantwortungsbereichen sowie einer Eventisierung derartiger Kommunikation, vgl. Bacon (2009).
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so aufbereitet, dass sie die Nutzer anregen, mit Likes und Kommentaren auf die Posts zu reagieren und sich somit mit dem Sender zu beschäftigen. Polarisierung und Emotionalität sind zwei Strategien. Die Methode, die am beliebtesten zu sein scheint, besteht darin, den Nutzern Meinungsfragen zu stellen. Diese Meinungsfragen können einerseits auf der Formulierung polarisierender Thesen aufbauen, die eine hohe Diskussionsbeteiligung hervorrufen. Eine andere Methode, Meinungsäußerungen hervorzurufen, ist die Strategie, die Menschen direkt nach ihren eigenen Erfahrungen, Vorlieben oder ihrem Wissen zu fragen. Andere Strategien zielen vor allem auf die Emotionen der Rezipienten. Indem man diese zum Lachen bringt oder ihnen das Gefühl gibt, man verstehe und teile ihre Probleme, soll ein Gefühl der Zugehörigkeit geschaffen werden. Die Gewinnspiel-Strategie erscheint ebenfalls wirksam, da den Nutzern durch die in Aussicht gestellten Gewinne die Teilnahme an solchen Aktionen besonders schmackhaft gemacht wird. Die Aufforderung, ein Foto oder Video zu posten, spielt hierbei eine große Rolle, wird aber auch unabhängig von Gewinnspielen des Öfteren eingesetzt. Diese Strategien greifen aus Sicht der Produzenten im Rahmen der zur Verfügung stehenden Kommunikationsmittel. Was dabei nicht berücksichtigt werden kann, ist der Facebook-eigene Algorithmus, der auf die wahrgenommenen Gefällt-mir-Angaben mit Typisierungen und Wahrscheinlichkeitsberechnung reagiert und in der Folge Radiosender in der Vernetzung der Freunde/Freundinnen der jeweiligen Nutzer_innen entsprechend vorschlägt.9 Die Präsenz von Radiosendern auf Facebook erscheint in einem engen Zusammenhang zur Unternehmenskommunikation. Der Sender als Institution agiert in einem teilöffentlichen Raum, um mit anderen Mitteln weiterhin Hörer_innen zu erreichen, die auf Facebook zur Community, zu Followern werden. Diese müssen in einer spezifischen Art und Weise angesprochen werden, denn es kann vorerst nur bei der Annahme bleiben, dass die Facebook-Community des Senders auch den Hörern und Hörerinnen des Senders entspricht. Da nicht nur die Ansprechhaltung auf der Plattform eine andere ist, sondern auch der gepostete Inhalt, greifen andere kommunikative Strategien. Denn der Seiteninhalt auf Facebook ist nur schwerlich einem radiophonen Programmfluss zuzuordnen, nicht nur, weil er sich nicht versendet. Die bei SWR3 aufgezeigte Diversifikation der Facebook-Seiten, die Webseite, der Twitter-Account und der Youtube-Kanal können als komplexe strategische Online-Kommunikation verstanden werden.10 Sie ist losgelöst vom konkreten
9
Vgl. hierzu Schuster (2016).
