"Heimatfront" – Graz und das Kronland Steiermark im Ersten Weltkrieg [1 ed.] 9783205215936, 9783205215912


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"Heimatfront" – Graz und das Kronland Steiermark im Ersten Weltkrieg [1 ed.]
 9783205215936, 9783205215912

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NICOLE-MELANIE GOLL, WERNER SUPPANZ (HG.)

Heimatfront GRAZ UND DAS KRONLAND STEIERMARK IM ERSTEN WELTKRIEG

FORSCHUNGEN ZUR GESCHICHTLICHEN LANDESKUNDE DER STEIERMARK Herausgegeben von der Historischen Landeskommission für Steiermark Band 96

Nicole-Melanie Goll · Werner Suppanz (Hg.)

»Heimatfront« – Graz und das K ­ ronland Steiermark im Ersten Weltkrieg

Böhlau Verlag Wien Köln

Veröffentlicht mit freundlicher Unterstützung durch  : Amt der Steiermärkischen Landesregierung, Abteilung Tourismus, Wissenschaft und Forschung Historische Landeskommission für Steiermark (HLK)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; d ­ etaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 Böhlau, Zeltgasse 1, A-1080 Wien, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore  ; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland  ; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung  : Stadtarchiv Graz (STAG), 4.1.1.2.0-28 Schulwesen Serie D, D09, Evangelische Schule, Gruppe der an der Metallsammlung beteiligten Schüler. Einbandgestaltung  : Michael Haderer, Wien Satz  : Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-21593-6

Inhalt

Nicole-Melanie Goll · Werner Suppanz

»Gerichtete Gesellschaft«. Die Steiermark im »totalen« Krieg . . . . . . . . . . . .   7 Helmut Konrad

Front und Hinterland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  31 Jay Winter

The Nostalgic Temperament. Region and nation in the shadow of the two world wars. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  45 Bernhard Thonhofer

Die Militarisierung der Grazer Straßen im Kriegsjahr 1914 . . . . . . . . . . . . .  55 Monika Stromberger

Der Weltkrieg als Medienereignis. Über die kriegsintegrative Funktion von Medien am Beispiel von Zeitungen in Maribor/Marburg 1914/15. . . . . . . . . .  79 Sabine A. Haring-Mosbacher

Anna erzählt. Zum Alltag einer Grazer Schülerin von Oktober 1916 bis November 1917 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Martin Moll

Kampf gegen den Hunger. Initiativen zur Behebung des Lebensmittelmangels in der Steiermark 1914–1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Ute Sonnleitner

Zwischen Unterhaltungslust und patriotischer Pflicht. »Kriegstheater« in der Steiermark und das Beispiel Alexander Girardis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Anita Ziegerhofer

»Soldaten des Hinterlandes«. Der Erste Weltkrieg und der Anteil der steirischen Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Karin M. Schmidlechner

Steirische Industriearbeiterinnen im und nach dem Ersten Weltkrieg.. . . . . . . 197

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Inhalt

Heidrun Zettelbauer

Vergeschlechtlichte Konfliktzonen. Kriegsfürsorge zwischen patriotischnationalen Geschlechterentwürfen und staatlich-militärischen Interessen . . . . . 215 Michael Georg Schiestl

»Galizianer-Juden«. »Ostjüdische« Flüchtlinge in der Region AichfeldMurboden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Gerald Lamprecht

»Gut und Blut für unseren Kaiser, Gut und Blut für unser Vaterland«. Die Grazer jüdische Gemeinde und der Erste Weltkrieg. . . . . . . . . . . . . . . 267 Heimo Halbrainer

Die drittgrößte Stadt der Steiermark – eine Stadt für die Kriegsflüchtlinge in Wagna . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Gerhard M. Dienes †

Über die Kriegsgefangenenlager auf dem Gebiet der heutigen Steiermark. Unter besonderer Berücksichtigung des Lagers Knittelfeld . . . . . . . . . . . . . 317 Hans-Georg Hofer

Arbeit als Heilbedingung. Fritz Hartmann und die Grazer Psychiatrie im Ersten Weltkrieg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Karin Almasy

»V spomin žrtvam svetovne vojne«. Gefallenendenkmäler in der Untersteiermark und slowenische Erinnerungs­kultur an den Ersten Weltkrieg. . . 357 Peter Teibenbacher

Zivile demografische Verluste in der Steiermark während des Ersten Weltkriegs sowie deren Auswirkungen auf die Bevölkerungsstruktur in den ersten fünf Nachkriegsjahren . . . . . . . . . . . . . 377

Autor:innenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395

Nicole-Melanie Goll · Werner Suppanz

»Gerichtete Gesellschaft« Die Steiermark im »totalen« Krieg

»Heimatfront« – Gesellschaft im Ausnahmezustand In der kaum überblickbaren Fülle an Publikationen, Ausstellungen, Websites und diversen Veranstaltungen zum Ersten Weltkrieg seit 2013, mit dem Höhepunkt während der »Centenar-Jahre« bis 2018, sind zwei einander scheinbar entgegengesetzte Trends auszumachen  : Zum einen hat das Forschungsinteresse am »Großen Krieg« als globalen Konflikt deutlich zugenommen.1 Die Konzentration auf die sogenannte Westfront, und damit auf Westeuropa, hat ab den 2000er-Jahren, verstärkt im Kontext des 100-Jahr-Gedenkens des Kriegsbeginns 1914/2014 eine Aufweichung zugunsten einer stärkeren Berücksichtigung anderer inner- sowie außereuropäischer Schauplätze erfahren.2 Gleichzeitig wird der Erste Weltkrieg zunehmend als umfassendes – nicht nur 1 Als Beispiele seien an dieser Stelle folgende Werke angeführt  : Bromber, Katrin et al. (Hg.)  : The long End of the First World War  : Ruptures, Continuities and Memories, Frankfurt-New York 2018  ; Janz, Oliver  : Der Erste Weltkrieg in globaler Perspektive, in  : Geschichte und Gesellschaft, Jg.  40 (2014) Heft 2, 147–159  ; Segesser, Daniel Marc  : Der Erste Weltkrieg in globaler Hinsicht, Wiesbaden 2010  ; Sondhaus, Lawrence  : World War One. The Global Revolution, Cambridge 2011  ; Global Perspectives on World War 1. A Roundtable Discussion, in  : Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Jg.  11 (2014) Heft 1, 92–119. Winter, Jay (Hg.)  : The Cambridge History of the First World War, 3 Bde., Cambridge 2014  ; Strachan, Hew  : The First World War as a Global War, in  : First World War Studies, Jg. 1 (2010) Heft 1, 3–14. Auch die an der Freien Universität Berlin angesiedelte, von Oliver Janz geleitete »1914–1918-online. International Encyclopedia of the First World War« sei an dieser Stelle erwähnt. Diese kollaborative, transnationale Perspektiven verfolgende Open-Access-Plattform bietet mittlerweile fast 1.600 (!) Beiträge renommierter Wissenschaftler:innen. 2 Beispielhaft  : Bachinger, Bernhard  : Die Mittelmächte an der Saloniki-Front 1915–1918. Zwischen Zweck, Zwang und Frist (Krieg in der Geschichte 106), Paderborn 2019  ; Böhler, Jochen et al. (Hg.)  : Legacies of Violence. Eastern Europe’s First World War, München 2014  ; Bürgschwentner, Joachim/Egger, Matthias/ Barth-Scalmani, Gunda (Hg.)  : Other Fronts, other Wars  ? First World War Studies on the Eve of the Centennial, Leiden 2014  ; Groß, Gerhard P. (Hg.)  : Die vergessene Front. Der Osten 1914/15. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung, Paderborn 2006. Auch ein wieder ansteigendes Interesse an Fragen rund um »Kriegsschuld« bzw. jenen Faktoren, die für den Ausbruch des Krieges entscheidend waren, ist zu konstatieren und rückten dabei wieder verstärkt in den Fokus der Wissenschaft. Nicht zuletzt durch  : Christopher Clarke  : The Sleepwalkers. How Europe went to War in 1914, London 2012. Auch  : Levy, Jack S. et al. (Hg.)  : The Outbreak of the First World War. Structure, Politics, and Decision-Making, Cambridge 2014  ; MacMillan, Margaret  : The War that ended Peace. The Road to 1914, London 2013  ; Löffelbein, Nils/ Fehlemann, Silke (Hg.)  : Europa 1914. Wege ins Unbekannte, Paderborn 2016.

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Nicole-Melanie Goll · Werner Suppanz

militärisches – Ereignis erforscht und vermittelt, das sich auch abseits der Kampfgebiete auf lokaler und regionaler Ebene in die Lebenswelt einschrieb.3 Die umfassenden gesamtgesellschaftlichen Veränderungen, die die Jahre 1914 bis 1918 in den kriegführenden Ländern, insbesondere Europas, mit sich brachten, lassen sich gerade »vor Ort« von Historiker:innen detailliert rekonstruieren und von der Öffentlichkeit außerhalb des wissenschaftlichen Feldes nachvollziehen.4 Gerade in diesem Zusammenhang ist insbesondere seit Beginn der 2010er-Jahre ein Anstieg des öffentlichen Interesses am Ersten Weltkrieg vor allem in Deutschland und Österreich, also Ländern, in denen der »Große Krieg« bisher eine untergeordnete Rolle gespielt hatte, zu verzeichnen.5 Als Folge erfahren die Kriegsgesellschaft im »Hinterland« und die Wahrnehmbarkeit des Krieges auch im Alltag »fern der Front«, aber »mitten im Krieg«6 nun zentrale Aufmerksamkeit. Neben den militärischen Kampfgebieten stellte diese eine weitere Zone der Erfahrbarkeit des Krieges dar. Es war der Erste Weltkrieg, in dem »die Europäer 3 Eine Zusammenfassung der Forschungstrends siehe bei  : Neitzel, Sönke  : Der Erste Weltkrieg  – Regionale Perspektiven im europäischen Kontext. Einführende Bemerkungen, in  : Elvert, Jürgen (Hg.)  : Der Erste Weltkrieg  – regionale Perspektiven, Stuttgart 2016  ; Cornelißen, Christoph  : »Oh  ! What a lovely War  !« Zum Forschungsertrag und zu den Tendenzen ausgewählter Neuerscheinungen über den Ersten Weltkrieg, in  : Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 65 (2014) Heft 5/6, 269–283  ; Epkenhans, Michael  : Der Erste Weltkrieg. Jahresgedenken, neue Forschungen und Debatten einhundert Jahren nach seinem Beginn, in  : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 63 (2015) Heft 2, 135–165. Zur Erforschung des Ersten Weltkrieges auf regionaler Ebene und in Mittel- und Kleinstädten im Zuge des Jubiläumsjahres beispielhaft  : Kuhn, David (Hg.)  : Als der Krieg vor der Haustür stand. Der Erste Weltkrieg im Baden und Württemberg, Tübingen 2014  ; Hermann, Michael et al. (Hg.)  : Ostfriesland im Ersten Weltkrieg, Aurich 2014  ; Krauß, Martin et al. (Hg.)  : »Heimatfront«  – Der Erste Weltkrieg und seine Folgen im RheinNeckar-Raum (1914–1924), Ubstadt-Weiher 2014  ; Scholl, Lars (Hg.)  : Bremen und der Erste Weltkrieg. Kriegsalltag in der Hansestadt, Bremen 2014  ; Nierhaus, Hans-Werner  : Zwischen Kriegsbegeisterung, Hunger und Umsturz. Mülheim an der Ruhr im Ersten Weltkrieg, Essen 2015  ; Morelon, Claire  : Street fronts  : war, state legitimacy and urban space, Prague 1914–1920, Phil. Diss. Birmingham 2015. 4 Vgl. das Vorwort des Bürgermeisters der Stadtgemeinde Feldbach, Josef Ober, in  : Arlt, Elisabeth/Dornik, Wolfram/Grasmug, Rudolf/Vreča, Beatrix (Hg.)  : Krieg, fern der Front. Die Südoststeiermark im Ersten Weltkrieg (Schriften aus dem »Museum im Tabor« Feldbach 13), Feldbach 2015, 6. 5 Als Ausdruck dessen kann auch der Erfolg Christopher Clarks »Die Schlafwandler – Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog« gewertet werden. Alleine in Deutschland verkauften sich bis Anfang Mai 2014 mehr als 200.000 Exemplare, sein Buch avancierte zum Bestseller und wurde breit rezipiert. Während die interessierte Öffentlichkeit das Buch positiv aufnahm, sahen Historiker:innen Clarks Werk sehr ambivalent. Der in Cambridge lehrende australische Historiker stieß eine breit geführte Debatte über die Schuld am Kriegsausbruch 1914 an. Wernecke, Klaus  : Christopher Clark  : Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013, in  : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 62 Jg. (2014) Heft 1, 77–79  ; Dülffer, Jost  : Rezension zu  : Clark, Christopher  : Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013, in  : H-Soz-Kult, 21.11.2013 (www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb20294  ; download 9.2.2022). 6 So auch als Ausstellungstitel formuliert, vgl. Doppler, Achim/Eminger, Stefan/Loinig, Elisabeth (Hg.)  : Fern der Front – mitten im Krieg. Niederösterreich 19141918. Begleitbuch zur Ausstellung 30.9.2014 bis 27.2.2015, St. Pölten 2015.

»Gerichtete Gesellschaft« 

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lernten, dass auch bei ihnen der Krieg nicht als Militärduell vor den Toren der Zivilgesellschaft ausgetragen wird. Ein neues Wort wurde für diese Erfahrung geprägt  : Heimatfront, home front, front de l’arrière [Kursivsetzung im Original].«7 Der Begriff verweist bereits auf den »totalen Krieg«, der sich zwischen 1914 und 1918 in der zunehmenden Ausrichtung der gesamten Gesellschaft der kriegführenden Mächte Europas auf die militärischen Erfordernisse äußert  :8 »Der Krieg fordert jeden einzelnen, ob Soldat oder Zivilist, Mann oder Frau, alle haben ihm zu Diensten zu sein, auch die Wirtschaft – eine Gesellschaft im Ausnahmezustand.«9 Wie für das im folgenden Zitat angesprochene Deutsche Reich galt auch für Österreich-Ungarn  : Nach über vier Jahren Krieg »hatte sich die Heimat – ähnlich wie der Krieg an den Fronten und im Takt der zunehmenden Industrialisierung – vollkommen verändert, ja, sie war selbst eine Art Kriegsteilnehmer geworden.«10 Diese Entwicklung ist nicht nur als Ergebnis von Einflussnahme und Propaganda, sondern der »sich beständig in ihren Mitteln und Auswirkung steigernde[n] Indienstnahme der Heimat und ihrer Menschen für den Krieg«, wie auch »der nicht enden wollenden Selbstmobilisierung einiger Teile der Bevölkerung« aufzufassen.11 In der kulturwissenschaftlichen Betrachtung des »Großen Krieges« steht daher auch der Einfluss des Krieges auf die Wahrnehmung und Deutung aller Lebensbereiche und Alltagserfahrungen sowie deren Ausrichtung auf den Krieg im Vordergrund – wie Roger Chickering konstatiert  : Total war left nothing, absolutely nothing untouched. This principle applied to the homefront no less than the fighting front – to the conduct of military operations, the politics and diplomacy of war, the development of economies and societies, and the culture of war in all of its many, many manifestations. Even the subjective experiences of war could be anchored within this all-embracing analytical context.12

Im Zusammenhang mit diesen Wahrnehmungen und Entwicklungen formte sich die Bezeichnung »Heimatfront« aus. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich zeitgenössisch nicht um einen Begriff handelt, der – vor allem im Vergleich zu »Kriegsschauplatz«  7 Langewiesche, Dieter  : Das Europa der Kriege, in  : Den Boer, Pim/Duchhardt, Heinz/Kreis, Georg/­Schmale, Wolfgang (Hg.)  : Europäische Erinnerungsorte 1  : Mythen und Grundbegriffe des europäischen Selbstverständnisses, München 2012, 281.   8 Purseigle, Pierre  : Home Fronts  : the Mobilization of Resources of Total War, in  : Chickering Roger/Showalter, Dennis/Van de Ven Hans (Hg.)  : The Cambridge History of War, Vol 4  : War and the Modern World, New York 2012, 257–284, 258.   9 Ebd., 281–282. 10 Flemming, Thomas/Ulrich, Bernd  : Heimatfront. Zwischen Kriegsbegeisterung und Hungersnot  – wie die Deutschen den Ersten Weltkrieg erlebten, München 2014, 15. 11 Ebd. 12 Chickering, Roger  : Why Are We Still Interested in This Old War, in  : Keene, Jennifer D./Neiberg, Michael S. (Hg.)  : Finding Common Ground. New Directions in First World War Studies (History of Warfare 62), Leiden-Boston 2011, 12–13.

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Nicole-Melanie Goll · Werner Suppanz

oder »Kriegstheater« – bereits eine zentrale Stellung in den Kriegsdiskursen oder konkret der Propaganda eingenommen hätte. Eine »Begriffsgeschichte der Heimatfront« ist für die Habsburgermonarchie oder ihre deutschsprachigen Teile noch ausständig. Feststellbar ist er erstmals im Frühjahr 1917 in England – als »home front« – und in Deutschland als Ausdruck der Radikalisierung der Kriegsanstrengungen.13 Als These lässt sich hier formulieren, dass das Konzept der »Heimatfront« einen semantischen Nachvollzug einer seit Kriegsbeginn dauernden Totalisierung des Krieges darstellt, der auf der Auffassung von einer hierarchischen Überlegenheit der militärischen »Kriegsschauplätze« beruhte  : »In der Idee der H.[eimatfront] und dem mit ihr verbundenen semantischen Feld ging es zunächst um die Einbeziehung der Zivilbevölkerung in die Kriegsanstrengungen in Analogie zu den kämpfenden Truppen, allerdings in einer nachgeordneten Position.« Er war daher auch  – insbesondere im Deutschen Reich  – nach der Niederlage für Schuldzuweisungen an vorgeblich verräterische Teile der Bevölkerung geeignet, die dem als »siegreich« und »tapfer« wahrgenommenen Heer und damit der »kämpfenden Front« gewissermaßen in den Rücken gefallen seien  : »Der Begriff war somit anschlußfähig für das gesamte Spektrum der Vorstellungen vom ›inneren Feind‹ […].«14 Wie die begriffliche Verschmelzung schon andeutet, ist für das Konzept der »Heimatfront« die Auflösung symbolischer und mentaler Grenzziehungen und Raumordnungen charakteristisch.15 »[D]ie Heimat als Kulisse des Kriegsgeschehens, als gewaltfreier Bereich fern der bewaffneten Auseinandersetzungen, die zivile Welt im Dienst der kämpfenden Soldaten, die Unterordnung einer ›weiblichen‹ Sphäre der Heimat unter die ›männliche‹ Welt der Front«16 – all das wird zwar als Ideal weiterhin vermittelt, aber zunehmend von gesellschaftlichen Entwicklungen untergraben. Die Abhängigkeit des Militärs von der Ausrichtung der gesamten Bevölkerung auf die Kriegsanstrengungen wächst. Die Auswirkungen der militärischen und Formen struktureller Gewalt prägen das »Hinterland« zunehmend. Zumindest situative Gewaltgemeinschaften spielten nicht nur im militärischen Geschehen eine Rolle, sondern konnten sich auch als Gewalt gegen Zivilist:innen in den Gesellschaften kriegsbeteiligter Staaten äußern.17 Schließlich lässt sich das Funktionieren der Gesellschaft ohne die zuneh13 Vgl. Baumeister, Martin  : Heimatfront, in  : Hirschfeld, Gerhard/Krumeich, Gerd/Renz, Irina (Hg.)  : Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Aktualisierte und erweiterte Studienausgabe, Paderborn et al. 2009, 993–994  ; Flemming/Ulrich, Heimatfront (2014), 16–19. 14 Baumeister, Heimatfront (2009), 994. 15 Vgl. Chickering, Roger/Förster, Stig (Hg.)  : Great War, Total War. Combat and Mobilization on the Western Front, 1914–1918, Cambridge-New York 2000. 16 Ebd., 993. 17 Vgl. Stibbe, Matthew  : Gewalt gegen Zivilisten  : »Arbeitsverweigerer« im besetzten Nordfrankreich und im südlichen Bayern während des Ersten Weltkrieges, in  : Müller, Sven Oliver/Pschichholz, Christian (Hg.)  : Gewaltgemeinschaften  ? Studien zur Gewaltgeschichte im und nach dem Ersten Weltkrieg, Frankfurt-New York 2021, 75–104.

»Gerichtete Gesellschaft« 

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mende Übernahme von Tätigkeitsbereichen, die die bürgerliche Ordnung den Männern vorbehielt, durch Frauen nicht mehr aufrechterhalten.18 Gleichzeitig standen der beschriebenen Verschränkung auch Formen sozialer Segregation gegenüber. Die »Heimatfront« war – wie komplementär dazu die militärische Front – in hohem Maße auch durch Geschlecht und Alterskohorten definiert  : »The majority of those who shared the experience of war on the ›homefront‹ were female, or, if they were male, young or elderly  ; here at home they shared commonalities of gender, class, confession, regional identity and age cohort.«19

Krieg und Region Die hier dargestellten Forschungsansätze werden sowohl auf einer allgemeinen (globalen, europäischen, nationalen) Ebene behandelt als auch gerade auf der Ebene des Lokalen und Regionalen exemplarisch untersucht und präzisiert. Dabei richtet sich das Interesse nach einer schon länger andauernden Fokussierung auf Hauptstädte und Metropolen20 insbesondere seit dem »Forschungsboom« ab den frühen 2010erJahren verstärkt auf urbane Zentren zweiter Ordnung,21 Kleinstädte und ländliche Gebiete. Erstere fanden als »›nerve centres‹ of the war, the places where the key decisions were taken and confirmed or changed by key political groups and individuals« stets vorrangige Aufmerksamkeit.22 Die Mittel- und Kleinstädte, kleineren und mittleren Gebietskörperschaften sind hingegen geprägt durch »die Überschaubarkeit dieser Kommunen, die intensivere face-to-face-Kommunikation zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen, zivilen und militärischen Behörden, die Wirtschaftsstruktur und die oft unmittelbare Verflechtung mit dem ländlichen Umfeld, die besonderen Formen von Öffentlichkeit.« Der »Große Krieg« schuf dabei – wie Roger Chickering festhielt – den gemeinsamen Rahmen, der auf lokaler Ebene durch regionale Spezifika 18 Vgl. Hagemann, Karen/Schüler-Springorum, Stefanie (Hg.)  : Heimat-Front. Militär und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege, Frankfurt/Main 2001. Siehe auch  : Meteling, Wencke  : Heimat, in  : Pöhlmann, Markus/Potempa, Harald/Vogel, Thomas (Hg.)  : Der Erste Weltkrieg. Der deutsche Aufmarsch in ein kriegerisches Jahrhundert. Im Auftrag des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, München 2014, 185–190. 19 Chickering, Why Are We Still Interested in This Old War (2011), 16. 20 Siehe z. B. Winter, Jay M./Robert, Jean-Louis (Hg.)  : Capital Cities at War. Paris, London, Berlin 1914– 1919 (Studies in the Social and Cultural History of Modern Warfare), Cambridge 1997  ; Winter/Robert (Hg.)  : Capital Cities at War. Paris, London, Berlin 1914–1919. Vol. 2  : A Cultural History (Studies in the Social and Cultural History of Modern Warfare), Cambridge 2007. 21 Vgl. Kannonier, Reinhard/Konrad, Helmut  : Einleitung, in  : Kannonier/Konrad (Hg.)  : Urbane Leitkulturen 1890–1914. Leipzig – Ljubljana – Linz – Bologna (Studien zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte 6), Wien 1995, 7–16. 22 Winter, Jay  : Paris, London, Berlin 1914–1919  : Capital Cities at War, in  : Winter/Robert  : Capital Cities (1997), 6.

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Nicole-Melanie Goll · Werner Suppanz

unterschiedliche Handlungsoptionen und Reaktionen zuließ.23 Dieses Forschungsfeld ist noch voller Desiderate, wie nicht nur für das Deutsche Reich zu konstatieren ist.24 Im deutschsprachigen Raum hatten die Studien zu Darmstadt und Freiburg/Breisgau aus den 1990er-Jahren noch den Charakter einer Avantgarde.25 In Österreich waren es zunächst die Forschungen in Innsbruck, die seit 1995 mit der mittlerweile aus neun Bänden bestehenden Reihe »Tirol im Ersten Weltkrieg« einen betont regionalen Fokus erarbeiteten.26 Folglich nimmt Tirol hinsichtlich der umfassenden Aufarbeitung der Region bis dato eine Sonderstellung ein, die sich ebenfalls seit den 1990er-Jahren etablierte.27 Gleichzeitig ist aber zu konstatieren, dass im Vor- und Umfeld des Jahres 2014 die Zahl an Ausstellungen, Tagungen und Publikationen zur Geschichte von Städten, Ortschaften und Regionen, oft gerade abseits der urbanen Zentren, einen kaum noch überschaubaren Boom erlebt hat, der selbst noch einer systematischen Bestandsaufnahme und Analyse harrt.28 Forschung und vor allem Wissenschaftsvermittlung waren 23 Chickering, Roger  : Freiburg im Ersten Weltkrieg. Totaler Krieg und städtischer Alltag 1914–1918, Paderborn 2007, 11. 24 Vgl. »Provinz« und »Heimatfront«. Kleine und mittlere Kommunen im Ersten Weltkrieg, 9.10.– 10.10.2014 Jena, in  : H-Soz-Kult, 26.2.2014 (http://www.hsozkult.de/event/id/termine-24273  ; download 10.3.2015). 25 Vgl. Stöcker, Michael  : »Augusterlebnis 1914« in Darmstadt. Legende und Wirklichkeit, Darmstadt 1994  ; Geinitz, Christian  : Kriegsfurcht und Kampfbereitschaft. Das Augusterlebnis in Freiburg. Eine Studie zum Kriegsbeginn 1914 (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte  : Neue Folgen 7), Essen 1997. Zu Freiburg weiters  : Chickering, Roger  : The Great War and Urban Life in Germany. Freiburg, 1914–1918 (Studies in the Social and Cultural History of Modern Warfare 24), Cambridge 2007. 26 Tirol im Ersten Weltkrieg. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, Innsbruck  : Universitätsverlag Wagner, 9 Bände 1995–2011. 27 Siehe dazu  : Kuprian, Hermann J./Überegger, Oswald (Hg.)  : Katastrophenjahre. Der Erste Weltkrieg und Tirol, Innsbruck 2014. Auch  : Egger, Matthias  : Wir gehen furchtbar ernsten Zeiten entgegen«. Die Tagebuchaufzeichnungen von Markus Graf Spiegelfeld aus den Jahren 1917–1923 (Erfahren – Erinnern – Bewahren. Schriftenreihe des Zentrums für Erinnerungskultur und Geschichtsforschung 8), Innsbruck 2019. An der Universität Salzburg setzte in den letzten Jahren eine Auseinandersetzung mit dem »Großen Krieg« mit betont regionalem Fokus ein. Siehe etwa  : Bikic, Azra/Cole, Laurence/Egger, Matthias et al. (Hg.)  : Schwere Zeiten. Das Tagebuch des Salzburger Gemischtwarenhändlers Alexander Haidenthaller aus dem Ersten Weltkrieg (Schriftenreihe des Archivs der Stadt Salzburg 50), Salzburg 2018  ; Cole, Laurence/Rybak, Jan/Horejs, Marlene  : When the Music Stopped  : Reactions to the Outbreak of World War I in an Austrian Province, in  : Austrian History Yearbook, 52 (2021), 147–165. 28 In diesem Zusammenhang sollen u. a. folgende Ausstellungen in Österreich Erwähnung finden, die erstmals den Ersten Weltkrieg auf regionaler Ebene aufgriffen und einem breiten Publikum zugänglich machten  : Landesmuseum Burgenland  : Land im Krieg. Zwischen Schützengraben und Heimatfront«, 3.4.–11.11.2014  ; Oberösterreichisches Landesmuseum  : »Vom Leben mit dem Krieg  – Oberösterreich im Ersten Weltkrieg«, 22.1.2014–11.1.2015  ; Wienbibliothek im Rathaus  : Wohin der Krieg führt. Wien im Ersten Weltkrieg,15.11.2013–23.5.2014  ; Wien Museum  : Wien im Ersten Weltkrieg. Stadtalltag in Fotografie und Grafik,16.10.2014–18.1.2015  ; Tiroler Landesmuseum  : April 1914. Tirol vom Frieden in den Krieg 3.4.–30.11.2014  ; Bregenzerwald Archiv  : Der Bregenzerwald im Ersten Weltkrieg,

»Gerichtete Gesellschaft« 

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vom »Trend zur Lokalisierung des Ersten Weltkrieges«, dem sich kaum ein Landes-, Stadt- oder Regionalmuseum entziehen konnte, geprägt.29 Diesem Trend folgend, war im Zuge der Jubiläumsjahre auch ein gesteigertes Forschungssinteresse an der Steiermark im »Großen Krieges« zu bemerken, deren Ergebnisse der vorliegende Band präsentiert. Das Kronland, gemessen an seiner flächenmäßigen Ausdehnung und Bevölkerungszahl die viert- bzw. fünftgrößte Region des Habsburgerreiches, ein zweisprachiges Gebiet, das bereits weit vor 1914 eine zunehmende nationale, politische und soziale Polarisierung erlebt hatte – dies hatte u. a. auch zur Sistierung des steirischen Landtages und des Grazer Gemeinderates am Vorabend des Krieges geführt  –, war zwar nicht unmittelbar von Kampfhandlungen betroffen, doch schrieb sich der Erste Weltkrieg auch hier nicht nur in die politische, ökonomische und kulturelle Systemebene, sondern auch in die Lebenswelt der Menschen ein. Mit Graz, der ca. 140.000 Einwohner:innen umfassenden Hauptstadt des Kronlandes, einer »[…] Großstadt, die auf dem Lande steht«30 wie Peter Rosegger sie beschrieb, verfügte die Steiermark über keine »Metropole« im klassischen Sinne. Zutreffend für 1.8.2014–11.11.2018  ; Schloss Schallaburg »Jubel & Elend. Leben mit dem Großen Krieg 1914–1918«, 18.3.–5.11.2014  ; Stadtmuseum Wiener Neustadt  : Für Kaiser und Vaterland  ? Wiener Neustadt im Ersten Weltkrieg, 28.3.–2.11.2014  ; Museum Hundsmarktmühle  : »An meine Völker«. Der Erste Weltkrieg in Thalgau 1914–1918, 14.6–26.10.2014  ; Krupp Stadt Museum BERNDORF  ; 1914. MANN.FRAU.KIND. VOLKSKRIEG. Alltag an der Heimatfront bis 26.10.2014, Museum im Lavanthaus Wolfsberg  : Lagerstadt Wolfsberg. Flüchtlinge  – Gefangene  – Internierte, 13.4.–31.10.2014  ; Volkskundemuseum Wien  : »Objekte im Fokus  : Arbeiten ruthenischer Flüchtlinge im Ersten Weltkrieg. Stick- und Knüpfmusterstücke«, 30.4.–2.11.2014  ; Museum Schloß Bruck  : Heimat/Front  : Lienz und der Krieg 1914–1918, 28.9.– 26.10.2015. Beispielhaft auch die Publikationen  : Dohle, Oskar/Mitterecker, Thomas (Hgg.)  : Salzburg im Ersten Weltkrieg. Fernab der Front – dennoch im Krieg (Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek 48), Wien-Köln 2014  ; Pfoser, Alfred/ Weigl, Andreas (Hg.)  : Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013  ; Schallaburg (Hg.)  : Jubel und Elend. Leben mit dem Großen Krieg 1914–1918, Schallaburg 2014  ; Oberösterreichisches Landesmuseum (Hg.)  : Oberösterreich im Ersten Weltkrieg, Linz 2014. 29 Vgl. Dornik, Wolfram/Vreča, Beatrix  : Einleitung, in  : Arlt/Dornik/Grasmug/Vreča (Hg.)  : Krieg, fern der Front (2015), 9. Als Beispiele für Ausstellungen mit Fokus auf das Territorium des Kronlandes Steiermark  : Die Steiermark und der Große Krieg. Graz, Universalmuseum Joanneum, 27.6.2014–5.7.2015  ; »Ihr lebt in einer großen Zeit, …« Propaganda und Wirklichkeit im Ersten Weltkrieg. Steiermärkisches Landesarchiv, 14.5.2014–20.11.2015  ; Die Südoststeiermark im Ersten Weltkrieg. Feldbach, Museum im Tabor, 1.4.2014–26.10.2014  ; Hoffnung mit Ablaufdatum. Radkersburg und der Erste Weltkrieg. Bad Radkersburg, Museum im alten Zeughaus, 25.6.2014–30.6.2015  ; Kri iz večernih sladkih oblakov. Usode v véliki vojni [Blut aus süßen Abendwolken. Schicksale im Großen Krieg]. Maribor, Pokrajinski Muzej, 5.6.2014–28.2.2015. Zum »langen Ersten Weltkrieg«, der in Kämpfe um die Grenzziehung übergeht, siehe auch  : Stadtgemeinde Radkersburg (Hg.)  : Im Brennpunkt des Geschehens 1918–1920. Vom Übermurgebiet über Radkersburg bis Mureck/V žarišču dogodkov 1918–1920. Od prekmurja prek Radgone do Cmureka, Bad Radkersburg/Radgona 2018  ; zum Übergang vom Weltkrieg zur Nachkriegszeit schon anlässlich des 90. Jahrestages der Republik  : Riegler, Josef (Hg.)  : November 1918. Die Steiermark zwischen Monarchie und Republik (Steiermärkisches Landesarchiv. Ausstellungsbegleiter 6), Graz 2008. 30 Steiermark. Druckschrift des Landesverbandes für Fremdenverkehr in Steiermark, Jg. 1914, 31.

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Städte wie Graz als »Zentrum zweiter Ordnung« sind die Charakteristika, die Maureen Healy für den »Großen« als »totalen Krieg« in Wien anführt  : Das betrifft »the erosion of boundaries during World War I between the realms of war and ›not-war‹, of distinct places where soldiers fight and where civilians maintain social norms so that society can eventually return to peace«. Auch, dass »all members of society, regardless of age or gender, are engaged in war-making in some capacity«, ist kein Spezifikum der Metropolen. Und gerade die mikrohistorische, auf die alltägliche Lebenswelt fokussierte Sicht macht deutlich, dass everyday matters previously considered private or sub-political were refracted through the medium, or lens, of war […]. The power of this particular lens was that nearly everything passed through it  : food, fashion, shopping, child-rearing, leisure and neighbor relation were just some of the everyday matters reinterpreted through war. Total war, then, became a war in which no action or deed was too small or insignificant to be considered a matter of state.31

Die mikrohistorische Sicht verweist aber gleichzeitig auch auf die sozial differenzierte, nach gesellschaftlichen Gruppen unterschiedliche Wahrnehmung des Krieges, die vor allem in den Reaktionen zu Kriegsbeginn sichtbar wird. Denn es war auch in der Steiermark nicht pauschal »die Gesellschaft« oder »die Bevölkerung«, die das »Juli-Erlebnis« – analog zum deutschen »August-Erlebnis« – bejubelten. Was seit den 1990er-Jahre in Studien zu deutschen Städten Thema ist,32 macht auch das close reading von Städten wie Graz, der Hauptstadt des Kronlandes Steiermark, deutlich  : Der Kampf um die Deutung der Juli-Krise und des Kriegsbeginns war in hohem Maße ein Kampf um die Sichtbarkeit von Skepsis oder Begeisterung im öffentlichen Raum, in dem die Inszenierung der abziehenden Heereseinheiten und ihre kontrollierte mediale Vermittlung schließlich für die Herstellung jener Bilder sorgten, die als »Euphorien des Anfangs«33 das kollektive Gedächtnis prägten.34 Die »Militarisierung der Straßen«, die auch in einem Beitrag dieses Bandes explizit behandelt wird, fungierte als sichtbares Zeichen dieses Kontrollregimes. Zusammenfassend zu dieser Ambivalenz von 31 Healy, Maureen  : Vienna and the Fall of the Habsburg Empire. Total War and Everyday Life in World War I, Cambridge 2004, 3. Vgl. Pfoser, Alfred/Weigl, Andreas  : Die Pflicht zu sterben und das Recht zu leben. Der Erste Weltkrieg als bleibendes Trauma in der Geschichte Wiens, in  : Dies. (Hg.)  : Epizentrum des Zusammenbruchs (2013), 14–31. 32 Vgl. Stöcker, »Augusterlebnis 1914« in Darmstadt (1994)  ; Geinitz, Christian/Hinz, Uta  : Das Augusterlebnis in Südbaden. Ambivalente Reaktionen der deutschen Öffentlichkeit auf den Kriegsbeginn 1914, in  : Hirschfeld, Gerhard/Krumeich, Gerd/Langewiesche, Dieter/Ullmann, Hans-Peter (Hg.)  : Kriegserfahrungen. Studien zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkrieges (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte N.F. 5), Essen 1997, 20–35. 33 Flemming/Ulrich, Heimatfront (2014), 20. 34 Vgl. die Beiträge von Bernhard Thonhofer und Monika Stromberger in diesem Band. Siehe auch  : Konrad, Helmut/Goll, Nicole-Melanie  : Die Steiermark und der »Große Krieg«, Graz 2014, 32–35.

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Kontrollregime und Mitgestaltung der Verhältnisse ist daher mit Roger Chickering zu betonen, dass jede Untersuchung der »Heimatfront« der aktiven Bewältigung der bestehenden Verhältnisse und der Bedeutungszuschreibung durch lokale und regionale Bevölkerung impliziert  : [T]he men, women, and children who lived through the war composed their own experiences of the ordeal. They all faced the challenge of making sense of the war’s impact on people like themselves. They sought accordingly to situate their ordeal in historical time and social space, to locate the war’s impact not only in a coherent narrative framework, but also in a system of social categories, like class, confession, and age-cohort. Insofar as they attempted to understand, interpret, comprehend or otherwise to ›construct‹ it, they all made their own war. And their ›constructions‹ of the war authorized in turn a broad range of social and political practices – most, but by no means all of which ensured the continuation of the war, the prolongation of its material burdens, however these had been textualized.35

Dieser Aspekt steht auch im Vordergrund dieser Publikation. Gleichzeitig ist aber auch auf die Ambivalenz dieser Verschränkung von »Front« und »Heimat« hinzuweisen. Sie ist nicht allein auf Gefühle der Unsicherheit und die direkte oder indirekte Wahrnehmung von Gewalt zu reduzieren, sondern wurde auch als Chance betrachtet  : Die gegenüber früheren Kriegen intensivierte Kommunikation zwischen den Kampfgebieten und dem Hinterland bot für Soldaten und die Zivilbevölkerung die Möglichkeit einer Verstetigung des Kontakts. Hier ist auf Feldpostbriefe und Postkarten zu verweisen ebenso wie auf (Feld-)Zeitungen und Kriegsflugblätter, die dem Austausch von Informationen, aber auch propagandistischen und kulturpolitischen Agenden dienten. Im steirischen Fall trifft dies auf die »Heimatgrüße«, die Kriegsflugblätter des »Vereins für Heimatschutz in Steiermark« zu, die gezielt das Konzept einer exklusiv deutschnational verstandenen »steirischen Heimat« vertraten.36

Militärisch-Zivile Beziehungen Die Grenzziehung zwischen militärischer Kampfzone im konkreten Sinne und militarisiertem Zivilleben war anders als im Zweiten Weltkrieg noch weitgehend aufrecht. Das gilt für die Regionen in Österreich-Ungarn noch in höherem Maße als z. B. in Großbritannien, wo insbesondere London schon verstärkt Ziel von Luftangriffen war.37 35 Chickering, Why Are We Still Interested In This Old War (2011), 16–17. 36 Vgl. Suppanz, Werner  : Eine Liebesgabe für das deutsche Herz. Die Kriegsflugblätter Heimatgrüße des Vereins für Heimatschutz im Ersten Weltkrieg, in  : Senarclens de Grancy, Antje (Hg.)  : Identität Politik Architektur. Der »Verein für Heimatschutz in Steiermark« (architektur + analyse 4), 65–68. 37 Siehe dazu u. a.: Grayzel, Susan R.: At Home and under Fire. Air Raids and Culture in Britain from the

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Die Formen der Verschränkung von »Front« und »Heimat«, in der der Krieg in vielfältiger Form und nicht nur als geografisch fernes Ereignis wahrnehmbar war, lassen sich gerade in der Fokussierung auf die Stadt und die Region sichtbar machen und der Analyse unterziehen. Wie etwa nun die zivilen Behörden, etwa Statthalter Manfred von Clary-Aldringen (1852–1928) und Landeshauptmann Edmund Graf Attems (1847– 1929), die seit mehr als einem Jahrzehnt an der Spitze des politischen Verwaltungsapparates standen, zwischen 1914 und 1918 mit dem Militär auf den unterschiedlichen Ebenen zusammenarbeitete, harrt noch einer ausführlichen wissenschaftlichen Auseinandersetzung.38 Die Verhängung des Kriegsrechts und die Notverordnungen, u. a. die Unterstellung der Zivilpersonen unter die Militärgerichtsbarkeit, erweiterten militärische Zuständigkeiten und gaben dem Militär die entsprechenden Instrumente in die Hand, adäquate Werte, Normen und Praktiken in der sozialen Lebenswelt der Zivilbevölkerung durchzusetzen und den Alltag an der »Heimatfront« maßgeblich zu verändern.39

Die Erfahrung von Gewalt und Gefangenschaft Die Steiermark fungierte als wichtige Verkehrsdrehscheibe, neben Rohstoffen transportierten die Staats- und Privatbahnen  – im ersten Jahrzehnt des 20.  Jahrhunderts erfuhr das steirische Eisenbahnnetz eine erhebliche Erweiterung – vor allem menschliches Material. Von steirischen Bahnhöfen, zivil-militärischen Begegnungsorten, aus Great War to the Blitz, Cambridge-New York 2012  ; zu London et al.: Goebel, Stefan/White, Jerry  : London and the First World War, in  : The London Journal, 41 (2016) Heft 3, 199–218. 38 Manfred von Clary und Aldringen, 1852 in Wien geboren, trat nach seinem Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Wien 1877 in den Staatsdienst ein. Nach unterschiedlichen Funktionen in der niederösterreichischen Verwaltung, wechselte er 1894 als Regierungsrat nach Klagenfurt. Nach zweijähriger Dienstzeit in Schlesien wurde er 1898 zum k. k. Statthalter des steirischen Kronlandes ernannt. Dieses Amt sollte er – mit kurzer Unterbrechung etwa als er 1899 die Geschäfte des stellvertretenden Ministerpräsidenten und Ackerbauminister übernahm – bis 1918 ausüben. Clary-Aldringen, seit 1884 mit Franziska Gräfin Pejácsevich von Veröcze (1859–1938) verheiratet, stellte  – gemeinsam mit Landeshauptmann Edmund von Attems –fast zwanzig Jahre die politische Konstante auf Landesebene dar. Clary-Aldringen übergab am 25. Oktober 1918 die Geschäfte an zwei Wirtschaftskommissäre und zog sich daraufhin aus der Öffentlichkeit zurück. Er starb 1928. Eine umfangreiche, objektiv gehaltene Biographie ist noch ausständig. Bisher  : Flooh-Wagnes, Elma  : Manfred Graf Clary und Aldringen  : der letzte k. k. Statthalter in Steiermark, sein Leben und Wirken, Graz 1952. Ähnliches muss für Edmund Graf Attems gelten. 39 Moll, Martin  : Erster Weltkrieg und Ausnahmezustand, Zivilverwaltung und Armee  : Eine Fallstudie zum innerstaatlichen Machtkampf 1914–1918 im steirischen Kontext, in  : Beer, Siegfried/Marko-Stöckl, Edith/Raffler, Marlies/Schneider, Felix (Hg.)  : Focus Austria  : Vom Vielvölkerreich zum EU-Staat. Festschrift für Alfred Ableitinger zum 65. Geburtstag, Graz 2003, 383–407, hier 389–399  ; Deak, John/Gumz Jonathan E.: How to Break a State  : The Habsburg Monarchy’s Internal War, 1914–1918, in  : The American Historical Review, Jg. 122 (2017) Heft 4, 1105–1136, hier 1120–1121.