10 Die Definition der Strategischen Online-Kommunikation (SOK) von Unternehmen orientiert sich hier im Wesentlichen an Zerfaß und Pleil (2012: 47). Danach umfasst SOK
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Beispiel als ein Arbeitsfeld zu begreifen, das noch weitgehend offen ist, auch wenn man sich aufgrund veränderter Kommunikationsbedingungen seiner Bedeutung hinsichtlich von Nachhaltigkeit, Vertrauen, Reputation und anderen Aspekten immer stärker bewusst wird.11 Denn, und hier kommt das strategische Moment der Unternehmenskommunikation ins Spiel – jeder gelesene Post, jedes gesehene Video unterliegt einer anderen Wahrnehmung als das ‹nebenbei› gehörte Radioprogramm: Der Content kann – und soll – wiederholt rezipiert, kommentiert und weiterverbreitet («geteilt») werden. Die Bezugnahme ist direkt und spielt sich in der Teilöffentlichkeit öffentlich ab. Damit entstehen langfristig kommunikative Beziehungsverhältnisse, die technisch determiniert Reputation und Vertrauen ausbilden und sich mittelbar auf das Image des Unternehmens auswirken sollen. Eine
«alle gesteuerten Kommunikationsaktivitäten in Internet und Social Web, die der internen und externen Handlungskoordination mit Stakeholdern und der Interessenklärung dienen und damit einen Beitrag zur Realisierung der übergeordneten Unternehmensziele (Erreichung inhaltlicher und ökonomischer Ziele, Sicherung von Handlungsspielräumen und Legitimität) leisten sollen. Das Internet wird als technische Infrastruktur und verschiedene dort verfügbare Plattformen bzw. Instrumente werden als Medien für die Kommunikation und Interaktion genutzt. Dadurch können Unternehmen monologische oder dialogorientierte Kommunikationsprozesse mit ihren Stakeholdern initiieren, aber auch an Kommunikationen Dritter partizipieren. In Abhängigkeit von den jeweiligen Zielen und Beziehungen werden verschiedene Kommunikationsmodi (Abruf, Diskussion, Vernetzung) und unterschiedliche Formen der kommunikativen Einflussnahme (Persuasion, Argumentation, Information) realisiert.» 11 Christoph Hubig (2014: 366) betont die Relevanz derartiger Kommunikationseffekte als Ergebnisse von strategischer Kommunikation: «Reputation kann also ebenso wenig wie Vertrauen implementiert werden, was nicht heißen soll, dass gewisse langfristige Maßnahmen es erlauben, ein positives Image aufzubauen bzw. in Krisenzeiten durch Interventionen zu versuchen, Rufschädigung zu vermeiden bzw. unberechtigten Angriffen energisch entgegenzutreten. Einer derartigen Tätigkeit kommt sogar ein äußerst hoher Stellenwert zu, auch und wenn der Bezug zu Unternehmenszielen nur mittelbar ist. Hierbei kommt dem Umgang mit Social Media wie Facebook, Twitter etc. zunehmend eine Bedeutung zu, auf die die Unternehmen sich erst einlassen müssen. Die Machtstrukturen der Social-Media-Welt und die Rolle der dort sich bildenden Schwarm-«Intelligenz» sind bisher weder hinreichend erforscht, noch sind auf Unternehmensseite adäquate Reaktionsmuster entwickelt. Wie sind soziales Kapital und Vertrauensbeziehung in Social-Media-Platforms zu modellieren? Welche Rolle spielen sie für die Adoption der User? Welche Meinungsführerschaften, die sich selbstorganisiert herausbilden, können Anspruch auf Vertrauenswürdigkeit erheben?»