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hatten Soldaten in weit entfernte Kampf- und Besatzungsgebiete aufzubrechen, auf mehr und größere Teile Europas verstreut als je zuvor. Zugleich waren es Kriegsgefangene anderer Armeen, Flüchtlinge und Zivilinternierte aus dem eigenen Reich, die aus diesen Kampf- und Besatzungsgebieten kamen und als »Fremde« unterschiedliche Stellungnahmen und Bewertungen provozierten. Charakteristisch ist daher auch, dass die lokale und regionale Ebene sowohl in den Forschungsthemen als auch in der Repräsentation und Vermittlung des Ersten Weltkriegs zunehmend im Sinne einer shared oder entangled history behandelt werden. Paradigmatisch dafür ist die zunehmende Aufmerksamkeit, die auch erinnerungskulturell den Lagern gilt. Sie macht deutlich, dass das Kronland, die Stadt, der Ort, – anders als es klassische »Heimatgeschichte« suggeriert  – als Teil eines überregionalen Zusammenhangs der Infrastruktur, der Kommunikation und der Mobilität aufzufassen sind, der im Großen Krieg selbstverständlich eine Verdichtung erfuhr.40 Der Krieg drang aber auch in Kleinstädte und ländliche Regionen in Gestalt des »Fremden« etwa von Flüchtlingen aus den Kampfgebieten vor. Schon früh – wie einzelne Beiträge zeigen werden – sollten Männer, Frauen und Kinder aus den Grenzgebieten der Monarchie, aus Galizien, der Bukowina, aus Friaul oder dem Küstenland vertrieben und evakuiert werden. Die Flüchtlinge wurden in Konfinierungsorten, Städten und Lager in der Steiermark verteilt, zeugten durch ihre Präsenz im Hinterland von Niederlage und Misserfolgen der Armee und entwickelten sich zu einer sozialen Belastungsprobe, der man mit der Konstruktion von Gemeinschaft entgegenwirken wollte. Einer gewaltförmigen Unterordnung waren zudem die Zivilinternierten, vor allem die Ruthen:innen im Lager Thalerhof, und die Kriegsgefangenen unterworfen, deren Präsenz als medial skizzierte Sündenböcke oder als Zwangsarbeiter:innen in Landwirtschaft, Straßenbau oder an anderen Einsatzorten auch für die Zivilbevölkerung sichtbar war.41 Auch die Steiermark entwickelte sich, innerhalb weniger Monate zu einem »Lagerland«, in dem sich ein Netz aus unterschiedlichen Verwahrungsorten aufspannte. Die »verflochtene Geschichte« der Ebene unterhalb der jeweiligen nationalen oder gesamtstaatlichen Perspektive prägt die aktuellen Forschungsinteressen ebenso wie die Vermittlung der Jahre des Ersten Weltkriegs in Ausstellungen und fließt auch zum Beispiel in Theaterstücke ein. Es sind, wie auch das steirische Beispiel zeigt, konkrete Orte wie Thalerhof oder Wagna, die durch ihre Lager 40 Cornelißen spricht in diesem Zusammenhang von einer »Glokalisierung«, wenn »in den Stadt- und Regionalgeschichten auch das Globale des Weltkrieges zum Vorschein« kommt. Cornelißen, Christoph, »Wege ins Unbekannte«. 1914 und die Rückkehr des Ersten Weltkriegs 2014, in  : Löffelbein, Nils/Fehlemann, Silke/Cornelißen, Christoph (Hg.)  : Europa 1914. Wege ins Unbekannte, Paderborn 2016, 269– 287, 283. Als Beispiel für einen regionalen Überblick siehe  : Gusenbauer, Ernst  : »Krieg, Seuchen und kein Stück Brot«. Kriegsgefangenenlager und Zivilbevölkerung in Oberösterreich, Innsbruck 2021. 41 Vgl. Goll, Nicole-Melanie  : »… Dass wir es mit zwei Kriegen zu tun haben, der eine ist der Krieg nach außen der andere nach innen« – Die Ruthenen und das k. k. Zivilinterniertenlager bei Graz 1914–1917, in  : Historisches Jahrbuch der Stadt Graz, 40 (2010), hg. von Friedrich Bouvier und Nikolaus Reisinger, 277–305.

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mit konkreten Orten oder Gegenden in Galizien oder Friaul in einen – auch erinnerungskulturellen – Zusammenhang traten. Gleichzeitig führte die Unterbringung der »Fremden« zu einer Überspannung der nationalen Solidarität  : mit dem zunehmend schwieriger werdenden Zugang der Bevölkerung zu Lebensmitteln entbrannte ein Kampf ums Überleben, der Stadt-Land-Unterschiede schärfte und letztlich zu einem Kampf um Moral an der Heimatfront werden sollte. Die beschriebene Entwicklung zum »totalen Krieg« im Sinne Maureen Healys lässt sich aber auch als Durchdringung der Gesellschaft durch strukturelle Gewalt auffassen. Die zivilen Behörden und das Militär, die für die Ausrichtung auf Erfordernisse der militärischen Front Sorge zu tragen hatten, errichteten – wie die einzelnen Beispiele zeigen – ein System der Kontrolle und Disziplinierungen. Dieses basierte sicherlich auf den bereits vorhandenen autoritären Strukturen des Habsburgerreiches – etwa durch das 1912 durchgesetzte, der Regierung, vor allem aber der Armee mehr Handlungsspielraum eröffnende Kriegsleistungsgesetz – erreichte nun aber eine neue Qualität und ließen militärische Normen und Verhaltenspraktiken in den Alltag einschreiben.42

Imaginierte Gefahr Für die Metropole Wien konstatiert Maureen Healy  : »Although Vienna was geographically distant from the three Habsburg battle fronts, residents did not feel physically or psychologically secure. The line between front and home did not exist in reality, but people imagined its existence and feared its permeability.«43 Dieser Befund gilt für das Kronland Steiermark in zumindest demselben Maße. Hier äußerte sich das Gefühl der Bedrohung und Angst bzw. der Durchlässigkeit der imaginierten Grenzen in der Denunziation und Verfolgung der slowenischsprachigen steirischen Bevölkerung gerade im Juli 1914.44 Aber auch die Furcht vor der Durchlässigkeit der Grenzziehung zwischen Front und Heimat, wie sie zum Beispiel in Ego-Dokumenten, wie dem Kriegstagebuch des Oberlehrers Anton Lex aus Göß bei Leoben45 in zahlreichen Eintragungen durchscheint, hatte gravierende Konsequenzen  : Die Gewalt des Krieges formte in anderer Form auch das zivile Leben. Sie erschien als bedrohliche und zumindest in den Ängsten näher rückende Außenwelt, die trotz der geografischen Entfernung auch die Sinne erfasste, wie etwa beispielsweise Geschützlärm von der Kärntner Front, der in

42 Siehe dazu  : Redlich, Joseph  : Österreichs Regierung und Verwaltung im Weltkriege, Wien 1925. 43 Healy, Vienna and the Fall of the Habsburg Empire (2004), 8. 44 Beispielhaft  : Moll, Martin  : »Verräter und Spione überall«. Vorkriegs- und Kriegshysterie in Graz im Sommer 1914, in  : Historisches Jahrbuch der Stadt Graz, 31 (2001), 309–330  ; auch Gumz/Deak, How to (2017). 45 Göß 1914–1918. Ein Leobener Stadtteil erleidet den Ersten Weltkrieg. Die Kriegschronik des Oberlehrers und Schulleiters Anton Lex. Herausgegeben von Dr. Günther Jontes, Leoben 1999.

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Leoben wahrgenommen wurde.46 »Der Krieg konnte gesehen, gehört, gefühlt, gerochen und geschmeckt werden.«47 Gerade die akustische Wahrnehmung des Krieges an der »Heimatfront« spielte dabei eine wesentliche Rolle.48 Das erwähnte Kriegstagebuch führt auch die Vorbereitung auf Luftangriffe an, die in der Region zwar erst im Zweiten Weltkrieg zur kollektiven Erfahrung wurden, aber zumindest im letzten Kriegsjahr als mögliche neue Form der Bedrohung der Bevölkerung von der Obrigkeit vermittelt wurden.49

Der Krieg bietet Möglichkeiten Neben den Pflegerinnen und Krankenschwestern, die als »typisch weiblich« geltenden Tätigkeiten nachgingen, leisteten immer mehr Frauen auch Dienst in der Armee etwa in Kanzleien, ab 1917 aber auch als weibliche Hilfskräfte bei der Armee im Felde oder in ukrainischen oder polnischen Truppen, die an unterschiedlichen Kriegsschauplätzen eingesetzt wurden.50

46 Vgl. die Eintragungen vom 13. und 14.5.1917. Ebd., 42. Der akustischen Wahrnehmung des Krieges an der Heimatfront nahm sich u. a. auch die Arbeiter-Zeitung in einem Artikel an  : Wie weit man den Geschützdonner in diesem Kriege hört, in  : Arbeiter-Zeitung, 1.7.1915, 6–7. 47 Chickering, Freiburg (2007), 249. 48 Siehe dazu  : Morat, Daniel  : Der Sound der Heimatfront. Klanghandeln im Berlin des Ersten Weltkriegs, in  : Jan-Missfelder, Friedrich/Kuchenbuch, Ludolf (Hg.)  : Historische Anthropologie, Jg. 22 (2014) Heft 3, 350–363. Auch  : Encke, Julia  : Augenblicke der Gefahr. Der Krieg und die Sinne 1914–1934, München 2006. 49 Besonders frontnahe Gebiete und Städte wie etwa Triest/Trieste sollten aus der Luft zunehmend bedroht und bald zum Ziel gegnerischer Luftangriffe werden. Als Reaktion wurde ein Vorwarnsystem etabliert und Verhaltensregeln bei Fliegerangriffen in Form von Plakaten an öffentlichen Plätzen affichiert. Die italienische Fliegerkräfte warfen etwa 1917 Propagandaflugzettel über Laibach/Ljubljana und Agram/ Zagreb ab. Auch der Flug Gabriele D’Annunzio nach Wien im August 1918 zeigte die flugtechnischen, propagandistischen bzw. militärischen Möglichkeiten auf. Siehe dazu  : Pitsch, Erwin  : Italiens Griff über die Alpen  : Die Fliegerangriffe auf Wien und Tirol im 1. Weltkrieg, Wien 1994. Zur Rolle der Flieger und Luftangriffe auf Triest/Trieste siehe  : Goll, Nicole-Melanie  : »… Nobel und ritterlich im Kampf, war er gleich einer Gestalt aus der Zeit des Minnesanges und der Turniere …«. Zur Konstruktion des Kriegshelden in der k. u. k. Monarchie am Beispiel von Godwin von Brumowski, Gottfried von Banfield und Egon Lerch, Phil. Diss. Graz 2014. 50 Healy führt etwa an, dass zwischen 33.000–50.000 weibliche Hilfskräfte eingesetzt wurden, die vor allem Männer für den Kriegsdienst freimachen sollten. Healy, Vienna (2004), 204. Zum Kriegsdienst ukrainischer und polnischer Frauen siehe  : Leszczawski-Schwerk, Angelique  : »Töchter des Volkes« und »stille Heldinnen«. Polnische und ukrainische Legionärinnen im Ersten Weltkrieg, in  : Latzel, Klaus/Maubach, Franka/Satjukow, Silke (Hg.)  : Soldatinnen. Gewalt und Geschlecht im Krieg vom Mittelalter bis heute, Paderborn et al. 2001, 179–205. Die Verbindung der Anwerbung von Frauen als Krankenschwestern mit dem Versprechen, im freiwilligen Einsatz »die Welt kennen zu lernen«, spielte beispielsweise in Großbritannien eine wesentliche Rolle, wo ausdrücklich auf die Chance auf Einsatzorte in anderen Ländern oder

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Die Städte und ländlichen Regionen sind noch nicht die »Handlungs- und Erfahrungsräume« der extremen Gewalt des modernen Krieges,51 aber ihre Potenzialität erschwerte es, die imaginierte Grenzlinie zwischen »Front« und »Heimat« aufrecht zu erhalten. Der Krieg bot unterschiedlichen Akteur:innen vielfältige Überschreitungsmöglichkeiten dieser imaginierten Grenzlinie  : Steirische Frauen dienten als Kriegskrankenschwestern und Hilfsschwestern in Feldlazaretten an den Fronten, traten in vormals von Männern dominierten Berufsfeldern  – wie etwa die in Grazer Straßenbahnen tätigen Schaffnerinnen – verstärkt in die Öffentlichkeit. Die »Liebestätigkeit« entwickelte sich zu einem Feld, in dem sich vor allem Frauen zu positionieren suchten  : mithilfe des Anfertigens und Verschickens von »Liebesgaben« wie etwa selbstangefertigte Kleidungsstücke oder Lebensmittel und Tabak an die Soldaten im Feld oder in Kriegsgefangenschaft sollte Unterstützung ausgedrückt werden. Die »weiblichen« Aktivitäten im Zuge der Kriegsfürsorge stellten zum einen eine Möglichkeit dar, an der »Heimatfront« aktiv am Krieg zu partizipieren, zum anderen war die Kriegsfürsorge auch ein Mittel der Konstruktion von lokalen Gemeinschaften und ein Mittel um Loya­ lität einzufordern.52 Sie eröffnete Handlungsspielräume und half soziale Beziehungen neu zu definieren, diente dabei auch als Möglichkeit sozialen Druck auszuüben, wie etwa in den in Jahresberichten Grazer Schulen veröffentlichten »Erfolgsgeschichten« der Schüler:innen ersichtlich wird. Die Totalisierung des Krieges und der sozialen Verhaltenspraktiken wird auch im Alltag deutlich.

Gewalt und Tod Die Gewalt des Krieges war in ihren Einwirkungen auf den menschlichen, vorrangig männlichen Körper sichtbar, in Gestalt der Verwundeten, Verstümmelten und psychisch Versehrten und Kriegsinvaliden auf den Straßen, in den Kriegslazaretten – die in Gebäuden eingerichtet wurden, die vor dem Krieg oft zivilen Zwecken gedient hatten, wie z. B. Schulen  – und in den Einrichtungen zur psychiatrischen Behandlung oder zur Rehabilitation. Sie kam in Gestalt einer zuvor nicht gekannten Anzahl an Gefallenen  – über 28.000 Tote alleine im Gebiet der heutigen Steiermark53– in die Kontinenten hingewiesen wurde. Siehe z. B. das Anwerbeplakat »V. A.V. A.D are urgently needed« (1915) in  : http://www.iwm.org.uk/collections/item/object/7402. 51 Welzer, Harald  : Krieg, in  : Gudehus, Christian/Christ, Michaela (Hg.)  : Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart-Weimar 2013, 39. 52 Siehe  : Goll, Nicole-Melanie  : Kriegsfürsorge zwischen »War Effort« und Herrschaftssicherung am Beispiel von Graz (1914–1918), in  : Historisches Jahrbuch der Stadt Graz, 45/46 (2016), 421–438. 53 Diese Zahl wurde aus dem »Heldenbuch« der Steiermark errechnet. Dabei handelt es sich um eines der für jedes Bundesland in der Zwischenkriegszeit angefertigten Totenbücher, die in der Krypta des Wiener Heldendenkmals aufgebahrt werden sollten. Dieses führt die Gefallenen – darunter sind vereinzelt auch Frauen zu finden – nach Gemeinden und Bezirken geordnet, an. 2012 an das Österreichische Staatsar-

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Städte und Orte der »Heimat«. Die Notwendigkeit, für diese entsprechende Formen der Beisetzung und des Gedenkens zu konzipieren, galt für die kleinsten Gemeinden und stellte die Städte mit zunehmender Bevölkerungszahl vor immer größere Herausforderungen. Die Gewalt des Krieges manifestierte sich schon in den Jahren 1914 bis 1918 und in wechselnden »Konjunkturen« in der Nachkriegszeit in einer in der Regel bis heute andauernden Repräsentationsform, in den »Kriegerdenkmälern«, die nun zu einem Bestandteil lokaler Topografien wurden. In all dem stellte das Kronland und nach 1918 das Bundesland Steiermark klarerweise keine Ausnahme dar, sondern ist im Mainstream der kriegsbeteiligten Gesellschaften zu sehen.

»Gerichtete Gesellschaft« Ziel des vorliegenden Sammelbandes ist es, anhand von Beispielen der politischen Kultur, der Kriegswirtschaft, der Ebene der Geschlechter- und Identitätspolitik und der Erinnerungskultur das Einsickern des Krieges in das vermeintlich Private und Alltägliche auf regionaler Ebene in den Blick zu nehmen und zusammenzuführen. Analog zu Kurt Lewins »gerichteter Landschaft« lässt sich daher auch von einer »gerichteten Gesellschaft« sprechen, die rasch zunehmend in allen Bereichen auf die Anstrengungen für den militärischen Sieg ausgerichtet werden sollte.54 Eine sowohl konkret staatlich-politische als auch eine kulturkritisch motivierte Rhetorik der Einheit, der Gemeinschaft, der Aufhebung des Individualismus zugunsten einer Homogenisierung der Gesellschaft wurde hegemonial.55 Der Band vereint Detailstudien von am bzw. im Umfeld des Instituts für Geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz tätigen, etablierten Wissenschaftler:innen, aber auch jüngerer Historiker:innen. Dabei kann der vorliegende Band selbstverständlich kein vollständiges Bild der Steiermark im Ersten Weltkrieg liefern. Die Beiträge sind vor allem als Schlaglichter aufzufassen, die wesentliche Ereignisse und Entwicklungen, Veränderungen und Bewältigungsstrategien im zunehmend totaler werdenden Krieg thematisieren. Der geografische Fokus liegt zumeist auf Graz als Hauptstadt des Kronlandes, zu der bisher auch die umfangreichste Grundlage an Forschung gelegt wurde. Studien, die sich auf Orte außerhalb von Graz chiv übergeben, wurden diese inzwischen digitalisiert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Zu den Heldenbüchern siehe auch  : Hufschmied, Richard/Uhl, Heidemarie  : Die Totenbücher des Ersten und Zweiten Weltkriegs in der Krypta des Heldendenkmals, in  : Uhl, Heidemarie/Hufschmied, Richard/ Binder, Dieter A. (Hg.)  : Gedächtnisort der Republik. Das Österreichische Heldendenkmal im ­Äußeren Burgtor der Wiener Hofburg. Geschichte  – Kontroversen  – Perspektiven, Wien-Köln-Weimar 2021, 361–380. 54 Lewin, Kurt  : Kriegslandschaft, in  : Zeitschrift für angewandte Psychologie, 12 (1917), 440–444. 55 Vgl. Horn, Eva  : Krieg und Krise. Zur anthropologischen Figur des Ersten Weltkriegs, in  : Graevenith, Gerhart von (Hg.)  : Konzepte der Moderne (Germanistische Symposien. Berichtsbände XX), StuttgartWeimar 1999, 633–635.

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beziehen, sind hier exemplarisch vorhanden. Zwei Beiträge beziehen sich auf den slowenischsprachigen Teil der Steiermark bzw. die slowenische Bevölkerung, zu denen bisher nur wenige wissenschaftliche Arbeiten vorliegen, die der deutschsprachigen Forschung zugänglich sind. Der Band versteht sich somit in hohem Maße auch als Anstoß und als Hinweis auf eine große Zahl von Desiderata und möglichen Forschungsthemen und -ansätzen, die den Erkenntnisstand zum Ersten Weltkrieg in den Gemeinden und Regionen des »Hinterlandes« vertiefen können. Die Beiträge eröffnen bisher noch nicht anhand der Steiermark behandelte Themen und Fragestellungen. Sowohl thematisch als auch hinsichtlich der lokalen Bezüge weisen diese nach wie vor exemplarischen Charakter auf und machen deutlich, dass nach wie vor hohes Potenzial an weiteren Fallbeispielen und Forschungsfragen besteht. Die Reihung der Beiträge folgt einer weitgehend chronologischen Abfolge. Der Band setzt in seinen Themen dabei auf einer Ebene der vermittelnden Instanzen zwischen den Individuen und den Behörden als Vertretungen des habsburgischen Gesamtstaates bzw. der österreichischen Reichshälfte an. Die Beiträge zeigen schwerpunktmäßig die Verflechtung der lebensweltlichen Ebene – seien es steirische Zivilist:innen als Betroffene beispielsweise der Lebensmittelknappheit oder sei es die unmittelbar von Kriegsfolgen und Zwangsmaßnahmen Betroffenen, wie Flüchtlingen und Lagerinsass:innen – mit behördlichem Handeln. Und er zeigt anhand einzelner Artikel die Verschränkung von institutionellen und materiellen Bedingungen mit den Wahrnehmungen und Bedeutungszuschreibungen sozialer Gruppen und einzelner Personen. Zu Beginn bieten Helmut Konrad und Jay Winter in ihren essayistisch verfassten Beiträgen einen einleitenden Überblick. Während Konrad die Veränderungen des globalen Konfliktes auf die Steiermark herunterbricht, wendet Winter seinen Blick der regionalen Erinnerung und Populärkultur zu. Anschließend widmen sich – unter dem Aspekt der »Mobilisierung« zusammengefasst  – die Autor:innen Bernhard Thonhofer und Monika Stromberger aus unterschiedlichen Perspektiven der ›Julikrise‹ und dem ersten Kriegsjahr. Diese Phase war in allen kriegführenden Staaten von umfassenden gesellschaftlichen und mentalen Mobilisierungsstrategien geprägt, die nicht nur staatlich gelenkt, sondern auch regional spezifischen Charakter aufwiesen und an denen sich vor allem lokale Akteur:innen beteiligten und diese mittrugen.56 Der Krieg wurde dabei vielfach als »aufgezwungen«, als »Verteidigungskrieg« propagiert, dem nun ein »Wir« geschlossen entgegentreten sollte. »Gemeinschaft« wurde dabei zu einem Schlüsselbegriff. Alle Gesellschaftsschichten, unabhängig von Kategorien wie Geschlecht, Milieu oder Alter waren vom Krieg betroffen, sie alle hatten unter56 Lüdtke, Alf  : Einleitung  : Herrschaft als soziale Praxis, in  : Ders. (Hg.)  : Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 91), Göttingen 1991, 9–63 Horne, John  : Introduction  : Mobilizing for »Total War« 1914–1918, in  : Horne (Hg.)  : State, Society and Mobilization in Europe during the First World War, Cambridge 1997, 1–19.

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schiedliche Handlungsspielräume, trafen individuelle Entscheidungen und nahmen spezifische Haltungen ein. Diese vielfältigen, sehr differenzierten Stimmungsnuancen, die sich zwischen Euphorie und Kriegsfurcht aufspannten, die teilweise sehr ambivalenten Gefühlshaltungen, waren  – vor allem auf das deutsche Kaiserreich bezogen  – Gegenstand von Untersuchungen und bieten darüber hinaus ein differenziertes Bild der lange Zeit unkritisch als generell angenommenen Kriegsbegeisterung bzw. des »Augusterlebnis[es]«57. Gerade im Fall der Habsburgermonarchie zeigt sich aber auch, dass die propagierte Überwindung der zahlreichen Differenzierungen der Bevölkerung zu einer »zusammengeschweißten« Kriegsgesellschaft in unterschiedlicher Weise gedeutet werden konnte. Das Gemeinschaftsgefühl in der »großen Zeit« sollte im Zeichen der Loyalität patriotischer Bürger:innen aller sozialer, sprachlich-nationaler und religiöser Gruppen gegen äußere Feinde der Monarchie stehen. Es konnte aber gleichzeitig die bestehenden Loyalitäten gegenüber der jeweils »eigenen« nationalen Gruppe verstärken, für die andere Nationalitäten als »innere Feinde« galten. Diese Ambivalenz der Herstellung von klassen- und sprachgruppenübergreifender »Gemeinschaft« steht im Hintergrund mehrerer Artikel. Insbesondere die zeitgenössische Auffassung der Steiermark als »deutsches Kronland« und die daraus resultierende Intensivierung des Gegensatzes zur slowenischsprachigen Bevölkerung ist kennzeichnend für die hier untersuchte Region. Die kollektive Erregung im Leben der steirischen Bevölkerung über die aktuellen Ereignisse war in diesen Wochen insbesondere auf der Straße sichtbar und war von Neugierde, einem erhöhten Informationsbedürfnis gekennzeichnet, das von den Medien und ihren Protagonist:innen nur zu gerne gestillt wurde. Daran anknüpfend, geht Bernhard Thonhofer in seinem Beitrag der Frage nach, wie sich der Krieg in das Grazer Stadtbild einschrieb. Der Autor untersucht dabei den Militarisierungsprozess unter dem Aspekt der performativen und diskursiven Strategien der Herstellung von Einheit, die sich im kommunalen Raum in aufschlussreicher Weise herausarbeiten lassen. Thonhofer verweist auf die Tätigkeiten unterschiedlicher uniformierter und bewaffneter Gruppierungen in Graz, die neben dem Militär im Stadtbild sichtbar waren. Sein Beitrag greift ein Thema auf, das bereits in der zeitgenössischen Wahrnehmung als symbolhaft galt  : die Veränderung des Straßenbildes, des Auftretens der Menschen und vor allem die sichtbare Militarisierung im Zeichen des Kriegsbeginns. So trug bereits im folgenden Jahr ein Thema für die »schriftlichen Arbeiten in der deutschen Sprache« der V. Klasse des Grazer k. k. ersten Staats-Gymnasiums den Titel »Grazer Straßenbild in den ersten Augusttagen 1914«.58 Die Aufsätze liegen nicht vor. Es ist aber davon auszugehen, dass von den Schüler:innen – de facto befand sich eine Privatistin unter 57 Einen Überblick bietet  : Bruendel, Steffen  : 100 Jahre »Augusterlebnis«. Deutungskonjunkturen eines historischen Phänomens, in  : Löffelbein/Fehlemann/Cornelißen (Hg.)  : Europa 1914 (2016), 193–212. 58 Jahresbericht des k. k. ersten Staats-Gymnasiums in Graz. Veröffentlicht am Schlusse des Studienjahres 1915 vom Direktor Dr. Johann Gutscher, Graz 1915, 25.

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41 männlichen Schülern59 – erwartet wurde, die Euphorie, Siegesgewissheit und Stolz auf die Soldaten, die als Helden heimkehren würden, in treffende Worte zu kleiden. Monika Stromberger wendet sich in ihrem Beitrag anhand der »Straža« und der »Marburger Zeitung«  – beide erschienen in Maribor/Marburg  – der Analyse der integrativen Funktion dieser Printmedien zwischen der »Julikrise« und dem Kriegseintritt Italiens in der Untersteiermark zu. Beide agierten in dem vom Staat durch Zensur und Einschränkung von Pressefreiheit gesetzten Rahmen, übernahmen aber mit ihrer eingeschränkten Reichweite und darauf abgestimmten Berichterstattung ihre Pflicht als lokale Stimmungsmacherinnen und Meinungslenkerinnen, bedienten zudem auch ihre streng nach Nationalität getrennte Leser:innenschaft. Stromberger zeigt auf, welche Rolle diesen lokalen Blättern im gerade in der Untersteiermark ausgetragenen Nationalitätenkonflikt zwischen der deutsch- und slowenischsprachigen Bevölkerung  – trotz Proklamierung des »Burgfriedens« – zukam. Stromberger lenkt dabei den Blick auf Maribor/Marburg, eine der vier steirischen Städte mit Statut, die als Garnisonsstadt bereits vor 1914 militärisch geprägt, mit der Kriegserklärung Italiens aber durch die Einrichtung des Hauptquartiers des Kommandanten der Südwestfront in ihrer Bedeutung aufgewertet wurde. Der Bahnhof entwickelte sich zu einer wichtigen Drehscheibe  : Hier wurden Soldaten- und Verwundetentransporte weitergeleitet, Flüchtlinge in das Hinterland verschickt oder etwa eine Labestation, durch die die Bevölkerung in die Kriegsanstrengungen integriert wurde, eingerichtet. Durch die Analyse der Berichterstattung dieser Zeitungen zeigt Stromberger, wie schnell die Militarisierung der Stadt Platz griff und der Krieg sich auch hier in den Raum einschrieb und sichtbar wurde. Beide Zeitungen – trotz unterschiedlicher Ausrichtung – verfolgten dennoch dasselbe Ziel  : Sie appellierten an Opferbereitschaft und Durchhaltewillen der lokalen Bevölkerung, forderten Gemeinschaft und Zusammenhalt ein. Anschließend widmen sich zwei Beiträge unterschiedlichen Aspekten des Kriegsalltags. So steht der Aufsatz ­Sabine A. Haring-Mosbachers über die Grazer Schülerin Anna, der anhand von Tagebucheintragungen gezielt subjektive Sicht und persönliche Wahrnehmungen behandelt, exemplarisch für eine mögliche individuelle Perspektive auf den Krieg, die gerade die Anschlussfähigkeit dieser Wahrnehmungen an eine Vielzahl gesellschaftlicher Auswirkungen des Krieges sichtbar macht.60 Gerade das Medium des exakt datierten 59 Ebd., 18. 60 Als Beispiele für Regionalstudien, die die Rekonstruktion der individuellen Ebene einschließlich von Fronterfahrungen – dezidiert als Geschichten von Leiden und Überlebenskampf – in den Mittelpunkt stellen vgl. Strahl, Antje/Stutz, Reno (Hg.)  : Der Erste Weltkrieg in Mecklenburger Tagebüchern (Schriftenreihe der Stiftung Mecklenburg. Wissenschaftliche Beiträge 5), Rostock 2016  ; Land im Krieg. Zwischen Schützengraben und Heimatfront. Burgenland 1914–1918. Begleitband zur Ausstellung (Wissenschaftliche Arbeiten aus dem Burgenland [WAB] 149), Eisenstadt 2014  ; Brüning, Rainer/Hochstuhl, Kurt/Brasseur-Wild, Laëtitia (Hg.)  : Menschen im Krieg 1914–1918 am Oberrhein/Vivre en temps de guerre des deux côtés du Rhin 1914–1918. Deutschsprachige Ausgabe. Für das Landesarchiv BadenWürttemberg und die Archives départementales du Haut-Rhin, Stuttgart 2014.

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Tagebuchs (»historical time«) einer Autorin, zeigt, wie die 13- bis 14-Jährige »ihren« Krieg erlebte und narrativ konstruierte. Die geschilderte soziale Einbettung in Familie und Schule und durch die Medien, denen sie die Informationen zum Geschehen an den Fronten entnahm, macht wiederum deutlich, wie der Krieg zum Bezugspunkt und Deutungsmuster aller ihrer lebensweltlichen Ereignisse wurde  : etwa durch veränderte Schulzeiten, die Einbindung in die Herstellung von Liebesgaben und unterschiedliche Kriegsfürsorgeaktionen oder etwa die Nahrungsmittelknappheit. Letztere schien für Anna, deren Eltern eine Gastwirtschaft führten, nicht zu den unmittelbaren Kriegserfahrungen der Familie zu gehören. Dennoch finden Anmerkungen zu Lebensmittelteuerungen und Hungeraufständen und Plünderungen, für die Anna kein Verständnis aufbringen kann, Eingang in das Tagebuch des 13-jährigen Teenagers. Martin Moll schließt mit seinem Beitrag unter dem Titel »Kampf gegen den Hunger. Initiativen zur Behebung des Lebensmittelmangels« an den vorangegangenen Artikel an und beschäftigt sich mit der wachsenden Erschöpfung der Ressourcen und, damit verbunden, der Versorgung der steirischen Bevölkerung mit Nahrungsmitteln. Er zeichnet die schwierige Lage des steirischen Kronlandes nach, das bereits vor dem Beginn des Krieges von Lebensmittelzulieferungen aus den anderen Gebieten der Habsburgermonarchie abhängig war und dessen Situation mit Fortdauer des Konfliktes sich immer mehr verschlechterte. Er zeigt auf, welche Strategien und Reaktionen nach dem Versagen der Behörden in Wien auf regionaler Ebene und von lokalen Akteur:innen gesetzt wurden, um die Bevölkerung mit Lebensmitteln und Rohstoffen zu versorgen und wie diese versuchten Kontroll- und Verteilmechanismen zu etablieren, die nicht nur zu einem erheblichen Vertrauensverlust führten, sondern auch Konfliktlinien sichtbar machten. Der Frage, wie sich der »Große Krieg« in das kulturelle Leben einer Provinz einschrieb, widmet sich der Artikel Ute Sonnleitner. Die Autorin beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der steirischen Unterhaltungsbranche. Sonnleitner skizziert dabei den durch den Krieg und seine Folgewirkungen betroffenen vielfältigen theatralen Bühnenbetrieb und zeigt dabei u. a. anhand des bekannten steirischen Volksschauspielers Alexander Girardi auf, welche Möglichkeiten, Strategien und Ausverhandlungspotenziale der Krieg eröffnete. Girardi, der sich bereits vor 1914 von den Bühnen zurückgezogen hatte, eröffnete der Konflikt neue Möglichkeiten zu öffentlichen Auftritten, die dieser trotz hohen Alters zu nutzen wusste und ihm zu einer letzten, großen Künstlerblüte verhelfen sollte. Unterschiedlichen Formen der (Selbst-)Mobilisierung steirischer Frauen und den Einfluss des Krieges auf die Geschlechterverhältnisse widmen sich die Beiträge von Anita Ziegerhofer, Karin Schmidlechner und Heidrun Zettelbauer. Erstere thematisiert in ihrem Beitrag die Rolle steirischer Frauen während des Ersten Weltkrieges im Hinterland. Sie untersucht dabei die Teilhabe derselben im Rahmen von Kriegsdienstleistungen, aber auch die Auswirkungen des Krieges auf die Geschlechterverhältnisse. Die Untersuchung erfolgt dabei anhand der Auswertung der bürgerlich-liberalen Tageszeitung »Tagespost« hinsichtlich der Nennung geschlechterrelevanter bzw. frauenbezogener Themenstellun-

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gen. Ziegerhofer kommt zum Schluss, dass sich Frauen gerade in den ersten Kriegsjahren vor allem in den Themen »Liebesgaben« und »Ernährung« als »klassisch weibliche Felder« repräsentiert sahen. Erst ab 1916 und unter dem Druck des Krieges brach dies auf und Geschlechterrollen begannen sich zu verschieben bzw. durchlässig zu werden. Die damit einhergehenden Veränderungen wurden jedoch ab 1918 weitgehend zurückgenommen, weshalb sich letztlich die Geschlechterordnung kaum wandelte. Karin Schmidlechner setzt in ihrem Beitrag an eben jener Feststellung an und untersucht die Veränderungen, die der Erste Weltkrieg in dieser Hinsicht erbracht hatte, wobei sie nicht das bürgerliche Milieu, sondern die Industriearbeiterinnenschaft den Schwerpunkt ihrer Untersuchung darstellt. Anhand des Beispiels obersteirischer Arbeiterinnen stellt Schmidlechner fest, dass Frauen mit Kriegsbeginn einerseits aufgrund der Abwesenheit von Männern und dem Brachliegen ganzer Berufssparten, und andererseits aufgrund steigender Arbeitslosigkeit sukzessive in davor von Männern dominierte Bereiche, wie etwa die metallverarbeitende Industrie oder die Schwerindustrie vordrangen. Dieser Umstand wurde jedoch in der allgemeinen Wahrnehmung lediglich als Notlösung aufgefasst, sodass bereits 1918 – noch während des Krieges – Vorsorge getroffen wurde, Frauen aus diesen Bereichen wieder zu verdrängen, um Platz für vom Krieg zurückkehrende Männer zu schaffen. In der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde diese Politik  – auch unter Inkaufnahme einer steigenden Frauenarbeitslosigkeit  – fortgesetzt. Die kurzfristig verschobenen Geschlechterrollen waren nach dem Krieg einer steten Forderung nach einer Wiederherstellung der »alten Ordnung« ausgesetzt. Ähnlich wie bereits Ziegerhofer argumentiert Schmidlechner mit der weitgehenden Rücknahme der kriegsbedingten Veränderungen unmittelbar nach Kriegsende. Jedoch attestiert sie gerade in der obersteirischen Arbeiterinnenschaft die Schaffung eines politischen Bewusstseins – und damit eine erste Teiletappe auf dem Weg zur Gleichberechtigung der steirischen Frauen. Heidrun Zettelbauer wiederum geht der Frage nach Abweichungen, Überschreitungen und Ausverhandlungsmöglichkeiten innerhalb der gültigen Geschlechterordnung nach. Am Beispiel von aus dem bürgerlich-deutschvölkischen Milieu stammenden und in der Kriegsfürsorge, besonders in der Pflege, tätigen Frauen beleuchtet sie die Ausgestaltungsmöglichkeiten und Handlungsspielräume, die sich für diese durch den Krieg in der Steiermark ergaben. Sie zeigt dabei auf, welches Selbstverständnis die Akteurinnen in Bezug auf ihr »richtiges weibliches Verhalten« hatten und welche Reaktionen etwa das Militär auf das Überschreiten der Geschlechterordnung zu setzen bereit war. Zettelbauer zeigt dabei in ihren umfangreichen Ausführungen, dass die konstruierte Vorstellung der männlich konnotierten Front und der weiblich definierten »Heimatfront« nicht haltbar war. Mit den Auswirkungen des Krieges auf Minderheiten, der Konstruktion von Gemeinschaft sowie Inklusions- und Exklusionsmechanismen setzen sich die Beiträge von Michael Schiestl, Gerald Lamprecht, Gerhard Dienes und Heimo Halbrainer anhand unterschiedlicher Fallbeispiele auseinander. Schiestl beleuchtet die Situation jüdischer Flüchtlinge aus Galizien und der Bukowina in der obersteirischen Provinz, vor

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allem in Judenburg und Knittelfeld. Diese unterschieden sich durch Kleidung, Aussehen und Bräuche von jüdischen Bewohner:innen in jenen Gemeinden, die bereits um die Jahrhundertwende ins Aichfeld eingewandert waren und sich als Hausierer, Kleinhändler, Bücherausträger aber auch Geschäftsleute eine Existenz im katholisch-kleinbürgerlichen Milieu aufbauen konnten  – ein Vorgang, der jedoch von antisemitischrassistischen Vorurteilen und dem Aufbau von Feindbildern begleitet sein sollte. Die aus dem Kampfgebiet zwangsevakuierten »Ostjuden« trugen nun nicht nur den Krieg und seine Folgewirkungen tief in die »Provinz«, sondern machten folglich die Misserfolge der k. u. k. Armee auch zunehmend an der steirischen »Heimatfront« sichtbar. Mit Andauern des Konfliktes sahen die zunehmend nationalistisch und emotional aufgeladenen öffentlichen Medien in ihnen vielmehr auch einen »inneren Feind«, den man für die Probleme verantwortlich machen und als Sündenbock instrumentalisieren konnte. Die Einwanderung bzw. Aufnahme der Kriegsflüchtlinge sorgte dabei lokal für politische Kontroversen und antisemitische Vorurteile und Feindbilder, die sich mit der Verschlechterung der Situation noch zuspitzten. Schiestl zeichnet trotz spärlicher Quellen das Schicksal einzelner jüdischer Flüchtlinge nach und beleuchtet deren weiteren Lebensweg nach 1918. Daran anschließend, konzentriert sich Gerald Lamprecht in seinem Beitrag auf die jüdische Gemeinde in Graz. Er stellt jene Strategien der Kultusgemeinde, die diese gegen antisemitische Unterstellungen, Vorwürfe und Anfeindungen aus dem christlichen Umfeld unternahm, in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Nicht nur die in die Steiermark evakuierten jüdischen Flüchtlinge unterlagen dabei antisemitischen Vorurteilen und Feindbildern, auch die jüdische Gemeinde selbst, die sich zwar früh patriotisch, opferbereit und loyal gegenüber Herrscherhaus und Kriegszielen positioniert hatte, ihren Beitrag in der Flüchtlingsfürsorge leistete, geriet zunehmend in das Blickfeld der Schuldsuchenden. Lamprecht führt dabei die Schwierigkeiten der Verortung in der Grazer Gesellschaft, aber auch jene, die sich durch den Krieg selbst ergaben, an. Dieser hatte nicht nur einen Rückgang der Mitgliedszahlen zur Folge, sondern auch einen Bruch in der Entwicklung, schließlich auch eine Identitätskrise der Grazer Jüdischen Gemeinde. Den Umgang mit der Zivilbevölkerung in den umkämpften Grenzgebieten Galiziens und Bukowina bzw. Gorica/Gorizia/Görz und Gradisca sowie aus der Stadt Trieste/ Trst/Triest thematisiert Heimo Halbrainer. Aus »militärischen Notwendigkeiten« aus dem Operationsgebiet der k. u. k. Armee evakuiert bzw. vertrieben, erfolgte der Abtransport der Zivilbevölkerung in das Hinterland. Nach nationalen und konfessionellen Kriterien getrennt, verteilte man diese schließlich auf Flüchtlingslager in den einzelnen Kronländern. Dabei schufen die mit der Anzahl an Evakuierten und Flüchtlingen überforderten Behörden ein auf Vermögen basierendes Verteilungssystem, das jene Flüchtlinge bevorzugte und vor einem Dasein in einem Lager bewahrte, die über finanzielle Mittel verfügten. Halbrainer streicht dabei am Beispiel des Lagers Wagna die Probleme hervor, die sich aus der Unterbringung und Versorgung von über 20.000 Menschen in der steirischen Region ergaben.

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Gerhard Dienes’ Beitrag ist wiederum in der Obersteiermark und im Aichfeld verortet. Er widmet sich mit dem Kriegsgefangenenlager Knittelfeld einem der größten Lagerkomplexe für russländische Kriegsgefangene im Kronland Steiermark. Der Einsatz von Millionen von Soldaten und die zu Beginn des Konfliktes vorherrschende Dynamik der Kampfhandlungen sowie die Abfolge von Sieg und Niederlage führte zur Gefangennahme von Massen an gegnerischen Kombattanten, die ins Hinterland transferiert, dort verwaltet und versorgt werden mussten. In der Steiermark entstanden so bereits 1914 eine Reihe von Barackenstädten, die gemessen an der Zahl ihrer Insassen die sie umgebenden Gemeinden übertrafen, jedoch von diesen mitversorgt werden mussten, was schnell Probleme aufwarf. Dienes zeichnet in seinem Beitrag zudem am Beispiel des Initiators des Lagers Knittelfeld nach, welche (wirtschaftlichen) Möglichkeiten zum Nutzen der ortsansässigen Zivilbevölkerung durch den Bau eines Gefangenenlagers eröffnet wurden und welchen wesentlichen Faktor gerade die russländischen Gefangenen für die steirische Wirtschaft darstellen sollten. Mit der hohen Anzahl an verwundeten und versehrten Soldaten konfrontiert, kam der Kriegsmedizin und einem effektiv arbeitenden Sanitätsapparat zunehmende Bedeutung zu. So thematisiert Hans-Georg Hofer in seinem Artikel die Entwicklung der Medizin, vor allem aber die Bedeutung der Psychiatrie, die in der Zeit des Ersten Weltkrieges mit neuartigen Herausforderungen hinsichtlich der Art der Erkrankungen und der Anzahl der Patient:innen konfrontiert war und darauf mit innovativen Konzepten und Ansätzen reagieren musste. Er greift dabei mit der Grazer Psychiatrie und dessen Leiter Fritz Hartmann ein besonderes Beispiel auf – waren doch gerade die Grazer Kliniken von den Folgen einer neuartigen Kriegsführung und durch die Nähe zur Isonzofront vom sprunghaften Anstieg von Nervenerkrankungen unter den Soldaten betroffen. Hofer führt aus, dass in Graz neue Wege der Therapie beschritten wurden, etwa im Konzept der »Arbeit als Heilbedingung« und im Gegensatz zur häufigen Verwendung der Elektroschocktherapie in anderen Heilanstalten der Monarchie. Diese Entwicklung fand jedoch nicht unter humanitären Gesichtspunkten statt, sondern stand in einer Verbindung von medizinischen mit militärischen Interessen, deren Ziel es war, erkrankte Soldaten möglichst rasch wieder »funktionsfähig« zu machen und sie so zu »remobilisieren«. All jene, die diesen Zielsetzungen nicht zugeordnet werden konnten, wurden zunehmend als »lebensunwert« betrachtet und  – wie Hofer am Beispiel der Landes-Irrenanstalt Feldhof nachweist – sich selbst überlassen. So verstanden sich die Ärzte und Psychiater der Grazer Psychiatrie als eine Funktionselite des Staates, die durch ihr Handeln zum Gewinn des Krieges beitrugen. Karin Almasy nimmt in ihrem Beitrag die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg und die Gedächtnispolitik in der Untersteiermark, die nach 1918 Teil des SHS-Staates wurde, in den Blick. Die Autorin verweist dabei auf die Zäsur für jene Slowenen, die in der k. u. k. Armee gekämpft hatten und nun im neu gegründeten Staat, der ein gemeinsames Narrativ zu konstruieren suchte, ihren Platz finden mussten. Die Auszahlung einer geringeren Rente für Kriegsversehrte, die auf österreichischer Seite gekämpft hatten,

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als an Soldaten der serbischen Armee ist nur ein Punkt, den die Autorin hier anführt, sie verweist auch auf den Kampf um die Deutungshoheit über den Ersten Weltkrieg zwischen Serb:innen, Kroat:innen und Slowen:innen. Die von Almasy untersuchten Denkmäler die meisten entstanden in den 1920er- und 1930er-Jahren – wurden für die Opfer bzw. Gefallenen – über 35.000 alleine aus slowenischen Gebieten – errichtet und stehen vor allem im Vergleich zu Gedenkstätten für serbische Soldaten kaum im Kontext der Heldenverehrung. Der Befund der Autorin lautet, dass er Erste Weltkrieg lange Zeit in der slowenischen Erinnerungskultur eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben scheint. Vielmehr rückten im neuen SHS-Staat Taten für die jugoslawische Einigung und die Unabhängigkeit vom habsburgischen Staat in den Vordergrund des offiziellen Gedenkens. Vorrangig als Opfer des Widerstands gegen den »Völkerkerker« und als Beteiligte an den Kämpfen um die Grenzen des neuen Staates hatten slowenische Soldaten Aussicht auf Repräsentation im neuen nationalen Gedächtnis des SHS-Staates. Schließlich widmet sich Peter Teibenbacher den zivilen Verlusten des Großen Krieges und seinen Auswirkungen auf die unmittelbare Nachkriegszeit und zieht damit eine demographische Bilanz des Ersten Weltkriegs in Bezug auf die Steiermark. Der Beitrag greift dabei auch Entwicklungen auf, die in den vorangegangenen Aufsätzen thematisiert wurden. Teibenbacher hebt die enormen zivilen demografischen Verluste hervor, die nicht nur in Sterbefällen, sondern vor allem auch in Geburtenausfällen bestanden. Gleichzeitig betont er allerdings, dass die Auswirkungen auf die Bevölkerungszahl sehr stark regional- und generationsspezifisch zu sehen sind und ab den frühen 1920er-Jahren wieder im Kontext des Ersten Demografischen Übergangs zu deuten sind. Als Herausgeber:innen ist es uns ein großes Anliegen, all jenen zu danken, die an der Realisierung des vorliegenden Bandes mitgewirkt haben. An erster Stelle sei allen Autor:innen, deren Forschungen den Blick auf die Steiermark im »Großen Krieg« um einige wichtige Facetten bereichern, großer Dank ausgesprochen, auch für ihr Beharren und ihre Geduld. Darüber hinaus möchten wir uns bei unseren Kolleg:innen am Institut für Geschichte der Karl-Franzens-Universität sowie Matthias Egger, Georg Hoffmann, Richard Lein und Oswald Überegger für wertvolle Hinweise, Anregungen, Austausch und Diskussion bedanken. Johanna Flitsch sei unser herzlichster Dank für ihre Erlaubnis, Gerhard Dienes Beitrag posthum veröffentlichen zu dürfen, ausgesprochen. Jennifer Carvill Schellenbacher sowie Elisabeth Tangerner wollen wir für ihre genauen und umsichtigen Korrektur- und Layout-Arbeiten an den Texten danken, die damit einen wesentlichen Beitrag zum Erscheinen des Bandes geleistet haben. Besonderer Dank ergeht auch an das Stadtarchiv Graz (Peter Schintler) für die Zurverfügungstellung des Titelbildes und die Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien. Großer Dank gebührt dem Land Steiermark und der Historischen Landeskommission für Steiermark (HLK), die mit ihrer Förderung zum Erscheinen des Bandes we-

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sentlich beigetragen haben. Die HLK hat sich dankenswerterweise bereit erklärt, den vorliegenden Band in ihre Reihe aufzunehmen. Dem Böhlau Verlag, der das Buch in sein Programm aufgenommen hat, insbesonders Eva Buchberger, Michael Rauscher Julia Roßberg und Bettina Waringer möchten wir für die professionelle Begleitung und Zusammenarbeit danken.

Helmut Konrad

Front und Hinterland Der »Große Krieg«, dessen Ausbruch nun mehr als ein Jahrhundert zurückliegt, stößt seit einigen Jahren auf ein erstaunliches Interesse nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der breiten Öffentlichkeit. Österreich nimmt bei diesem Gedenken eine markante Sonderstellung ein  : Das Erinnern an den Ersten Weltkrieg hat in den Siegerstaaten große Tradition. Das war schließlich eine Erfolgsgeschichte, die sich relativ bruchlos durch das gesamte 20. Jahrhundert fortschreiben ließ. Man hatte erfolgreich Demokratie, Humanität und Menschenrechte gegen den »Griff nach der Weltmacht«1 durch den »Pickelhaubenimperialismus« der »Preußen« und deren Verbündeten verteidigt. Die kleineren Siegerstaaten, die schon länger mit den großen Mächten der Entente verbündet oder aber deren Dominions waren, feierten Staatsgründungen und holten sich ihre nationalen Geburtsurkunden auf den Schlachtfeldern, speziell an der Westfront, ab. Und jene Staaten, die erst das Kriegsende auf die Seite der Sieger spülte, erinnern zumindest an den Beginn der Eigenstaatlichkeit, die das Resultat des Krieges und der Friedensverträge war, können ihre nationalen Erzählungen also mit dem »Großen Krieg« beginnen lassen. Deutschland hatte hingegen ein gewaltiges Trauma zu verarbeiten. Die Alleinschuld am Krieg, wie es in Versailles formuliert wurde,2 der Schock der Niederlage, ohne dass fremde Truppen deutsches Territorium betreten hatten, die Dolchstoßlegende(n), das Aufkommen des Nationalsozialismus und die Verarbeitungsstrategien, die vorerst allerdings nur in der BRD liefen, machten es notwendig, den Ersten Weltkrieg stets ganz entscheidend mit im Fokus des wissenschaftlichen und politischen Diskurses zu haben. Die Türkei sah im Ersten Weltkrieg, der eine Zeitenwende in der Region war, den Beginn des säkularen Staates (ohne den Völkermord an den Armenier:innen ins Geschichtsbild mit aufzunehmen), Russland hatte seine siegreiche Oktoberrevolution, die für Jahrzehnte als glorreicher Wendepunkt galt. Ungarn holte sich das TrianonTrauma ab, der Weltkrieg und seine Friedensverträge blieben für Budapest bis heute schwarze Gedächtnisorte.3 1 Fischer, Fritz  : Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/1918, Düsseldorf 1961. Dieser Text eröffnete die kontroversielle Debatte um die deutsche »Kriegsschuld«. 2 Vgl. Konrad, Helmut  : Drafting the Peace, in  : Winter, Jay (Hg.)  : The Cambridge History of the First World War, Vol. II, Cambridge 2014, 606–637, hier 615–620. 3 Szarka, László  : Die Reduktion Ungarns vom mitteleuropäischen Vielvölkerstaat zum magyarischen Nationalstaat. Narrative der »Auflösung« in der ungarischen Geschichtsschreibung und der Public History, in  : Rumpler, Helmut/Harmat, Ulrike (Hg.)  : Die Habsburgermonarchie 1848–1918 (Band XII  : Bewäl-

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Aber Österreich  ? 1945 hatte man das Resultat von Saint-Germain lieben gelernt, als Ausweg aus der unheilvollen Verstrickung in die Geschichte Deutschlands und des Nationalsozialismus. Während Trianon für Ungarn negativ besetzt bleiben konnte und musste, war Saint-Germain für Österreich nunmehr, nach dem Zweiten Weltkrieg, ein Rettungsanker. All die Widersprüche und Brüche wurden zugedeckt, und selbst die kritische Generation der nachgeborenen Historiker:innen richtete in der Auseinandersetzung mit der Elterngeneration die Blicke fast ausschließlich auf deren Verhalten in der NS-Zeit und die möglichen Alternativen, die sich damals im Denken und Handeln darboten. Zudem tobte und tobt in der Zunft bis heute der ideologische Streit um den Charakter des »Ständestaates«. Der Erste Weltkrieg war weitgehend aus dem Blickfeld, Österreichs offizielle Erinnerungskultur setzte mit 1945 ein, sah die Erste Republik nur als Negativfolie zur Erfolgsgeschichte der Zweiten. Saint-Germain mit seinen anfänglich als schreiendes Unrecht empfundenen Grenzziehungen4 wurde also rasch vom Ärgernis (zu dem vor allem auch das Anschlussverbot beitrug) zum Glücksfall, wenige Wunden blieben, Südtirol dabei wohl am stärksten, eine Wunde, die noch Jahrzehnte schmerzte und deren mangelhafte Heilung heute noch im österreichischen Staatsfernsehen bei jedem Schirennen oder bei jedem Wetterbericht sichtbar gemacht wird. So hatten also Österreich und seine historische Forschung zum Ersten Weltkrieg lange eine Sonderstellung. Das Feld besetzte die traditionelle Militärgeschichtsschreibung, verstärkt durch regionale Traditionsverbände. Moderne Forschungsansätze blieben lange auf zeitlich andere Forschungsfelder beschränkt. Auch universitär ging nur Innsbruck neue methodische Wege.5 In Graz erfolgte etwas später die Annäherung als Thema und als Folge des Spezialforschungsbereichs (SFB) »Moderne«6, mit den spezifischen Fragestellungen von Moderne und Krieg, gleichsam den Ersten Weltkrieg als Kristallisationspunkt des Modernisierungsprozesses und als dessen ambivalenten

tigte Vergangenheit  ? Die nationale und internationale Historiografie zum Untergang der Habsburgermonarchie als ideelle Grundlage für die Neuordnung Europas), Wien 2018, 163–187. 4 Vgl. Konrad, Drafting (2014), 620–625. 5 Siehe vor allem die Arbeiten von Oswald Überegger, Hermann J.W. Kuprian, Gunda-Barth-Scalmani oder Matthias Egger. Beispielhaft  : Hermann J. W. Kuprian/Oswald Überegger (Hg.)  : Katastrophenjahre. Der Erste Weltkrieg und Tirol, Innsbruck 2014  ; Überegger, Oswald  : Der andere Krieg. Die Tiroler Militärgerichtsbarkeit im Ersten Weltkrieg (Tirol im Ersten Weltkrieg. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft 3), Innsbruck 2002  ; Ders.: Erinnerungskriege. Der Erste Weltkrieg, Österreich und die Tiroler Kriegserinnerung in der Zwischenkriegszeit (Tirol im Ersten Weltkrieg. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft 9), Innsbruck 2011  ; Barth-Scalmani, Gunda (Hg.)  : Zeit  – Raum  – Innsbruck. Militärische und zivile Kriegserfahrungen 1914–1918 (Schriftenreihe des Innsbrucker Stadtarchivs 11), Innsbruck 2010, Egger  ; Matthias (Hg.)  : »Wir gehen furchtbar ernsten Zeiten entgegen«  : Die Tagebuchaufzeichnungen von Markus Graf Spiegelfeld aus den Jahren 1917–1923 (Erfahren – Erinnern – Bewahren. Schriftenreihe des Zentrums für Erinnerungskultur und Geschichtsforschung 8), Innsbruck 2019. 6 Spezialforschungsbereich (SFB) »Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900«. Genehmigter Erstantrag 1993. Der SFB kann insgesamt auf zwölf Jahre Laufzeit zurückblicken.

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Höhepunkt begreifend.7 Die Versuche, diesen Ansatz breit interdisziplinär in einem neuerlichen Großforschungsprojekt zu verankern, scheiterten allerdings an der nicht immer nachvollziehbaren Politik der österreichischen Forschungsförderung. Dennoch, auch in Graz, im Umfeld des Instituts für Geschichte8, des Centrums für Jüdische Studien, des Vereins Clio, des Universalmuseums Joanneum und anderer Forschungseinrichtungen wie des Center for Military Studies und der Ludwig Boltzmann Institute, bildete der Erste Weltkrieg einen Schwerpunkt. Man fügte sich dabei mit den Publikationen und mit den Ausstellungen nahtlos in den Boom ein.9

Krieg ist nicht nur Front Die Militärgeschichte hat den Blick auf die Front gerichtet, der Erste Weltkrieg erschien in der Literatur vor allem als ein Ablauf von Schlachten. Aus österreichischer Sicht standen dabei vor allem das sogenannte italienische »Kriegstheater«, Südtirol und die Isonzofront, im Mittelpunkt. Es war vor allem die Geschlechtergeschichte, die die Perspektive veränderte. Gerade unlängst hat Christa Hämmerle10 das wieder eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Selbst die überarbeitete und ausgeweitete Version von Manfred Rauchensteiners mo-

  7 Exemplarisch dafür  : Ernst, Petra/Haring, Sabine A./Suppanz, Werner (Hg.)  : Aggression und Katharsis. Der Erste Weltkrieg im Diskurs der Moderne (Studien zur Moderne 20), Wien 2004.   8 Bernhard Bachinger, Wolfram Dornik, Petra Ernst, Nicole-Melanie Goll, Harald Heppner, Georg Hoffmann, Helmut Konrad, Gerald Lamprecht, Werner Suppanz, u. v. a. trugen insbesondere in der Zeit der Weltkriegs-Jahrestage wesentliche Forschungsarbeiten bei.   9 Exemplarisch im Zuge des Jubiläumjahres 2014  : Goll, Nicole-Melanie  : ›Our Weddigen‹  : On the Construction of the War Hero in the k. u. k. Army. The ›Naval Hero‹ Egon Lerch as an Example, in  : Contemporary Austrian studies 23 (2014), 213–231  ; Halbrainer, Heimo  : Lager Wagna 1914–1963  : Die zeitweise drittgrößte Stadt der Steiermark, Graz 2014  ; Konrad, Helmut/Goll, Nicole-Melanie  : Die Steiermark und der Große Krieg (Katalog zur Ausstellung im Museum im Palais, Universalmuseum Joanneum), Graz 2014  ; Lamprecht, Gerald/Lappin-Eppel, Eleonore/Wyrwa, Ulrich (Hg.)  : Jewish Soldiers in the Collective Memory of Central Europe. The Remembrance of World War I from a Jewish Perspective, Wien 2019  ; Moll, Martin  : Die Steiermark im Ersten Weltkrieg. Der Kampf des Hinterlandes ums Überleben 1914– 1918 (Veröffentlichungen der Historischen Landeskommission für Steiermark 43), Wien et al. 2014  ; Suppanz, Werner  : Eine Liebesgabe für das deutsche Herz. Die Kriegsflugblätter Heimatgrüße des Vereins für Heimatschutz im Ersten Weltkrieg  ; Senarclens de Grancy, Antje (Hg.)  : Identität, Politik, Architektur. Der »Verein für Heimatschutz in Steiermark«, Berlin 2013, 55–70  ; Ders.: Der Erste Weltkrieg. Spuren der Vergangenheit, Repräsentationen der Erinnerung, in  : Zeithistorische Forschungen, Jg. 11 (2014), 1, 77–91  ; Ders.: La guerra e il fronte italiano nella memoria collettiva austriaca, in  : Labanca, Nicola/Überegger, Oswald (Hg.)  : La guerra italo-austriaca (1915–18), Bologna 2014, 279–302. 10 Hämmerle, Christa  : Heimat/Front. Geschlechtergeschichte(n) des Ersten Weltkriegs in Österreich-Ungarn, Wien 2014  ; Hämmerle, Christa/Überegger, Oswald/Bader-Zaar, Birgitta (Hg.)  : Gender and the First World War, New York 2014.

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numentalem Werk11 trägt dem neuen Verständnis teilweise Rechnung. Wie fruchtbar integrierte Ansätze sein können, hat die »Cambridge History of the First World War«12 gezeigt, die wohl für etliche Jahre die Maßstäbe für die Kriegsgeschichte gesetzt hat. Wenn man die theoretischen Erklärungsansätze zum Ersten Weltkrieg, vor allem Kurt Lewins »gerichtete Landschaft«13 auf die gesamte Landkarte überträgt, dann kann man durchaus erkennen, wie »gerichtet« das Leben auch im sogenannten »Hinterland« in den Kriegsjahren gewesen ist. Alles war in Richtung Front ausgerichtet, was in der langfristigen Entwicklung zur Vernachlässigung der alltäglichen Versorgung, ja zur fast vollständigen materiellen Austrocknung des Hinterlandes führte. Das war letztlich kriegsentscheidend, zumindest mitentscheidend für den militärischen und ökonomischen Zusammenbruch der Mittelmächte. Im Zweiten Weltkrieg fand diese Erkenntnis auf deutscher Seite durchaus strategische Berücksichtigung. Auch der durch den Krieg extrem beschleunigte Prozess der Normierung formte Front und Hinterland gemeinsam um. Die »Deutsche Industrienorm«, bis heute als DIN-Norm in Verwendung und im allgemeinen Sprachgebrauch, die Munitionsproduktion, vor allem für das Maschinengewehr, die Konfektionsgrößen und vieles mehr veränderten den Alltag. Und von der Front kam vieles ins Hinterland zurück. Kriegsgefangene, Deportierte, Verwundete, psychisch zerstörte eigene »Krieger«. Das formte das Hinterland durch die notwendig gewordenen Lager zusätzlich um. Wenn diese Lager in ihrer Größe und Belegschaft die Städte, in denen oder an deren Rand sie positioniert waren, um ein Vielfaches übertrafen, wenn die Medizin in den Dienst des Krieges gestellt wurde (vor allem die Chirurgie und die Psychiatrie), veränderte das das Leben auch abseits der Front. Schließlich waren die fehlenden Männer zu ersetzen. Am einprägsamsten für die öffentliche Wahrnehmung war, dass in den Straßenbahnen in den Städten nunmehr Frauen arbeiteten, und die berühmte Schaffnerin beunruhigte all jene, die sich vor diesem öffentlich so sichtbaren Emanzipationsschritt fürchteten. Argumente dagegen gingen weit  : Man vermutete sogar, den Damen würden Bärte wachsen, wenn sie in männliche Domänen des öffentlichen und beruflichen Lebens eindringen.14 Es drohte angeblich der Verlust der Weiblichkeit. Sogar bis in den Alltag der Kinder hinein wirkte sich der Krieg aus. Patriotische Schulaufsätze, Kriegsspielzeug, Sammlung von Kräutern für Tee, Stricken von wärmender Kleidung für die Frontsoldaten und vieles mehr prägten die damalige Kind11 Rauchensteiner, Manfried  : Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918, Wien 2013. Das Buch beruht auf »Der Tod des Doppeladlers. Österreich-Ungarn und der Erste Weltkrieg« aus dem Jahr 1993. 12 Winter, Jay (Hg.)  : The Cambridge History of the First World War, Vol. I–III. Cambridge 2014. 13 Lewin, Kurt  : Kriegslandschaft, in  : Zeitschrift für angewandte Psychologie, Jg. 12 (1917), 440–447. 14 Das hat Bernhard Thonhofer in seiner Dissertation dargestellt. Siehe  : Thonhofer, Bernhard K.: Ein Stadtliniengewirr –Grazer Alltagsmomente zu Kriegsbeginn 1914, Phil. Diss. Graz 2016, 362–363.

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heit. Man kann Aufsätze finden zum Thema  : »Ich will ein Heldenmädchen sein«15, man findet Christbaumkugeln in Form von Zeppelinen und Luftschiffen, auf Teetassen, Mörsern und Tellern häuften sich die patriotisch-militärischen Motive.16 Feindbilder bereits auf Spielzeugen, paramilitärische Erziehung – die kommende Generation wurde für den Kriegsdienst sozialisiert, eine Programmierung, die dann später, im Zweiten Weltkrieg, abrufbar gemacht werden konnte. »Die letzten Tage der Menschheit«17, das monumentale Werk von Karl Kraus, machte die Verknüpfung von Front und Hinterland schon zeitnah deutlich. Die Versorgungsengpässe, die die »starken Esser« besonders leiden ließen, die Zensur, die Gerüchteküchen, die physisch oder psychisch beschädigten Heimkehrer von der Front, die Propagandamaschinerie, die Erotik der Gewalt, all das ist in diesem Schlüsselwerk zum Krieg enthalten. Der Begriff eines »totalen« Krieges, der im Zweiten Weltkrieg eine noch dramatischere Konsequenz erhalten sollte, wird hier schon künstlerisch mit Inhalt gefüllt. Frauen und Männer, Kinder und Greise, Front und Hinterland, alle sind Teil der Kriegsanstrengungen, niemand bleibt verschont, alle sind eingebunden und gefordert.

Die Besonderheiten der steirischen Situation Hinterland war allerdings nicht gleich Hinterland. Selbst wenn man nur Österreich in seiner heutigen Dimension im Auge hat, auf dessen Territorium ja praktisch keine Front verlief, standen die einzelnen Kronländer in durchaus unterschiedlichen Traditionen, hatten unterschiedliche Funktionen zu erfüllen und waren und mussten unterschiedliche Konsequenzen am Ende des Krieges tragen. Die Steiermark hatte dabei ihre spezifischen Merkmale  : Der besonders ausgeprägte Deutschnationalismus

Die Steiermark, insbesondere Graz, imaginierte sich in den letzten Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg als die größte deutschsprachige Stadt der Habsburgermonarchie, abgegrenzt von Wien, dessen Vielsprachigkeit und dessen kultureller Mix als »Babylon« empfunden wurden. Graz wurde deutschnational regiert, die Architektur (Rathaus) und Kultur (Stadttheater, die heutige Oper), die Medien und der Alltag brachten das zum Ausdruck. Man orientierte sich in der bildenden Kunst an München, nicht an 15 Sprachhefte von Maria Rablhofer der Bürgerschule Graz aus den Schuljahren 1915/16 und 1916/17 (Aufsatz vom 1.12.1915). 16 Einen Überblick gibt  : Loidl, Tristan  : Andenken aus Eiserner Zeit. Patriotische Abzeichen der österreichisch-ungarischen Monarchie von 1914 bis 1918, Wien 2004. 17 Kraus, Karl  : Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog, Stuttgart 2008 (Erstauflage in der »Fackel« von 1919).

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Wien. Österreichs Kaiser wurde etwa bei der Schlusssteinlegung im Hauptgebäude der neuen Universität von deutschnationalen Burschenschaftern mit dem Deutschlandlied »begrüßt«, was ihn veranlasste, in seinen damals noch verbleibenden gut zwei Lebensjahrzehnten die Universität Graz auch zu Feiern wie den sub auspiciis-Promotionen nicht mehr zu betreten. Trotz der slowenischsprachigen Bevölkerung der Untersteiermark, die auch massenhaft nach Graz zuzog, weil es dort Arbeit gab, sich dort aber einem gesellschaftlichen Anpassungsdruck an die deutsche Sprache ausgesetzt sah, verstand sich die Steiermark als »Grenzfeste«18, als Verteidigungsbastion des Deutschtums, der deutschen Sprache und der deutschen Kultur, im Südosten. Der »Deutsche Schulverein« und der »Verein Südmark«19 kämpften um jeden Schulstandort, um jedes Schulkind. All das bedeutete, dass sich die Euphorie, die es auch in der Steiermark bei Kriegsausbruch gab, stark auf den Bündnisgedanken mit Deutschland stützte. Das zeigt sich in zahlreichen Devotionalien20, wie sie 1914 in Umlauf gebracht wurden. Graz hatte bei Kriegsausbruch keinen Gemeinderat, die Geschäfte wurden von Anton Unterrain von Meysing als Regierungskommissär geführt21, die für den 2. August 1914 angesetzten Neuwahlen konnten nicht mehr durchgeführt werden. Aber auch ohne funktionierenden Gemeinderat, die deutschnationale Grundhaltung der Mehrheit in der Stadt stand außer Frage, was der Kriegsbegeisterung eine nationale Schlagseite geben musste. Diese Begeisterung spiegelte sich in der öffentlichen, zumindest aber in der veröffentlichten Meinung. Im Grad der Zustimmung zum Krieg, ja der Kriegsbegeisterung, werden Graz und die Steiermark keine Sonderstellung eingenommen haben. Die Zustimmung übertönte die zweifellos auch vorhandenen Bedenken. Begeisterte Jungmänner nach der Musterung, sogenannte Liebesgaben der Mädchen und Frauen, Musik beim Auszug an die Front, das galt hier wie fast überall. Die Steiermark – ein militärischer Raum oder die Steiermark und ihre Soldaten

Es war erklärte Politik des Militärs in der Habsburgermonarchie, durch den Wehrdienst bei den jungen Männern Staatsloyalität zu erzeugen und zu erlangen. Dies sollte auch dadurch geschehen, dass man die räumliche Dimension der Monarchie und ihre Vielfalt erfassen sollte.

18 Vgl. Steirische Gesellschaft für Kulturpolitik (Hg.)  : Grenzfeste Deutscher Wissenschaft. Über Faschismus und Vergangenheitsbewältigung an der Universität Graz, Wien 1985. 19 Siehe dazu Zettelbauer, Heidrun  : »Die Liebe sei Euer Heldentum«. Geschlecht und Nation in völkischen Vereinen der Habsburgermonarchie, Frankfurt/Main-New York 2005. 20 Eine kleine Auswahl dieser Devotionalien wurde auch in der Ausstellung »Die Steiermark und der ›Große Krieg‹« im Museum für Geschichte/Universalmuseum Joanneum gezeigt. 21 Vgl. Thonhofer, Bernhard  : Miniaturen zur Grazer Mittags-Zeitung entlang der Pantz-Partei, Phil. Dipl. Graz 2013, 9.

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Die aus dem Raum von Banja Luka als Ergänzungsbezirk stammenden Soldaten des bosnisch-herzegowinischen Infanterieregiments Nr. 2 hatten die drei Jahre Wehrdienst in Graz zu leisten, gefolgt von neun Jahren in der Reserve. Die jungen Männer waren erst in Graz und dann, während des Krieges, in Lebring stationiert. Die »Bosniaken« galten als Elitetruppe, und die »Grazer« Bosniaken erstürmten am 7. Juni 1916 in einer blutigen Anstrengung den Monte Meletta-Fior in den Sieben Gemeinden. Bis heute finden aus diesem Anlass Gedenkfeiern statt. Die Bosniaken waren in Graz gut integriert. Sie waren in der Dominikanerkaserne stationiert, hatten vermutlich mit dem »Bad zur Sonne« das modernste Badehaus, und besonders beliebt war die bosnische Militärmusik. Der Marsch »Die Bosniaken kommen« wird bis heute gespielt. Das bosnisch-herzegowinische Infanterieregiment Nr.  2 kämpfte im Ersten Weltkrieg an vielen Fronten, von Lemberg/L’viv/Lwów bis Südtirol/Alto Adige, und natürlich auch am Isonzo. Im Krieg zog man auch deshalb von der Grazer Basis nach Lebring, weil dort dem Ausbildungslager auch ein Lazarett und ein Gefangenenlager angeschlossen waren. Bis heute gibt es in Lebring den »Bosniakenfriedhof« mit über 800 Gräbern.22 Graz war also Garnisonsstadt mit multikulturellem Flair, dem die Bosniaken neben den heimischen Regimentern den wohl entscheidenden Teil hinzufügten. Die Bevölkerung genoss die Musik und die Paraden, und die Truppen wurden bei Kriegsausbruch bei ihrem Auszug aus den Garnisonen vom Jubel begleitet, der den tatsächlichen Gefühlen einer breiteren Öffentlichkeit entsprach, aber der natürlich nicht flächendeckend war. Arbeiterhochburg Steiermark

Die Steiermark war 1914 bereits altes Industrieland, besonders die Obersteiermark von Mürzzuschlag bis Judenburg hatte von der Semmeringbahn profitiert und am indus­ triellen Aufschwung des nächsten halben Jahrhunderts teilnehmen können. Es war vor allem der Böhler-Konzern, 1914 bereits ein internationaler Konzern mit einer Produktionsstätte in Düsseldorf und Lagern bis Australien, der in der Phase der Industrialisierung gewachsen war und der nun auch aus dem Krieg Nutzen ziehen konnte. Noch heute vermerkt die Homepage der Böhlerwerke stolz unter »1916  : Neues SiemensMartin Werk, 6 30T Öfen, Ausbau des Walzwerkes, Trio Feinstrecke«23. Das zeigt auf, dass hier ein gigantischer Rüstungsbetrieb entstanden war, der der klassischen Waffen22 Vgl. Stradner, Reinhard  : Bosniens treue Söhne. Das bosnisch-herzegowinische Infanterieregiment Nr. 2 – die Elitetruppe der k. u. k. Armee, in  : Der Truppendienst, Folge 273 (2003) Ausgabe 6, (http://www.bundesheer.at/truppendienst/ausgaben/artikel.php?id=1307  ; download 27.1.2014) 23 Homepage bohler-edelstahl.com. Geschichte. Ein Jahrhundert der Innovation (http://www.bohler-edel stahl.com/german/205_DEU_HTML.php; download 1.3.2014).

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schmiede in Steyr24 in Oberösterreich längst den Rang abgelaufen oder zumindest mit ihr gleichgezogen hatte. Hier in Kapfenberg hatte man die Kohle aus Köflach-Voitsberg-Bärnbach, hier hatte man den Erzberg in der Nähe und hier hatte man die Eisenbahn. Auf den modernen Drehbänken entstanden viele Millionen von Gewehrläufen, auch Millionen von Granaten wurden in Kapfenberg produziert. Dort arbeiten zu dürfen war ein Privileg, auch was die Chancen betraf, nicht an die Front abgehen zu müssen. Im Gegenteil, man brauchte die Rüstungsarbeiter, die Zahl wuchs, und Frauen und Kriegsgefangene konnten vor allem den Bedarf an Facharbeit bei Weitem nicht auffangen. So blieb eine selbstbewusste Arbeiterschaft im Werk, und das galt nicht nur bei Böhler. Die Arbeiterschaft der Steiermark unterschied sich von den übrigen Industriezentren in Österreich deutlich. Sie waren so weit von Wien weg, dass die tatsächlich manuell arbeitenden Menschen den Ton angaben und nicht von Intellektuellen die Kursvorgaben erhielten. Und sie waren selbstbewusst, stellten, da sie etwa allein bei Böhler mehr als 7.000 waren, mit ihren Familien die Mehrheit vor Ort, was sie zur politisch bestimmenden Kraft machte. Zudem lebten sie in Traditionen, die aus Bergbau und früher Eisenverarbeitung kamen. Sie konnten sich also selbst als politisch gestaltende Gruppe begreifen. Daher spielten die Arbeiter:innen der Obersteiermark im Jännerstreik 1918 auch eine große Rolle. Was als lokaler Streik in Wiener Neustadt am 14. Jänner 1918 begann, griff rasch auf die Obersteiermark und auf Graz über, sodass schließlich 40.000 steirische Arbeiter:innen streikten. Es ging auch gegen den »Burgfrieden«, den die Wiener Elite der Sozialdemokratie einhielt. Es ging um Friedrich Adler25 und dessen Befreiung aus dem Gefängnis, um die Auswirkungen der beiden Revolutionen in Russland und um die künftige politische Linie. Dieser Streik griff auch auf die Truppe über, die Matrosen in Cattaro/Kotor folgten dem niederösterreichisch-steirischen Beispiel mit ihrem dramatischen Aufstand.26 Auch bei Kriegsende war es keinesfalls vorgegeben, dass sich die steirische Arbeiterschaft den Wiener Vorgaben (keine Experimente in Richtung Räterepublik) unterordnen würde. Es bedurfte der ganzen Überzeugungskraft des angereisten Otto Bauer, um hier die Steirer:innen einigermaßen auf Linie zu bringen. Und sogar noch die steirischen Ereignisse im Februar 1934 zeigten nochmals die Sonderstellung der Arbeiterschaft in diesem Bundesland, die sie von der Arbeiterschaft der anderen Länder unterschied. 24 Die Werndlsche Waffenfabrik wurde als Reaktion auf die Niederlage von Königgrätz gegründet und war einst die größte Waffenproduktionsstätte Kontinentaleuropas. Siehe  : Konrad, Helmut  : Das Entstehen der Arbeiterklasse in Oberösterreich, Wien 1981, 36. 25 Dokumente zum Jännerstreik 1918. Eingeleitet und ausgewählt von Hans Hautmann, in  : Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Jg. 14 (2007) Nr. 4, 7–8, 8. 26 Fitl, Peter  : Meuterei und Standgericht. Die Matrosenrevolte im Kriegshafen von Cattaro vom Februar 1918 und ihr kriegsgerichtliches Nachspiel, Wien 2018.

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Die nationale Gemengelage

Korrespondierend zur deutschen, ja deutschnationalen Selbstimagination der Hauptstadt des Kronlandes ist die nationale Gemengelage des Landes zu interpretieren. Waren die slowenischsprachigen Zuwanderer:innen nach Graz dem Assimilierungsdruck praktisch hilflos ausgesetzt, was sie statistisch zur vernachlässigbaren Gruppe machte, lief in der Untersteiermark in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg eine heftige Auseinandersetzung um jede Schule, jeden Verein, ja um jedes Kind. 1889 wurde in Graz der bereits erwähnte »Verein Südmark« gegründet. Er folgte dem Vorbild des »Deutschen Schulvereins«, der ein knappes Jahrzehnt zuvor als »Schutzverein« gegründet worden war, um in jenen Kronländern der Monarchie, in denen deutschsprachige Bevölkerung auf andere Sprachgruppen traf, die deutsche Sprache und Kultur offensiv zu vertreten und so die Sprachgrenzen tendenziell auszudehnen. Die Steiermark definierte sich selbst als Grenzfeste, als Bastion gegen das Fremde aus dem Südosten. Der »Verein Südmark« zahlte Zuschüsse zum Schulerhalt und Schulbetrieb, förderte »Südmarkbüchereien«, Mittelschülerheime und Gesangsvereine. Der Verein war in seinem Selbstverständnis von Anfang an antisemitisch, was mehr seiner Verbindung ins Grazer Bildungsbürgertum, als der realen Situation vor Ort geschuldet war. Welch zentrale Rolle den Frauen in diesem Kampf um die Vorherrschaft des Deutschtums zugefallen war, hat Heidrun Zettelbauer27 eindrucksvoll nachgewiesen. Die Volkszählung von 1910 weist für die sogenannte Untersteiermark, jenen Teil des Kronlandes Steiermark, der nach dem Ersten Weltkrieg an den SHS-Staat fiel, eine Bevölkerungsverteilung von 85 % »Slowenen« und 15 % »Deutsche« aus, wobei die Frage der Volkszählung auf die »Umgangssprache«, nicht aber auf sonstige nationale Zuschreibungen abzielte. Gut 73.000 Menschen, dominant in den Ballungszentren, sprachen Deutsch, im ländlichen Umfeld dominierte Slowenisch. Eine »steirische« Identität, die über die Sprachgrenzen hinweg Bindekraft hatte, gab es zwar, sie entsprach dem Landesbewusstsein auch der anderen mehrsprachigen Kronländer der österreichischen Reichshälfte. Sie dünnte aber in den letzten zwei Jahrzehnten vor dem Krieg durch die Ideologisierung der Sprachenfrage aus. Die Sprachenfrage war zur Machtfrage geworden. Die Geschichte der Slovenska Štajerska als Teil Sloweniens, des SHS-Staates und dann Jugoslawiens, der Umgang mit der Traditionspflege der Kämpfer im Ersten Weltkrieg, das ist eine eigene Geschichte. Hier ist nur zu konstatieren, dass neben der Südtirol-Frage die Untersteiermark jenes Gebiet ist, in dem das Argument der historischen Grenzen trotz der sprachlichen Gemengelagen sich nicht durchsetzen konnte und die Grenzziehung letztlich ausschließlich machtpolitisch entschieden wurde. Der »Marburger Blutsonntag«, als sich am 27. Jänner 1919 gut 10.000 pro-österreichische Untersteirer:innen in Marburg/Maribor versammelten, um die US-amerikanische De27 Siehe Anm. 19.

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legation unter Colonel Sherman Miles zu empfangen, welche sich vor Ort ein Bild von der »nationalen« Situation machen wollte, endete mit 13 Toten und 60 Verwundeten in den Straßen der untersteirischen Stadt. Der Hauptmann der österreichisch-ungarischen Armee, Rudolf Maister, hatte mit einer Slowenisierungspolitik in der Stadt begonnen, und die blutige Auseinandersetzung ermöglichte es den pro-österreichischen Gruppen nicht, ihre Botschaft den US-Amerikanern zu vermitteln. Bis heute hat sich das Datum dramatisch eingeprägt. Es ist Gegenstand von Schuldzuweisungen, und zwar wechselseitig, und hat seinen Platz im kollektiven Gedächtnis beider Seiten. Im Unterschied zu den 1919 gezogenen Nordgrenzen Österreichs, wo eine große deutschsprachige Bevölkerungsgruppe außerhalb des jungen Staates verblieb, wo sich aber mit den historischen Grenzen der Kronländer argumentieren ließ, war es im Süden, also in der Steiermark und in Tirol (nicht in Kärnten, aber das führt hier in eine ganz andere Geschichte) so, dass die neue Grenzziehung die alten Kronlandgrenzen negierten und »Sprachgrenzen« (in ihrer extrem fluiden Bedeutung) nur partiell beachtete. Hier wurden Trostpreise an teilweise enttäuschte Siegerstaaten verteilt. Tirol war, auch durch die nunmehrige Isolierung Osttirols und den Verlust eines geschlossenen deutschsprachigen Gebietes, emotional noch wesentlich stärker belastet als die Steiermark, was Jahrzehnte später noch zu Erschütterungen (zweifellos auch im engeren Wortsinn) führte. Aber auch die neu gezogene steirische Südgrenze als Folge des Krieges blieb für viele Jahrzehnte eine hochsensible Linie im kollektiven Gedächtnis der Region. Der Krieg nach innen

Gemeinhin wird argumentiert, dass das Territorium des heutigen Österreich im Ersten Weltkrieg mit einer kleinen Ausnahme rund um den Plöckenpass in Kärnten nicht Schauplatz von Kämpfen war und es daher bei uns keine Schlachtfelder gab. Das ist nur bedingt richtig, denn ein Gräberfeld mit mehr als 1.500 Toten im Süden von Graz vermittelt eine andere Botschaft. Der Erste Weltkrieg war bereits auch ein Krieg gegen die Zivilbevölkerung. In dieser Hinsicht nimmt er einen Teilaspekt der Grausamkeiten des Zweiten Weltkrieges vorweg. Das ist in der Habsburgermonarchie der Tatsache geschuldet, dass manche der Sprachgruppen innerhalb der Monarchie im Krieg als Unsicherheitsfaktor galten, da im Zeitalter der sogenannten »Sprachnationen«28 die Vermutung nahelag, dass man es eher mit dem »Feind« halten würde, wenn dieser zur gleichen oder einer nahe verwandten Sprachengruppe zählte. Das galt an allen Fronten. Im Süden war es die italienische Bevölkerung, bei denen als Symbolfigur der Reichsratsabgeordnete Cesare Battisti, der allerdings tatsächlich 28 Der Begriff der »Sprachnation«, der den Diskurs zur nationalen Frage viele Jahrzehnte dominierte, war innerhalb des Austromarxismus entstanden. Siehe dazu  : Konrad, Helmut  : Nationalismus und Internatio­ nalismus. Die österreichische Arbeiterbewegung vor dem Ersten Weltkrieg, Wien 1976.

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die Grenze überschritten und auf italienischer Seite gekämpft hatte, mit einer brutalen Hinrichtung bezahlen musste.29 Das Schicksal vieler Dörfer im Trentino, durch die die Front verlief, war oft dramatisch und belastet die innerdörflichen Strukturen bis heute.30 Besonders dramatisch war die Situation an der mobilen Front im Osten, wo es Vormarsch, Rückzug und Vormarsch in rascher Abfolge gab und wo die Bevölkerung, die dort lebte, die Lebensgrundlage vollständig durch die Zerstörung aller Infrastruktur verlor. Sie wurde zudem von beiden Seiten als mögliche »fünfte Kolonne« angesehen. Die »Ruthenen« galten der österreichisch-ungarischen Armee als »russophil«. Geschichten über Hinterhalte machten die Runde, und so begann man, sie aus Galizien abzusiedeln. Quer durch die gesamte Monarchie transportiert, in menschenunwürdigen Bedingungen zusammengepfercht, Männer, Frauen und Kinder, landeten sie schließlich am Thalerhof bei Graz. Nicole-Melanie Goll hat diese tragische Geschichte aufgearbeitet und ihr ein wissenschaftliches Denkmal gesetzt.31 Tausende Menschen, erst im Freien, dann in Zeltlagern und erst später in jämmerlichen Baracken, hatten unter menschenunwürdigen Bedingungen zu leben. Und so war es nicht verwunderlich, dass schon der erste Winter über 1.000 am Flecktyphus Verstorbene unter den Zivilinternierten forderte.32 Hier lief ein Stück der »inneren Front«. Potentielle Feinde wurden ohne Beweisaufnahme oder Gerichtsverfahren deportiert und in Lager inhaftiert. Und die schaulustigen Grazer:innen fuhren hin, um »Ruthenen zu schauen«, die schon bei ihrer Einlieferung »an einer schaulustigen Menge vorbei«33 den Weg ins Lager antreten mussten. Dem Kriegsvoyeurismus diente aber in der Steiermark auch die Nachbildung von Schützengräben, die man am Feliferhof gegen Eintritt besichtigen konnte.34 Es war dies, nach der Schau im Wiener Prater, die größte Installation, in der die Front imitiert wurde. Da gab es Kriegsspielzeug, da konnte man die unterschiedlichen Formen von

29 Das Foto, das die Hinrichtung durch den Scharfrichter Lang zeigt, ist heute Ikone für die Gräuel des Krieges. Holzer, Anton  : Das Lächeln der Henker. Der unbekannte Krieg gegen die Zivilbevölkerung 1914–1918, Wien 2008, 25–27. 30 Siehe dazu  : Konrad, Helmut  : Welche Nationen  ? Welche Staaten  ? Zur politischen Umsetzung der sogenannten »nationalen Einigungen« im 19. Jh., in  : Griessner, Florika/Vignazia, Adriana (Hg.)  : 150 Jahre Italien. Themen, Wege, offene Fragen, Wien 2014, 43–51. 31 Goll, Nicole-Melanie  : »…Dass wir es mit zwei Kriegen zu tun haben, der eine ist der Krieg nach außen, der andere nach innen«. Die Ruthenen und das k. k. Zivilinterniertenlager Thalerhof bei Graz 1914–1917, in  : Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 40 (2010), hg. von Friedrich Bouvier und Nikolaus Reisinger, 277–304. 32 Ebd., 287. 33 Ebd., 282. 34 Bilder vom Brückenkopf am Feliferhof, in  : Kleine Zeitung 7.9.1915  ; Konrad, Helmut  : Krieg-Schauen. Bilder vom Ersten Weltkrieg, in  : Dreidemy, Lucile/Hufschmied, Richard/Meisinger, Agnes et al. (Hg.)  : Bananen, Cola, Zeitgeschichte  : Oliver Rathkolb und das lange 20. Jahrhundert, Wien 2018, 914–925.

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Schützengräben der einzelnen Armeen bestaunen und sich ein wenig mit patriotischen Gefühlen den Soldaten nahe fühlen. Und der neue Fotoapparat fehlte selten. Kriegsgefangene

Neben den Deportierten sah die Steiermark als zumindest teilweise sicheres Hinterland die Errichtung von Kriegsgefangenenlagern, in denen in Summe an die 100.000 Mann verwahrt wurden. Knittelfeld35, Leibnitz/Wagna36, Feldbach37 waren die drei gro­ßen Lager auf dem Gebiet der heutigen Steiermark, die allerdings nur eine rela­ tiv kurze Geschichte hatten, denn nach dem Kriegseintritt Italiens galten diese ­Lager als zu frontnah und wurden zu Heeresspitälern umfunktioniert. Dennoch, pro Kleinstadt über 30.000 zusätzliche Menschen in der »Vorstadt« zu haben, also die Gesamteinwohner:innenzahl zu vervielfachen, für Hygienebedingungen, für Sicherheit, für Nahrung, für religiöse Betreuung, für medizinische Versorgung etc. sorgen zu müssen, stellte größte Anforderungen an die Logistik. Unübersehbar ist aber auch, dass es Kriegsgewinner gab, dass etwa durch die über Lager erzielbaren Gewinne drohende Konkurse abgewendet werden konnten.38 Kriegsgefangene waren zudem billige Arbeitskräfte. Sie wurden sogar zum Bau der Schützengräben an der Front eingesetzt, im Land selbst vor allem aber dazu, in der Land- und Forstwirtschaft die fehlenden männlichen Arbeitskräfte zu ersetzen.

Schlussfolgerungen In Österreich war das Gedenken an den Ersten Weltkrieg, darunter in erster Linie die Erinnerung an die gefallenen Soldaten, deren Gesamtzahl in der Monarchie sich immerhin auf über anderthalb Millionen belief, in keine »große Erzählung« eingebunden. Die Denkmäler waren im Regelfall regionale Kriegerdenkmäler auf den Friedhöfen oder an den Kirchen der Städte und Dörfer. Sie listeten die Gefallenen auf, konnten aber in deren Sterben keine Sinnstiftung für die junge, instabile und innerlich fragmentierte Republik erkennen. Das »Schwarze Kreuz« führte Buch, und das Totenbuch der Steiermark umfasst, alphabetisch nach Gemeinden geordnet, 414 eng beschriebene Seiten.39 35 Brenner, Stefan  : Das Kriegsgefangenenlager Knittelfeld. Eine Untersuchung der Akten des Kriegsarchivs Wien von den ersten Bemühungen Otto Zeilingers zur Errichtung des Lagers Knittelfeld bis zur Umwandlung des Kriegsgefangenenlagers in ein Militärspital, Phil. Dipl. Graz 2011. 36 Hansak, Peter  : Das Kriegsgefangenenwesen während des I. Weltkrieges im Gebiet der heutigen Steiermark, Phil. Diss. Graz 1991. 37 Ebd. 38 Siehe Anm. 35. 39 Das ist der steirische Teil des Totenbuches aus der Krypta im Wiener Heldentor. Das Buch wurde in digi-

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Es ist daher nur schlüssig, dass nunmehr, rund um das hundertjährige Gedenken, die Aufarbeitung regional ansetzte und die individuelle Erinnerung thematisierte. Ausstellungen und Veranstaltungen geleiteten durch das Jahr, und in ihren Positionierungen waren sie weitgehend nicht konfliktorientiert, sondern eher den unbestreitbaren persönlichen und regionalen Erfahrungen verpflichtet. Der »Große Krieg« wird als Zeitenwende gelesen. Es ging von der großen Habsburgermonarchie mit 53 Millionen Einwohner:innen in Richtung des (damals ungewollten) Kleinstaates mit nur 12 % der Menschen aus dem alten Imperium. Es ging aber auch um die Erfahrung der dunklen Seite der Moderne, um die schmerzhafte, Körper und Psyche bedrohende oder verletzende Gewalt, um Geschwindigkeit und um Lautstärke. Es ging um Hunger und um Entbehrungen, um Verzweiflung und um Verluste. Die Erinnerung fällt daher auch nicht nostalgisch aus. Aus den bunten und schmucken Uniformen waren feldgraue Monturen geworden, die stolzen Pferde der Kavallerie endeten als Zugtiere oder erblindeten im Gas an den Fronten. Es kamen keine Helden nach Hause, sondern Männer, die es gelernt hatten, gebückt im Schützengraben zu überleben und deren individuelle Hemmschwelle zu physischer Gewalt um etliche Stufen herabgesetzt worden war. Der »Prozess der Zivilisation«40 war gestoppt worden, ja mehr noch, die Kriegsjahre hatten die Richtung umgekehrt. Auch im Hinterland war vieles aus den Fugen geraten. Versorgungsengpässe, Ersatzstoffe, militarisierte Erziehung hatten gesundheitliche und gesellschaftliche Folgen. Die Frauen hatten Männerberufe übernommen, hatten gelernt, die Familien durchzubringen, und sahen sich nun von den Heimkehrern, die traumatisiert oder verkrüppelt waren, in ihrem neuen Selbstverständnis gefährdet. Der Krieg hatte auch einen guten Teil der Familien zerrüttet. All das kann nun, über ein Jahrhundert später, ohne Wenn und Aber angesprochen werden. Der Erste Weltkrieg ist entfernt genug, um ohne Schuldzuweisungen und ohne persönliche Animositäten analysiert und dargestellt zu werden. Er hat die Welt verändert, hat die Grenzen neu gezogen, hat mehr Konfliktzonen geschaffen als bereinigt, und er war Vorspiel zur nächsten Katastrophe, die gerade zwei Jahrzehnte später über die Welt hereinbrach. Glaubte man nach dem blutigen Ringen der Jahre 1914 bis 1918 (und rund um die Geschehnisse in Kleinasien und vor allem in Russland über das Jahr 1918 weit hinaus), dass ein weiterer Krieg undenkbar sei, da dieser Krieg schon gezeigt hatte, dass er das Ende der Zivilisation sein könnte, so war diese Hoffnung bald Makulatur. Hatten die talisierter Form in der erwähnten Ausstellung 2014 in Graz gezeigt. Siehe hierzu  : Hufschmied, Richard/ Uhl, Heidemarie, Die Totenbücher des Ersten und Zweiten Weltkriegs in der Krypta des Heldendenkmals, in  : Uhl, Heidemarie/Hufschmied, Richard/Binder, Dieter A. (Hg.)  : Gedächtnisort der Republik. Das Österreichische Heldendenkmal im Äußeren Burgtor der Wiener Hofburg. Geschichte – Kontroversen – Perspektiven, Wien 2021, 361–380. 40 Elias, Norbert  : Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bde., Basel 1939.