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Kommunikationsstrategie, die die Senderidentität im Netz als Netzidentität konstituieren und im Weiteren unterstützen soll, muss daher das Ist-Image («Wie sehen wir uns selbst?»), das Soll-Image («Wie wollen wir gesehen werden?») und die Reputation («Wie werden wir bislang gesehen?») ins Kalkül ziehen und diejenigen Faktoren identifizieren, die hemmend oder fördernd wirken. Es wird in Zukunft also bei Social Media – und hier nicht nur beim Radio – um eine Professionalisierung, um spezifische Problemlösungskompetenzen und definierbares Expertenwissen gehen.12
F AZIT Die bisherigen kursorischen Ausführungen zeigen die Notwendigkeit einer intermedialen Charakterisierung des Radios im Netz, die veränderte Produktionsweisen, eine thematische Verschiebung von Inhalten und kommunikativen Aktivitäten in den Blick nimmt. Das führt in der Konsequenz zu einer veränderten Wahrnehmung des Radios. Es ist nicht mehr als ein nur stationär oder mobil zu empfangener Programmfluss zu verstehen, der mit einer virtuellen Erweiterung durch eine Webseite als einem irgendwie unverzichtbaren Appendix der aktuellen digitalen Entwicklung Rechnung trägt. Im Gegenteil, die Ausweitungen des Radioraums mit anderen Mitteln entfalten eine Dynamik, die wechselseitig ausgerichtet ist, indem nicht mehr nur Radio Inhalte produziert und distribuiert. Auch die Hörer_innen werden durch Aktivierung und Partizipation zu viralen Distributor_innen von Inhalten und als ‹Follower› Teil einer ‹Community› in einer medialen Teilöffentlichkeit. Sie rezipieren nicht nur, sondern produzieren auch Inhalte – mit Bindekraft nach innen für die Community und für das Radio als Feedback und Anschlusskommunikator. Das passiert allerdings nicht auf der On-air-Ebene und bleibt somit hierarchisch. Diese Hierarchie wird nicht ausgestellt, sondern über das Generieren von netzaffinen, polarisierenden, unterhaltsamen oder emotionalen sprich aktivierenden Themen anschlussfähig kaschiert. Denn um mit den
12 Expertenwissen ließe sich bspw. aus einem Social Media Monitoring generieren (Aßmann/Pleil 2014: 587): «Social Media Monitoring bedeutet die Beobachtung relevanter Themen und Diskussionen für eine Organisation im Social Web. Hierbei können vielfältige Ziele unterstützt werden: Dies reicht von der Unterstützung des Issues Managements, des Reputationsmanagements, des aktiven Kommunikationsmanagements über die Erfolgsmessung der eigenen Kommunikation bis hin zum Benchmarking. Auch Kundenservice und Marktforschung können durch Social Media Monitoring sinnvoll ergänzt werden.»
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Hörern und Hörerinnen ins ‹Gespräch› zu kommen bedarf es anschlussfähiger Themen, die einen relativ geringen Informationsgehalt aber dafür einen hohen Unterhaltungswert haben. Binäre Abstimmungsposts à la entweder/oder bzw. gut/schlecht werden inhaltlich nur selten weitergeführt. Deutlich wird der Stellenwert der Kommunikabilität, bei der die On-air bekannten Moderatoren ein nicht zu unterschätzendes identitätsstiftendes Bindeglied darstellen. Die FacebookKommunikation von Radiosendern unterliegt einer Auswahl, die zwar an bevorzugte Themenmerkmale gebunden sein kann, sich allerdings nur bedingt mit dem journalistischen Nachrichtenauswahl-Prozess vergleichen lässt. Auffallend und dabei keinesfalls strittig ist die Ansprechhaltung der Sender auf Facebook, die in ihren sprachlichen Transformationen und Verkürzungen weitestgehend auch der bereits verinnerlichten On-air-Ansprechhaltung entspricht. Damit vermeidet der Sender Irritationen bei der Hörergemeinde auf Facebook und erleichtert die Identifikation mit der veränderten Präsentationsform des Radiosenders. Ebenso fällt auf, dass diejenigen, die Posts und Kommentare hinterlassen, sich als Radiohörer artikulieren. Das lässt auf ein hohes emotionales Involvement schließen, denn es sind keine distanzierten Beobachterkommentare. Facebook-Posts erscheinen in der