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Helmut Konrad

Friedensaktivisten, die, wie Ernst Friedrich in seiner Ausstellung und seinem Buch »Krieg dem Kriege«41 die Hoffnung, dass die Präsentation der Folgen der Gewalt, die sich in die Körper der Protagonisten eingeschrieben hatte, dass diese Bilder des Schreckens eine Wiederholung ausschließen müssten, so wurden sie nachhaltig enttäuscht. Die Militärstiefel der nationalsozialistischen Horden zertrampelten die eindrucksvolle, politisch aber eben nur begrenzt wirkungsvolle Ausstellung Friedrichs in Berlin. Auch in Österreich kam die Lektion, wohin Gewalt führt, in den Jahren nach dem Kriegsende nicht an. Dem 30.000 Mann starken Heer standen 180.000 Menschen gegenüber, die in den bewaffneten Wehrverbänden der großen politischen Lager organisiert waren. Praktisch jedes Jahr (mit einer Ausnahme) lagen Tote aus politischen Konfrontationen auf Österreichs Straßen.42 Am Höhepunkt dieser Konflikte, im Februar 1934, war die Steiermark einer der Kristallisationspunkte. Die Februarkämpfe sind noch immer ein emotionaler Gedächtnisort, vor allem im Raum Leoben – Bruck/ Mur und in Graz. Der Erste Weltkrieg hatte das Feld dafür bereitet. Er hatte physische Gewalt alltäglich gemacht. Und er hatte gelehrt, in Teilhierarchien zu leben und dem gemeinsamen Ganzen zu misstrauen. Ein genauer Blick zurück, ein Blick, der in der Region diese Formierungen und Deformierungen deutlich macht, der sich vor nostalgischer Verklärung hütet und der Schuldzuweisungen vermeidet, kann ein wertvoller Beitrag dazu sein, das 20. Jahrhundert zu verstehen.

41 Friedrich, Ernst  : Krieg dem Kriege, Berlin 1924. 42 Vgl. Botz, Gerhard  : Gewalt in der Politik. Attentate, Zusammenstöße, Putschversuche, Unruhen in Österreich 1918 bis 1934, München 1976.

Jay Winter

The Nostalgic Temperament Region and nation in the shadow of the two world wars

Before the Deluge: The Business of Nostalgia Before the Great War, national and imperial identities rested on regional identities. If the nation was an imagined community, the region was an experienced community.1 And the sound of those local experiences and accents were everywhere at hand, communicated on the local level. The telephone was still a rarity, and the radio was not yet fully developed as a medium of communication between core and periphery. European society was embedded in vibrant regional networks in many instances much stronger than national ones. Regional memory is the collective memory of towns and villages more than cities, whose polyglot character and mobile populations were less preoccupied with market days, festivals and other traditional events marked on the rural calendar or almanac.2 Another way of putting the point is to say that regional memory is the lingua franca of local societies, largely outside the great cities of Europe. These towns and village had their own identities in particular geographical areas within the nation around it. For instance, Yorkshire in the north of England had a population of 3 million in 1900. Most people lived in the countryside  ; 75,000 people lived in the city of York. In contrast the population of London was over 5 million. London was a metropolis, Yorkshire a region. One of the most striking features of regional memory is its performative and auditory character. You could hear it in popular songs and entertainments, the core of a business growing by leaps and bounds before 1914. Auditory memory sold widely in the low-tech society of the pre-war years. You didn’t even need electricity to play a hand-cranked gramophone. A school stage or church hall did need lighting, but not much more. Performers belted out their songs without the aid of microphones. And despite these modest conditions, local venues of many kinds were where popular entertainment took place in the pre-1914 period.

1 Winter, Jay/Robert, Jean-Louis (Hg.)  : Capital cities at war  : Paris, London, Berlin 1914–1919, Cam­bridge 1997 und dies.: Capital cities at war. Paris, London, Berlin 1914–1919, Bd. 2  : A cultural history (Studies in the social and cultural history of modern warfare 25), Cambridge 2007. 2 Cordonnier, Aline/Rosoux, Valérie/Gijs, Anne-Sophie/Luminet, Olivier   : Collective memory   : An hourglass between the collective and the individual, in  : Memory, Mind & Media, Jg. 1 (2022), e8, 1–16.

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Jay Winter

Catastrophe The outbreak of war in 1914 changed everything. Regional cultures put on national garb and thereby took on the air of a palimpsest, with layers of national loyalty written over other layers of local loyalties. Popular songs were sold during the war by the millions. One reason why men in uniform and their families and friends bought recordings, paid to hear them sung, and joined in themselves was that these songs captured the blend of the regional and the national, that which soldiers had joined up to defend in the first place. National sentiment was a collage of regional loyalties in 1914.3 Four years later that collage had turned into a much more homogenous composition. The nationalization of the cultural life of the masses accompanied their mobilization for war. Nationalization did not mean standardization  ; it meant presenting the regional as an area distinct from the national with a particular accent and cultural practices.4 This varied campaign of cultural mobilization after 1914 is at the heart of one of the great paradoxes of the war. The patchwork mix of regional societies for which so many of these men went to war in the first place, and which they celebrated in songs of nostalgic sentimentality, was eroded and finally superseded by a different kind of mass society, one based on state power and larger and larger units of production, distribution and exchange. What a pyrrhic victory it was. Men and women fought and worked to defend the small-scale and local character of highly regionalized civil societies. And in the process, they ensured that the very special character of these sub-national societies vanished forever. Variations on this theme of the wartime emergence of mass society and mass entertainments may be found all over Europe. In this essay, I will address first the British case, and then take a more comprehensive European approach. Each country’s story has its particularities. In Britain radio made a huge difference. The British Broadcasting Corporation (BBC), a post-1918 innovation, represented the sound of Britain, not that of the regions. The broadcaster of the 9pm news spoke with an upper-class accent, at home in the golden triangle of London, Oxford and Cambridge, but very foreign in Hull or Huddersfield, not to mention Inverness or Pontypool.5 Once the war had ended, another war-related phenomenon both heightened regional distinctions and deepened nostalgia for the world before the war. In Britain from 1920 on, unemployment was strikingly regional. If you lived below a line roughly extending east and west from Coventry, unemployment rates were below 10 percent 3 On the concept of national sentiment, rather than patriotism, see Audoin-Rouzeau, Stéphane  : Men at war, 1914–1918  : national sentiment and trench journalism in France during the First World War, Prov­ idence 1992. 4 Roshwald, Aviel/Stites, Richard (Hg.)  : European culture in the Great War  : the arts, entertainment, and propaganda, 1914–1918, Cambridge 1999. 5 Briggs, Asa  : The BBC  : the first fifty years, Oxford 1984.

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throughout the interwar years. North of that line, they ranged from 10–40 percent, and in some cases – Jarrow is a good example – unemployment rates reached 90 percent in the early 1930s. Celebrating a common national culture was a sleight of hand, hard to sell to a population living in two different worlds – one in the semi-detached houses of the London sprawl you can still see en route to Heathrow airport, and the other in urban tenements or the row houses of the gaunt and underemployed population in the north of England, in Scotland and Wales. The economic reality of the interwar years was that Britain was a fractured nation. The nostalgia for the pre-war years was a reflection of the gloom of the post-war period. People had had jobs and hope before 1914  ; millions had neither after 1918.6 Regional memory, that set of images, sounds and representations located between the local and the national, took on a new force after the Great War. It reminded everyone of the good times that had gone forever. Nostalgia became the language of those who felt that they had a great and exciting future behind them. Before the war had a glow about it after 1920  ; as we shall note below, nothing of the kind happened after 1945  ; before the Second World War was a time of misery and failure. Nostalgia was attached to the war effort, not to what had come before it. Sentimentalized visions of local life and customs in the form of song sold by the millions in the interwar years. The lachrymose world of music hall songs and skits spin a sepia-toned web around what once was, or rather what was supposed to have been. Here is a form of memory work – perhaps best termed popular memory work – remote from the esoteric sophistication of James Joyce or Virginia Woolf, those artists of the fragmentation of time and consciousness. The market open to these writers of immense gifts and minute readerships was dwarfed by the market open to those with lesser talents, who nonetheless attracted a vast public – the lyricists of nostalgic songs about hearth and home and the supposedly eternal values that supported them. Popular songs were not about fragmentation, but about what once was whole. Memory is a term easily trivialized  ; nostalgia is its saccharine form. The first memory boom of the twentieth century exploded on the scene in the decade of the Great War. It was a house of many mansions, from Proust to Freud to Yeats to Akhmatova and beyond, but it was also a time and space in which the entertainment industry tried and succeeding in capturing and marketing the reassuring strains of local and regional loyalties, accents, and commitments. Memory was commodified in popular entertainments, in cinema, in the music hall, in operettas, in performances of many kinds. This sentimental nostalgia – like most nostalgia – described a world that never really was. It drew its force from local loyalties, accents, and landscapes, that were never quite as robust or as honey-toned as they seemed on stage or screen. What Svetlana Boym terms ‘restorative nostalgia’,7 the tendency to wish half-heartedly and wistfully that 6 Overy, Richard  : The morbid age  : Britain between the wars, London 2009. 7 Boym, Svetlana  : The future of nostalgia, New York 2001, 17.

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the old days were still with us, always entails inventing a past that never existed. A reality check was the last thing those immersed in nostalgia needed. Theirs was a dream of once-upon-a-time. The best evocation of this mobilization of the local in a war which transformed it forever may be found in F. Scott Fitzgerald’s Tender is the Night. Not for the first (or the last) time, an outsider captured changes in mood not so easily seen or heard by European insiders. Here he takes us into the ruminations of Dick Diver, his friend Abe, and Dick’s lover Rosemary, on a pilgrimage to the battlefields of the Somme  : “See that little stream – we could walk to it in two minutes. It took the British a month to walk to it – a whole empire walking very slowly, dying in front and pushing forward behind. And another empire walked very slowly backward a few inches a day, leaving the dead like a million bloody rugs. No Europeans will ever do that again in this generation.” “Why, they’ve only just quit over in Turkey,” said Abe. “And in Morocco –” “That’s different. This western-front business couldn’t be done again, not for a long time. The young men think they could do it but they couldn’t. They could fight the first Marne again but not this. This took religion and years of plenty and tremendous sureties and the exact relation that existed between the classes. The Russians and Italians weren’t any good on this front. You had to have a whole-souled sentimental equipment going back further than you could remember. You had to remember Christmas, and postcards of the Crown Prince and his fiancée, and little cafés in Valence and beer gardens in Unter den Linden and weddings at the mairie, and going to the Derby, and your grandfather’s whiskers.” “General Grant invented this kind of battle at Petersburg in sixty- five.” “No, he didn’t – he just invented mass butchery. This kind of battle was invented by Lewis Carroll and Jules Verne and whoever wrote Undine, and country deacons bowling and marraines in Marseilles and girls seduced in the back lanes of Wurtemburg and Westphalia. Why, this was a love battle – there was a century of middle-class love spent here. This was the last love battle.” “You want to hand over this battle to D. H. Lawrence,” said Abe. “All my beautiful lovely safe world blew itself up here with a great gust of high explosive love,” Dick mourned persistently. “Isn’t that true, Rosemary  ?” “I don’t know,” she answered with a grave face. “You know everything.”8

Dick Diver didn’t know everything, but he did know something important about the little cafes in Valence and marraines in Marseilles and girls seduced in rural lanes in Germany. Among the costs of war was a regional imaginaire, an invented normalcy which did not survive the abject abnormalcy of mass death and carnage in the Great War.

8 Fitzgerald, F. Scott  : Tender is the night, New York 1934, 221–222.

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Here is the core of my first argument  : a war waged to preserve civil society helped bring about its transformation, if not its demise. After 1918, state and society overlapped in ways it had never done before  ; the state took on tasks previously done by local authorities or voluntary organizations, and the taxpayer footed the bill. The local and regional state was progressively eclipsed by the central state, and Britain and many parts of Europe have never been the same since. At the same time, expressions of popular culture became more national, more located in what may be termed mass entertainment, than ever before. These ‘concentration effects’9 of war touched many parts of European social life. But virtually none of those rallying to the cause in 1914 or thereafter had any clear vision of this, one of the salient costs of victory. In wartime, local and regional memory called forth images of a world to which the millions of men who joined up could never return. Remembering the war became an exercise in remembering before the war, a different time, one more attuned to the rhythms of local life, one embedded in regional memory. The Great War was precisely that  ; who could say small is beautiful after 1918  ?

Song and popular culture on the Continent: 1914 and after So far we have examined one particular case of the move from the regional to the national in the history of popular culture. The British case, though, overlaps with, but does not fully reveal, other features of the change in popular culture in Europe during and after the war. While Britain mobilized 6 million men in the war, there were ten times that number in other combatant forces. Most of those soldiers were under the age of 30  ; most worked on the land. A minority were married, but all kept in touch with their families and with friends, workmates, and others in what the French called le petit pays, the local world they had left behind. My second argument in this essay is that while song reminded Europeans of where they had come from and what they had left behind, it did so within a deeply unstable political world, built on much shakier foundations than that of the British state. On the one hand, there are parallels between Britain and Europe. All over the Continent, music of many forms took on a similarly nostalgic tone, reminding everyone that soldiers, whether conscripts or volunteers were living temporarily in uniform. They lived their soldierly lives in parenthesis  ; wartime was an interval and not the end of the story. To reassure them that living in a ditch was not going to last forever, the market for nostalgic music soared in the war. No one wanted to buy or play the sounds of war  ; in late 1914 the British Gramophone company – which had a worldwide market – stopped selling such recordings, and turned instead to the golden oldies of hearth and home. Entrepreneurs in every other combatant country did the same. 9 Peacock, A.T./Wiseman, J.: The Growth of public expenditure, Cambridge 1967.

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Everywhere, this shift in the nature and needs of the market brought about a mixture, even a merger, of high and popular culture that provided art songs with a new purpose and reach. In Germany, Austria, and Russia, art songs were distillations of popular music, arising, some said from the soul of the people. In France, art songs were more the province of the elite, and the work of composers like Debussy whose work reflected elite preoccupations rather than older, bucolic, rural tropes. In wartime, all rallied to the cause. Thus, the romantic elements of nineteenth-century Lieder and other art songs commanded a market larger than ever before in wartime. Its prewar transnational character, reflected in contracts and arrangements between and among recording companies all over the world, gave way to the marketing of music as the authentic voice of the nation at war. This was the context for the selective nationalization of art songs, and for the creation of opportunities for stars to shine in new firmaments. In wartime, Enrico Caruso moved easily from the opera house to the recruiting drive to the recording studio, in singing ‘Over There’ with the final ‘r’ lasting at least three bars longer than when others sang it. State-guided national campaigns of rallying the population were behind this move towards patriotic appropriation of what was now deemed ‘national’ music. But there was a deeper source of the success of this appeal, relating to the way war brutalized the men who fought in it. The director Stanley Kubrick – another shrewd American observer of the European scene – captured this phenomenon many years later in his First World War film ‘Paths of Glory’. It was released in 1957, but the French were so furious about its depiction of corruption and incompetence among the General Staff of 1917 that it only received an import license to be shown in France in 1975, after the death of Charles de Gaulle. What Kubrick captured was the volatility of the men in the trenches, their search for escape from what faced them in the line, and their nostalgia for days past, when women were part of everyday life. On most fronts, the only women they saw were penned up in brothels or estaminets. In the film, a horde of such frustrated, frightened, and drunk men in a music hall near the front are greeted by a showman promising them an answer to their dreams. He drags onto the stage a terrified blond German girl, a refugee caught fleeing the fighting, and says that her God-given talent is evident in her body, perhaps more than in her voice. Expecting a striptease, the men howl for her to deliver, and drown out her first halting words of song. It takes perhaps 10 seconds for some of them to hear her song, and when they do, they are stunned into silence. She was trying to sing a lullaby in German, bringing home to them all the old world of kindness, care, and love they had left behind. Tears stain the faces of men, reminded of gentleness, and yet about to face the artillery and the gas and the terror once more. There the film ends, with a moving evocation of the appeal of many different kinds of songs, soaked in romanticism and nostalgia.

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Hard times: The world turned upside down The real contrast between Britain and the Continent in this domain lay in the all too shaky foundations of political stability in virtually every European state after 1918. To make matters worse, the economic chaos and massive inflation of wartime extended and grew dangerously in the post-1918 period. New and longer borders wrecked the pre-war banking system. Violence was endemic from Finland to Turkey. The decline in the value of money, and therefore of savings, undercut the purchasing power of the middle classes, the primary consumers of chamber music and concert performances. In 1923, hyperinflation ran riot in Berlin and Vienna  ; the cost of a concert ticket would double between the first and the second movements of a symphony. This instability shook the pre-war foundations of the concert hall, the chamber music world and the population they served.10 The terms of the peace settlement turned vast empires like the Austro-Hungarian empire, into a series of smaller nations. Older traditions of ‘national’ songs, especially but not only in the Germanic world, had to be wrested to new uses. Among the victors, the war against ‘enemy’ music, as representing the barbaric culture of the enemy, came to an end. The works of Wagner and Brahms could once again be played in New York and London.11 Art song faced new competition too in the post-Armistice years. In the early 1920s jazz – with its unmistakable African-American sources – arrived as a new and competing transnational genre, as did the rapidly growing film industry, with pianists accompanying silent films shown in vast picture palaces all over the world.12 The political context of cultural life on the Continent changed in other ways too. The new communist world in Berlin and the socialist world in Vienna inspired musical innovations of many kinds. The partnership of Bertold Brecht, Kurt Weill and Lotte Lenya is perhaps the best known, but not the only, instance of post-war radicalism in song and staging. Their tendency to marry romantic songs with jaggedly disillusioned verse, or jarring songs with lilting lyrics made irony both an aesthetic and a political weapon suited to the polarized world of the interwar years. These artists, as well as many composers, distanced themselves from the comfortable forms of conventional music, and moved into experimental modes at times difficult for middle-class men and women to assimilate. Paul Hindemith, a front-soldier in 1918, brought some of the dissonance of the war into his compositions. Here was the soundscape from which wartime song had fled. Ironists and iconoclasts moved in another direction.13 10 Giger, Andreas  : Tradition in Post World-War-I Vienna  : The Role of the Vienna State Opera from 1919– 1924, in  : International Review of the Aesthetics and Sociology of Music, Jg. 28 (1997) Heft 2, 189–211. 11 Vacha, J. E.: When Wagner Was Verboten  : The Campaign Against German Music in World War I, in  : New York History, Jg. 64 (1983) Heft 2, 171–188. 12 Neher, Erick  : The Art Song Recital in Review, in  : Hudson Review, Jg. 64 (2011) Heft 2, 325–330. 13 Preussner, Eberhard  : Paul Hindemith  : Ein Lebensbild, Innsbruck 1984.

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And so did the jagged nationalisms of the 1920s and 1930s, weaponized by the world economic crisis to drive forward regimes in which the party and/or the army beat the drum for rearmament and preparations for another war. What in 1918 had seemed unimaginable – that anyone could tolerate another world conflict – became irresistible from the mid-1930s on. By then, the transnational, at time universal, appeal of art song and other modes of musical performance, expressing the yearnings and dreams of peoples all over the world, was drowned out by the unmistakable sound of armies on the march.

Conclusion In this essay I have argued that there was in the first quarter of the twentieth century a shift of focus from region to nation in the world of what I term auditory memory.14 Before 1914, the sounds of the locality defined regional identities  ; after the outbreak of war, these regional loyalties were nationalized. And in the process, they lost their immediacy and became carriers of nostalgia for a vanished world. The paradox of war was that the military effort to preserve the regional and be local hallmarks of auditory memory ensured that they would fade away, to be replaced by a kind of conservative nostalgia in Britain and a more radically politicized nostalgia on the Continent. Examining both the British and the Continental approach to auditory memory in popular song and entertainment shows that there is not one but several stories that emerge from these years. Nostalgia is a universal phenomenon, and the evocation of the rural idyll of Styria or Scotland had force in the mobilization of mass armies during the war. But looking back became (and still remains) a mainstay of the British imagination, safe in the stable conservative political order that had survived for centuries. In more unstable regimes, like Austria and Germany, Poland and Italy, France and Spain, nostalgia added to the stock of cultural dynamite used to overturn the political order of the post-war world. A nostalgic yearning for the certainties of the local and the regional verities of the world before the war was an understandable temptation, but those who gave in to its fanciful illusions blinded themselves to the harsh realities of the world moving from one disastrous world war to another. In Britain, nostalgia was a soporific force politically  ; on the Continent, it mobilized authoritarian regimes dedicated to returning to a purer world, one ‘unsullied’ by Jews, socialists and feminists. Back to the future in 1933 meant forward to disaster, one so complete that after 1945, no one was moved to return to the dark years of the 1930s. Thus 1945 was a turning point in the political history of nostalgia. Reformers derived hope not from the 1930s but from the fight against the Nazis. The French under14 Thym, Jürgen  : Song as Memory, Memory as Song, in  : Archiv für Musikwissenschaft, 69. Jg. (2012) Heft 3, 263–273.

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ground and British trade unionists, alongside figures who had opposed the Nazis all over Europe, were immune to nostalgia for the pre-war years. During the war, entire nations had been obliterated. The new generation wanted to move forward to a new order, based on the courage and tenacity of the Resistance. They aimed to govern nations newly united under democratic regimes, dedicated to the well-being of the population as a whole. Herein lies one of the great contrasts between the two world wars  : looking forward after 1945 buried the rhetoric of the backward-looking politics of nostalgia of the era of the Great War.

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Bernhard Thonhofer

Die Militarisierung der Grazer Straßen im Kriegsjahr 1914 Der Beitrag thematisiert einige Facetten der Militarisierung der Grazer Straßen im Kriegsjahr 1914. Nachgegangen wird dabei der erhöhten Militärpräsenz im Allgemeinen und ihre Auswirkungen auf den sogenannten »Burgfrieden« im Besonderen. Unberücksichtigt bleibt die Militarisierung der Strafjustiz, der Industrie, des Verkehrs- und Transportwesens, der Beamtenschaft, der Wissenschaft, der Schulen, der organisierten Kinder- und Jugendgruppen sowie der Kriegsfürsorge. Als Quellen fungieren in erster Linie die lokalen Tageszeitungen, darunter die deutschnationale »Tagespost«, das radikal deutschnationale »Grazer Tagblatt«, der sozialdemokratische »Arbeiterwille«, das Boulevard-Blatt »Kleine Zeitung«, das klerikal-konservative »Grazer Volksblatt« sowie die deutschnationale »Grazer Mittags-Zeitung«.1

Die habsburgische »Militärmonarchie« im Frieden Die Militarisierung des öffentlichen Lebens setzte bereits lange vor dem Ersten Weltkrieg ein. Sie manifestierte sich unter anderem in der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht (1868), im Suspensionsgesetz (1869), im Militärversorgungsgesetz (1875), im Militärtaxgesetz (1880), im Landsturmgesetz (1886), im neuen Wehrgesetz (1889), im Kriegsleistungsgesetz (1912), den Ausmaßen der Militärausgaben, im prosperierenden Militär- und Veteranenvereinswesen, in der Agitation der selbsternannten nationalen »Schutzvereine« sowie der teils vormilitärischen Schulausbildung. Die Liste ließe sich erweitern.2 Vor dem Ersten Weltkrieg waren diese von »oben« und »unten« in die Wege geleiteten Militarisierungsprozesse aber nicht omnipotent, zumal das Militär – quer durch

1 Ich danke Werner Suppanz, Jana Schumann und Lukas Pletz für Hinweise und Anregungen. Der Beitrag basiert auf  : Thonhofer, Bernhard  : Graz 1914. Der Volkskrieg auf der Straße (Böhlaus Zeitgeschichtliche Bibliothek 40), Wien 2018. 2 Zum »kakanischen« Militarismus und seiner »Volksbewaffnung« siehe  : Kronenbitter, Günther  : Kakani­ scher Militarismus, in  : Lughofer, Johann Georg (Hg.)  : Im Prisma. Bertha von Suttner. »Die Waffen nieder  !«, Wien 2010, 115–133  ; Lughofer, Johann Georg  : Waffenträger im Vielvölkerreich – Miliz und Volksbewaffnung in der späten Habsburgermonarchie, in  : Bergien, Rüdiger/Pröve, Ralf (Hg.)  : Spießer, Patrioten, Revolutionäre. Militärische Mobilisierung und gesellschaftliche Ordnung in der Neuzeit, Göttingen 2010, 49–69.

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alle Schichten und Milieus  – die späthabsburgische Gesellschaft polarisierte.3 Nicht jeder und jede war damit einverstanden, dass Kaiser Franz Joseph I. in der Regel nur in Uniform zu sehen war. Einen allgegenwärtigen Hang, Drang oder Zwang zur Militarisierung inklusive ihrer Hierarchisierung, Disziplinierung, Normierung, Rationalisierung und Entindividualisierung gab es definitiv nicht. Sie blieb umstritten sowie regional, institutionell und personenspezifisch unterschiedlich ausgeprägt.4 Ersichtlich wird dies am breiten Spektrum der damaligen Militär- und Militarismuskritik, das ambivalente Positionen zwischen dem Militär und Teilen der Zivilbevölkerung auffächert.5 So stießen die zivile Militärhörigkeit und die Armeefaszination (»Zauber der Montur«6) schnell und vielfach bereits dort an ihre Grenzen, wo sie »mit gegenläufigen konkreten Bedürfnissen, Interessen und Leitbildern der Menschen in Konflikt« traten.7 Viele Männer, um nur ein Beispiel zu nennen, zogen es vor »unterzutauchen«, um nicht »einrücken« zu müssen. Allein im Jahr 1910 kamen rund 22,7 % der Stellungspflichtigen ihrer Militärstellung nicht nach.8 Vor 1914 gab es daher in Cisleithanien – als einem Teil der habsburgischen »Militärmonarchie«9  – keine »militarisierte hegemoniale Männlichkeit«, vielmehr konkurrierten mehrere Vorstellungen von Männlichkeit um Hegemonie.10 Schließlich war nicht jeder junge Mann stolz darauf, bei der Militärstellung gewesen zu   3 Vgl. Cole, Laurence/Hämmerle, Christa/Scheutz, Martin  : Glanz – Gewalt – Gehorsam. Traditionen und Perspektiven der Militärgeschichtsschreibung zur Habsburgermonarchie, in  : Cole, Laurence/Hämmerle, Christa/Scheutz, Martin (Hg.)  : Glanz – Gewalt – Gehorsam. Militär und Gesellschaft in der Habsburgermonarchie (1800 bis 1918) (Frieden und Krieg, Beiträge zur Historischen Friedensforschung 18), Essen 2011, 13–28, hier 27.   4 Zur Militarisierung Tirols und der Slowakei siehe z. B.: Kuprian, Hermann J. W.: Militarisierung der Gesellschaft, in  : Kuprian, Hermann J. W./Überegger, Oswald (Hg.)  : Katastrophenjahre. Der Erste Weltkrieg und Tirol, Innsbruck 2014, 61–82  ; Glettler, Monika  : Die slowakische Gesellschaft unter der Einwirkung von Krieg und Militarisierung 1914–1918, in  : Mommsen, Hans et al. (Hg.)  : Der Erste Weltkrieg und die Beziehungen zwischen Tschechen, Slowaken und Deutschen (Veröffentlichungen der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission 5  ; zugleich Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa 12), Essen 2001, 93–107.   5 Vgl. Hämmerle, Christa  : Ein gescheitertes Experiment  ? Die Allgemeine Wehrpflicht in der multiethnischen Armee der Habsburgermonarchie, in  : Journal of Modern European History, Jg. 5 (2007) Heft 2, 222–243.   6 Der Zauber der Montur, in  : Arbeiterwille, 25.2.1914, 8.   7 Hämmerle, Christa  : Zur Relevanz des Connell’schen Konzepts hegemonialer Männlichkeit für »Militär und Männlichkeit/en in der Habsburgermonarchie (1868–1914/18)«, in  : Dinges, Martin (Hg.)  : Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute (Geschichte und Geschlechter 49), Frankfurt/Main 2005, 103–121, hier 117.   8 Ebd., 117.   9 Hochedlinger, Michael  : Militarisierung und Staatsverdichtung. Das Beispiel der Habsburgermonarchie in der Frühen Neuzeit, in  : Kolnberger, Thomas/Steffelbauer, Ilja/Weigl, Gerald (Hg.)  : Krieg und Akkulturation (Expansion – Interaktion – Akkulturation 5), Wien 2004, 106–129, hier 107. 10 Hämmerle, Zur Relevanz (2005), 118.

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sein. Nicht jeder war glücklich darüber, dass man ihn für »tauglich« hielt. Man wusste von den »Soldatenmisshandlungen« und viele junge Männer wollten schlichtweg ihren Arbeitsplatz nicht verlassen.11 Auch die in den Zeitungen und im Abgeordnetenhaus regelmäßig diskutierten Militärausgaben und »Säbelaffären« zeigen, dass der zivilen Militärhörigkeit sowie der Armeefaszination sichtbare Grenzen gesetzt waren.12 Am markantesten zeigt sich die Problematik hinter den Formen und Folgen der einzelnen Militarisierungsprozesse in den gewaltsamen Zusammenstößen zwischen dem Militär und Teilen der Zivilbevölkerung  – oft in Verbindung von Demonstrationen und Krawallen. Kritik an der Heerespolitik und/oder an der Armee als Ganzes wurden vor allem von der Friedensbewegung bzw. dem Antimilitarismus artikuliert.13 Am Ende prägten sowohl die Militarisierung als auch der Antimilitarismus das sogenannte »nervöse Zeitalter« in bedeutendem Maße.14 Die Grazer Straßen, seit jeher Orte politischer Partizipation und Konfrontation, stellten hierbei keine Ausnahme dar.15 Schlussendlich bildeten sie hierfür das unersetzbare Ferment  : keine Militarisierung ohne Straße.

Die kriegsimmanente Militarisierung im Ersten Weltkrieg Graz, die siebtgrößte Stadt der Habsburgermonarchie, zog ohne Gemeinderat, ohne steirischen Landtag und ohne cisleithanischen Reichsrat in den Krieg. Alle drei Institutionen wurden noch vor August 1914 aufgelöst bzw. geschlossen. Der Gang in den Krieg, das heißt zuerst in den »Serbienkrieg« und dann in den »Volkskrieg«, erfolgte somit ohne legislative Zustimmung und Unterstützung. Eine solche bedurfte es auch nicht, wenn man sich die kriegschauvinistischen Schlagzeilen von Seiten einiger Zei-

11 Vgl. Hämmerle, Christa (Hg.)  : Des Kaisers Knechte. Erinnerungen an die Rekrutenzeit im k. (u.) k. Heer 1868 bis 1914 (Damit es nicht verloren geht… 66), Wien 2012. 12 Hämmerle, Zur Relevanz (2005), 118. 13 Zum Antimilitarismus in Österreich-Ungarn siehe  : Moll, Martin  : Mentale Kriegsvorbereitung, in  : Rumpler, Helmut (Hg.)  : Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 11  : Die Habsburgermonarchie und der Erste Weltkrieg, Teilbd. 1  : Der Kampf um die Neuordnung Mitteleuropas, Teil 1  : Vom Balkankonflikt zum Weltkrieg, Wien 2016, 171–208. 14 Zum Hintergrund siehe  : Paulmann, Johannes  : Globale Vorherrschaft und Fortschrittsglaube. Europa 1850–1914 (Beck’sche Reihe, Geschichte Europas), München 2019, 279–293. 15 Vgl. Moll, Martin  : Wohltätigkeitsfeste, Fahnenschmuck und Militärmusik  : Konflikte um den öffentlichen Raum in der Steiermark um 1900, in  : Jaworski, Rudolf/Stachel, Peter (Hg.)  : Die Besetzung des öffentlichen Raumes. Politische Plätze, Denkmäler und Straßennamen im europäischen Vergleich, Berlin 2007, 375–402  ; Moll, Martin  : Politische Organisationen und öffentlicher Raum in der Steiermark, in  : Rumpler, Helmut/Urbanitsch, Peter (Hg.)  : Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 8  : Politische Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft, Teilbd. 1  : Vereine, Parteien und Interessenverbände als Träger der politischen Partizipation, Wien 2006, 397–449.

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tungsredaktionen vor Augen führt  : »Die Steiermark sieht heute ihr Volk in Waffen – ein begeisternder Anblick.«16 Oder  : »Ein Volk, ein Kaiser, ein Reich.«17 Die Stadt Graz wurde während des Krieges nie zu einem Ort klassisch soldatischer Kampfhandlungen. Sie zählte zur »Heimatfront«, die genauso kriegsstützend, kriegsnotwendig und kriegsentscheidend war, wie das Kämpfen an der Front war. Der »Heimatfront« oblag die Produktion/Wiederherstellung von ideologischem, menschlichem und technischem Kriegsmaterial. Im Ersten Weltkrieg wurde der Begriff »Heimatfront« erst ab der zweiten Kriegshälfte und selbst dann nur selten zur Beschreibung des Hinterlands herangezogen. Wenn in den steirischen Zeitungen von Graz und der Steiermark die Rede war, dann sprach man diesbezüglich von »Graz«, der »Steiermark«, dem »Kronland«, dem »Herzogtum«, dem »Hinterland«, der »Heimat«, der »grünen Mark« oder dem »Vaterland«.18 In der Steiermark fiel das neue Machtverhältnis zwischen dem Militär und der Zivilverwaltung zugunsten des Militärs aus. Eine omnipräsente und omnipotente Militärdiktatur wurde jedoch nicht installiert.19 Hauptverlierer dieses zivil-militärischen Machtkampfs war das Individuum. Die verzweigten Militarisierungsprozesse vermehrten und verstärkten sich durch den Krieg. Diese quantitativ zwar nur schwer messbaren, aber qualitativ kaum übersehbaren Verläufe bestimmten den Alltag der Stadt Graz maßgeblich. Am deutlichsten manifestierte sich die kriegsimmanente Militarisierung dabei in der Bereitschaft das eigene Leben zu »opfern«. Man »verteidigte« die Familie, die »Heimat«, das »Vaterland«, den Fortbestand der Monarchie oder prinzipiell die »Ehre« des Staates. Mitunter mag es vorgekommen sein, dass man sofern man schon nicht wusste, wofür man kämpfte, so doch zumindest wusste, gegen wen und was man kämpfte (z. B. gegen Russland, dem »Hort der Reaktion«).

Das Grazer »Feldlager« zu Kriegsbeginn 1914 Einhergehend mit der weitgehend reibungsarm verlaufenden Mobilisierung erheblicher Bevölkerungsteile bildete sich in der Grazer Presse zunehmend der Topos eines 16 Begrüßung der Reservistenzüge, in  : Grazer Volksblatt, 27.7.1914 (Abendausgabe), 1. 17 Kaisers Geburtstag, in  : Tagespost, 18.8.1914, 1. 18 Vgl. Thonhofer, Graz (2018), 60–65. Siehe dazu auch, verständlicherweise ohne Graz-Bezug  : Baumeister, Martin  : Heimatfront, in  : Hirschfeld, Gerhard/Krumeich, Gerd/Renz, Irina (Hg.)  : Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 22014, 993–994. 19 Vgl. Moll, Martin  : Zivilbehörden gegen Militär  : Der Konflikt zwischen dem Mürzzuschlager Bezirkshauptmann und dem Stationskommandanten im Ersten Weltkrieg, in  : Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark, Jg.  108 (2017), 93–137  ; Ders.: Österreich-Ungarn im ersten Weltkrieg  : Eine Militärdiktatur  ? Militär und Zivilverwaltung im regionalen Kontext, in  : Bulletin für Faschismus- und Weltkriegsforschung, Jg. 25/26 (2005), 51–86.

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Grazer »Feldlagers«20 oder »Kriegslagers«21 heraus, der unverkennbar auf die seit Jahrzehnten perpetuierte Vorstellung von Graz als »Garnisonsstadt«22 rekurrierte. Kein anderer Graz betreffender Topos (»Gartenstadt«, »Pensionopolis«, »deutscheste« Stadt der Monarchie) wurde im ersten Kriegsjahr so intensiv von den Zeitungsredaktionen aktualisiert, wie das besagte »Feldlager«. Graz unterscheidet sich diesbezüglich nicht von anderen Städten mit dieser Zuschreibung, zumal auch andere »Garnisonsstädte« zu Kriegsbeginn als »Feldlager«, »Heerlager« oder »Kriegslager« bezeichnet wurden.23 Den Grundstein für diese Deutung legten die »ohne jede Unterbrechung«24 in Graz ankommenden Soldaten, von denen viele in den ersten und im Juli noch sehr verregneten Tagen der Mobilisierung keine Unterkunft fanden. So »durchwanderten« zum Beispiel in der Nacht vom 27. auf den 28.  Juli »[h]underte von Reservisten […] bei strömendem Regen die Straßen der Stadt, weil sie nicht wußten, wohin sie sich um Quartier wenden sollten«.25 Ebenso waren sich viele von ihnen über ihre eigene Einberufung »im Zweifel«, was sich bereits darin zeigt, dass das Grazer Amtshaus (Magistrat), wo viele Männer »infolge des großen Andranges zum Teile stundenlang auf einen Bescheid« warteten, regelrecht »bestürmt« wurde.26 Darüber hinaus gingen viele Frauen ins Amtshaus, um ihre Unterstützungsansprüche zu klären.27 Obwohl das Einrücken der Soldaten »einem mehr oder weniger wilden Durch­ein­ ander«28 glich, verlief die »Mobilmachung« aufs Ganze gesehen ohne nennenswerte Rückschläge. Die Ausmaße der Desertion hielten sich zur damaligen Zeit noch in Grenzen. »Der Kaiser rief und alle, alle kamen« lautete hierfür die pathetische Formel.29 Dennoch wäre es »eine Anmaßung, zu denken, daß sich die Zeitgenossen der harten Wirklichkeit des Krieges nicht bewußt waren«.30 Schließlich verschwanden sämtliche »Alltagsprobleme des materiellen Lebens […] nicht im Nebel der patrio20 Bilder vom Tage, in  : Kleine Zeitung, 1.8.1914, 2  : »Graz bietet den Anblick eines großen Feldlagers.« 21 Bilder vom Tage, in  : Grazer Volksblatt, 30.7.1914, 6  : »Graz steht im Zeichen der Mobilisierung unserer braven Soldaten aller Waffengattungen, die Graz in ein Kriegslager verwandelten.« 22 In Graz waren nicht nur unterschiedliche Truppenkörper und das Kommando des III. Korps stationiert, die in diversen Kasernen untergebracht waren, die k. u. k. Armee unterhielt hier auch die dazu gehörenden Einrichtungen wie Truppenübungsplätze, Depots, Magazine, Uniformierungsanstalten, Schulen sowie die Militärdienst-Versicherungsanstalt und das Garnisonsgericht. 23 Für Freiburg im Breisgau siehe  : Geinitz, Christian  : Kriegsfurcht und Kampfbereitschaft. Das Augusterlebnis in Freiburg. Eine Studie zum Kriegsbeginn 1914 (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte N.F. 7), Essen 1998, 144. 24 Das Stimmungsbild in Graz, in  : Grazer Volksblatt, 27.7.1914 (Abendausgabe), 1. 25 Mangelhafte Bequartierung der Einrückenden, in  : Grazer Tagblatt, 28.7.1914 (Abendausgabe), 4. 26 Der Sonntag, in  : Grazer Tagblatt, 27.7.1914, 4. 27 Ein Straßenbild, in  : Grazer Tagblatt, 31.7.1914, 5. 28 Rauchensteiner, Manfried  : Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918, Wien 2013, 150. 29 Der Kaiser rief, und alle, alle kamen, in  : Grazer Tagblatt, 18.8.1914, 1. Der Spruch lehnte sich an das preußische Diktum »Der König rief, und alle, alle kamen« aus der Zeit der Napoleonischen Kriege an. 30 Winter, Jay M.: Kriegsbilder  : Die Bildende Kunst und der Mythos der Kriegsbegeisterung, in  : Linden,

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tischen Rhetorik von 1914.«31 Am Ende war das »Verdecken von Angst und Zweifel in einem rhetorischen Kreuzfeuer […] die natürliche Reaktion auf eine sehr unbequeme Tatsache.«32 Der Andrang auf die Grazer Banken und Sparkassen, der vor allem vom kleinsparenden Milieu ausging, ist beispielsweise auf eine Angst (zeitgenössisch  : »Kriegsfurcht«33 oder »starke Nervosität«34) vor dem Verlust des Geldwertes und der Liquidität der Geldinstitute zurückzuführen.35 Des Weiteren kam es in Graz zu Hamsterkäufen, die von Frauen aller Milieus unternommen wurden, zum Kleingeldrummel, der gewissermaßen zum finanzpolitischen Credo aller Grazerinnen und Grazer wurde, sowie zu den vielseitigen Menschenansammlungen, darunter die demoskopisch kleinen, aber medienwirksamen »patriotischen« Straßenumzüge (»Hurrapatriotismus«).36 Als im Laufe des Augusts solche Vorkommnisse seltener wurden, nahm die auch für Graz geltende »Hyperaktivität des Kriegsbeginnes«37 und die damit einhergehende »nervenaufreibende« Erregtheit (zeitgenössisch  : in »Zeiten der allgemeinen Aufregung«38 oder die »ernsten, aufgeregten Zeiten«39) allmählich ab. Was blieb, war eine »Ambivalenz der Gemütslagen«40, in der Zustimmung und Ablehnung des Krieges parallel verliefen oder sich zumindest einander schnell ablösen konnten. Zwischen diesen beiden Polen überwog aber eine breite Palette von »Weder-nochHandlungsmustern«41, die sich aufbauend auf die Thesen von Christian Geinitz42 weitgehend mit den Begriffen »Kriegsbereitschaft«, »Kriegsergebenheit« und »Pflichterfüllung« umreißen lassen. Marcel van der/Mergner, Gottfried (Hg.)  : Kriegsbegeisterung und mentale Kriegsvorbereitung. Interdisziplinäre Studien (Beiträge zur Politischen Wissenschaft 61), Berlin 1991, 89–112, hier 90. 31 Ebd., 89. 32 Ebd., 89. 33 Kriegsfurcht der Geldeinleger, in  : Grazer Tagblatt, 11.8.1914, 10. 34 Strumpf oder Sparkasse  ?, in  : Grazer Volksblatt, 26.7.1914, 5. 35 Vgl. Thonhofer, Graz (2018), 267–275. 36 Näheres zu den Reaktionen auf den Kriegsbeginn in Graz in  : Thonhofer, Graz (2018). Für Salzburg und Wien siehe wiederum  : Cole, Laurence/Horejs, Marlene/Rybak, Jan  : When the Music Stopped  : Reactions to the Outbreak of World War I in an Austrian Province, in  : Austrian History Yearbook, Jg. 52 (2021), 147–165  ; Pfoser, Alfred  : Der Mythos von der allgemeinen Kriegsbegeisterung  : Wien im Juli und August 1914, in  : Gruber, Elisabeth/Weigl, Andreas (Hg.)  : Stadt und Gewalt (Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas 26), Innsbruck 2016, 201–230. 37 Geinitz, Kriegsfurcht und Kampfbereitschaft (1998), 147. 38 Blinde Hetze gegen angebliche Serbenfreunde, in  : Kleine Zeitung, 19.8.1914, 6. 39 Gegen Sensationsgerüchte, in  : Grazer Tagblatt, 3.8.1914 (Abendausgabe), 7. 40 Geinitz, Christian/Hinz, Uta  : Das Augusterlebnis in Südbaden  : Ambivalente Reaktionen der deutschen Öffentlichkeit auf den Kriegsbeginn 1914, in  : Hirschfeld, Gerhard et al. (Hg.)  : Kriegserfahrungen. Studien zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkrieges (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte N.F. 5), Essen 1997, 20–35, hier 26. 41 Überegger, Oswald  : Der andere Krieg. Die Tiroler Militärgerichtsbarkeit im Ersten Weltkrieg (Tirol im Ersten Weltkrieg. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft 3), Innsbruck 2002, 258. 42 Geinitz, Kriegsfurcht und Kampfbereitschaft (1998).

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Nach der »Mobilisierungshektik« der ersten Wochen lassen sich bereits Ende August erste Ansätze eines in der Kriegszeit abnehmenden Straßenrhythmus greifen. Graz wurde wie viele Städte des Hinterlandes mit der Zeit leiser, langsamer, dunkler und agrarischer, das heißt weniger mechanisiert, weniger beleuchtet.43 Was stieg, war hingegen die Rationierung und Reglementierung vieler Alltagsbereiche. Die Verwaltung des Mangels illustriert sich an zahlreichen Bezugsscheinen/Rationierungskarten, deren Vergabe mitunter regionale und kriegssaisonale Unterschiede kannte. Allein für die Steiermark lassen sich die Mehl-, Zucker-, Brot-, Kaffee-, Milch-, Fett-, Fleisch-, Kohlen-, Petroleum-, Kerzen-, Seifen- und Gasthauskarte sowie weitere Bezugsscheine nachweisen.44

»Brave« und »renitente« Soldaten an der »Heimatfront« Blickt man auf die Soldaten auf den Straßen der Grazer »Heimatfront«, so traten diese – in Uniform gesteckten Zivilisten  – im ersten Kriegsjahr unterschiedlich in Erscheinung. Bereits die präventiv zensierten Zeitungen kolportierten verschiedenartige Soldatenbilder. In den Leitartikeln, den essayistischen »Stimmungsbildern«, den Schlachtenschilderungen, der Kriegslyrik oder den Kriegsliedern kamen die Normvorgaben für den »heroischen« Soldaten zum Einsatz. Zu den zentralen Werten zählten »Ehre«, »Pflichterfüllung«, »Treue«, »Tapferkeit«, »Hilfsbereitschaft«, »Heimatliebe«, »Kameradschaft«, »Ritterlichkeit«, »Enthaltsamkeit«, »Nüchternheit« und das permanent eingeforderte »Brav-Sein«.45 Ins Auge fallen hier zunächst die von einigen Zeitungsredaktionen vernommenen »Verbrüderungen zwischen Militär und Zivil«46 (zwischen »Militär und Bürgertum«47). Derartige »Verbrüderungen« trugen sich den Zeitungsredaktionen zufolge in den Gast- und Kaffeehäusern, am Bahnhof, auf der Straße sowie während der Militärkonzerte zu. Diese »Verbrüderungen« galten nicht nur als Beweis für den vermeintlichen »Verteidigungskrieg« oder als Zeichen der innerstaatlichen »Erneue43 Vgl. Goebel, Stefan  : Cities, in  : Winter, Jay (Hg.)  : The Cambridge History of the First World War, Bd. 2  : The State, Cambridge 2014, 358–381, hier 366  ; Cronier, Emmanuelle  : The Street, in  : Winter, Jay/Robert, Jean-Louis (Hg.)  : Capital Cities at War. Paris, London, Berlin 1914–1919, Bd. 2  : A Cultural History (Studies in the Social and Cultural History of Modern Warfare 25), Cambridge 2007, 57–104, hier 58–64. 44 Vgl. z. B. die Einführung einer Gasthauskarte, in  : Grazer Mittags-Zeitung, 25.9.1917, 3. Zum Hintergrund siehe  : Schmied-Kowarzik, Anatol  : Die wirtschaftliche Erschöpfung, in  : Rumpler, Helmut (Hg.)  : Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd.  11  : Die Habsburgermonarchie und der Erste Weltkrieg, Teilbd. 1  : Der Kampf um die Neuordnung Mitteleuropas, Teil 1  : Vom Balkankonflikt zum Weltkrieg, Wien 2016, 485–542. 45 Vgl. z. B. Bleib’ brav  !, in  : Grazer Volksblatt, 4.8.1914, 6. 46 Der gestrige Tag, in  : Grazer Montags-Zeitung, 27.7.1914, [ohne Seitenangabe, Anm. d. Verf.]. 47 Einmarsch des Belgier-Infanterie-Regimentes in Graz, in  : Grazer Volksblatt, 31.7.1914, 5.

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rung«, sondern bezogen sich gewissermaßen auch auf vorangegangene Konfliktlinien zwischen dem Militär und Teilen der Zivilbevölkerung. Für Graz kann diesbezüglich auf die gewaltsamen Zusammenstöße zwischen dem Militär und Teilen der Zivilbevölkerung während der national aufgeladenen »Badeni-Unruhen« (1897) und der »Teuerungsdemonstration« (1911) verwiesen werden.48 Der sozialdemokratische »Arbeiterwille«, der den kurzzeitigen »Hurrapatriotismus« in Graz mehrmals kleinredete, zog für seine Lokalanalysen kaum den Begriff »Verbrüderung« heran. Dort, wo der »Arbeiterwille« Formen des lokalen Zusammenhaltens beschrieb, griff er primär auf den Begriff »Solidarität« zurück.49 Alle Zeitungen kritisierten die von Soldaten begangenen Streitereien, Schlägereien, Ruhestörungen, Überfälle, Diebstähle, Bajonett- und Messerattacken, zumal derartige Vorkommnisse das Zusammenleben in der Stadt erschwerten und letztendlich die Kriegsanstrengungen im Hinterland schwächten.50 Die Lokalteile sind voll Schlagzeilen, wie »Ein renitenter Soldat«, »Ein rabiater Pionier«, »Ein rabiater Reservist«, »Ein hartnäckiger Exzedent«, »Alkoholexzeß eines Soldaten«, »Mit einem Bajonettstich bezahlt«, »Durch einen Bajonettstich verletzt« oder »Mit dem Bajonett erstochen«.51 Die auf der Straße begangenen Gewalttaten wurden hier nicht, wie so oft im Falle von häuslicher Gewalt verschwiegen, sondern offen benannt und kritisiert. Die Vorfälle, in denen oft auch Zivilpersonen involviert waren, lieferten dabei unverkennbar das Fundament für den vielfach artikulierten »Ernst der Lage«.52 Obwohl im ersten Kriegsjahr das Ausmaß dieser militärischen Normübertretungen gemessen an der Truppenstärke gering ausfiel, wurden jene Vorfälle von der Presse durchaus als Bedrohung wahrgenommen, die es als solche zu unterbinden galt.

Aufrechterhaltung von »Ruhe und Ordnung« Abgesehen von den ausziehenden Soldaten und Krankenschwestern wurde die Wahrnehmung von Graz als einem »Feldlager« durch die Präsenz anderer hierarchisch organisierter Verbände verstärkt. Hierbei stechen vor allem die (städtische) Sicherheitswache, der (staatliche) Landsturm sowie die (privaten) Bürgerwehren hervor. Die Aufrechterhaltung von »Ruhe und Ordnung« auf den Straßen via Wachposten inklusive Autokontrollstellen, Patrouillen- und Kurierwesen wurde weitgehend von der Grazer Sicherheitswache und dem Landsturm bewerkstelligt. Die neuen Wachposten standen 48 Zur Teuerungsdemonstration von 1911 siehe  : Kleinschuster, Friedrich  : Der »Arbeiterwille« von 1907 bis 1914. Die Geschichte der steirischen Sozialdemokratie und ihres Zentralorgans von den ersten allgemeinen Reichsratswahlen 1907 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, Phil. Diss. Graz 1978, 105. 49 Vgl. Thonhofer, Graz (2018), 364. 50 Vgl. ebda., 197, 214, 277–278, 303, 363–374. 51 Vgl. die Schlagzeilen in  : ebda., 367. 52 Vgl. Eine Mahnung an die Arbeiter in der ernsten Zeit, in  : Arbeiterwille, 5.8.1914, 2.

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primär an Bahngleisen, an Brückenköpfen, bei Telegrafenleitungen, vor öffentlichen Gebäuden und vor Brunnen. Es galt die Ausweispflicht (Gleichwohl wurde der Ausweis nicht immer kontrolliert). Des Weiteren untersagte die steirische Statthalterei die Ausübung der Jagd in der Nähe von militärisch bewachten Eisenbahnlinien, Brücken und Wasserwerken.53 Die Sicherheitswache (seit 1895 verfügte der Wachmann neben dem Seitengewehr auch über einen Revolver)54 litt aufgrund von Einberufungen an Personalmangel. In den ersten Kriegswochen standen trotz Neurekrutierungen circa 40 Mann weniger zur Verfügung als in den Vorkriegsmonaten. Daraufhin wurden sukzessive diverse Militärverbände für den Wachdienst herangezogen. Bis November konnte sich die Mitgliederzahl der einzelnen Landsturmverbände verdoppeln.55 Tabelle 1: Die dem Landsturm angegliederten Verbände in Graz Verband (Landsturm)

Stand 4.9.1914

Stand 12.11.1914

Bürgerkorps (und Jungschützen-Abteilung)

300 (80)

600 (121)

Grazer Erzherzog Heinrich Militär-Veteranenverein

 97

530

Grazer Graf Gleispach Militär-Veteranenverein

 70

188

Grazer freiwilliges Radfahrerkorps

100

251

Grazer freiwilliges Motorfahrerkorps

nicht ausgewiesen

 96

Zum Bürgerkorps  : Seit Ende Juli wurde das uniformierte Bürgerkorps verstärkt zum Wachdienst herangezogen. Eingesetzt wurde es etwa im Garnisonsgericht, im Landesgericht, im Finanzamt, in der Steiermärkischen Sparkasse, beim Andritzer Wasserwerk sowie bei den Wasserreservoiranlagen am Rosenberg und in Gösting. Zudem übernahm das Korps die Rolle der »Ehrenposten« des Statthalters.56 Ebenso überstellte das Bürgerkorps die Gefangenen vom Garnisons- ins Landesgericht.57 Abseits dessen trat das Korps vielfach mit seiner Musikkapelle auf.58 Im Frühjahr 1915 wurde das Bürgerkorps an die Front verlegt. Des Weiteren wurde dem Bürgerkorps die vom deutschnationalen »Steirischen Pfadfinderbund« initiierte und organisierte Jungschützenabtei-

53 Vgl. Kundmachung, in  : Verordnungsblatt der k. k. steiermärkischen Statthalterei, 14.10.1914, 361. 54 Vgl. Marauschek, Gerhard  : Die Grazer Bürgermeister 1885–1919. Ein Überblick über die deutsch-natio­ nale Periode der Stadtgemeinde Graz, in  : Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 27/28 (1998), hg. von Friedrich Bouvier und Nikolaus Reisinger, 27–49, hier 35. 55 Tabelle und Zahlen nach  : Thonhofer, Graz (2018), 375. 56 Vgl. Marauschek, Gerhard  : Das Grazer Bürgerkorps, in  : Das Grazer Bürgerkorps. Sonderausstellung im Landeszeughaus 8.7.–29.10.1978 (Veröffentlichungen des Landeszeughaus Graz 8), Judenburg 1978, 7–51, hier 34–36, 49. 57 Vgl. ebda., 35–36. 58 Vgl. Zapfenstreich, in  : Grazer Mittags-Zeitung, 3.12.1914, 3.

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lung eingegliedert.59 Anfang Oktober verfügte die Jungschützenabteilung bereits über 100 Mitglieder,60 die hauptsächlich in die Mittelschulen gingen. Die Jungschützenabteilung exerzierte regelmäßig, war jedoch nicht bewaffnet. Eine etwaige Waffenausstattung ihrer Mitglieder war zwar von Seiten der Vereinsführung geplant gewesen, deren Umsetzung ist jedoch von behördlicher Seite untersagt worden. Hier zeigt sich ein behördliches Ausbremsen der »Volksbewaffnung«. Die Jungschützenabteilung übernahm letztendlich verschiedene Kurierdienste und beteiligte sich an diversen Spendensammlungen. Zum Radfahrerkorps  : Das Grazer freiwillige Radfahrerkorps setzte sich aus verschiedenen Schichten und Milieus zusammen. Nach den ersten Ausfahrten, wie zum Beispiel nach Peggau oder nach Marburg/Maribor, veranstalteten die uniformierten Korpsmitglieder Anfang September eine Parade vor Kriegsminister Alexander von Krobatin in Wien. Krobatin war es auch, der zu Kriegsbeginn anordnete, dass alle Korpskommandos ein Radfahrerkorps aufzubauen hatten. Beworben wurde es nicht nur von der Grazer Presse, sondern auch der »Steirische Radfahrergauverband« appellierte an seine Mitglieder, sich freiwillig dem Korps anzuschließen. Das Korps ging später in größere Einheiten auf und kam an die Front. Zum Motorfahrerkorps  : Seit Anfang des 20. Jahrhunderts setzte die k. u. k. Armee Autos und Motorräder bei Manövern ein.61 Ihr zentraler Aufgabenbereich umfasste den Transport-, Melde- und Ordonnanzdienst. 1906 kam es dann zur Gründung des k. k. freiwilligen Automobilkorps, einer von mehreren Kraftfahrformationen der k. u. k. Armee. Vor Ausbruch des Krieges verfügte das in Rede stehende Korps monarchieweit bloß an die 80 Mitglieder, es war eine elitäre Gruppe mit strengem Korpsgeist.62 Ihre Mitgliederzahl stieg gegen Ende 1914 auf rund 185 Mitglieder. Wie viele ihrer Mitglieder in Graz arbeiteten, konnte nicht eruiert werden. 1908 entstand das k. k. freiwillige Motorfahrerkorps als zusätzliche Kraftfahrformation. Im November 1914 verfügte das Motorfahrerkorps in Graz über 96 Mitglieder.63 Monarchieweit verfügte es über 600 Mitglieder und circa 400 Automobile.64 Seine Korpsmitglieder stammten vorrangig aus dem bürgerlichen Mittelstand. Während der ersten Mobilisierungsphase beförder59 Zu den deutschnationalen und klerikal-konservativen Strömungen innerhalb der Pfadfinderbewegung siehe  : Fux, Manfred  : Geschichte der österreichischen Pfadfinderbewegung. Von den Anfängen bis zum »Jamboree der Einfachheit« (1912–1951) (Veröffentlichungen des Kirchenhistorischen Instituts der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien 8), Wien 1970, 43–61. 60 Zahlen nach  : Parade des Grazer Jungschützenkorps, in  : Grazer Mittags-Zeitung, 5.10.1914, 3. 61 Vgl. für das Folgende  : Schimon, Wilfried  : Österreich-Ungarns Kraftfahrformationen im Weltkrieg 1914– 1918. Ein Beitrag zur Geschichte der Technik im Weltkrieg, Klagenfurt/Celovec 2007, 219–250, 490– 498  ; Wagner, Walter  : Die k. (u.) k. Armee – Gliederung und Aufgabenstellung, in  : Wandruszka, Adam/­ Urbanitsch, Peter (Hg.)  : Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 5  : Die bewaffnete Macht, Wien 1987, 142–633, hier 474–476. 62 Zahlen nach  : Schimon, Österreich-Ungarns Kraftfahrformationen (2007), 220, 237. 63 Zahlen nach  : Thonhofer, Graz (2018), 375. 64 Zahlen nach  : Schimon, Österreich-Ungarns Kraftfahrformationen (2007), 237.

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ten sowohl das Automobil- als auch das Motorfahrerkorps zahlreiche Personen durch die Stadt.65 Davon abgesehen stellte das Motorfahrerkorps einige Wachposten. Beide Korps wurden später auch an der Front eingesetzt.66 Der »Grazer Erzherzog Heinrich Militär-Veteranenverein« und der »Grazer Graf Gleispach Militär-Veteranenverein« zählten ebenfalls zum Landsturm. Sie wurden im August vereidigt und nach ihrer Ausbildung zum Wachdienst herangezogen.67 Abseits der Grazer Sicherheitswache und des Landsturms trugen auch einige Bürgerwehren zur Aufrechterhaltung von »Ruhe und Ordnung« bei.68 Zumindest entsprach dies ihrem Selbstverständnis. Ihre Schaffung wurde vom Militärkommando Graz, von Privatpersonen, von Bezirkshauptmannschaften sowie von einigen Bürgermeistern, wenngleich nicht immer erfolgreich, angeregt. Für Graz, genauer gesagt für seine »Vororte«,69 kann diesbezüglich auf die 126 Mann starke Eggenberger Marktwache sowie auf die rund 40 Mann starke Bürgerwehr in Waltendorf verwiesen werden.70 Beide Bürgerwehren waren bewaffnet sowie mit einer Armbinde ausgestattet (so trug beispielsweise die Eggenberger Marktwache eine weiß-grüne Binde). Im ersten Kriegsjahr suchten die Bürgerwehren die Straßen und umliegenden Wälder prinzipiell nach »Spionen«, »Serbenfreunden«, entlaufenen Kriegsgefangenen und Zivilinternierten, »Landstreichern«, »Bauernfängern«71 sowie nach »Zigeunerbanden«72 ab. Die Zeitungen waren voll von diesen Feindbildern und sie verdeutlichen, dass die dynamische Einheitsbildung (der »Burgfrieden«) zu keiner Zeit uniform und monolithisch war.73 Zwischen den Wachposten und den Passierenden kam es oft zu kleineren und größeren Zusammenstößen, denen weitgehend schlichte Missverständnisse zu Grunde 65 Vgl. Ein Straßenbild, in  : Grazer Tagblatt, 31.7.1914, 5. 66 Vgl. Vom freiwilligen Motorfahrerkorps, in  : Grazer Tagblatt, 9.11.1914 (Abendausgabe), 2. 67 Vgl. Vom Graf Gleispach Veteranenverein, in  : Grazer Mittags-Zeitung, 24.8.1914, 3  ; Erzherzog Heinrich-­ Veteranenkorps, in  : Grazer Mittags-Zeitung, 5.9.1914, 3. 68 Allgemeines zu den Bürgerwehren der Habsburgermonarchie in  : Morelon, Claire  : Respectable Citizens  : Civic Militias, Local Patriotism, and Social Order in Late Habsburg Austria (1890–1920), in  : Austrian History Yearbook, Jg. 51 (2020), 193–219. 69 Zu den »Vororten« zählten Andritz, Gösting, Liebenau, St. Peter, Waltendorf, Ries, Eggenberg, Wetzelsdorf, Straßgang und Fölling (Mariatrost), die jeweils eigene Gemeindevertretungen hatten und 1938 der Stadt Graz eingemeindet wurden. 70 Zahlen nach  : Eine Marktwache in Eggenberg, in  : Grazer Volksblatt, 23.8.1914, 5  ; Eggenberg. (Galizische Flüchtlinge), in  : Grazer Vorortezeitung, 27.9.1914, 1  ; Waltendorf (Bürgerwehr), in  : Grazer Vorortezeitung, 23.8.1914, 1. 71 Dabei handelte es sich um Menschen, die den Bäuerinnen und Bauern ihr Vieh, ihre Landwirtschaftsgeräte oder ihre Ernteerträge zu einem zu geringen Preis abkauften. Möglich wurden diese »faulen« Geschäfte zuungunsten der Landwirte mitunter deshalb, weil zur selben Zeit das Militär Requisitionen auf den Bauernhöfen durchführte. 72 Vgl. Gegen die Zigeunerplage, in  : Grazer Tagblatt, 12.9.1914, 3. 73 Vgl. Thonhofer, Graz (2018), 428–450. Zu den internen Feindbildern in der Steiermark siehe  : Moll, Martin  : Interne Feindbilder im Ersten Weltkrieg, in  : Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark, Jg. 95 (2004), 83–101.

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lagen. Nur in wenigen Fällen74 leisteten Zivilpersonen den Aufforderungen der Wachposten dezidiert nicht Folge. Manche dieser Vorfälle endeten mit Warnschüssen, andere wiederum endeten mit einer schweren Bauchverletzung infolge eines Bajonettstoßes. So wurde beispielsweise Ende August ein, der Presse zufolge, alkoholisierter Büchsenmacher von einem Wachposten des Finanzamts durch einen Bajonettstoß verletzt, sodass dieser in ein Krankenhaus eingeliefert werden musste.75 Im Nachhinein stellte sich aber heraus, dass der Passant dem Wachposten lediglich ein paar Zigarren spendieren wollte, wobei sein Griff in die Tasche zum Auslöser der Gewalt wurde. Andere Vorfälle endeten mit Warnschüssen, wie ein nächtlicher Zwischenfall beim Andritzer Wasserwerk zeigt. Der Wachposten sah zunächst »mehrere Personen, die eine Lampe bei sich trugen«, die nahegelegenen Büsche durchstreifen.76 Als er ihnen zurief, wurde das Licht gelöscht. Nachdem keine Antwort folgte, entschloss sich der Wachposten mehrere Schüsse abzugeben. Aufgeklärt wurde der Vorfall nicht. Für die Presse hatte es aber den Anschein, dass »sich mehrere Personen mit der Wache einen Spaß gemacht haben«.77 In Gösting wurde Ende August sogar mehrmals auf den Wachposten des Monturdepots geschossen, wobei das Ganze in einer Verfolgungsjagd, an der sich auch einige Zivilpersonen beteiligten, mündete.78 Obwohl man auf die Flüchtigen schoss, gelang es diesen zu entkommen. Im Zuge des »Absuchen[s] der Gegend um das Depot [… kam es] zur Verhaftung von vier verdächtigen Personen.«79 Am Ende blieb dies ein Einzelfall, der sich aber gerade zu jener Zeit zutrug, als die Presse vielfach zur Verfolgung »Flüchtiger« aus dem k. k. Zivilinterniertenlager Thalerhof80 aufrief. Wie im Falle der Grazer Sicherheitswache oder im Falle des Landsturms gerieten auch die Bürgerwehren mehrmals mit Zivilpersonen und Soldaten aneinander. In einer Nacht gegen Ende Dezember wurden zum Beispiel zwei Mitglieder der Eggenberger Marktwache vor der Schule am Hasnerplatz, »wo sie mehrere dort einquartierte Infanteristen streitend auf der Straße trafen«, von diesen aus unbekannten Gründen mit dem Bajonett verletzt.81 Die Presse verteidigte den Schusswaffengebrauch der Wachposten regelmäßig. So riet beispielsweise das »Grazer Volksblatt« nach einem Zwischenfall beim Garnisons74 Vgl. Verhalten gegenüber den Militärwachen, in  : Grazer Volksblatt, 22.8.1914, 5. 75 Vgl. Ein verhängnisvoller Irrtum, in  : Grazer Mittags-Zeitung, 28.8.1914, 3. 76 Achtung auf die Wachposten, in  : Grazer Mittags-Zeitung, 24.8.1914, 3. 77 Ebd. 78 Vgl. Auf einen Wachposten geschossen, in  : Grazer Volksblatt, 2.9.1914, 5. 79 Ebd. 80 Zum Lager siehe  : Goll, Nicole-Melanie  : »…Dass wir es mit zwei Kriegen zu tun haben, der eine ist der Krieg nach außen, der andere nach innen«. Die Ruthenen und das k. k. Zivilinterniertenlager Thalerhof bei Graz 1914–1917, in  : Historisches Jahrbuch der Stadt Graz, 40 (2010), hg. von Friedrich Bouvier und Nikolaus Reisinger, 277–303. 81 Angriff auf zwei Mitglieder der Eggenberger Marktwache, in  : Grazer Tagblatt, 28.12.1914 (Abendausgabe), 3.

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gericht, wo ein Wachposten aufgrund einer »verdächtige[n] Wahrnehmung« Schüsse abgegeben hatte, dass man in der Nacht das Paulustor sowie den nahegelegenen Stadtpark und den Schlossberg meiden sollte.82 Und auch der oben zitierte Zeitungsartikel über den Zwischenfall beim Andritzer Wasserwerk machte die Bevölkerung »nochmals aufmerksam«, dass »sämtliche Wachtposten mit unnachsichtlicher [sic] Strenge vorgehen müssen.«83 Zusätzlich zu den redaktionseigenen Appellen zum zivilen Gehorsam gegenüber den Wachposten druckten die Grazer Zeitungen auch jene behördlichen Verordnungen, denen zufolge »das Stehenbleiben auf Brücken und Stegen, sowie unter solchen, ferner auf Bahnübergängen und Verkehrswegen, die unter einem Bahnkörper hindurchführen, streng verboten« war.84 Dabei lassen sich aus der Retrospektive zwei zentrale Argumentationsstränge in puncto zivilen Gehorsam herausarbeiten. Der eine drehte sich um die zeitgenössische Vorstellung des »Standrechts«, der andere korrelierte mit den »unglücklichen« Zusammenstößen zwischen den Wachposten und Zivilpersonen. Bezüglich Ersterem sei hinzugefügt, dass die Grazer Presse oft das Bild eines rigide praktizierten »Standrechtes«85 kolportierte, demzufolge man bereits wegen einer Kleinigkeit legitim »gerichtet« werden könne. Diese Wahrnehmung entsprach nicht der tatsächlichen Rechtslage, was jedoch nichts an der erhöhten Erregtheit im Zuge der verzerrten Vorstellung hinsichtlich des Wirkungs- und Anwendungsbereichs des »Standrechts« änderte. Es sei vermerkt, dass zu Kriegsbeginn das Militärkommando Graz »das Standrecht lediglich für die Verbrechen der Verleitung oder Hilfeleistung zur Verletzung eidlicher Militärdienstverpflichtung, dem in der Praxis anfangs nur marginale Bedeutung zukam«, verhängte.86 Eine massive Ausdehnung seines Geltungsbereichs erfolgte im Zuge der italienischen Kriegserklärung an Österreich-Ungarn im Mai 1915, als es generell geltend gemacht wurde. Nichtsdestoweniger wurde 1914 zum Beispiel der Schusswaffengebrauch »auf alle Bahnobjekte sowie militärische[n] Etablissements« freigegeben.87 Dies galt auch für Autos, die trotz Aufforderung nicht anhielten. Es wurden daher mehrmals »[d]ringende Mahnung[en] an die Lenker von Fahrzeugen aller Art« ausgegeben.88 Das Wirken der Wachposten führte zu einer Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Bevölkerung. Dabei kann grundsätzlich festgehalten werden, dass die Einschrän82 Eine Warnung an Spaziergänger, in  : Grazer Volksblatt, 23.8.1914, 5. 83 Achtung auf die Wachtposten, in  : Grazer Mittags-Zeitung, 24.8.1914, 3. 84 Das Stehenbleiben auf den Brücken ist verboten  !, in  : Grazer Volksblatt, 12.8.1914 (12-Uhr-Ausgabe), 3. 85 Die Wirkungen des Standrechtes, in  : Arbeiterwille, 11.8.1914, 1. Vgl. ferner  : Die Wirkung der Militarisierung, in  : Arbeiterwille, 30.7.1914, 3. 86 Moll, Martin  : Österreichische Militärgerichtsbarkeit im Ersten Weltkrieg  – »Schwert des Regimes«  ? Überlegungen am Beispiel des Landwehrdivisionsgerichtes Graz im Jahre 1914, in  : Mitteilungen des Steiermärkischen Landesarchivs, Jg. 50/51 (2000), 301–355, hier 311. 87 Kögler, Wernfried  : Sicherheit im Krieg  ? Die Bemühungen um die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit in der Steiermark (1914–1918), Phil. Dipl. Graz 2008, 12. 88 Dringende Mahnung an die Lenker von Fahrzeugen aller Art, in  : Grazer Tagblatt, 11.8.1914, 12.

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kungen in der Bewegung (Ausweispflicht) sowie die Gefahr, denunziert oder verprügelt zu werden, zu vielen Alltagskomplikationen führten.89 Aus dem Zeitungsartikel »Spionage und Spionenfurcht« des »Arbeiterwillen« geht dies besonders gut hervor  : »In diesen Zeiten muß es sich ja schließlich jeder gefallen lassen, daß er aufgefordert wird, sich auszuweisen, aber wer denkt immer daran, eine Legitimation zu sich zu stecken  ?«90 Gleich im Anschluss an diese Frage fügte der »Arbeiterwille« hinzu  : »Die Anhaltung wäre nun, so unangenehm sie ist, noch nicht das Schlimmste, aber es kommt bedauerlicherweise oft zu Ärgerem.« Unter »Ärgerem« verstand die Redaktion, dass die »geängstigten Menschen […] in jedem Verhafteten, auch wenn er unschuldig in den schrecklichen Verdacht kam, ohne weitere Untersuchung schon den Schuldigen« sehen. Und oft würde es dann mit dem »traurige[n] Schauspiel [enden], daß unschuldig Verhaftete von der empörten Menge bedroht, beschimpft oder gar mißhandelt werden  !«91 Am Ende standen die kriegsimmanente Militarisierung und die Aufrechterhaltung von »Ruhe und Ordnung« in einem unklaren Verhältnis zueinander. Die Grenzen der »Volksbewaffnung« lagen vor allem dort, wo man ihr selbst eine »sicherheitsgefährdende« Wirkung unterstellte. So kritisierte die Presse vielfach jene Kinder, die in der Öffentlichkeit mit Waffen (Zwillen, Pistolen, Gewehre) hantieren, und sie appellierte scharf an die Eltern sowie an die Lehrer:innen, sie mögen den Kindern diese wegnehmen.92 Daneben finden sich weitere Belege dafür, dass diejenigen Facetten der »Volksbewaffnung«, denen man eine »sicherheitsgefährdende« Wirkung attestierte, scharf unterdrückt wurden. Dem Kriegsüberwachungsamt (KÜA) und der steirischen Statthalterei waren beispielsweise der verbotene Verkauf von im Krieg erbeuteten Waffen ein Dorn im Auge  : »In letzter Zeit sollen in manchen Geschäften, insbesondere in Waffen- und Munitionshandlungen erbeutete feindliche Waffen, wie Gewehre, Lanzen und dergleichen, als Schaustücke ausgestellt worden sein.«93 Ähnliches gilt auch für den Ankauf von Monturteilen russischer Kriegsgefangener, zumal der Staat für deren Einkleidung aufkommen musste.94 Eng damit verbunden ist auch der Appell, dass man nicht mehr gebrauchte Uniformstücke der k. u. k. Armee spenden solle.95 Zum Teil bremsten auch staatliche Initiativen zur Mängelbehebung die »Volksbewaffnung«. Das gilt beispielsweise für das Ende Juli 1915 vom KÜA »im Interesse der Bereithaltung aller Pulversorten für militärische Zwecke«96 verhängte Verbot des Wetter- bzw. Böl89 Vgl. Von Reservisten geprügelt, in  : Arbeiterwille, 3.8.1914 (Abendausgabe), 4. 90 Spionage und Spionenfurcht, in  : Arbeiterwille, 9.8.1914, 1. 91 Ebd. 92 Vgl. Gösting. (Wieder die Flobertpistole.), in  : Grazer Mittags-Zeitung, 23.12.1914, 3. 93 Verschleppung feindlicher Waffen, in   : Verordnungsblatt der k.  k. steiermärkischen Statthalterei, 16.12.1914, 437. 94 Vgl. Kauft keine russischen Monturen  !, in  : Grazer Mittags-Zeitung, 1.10.1914, 4. 95 Vgl. Uniformen für Kriegsfreiwillige, in  : Grazer Mittags-Zeitung, 2.10.1914, 3. 96 Verbot des Wetterschießens, in  : Arbeiterwille, 14.8.1915, 4.

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lerschießens. Die Militarisierung der Gesellschaft wurde durch diese Einschränkungen der »Volksbewaffnung« aber nur ein wenig gehemmt. Im Zuge der als ernst empfundenen Lage und der Wertschätzung des lebenden, verwundeten oder toten Soldaten wurde das illegitime Tragen einer Uniform ohne zu irritieren von der Presse zur Gänze unter dem Stigma »unpatriotisches Verhalten« kriminalisiert.97 Anfang August verschaffte sich beispielsweise ein Grazer Tagelöhner auf unbekannte Weise eine Uniform und wurde deswegen sowohl wegen Diebstahls als auch wegen illegitimen Tragens einer Uniform verhaftet. Ein Grazer Fleischergehilfe verband sich Ende August den Kopf und den Hals, um der Presse zufolge als Verwundeter Almosen zu empfangen. Ähnliches praktizierte ein Maschinenschlossergehilfe und ein Malergehilfe. Unter den Soldaten gab es wiederum einige, die sich ein höheres Dienstgradabzeichen ansteckten. Dabei standen die militärischen Normübertretungen dieser »Wirtshauskrieger«98 den Zeitungsberichten zufolge oft in Verbindung mit dem Erhalt von Geld (für wahre oder erfundene Kriegsgeschichten) oder Almosen (für Verpflegung und Unterkunft). Für das Militär war es »vom moralischen und disziplinären Standpunkte aus ganz unzulässig, daß herumlungernde und bettelnde Militärpersonen, welche in vielen Fällen auch entsprechend alkoholisiert sind, geduldet werden«.99 Die dafür erlassenen »Verfügungen zur Aufrechterhaltung der Disziplin und des militärischen Ansehens« scheinen aber nicht sonderlich gegriffen zu haben, zumal sich der Presse zufolge immer wieder Uniformierte unangemessen oder gar verwerflich in Graz verhielten.

Das Grazer Stadtbild – staatsloyal und militarisiert Im ersten Kriegsjahr veränderte sich die Stadt auch dahingehend, dass mehr und mehr Plakate und sonstige Anschläge mit kriegsbezogenem Inhalt angebracht wurden (z. B. das kaiserliche Manifest »An meine Völker  !« vom 28. Juli, die Mobilisierungsplakate, die Sammelaufrufe, die Verlustlisten sowie die Ankündigungen zu den Kaiserfeiern oder diversen Spendensammlungen). Der Krieg und die Militarisierung schrieben sich hier abseits der Zeitungsverkaufsstände in einer weiteren Form in den Grazer Alltag ein. Die Menschen mussten sich seit Ende Juli schlagartig und intensiv mit der Frage beschäftigen, was die Soldaten – abseits der vom Staat zur Verfügung gestellten Uten97 Das Anziehen einer Uniform bedeutet gleichzeitig das »Aneignen« der soldatischen Normvorgaben. Die folgenden Beispiele fußen auf  : Ein Schwindler in Militäruniform, in  : Grazer Volksblatt, 2.8.1914, 7  ; Einer, der als Verwundeter Schwindel treibt, in  : Kleine Zeitung, 20.8.1914, 6  ; Ein Schwindler mit verbundenem Kopf, in  : Grazer Tagblatt, 9.10.1914, 3  ; Ein Schwindler, in  : Grazer Mittags-Zeitung, 4.9.1914, 3. 98 Wirtshauskrieger  !, in  : Arbeiterwille, 12.11.1914 (Abendausgabe) 2. 99 Verfügungen zur Aufrechterhaltung der Disziplin und des militärischen Ansehens, in  : Verordnungsblatt der k. k. steiermärkischen Statthalterei, 4.11.1914, 379.

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silien – mit an die Front nehmen sollten. Dieser Umstand ist auf die unerprobte allgemeine Wehrpflicht zurückzuführen. Auf die »Liebesgaben«100 am Bahnhof, verließ sich keiner der Soldaten. Sie mussten einkaufen gehen, wobei die partielle Aufhebung der Sonn- und Feiertagsruhe weitere Einkaufstage ermöglichte.101 Sollte man einen Gürtel kaufen  ? Einen Feldstecher  ? Einen Regenmantel  ? Eine Uhr  ? Einen Kompass  ? Glücksbringer  ? Insektenschutzmittel  ? Schreibmaterial  ? Fäustlinge  ? Gamaschen  ? Rasierzeug  ? Derartige Warenartikel wurden in den Geschäftsauslagen und Zeitungsannoncen unentwegt angepriesen.102 Was das anbelangt, trug der Grazer Mittelstand entschieden zum staatsloyalen und militarisierten Stadtbild bei. Abseits der käuflich erwerblichen Ausrüstungsgegenstände waren die Geschäftsauslagen auch mit kriegsbezogenen Devotionalien geschmückt (z. B. Ansichtskarten, Kriegsspielzeug, Kriegstorten oder Gebets- und Andachtsbücher).103 Die Produktion dieser Güter ging auf keine staatliche Planung zurück.104 Sie erfolgte von »unten« und war nicht zuletzt gewinnorientiert. Besondere Aufmerksamkeit erhielten die Auslagen des Modehauses »Kastner & Öhler« sowie jene des Ausstattungshauses »Emil Kraft & Co« (z. B. die nachgestellten Kampfszenen oder Ruhepausen von Soldaten in den Schaufenstern).105 Der »Arbeiterwille« druckte zwar die Geld einbringenden Annoncen106 der Ausstattungshäuser, aber er fertigte konträr zu den anderen Zeitungsredaktionen keine pathetisch-schwülstigen Schaufensterbeschreibungen von sich aus an. Er missbilligte die in den Schaufenstern zu sehenden kriegschauvinistischen Produkte  : Orgien der Roh[h]eit und Geschmacklosigkeit sieht man heute vielfach auf sogenannten ›Kriegsulkkarten‹. Hier wird ein Franzose in Stücke zerhackt, dort ein Russe mit den Stiefeln bearbeitet – und was dergleichen Bildchen mehr sind. Sie sind, künstlerisch gemessen, ebenso wertlos, wie sie witzlos und gemein sind und eine Verhöhnung des Ernstes dieser Zeit darstellen. […] Wichtig wäre vor allem, daß das Publikum überall diese Karten so behandelt, wie sie es verdienen – indem es sie mit dem Gefühl des Ekels ignoriert.107 100 Vgl. Latzel, Klaus  : Liebesgaben, in  : Hirschfeld, Gerhard/Krumeich, Gerd/Renz, Irina (Hg.)  : Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 22014, 679. 101 Am 31.7.1914 wurde die Sonn- und Feiertagsruhe teilweise und vorübergehend aufgehoben. 102 Vgl. Pelzleibchen und Bauchwärmer aus Pelz fürs k. u. k. Militär [Annonce, Anm. d. Verf.], in  : Grazer Volksblatt, 2.9.1914, 8. 103 Vgl. z. B. Der Krieg im Zuckerladen, in  : Grazer Mittags-Zeitung, 24.10.1914, 3. 104 Vgl. dazu auch, freilich ohne Graz-Bezug  : Bürgschwentner, Joachim  : Propaganda, in  : Kuprian, Hermann J. W./Überegger, Oswald (Hg.)  : Katastrophenjahre. Der Erste Weltkrieg und Tirol, Innsbruck 2014, 277–302, hier 289. 105 Vgl. mitunter folgende Schaufensterbeschreibung  : Der Traum des Reservisten, in  : Grazer Tagblatt, 5.12.1914 (2. Ausgabe), 3. 106 Vgl. Der Traum eines Reservisten [Annonce, Anm. d. Verf.], in  : Arbeiterwille, 6.12.1914 (2. Ausgabe), 10. 107 Gegen die »Kriegsulkkarten«-Roh[h]eit, in  : Arbeiterwille, 8.10.1914, 3.

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Das Bild von Graz als einem »Feldlager« wurde auch durch die laufend abgehaltenen Militärkonzerte,108 die kreuz und quer fahrenden Militärfahrzeuge,109 die zahlreichen Kriegstrauungen zwischen Soldaten und Zivilistinnen110 sowie durch die ersten Kriegsausstellungen111 und Soldatengräber112 forciert. Das veränderte Erscheinungsbild der Stadt illustriert sich auch an den Namensänderungen diverser Kaffee- und Gasthäuser sowie kleinerer und größerer Geschäfte. So wurde zum Beispiel das Grazer Kaffeehaus »Casino de Paris« in »Künstler Laube« und das Grazer Modehaus »Zur Stadt Paris« in »A. Hostnig & Co.« umbenannt.113 Diesem staatsloyalen und militarisierten Stadtbild konnte man sich nicht entziehen, zumal man ihm auf Schritt und Tritt begegnete  : die kriegsnotwendigen Verbindungen zwischen der Front und dem Hinterland waren mannigfaltig, kaum zu übersehen und im ersten Kriegsjahr noch weitgehend friktionsfrei.

Das sozialdemokratische Arbeiterhilfskorps Einen Sonderfall bezüglich der Militarisierung des öffentlichen Lebens stellte das Mitte August 1914 gegründete sozialdemokratische Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung dar.114 Im Einsatz unterstand das hierarchisch organisierte Korps je nach Assistenzleistung entweder der Feuerwehr oder dem Roten Kreuz. Geleitet wurde es von hohen Funktionären der steirischen Sozialdemokratie.115 Der unentgeltliche Dienst umfasste prinzipiell humanitäre Hilfeleistungen wie Brandschutz, Unfallaufräumarbeiten, Teilnahme an der Verwundetentransportkolonne am Bahnhof, Lebensmittelbeschaffung, Wohnungsvermittlung für Arbeitslose sowie Eindämmung von Gerüchten. Eine etwaige Ausstattung der Korpsmitglieder mit Waffen stand nie zur Diskussion. Nichtsdestoweniger beteiligten sich einige seiner Mitglieder auch an der Eggenberger Marktwache.116 Daneben sammelte das Korps am »Steirischen Soldatentag« (Anfang Dezember) in den Betrieben Spenden. An der angedachten »Epidemien-Prävention« bzw. »Seuchenbekämpfung« beteiligte sich das Korps letztendlich nicht. Diese oblag

108 Vgl. Promenadekonzert am Ring, in  : Grazer Mittags-Zeitung, 9.11.1914, 3. 109 Vgl. Die Geschwindigkeit der Militärautomobile, in  : Arbeiterwille, 9.12.1914, 3. 110 Vgl. Trauungen, in  : Grazer Tagblatt, 11.8.1914 (Abendausgabe), 2. 111 Vgl. Ausstellung eines russischen und serbischen Geschützes in Graz, in  : Grazer Mittags-Zeitung, 2.12.1914, 3. 112 Vgl. Die Gräber der Gefallenen, in  : Grazer Mittags-Zeitung, 2.11.1914, 2. 113 Vgl. z. B. Vergnügungs-Anzeiger, in  : Grazer Mittags-Zeitung, 3.11.1914, 4. 114 Vgl. An die Arbeiterschaft  !, in  : Arbeiterwille, 12.8.1914, 2. Zum Arbeiterhilfskorps siehe auch  : Thonhofer, Graz (2018), 247, 253, 387–389. 115 Vgl. Arbeiterhilfskorps, in  : Arbeiterwille, 1.11.1914, 6. 116 Vgl. Eggenberg. (Gemeindeausschußsitzung.), in  : Grazer Vorortezeitung, 11.10.1914, 1.

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der vom Hygiene-Universitätsprofessor Wilhelm Prausnitz geleiteten und von Studierenden getragenen »Sanitär-Hygienischen-Hilfsabteilung«. Das Korps teilte sich bereits sehr früh in ein »Hauptkorps« und in eine »Frauenabteilung«, deren jeweiligen Tätigkeiten entsprechende Vorträge und Kurse vorangingen. Das »Hauptkorps« war wiederum in eine Sanitätsabteilung (Anfang September 40 Mann) und in eine Feuerwehrabteilung (60 Mann) unterteilt. Die »Frauenabteilung« (Ende Oktober 75 Frauen und Mädchen) widmete sich in erster Linie der Kranken- und Wochenbettpflege sowie der Kinderfürsorge. Zum damaligen Zeitpunkt fungierten vier weitere Frauen als Armenrätinnen und zwei andere leisteten kostenlose Geburtshilfe. Hierbei kann festgehalten werden, dass die Militarisierung der von Frauen bewerkstelligten Kriegsfürsorge sowie die der Krankenschwestern prinzipiell in Form von »traditionellen« Aufgaben- und Rollenzuweisungen (»Aufopfern«, »Dienen«, »Pflegen«) erfolgte.117 Neu hingegen war sicherlich die steigende Präsenz der Frauen im öffentlichen Raum, die – trotz hegemonialer Huldigung von offizieller Seite – bereits sehr früh erste Scheinargumente gegen die neuen Tätigkeitsfelder der Frauen sowie die Vorstellung, die neuen Arbeitsbereiche der Frauen seien ein »Dienst mit Ablaufdatum« (nämlich das Kriegsende), hervorbrachten. Nach der ersten Großversammlung Ende August, die unter anderem in Kooperation mit dem Grazer Stadtphysikus sowie dem städtischen Branddirektor abgehalten wurde, starteten Anfang September die ersten Lehrgänge des Korps. So hielt der Stadtphysikus Sanitär-Vorträge ab und seit Mitte September erfolgte die Feuerwehrausbildung am Grazer Lendplatz. Letztendlich wurden die Aktivitäten des Korps ab dem zweiten Kriegsjahr deutlich weniger. Für das Jahr 1916 finden sich im »Arbeiterwillen« nur mehr Einladungen zu Vorträgen über Geschlechtskrankheiten oder über diverse Fürsorgeprogramme, die in Graz und in anderen Orten der Steiermark abgehalten wurden. Weder nahm das Korps an den Maifeiern teil (zumindest steht davon nichts im »Arbeiterwillen«), noch scheint das Korps in der stets umfangreichen Berichterstattung über etwaige große sozialdemokratische Protest- und/oder Parteiversammlungen auf.118

117 Eine zentrale Koordinationsstelle der Kriegsfürsorge gab es nicht. Zur zersplitterten Kriegsfürsorge siehe  : Zettelbauer, Heidrun  : »Mit blutendem Herzen […] für Kaiser und Vaterland«. Weibliche Selbst/ Mobilisierung für Kriegsfürsorge im Kontext des Ersten Weltkriegs, in  : Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 47 (2017), GeschlechterGeschichten, hg. von Friedrich Bouvier, Wolfram Dornik, Otto Hochreiter, Nikolaus Reisinger, Karin M. Schmidlechner, 163–184  ; Goll, Nicole-Melanie  : Kriegsfürsorge zwischen »War Effort« und Herrschaftssicherung am Beispiel von Graz (1914–1918), in  : Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 45/46 (2016), Graecensien, hg. von Friedrich Bouvier, Wolfram Dornik, Otto Hochreiter, Nikolaus Reisinger, Karin M. Schmidlechner, 421–438. 118 Zu den steirischen Frauentagen und Frauenkonferenzen siehe  : Schmidlechner, Karin M. et al.: Geschichte der Frauen in der Steiermark. Von der Mitte des 19.  Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Graz 2017, 23–24, 89–90.