redaktionellen Produktion und der rezeptiven Reaktion insgesamt eher unterhaltend und alltagsbegleitend. Dies zeigt der hohe Stellenwert, den Human-Interest-Themen und kulturelle Ereignisse einnehmen. Die Intention der Sender in sozialen Medien scheint demnach weniger die umfassend recherchierte (Hintergrund-)Information zu sein, sondern vielmehr der Versuch einer flankierend-unterhaltenden Institution, die im Alltag der Nutzer begleitend verankert sein soll. Punktuelle Aufmerksamkeit, die inhaltlich nicht überfordert, sondern zielgruppenspezifisch und affektiv angelegt ist, paart sich mit einer werbeökonomischen Komponente. Zugespitzt formuliert: Klickökonomie schlägt Intellektualität und Sensibilisierung. Die technische Infrastruktur des digitalen Raumes erlaubt eine Erweiterung des klassischen Radioprogramms, die nicht nur additiv angelegt ist, sondern die Kommunikation mit der Community in den Blick nimmt. Aufgrund entgrenzter Speicherkapazitäten lässt sie eine kaum zu überschauende Pluralität zu. Die dauerhafte Wahrnehmung eines soziomedialen Angebots ist abhängig von den Strategien der Aufmerksamkeitsgenerierung und Aufmerksamkeitsbindung. Eine Facebook-Präsenz unterliegt dem Zwang permanenter Aktualisierung und so in ihrer Bedeutungsdimension der immanenten medialen Logik von Facebook und nicht des Radios. Soziale Medien wie Facebook entwickeln über ihre omnipräsente Vernetzung und zeitversetzte Wahrnehmung kommunikative Eigendynamiken, die der einzelne in einem Redaktionsprozess nur bedingt regulieren kann. Das Sichtbarwerden und das Heraustreten aus einem tendenziell normativ gefassten Rahmen durch veränderte Themensetzungen, räumliche Entgrenzung
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bei gleichzeitiger Regionalität, Partizipationserwartungen, Feedbackschleifen, Hörerbindungen durch Vernetzung sowie Verlinkungen, die aus den Hörerinnen und Hörern Follower/Freunde ‹Gefällt-mir-Klicker› machen: Dies alles verändert das Radio, auch wenn das lineare Programm damit (noch) nicht in Frage gestellt wird. Wenn sich innerhalb eines kulturpragmatischen Kontextes das technische Dispositiv verändert, dann verändern sich die Möglichkeiten zum Erzeugen von semiotischen Räumen und den damit zusammenhängenden Bedeutungsdimensionen. Dies ist als ein nicht abgeschlossener Prozess zu betrachten.
L ITERATUR AGMA – Arbeitsgemeinschaft Media Anlayse e.V., online, https://www.agmammc.de, 21.9.2018. ALM GbR – Die Medienanstalten (2013): Digitalisierungsbericht 2013. Rundfunk und Internet – These, Antithese, Synthese? Berlin: Vistas. ARD-Forschungsdienst (2015): Aspekte der Nutzung von Radio und anderen Audiomedien. In: Media Perspektiven 9, 412‒415, Hamburg 2015. Online unter: http://www.ard-werbung.de/media-perspektiven/fachzeitschrift/2015/artikel/ aspekte-der-nutzung-von-radio-und-anderen-audiomedien/, 19.9.2017. Aßmann, Stefanie/Thomas Pleil (2014): Social Media Monitoring: Grundlagen und Zielsetzungen. In: Ansgar Zerfaß/Manfred Piwinger, Hg.: Handbuch Unternehmenskommunikation. Strategie – Management – Wertschöpfung. Wiesbaden: VS, 585‒604. Bacon, Jono (2016): The Art of Community. Building the New Age of Participation. Sebastopol: O’Reilly. Bade, Andreas (2009): Das Internet als programmbegleitendes Medium des Hörfunks. Historische Entwicklung von Internet, Radio und ihrer Medientheorien. Hamburg: Diplomica-Verlag. Behrens, Peter/Marc Calmbach/Christoph Schleer/Walter Klingler/Thomas Rathgeb (2014): Mediennutzung und Medienkompetenz in jungen Lebenswelten. In: Media Perspektiven 4, 195‒218. Online unter: http://www.ard-werbung.de/media-perspektiven/fachzeitschrift/2015/artikel/aspekte-der-nutzung-von-radio-und-anderen-audiomedien/, 19.9.2017. Belew, Shannon (2011): The Art of social selling. Amacom. In: Manfred Bruhn/ Daniela Schäfer/Jürgen Schwarz/Mareike Lauber, Hg.: Facebook, Twitter, Youtube und Co. Erwartungen der Nutzer an Social-Media-Plattformen. Marketing Review St. Gallen 5. DOI:10.1007/s11621-011-0061-x.
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Autorinnen und Autoren
Burckhardt-Seebass, Christine, Dr. phil., Volkskundlerin, emeritierte Professorin für Volkskunde/Europäische Ethnologie an der Universität Basel. Studium von Volkskunde, Soziologie und Germanistik in Basel, München und Tübingen. Dozentin an der Schule für soziale Arbeit, Lehraufträge in Freiburg i.Br. und Basel, lange Jahre Leiterin des Schweiz. Volksliedarchivs. Gastprofessuren in Regensburg, Marburg, Wien, Münster. Forschungsschwerpunkte: Rituale, Kleidung, Fachgeschichte. Dreckmann, Kathrin, Dr. phil., Medienkulturwissenschaftlerin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medien- und Kulturwissenschaft der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Materialität und Medialität akustischer Speicher- und Übertragungsprozesse, Medienästhetiken von Pop, Bühne und Musikvideo sowie Videokunst zeitbasierter Medien. Felfer, Thomas, Mag. Phil., Kulturwissenschaftler und Kurator, derzeit Doktorand am Institut für Medien, Film und Musik an der Universität Sussex zum Thema «Klangerfahrung – Orte, Emotionen und Erinnerungen – am Beispiel der Kirchenglocken in Vorarlberg». Studium der Volkskunde und Kulturwissenschaft an der Karl-Franzens-Universität Graz. 2012–2014 Leiter des Museum HuberHus und des historischen Archives in Lech am Arlberg. Forschungsinteressen: Sound Studies, Anthropologie der Sinne, populäre Kulturen, Erinnerungskulturen, Stadtforschung. Föllmer, Golo, PD Dr. phil., Musik- und Medienwissenschaftler, arbeitet als Autor, Künstler und Kurator für das Radio und andere Medien, ferner Privatdozent an der Universität Halle-Wittenberg. Promotion 2002 über vernetzte Musikpraktiken. Gründer des Masterstudiengangs Online Radio und 2013–2016 Leiter des
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Forschungsprojekts «Transnational Radio Encounters». Arbeitsgebiete: Radio, Klangkunst, elektroakustische Musik. Hengartner, Thomas (1960–2018), Volkskundler, war 1996–2010 Professor für Volkskunde/Kulturanthropologie an der Universität Hamburg, ab 2010 Ordinarius für Volkskunde an der Universität Zürich und Ko-Leiter des Instituts für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft an der UZH; seit 2016 leitete er das Collegium Helveticum. 2002 Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Forschungsschwerpunkte: Kulturwissenschaftliche Technikforschung, Stadtanthropologie, Genussmittel, anthropology of the senses, Transdisziplinarität. Jäger, Roland, M.A., Kulturwissenschaftler, ist als Hörfunk- und Fernsehreporter für den Mitteldeutschen Rundfunk im Ressort Landespolitik Sachsen-Anhalt tätig, beschäftigte sich in seiner Masterarbeit mit der Frage, wie Zeichenkombinationen in Hörfunkinhalten interagieren. Studium der Kulturwissenschaften, Germanistik und Europäische Geschichte, an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg mit Schwerpunkt Medienlinguistik. Järmann, Thomas, Dr. phil., Komponist und Lehrer, arbeitet in London als Komponist für Film und Fernsehen und unterrichtet Musik und Deutsch. 1994 Primarlehrer-Patent am Lehrerseminar Thurgau, danach Tätigkeit als Mittelstufenlehrer. Von 2006 bis 2012 Studium in Musikwissenschaft, Populäre Kulturen und Kunstgeschichte an der Universität Zürich. 2012 bis 2016 Mitarbeiter im Projekt «Broadcasting Swissness»; Promotion 2016. 2017 verlieh ihm die Fundaziun Gion Antoni Derungs einen Anerkennungspreis für die Erstellung eines vollständigen Werkkatalogs des Schweizer Komponisten. Jones, Fanny (geb. Gutsche), Dr. des., Kulturwissenschaftlerin, arbeitet derzeit als Community Managerin am Kompetenzzentrum Citizen Science von Universität Zürich und ETH Zürich. Studium der Kulturanthropologie, Politikwissenschaft und Skandinavistik in Tübingen und Stockholm. Promotion in Kulturanthropologie an der Universität Basel im SNF-Projekt «Broadcasting Swissness» mit einer Arbeit zur Rezeption des Schweizer Auslandsradios SRI. Arbeits- und Forschungsgebiete: Wissenschaftskommunikation, Medienkultur und Medienethnografie. Leimgruber, Walter, Prof. Dr., Kulturanthropologe, leitet das Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Universität Basel. Studium der