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Einheit und Militarisierung Die im Verlauf des Ersten Weltkrieges tendenziell steigende Militarisierung blieb nicht auf den Wirkungsbereich der k. u. k. Armee oder das neue Erscheinungsbild der Stadt beschränkt, sondern erfasste sämtliche Bereiche des öffentlichen Lebens. Dazu zählen nicht nur das weitgehend akzeptierte Zurückdrängen bzw. Ausschalten demokratischer Errungenschaften mittels rigoroser Notverordnungen und Ausnahmeverfügungen zugunsten hierarchischer Befehls- und Ordnungsprinzipien, sondern auch der Prozess der Einheitsbildung (»Burgfrieden«). Der Begriff »Burgfrieden« taucht in der Grazer Presse nur sehr selten auf. In vielen Fällen sprach man lediglich von der »richtigen« Art und Weise, wie man »Patriotismus« leben sollte.119 Mehrfach zirkulierte auch die Rede vom Ende des »Nationalitätenhaders«.120 Die unentwegt und facettenreich eingeforderte Einheit (der »Burgfrieden«) führte zwar schnell zu einer wirkmächtigen Gruppenbildung in der Stadt, aber diese zerbrach dennoch schon lange vor Kriegsende. Im Prinzip war sie auf der Straße bereits von Anfang an voll von Brüchen und Widersprüchen.121 Brüche in der Einheit zeigten sich unverkennbar durch das tägliche stigmatisierende, kriminalisierende sowie auf der Straße oft gewaltsame Aufzeigen selbstdefinierter Grenzen dieser Einheit. Dabei konnte der Feind aus den gegnerischen Reihen stammen (»Spione«, »Saboteure«, Zivilinternierte, Flüchtlinge sowie »Zigeunerbanden«) oder in den eigenen Reihen identifiziert werden (»Lebensmittelwucherer«, »Profitpatrioten«, »Zinsgeier«, »Kriegshyänen«, »Zivilstrategen«, »Wirtshauspatrioten«, »Bauernfänger«, »Milchpantscher«, »Serbenfreunde«, »Diebe«, »Schwindler«, »Drückeberger«).122 Vereinzelt nahm man auch Arbeitslose als »Unsicherheitsfaktor« wahr.123 Dass es sich tatsächlich um Feinde in der eigenen Stadt handelte, kann größtenteils widerlegt werden. Für die zeitgenössische Wahrnehmung handelte es sich bei diesen Feinden jedoch um Personen, die sich gegen die Einheitsbildung und den Kriegseinsatz stellten und so die »Kampfmoral« untergruben. Ein derartig »unpatriotisches« oder »subversives« Verhalten verunsicherte, verärgerte und ängstigte die Grazer:innen. Die daraus entstandenen Alltagskomplikationen bildeten nicht nur den Nährboden für größere gesellschaftliche Konflikte, sondern sie traten auch nicht hinter den einen großen Konflikt (sprich den Krieg, den man gegen Serbien, Russland, Großbritannien und Frankreich führte) zurück. Sie waren und blieben ein fixer Bestandteil des Grazer Alltags, der infolgedessen an »Ordnung« und »Sicherheit« verlor. Dieser Verlust musste – so der damalige Konsens – wettgemacht werden, nötigenfalls mit Gewalt.124 119 120 121 122 123 124

Vgl. z. B. Falscher Patriotismus, in  : Arbeiterwille, 13.8.1914 (Abendausgabe), 2. Vgl. Thonhofer, Graz (2018), 80, 249–250. Vgl. für das Folgende  : ebda., 428–450. Vgl. z. B. Hausherrenhyänen, in  : Arbeiterwille, 23.8.1914, 5. Vgl. Thonhofer, Graz (2018), 257–266. Zu den lokalen Ausschreitungen siehe  : Thonhofer, Graz (2018), 333–346.

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Der »Arbeiterwille« nahm die Auseinandersetzungen und Ausschreitungen oft zum Anlass, die anderen Zeitungsredaktionen und ihre kriegschauvinistische Schreibweise zu kritisieren. Regelmäßig missbilligte er, gleichwohl er selber kriegschauvinistische Artikel publizierte,125 dass »es keine einzige bürgerliche Zeitung für ihre Pflicht erachtet […], gegen solche Exzesse, die mit Patriotismus wahrlich nichts zu tun haben, aufzutreten und die Bevölkerung von einer Lynchjustiz zu warnen, die nicht bloß Schuldige, sondern sogar Unschuldige trifft  !«126 Sollten die »Exzesse« weitergehen, wäre dem »Arbeiterwillen« zufolge »selbst der ruhigste Staatsbürger seines Lebens nicht [mehr] sicher, denn jeder kann irgendeinem ›verdächtig‹ vorkommen  !«127 In den ersten Kriegsmonaten war es enorm wichtig, wie man in der Öffentlichkeit über den Mitmenschen, den Krieg, die Nationen, den Staat, die Regierung, den Kaiser oder den »Burgfrieden« redete. Dabei war es allem Anschein nach völlig egal, ob man sich gerade in der Straßenbahn, in den Parkanlagen, auf den Märkten, in den Geschäften oder auf der Straße aufhielt. Überall konnten richtig oder falsch verstandene Aussagen zum Problem für die eigene Sicherheit werden. In Graz wurde somit seit Ende Juli das Einschreiten der Grazer Wache und der Soldaten zur Regelmäßigkeit  : In der Nacht auf Sonntag [den 26. Juli], in der wohl halb Graz in Gast- und Kaffeehäusern oder auch – trotz des strömenden Regens – auf der Straße die neuesten Nachrichten erwartete, gab es wiederholt heftige Kundgebungen gegen die Serben. Wenn der eine oder der andere irgendwo einen Serben entdeckte oder zu entdecken glaubte, kam die allgemeine Empörung zu elementarem Ausbruche. Mehrmals mußte bei solchen Anlässen die Wache eingreifen und den als Serben Erkannten oder Verdächtigten in Sicherheit bringen.128

Der Verlust von »Ordnung« und »Sicherheit« musste wettgemacht werden, weil eine »geordnete« und »sichere« Stadt Graz den Aufbau einer starken, effizienten »Heimatfront« erst ermögliche. Dass man so dachte, ist verständlich. Und gerade weil man die Sache für so wichtig erachtete, gingen die Meinungen und Vorstellungen über den erst zu zeichnenden und aufgrund des Zeitdrucks gleichzeitig zu realisierenden »Bauplan« für den »Burgfrieden« auseinander.129 Der Krieg wurde als sehr ernste und schwierige Sache wahrgenommen wurde, was schlagartig eine verstärkte Wahrnehmung von jedwedem »Fehlverhalten« evozierte. Am Ende sahen sich daher viele in Graz von verschiedenen Seiten in Frage gestellt oder stellten selber andere in Frage  :

125 Vgl. z. B. Die jungen Stürmer, in  : Arbeiterwille, 26.8.1914, 3. 126 Ein furchtbares Opfer der Spionenfurcht, in  : Arbeiterwille, 11.8.1914, 2. 127 Ebd. 128 Serbenfeindliche Demonstrationen, in  : Grazer Tagblatt, 27.7.1914, 4. 129 Vgl. z. B. Was verstehen die Tschechen unter »Patriotisch«  ?, in  : Grazer Tagblatt, 21.10.1914, 3.

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Täglich zeigen Vorfälle in Graz und auswärts, daß die Zeiten der allgemeinen Aufregung oft benützt werden, um an dem oder jenem persönliche Rache zu üben. Mitunter genügt schon ein serbisch klingender Name, um sich einer Meute auszusetzten, die irgend ein übelwollender Mensch ohne jeden Grund hetzt und leitet.130

So drohte man beispielsweise »wiederholt« einem Friseur sein Geschäft in der Grazer Stempfergasse zu zerstören, da er ein »Reichsserbe« sei.131 Das gleiche warf man einem anderen Friseur vor, sodass dieser über den Weg der Presse verlautbaren ließ, dass er diejenigen, die über ihn Gerüchte verbreiten, gerichtlich belangen würde.132 Eine derartige Klarstellung in Annoncen war für viele Grazer:innen erforderlich.133 Die Erklärungen blieben dabei nicht auf diverse Spekulationen oder Gerüchte über eine vermeintliche »Serbophilie« beschränkt. Der Kapellmeister des Grazer Bürgerkorps dementierte beispielsweise öffentlich das Gerücht, dass das Korps angeblich Geld für das musikalische Begleiten der Soldaten verlangen würde.134 Die Fähigkeit der permanenten Infragestellung der Zugehörigkeit zur gesellschaftlichen Einheit standzuhalten, wurde neben dem im Krieg zunehmenden Erfordernis sich im Mangel einzurichten zu einer Schlüsselqualifikation der Alltagsbewältigung. Das Abschätzen und Suchen der Gefahren und Feinde war im Großen und Ganzen kein Gemeinschaftsprojekt, sondern es musste in der Regel von jeder Person selbst erfolgen. Ebenso wurde man von anderen geprüft und in nicht wenigen Fällen auch für tatsächlich oder unterstelltes renitentes Verhalten bestraft. Gleichzeitig gab es eine ganze Reihe »außerrechtliche« Gewaltformen von Seiten der Soldaten (abseits der Truppe), der hierarchisch organisierten Verbände sowie vieler Zivilpersonen. Es reichte vom Zusammenschlagen/Verprügeln oder zumindest zur Rede stellen einer Person, weil sie zum Beispiel bei der »Wacht am Rhein« nicht mitsang,135 dem viertägigen Demons­ trieren am Grazer Färberplatz vor dem Laden eines vermeintlich »illoyalen« Selchers mit slowenisch-sprachigem Gewerbeschild,136 über das Verbreiten von Gerüchten bis hin zum Denunzieren, Boykottieren oder dem Zustechen mit dem Bajonett oder einem Messer.137 Obwohl sich derartige Ereignisse vielfach in den Lokalteilen der Grazer niederschlagen, transformierte sich das Grazer »Feldlager« dennoch in keine genrehaft verklärte »Wildweststadt« ohne »Moral« und Recht. Unangetastet davon bleibt aber die 130 Blinde Hetze gegen angebliche Serbenfreunde, in  : Kleine Zeitung, 19.8.1914, 6. 131 Ein bedrohter Friseur, in  : Grazer Tagblatt, 28.7.1914 (Abendausgabe), 4. 132 Vgl. Erklärung [Annonce, Anm. d. Verf.], in  : Arbeiterwille, 4.8.1914, 6. 133 Ein Abriss hierzu in  : Thonhofer, Graz (2018), 343–346, 442–443. 134 Vgl. Die Musikkapelle des k. k. priv. Grazer Bürgerkorps, in  : Grazer Volksblatt, 20.8.1914 (12-UhrAusgabe), 7. 135 Vgl. Ein interessanter Ehrenbeleidigungsprozeß, in  : Grazer Mittags-Zeitung, 27.1.1915, 4. 136 Vgl. Eine neuerliche Demonstration am Färberplatz, in  : Grazer Volksblatt, 30.7.1914 (Abendausgabe), 3. 137 Vgl. Ein Bajonettstich für die Zeche, in  : Grazer Tagblatt, 29.10.1914 (Abendausgabe), 3.

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tendenziell steigende Militarisierung der Grazer Straßen, auf denen es seit dem Ultimatum an Serbien (23. Juli) keinen nennenswerten Widerstand gegen den Krieg oder gegen den Staat gab. Lediglich quantitativ marginal ausfallende Einzelproteste (z. B. ein paar heruntergerissene Mobilisierungsplakate, mehrere regierungs- und majestätskritische Verbaldelikte, die geringe, aber doch vorhandene Stellungsflucht, das vereinzelte Steinewerfen auf Militärfahrzeuge, Selbstverstümmelung, Suizid usw.) lassen sich quellenmäßig erfassen. So wurde »ein Student slawischer Nationalität verhaftet«, weil er ein Mobilisierungsplakat von der Mauer heruntergerissen hatte, einsteckte und flüchten wollte.138 Ein Gehilfe eines Grazer Lebzelters riss wiederum einen im Hausflur vom Hausmeister aufgeklebten Zeitungsartikel mit der österreichisch-ungarischen Kriegserklärung an Serbien herunter. Viel wichtiger als die Frage, ob man den Krieg gutheißen oder ablehnen soll, war jedoch die Frage, wie eine Gesellschaft im Krieg überhaupt auszusehen habe. In Österreich-Ungarn herrschte zu Kriegsbeginn ein Mangel an Erfahrung mit den »Begleitumständen« von Krieg. Das galt sowohl für das Militär als auch für die Zivilbevölkerung. Dieses Desiderat konnten weder die kleinen und außerhalb der Habsburgermonarchie geführten Militäraktionen der Jahrzehnte zuvor, noch die Teilmobilmachungen und Standeserhöhungen im Zuge der Balkankriege (1912/13) kompensieren.139 Auch das spärliche Umsetzen der allgemeinen Wehrpflicht trug zu diesem Desiderat bei. Schließlich wurde seit der Einführung der Wehrpflicht (1868) immer »nur eine Minderheit aller jungen Männer eines Jahrgangs eingezogen«.140 Schlussendlich forderte der Krieg die Gesellschaften aller kriegführenden Staaten »heraus, indem er durch die enormen Opfer zum Testfall von Kohäsion, Integration und Loyalität, von Mobilisierung und Kontrolle, aber auch von Überzeugungen und Rechtfertigungen wurde.«141 Die Kriegsauswirkungen stellten für viele Grazer:innen eine normative Herausforderung und soziale Belastungsprobe dar. Das öffentliche Leben in Graz war von einer auffallenden Unsicherheit, Unbeholfenheit, Unklarheit und Unwissenheit geprägt, vielerorts herrschte Konformitätsdruck.142 Am Ende verunmöglichten die Kriegserschwernisse den Aufbau einer uniformen »Kriegsgemeinschaft«, die frei von politischen, nationalen, konfessionellen oder geschlechterrollenbezogenen Konflikten wäre. Denn die durch den Krieg erst entstandenen oder durch diesen verschärften Konfliktlinien innerhalb der Grazer Gesellschaft beeinträchtigten substanziell und nachhaltig das gesellschaftliche Mit- und Nebeneinander. Ausschlaggebend hierfür waren eben jene Konflikte im Grazer Alltagsleben, die bereits in der präventiv zensurierten Presse ausgesprochen und ausgetragen wurden. 138 139 140 141 142

Vgl. Verhaftung von Serbenfreunden, in  : Grazer Tagblatt, 28.7.1914, 5. Wagner, Die k. (u.) k. Armee (1987), 633. Hämmerle, Zur Relevanz (2005), 110. Leonhard, Jörn  : Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014, 205. Vgl. Thonhofer, Graz (2018), 203, 352, 412, 436, 448.

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Diesbezüglich lassen sich Vergleiche zu Maureen Healys Studie »Vienna and the Fall of Habsburg Empire« anstellen. Healy greift in ihrer Monografie zum Wiener Kriegs­ alltag auf das Bild einer »collection of mini-fronts« zurück.143 Nach Healy richteten sich diese kleineren Fronten weniger gegen Russland, Frankreich oder Großbritannien. Vielmehr verliefen sie stattdessen von Kriegsbeginn an durch den zwischenmenschlichen Alltag. Das Gleiche lässt sich über Graz sagen, sofern man berücksichtigt, dass auch die Angst vor Russland die Grazer:innen »zusammenschweißte«. Das Fehlen eines groß angelegten Widerstands zeugt unverkennbar von der »Pflicht­ erfüllung« von Seiten weiter Bevölkerungsteile, die mit einem hohen und mannigfaltigen Kriegseinsatz sowie mit einer breiten Akzeptanz des »Verteidigungskriegs« korrelierte. »Der Kaiser rief und alle, alle kamen«144 hieß es nämlich nicht nur in den klerikal-konservativen, sondern auch in den deutschnationalen Grazer Tageszeitungen. Aus heutiger Sicht lässt sich sagen  : Ja, sie kamen, aber  – sie kamen mit unterschiedlichen Erwartungen und Hoffnungen. Denn auch für das deutschnational und somit antislowenisch und antisemitisch geprägte Graz gilt, wie erwähnt, die von Christian ­Geinitz und Uta Hinz für Freiburg im Breisgau ermittelte »Ambivalenz der Gemütslagen«, in der Zustimmung und Ablehnung des Krieges parallel verliefen oder sich zumindest einander schnell ablösen konnten. Diese konnte trotz vielseitiger Zweifel und Ängste – etwa vor Trennungen, Verwundungen, Tod, Arbeitslosigkeit oder Versor­ gungsengpässen  – mit dem facettenreichen Glauben vom Krieg als Chance korrelieren.145 Der Krieg wurde unverkennbar – wenngleich nicht überall – auch als Aussicht auf neue Lebensmodelle begriffen, deren völlige Unvereinbarkeit von den Grazer:innen in den ersten Kriegswochen nur marginal erkannt wurden. So wurde zum Beispiel »der Krieg als Gelegenheit zur Zerreißung aller südslawischen Verbindungen slowenischer Parteien […] benützt, die deutschnational beeinflussten Zivil- und Militärbehörden in Steiermark und Kärnten wagten aber darüber hinausgehend den Versuch, die slowenischen politischen Bestrebungen überhaupt zu eliminieren.«146 Konträr dazu verhielt es sich mit den Slowen:innen, die sich vom Krieg zuerst eine erhöhte gesellschaftliche Integration und dann einen eigenen Staat erhofften.147

143 Healy, Maureen  : Vienna and the Fall of Habsburg Empire. Total War and Everyday Life in World War I (Studies in the Social and Cultural History of Modern Warfare 17), Cambridge 2007, 1. 144 Die Kriegsanleihe, in  : Grazer Tagblatt, 18.11.1914 (Abendausgabe), 2. 145 Vgl. Konrad, Helmut  : Österreich und der Erste Weltkrieg, in  : Mattl, Siegfried et al. (Hg.)  : Krieg. Erinnerung. Geschichtswissenschaft (Veröffentlichung des Clusters Geschichte der Ludwig Boltzmann Gesellschaft 1), Wien 2009, 13–23. 146 Pleterski, Janko  : Die Slowenen, in  : Wandruszka, Adam/Urbanitsch, Peter (Hg.)  : Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 3  : Die Völker des Reichs, Teilbd. 2, Wien 1980, 801–838, hier 834. 147 Vgl. Moll, Martin  : Auf dem Weg zu Jugoslawien  : Steirische Slowenen im südslawischen Exil während des Ersten Weltkriegs und die Reaktionen in der Heimat, in  : Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark, Jg. 107 (2016), 111–183.

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Die rasch auftretenden Erschwernisse des ersten Kriegsjahres überformten und erodierten die zivilgesellschaftlichen Bindungen. Das Prozess der Einheitsbildung war aber noch nicht ernsthaft bedroht.148 Die »Kluft zwischen Regierung und Regierten«149 steckte noch in ihren Anfängen, selbst das Verhältnis zwischen den beiden Reichshälften blieb im ersten Kriegsjahr noch gut.

Ausblick Die seit Jahrzehnten laufende Militarisierung der Gesellschaft trug dazu bei, dass die Mobilisierung weiter Bevölkerungsteile zu Kriegsbeginn 1914 weitgehend reibungsarm verlief. Ein kollektiver oder institutioneller Widerstand kam nicht zustande. Während des vierjährigen »Volkskrieges« setzte sich die Militarisierung vieler gesellschaftlicher Bereiche fort und trug dazu bei, dass das gesellschaftliche Gefüge substanziell und nachhaltig beschädigt wurde. Die innenpolitische Radikalisierung der Folgejahrzehnte zeigte sich nicht zuletzt auf der Straße.150 Am Ende standen weite Teile der Bevölkerung dem Aufbau der Republik sowie dem Ausbau der parlamentarischen Demokratie mit Skepsis gegenüber.

148 Vgl. dazu auch, freilich ohne Graz-Bezug  : Ziemann, Benjamin  : Gewalt im Ersten Weltkrieg. Töten – Überleben – Verweigern, Essen 2013, 8  ; Raphael, Lutz  : Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914–1945 (Beck’sche Reihe, Geschichte Europas), München 2011, 58. 149 Leonhard, Die Büchse der Pandora (2014), 209. 150 Zur Geschichte der Ersten Republik siehe  : Konrad, Helmut/Maderthaner, Wolfgang (Hg.)  : Das Werden der Ersten Republik. … der Rest ist Österreich. 2 Bde., Wien 2008.

Monika Stromberger

Der Weltkrieg als Medienereignis Über die kriegsintegrative Funktion von Medien am Beispiel von Zeitungen in Maribor/Marburg 1914/15 Das Thema Krieg und Medien eröffnet eine Vielzahl an Perspektiven. Es geht dabei nicht um militärische Auseinandersetzungen, Schlachtfelder und Strategien allein, Krieg ist auch ein soziales Handlungsfeld, in dem die Medien eine bedeutende Rolle spielen  : »Krieg wird in den Medien kolportiert, legitimiert und entlegitimiert, die Darstellung von Krieg gerät zum Bestandteil seiner selbst oder zu seiner Anklage.«1 Dieses Handlungsfeld wird im Folgenden in Hinblick auf die integrative Funktion von Zeitungen während der ersten Phase des Ersten Weltkriegs von der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien bis zum Kriegseintritt Italiens in der »Untersteiermark«2 exemplarisch analysiert. Nach einigen Anmerkungen zu Krieg und Medien im Allgemeinen, zur Monarchie respektive der Untersteiermark im Besonderen wird die kriegsintegrative Funktion der Presse anhand von zwei Zeitungen aus Maribor/Marburg analysiert.

Krieg und Presse – einige allgemeine Vorbemerkungen Was angesichts von »embedded journalism« gegenwärtig als selbstverständlich erscheint, hat seinen Ausgangspunkt im 17. Jahrhundert genommen. Themen, die um Krieg und Militär kreisten, waren zentrale Elemente der ersten modernen Periodika, präsent schon während des Dreißigjährigen Krieges. Gemeinhin wird allerdings der Beginn der modernen journalistischen Kriegsberichterstattung unter Teilhabe größerer Bevölkerungskreise im Zeichen von Pressefreiheit sowie marktwirtschaftlichen Bedingungen mit dem Krimkrieg (1853–1856) angesetzt. Die Londoner »Times« veröffentlichte neben den üblichen amtlichen Meldungen Erlebnisberichte eines Journalisten, der das Geschehen direkt an der Front beobachten konnte.3

1 Imhof, Kurt  : Kriegskommunikation im sozialen Wandel, in  : Imhof, Kurt/Schulz, Peter (Hg.)  : Medien und Krieg – Krieg in den Medien (Mediensymposium 1), Zürich 1995, 23–24. 2 Zeitgenössische Benennung der heutigen Slovenska Štajerska/Slowenischen Steiermark (Raum um Maribor/Marburg, Celje/Cilli, Ptuj/Pettau). 3 Vgl. Hofbauer, Friederike  : Die Vorbereitung der Linzer Bevölkerung auf den Ersten Weltkrieg durch die Linzer Zeitungen »Tagespost«, »Wahrheit« und »Arbeiter-Zeitung«, Phil. Diss. Linz 1994, 76  ; Wilke, Jürgen  : Krieg als Medienereignis. Zur Geschichte seiner Vermittlung in der Neuzeit, in  : Preußler, Hans-

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Wie das moderne Zeitunglesen generell kann auch die mediale Kriegsberichterstattung zur Polarisierung oder zur »Imagination von Gemeinschaft in der Gesellschaft« beitragen  :4 »Who was part of the ›community at war‹ was a question embedded in the newspapers men and women read day after day.«5 Welche soziale Reichweite diese Medien hatten – also wie »kriegsintegrativ« sie letztlich wirken konnten – lässt sich für die Zeit bis 1918 freilich nur schwer feststellen. Zwar waren Zeitungen das erste Massenmedium und über Lesevereine und Bibliotheken leicht zugänglich, allerdings ist der tatsächliche Erfassungsradius unklar, zumal in der – hier untersuchten – österreichisch-ungarischen Monarchie die Analphabetenrate kurz vor dem Krieg immer noch bei rund 30 % lag.6 Dennoch kann diese Phase als jene der Entdeckung der Bedeutung der »öffentlichen Meinung« gelten, der Adressatenkreis der Medien wurde einerseits aufgrund politischer Entwicklungen immer mehr ausgeweitet, andererseits wurden auch vonseiten der Politik Kontroll- und Zensurmaßnahmen geschaffen, um so zur staatlich gesteuerten Integration und zur Mitwirkung der »Regierten« beizutragen.7 Der Krieg verstärkte diese Tendenzen, da er durch die Verdichtung von Spannungen, Feindbildkonstruktionen, Identifikationspotenzialen oder Berichten über Siege und Niederlagen zu einem besonders eindringlichen Medienereignis wurde. Umgekehrt wurden die Medien selbst zu einem Bestandteil von Kriegsstrategien, Zensur und Propaganda Instrumente der Kriegsführung mit anderen Mitteln.8 Dabei lassen sich jenseits der Nationszugehörigkeit allgemeine Tendenzen feststellen, wie Ferdinand Tönnies unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs in seiner »Kritik der öffentlichen Meinung« von 1922 skizziert hatte  : Der Krieg des eigenen Landes wird als gerecht dargestellt und als Verteidigungskrieg, der Gegner wird als unmenschlich dämonisiert. Zensur erscheint als legitimes Mittel des Kampfes  :9 »So sehr das politische Publikum sonst in jedem Lande für die Preßfreiheit eingenommen war und sie als Errungenschaft der allgemeinen liberalen Bestrebungen und des Fortschritts zu preisen gewohnt

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Peter (Hg.)  : Krieg in den Medien (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 57), Amsterdam-New York 2005, 83–104. Vgl. Imhof, Kriegskommunikation (1991), 124. Winter, Jay  : Paris, London, Berlin 1914–1919. Capital Cities at War, in  : Winter, Jay/Robert, Jean-Louis (Hg.)  : Capital Cities at War. Paris, London, Berlin 1914–1919, Cambridge 1997, 3–25, hier 20. Vgl. Altenhöner, Florian  : Kommunikation und Kontrolle. Gerüchte und städtische Öffentlichkeiten in Berlin und London 1914/1918 (Veröffentlichung des Deutschen Historischen Instituts London 62), München 2008, 29 –30  ; Bachleitner, Norbert/Eybl, Franz M./Fischer, Ernst  : Geschichte des Buchhandels in Österreich (Geschichte des Buchhandels 6), Wiesbaden 2000, 238. Vgl. Altenhöner, Kommunikation (2008), 89–92. Vgl. Lang, Gustav A.: Der Krieg als journalistisches Thema, in  : Imhof/Schulz, Medien und Krieg (1995), 151–156, hier 153–155  ; Pilch, Günter  : Propaganda im Ersten Weltkrieg am Beispiel der Italien-Berichterstattung ausgewählter Grazer Tageszeitungen, Phil. Dipl. Graz 2004, 28–29. Vgl. Kunczik, Michael  : Kriegsberichterstattung und Öffentlichkeitsarbeit in Kriegszeiten, in  : Imhof/ Schulz, Medien und Krieg (1995), 87–104, hier 95–96.

Der Weltkrieg als Medienereignis 

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war, so hat es doch überall […] mit der Kriegszensur sich abgefunden und ihre Notwendigkeit, wenigstens in bezug auf militärische Angelegenheiten, anerkannt.«10 Der Erste Weltkrieg war das erste große mediale »Kommunikationsereignis«11 und zugleich der erste »Pressekrieg«  : Einerseits wurde die Wahrnehmung des Kriegsgeschehens von den Zeitungsberichten geprägt, andererseits ergab sich in der Publizistik eine Zuspitzung in Hinblick auf (durchaus internationale) Konkurrenz und Meinungsstreit.12 Wobei sich, wie auch aus der gegenständlichen Zeitungsanalyse deutlich wird, hier gleichsam ein Netzwerk auftat, die Medien einander (zustimmend oder abgrenzend, zirkulierend oder blockierend) häufig zitierten. So wurde gleichsam eine »mediale Realität« geschaffen, die Zeitungen wurden aufgrund ihrer Rezeption durch die Akteur:innen zu Katalysatoren weiterer Entwicklungen. Mehrfach wird die These vertreten, dass die Presse wesentlich zur Eskalation, die in den Weltkrieg mündete, beigetragen hätte, ihr wurde vorgeworfen, den Krieg förmlich »herbeigeschrieben« zu haben.13 Im weiteren Verlauf gestaltete sie die Wahrnehmung des Konflikts mit, sie integrierte Einzelereignisse zu einem kohärent anmutenden Gesamtbild  : Die Funktion der Zeitungen lässt sich als »meinungsbildende Verdichtung von disparaten Kriegshandlungen zum kompakten Medienereignis« definieren.14 Zudem war die Presse ebenfalls Teil der neuen, durch verbesserte Kommunikationsstrukturen durchorganisierten Propagandamaschinerie auf höchstem Niveau  : Propaganda wurde »zum Medium nationaler Selbstartikulation« in einem Ausmaß wie nie vorher.15 Propaganda und Kriegsführung bildeten einen »zweckrationalen Komplex«, indem Gräuelpropaganda gegen den Feind eine weitere Waffe wurde. Einhergehend mit strikter Zensur, die neben Namen und Orten sogar das Wetter betreffen konnte, wurde auch die Veröffentlichung von amtlichem Material Teil der Meinungslenkung.16 Die österreichisch-ungarische Monarchie war hier in einer speziellen Situation  : Der 10 Tönnies, Ferdinand  : Gesamtausgabe, Bd. 14  : Kritik der öffentlichen Meinung, hg. von Alexander Deichsel, Berlin 2002, 151 [Originalausgabe 1922  ; Hervorhebung wie im Original]. 11 Vgl. Krumeich, Gerd  : Der deutsche Soldat an der Somme 1914–1918. Zwischen Idylle und Entsetzen, in  : Quandt, Siegfried/Schichtel, Horst (Hg.)  : Der Erste Weltkrieg als Kommunikationsereignis (Medien – Kommunikation – Geschichte 1), Gießen 1993, 45–62, hier 45. 12 Vgl. Lehnert, Detlef  : Die geschichtlichen Schattenbilder von »Tannenberg«. Vom Hindenburg-Mythos im Ersten Weltkrieg zum ersatzmonarchischen Identifikationssymbol in der Weimarer Republik, in  : Imhof/Schulz, Medien und Krieg (1995), 37–71, hier 43. 13 Vgl. Rosenberger, Bernhard  : Schreiben für Kaiser und Vaterland  ? Die Rolle der Presse bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges, in  : Quandt/Schichtel, Der Erste Weltkrieg (1993), 15–30, hier 18–21  ; Schwendinger, Christian  : Kriegspropaganda in der Habsburgermonarchie zur Zeit des Ersten Weltkriegs. Eine Analyse anhand fünf ausgewählter Zeitungen, Hamburg 2011, 34  ; Wilke, Krieg als Medienereignis (2005), 97. 14 Lehnert, Schattenbilder (1995), 44. 15 Jeismann, Michael  : Propaganda, in  : Hirschfeld, Gerhard/Krumeich, Gerd/Renz, Irene (Hg.)  : Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2009, 198–209, hier 199–200. 16 Vgl. Beham, Mira  : Kriegstrommeln. Medien, Krieg und Politik, München 1996, 26–27  ; Pilch, Propaganda (2004), 33.

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Schwerpunkt der Propaganda war gegen die Gegner im Osten und Südosten gerichtet – hier wurde auf vertraute Stereotype und Bilder zurückgegriffen, die tief im kulturellen Gedächtnis der Bürger:innen dieser Länder verankert waren –, zugleich wurden mit repressiven Mitteln nationale Auseinandersetzungen und Eskalationen innerhalb der Monarchie zu verhindern versucht (»Kriegsabsolutismus« zur Erhaltung des »Burgfriedens«).17

Krieg, Presse und die Habsburgermonarchie Die Zeitungen als Kommunikationsmittel eines sich entwickelnden demokratischen Systems hatten in der Phase vor dem Weltkrieg große Bedeutung, die Dimension ihrer Rolle wurde aber – wie auch in Großbritannien oder Deutschland – erst im Laufe der Zeit erkannt. So mussten entsprechende zentrale Institutionen und Instrumente erst noch geschaffen, die Vorgaben für die Zensur oft schrittweise angepasst werden.18 In der k. u. k. Monarchie wurde bereits 1912 das Kriegsüberwachungsamt (KÜA) in Cisleithanien institutionalisiert, die Überwachung der Presse auf diese Weise bereits vor dem Krieg eingeleitet. Als am 26. Juli 1914 die Pressefreiheit aufgehoben wurde, war dieses Amt zuständig für die Überwachung der Zensur von allen Schriftstücken, auch Briefen oder Periodika. Es verfügte aber über keinen klar von anderen Behörden abgegrenzten Tätigkeitsbereich und wurde 1917 aufgelöst.19 Die oberste Zensurstelle war das Kriegspressequartier (KPQ), als Untergruppe des Armeeoberkommandos (AOK) mit Beginn des Krieges gegründet. Es sollte das Kriegsüberwachungsamt und die Kriegsüberwachungskommission beraten, die beide für die Propaganda zuständig waren.20 Zu den Aufgabengebieten des KPQ zählten die Einflussnahme auf die Presse, die Kommunikation mit der Heeresleitung und den entsprechenden Pressestellen der verbündeten Staaten, die Organisation der Propaganda im In- und Ausland für das eigene Heer und die Abwehr der Propaganda der Gegner sowie die Förderung des Ansehens der Monarchie durch geeignete Aktionen im Ausland. Auch diese Institution entwickelte ihre spezifischen Aufgaben erst im Laufe der kriegerischen Auseinandersetzungen als »gewissermaßen die PR-Zentrale« der Monarchie. 17 Vgl. Beham, Kriegstrommeln (1996), 38  ; Schwendinger, Kriegspropaganda (2011), 15  ; Jeismann, Propaganda (2009), 200. 18 Vgl. Altenhöner, Kommunikation (2008), 28–38  ; Schwendinger, Kriegspropaganda (2011), 34. 19 Vgl. Hofbauer, Die Vorbereitung (1994), 77  ; Schwendinger, Kriegspropaganda (2011), 60  ; Pilch, Propaganda (2004), 45–46  ; vgl. auch  : Scheer, Tamara  : Zwischen Front und Heimat. Österreich-Ungarns Militärverwaltungen im Ersten Weltkrieg (Neue Forschungen zur ostmittel- und osteuropäischen Geschichte 2), Frankfurt/Main 2009. 20 Zum Kriegsüberwachungsamt siehe  : Scheer, Tamara  : Die Ringstraßenfront  – Österreich-Ungarn, das Kriegsüberwachungsamt und der Ausnahmezustand während des Ersten Weltkriegs (Schriftenreihe des Heeresgeschichtlichen Museums 15), Wien 2010.

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Aufgrund struktureller Probleme und unklarer Konzepte war sie nicht so effizient wie die entsprechenden Einrichtungen in den Entente-Staaten, erst ab 1917 steigerte sich die Wirkung ihrer Tätigkeit.21 Das Ansuchen um Aufnahme ins KPQ erfolgte über jene Zeitung, bei welcher der/ die Kriegsberichterstatter  :in angestellt war. Diese Journalist:innen sollten dann über das Frontgeschehen berichten, besonders über die »Heldentaten« der eigenen Truppen, und solcherart Stimmungsbilder verbreiten. Man konstruierte die Illusion einer Augenzeugenschaft  : Tatsächlich wurden die Berichterstatter:innen meist vom unmittelbaren Kriegsgeschehen ferngehalten, sie verfassten ihre Beiträge auf Basis von Heeresberichten, Vorträgen oder Stellungnahmen von Stabsoffizieren. Später wurden immerhin Ausflüge zu Frontabschnitten, die nicht mehr kriegsrelevant waren, organisiert. Dennoch wurde jeder einzelne Bericht an das AOK zur Genehmigung geschickt und von den Zensoren des KPQ analysiert. Übrigens konnten nicht nur solche Berichte, sondern die ganze Zeitung zensuriert oder auch beschlagnahmt werden.22 Wie aus den analysierten Ausgaben der Zeitungen »Straža« und »Marburger Zeitung« hervorgeht, wurden auch Beiträge unter den regionalen und vermischten Nachrichten entfernt, weiße Flecken zierten fast jede Ausgabe. Andere für die Pressearbeit im Krieg relevante Institutionen waren das Kriegsarchiv einschließlich der sogenannten »Literarischen Gruppe« als verlängerter Arm der Propaganda, das »Literarische Bureau« des Außenamts, das Preßdepartment im Ministerratspräsidium und der Pressedienst für die allerhöchsten Herrschaften.23 Um die beiden untersuchten Zeitungen von regionaler Bedeutung in einen größeren Kontext einzubetten, werden im Folgenden kurz die Arbeiten von Christian Schwendinger und Eva-Patricia Cimpa skizziert. Beide analysieren die wichtigsten deutschsprachigen Zeitungen Cisleithaniens, nämlich die »Neue Freie Presse«,24 die 21 Vgl. Schwendinger, Kriegspropaganda (2011), 41 und 60  ; Hofbauer, Die Vorbereitung (1994), 78–79  ; Pilch, Propaganda (2004), 40–41. 22 Vgl. Pilch, Propaganda (2004), 42–44. 23 Vgl. Überegger, Oswald  : Vom militärischen Paradigma zur »Kulturgeschichte des Krieges«  ? Entwicklungslinien der österreichischen Weltkriegsgeschichtsschreibung im Spannungsfeld militärisch-politischer Instrumentalisierung und universitärer Verwissenschaftlichung, in  : Überegger, Oswald (Hg.)  : Zwischen Nation und Region. Weltkriegsforschung im interregionalen Vergleich. Ergebnisse und Perspek­tiven (Tirol im Ersten Weltkrieg 4), Innsbruck 2004, 63–122, hier 65. Zu den Literaten vgl. Schneider, Uwe/ Schumann, Andreas (Hg.)  : »Krieg der Geister«. Erster Weltkrieg und literarische Moderne, Würzburg 2000  ; Vogrič, Ivan  : Slovenski književniki in 1. svetovna vojna, in  : Zgodovinski Časopis [im Folgenden abgekürzt als ZČ], Jg. 54 (2000), 197–232  ; Gruber, Hannes  : »Die Wortemacher des Krieges«  : Zur Rolle österreichischer Schriftsteller im Kriegspressequartier des Armeeoberkommandos 1914–1918, Phil. Dipl. Graz 2012  ; ­Peball, Kurt  : Literarische Publikationen des Kriegsarchivs im Weltkrieg 1914 bis 1918, in  : Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchives, Jg. 14 (1961), 240–260. 24 Zur Neuen Freien Presse vgl. auch  : Rauchensteiner, Manfried  : Zeitungskrieg und Kriegszeitung. Die »Neue Freie Presse« im Ersten Weltkrieg, in  : Kainz, Julius/Unterberger, Andreas (Hg.)  : Ein Stück Österreich. 150 Jahre »Die Presse«, Wien 1998, 92–107.

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»Reichspost«, die »Wiener Abendpost«, die »Arbeiter-Zeitung« und die »Illustrierte Kronenzeitung« nach thematischen Schwerpunkten (Serbien, Italien, Tod Kaiser Franz Josephs, Kriegseintritt der USA etc.), wobei hier nur die sich auf den Zeitraum 1914/15 beziehenden Abschnitte thematisiert werden.25 In allen Zeitungen wurde, was Serbien betraf, stereotype Schuldzuschreibung betrieben, teilweise appellativ und persuasiv. Nur die »Arbeiter-Zeitung« erwies sich in den Wochen um den Kriegsbeginn zurückhaltender in ihren Formulierungen und verwies in Bezug auf das Attentat auf das Problem Bosnien-Herzegowina.26 In diese emotionalisierte Berichterstattung gegen den »Erzfeind« reihen sich »Straža« und »Marburger Zeitung« nahtlos ein. Auch beim Kriegseintritt Italiens 1915 wurden Emotionen geschürt. Hier waren die ›gemeinsame‹ Kriegsvergangenheit und die Schlachten des 19.  Jahrhunderts in den Zeitungen präsent, aber auch die Geschichte von Gebietsverlusten und Grenzverschiebungen wurde thematisiert. Italien wurde als »Verräter« stigmatisiert, und alle Zeitungen plädierten für den Krieg. Nicht nur die Marburger/Mariborer Zeitungen, auch die Grazer Tageszeitungen (»Tagespost«, »Volksblatt« und »Arbeiterwille«) vermittelten dieselbe Stimmung.27 Allgemein wurde das Kampfgeschehen bis zur Russischen Revolution nur in Siegesmeldungen ausgedrückt, 1917 war es vor allem die »Arbeiter-Zeitung«, die mit Negativmeldungen die Friedensbemühungen unterstützte. Die anderen großen Zeitungen deuteten erst gegen Ende des Krieges eine mögliche Niederlage an.28 Die Ernährungslage in Wien wurde vor allem von der »Arbeiter-Zeitung« schon von Beginn an problematisiert, während sich die anderen Zeitungen erst im Laufe der Zeit kritischer gegenüber den Problemen des Alltags im Krieg äußerten.29 Auch hier waren »Straža« und »Marburger Zeitung« auf Linie  : Zu Beginn des Krieges wurden nur Siegesmeldungen verbreitet. Die Ernährungslage wurde etwas kritischer analysiert, die Berichte darüber mündeten allerdings eher in Appelle, Aufrufe und Durchhalteparolen. Zusammenfassend lässt sich die Funktion der Presse als kriegsintegrativ bezeichnen. Die Zeitungen erfüllten die Vorgaben der staatlichen Propagandakonzepte nach Vereinheitlichung der Sichtweisen,30 bei der Unterstützung des »Burgfriedens« allerdings waren nicht alle auf Linie, wie »Straža« und »Marburger Zeitung« beweisen. Mit der stereotypen Darstellung des Gegners wurden Vorurteile gestärkt, besonders massiv 25 Vgl. Schwendinger, Kriegspropaganda 2011  ; Cimpa, Eva-Patricia  : Der Erste Weltkrieg im Spiegel der drei großen österreichischen Tageszeitungen  : Reichspost, Arbeiterzeitung und Neue Freie Presse, Phil. Dipl. Wien 1998. 26 Vgl. Schwendinger, Kriegspropaganda (2011), 90–91  ; Cimpa, Der Erste Weltkrieg (1998), 9–25. 27 Vgl. Schwendinger, Kriegspropaganda (2011), 101–103  ; Cimpa, Der Erste Weltkrieg (1998), 37–40  ; Pilch, Propaganda (2004), 126–127. 28 Vgl. Cimpa, Der Erste Weltkrieg (1998), 41–49. 29 Vgl. ebda., 88–100. 30 Vgl. Jeismann, Propaganda (2009), 200.

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bei Kriegseintritt. Wenn Handlungsoptionen thematisiert wurden, dann vorwiegend im Rahmen einer Weiterführung des Krieges (zumindest bis 1917). Diese harte Befürwortungsfront, die nur von der »Arbeiter-Zeitung« partiell aufgeweicht wurde, drängte die Kriegsopposition in eine defensive Position und verstärkte damit jene der Kriegsapologet:innen. Nicht zuletzt durch die »Filterung« von Informationen – auch jenseits der Zensur, denn eine kritische Haltung war durchaus möglich, wie die »Arbeiter-Zeitung« bewies, zumindest am Beginn und gegen Ende des Krieges – erfüllte die Presse die von ihr geforderte Rolle.31 Zumindest für die erste Phase des Krieges lässt sich diese Erkenntnis auch auf die regionalen Zeitungen »Straža« und »Marburger Zeitung« übertragen.