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Geschichte, Geographie und Volkskunde an der Universität Zürich, Promotion und Habilitation ebendort. Lehr- und Forschungsaufenthalte in den USA, in Frankreich, Deutschland und Österreich. Arbeitsschwerpunkte: Kulturtheorie und -politik, Migration und Transkulturalität, visuelle und materielle Kultur, kulturelles Erbe. Michelsen, Morten, PhD, is Associate Professor in popular music studies at the University of Copenhagen. He leads the research project ‹A Century of Radio and Music In Denmark› (https://ramund.ikk.ku.dk) and contributed to two other research projects concerned with music, sound and radio. Among his publications on sound, music, and radio are ‹Music, radio and mediatization›, in Media, Culture and Society (2016, together with Mads Krogh) and three anthologies on music radio, including Tunes for All? (Aarhus Universitetsforlag, 2018) on Danish music radio and Music Radio: Building Communities, Mediating Genres (Bloomsbury, 2019) on international music radio. Müske, Johannes, Dr. phil., Kulturwissenschaftler, ist derzeit Scholar in Residence am Deutschen Museum, München. Studium in Kulturanthropologie (Volkskunde), BWL, Jura und Museumsmanagement an den Universitäten Hamburg und Sevilla; Promotion an der Universität Zürich (2012), dort Postdoc und wiss. Koordinator des Projekts «Broadcasting Swissness». Weitere Forschungs- und Lehrstationen u.a. an den Universitäten Basel, Indiana/Bloomington, LMU München. Forschungsschwerpunkte: Kulturwissenschaftliche Technikforschung, Arbeitskulturenforschung, Kulturerbe und Archive, Sinne und Medienethnografie. Novosel, Martina, M.A., studierte Germanistik, Ethnologie und Kulturanthropologie an den Universitäten Zagreb und Köln; 2018 Zusatzstudium Gender Studies. Arbeitet derzeit als Lehrerin und ist Mitarbeiterin am Kroatischen ethnologischen Lexikon des Lexikographischen Instituts Miroslav Krleža in Zagreb. Forschungsinteressen: traditionelle Kultur Südosteuropas, Ethnomusikologie, Folklore studies und Mythologie, Postsozialismus. Ritter, Rüdiger, Dr. phil., Historiker, derzeit Habilitation über «Jazz im Kalten Krieg zwischen Medium des Kulturtransfers und politischer Waffe»; Forschung an verschiedenen Universitäten und Museen, u.a. Universität Bremen und Deutsches Historisches Museum, Berlin. Ausbildung: 1985–93 Studium an den Univ. Köln und Mainz, Osteuropäische Geschichte, Musikwissenschaft, Mittlere und neuere Geschichte, Philosophie; 2006 Promotion an der Universität Köln, Thema:
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«Musik für die Nation. Der Komponist Stanisław Moniuszko (1819–1872) in der polnischen Nationalbewegung». Rühl, Johannes, M.A., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule Luzern – Musik und künstlerischer Leiter des Internationalen Musikfestivals Alpentöne. Studium der Ethnologie, Soziologie und visueller Anthropologie in Freiburg. Langjährige Tätigkeit in der Kulturverwaltung in Rottweil und Freiburg i. B., Lehraufträge an Hochschulen und Universitäten in Lugano, Luzern, Basel, Göttingen und Salzburg im Kulturmanagement und musikalischer Volkskunde des Alpenraums. Seine letzten Forschungen beschäftigten sich mit Veränderungsprozessen in der Schweizer Volksmusik, Volksmusik in vorromantischer Zeit und der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Wagner, Hans-Ulrich, Dr. phil., Medien- und Kommunikationswissenschaftler, ist Senior Researcher am Hans-Bredow-Institut für Medienforschung und leitet die Forschungsstelle Mediengeschichte, ein Kooperationsprojekt des Hans-Bredow-Instituts mit der Universität Hamburg. Internationale Forschungsprojekte widmen sich u.a. den Themen «Communicating Port Cities» (zus. mit Macquarie University, Sydney, und Fudan University, Shanghai) sowie «Entangled Media Histories» (zus. mit Lund University und University of Bournemouth). Ein Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich der Sound History. Wilke, Thomas, Dr. phil., Professor für Kulturelle Bildung an der PH Ludwigsburg; Forschungs- und Lehrstationen: Halle-Wittenberg, Leipzig, Tübingen. Arbeitsschwerpunkte: Qualitative Medienanalyse und Medientheorie, Wissensordnungen, Medien- und Kommunikationsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, mediale Dispositive, populäre und auditive Medienkulturen und deren Wandel (Mashup, DJ- und Club-Kultur, Radio im Netz, Performativität, Remediation). Letzte Publikationen: Sound in den Medien (2018, hg. mit Jan-Noel Thon), Populäre Wissenschaftskulissen (2018, hg. mit Marcus S. Kleiner). Wirth, Felix, M.A., Historiker, ist als Diplomassistent an der Universität Freiburg (CH), Bereich Zeitgeschichte, und den Universitären Fernstudien Schweiz, Studiengang Historical Sciences, beschäftigt. Studium der Geschichte und Geographie an der Universität Freiburg (CH); Master of Arts in Allgemeiner und Schweizerischer Zeitgeschichte (2014). Mitarbeit in Ton- und Videoprojekten von Memoriav und Schweizer Radio und Fernsehen. Forschungsinteressen: Sound History, schweizerische Zeitgeschichte, Radio, Science Fiction.
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Zeising, Andreas, PD Dr. phil., ist Kunsthistoriker und derzeit Akademischer Rat am Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Universität Siegen. Promotion zur Geschichte der Kunstkritik im Umkreis der Berliner Moderne. Anschließend Museumsvolontariat am Düsseldorfer Museum Kunstpalast. Lehraufträge und Lehrstuhlvertretungen in Dortmund, Düsseldorf, Wuppertal, Siegen, Bremen und Bonn. 2016 Habilitation mit einer Studie zur Geschichte der Kunstvermittlung im frühen Rundfunk.
Musikwissenschaft Michael Rauhut
Ein Klang – zwei Welten Blues im geteilten Deutschland, 1945 bis 1990 2016, 368 S., kart., zahlr. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3387-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3387-4
Sarah Chaker, Jakob Schermann, Nikolaus Urbanek (Hg.)
Analyzing Black Metal – Transdisziplinäre Annäherungen an ein düsteres Phänomen der Musikkultur 2017, 180 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3687-1 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3687-5
Thomas Phleps (Hg.)
Schneller, höher, lauter Virtuosität in populären Musiken 2017, 188 S., kart., zahlr. Abb. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3592-8 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3592-2
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Musikwissenschaft Lars Oberhaus, Christoph Stange (Hg.)
Musik und Körper Interdisziplinäre Dialoge zum körperlichen Erleben und Verstehen von Musik 2017, 342 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3680-2 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3680-6
Sylvia Mieszkowski, Sigrid Nieberle (Hg.)
Unlaute Noise / Geräusch in Kultur, Medien und Wissenschaften seit 1900 (unter Mitarbeit von Innokentij Kreknin) 2017, 380 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-2534-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2534-3
Johannes Gruber
Performative Lyrik und lyrische Performance Profilbildung im deutschen Rap 2016, 392 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3620-8 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3620-2
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