Krieg, Presse und die Untersteiermark32 Die Untersteiermark war – wie alle gemischtsprachigen Gebiete – von zunehmenden nationalen Spannungen geprägt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die regionale Identität der »Steirer:innen« im Zuge des Modernisierungsprozesses von nationalen Identifikationsangeboten verdrängt. 1914 standen sich in dieser Region »Deutsche« und »Slowen:innen« gegenüber, und die Zeitungen richteten sich auch explizit an diesen oder jenen national definierten Personenkreis. Beide Seiten radikalisierten sich in diesem Prozess. Die untersteirischen Deutschnationalen nutzten ihre hegemoniale Position und die Unterstützung aus dem nördlichen Teil (insbesondere aus der sich seit 1898 unbedingt und kompromisslos deutschnational definierenden Landeshauptstadt), um die Bemühungen der Gegenseite um Anerkennung ihrer Rechte und Forderungen zu unterminieren. Die steirischen Slowen:innen ihrerseits galten in der Nationalbewegung als aktiver und initiativer als jene Krains, was sich speziell in der Differenziertheit der Vereinsstruktur und in der Aktivität ihrer Protagonist:innen nachweisen lässt. Dennoch gab es keine radikale Trennung der öffentlichen Sphären, vielfach herrschte im Alltag Pragmatismus vor.33 31 Vgl. Schwendinger, Kriegspropaganda (2011), 151–152. 32 Einen Überblick über die slowenische Geschichtsschreibung zum Ersten Weltkrieg bis 2004 bietet  : Moll, Martin  : Die deutschsprachige und slowenische Historiographie zur Steiermark im Ersten Weltkrieg, in  : Überegger, Zwischen Nation und Region (2004), 179–196, hier 192–196. Diesem Artikel sind einige Literaturhinweise entnommen – Anm. d. Verf.; über die frühe slowenische Literatur zum Krieg vgl. Svoljšak, Petra  : Prva svetovna vojna in Slovenci. Oris slovenskega zgodovinopisja, publicistike in spominske literature o prvi svetovni vojni, in  : ZČ, Jg. 47 (1993), 263–287  ; zu Slowenien allgemein vgl. auch  : Svoljšak, Petra, Antoličič, Gregor  : Leta strahote. Slovenci in prva svetovna vojna, Ljubljana 2018. 33 Vgl. Vodopivec, Peter  : Liberalismus in der Provinz  ? Das Beispiel des Triester Hinterlandes, in  : Stekl, Hannes/Urbanitsch, Peter/Bruckmüller, Ernst/Heiss, Hans (Hg.)  : Bürgertum in der Habsburgermonarchie, Bd. 2  : »Durch Arbeit, Besitz, Wissen und Gerechtigkeit«, Wien-Köln-Weimar 1992, 82–93, hier 87– 88  ; Cvirn, Janez  : Deutsche und Slowenen in der Untersteiermark  : zwischen Kooperation und Konfrontation, in  : Heppner, Harald (Hg.)  : Slowenen und Deutsche im gemeinsamen Raum. Neue Forschungen

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Die Idee der Vereinigung aller Südslaw:innen wurde in den slowenisch-kroatischen Regionen der Monarchie schon im 19. Jahrhundert propagiert, dies wurde den Slowen:innen allerdings erst zum Verhängnis, als die Balkankriege ausbrachen und die Spannungen zwischen Österreich-Ungarn und Serbien wuchsen. Besonders in Krain ließ die slowenische Publizistik  – vor allem aus liberalen und sozialdemokratischen Kreisen – Sympathie für die serbischen Nachbarn anklingen. Mit Ausbruch des Krieges nutzten die deutschnationalen Akteur:innen diese Tendenzen, um Repressionen gegen die slowenischen »Hochverräter« auszuüben. Zahlreiche Protagonist:innen der slowenischen Nationalbewegung, insbesondere Geistliche, aber auch Politiker und deren Anhänger:innen, wurden verhaftet, jedoch in den meisten Fällen später wieder freigelassen. Die Denunziation und Verfolgung von Slowen:innen war in der Steiermark und in Kärnten am radikalsten und am besten organisiert.34 Die untersteirischen Bezirkshauptmannschaften nutzten eine Weisung des Statthalters Manfred Graf von Clary und Aldringen vom Juli 1914 aus und zerschlugen das politisch orientierte slowenische Vereinswesen, meist unter dem Vorwurf der »Serbophilie«. Ein weiterer Erlass der Statthalterei zur Verfolgung von Verrätern wurde weidlich genutzt, um den nationalen Gegner zu unterdrücken. Ministerpräsident Stürgkh forderte Clary-Aldringen auf, gegen diese nationale Hetze vorzugehen, der Statthalter setzte diese Aufforderung aber nur wenig engagiert um. Erst Anfang 1915 nahmen diese massiven Repressionen ab.35 An der patriotischen Grundhaltung der Slowen:innen änderten diese Unterdrückungsmaßnahmen jedoch nichts, zumindest nicht in den ersten Jahren des Kriegs. Wie überall wurde der Krieg auch hier – besonders in den urbanen Zentren – zunächst mit Begeisterung begrüßt. Auch die übergeordneten Behörden wie etwa die steiermärkische Statthalterei attestierten der slowenischen Bevölkerung, trotz der artikulierten Verbitterung über die nationalen Gegner, Loyalität.36 zu einem komplexen Thema (Buchreihe der Südostdeutschen Historischen Kommission 38), München 2002, 111–125  ; vgl. auch Matić, Dragan  : Slovensko-nemški odnosi med 1. svetovno vojno, in  : Vodopivec, Peter/Kleindienst Katja (Hg.)  : Velika vojna in Slovenci, Ljubljana 2005, 157–174, hier 158–159  ; Lukan, Walter  : Die Habsburgermonarchie und die Slowenen im Ersten Weltkrieg. Aus dem »schwarzgelben Völkerkäfig« in die »goldene Freiheit«  ?, Wien 2017, 39–100. 34 Ausführlich vgl  : Kernmavner, Dušan  : O aretacijah Slovencev med prvo svetovno vojno (z uvodnim ekskurzom o aretaciji in izpustu Ivana Cankarja in z vmesnim ekskurzom o Petru Roseggerju in Slovencih), in  : ZČ, Jg. 27 (1973), 343–375  ; Matić, Slovensko-nemški odnosi (2005), 164–167  ; Lukan, Walter  : Habsburška monarhija in Slovenci v prvi svetovni vojni, in  : ZČ, Jg. 62 (2008), 91–149, hier 96–97  ; Moll, Martin  : Kein Burgfrieden. Der deutsch-slowenische Nationalitätenkonflikt in der Steiermark 1900–1918, Innsbruck 2007, 148–153, dazu auch  : Svoljšak, Petra  : The Social History of the Soča/Isonzo Region in the First World War, in  : Rutar, Sabine (Hg.)  : Sozialgeschichte und soziale Bewegungen in Slowenien (Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen 41), Essen 2009, 89–110, hier 92. 35 Vgl. Moll, Kein Burgfrieden (2007), 255–296, 301–304 und 449  ; zur Frage der »südslawischen« Politik vgl.: Pilar, Ivo  : Die südslawische Frage und der Weltkrieg. Übersichtliche Darstellung des Gesamt-Problems, Zagreb 2020. 36 Vgl. Lukan, Habsburška monarhija (2008), 96–97  ; Moll, Martin  : »Heimatfront« Steiermark. Ein ge-

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Auch in der Heeresleitung gab es offenbar unterschiedliche Strömungen in Bezug auf die Wahrnehmung der Slowen:innen. Hatte es zunächst so ausgesehen, als würde die Heeresführung die slowenischen Bestrebungen (Vereinigung der Slowen:innen) durchaus unterstützen, so agierte gerade das Armeekommando in Maribor/Marburg besonders slowenenfeindlich. Bestenfalls wurde ein Unterschied gemacht zwischen »guten« bäuerlichen Slowen:innen und »bösen« Intellektuellen.37 Insgesamt war das Bemühen der Statthalterei, den nationalen Kampf innerhalb ihres Territoriums (»Burgfrieden«  !) zu unterbinden, nicht von Erfolg gekrönt. Letztlich ließ sich eine Abwendung vom Gesamtstaat auch bei deutschsprachigen Steirer:innen beobachten. Ins Bewusstsein der öffentlichen Meinung in einem weiteren Einzugsgebiet rückten die Repressionen gegen die slowenische Minderheit in der Steiermark (und in Kärnten) erst 1917, als der Südslawische Klub diese im wieder eröffneten Reichsrat thematisierte. Die Abwendung der Slowen:innen von der Habsburgermonarchie war ein schleichender Prozess, gefördert durch die erst wieder heftig aufflackernde natio­ nale Auseinandersetzung nach dem Tod von Karl Stürgkh und Franz Joseph. In der Maideklaration von 1917 wurde sie dann manifestiert.38 Unmittelbar integriert in den Krieg war die Untersteiermark durch die Dislozierung der Truppenkörper, da hier einige Regimenter beheimatet waren. Direkten Bezug hatten hier vor allem das k. u. k. Infanterieregiment Nr.  47 »Graf von Beck-Rzikow­sky« (Maribor/Marburg), das Infanterieregiment Nr. 87 aus Celje/Cilli oder das LandwehrInfanterieregiment Nr.  26, die hier stationiert waren und sich personell aus diesem Raum ergänzten. Mit dem Eintritt Italiens in den Krieg wurde dieser Bezug noch enger  : Das Hauptquartier des Oberbefehlshabers an der Südwestfront, Erzherzog Eugen, wurde in Maribor/Marburg eingerichtet. Für die Slowen:innen bedeutete dies, dass der Krieg mit dem »Erbfeind« (Ivan Šušteršič) unmittelbar auf ihr Einzugsgebiet übergriff.39 Die für das kulturelle Gedächtnis beider Staaten heute noch bedeutende Isonzo/ Soča-Front erregte 1917 sogar die Aufmerksamkeit der Londoner »Times« und der »New York Times«, die die zwölfte Schlacht genau beobachteten.40

mischtsprachiges Kronland im ersten »totalen Krieg«, in  : Kuprian, Hermann J. W./Überegger, Oswald (Hg.)  : Der Erste Weltkrieg im Alpenraum. Erfahrung, Deutung, Erinnerung (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 23), Bozen 2006, 181–196, hier 193. 37 Vgl. Lukan, Habsburška monarhija (2008), 104–106. 38 Vgl. Ebd., 97 und 106–110  ; Moll, »Heimatfront« Steiermark (2006), 193–194. 39 Vgl. Svoljšak, The social history (2009), 89–90  ; Lukan, Habsburška monarhija (2008), 99–100  ; Rauchensteiner, Manfried  : Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918, Wien-KölnWeimar 2013, 410. – Zur besonderen Problematik des italienisch-slowenischen Grenzgebietes im Krieg vgl. Pleterski, Janko  : Meja na Soči v notranjih odnosih Jugoslovanskega gibanja med prvo svetovno vojno, in  : ZČ, Jg. 41 (1987), 55–61. 40 Vgl. Lipušček, Uroš  : ZDA in soška fronta  : v interpretaciji New York Timesa in londonskega Timesa, in  : Prispevki za novejšo zgodovino, Jg. 47 (2007), 19–41.

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Auch das Flüchtlingsproblem, von dem die Region zwar schon zuvor, etwa durch die Flüchtlinge aus Galizien unmittelbar betroffen war, verschärfte sich nun und wurde in den Zeitungen thematisiert. Man wollte möglichst viele slowenische Flüchtlinge in slowenischsprachigen Gebieten behalten, was aber dann nicht durchführbar war. Das wichtigste Lager für diese Flüchtlinge war letztlich jenes in Bruck an der Leitha, das regional bedeutsamste jenes in Wagna bei Leibnitz41. Das Lager in Strnišče/Sterntal bei Ptuj/Pettau, das während der NS-Zeit traurige Berühmtheit erlangen sollte, war zunächst ein Reservehospital und Kriegsgefangenenlager und wurde erst gegen Ende des Krieges zu einem Auffanglager für Flüchtlinge umfunktioniert.42

Krieg, Presse und die Städte Marburg/Maribor biete »ein sonderbares Bild  : eine Großstadt in der Kleinstadt« schrieb die »Marburger Zeitung«. Hier herrsche Betrieb wie in einer Großstadt, die Stadt sei um 50 % gewachsen. »Und wo man hinsieht  : nichts als Militär, das graue Militär. Und wo man hinhorcht  : nichts als Krieg, der blutige Krieg.«43 Der Krieg war, wie dieses Zitat verdeutlicht, auch in einer Stadt, die nicht unmittelbar an der Front lag, allgegenwärtig. Städte können allgemein als Kreuzungspunkt von »erfahrener« und »imaginierter« Gemeinschaft, also von Alltag und identifikatorischer Selbstverortung gelten.44 Unter den Bedingungen des Krieges verschärfen sich die Konfliktlinien einer Gemeinschaft. Städte im Krieg sind einerseits geprägt von (der alle betreffenden) Mobilisierung, von Verlusten, von dem geteilten Leid zwischen der Front und dem Zuhause und dem Unterwerfen der existenziellen Bedürfnisse unter militärische Notwendigkeiten. Andererseits werden etwa gerade ethnische Gruppen, insbesondere jene, die als »Feinde« definiert werden, deutlicher auch als solche wahrgenommen und marginalisierte Personen stärker als Belastung empfunden.45 Unter diesen Bedingungen wurde auch der Alltag in den untersteirischen Städten mit eigenem Statut wie etwa Maribor/Marburg, Celje/Cilli, Ptuj/Pettau und Bezirks41 Zum Lager in Wagna vgl. auch  : Halbrainer, Heimo  : Lager Wagna 1914–1963. Die zeitweise drittgrößte Stadt der Steiermark (Schild von Steier. Kleine Schriften 23), Graz 2014 sowie den Beitrag von Heimo Halbrainer in diesem Band. 42 Vgl. Svoljšak, Petra  : »Wir sind wie scheue Vögel ohne Nest«. Alojz Gradnik, Molitev beguncev (Das Gebet der Flüchtlinge). Slowenische Flüchtlinge in Italien und Österreich-Ungarn, in  : Rajšp, Vincenc (Hg.)  : Isonzofront 1915–1917. Die Kultur des Erinnerns, Wien-Ljubljana 2010, 99–116. 43 Unter Marburger Nachrichten [im Folgenden abgekürzt als MN], in  : Marburger Zeitung [im Folgenden abgekürzt als MZ], 7.8.1914, 3. Wie die Präsenz von Militäranlagen die Stadt seit dem 19. Jahrhundert gestaltet vgl.: Kladnik, Tomaž  : Maribor in vojašja infrastruktura od sredine 19. stoletja do konca prve svetovne vojne, in  : Annales. Series Historia et Sociologia, Jg. 29 (2019), 405–424. 44 Vgl. Winter, Paris, London, Berlin (1997), 4–5  ; Confino, Alon  : The Nation as a Local Metaphor. Württemberg, Imperial Germany, and National Memory, 1871–1918, Chapel Hill-London 1997. 45 Vgl. Winter, Paris, London, Berlin (1997), 13–15.

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hauptmannschaften im Spannungsfeld zwischen dem Gesamtstaat, dem Kronland und den Bedürfnissen von Bezirk und Stadt neu strukturiert, insbesondere bei der Aufrechterhaltung der Versorgungsgrundlagen. Meist waren die Beamten damit überfordert. Der Konflikt zwischen Stadt und Land wurde mit zunehmender Verschlechterung der Ernährungslage auch hier schärfer.46 Die zuvor skizzierten nationalen Auseinandersetzungen kulminierten in den urbanen Zentren. Celje/Cilli und Maribor/Marburg waren hier besonders im Fokus, während des Krieges verlagerte sich der Konflikt immer stärker in die Stadt an der Drava/Drau und ihr Umfeld. Der Stadt-Land-Konflikt wirkte hier als Katalysator, da das bäuerliche Umfeld slowenisch, die städtische Bürgerschicht deutsch dominiert war.47 Die Zeitungen als »vital lifelines of information«48 spielten dabei eine wichtige Rolle, wie eingangs thematisiert. Wie gerade die Presse das Stadtbild prägt, hier eine neue städtische Öffentlichkeit generiert und Krieg Teil des Alltags wird, vermittelt die paradigmatische Studie zu Berlin und London  : durch Aushänge, die Redaktionen selbst (mit ihren Standorten mitten in der Stadt), durch die Zeitungsverkäufer, die Nachrichten ausriefen oder durch die Beteiligung der Bevölkerung an den Zeitungsberichten (Briefe an die Redaktion). In aller Öffentlichkeit wurde auf Informationen von der Front gewartet, und die Kommunikation über diese Berichte fand teilweise ebenfalls im öffentlichen Raum statt.49 Was die Publizistik allgemein betrifft, so fanden Friedensbemühungen im slowenischsprachigen Teil der Monarchie dieselbe Verbreitung wie andernorts. Auch hier wurde eine kriegerische Auseinandersetzung seit Beginn des Jahrhunderts als unvermeidlich wahrgenommen, und selbst nach den ersten Erfahrungen im Weltkrieg gab es weiterhin Zustimmung vonseiten zahlreicher Journalist:innen und Schriftsteller:innen. Die staatliche Zensur agierte gegenüber der slowenischen Publizistik rigider als gegenüber der deutschsprachigen. Wie schon in anderen Bereichen nutzten die steirischen Deutschnationalen diesen Handlungsspielraum weidlich aus. Dies änderte sich erst nach dem Regierungswechsel 1916.50 46 Vgl. Moll, »Heimatfront« Steiermark (2006), 191  ; Moll, Interne Feindbilder im Ersten Weltkrieg, in  : Zeitschrift des Historischen Vereins für Steiermark (ZHVSt), Jg. 95 (2004), 83–101, hier 94–98  ; zur Ernährungslage in der Steiermark  : Weber, Franz Christian  : »Wir wollen nicht hilflos zu Grunde gehen  !« Zur Ernährungskrise in der Steiermark im Ersten Weltkrieg und ihre politisch-sozialen Auswirkungen, in  : Blätter für Heimatkunde, Jg. 74 (2000), 96–131. 47 Vgl. Cvirn, Deutsche und Slowenen (2002), 111–125  ; Matić, Slovensko-nemški odnosi (2005), 158–159. 48 Winter, Paris, London, Berlin (1997), 13. 49 Vgl. Altenhöner, Kommunikation (2008), 161–164  ; zur Bedeutung der Medien für die Städte im Krieg vgl. auch  : Cornelißen, Christoph, Petrbok, Václav, Pekár Martin  : Stadt und Krieg im 20. Jahrhundert. Neue Perspektiven auf Deutschland und Ostmitteleuropa, in  : Dies. (Hg.)  : Stadt und Krieg im 20. Jahrhundert. Neue Perspektiven auf Deutschland und Ostmitteleuropa (Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa), Essen 2019, 7–26. 50 Vgl. Stergar, Rok  : Krieg und Frieden in der slowenischen Publizistik und Politik zwischen 1866 und 1914, in  : Rajšp, Isonzofront (2010), 71–86  ; Moll, Interne Feindbilder (2004), 98–99. Über die Haltung der

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Die »Marburger Zeitung« und die »Deutsche Wacht« (Celje/Cilli) stellten ihre Leser:innen nicht nur schon vor 1914 auf den Krieg ein, sie setzten ihren nationalen Kampf auch bruchlos fort. Sie sahen eine südslawische oder allslawische Verschwörung hinter dem Attentat von Sarajewo, ihnen ging es dabei nicht um »serbische Hintermänner«, sondern um den »Gegner vor der eigenen Haustür«. Die Repressionen gegen die slowenische Bevölkerung unterstützten sie publizistisch. Von den Behörden wurde dagegen wenig unternommen.51 Die slowenischsprachigen Zeitungen waren sehr viel zurückhaltender und defensiver. Hier spiegelte sich zudem der slowenische Kulturkampf wider.52 Die »Slowen:innen« gab es natürlich ebenso wenig wie die »Deutschen«, ideologische Konflikte prägten die slowenische politische Landschaft wie jede moderne Gesellschaft.53 Die untersteirischen slowenischen Zeitungen, namentlich die »Straža« und der »Slovenski ­Gospodar«, waren katholisch orientiert, ebenso wie der überregionale »Slovenec«. Die wichtigste Zeitung für die liberalen Slowen:innen war der in Maribor/Marburg gegründete, aber bereits 1872 nach Ljubljana/Laibach übersiedelte »Slovenski narod«. Einen Überblick über die Zeitungslandschaft in der Untersteiermark bietet die Diplomarbeit von Tina Gajić.54 Einige Zeitungen wurden in den Jahren vor dem Krieg eingestellt. Marburg/Maribor war das Zentrum publizistischer Tätigkeit. Hier standen sich im Wesentlichen die »Straža«, gegründet 1909, die Wochenzeitung »Slovenski Gos­podar« mit der Beilage »Gospodarske Novice«, gegründet 1867, und die »Marbur­ ger Zeitung«, gegründet 1862, gegenüber. In Celje/Cilli war vor allem noch die bereits erwähnte »Deutsche Wacht«, gegründet 1883, aktiv, in Ptuj/Pettau der »Štajerc«, gegründet 1900. Der »Štajerc« war in der national orientierten Zeitungslandschaft ein Sonderfall. Diese Zeitung wurde von deutschnationalen Akteuren eingerichtet, um die slowenische Bauernschaft gegen slowenische Nationalstaatsintentionen einzunehmen. Sie hatte aber auch Anhänger:innen in den Städten. Aus diesem Kreis entwickelte sich eine Partei, die sich später »Fortschrittspartei« nannte, die im Wesentlichen dem Kaiserpatriotismus huldigte und eine slowenische Vereinigung ablehnte. Während des Krieges vertrat die Zeitung gemäß ihrer Grundlinie die Interessen von Händlern und Bauern und verbreitete anti-urbane Polemik. Wie alle anderen berichtete sie über den Krieg, veröffentlichte eine eigene Rubrik für die Soldaten an der Front und führte AuseinanZensoren gegenüber den Slowen:innen (allerdings bezogen auf die Überwachung des Briefverkehrs vor allem mit Kriegsgefangenen) vgl. Svoljšak, Petra  : Slovenci v primežu Avstrijske cenzure, in  : Vodopivec, Kleindienst, Velika vojna (2005), 109–127. 51 Vgl. Moll, Kein Burgfrieden (2007), 175–178 und 311–312. 52 Vgl. ebda., 306–307 und 315. 53 Dazu vgl. Vodopivec, Liberalismus in der Provinz (1992), 85–68  ; Zgodovina Slovencev. Redigiert von Meta Sluga, Ljubljana 1979, 560–570. 54 Vgl. Gajić, Tina  : Tiskarstvo in (Slovenski) tiski na (Slovenskem) Štajerskem do 2. svetovne vojne, Phil. Dipl. Maribor 2010.

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dersetzungen mit anderen slowenischen Zeitungen. Anfang November 1918 wurde die Publikation schließlich eingestellt.55

Krieg und Presse – Aspekte der Kriegskommunikation56 Verdichtetes Kommunikationsereignis…

Die »Marburger Zeitung« (im Folgenden  : MZ) und die »Straža« (im Folgenden  : ST) waren regional orientierte Zeitungen, deren thematischer Fokus auf den lokalen Ereignissen in der Untersteiermark lag. Nur selten wurden andere Orte in der Steiermark erwähnt, am ehesten wurde noch das Tagesgeschehen in Graz thematisiert. In der MZ nahm die eigene Stadt den meisten Raum ein gemäß ihrem Namen, häufiger kam auch Ptuj/Pettau vor. Auch die ST war an Maribor/Marburg orientiert, nahm aber noch Celje/Cilli und andere kleinere Orte regelmäßig in den Blickpunkt. Während sich die eine Zeitung an Graz orientierte, fanden sich in der anderen immer wieder Bezüge zu Ljubljana/Laibach. Der Krieg war jedenfalls der zentrale Aspekt der jeweiligen Titelseite, der Bedeutung dieses Weltkrieges war man sich bewusst  : »Das ist kein Krieg, wie ihn die Eltern und Voreltern kannten.«57 Berichte von allen Fronten bestimmten die Headlines, wobei bei der ST der Fokus deutlicher auf dem Krieg am Balkan lag, bei der MZ die Westund Ostfront im Mittelpunkt standen. Das hing mit einer starken Orientierung der deutschsprachigen Zeitung am Kriegspartner Deutschland und dessen Erfolgen zusammen – die deutsche Kriegsmacht wurde in die Tradition seiner »Befreiungskriege« (1813 und 1870) gestellt.58 Allerdings räumte auch die ST den Erfolgen Deutschlands einigen Raum ein. Wie auch in den größeren österreichischen Zeitungen wurde dem Feind Kulturlosigkeit und verbrecherisches Potenzial auf Basis stereotyper Abwertung zugeschrieben. Die MZ war hier, gemessen an den ins Auge springenden Headlines, radikaler und polemischer. Die Entente wurde häufig als »Dreiverbandsverbrecher«59 benannt, die Franzosen als kulturlos und wild60, die Belgier als bestialisch61 beschrieben, und England als »das perfide Albion, dieser Anstifter des Weltkrieges«62 wurde überhaupt zum 55 Vgl. Ivan Rihtarič, Der »Štajerc« und die Deklarationsbewegung, in  : ZHVSt, Jg. 100 (2009), 201–224  ; Cvirn, Deutsche und Slowenen (2002), 124. 56 Übersetzungen der slowenischsprachigen Texte durch die Verf. 57 Kommende Zeiten, in  : MZ, 4.2.1915, 1. 58 Z. B. Bismarcks 100. Geburtstag, in  : MZ, 30.3.1915, Beilage, 5. 59 Z. B. Der Krieg erstreckt sich bis auf Südafrika, in  : MZ, 12.9.1914, 1. 60 Europas Wilde, in  : MZ, 4.8.1914, 1. 61 Der Sturm auf den Lütticher Fortsgürtel. Die Belgier wetteifern in Bestialität mit den Serben, in  : MZ, 11.8.1914, 1. 62 Ins neue Jahr hinein  !, in  : MZ, 2.1.1915, 1.

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Schuldigen stilisiert. Auch die »Moskowiten« seien kulturlose Gewaltverbrecher, »das Asiatentum wird nicht Europa unter seine Füße zwingen  !«63 Die Siegesmeldungen wurden in beiden Zeitungen groß gefeiert, zumindest wurde die Truppenstoßrichtung mit dem appellativen, ja, apodiktischen Ruf »Vorwärts  !« definiert. Häufig wurde die übergroße Dimension (»Riesenschlachten«) des Krieges unterstrichen. Den allgemeinen Berichten über die eigenen Erfolge wurden die Heldengeschichten von Regimentern und einzelnen Soldaten hinzugefügt, zweifellos ein angemessenes Mittel zur Integration der Leser:innen ins Kriegsgeschehen. Zum einen wurden häufig Einzelleistungen hervorgehoben, wobei beide Zeitungen dem immer wieder einen nationalen Anstrich verliehen  – deutsche Helden und slovenski junaki.64 Außerdem wurden in der ST Listen der mit Orden ausgezeichneten Untersteirer veröffentlicht, die MZ zog häufig Einzelberichte vor, fokussierte dabei mehr auf »Helden« aus Maribor/Marburg. Zum anderen standen die »eigenen« Regimenter im Blickpunkt der Berichterstattung. In der ST waren dies das k. k. Landwehr-Infanterieregiment Nr.  3 (Grazer) und Nr.  26 (Marburger), das Laibacher Infanterieregiment Nr.  17 oder das k. u. k. steirisch-kärntnerisch-krainerische Dragoner-Regiment »Nikolaus  I. Kaiser von Rußland« Nr.  5.65 Besonders häufige Erwähnung fand das »heimische« (Cillier) Infanterieregiment Nr. 87, wobei auf slowenischer Seite eine nationale Zuschreibung erfolgte  : »Die Deutschen loben das slowenische Infanterieregiment Nr. 87.«66 Von dieser Zuordnung war die MZ nicht überzeugt, auch sie berichtete von diesem Regiment unter den Schlagzeilen  : »Lobeshymnen für unsere wackeren steirischen Soldaten« oder »Von den Siebenundachtzigern«.67 Hier wurde eher die Beteiligung der Marburger hervorgehoben. Der Favorit der MZ war das Infanterieregiment Nr. 47, das als »Unsere Siebenundvierziger« oder »unser Hausregiment […]«, ein »herrliches Soldatenmaterial, auf das wir Marburger und die ganze Steiermark stolz sein können,«68 hervorgehoben wurde. Ihren staatlich verordneten Pflichten als Informationsmedium kamen beide Zeitungen natürlich nach, sie veröffentlichten amtliche Meldungen und Informationen über Abläufe rund um Einberufung, die Kommunikation mit Soldaten (Feldpost, Briefmarken etc.) oder die behördlichen Hilfsmaßnahmen. Auch die praktischen Auswirkungen des Krieges, die Ernährungslage und Einschränkung etwa der Transportmöglichkeiten wurden teilamtlich weitergegeben. Der Mobilisierung der Heimatfront wurde man gerecht, indem Spendenaufrufe und ausführliche Listen der Spender:innen abgedruckt wurden, häufig mit der direk63 Harte Tage, in  : MZ, 12.11.1914, 1. 64 Vgl. etwa die Berichte über die »slowenischen Helden« in  : Straža, 12.10.1914, 2. 65 Štajerska domobranska polka št. 3 in 26 v boju, in  : Straža, 7.9.1914, 3 oder  : Domobranski junak, in  : Straža, 11.9.1914, 1–2. 66 Nemci hvalijo slovenski pešpolk št. 87, in  : Straža, 8.3.1915, 2. [Hervorhebung durch die Verf.] 67 Unter MN, in  : MZ, 5.9.1914, 4 und 7.10.1914, 2. [Hervorhebung durch die Verf.] 68 Unsere Siebenundvierziger bzw. Unsere Marburger Haubitzen, in  : MZ, 19.12.1914, 2–3.

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ten Bezugnahme auf die Fronterfahrungen (z. B. Dankeslisten). Zunächst waren die Zeitungen dominiert von Begeisterungsberichten und Siegesmeldungen, nach wenigen Monaten tauchte dann die ersten Meldungen über Verwundete auf. So berichtete die ST schon im November 1914 über Baracken in Maribor/Marburg, die für verwundete und kranke Soldaten errichtet worden waren, die Ankunft von Verletzten in den untersteirischen Städten war ein ständiger Teil der Berichterstattung in der Rubrik »Verschiedenes«.69 Auch die Flüchtlingsthematik beschäftigte die Medien. In der ST wurde immer wieder ausführlich von der Ankunft von Flüchtlingen in der Untersteier­ mark, vor allem aus Galizien, berichtet.70 Auch für die MZ war das ein Thema, hier erschienen immer wieder Nachrichten speziell über das Flüchtlingslager Wagna.71 Ein weiteres Abweichen von der Linie der Begeisterung und des Siegeswillens stellten die Berichte und Briefe von Kriegsgefangenen und die Gefallenenmeldungen dar. Die MZ berichtete ausführlicher über Begräbnisse einzelner Gefallenen, die ST veröffentlichte zusätzlich die amtlichen Listen. Die Kommunikation mit den Soldaten wurde von Beginn an gesucht, ihre Briefe wurden veröffentlicht oder zitiert, was zweierlei Funktionen erfüllte  : die Integration der Heimatfront in den Krieg (Kommunikation zwischen den beiden Seiten, etwas durch Danksagungen für Spenden) und die Erweiterung der Informationen über das Kriegsgeschehen. So erging etwa in der ST Anfang Oktober 1914 ein Aufruf, interessante Briefe von slowenischen Verwundeten einzuschicken, um mehr über den Krieg zu erfahren.72 Neben den Briefen dienten vor allem andere Zeitungsberichte als Quelle für Informationen. Es bildete sich ein regelrechtes Netzwerk, zahlreiche Berichte aus den unterschiedlichsten Zeitungen – selbst der Gegner – wurden wiedergegeben oder entsprechend kommentiert. Die ST zog neben den deutschsprachigen Zeitungen häufiger als die MZ hier auch italienische Medien heran. Der Pressekrieg, die Auseinandersetzung mit Propaganda, wurde selbst thematisiert. Von einem »feindliche[n] Lügenfeldzug«73 war die Rede und von »Falschmeldungen« der Zeitungen der Kriegsgegner. Aber auch verfehlte Siegesmeldungen und Gerüchte erregten Ärger, solche Fehlmeldungen könnten sogar »seelischen Schaden« anrichten.74 Deshalb wurde Verständnis aufgebracht für die Zensur als einem der »natürlichen Gebote der ernsten Zeit«75. Die MZ verwies auf die Spannungen innerhalb der Monarchie  : So führte sie Klage über die »Pester« Zeitungen, die nur die Heldentaten der Ungarn bejubelten, während sogar die reichs69 Unter Raznoterosti [im Folgenden abgekürzt als Raz], in  : Straža, 18.11.1914, 5  ; z. B. unter Raz, in  : Straža, 21.12.1914, 4. 70 Unter Raz, in  : Straža, 20.11.1914, 5. 71 Z. B. unter MN, in  : MZ, 27.4.1915, 3. 72 Unter Raz, in  : Straža, 2.10.1914, 6. 73 Unter MN, in  : MZ, 26.11.1914, 3. 74 Die Gerüchtemacher, in  : MZ, 6.5.1915, Beiblatt, 5. 75 Zum Vierteljahreswechsel, in  : MZ, 1.4.1915, 1.

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deutschen Zeitungen über die Helden »insbesondere unserer deutschen Alpenländer« berichteten.76 Über die eigene Rolle innerhalb ihres Leserkreises reflektierte die ST an einer Stelle, wenn sie darauf verweist, dass dieses Blatt und der »Slovenski Gospodar« von den Leser:innen und der Druckerei (Tiskarna sv. Cirila) an die Verwundeten in der gesamten Monarchie verschickt wurde, so dass diese informiert seien über die Ereignisse des Krieges aus slowenischer Sicht.77 In den ersten Monaten des Krieges wurden auch die Kosten und die Länge des Krieges thematisiert, vor allem von der ST. Sie reflektierte einen Vortrag über die Kriegskosten in Berlin und beantwortete die Frage, wer diese bezahlen würde, mit einem »Natürlich, jener, der besiegt wird.«78 Am Rande verwies auch die MZ einmal auf diese Thematik in einem Rezensionsartikel. Mit der Warnung vor dem Kriegsende und der »enormen Last«, die der Sieger dem Besiegten auferlegen will, verband sich hier die Intention einer integrativen Wirkung und einer ökonomischen Notwendigkeit  : Die Verpflichtung zum Kampf gelte auch für das sogenannte Hinterland, die Kriegsanleihe zu zeichnen, gehörte zu diesen Pflichten.79 An die Aufarbeitung des Krieges dachte die ST das eine oder andere Mal, insbesondere an die Bedeutung der Kriegsleistung für die nationale Bewegung. So wurden Aufrufe veröffentlicht, alle möglichen Materialien, vor allem Fotographien, an den »Zgodovinsko društvo« (Historischen Verein) in Maribor/Marburg zu schicken, damit später ein Kriegsmuseum errichtet werden könnte. Die Deutschen und Kroaten sammelten auch, »tragen nicht auch wir Slowenen zum Krieg alles Mögliche bei  ?«80 Zudem sollten die Pfarren den Umfang der abgeführten Spenden und auch die Namen der Gefallenen des Sprengels aufzählen, um den Beitrag des »slowenischen Volkes« zum Krieg aufzuzeigen.81 Im Mai 1915 wurden Gedanken zu Kriegsdenkmälern und der Art ihrer Errichtung (einige Beispiele aus dörflichen Kirchen und Friedhöfen) veröffentlicht.82

76 Unzulänglichkeiten, in  : MZ, 29.4.1915, Beilage, 7  ; über die Zeitungen in Ungarn vgl. Roszá, Mária  : Die ungarische Zeitungslandschaft, in  : Spiridon, Olivia (Hg)  : Textfronten. Perspektiven auf den Ersten Weltkrieg im südöstlichen Europa, Stuttgart 2015, 219–230. 77 Unter Raz, in  : Straža, 4.12.1914, 5. 78 Unter Raz, in  : Straža, 6.11.1914, 4. 79 Unter Vermischtes, in  : MZ, 10.10.1914, 5  ; Frohe Hoffnungen, in  : MZ, 26.11.1914, 1. 80 Za slovenski vojni muzej, in  : Straža, 22.1.1915, 3. 81 Unter Raz, in  : Straža, 12.2.1915, 4. 82 Stegenšek, A.: Vojni spomeniki, in  : Straža, 21.5.1915, 1–2. Der steirische Verein für Heimatschutz bzw. der Volkskundler Viktor von Geramb beschäftigten sich auch zu dieser Zeit mit der Thematik. Vgl. ­Suppanz, Werner  : Eine Liebesgabe für das deutsche Herz. Die Kriegsflugblätter Heimatgrüße des Vereins für Heimatschutz im Ersten Weltkrieg, in  : Senarclens de Grancy, Antje (Hg)  : Identität – Politk – Architektur. Der »Verein für Heimatschutz in Steiermark« (architektur + analyse 4), Berlin 2013, 55–70.

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Kriegserklärungen: Serbien und Italien…

Als Antwort auf die massiven Denunziationen und auch in Abgrenzung zu den Positionen der liberalen und sozialdemokratischen Politiker in Ljubljana/Laibach und Trieste/Triest/Trst betonte die ST am Beginn des Krieges die Abgrenzung zu dem ersten Kriegsgegner der Monarchie  : »Auch wir Slowenen und Kroaten, obwohl nach Sprache und Blut verwandt mit dem serbischen Volk, machen in diesem Rahmen keine Ausnahme. Wer Österreich schadet, schadet auch uns  !«83 hieß es etwa dort. Der Österreich-Patriotismus der Slowen:innen wurde unterstrichen  : »Österreich über alles […], einheitlich und völlig frei.«84 Am 21. August 1914 wurde vermeldet, dass der Weltkrieg nun als solcher ausgebrochen sei. Die Russen seien schuld an diesem Krieg, der alle slawischen Völker auf katholischer Basis vereinige zu einem Kampf gegen Orthodoxie, zu einer Verteidigung der Kultur gegen »den Ausbruch von Tyrannei und Knechtschaft«.85 Und die Einnahme von Belgrad/Beograd im Dezember 1914 wurde regelrecht gefeiert durch zahlreiche Artikel  : »Österreichische Fahne auf der Belgrader Festung«.86 Noch polemischer wurde die MZ, was den »Krieg im Süden« betrifft. Der Rückgriff auf die im kulturellen Gedächtnis verankerten »Türkenkriege« wurde strapaziert mit dem Verweis auf »Prinz Eugens« Feldzug. Die Serben wurden als immer schon kampfeswütig und blutrünstig dargestellt.87 Nach einem Monat wurde schon der Sieg in Aussicht gestellt  : »Es will Abend werden für Serbien  !«88, und am Tage des Regierungsjubiläums feierte man, dass »Belgrad von unseren Truppen in Besitz genommen  !« worden sei.89 Der ehemalige Verbündete Italien stand bei der ST stärker im Blickpunkt als in der MZ, weil hier ja slowenischer Siedlungsraum betroffen war. Über das Erdbeben im Jänner 1915 berichteten beide Zeitungen prominent auf der ersten Seite.90 Gezielt die Aufmerksamkeit der MZ erregte Italien erst vor seinem Kriegseintritt, im Mai 1915 sah man zunächst der Entscheidung des »Bundesbruders« Italien »ruhigen Blutes« entgegen.91 Nach dem 23.  Mai 1915 jedoch wurde mit dem, »Brigant« und »Verräter«92 nicht mehr glimpflich verfahren, die Nachbarn wurden zum »Judas Italia«93. In der ST 83 Vojska s Srbijo  !, in  : Straža, 27.7.1914, 1. 84 Avstrija nad vse, in  : Straža, 24.10.1914, 1. 85 Unter Raz, in  : Straža, 21.8.1914, 4. 86 Avstrijska zastava na belgrajski trdnjavi, in  : Straža, 7.12.1914, 2. 87 Auf Prinz Eugens Spuren  !, in  : Marburger Zeitung, 29.7.1914, 1–2. 88 Vom serbischen Kriegsschauplatze, in  : MZ, 29.9.1914, 1. 89 Belgrad von unseren Truppen in Besitz genommen  !, in  : MZ, 1.12.1914, Beilage, 5. 90 Italien, in  : MZ, 14.1.1915, 1  ; Italija, in  : Straža, 18.1.1915, 1. 91 Italien, der Bundesbruder, in  : MZ, 12.5.1915, Beilage, 9. 92 Der italienische Brigant  !, in  : MZ, 24.5.1915, 2. 93 Judas Italia, in  : MZ, 27.5.1915, 1.

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wurde der Kampf gegen das »eidbrüchige Italien« zu einem mehrfach strapazierten Bild.94 Beide Zeitungen unterstellten, mit mehr oder weniger deutlichen antisemitischen Anspielungen, dass die »Freimaurer« diesen Krieg »anzündeten«, jedenfalls wären »fremde Leute« und »fremdes Geld« am Werk.95 »Kein Burgfrieden«96…

Wie erwähnt wurde der nationale Konflikt in der Untersteiermark über die Zeitungen ausgetragen, und der Kriegsbeginn änderte daran nur wenig. Die ST war sehr sensibel, was diesen Konflikt betraf und reflektierte die Berichterstattung anderer Zeitungen in dieser Hinsicht kritisch. Besonders die MZ (die »Marburgerce«), aber auch die Grazer Zeitungen standen dabei im Fokus. Der Vorwurf der »Serbophilie« insbesondere gegen slowenische Geistliche wurde immer wieder scharf zurückgewiesen,97 und während die MZ mit Akribie die Verhaftungen von »allslawischen Serbenfreunden« anführte,98 berichtete die ST mit derselben Vehemenz von den Freilassungen der Verhafteten. Die Opferbereitschaft des »slowenischen Volkes in der Untersteiermark«99 wurde mittels langer Listen der Spender:innen bewiesen, und entschieden trat man gegen den Vorwurf »allslawischer« Verschwörung auf, gegen die Gerüchte »in den Straßen von Maribor«, dass die Slowenen nicht auf die Russen schießen wollten  : Es könne keinen Zweifel geben, »dass die slowenischen Burschen sich in Galizien verhalten wie Helden.«100 Die Verbundenheit mit den österreichischen Kriegszielen wurde außer Frage gestellt, jedoch darauf verwiesen, dass die Daheimgebliebenen auch an ihre »heimatliche« Pflicht denken und »Heimatverteidigungsarbeit« nicht vernachlässigen dürften.101 Wenn der »Deutsche Schulverein« oder der »Verein Südmark« ihre Vereinsaktivitäten ausführten, so erfolgte in der ST der Appell an ihre Leser:innen, den Verein »Slovenska straža« (mit Sitz in Ljubljana) zu unterstützen.102 Deutlicher, wie schon ausgeführt, vertrat die MZ ihre nationale Position gegen die »slowenischen Verhetzer«103. In der repressiven Phase am Beginn des Krieges spielte  94 Z. B. Začetek borbe z verolomnimi Italijani, in  : Straža, 28.5.1915, 1.  95 Italien  !, in  : MZ, 18.5.1915, Beilage, 7  ; Framasonstvo  – netivec italijanske vojske zoper Avstrio, in  : Straža, 28.5.1915, 1.  96 Moll, Kein Burgfrieden (2007).  97 Z. B. unter Raz, in  : Straža, 28.4.1914, 5.  98 Z. B. unter MN, in  : Marburger Zeitung, 30.7.1914, 3 und 1.8.1914, 4.  99 Unter Raz, in  : Straža, 11.12.1914, 5. 100 Unter Raz, in  : Straža, 7.9.1914, 4. 101 Narodno obrambo in izobraževalno delo, in  : Straža, 20.3.1915, 1. 102 Z. B. unter Raz, in  : Straža, 25.1.1915, 3. 103 Z. B. unter MN, in  : MZ, 4.8.1914, 2.

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die Zeitung zweifellos eine tragende Rolle. Darüber hinaus standen in den regionalen Meldungen die Aktivitäten der entsprechenden deutschnationalen Vereine im Mittelpunkt, direkte Bezugnahmen auf slowenischsprachige Zeitungen kamen jedoch kaum vor. Allerdings nahm die MZ die Gelegenheit wahr, sich als Sprachhüterin zu gerieren, und der »leidigen Ausländerei« mit Verweis auf die (englischen und französischen) Kriegsgegner den Kampf anzusagen  : »Wer mit uns arbeiten will«, sollte »Ausländerei« vermeiden.104 Dies betraf alle Lebensbereiche  : die Bezeichnung von Kleidungsstücken (»Kostüm«105), die Benennung des Bierlagers als »Bierdepot« durch Reininghaus106 und andere alltägliche Begriffe sowie die Namensgebung. Es wäre an der Zeit  : »Deutsche, werdet deutsch  !«107 Kriegsbegeisterung…108

Am Beginn des Krieges war auch in Maribor/Marburg die Begeisterung ein Thema in den Zeitungen. Die ST brachte einen Bericht über patriotische Manifestationen in allen Städten unter der Überschrift »Begeisterung in Österreich«, allerdings wurde der nationale Faktor dabei nicht ganz außer Acht gelassen  : So versammelten sich in Ptuj/Pettau etwa »Slawen, Italiener und Magyaren« zu Pro-Kriegs-Kundgebungen, deutschsprachige Teilnehmer:innen bleiben unerwähnt.109 In der MZ wurde das Bild einer jubelnden Stadt gezeichnet  : Es strömten Reservisten und kampfbereite Männer aus allen Himmelsrichtungen nach Maribor/Marburg, es gäbe ein »Sturmesbrausen der Begeisterung« mit allgegenwärtiger Marschmusik und Kriegsrufen.110 Besonders der Bahnhof wurde zum Kristallisationspunkt, zum Beginn des Triumphzuges. Beide Zeitungen berichteten von geschmückten Zügen  – zum einen sei der Schmuck von der Tiskarna sv. Cirila zur Verfügung gestellt worden (ST), zum anderen seien »Mädchen und Frauen« für die Schmückung verantwortlich gewesen (MZ) –, während die Männer mit »hellem Jauchzen« und kriegsbegeistert abgefahren

104 Unter MN, in  : MZ, 2.10.1914, 2. 105 Ebd. 106 Unter MN, in  : MZ, 3.10.1914, 3. 107 Unter MN, in  : MZ, 24.10.1914, Beilage, 2. 108 Zur Kriegsbegeisterung im Vergleich vgl.: Pfoser, Alfred  : Der Mythos von der allgemeinen Kriegsbegeisterung. Wien im Juli und August 1914, in  : Gruber, Elisabeth/Weigl, Andreas (Hg.)  : Stadt und Gewalt (Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas 26), Innsbruck-Wien-Bozen 2016, 201–230  ; Thonhofer, Bernhard  : Graz 1914. Der Volkskrieg auf der Straße (Böhlaus Zeitgeschichtliche Bibliothek 40), Wien-Köln-Weimar 2018. 109 Navdušenje v Avstriji, in  : Straža, 31.7.1914, 3. 110 Unter MN, in  : MZ, 28.7.1914, 4 und 1.8.1914, 3 bzw. auf Prinz Eugens Spuren, in  : MZ, 29.7.1914, 1.

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seien.111 Mindestens einmal wurde dabei slowenisch gesungen, und »sogar die Deutschen bewunderten die Schönheit der slowenischen Lieder«.112 Konstruktion von Gemeinschaft im Zeichen des Kriegs…

Nur selten wurden Aufrufe von Vereinen oder Spendenorganisationen prominent auf die erste Seite gerückt, die dem unmittelbaren Kriegsgeschehen oder amtlichen Mitteilungen gewidmet waren, noch seltener wurden diese kommentiert  – was für die gegenständliche Analyse von Bedeutung ist, da es hier um die Zeitungslinie geht, nicht um die Aufgaben von Ämtern oder Intentionen von Spendensammler:innen. Ein solch prominenter Aufruf war jener des Slowenischen Bauernverbandes (Slovenska Kmečka Zveza) und des Slowenischen Christlich-sozialen Verbandes (Slovenska Krščansko-socialna Zveza) vom August 1914, der die Verbindung zwischen Heimatfront und Schlachtfeld augenscheinlich zum Ausdruck brachte. Hier – der Text in der ST richtete sich explizit an die »Slowenen und Sloweninnen« der Untersteiermark – wurde auf die Verpflichtung der Daheimgebliebenen zur gegenseitigen Hilfe und Unterstützung hingewiesen  : »Nur so zahlen wir die Last, die wir unseren leidenden, blutenden und sterbenden Soldaten schulden.«113 In der MZ wurde ein halbes Jahr später die Einberufung der 37- bis 42-jährigen auf der ersten Seite kommentiert mit dem Verweis auf die »heimatlichen« Verpflichtungen. Zwar handelte es sich bei diesem Aufgebot um mitten aus dem Leben gerissene Familienväter, aber diese Pflicht werde als »Selbstverständlichkeit« von diesen auf sich genommen »Das zweite Aufgebot ist verkündet – wie Glockenton schwingts über das ganze Österreich  !«114 Alle Bevölkerungsschichten wurden »einberufen« zum »heimatlichen« Dienst und zur Unterstützung der Soldaten. Der Bauernschaft galt die Mahnung, die Versorgung zu sichern, damit der Alltag weitergehen könne  : »Nicht weinen  – an die Arbeit  !«115 Die Bürger:innen wurden aufgerufen, den Hilfsbedürftigen  – explizit auch »Frauen ohne Männer«, »ledigen Müttern« und »Schutzlosen«116  – beizustehen, und an die Gymnasiasten wurde appelliert, ihre freie Zeit mit nützlicher Arbeit bei den Bauern zu verbringen.117 Nur ganz selten gab es leise Kritik an den Soldaten vor Ort, etwa als sich Beschwerden über die Verwüstung von Feldern häuften, denn »bis auf unsere Fluren hat sich der Krieg zum Glück noch nicht erstreckt«.118

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Unter MN, in  : MZ, 12.8.1914, 2  ; Unter Raz, in  : Straža, 14.8.1914, 5. Unter Raz, in  : Straža, 28.9.1914, 4. Spodnještajerskim Slovencem  !, in  : Straža, 28.8.2014, 1. Das zweite Aufgebot, in  : MZ, 6.3.1915, 1–2. Ne jokati – na delo  !, in  : Straža, 3.8.1914, 3. Unter Raz, in  : Straža, 13.8.1914, 4. Unter Raz, in  : Straža, 17.8.1914, 4  ; Unter MN, in  : MZ, 14.8.1914, 3. Unter MN, in  : MZ, 20.2.1915, 4.

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Besonders die ST tat sich hervor bei Erläuterungen von militärischen Elementen und Hintergrundinformation. So wurde ausführlich die Herkunft von Begriffen wie »Rekrut« oder »Granate« dargestellt oder die militärischen Auszeichnungen beschrieben.119 Am Anfang wurden auch die handelnden Politiker  – auch die der Gegner  – vorgestellt.120 Von freiwilligen Kriegseinrückungen war in beiden Zeitungen immer wieder die Rede. Die MZ berichtete ausführlich vom »Steirischen Soldatentag« am 2.  Dezember 1914  : »Marburgs Bevölkerung wird sich den 2.  Dezember selber zum Ehrentage gestalten  !«121 Die Durchhalteparolen wurden je nach nationaler Ausrichtung mit den entsprechenden Vorbildern geschmückt. Für die MZ war Deutschland, »wo bekanntlich eine ganz andere Stimmung herrscht als bei uns«,122 das Maß aller Dinge. Während in Österreich-Ungarn ein »Gerüchte-Pessimismus« herrschte, glaubten in Deutschland »vom Kaiser bis zum letzten Arbeiter« alle an den Sieg.123 In der ST rief man zur Ruhe auf, zum Burgfrieden, fand dafür aber eine andere Orientierung  : Man sollte private oder politische Auseinandersetzungen vermeiden, weil »wir alle Söhne und Töchter der Mutter Österreich sind. Das tschechische Vorbild sei uns gegeben  !«124 Von Beginn an wurden Spendenaufrufe veröffentlicht und unterstützt, sie verdichteten sich im Laufe der Monate von einfachen Kleider- und Geldspenden bis hin zu allem, was nützlich sein könnte. Der Hauptbahnhof in Maribor/Marburg etwa wurde zu einer Art Relaisstation zum Krieg, er stand im Mittelpunkt nicht nur der Abreise und Rückkehr von Soldaten, sondern hier wurde auch eine »Labestation« eingerichtet für Arme und Verwundete, die MZ berichtete darüber häufig.125 Sehr oft wurde auch um Tabak und Rauchwaren für die Verwundeten gebeten, damit die untersteirischen Soldaten hätten, »was alle anderen haben«.126 Sogar Pflanzen konnte man spenden – für eine angenehmere Atmosphäre in den Spitälern.127 Lange Listen der Spender:innen (von Gemeinden, aber auch von Einzelpersonen) belegten die Bereitschaft der Bevölkerung zur Unterstützung und wirkten zugleich als Verstärkung der von den Zeitungen unterstützten Aktionen. Das Weihnachtsfest wurde genützt, um die Trauer über die Toten zu zelebrieren, aber zugleich die Kriegsstimmung weiterhin auf hohem Niveau optimistisch zu halten. 119 120 121 122 123 124 125 126

Unter Raz, in  : Straža, 19.4.1915, 3  ; Avstrijska odlikovanja in redovi, in  : Straža, 3.5.1915, 1–2. Kdo vodi usodo narodov  ?, in  : Straža, 14.8.1914, 3. Zum 2. Dezember, in  : MZ, 28.11.1914, 1. Unter MN, in  : MZ, 27.3.1915, Beilage 14. Auf Phantasieflügeln, in  : MZ, 12.1.1915, 1. Unter Raz, in  : Straža, 17.8.1914, 4. [Originalzitat  : »Češka nam je dala zgled  !«] Z. B. unter MN, in  : MZ, 14.8.1914, 4. Unter Raz, in  : Straža, 23.10.1914, 5  ; MN, in  : MZ, 20.10.1914, Beilage, 3  ; zur Rolle von Zigaretten in der Propaganda vgl.: Schindelbeck, Dirk et al.: Zigaretten-Fronten. Die politischen Kulturen des Rauchens in der Zeit des Ersten Weltkriegs, Marburg 2014, 83–89. 127 Unter MN, in  : MZ, 9.2.1915, Beilage, 7.

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Die ST erinnerte daran, dass »[e]in Krieg, wie ihn die Welt noch nie gesehen hat, in gigantischem Ausmaß und Grauen, sich vor unseren Augen entwickelt […]. In unseren Häusern ist Seufzen, Trauern, Weinen«, aber die Schuld daran läge bei den Feinden, die Österreich-Ungarn den Kampf aufgezwungen und Unrecht getan hätten. »Freiwillig mögen sie das einsehen oder erzwungen mit Waffen  !«128 Auch die MZ verwies auf die Trauer in den Familien zu Weihnachten, aber Hoffnung auf Sieg in der »gerechten Abwehr«129, und der Optimismus müsste aufrecht bleiben  : »der Geist, der in unseren Truppen lebt, […] ist uns Bürge des endlichen Sieges […].130 Speziell Aufrufe an die Frauen des Vereins »Frauenhilfe« unterstützte die MZ.131 Ein besonderer Beitrag der Frauen und Mädchen sollte darin bestehen, für die Truppen zu stricken (Pulswärmer, Hauben etc.). Berichte über »Das strickende Marburg« wurden zu einem festen Bestandteil der Berichterstattung in den ersten Monaten des Krieges.132 Mit der Fokussierung auf Kriegsgefangene in den Medien wurde unterstellt, dass gerade die Frauen jenen gegenüber Schwäche zeigten. So erging in der MZ eine Mahnung an alle, aber besonders an »nicht ganz normale Frauen«, diese Gefangenen keinesfalls gut zu behandeln.133 Nicht zuletzt wurden auch die Kinder in die Berichterstattung miteinbezogen. Es wurde in beiden Zeitungen wahrgenommen, dass auch diese am Krieg beteiligt wären über den Kontakt mit den Soldaten zu Hause oder der Abwesenheit der männlichen Angehörigen. Kinder würden ganz offen »in naiver Treue« miteinander über den Krieg diskutieren.134 Und sie würden sich auf Besuche ihrer Väter freuen, jene sich nicht als weit entfernte Kämpfer, sondern als Helden denken.135 Niemand konnte also diesem Krieg entkommen, nicht einmal die kleinsten BürgerInnen.

Zusammenfassung Der Erste Weltkrieg war der erste große Pressekrieg der Geschichte, in dieser Phase wurde erprobt und entwickelt, was wir heute aus allen Kriegen kennen  : Sistierung 128 129 130 131 132 133

Božič, in  : Straža, 24.12.1914, 1. Festtage in der Kriegszeit, in  : MZ, 24.12.1914, 1. Kommende Zeiten, in  : MZ, 4.2.1915, 2. Unter MN, in  : MZ, 1.8.1914, 5. Z. B. unter MN, in  : MZ, 3.11.1914, 2. Unter MN, in  : MZ, 11.9.1914, 3  ; zur Rolle der Frauen an der Heimatfront vgl. u. a.: Hämmerle, Christa, Heimat/Front. Geschlechtergeschichte/n des Ersten Weltkriegs in Österreich-Ungarn, Wien-Köln-Weimar 2014, 85–160  ; einen Überblick über die Genderbeziehungen in Slowenien im Krieg vgl.: Verginella, Martha, Ženske v vojni in o véliki vojni, in  : Prispevki za novejšo zgodovino, Jg. 55 (2015), 54–70. 134 Unter MN, in  : MZ, 11.8.1914, 3. 135 Otroci in vojna, in  : Straža, 16.4.1915, 1–2  ; allgemein zur Kindheit im Krieg vgl. Stekl, Hannes, Hämmerle, Christa  : Kindheit/en im Ersten Weltkrieg. Eine Annäherung, in  : Stekl, Hannes/Hämmerle, Christa/Bruckmüller, Ernst (Hg.)  : Kindheit und Schule im Ersten Weltkrieg, Wien 2015, 7–44.

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oder Überwachung der Pressefreiheit, ein ausgefeiltes Zensurwesen und eine gut organisierte Propagandamaschinerie. Die Zeitungen waren ein wesentlicher Teil dieser Strukturen, ihr Anteil an den Entwicklungen im Handlungsfeld Krieg ist ein nicht zu unterschätzender. Die österreichischen Zeitungen im Allgemeinen, die regionalen Zeitungen im Besonderen erfüllten diese von ihnen erwartete Rolle. In Maribor/Marburg standen sich zwei konkurrierende nationale Identifikationsangebote gegenüber, und obwohl von den Akteur:innen gefordert war, ihre Anliegen dem Krieg unterzuordnen, wurde der »Burgfrieden« nicht eingehalten. Aus keinem Aspekt der Kriegskommunikation konnte dieses Element restlos herausgehalten werden  – es ging letztlich immer um die Integration der eigenen Leser:innenschaft in die »eigene« nationale Gemeinschaft. Jenseits dieser Rahmenbedingung jedoch lassen sich ähnliche Schwerpunkte in den beiden untersuchten Zeitungen am Beginn des Kriegs feststellen. Sie erfüllten ihre Pflichten gegenüber dem Staat durch Weitergabe amtlicher Information, Appelle an die Opferbereitschaft der Untersteirer:innen und durch die stereotype Abwertung des Gegners jenseits der Grenzen. Damit schlossen sie inhaltlich an die überregionalen österreichischen Zeitungen an. Sie berichteten über die Begeisterung der Bevölkerung in der frühen Phase und verstärkten diese durch entsprechende Berichterstattung, sie integrierten alle Schichten der Bevölkerung und konstruierten so etwas wie eine »Kriegsgemeinschaft« zwischen gemeinsam ertragenem Unglück und Aufforderung zur Pflicht an der Heimatfront. Auch als sich die Kriegsbegeisterung legte, sich die Präsenz der Themen Verwundung, Flucht und Tod verstärkte, wurden optimistische und patriotische Parolen vielen Ereignisberichten vorangestellt. Am Sinn des Kampfes gab es für beide Zeitungen keinen Zweifel, und die Zensur wird das Übrige dazu beigetragen haben – wobei selbst dieses autoritäre Instrument eines »Kriegsabsolutismus« auch positiv betrachtet werden kann, wie die MZ bewies. Mit dem Kriegseintritt Italiens verschärften sich die Bedingungen auch für die Zeitungen, so dass die Analyse mit diesem Zeitpunkt endet. Als in Maribor/Marburg noch zur Begeisterung und zum Siegesglauben aufgerufen wurde, als die Slowen:innen noch von einer Vereinigung innerhalb der Monarchie und die Deutschnationalen noch von Österreich sprachen. Als die kriegsintegrative Wirkung der Zeitung sich noch auf die Untersteiermark oder Maribor/Marburg als Teil des Kronlandes Steiermark bezog. Nur zwei Jahre später sollte sich auch dies ändern.

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Anna erzählt Zum Alltag einer Grazer Schülerin von Oktober 1916 bis November 1917

Einleitende Bemerkungen Am 11. und 12.  August 1914 verließ das steirische k. u. k. Infanterieregiment Nr.  27 nach seiner mehrtägigen Gefechtsübung in den Petersbergen in fünf Staffeln Graz in Richtung Osten, um zunächst an der Ostfront gegen die Russen zu kämpfen.1 Eine jubelnde Bevölkerung, ein »letztes Winken der auf den Bahnsteigen zurückgebliebenen Mütter, Frauen, Kinder, die tränenumflorten Auges den einem unbekannten Schicksale entgegengehenden Teuren nachblicken«2, beschreibt der Verfasser der Regimentsgeschichte Hermann Fröhlich die Stimmung am Bahnhof im August 1914.3 Während die Männer in den Krieg ziehen, bilden die Frauen und Kinder, die Älteren und die nicht als Soldaten Eingezogenen die sogenannte Heimatfront, an der, wie es Gerd Krumeich formuliert, »für den Krieg konstruiert und produziert, aber auch gesungen, gedichtet, gebetet  – und gelogen«4 wurde  : Denn der »industrialisierte Massenkrieg erforderte einen bis dahin unbekannten Grad der patriotisch-nationalen Mobilisierung von Soldaten wie Zivilisten«5. Die Zivilbevölkerung an der »Heimatfront« sollte den Krieg unterstützen – sei es durch materielle Opfer, durch ihre Mitarbeit in der Kriegsfürsorge 1 Vgl. Fröhlich, Hermann  : Geschichte des steirischen k. u. k. Infanterie-Regimentes Nr.  27 für den Zeitraum des Weltkrieges 1914–1918, Bd.  1, Innsbruck 1937, 8–9. Zur Geschichte des steirischen k. u. k. Infanterie-Regimentes Nr. 27 von 1914 bis 1918 unter emotionssoziologischer Perspektive vgl. Haring, Sabine A.: Wir-Gefühle, Feindbilder und Feindseligkeit, in  : Kuzmics, Helmut/Haring, Sabine A.: Emotion, Habitus und Erster Weltkrieg. Soziologische Studien zum militärischen Untergang der Habsburger Monarchie, Göttingen 2013, 269–468. 2 Fröhlich, Geschichte 1 (1937), 9. 3 Dass das Narrativ der Kriegsbegeisterung im Sommer 1914 teilweise einer kritischen und im Hinblick auf soziale Schichten und Milieus sowie regionale und lokale Besonderheiten differenzierten Betrachtung unterzogen werden sollte, darauf weisen neuere Untersuchungen hin. Vgl. dazu u. a. Ernst, Petra/ Haring, Sabine A./Suppanz, Werner  : Der Erste Weltkrieg  – Zeitenbruch und Kontinuität. Einleitende Bemerkungen, in  : Dies. (Hg.)  : Aggression und Katharsis. Der Erste Weltkrieg im Diskurs der Moderne (Studien zur Moderne 20), Wien 2004, 15–41. 4 Krumeich, Gerd  : Kriegsfront  – Heimatfront, in  : Hirschfeld, Gerhard/Krumeich, Gerd/Langewiesche, Dieter/Ullmann Hans-Peter (Hg.)  : Kriegserfahrungen. Studien zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte – Neue Folge 5), Essen 1997, 12–19, Zitat 12. 5 Hagemann, Karen  : Heimat – Front. Militär, Gewalt und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege, in  : Hagemann, Karen/Schüler-Springorum, Stefanie (Hg.)  : Heimat  – Front. Militär und Ge-

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Sabine A. Haring-Mosbacher

und Kriegskrankenpflege oder als Arbeiter:innen in der Kriegsindustrie  : »Die ›zweite Front‹ in der Heimat musste in nicht nachlassendem Maße Material und Menschen für den Krieg an der ›ersten Front‹ bereitstellen und zugleich deren Verluste materiell und mental verarbeiten.«6 Die auch zur »Heimatfront« zählenden Kinder und Jugendlichen sollten ebenfalls auf den Krieg eingestimmt und für den Krieg mobilisiert werden. Bücher, Zeitschriften, Spielzeug und Spiele halfen der Propaganda beim Transportieren von Botschaften. Dabei nahmen die Kinder, wie Manon Pignot festhält, einen besonderen Platz in der kulturellen Mobilisierung ein  : As figures of innocence, symbols of home and future, they embodied for adults the category to be most protected, and as a result constituted a significant stock of negative motivation – a way of encouraging adults to act by potentially making them feel sense of guilt. Images of children were massively present on conscription posters and posters advertising successive war bond campaigns. In the press und literature there also reappeared a classic figure of wartime, that of the child hero.7

Während für einzelne zivile Bevölkerungsgruppen im Ersten Weltkrieg wie beispielsweise Frauen umfassendere und detailliertere Forschungen vorliegen,8 wissen wir auch nach den Jubiläumsjahren 2014 bis 2018, in denen die Zahl der Publikationen zum Ersten Weltkrieg in seinen unterschiedlichen Aspekten kaum mehr überblickbar erschien,9 vergleichsweise wenig über die »Innenansicht eines Krieges«10 (Ernst Johann) von Kindern und Jugendlichen. Hannes Stekl und Christa Hämmerle sprachen im Hinblick auf Kindheit im Ersten Weltkrieg 2015 nach wie vor von »erhebliche[n] Forschungsdefiziten« in Österreich und in den »Nachfolgestaaten« der Habsburgermonschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege (Geschichte und Geschlechter 35), Frankfurt/MainNew York 2002, 13–52, Zitat 19.   6 Ebd., 20.   7 Pignot, Manon  : Children, in  : Winter, Jay (Hg.)  : The Cambridge History of the First World War, Volume III  : Civil Society, Cambridge-New York 2013, 29–45, Zitat 31.   8 Vgl. dazu u. a. Hämmerle, Christa  : Heimat/Front. Geschlechtergeschichte/n des Ersten Weltkriegs in Österreich-Ungarn, Wien-Köln-Weimar 2014.   9 Jost Dülffer gab bereits 2014 einen guten Überblick über den »Historikerboom um den Ersten Weltkrieg«, Ulrich Wyrwa besprach 2016 in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft deutsche Neuerscheinungen zum Ersten Weltkrieg und der von Christoph Cornelißen und Arndt Weinrich herausgegebene Sammelband »Writing the Great War« (2021) gibt einen Überblick über die Geschichtsschreibung zum Ersten Weltkrieg aus unterschiedlichen nationalen Perspektiven. Vgl. Dülffer, Jost  : Die geplante Erinnerung. Der Historikerboom um den Ersten Weltkrieg, in  : Osteuropa, 64 (2014) Heft 2–4, 351–368  ; Wyrwa, Ulrich  : Zum Hundertsten nichts Neues. Deutschsprachige Neuerscheinungen zum Ersten Weltkrieg (Teil II), in  : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 64 (2016) Heft 7/8, 683–702  ; Cornelißen, Christoph/ Weinrich, Arndt (Hg.)  : Writing the Great War, The Historiography of World War I from 1918 to the Present, New York-Oxford 2021. 10 Vgl. Johann, Ernst (Hg.)  : Innenansicht eines Krieges  : Bilder, Briefe, Dokumente. 1914–1918, Frankfurt/ Main 1968.

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archie.11 Die Beiträge des von ihnen herausgegebenen Sammelbands »Kindheit und Schule im Ersten Weltkrieg« verstehen sie als eine »erste Annäherung an das Thema«12. Eine ähnliche Leerstelle wurde lange Zeit für die Erforschung der Steiermark zwischen 1914 und 1918 festgemacht  ; noch 2006 sprach der Historiker Martin Moll von einem  – abgesehen von einigen Hochschulschriften und Studien zur Rüstungswirtschaft  – »weißen Fleck«13. Diesen füllte er selbst mit seiner 2014 erschienenen Monographie »Die Steiermark im Ersten Weltkrieg«14. Rund acht Jahre zuvor hatte er in seinem Aufsatz »Heimatfront Steiermark« ein Forschungsprogramm vorgelegt, das verschiedene politische und gesellschaftliche Ebenen zu untersuchen trachtet. Auf der Meso-Ebene bedeutet dies nach Moll insbesondere die zentralen Behörden der Verwaltung (Reorganisation des bürokratischen Apparates, die Schaffung von Sonderverwaltungen sowie rechtlicher Grundlagen und deren Handhabung) während des Krieges zu analysieren,15 auf einer mikrosoziologischen Ebene die »Sichtweise der Bevölkerung im Spannungsfeld von Mangelerscheinungen und staatlichen Anforderungen«16 in den Fokus wissenschaftlicher Forschung zu rücken, wobei die drei sozialen Ebenen – die Makro-, Meso- und Mikroebene  –, folgt man der Figurationssoziologie Norbert Elias’ in ständigen Interdependenzbeziehungen zueinander stehen.17 Im Bewusstsein des ›Wechselspiels‹ aller drei Ebenen fühlt sich dieser Beitrag der Mikroperspektive verpflichtet, die den »kleinen Mann«18, die »kleine Frau« oder das Kind als soziale Akteure in den Mittelpunkt der Analyse rückt.

Das Tagebuch von Anna Hörmann Dieser Beitrag thematisiert die Kriegsjahre von Oktober 1916 bis November 1917 aus der Sicht der 13-jährigen Anna Hörmann (verheiratete Stingl) aus Graz. Ihr Tagebuch, das 11 Stekl, Hannes/Hämmerle, Christa  : Kindheit/en im Ersten Weltkrieg – eine Annäherung, in  : Stekl, Hannes/Hämmerle, Christa/Bruckmüller, Ernst (Hg.)  : Kindheit und Schule im Ersten Weltkrieg, Wien 2015, 7–44, hier 14–15. 12 Ebd., 15. 13 Moll, Martin  : »Heimatfront Steiermark«. Ein gemischtsprachiges Kronland im ersten »totalen Krieg«, in  : Kuprian, Hermann J. W./Überegger, Oswald (Hg.)  : Der Erste Weltkrieg im Alpenraum. Erfahrung, Deutung, Erinnerung. La Grande Guerra nell’arco alpino. Esperienze e memoria, Innsbruck 2006, 181–196, hier 181. 14 Vgl. Moll, Martin  : Die Steiermark im Ersten Weltkrieg. Der Kampf des Hinterlandes ums Überleben 1914–1918, Wien-Graz-Klagenfurt 2014. 15 Diesen Zugang wählt er selbst in seiner Monographie, in dem er vorrangig die Perspektive von Funktionären und Beamten aller Zweige der Landesverwaltung einnimmt. Vgl. ebda., 11. 16 Moll, »Heimatfront Steiermark« (2006), 187. 17 Vgl. Elias, Norbert  : Was ist Soziologie  ? Gesammelte Schriften 5, Weinheim-München 2004 [1970], 10. 18 Vgl. Wette, Wolfram (Hg.)  : Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, München 1992.

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Sabine A. Haring-Mosbacher Abb. 1: Anna Hörmann und ihr Bruder Karl mit den Eltern.

vom 7. Oktober 1916 bis zum 10. November 1917 vorliegt, umfasst 112 in Kurrentschrift geschriebene Seiten. Es wurde Anfang der 1990er-Jahre dem »Dokumentationsarchiv lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen« übergeben.19 Tagebücher als Selbstzeugnisse in chronologischer Form »entspringen«, wie Wayne Shumaker betont, »dem Wunsch, Erfahrungen zu bewahren«20. Anna Hörmann hält in ihrem Tagebuch aber nicht nur ihre eigenen Erfahrungen fest, sondern sie rekonstruiert darin auch das Kriegsgeschehen an den unterschiedlichen Fronten sowie innen- und außenpolitische Entwicklungen. 19 Mein herzlicher Dank gilt daher dem »Dokumentationsarchiv lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen« des Instituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien und in diesem Zusammenhang insbesondere Herrn Mag. Günter Müller für seine freundliche Unterstützung und die Bereitstellung des Tagebuchs und der Fotos sowie der Tochter von Anna Stingl, Anna Steitz, und deren Tochter Brigitte Essler, für weiterführende Hinweise und Fotos und deren Zustimmung zur Veröffentlichung. Einige Auszüge des Tagebuchs wurden von Li Gerhalter im April 2002 transkribiert, das gesamte Tagebuch schließlich im Herbst 2013 von Johannes Ebner, der die Einträge mit zahlreichen wertvollen Anmerkungen versehen hat und dem ich zu großem Dank verpflichtet bin. 20 Shumaker, Wayne  : Die englische Autobiographie. Gestalt und Aufbau, in  : Niggl, Günter (Hg.)  : Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, 2., um ein Nachwort zur Neuausgabe und einen bibliographischen Nachtrag ergänzte Auflage, Darmstadt 1998, 75–120, Zitat 78.

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Abb. 2: Gasthaus zum deutschen Ritter.

Die am 30. Juli 1903 in Graz geborene Anna Hörmann stammt aus dem bürgerlichen Grazer Milieu, sie lebt in der Prankergasse 40 in Graz.21 Ihr Vater und ihre Mutter, beide 1872 geboren (Abb. 1), betreiben ein großes gutbürgerliches Gasthaus, das »Gasthaus zum deutschen Ritter« (Abb. 2). Väterlicherseits besitzt die Familie einen großen Bauernhof in Judendorf,22 den Annas Tante führt. Als der Krieg ausbricht, ist Anna elf Jahre alt (Abb. 3). Knapp drei Jahre später äußert sie sich in ihrem Tagebuch23 zur Frage der Kriegsschuld und weist diese England zu. Denn die Habsburgermonarchie hätte zwar Serbien den Krieg erklärt, aber dies aus ›edlen‹ Motiven  : »Um gerecht zu handeln  ; um Fürstenmorde nicht ungestraft zu lassen, kurz erklärt.«24 Dabei erscheint Anna die Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand durch einen »ruchlosen Serben«25 – ganz im Sinne einer apokalyptischen Deutung der Geschichte26 – als Prüfung Gottes  : 21 Hörmann (verheiratete Stingl), Anna  : Mein Tagebuch I. Vom Oktober 1916 bis zum November 1917. Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien, 1. 22 Ebd., 75. 23 Um eine bessere Lesbarkeit zu gewährleisten, wurden geringe Korrekturen im Hinblick auf Rechtschreibund Fallfehler sowie offensichtlich vertauschte Buchstaben und Fehler in der Groß- und Kleinschreibung in den Originalzitaten vorgenommen. 24 Hörmann (verheiratete Stingl), Mein Tagebuch, 56. 25 Ebd., 57. Vgl. weiter ebda., 58  : »Aber Gott sei Dank – war dieser Mörder kein Österreicher. Er schändete den Titel eines Österreichers nicht. Diese Tat hätte auch kein Österreicher zustande gebracht.« 26 Vgl. dazu insbesondere Haring, Sabine A.: Verheißung und Erlösung. Religion und ihre weltlichen Ersatzbildungen in Politik und Wissenschaft (Studien zur Moderne 24), Wien 2008, 317–324.

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Sabine A. Haring-Mosbacher Abb. 3: Anna und ihre beiden Geschwister, der ein Jahr ältere Bruder Karl und die jüngere Schwester Josefine (Peperl).

Gott wollt es anders. Ihm, unserem Schöpfer, müssen wir alles aufopfern, er hat uns ja erschaffen, er ließ uns im edlen, gerechten Landen geboren werden, er will nur uns prüfen, er will uns Leiden schicken, damit wir im Jenseits nicht mehr so viel im Fegefeuer leiden müssen. […] Aber, es gibt einen gerechten Gott  ! Und es gibt noch einen gerechten Herrscher von Österreich  ! Es gibt noch ein mit Waffen gerüstetes Österreich  ! – Es gibt auch Kinder, deren Gebet Gott erhört. In seine und in unseres, nun verstorbenen Kaisers /Hände/ legten wir unser Leid. Was für eine Art des Leides war dies.27

Anna erinnert sich im April 1917, wie der Bericht über das Attentat in Sarajevo die Familien erreichte  : Als die Kunde zu uns kam  ? Es war an einem Sonntag, ich glaube am 29. Juni, der Garten war voll Menschen. Da kam ein Freund vom Vater, Heischek hieß er, sagte dem Vater es war ganz still. Mein Vater sagte gleich etwas zur Mutter, darauf großes Erstaunen. Im Garten wurde es

27 Hörmann (verheiratete Stingl), Mein Tagebuch, 57.

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nun laut. Wie auf einem gestörten Ameisenhaufen. Ich wußte natürlich nicht, um was es sich handle. Erst später erfuhr ich. Wie, weiß ich heute nimmer.28

»Alles zog begeistert in den Kampf. Da freilich ahnte niemand etwas von der Dauer desselben«29, hält Anna in der Retrospektive fest. Ihr zu diesem Zeitpunkt 41 Jahre alter Vater ist »ganz aus der Fassung«, dass auch er einrücken muss – und zwar nach Klagenfurt.30 Sie durchlebt den »traurigsten Namenstag« ihres bisherigen Lebens. Am 29. Juli 1914 muss der Vater schließlich einrücken  ;31 er ist C-tauglich und wird in Graz in der Proviantur eingesetzt. Im Mai 1917 soll er wiederum zur Musterung  : Anna betet jeden Tag, um vom lieben Heiland zu erbitten, daß er den Vater nicht ins Feld kommen läßt, oder wenigstens ihn dann wieder gesund heimführt. Manche hl. Kommunion hatte ich zu diesem Zwecke aufgeopfert. Also morgen um ½ 8 ist die Musterung. Gebe Gott, daß der Vater C-Befund bekommen möchte. Ich will heute recht innig zu Gott beten, daß er meinem Wunsche und dem Wunsch u. d. Gebet meiner Mutter und meiner Geschwister erfüllen möge. 23. Mai. (Hl.) Gott sei Dank  ! Der Vater hat C-Befund bekommen. Nun bleibt er hier in Graz. Unser Gebet hat doch viel geholfen.32

Als Anna in ihr Tagebuch auf Anregung des Vaters und ihrer Lehrerin33 zu schreiben beginnt,34 besucht sie die katholische Privatschule der Barmherzigen Schwestern in der Mariengasse, in der auch Waisenkinder unterrichtet werden. Sie macht im Juni 1917 ihre Abschlussprüfung, die sie mit Vorzug besteht, und absolviert danach einen viermonatigen Handelskurs in der Annenstraße.35 Anna ist eine gute Schülerin, sie liest gern und viel, ist ehrgeizig und nimmt darüber hinaus Klavierunterricht. Die Vermutung liegt nahe, dass Anna im Gasthaus ihrer Eltern eine Reihe von  – vor allem christlichsozialen – Zeitungen vorfindet und diese ausgiebig liest.36 Auch die Gesprä28 Ebd., 58. 29 Ebd., 58–59. 30 Der Ort ist auf der sogenannten Widmungskarte vermerkt, die jeder Landsturmmann bereits in Friedenszeiten erhielt. 31 Hörmann (verheiratete Stingl), Mein Tagebuch, 59. 32 Ebd., 72–73. 33 Vgl. die dem Tagebuch beigelegten schriftlichen Hinweise von Anna Steitz, der Tochter von Anna Hörmann. 34 Als das Infanterieregiment Nr. 27 1916 für kurze Zeit wieder von der Karstfront kommend, über Ljubljana/ Laibach durch Graz fährt, werden Erinnerungen an 1914 wach  : »die jubelnde, fahnengeschmückte Stadt, das umjubelte Regiment. Diesmal war es im allgemeinen ruhig  ; lag doch auch eine Zeitspanne von eineinhalb Kriegsjahren dazwischen.« Siehe Fröhlich, Hermann  : Geschichte des steirischen k. u. k. Infanterie-Regimentes Nr. 27 für den Zeitraum des Weltkrieges 1914–1918, Bd. 2, Innsbruck 1937, 2. 35 Vgl. Hörmann (verheiratete Stingl), Mein Tagebuch, 102–104. 36 Welche Zeitungen Anna gelesen hat, darüber finden sich im Tagebuch keine direkten Hinweise. Annas

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che der Gäste über Kriegs- und Heimatfront nimmt sie wohl wissbegierig auf  ; sie war, so ihre Tochter Anna Steitz, eine »Zuhörerin bei den politischen und wirtschaftlichen Diskussionen der Stammgäste ihres Vaters«.37 Das Tagebuch der 13-jährigen Anna beginnt mit einem Eintrag vom 7.  Oktober 1916, in dem sie über die massive Lebensmittelteuerung berichtet und die Preise für Ei, Milch, Wein, Most, Öl, Zucker, Schmalz, Brot, Butter, Rind-, Kalb- und Schweinefleisch, für Kaffee und Bier in einer Liste festhält. Lebensmittel seien schwer zu bekommen, notiert sie  :38 »Man muß stundenlang stehen und warten und bekommt zum Schluße garnichts [sic  !]. Wir haben jetzt Brot-, Zucker-, Kaffee- und Fettkarten. Brot muß jede Partei selbst holen und zwar bei einem bestimmten Bäcker. Für eine Person kommt im Tage nur um 10 h Brot (225 g). Für eine Person kommt im Monat 1 ¼ kg Zucker, 3/16  kg Kaffee und 12 dag Fett.«39 Am nächsten Tag, dem 8.  Oktober 1916, schildert Anna große Überschwemmungen im Bereich von Mur und Drau, am darauffolgenden Tag das Kriegsgeschehen in Rumänien und am 10. Oktober neue Geldnotenscheine  : »10.  Oktober. Infolge Not an Kronen hatten wir 2 K Noten in Papier bekommen. Jetzt werden diese 2 Kronen Noten in der Mitte auseinandergetrennt und diese wiedergetrennt, so daß wir jetzt 2 K Noten, 1 K Noten und 50 h Noten haben. Jedoch ist es noch nicht ganz bestimmt, ob die ¼teln von den 2 K Noten bleiben werden. Auch neue Zehnkronen haben wir bekommen.«40 Als Anna mit dem Schreiben des Tagebuchs beginnt, verfasst sie zunächst, vom 7. bis zum 31. Oktober beinahe täglich einen kurzen Eintrag.41 Später werden die Abstände zwischen den Einträgen größer, denn sie hat viele weitere ›Verpflichtungen‹, wie sie am 31.  Oktober festhält  : »Jetzt Milieuzugehörigkeit legt eine katholisch ausgerichtete bürgerliche Zeitung wie das »Grazer Volksblatt« nahe. Detaillierte Anhaltspunkte gibt sie uns in ihrem Tagebuch zwar nicht, ihre Tochter Anna Steitz gibt jedoch an, dass im Gasthof der Eltern, in dem ihre Mutter bis zu ihrer Heirat mitgeholfen hat, alle christlichsozialen Zeitungen auflagen. Diese schriftlichen Hinweise gab die inzwischen 91-jährige Tochter Anna Steitz dem Verein »Dokumentationsarchiv lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen«, als sie diesem das Tagebuch ihrer Mutter überließ. 37 Vgl. die dem Tagebuch beigelegten schriftlichen Hinweise von Anna Steitz. 38 »K« ist in Annas Tagebuch die Abkürzung für Krone(n). Im Zuge einer Währungsreform löste die Krone 1892 den Gulden als Währung ab. Das »h« ist die Abkürzung für Heller. 100 Heller entsprachen einer Krone. 39 Hörmann (verheiratete Stingl), Mein Tagebuch, 1–2. Zur Lebensmittelknappheit sowie Rationierung von Nahrungsmitteln finden sich auch in den Grazer Tageszeitungen zahlreiche Einträge. Amtliche Kundmachungen werden dort abgedruckt. In exemplarischer Absicht seien an dieser Stelle die »Kundmachung betreffend die vorläufige Regelung des Bezuges von Speisemehl in Graz«, abgedruckt in  : Grazer Volksblatt, 15.10.1916, 13, sowie die »Kundmachung betreffend die vorläufige Regelung des Kartoffelbezuges in Graz«, abgedruckt in  : Grazer Volksblatt, 22.10.1916, 13, erwähnt. Die »Speisemehlverordnung« regelt, dass nur mehr in 77 Geschäften in Graz Speisemehl ausgegeben werden darf. Die Grazer:innen müssen bei jedem Mehrbezug das »(rote) Erkennungsblatt für den Brotbezug und sämtliche Mehlkarten« vorweisen. 40 Hörmann (verheiratete Stingl), Mein Tagebuch, 3. 41 Nur am 20., 23., 25., 26., 27. und 29.10. findet sich kein Eintrag.

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kann ich nicht jeden Tag in mein liebes Tagebuch schreiben, da ich zu wenig Zeit habe. Erstens habe ich jeden Dienstag u. Samstag nachm. Schule. Zweitens haben wir sehr viel zu lernen und zu nähen, drittens habe ich sehr der Mutter geholfen, weil wir kein Dienstmädchen haben. Viertens lerne ich Klavier und muß öfters üben.«42 Erzählungen über den Alltag zu Hause, über Essen, und Berichte über den Kriegsverlauf wechseln einander ab, wenig erfahren die Leser:innen über Annas Leben in der Familie. Selten erwähnt sie ihren Vater, fast gar nicht die Mutter. Einige Rückschlüsse erlaubt das Tagebuch auch im Hinblick auf ihre katholische Erziehung  : Besondere Erwähnung finden katholische Feiertage wie Allerheiligen und Allerseelen, Weihnachten43 und der Weiße Sonntag, der Tag der Erstkommunion. Das Tagebuch endet abrupt am 17. November 1917, noch am 5. November macht Anna folgenden Eintrag  : »Übermorgen wird es nun 1 Jahr und ein Monat, daß ich das Buch begonnen. So viele Ereignisse habe ich in der Zeit erlebt. Nun wird auch dieses Büchlein bald zu Ende gehen. Die meisten Erlebnisse habe ich hier eingeschrieben.«44

Das Frontgeschehen Einträge über den Kriegsverlauf und das Frontgeschehen nehmen im Tagebuch rund ein Drittel des Gesamtumfangs ein. Als Vorlage für ihre Notizen dienen Anna zumeist die Frontberichte, die in den Zeitungen abgedruckt wurden.45 Folgende Gegenüberstellung – eine unter vielen möglichen – zwischen den in den Zeitungen abgedruckten Kriegsberichten und den Tagebucheinträgen macht dies deutlich. Anna notiert  : 9. Oktober. Heute ist Kronstadt wieder in unsere Hände gelangt, nachdem General Falkenhayn und General Mackensen die Rumänen erneut geschlagen haben. Im Süden von Rumänien kämpfen Deutsche und Bulgaren ebenfalls siegreich in der Dobrutscha [sic  !] [Dobrudscha  ; Anm. d. Verf.]. Die befestigte Stellung am Westrande des Geisterwaldes […] wurde von unseren und deutschen Truppen unter dem Oberkommando des Generals v. Falkenhayn

42 Hörmann (verheiratete Stingl), Mein Tagebuch, 19. 43 So habe in der Religionsstunde, wie Anna am 31.10. in ihr Tagebuch schreibt, der Katechet den Kindern den Allerseelen-Ablass erklärt. Vgl. ebda., 20. Zum Weihnachtsfest 1916 vgl. ebda., 39–40. 44 Ebd., 110. Anna hat – wie sie ihrer Tochter erzählt hat, das Tagebuch weitergeführt. Der zweite Band ist aufgrund von »Kriegseinwirkung« jedoch verloren gegangen. Vgl. die dem Tagebuch beigelegten schriftlichen Hinweise von Anna Steitz. 45 Die zeitgenössischen Zeitungen brachten umfassende Berichte von den unterschiedlichen Fronten. So findet sich im »Grazer Volksblatt« beispielsweise häufig auf der Titelseite sowie auf bis zu drei weiteren Seiten das Neueste von der Front. Als Quellen dienen hierbei die verschiedenen Kriegsberichte sowie Meldungen aus dem Kriegspressequartier und Berichte der jeweiligen Generalstäbe. Daneben gibt es u. a. die Rubriken »Aus Nah und Fern«, »Kirchliche Nachrichten«, »Aus dem Gerichtssaale«, »Theater, Kunst, Musik, Schule und Unterricht«, zahlreiche Anzeigen sowie »Vereinsmitteilungen«.

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angegriffen und vollkommen geschlagen, 43 Geschütze erbeutet und 220 Mann geschlagen. Auch weiter im Norden ist unser Angriff in günstigem Fortschreiten. Der Feind wurde über den Homorod [zurückgedrängt  ; Anm. d. Verf.]. Die Umgehungskolonne Krafft steht bereits auf rumänischen Boden, jenseits des Roten Turmpasses.46

Der österreichische Kriegsbericht hält am 6. Oktober 1916, also drei Tage vor Annas Eintrag, in ähnlicher Weise fest  : Wien, 6. Oktober. Amtlich wird verlautbart  : Östlicher Kriegsschauplatz  : Front gegen Rumänien  : In befestigter Stellung am Westrande des Geisterwaldes wurde der Feind durch die österreichisch-ungarischen und deutschen Truppen des Generals der Infanterie von Falkenhayn angegriffen und vollkommen geschlagen. Als Beute blieben 2 Feldgeschütze, 28 schwere Geschütze und 13 Infanteriegeschütze in den Händen des Angreifers. 2 Offiziere und 220 Mann wurden als Gefangene eingebracht. Auch weiter nördlich im Raume von Homorod und östlich Magyaros ist unser Angriff in günstigem Fortschreiten, in dessen Verlauf 2 Offiziere und 202 Mann gefangen wurden.47

Darüber hinaus berichtet Anna unter anderem über einen »erfolgreichen« Bombenangriff bei Monfalcone und das Bombardement der militärischen Anlagen von San Giorgio di Nogaro (11. Oktober),48 die 8. Isonzoschlacht, in der die k. u. k. Truppen »hart bedrängt« werden, und die Schlacht bei Luck.49 Doch sie hält nicht nur das Kriegsgeschehen im Osten, Süden und Südosten fest, sondern auch das an der Westfront, an der die deutschen Verbündeten kämpfen und das in den zeitgenössischen Zeitungen ebenfalls umfangreich dargestellt wird.50 Den Vorstoß der deutschen, bulgarischen und türkischen Verbündeten um Tuzla erwähnt Anna ebenso wie die Erstürmung der rumänischen Hafenstadt Constanţa durch deutsche und bulgarische Truppen oder die ›Erfolge‹ deutscher Unterseeboote.51 Für die kämpfenden, »heldenmütigen«52 Soldaten an der Front und insbesondere für den Sieg, aber auch für den Frieden im Äußeren wie im Inneren wird gebetet  ; ein Gebet schreibt Anna in ihr Tagebuch.53 Konkrete Berichte zum Frontgeschehen wie »große Siege« an der russischen Front, die 9. Isonzoschlacht,54 46 Hörmann (verheiratete Stingl), Mein Tagebuch, 2–3. 47 Grazer Volksblatt, 6.10.1916, 6 Uhr Ausgabe, 1. 48 Vgl. dazu den Eintrag vom 11.10.1916  : »Es wurden sehr viele Volltreffer erzielt. Alle Flugzeuge sind unversehrt zurückgekehrt.« (Hörmann [verheiratete Stingl], Mein Tagebuch, 5). 49 Vgl. ebda., 3–10. 50 Vgl. ebda., 11, 51. 51 Vgl. ebda., 15–16 sowie 21. 52 Ebd., u. a. 43–44. 53 Ebd., 7. 54 Vgl. dazu  : Die neunte Schlacht am Karst, in  : Grazer Volksblatt, 2.11.1916, Morgen-Ausgabe, 1 sowie Das Ergebnis der neun Isonzoschlachten, in  : Grazer Volksblatt, 19.11.1916, Morgen-Ausgabe, 1.

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die Kämpfe auf dem Doberdò-Plateau und um Bukarest finden darin Eingang, aber auch Berichte über außenpolitische Themen wie die amerikanische Präsidentschaftswahl 1916, aus der Wilson als Sieger hervorgehen sollte.55 Nach der Eroberung von Bukarest durch »die vereinigten deutschen, österreichischen und bulgarischen u. türkischen Truppen«56 notiert Anna  : »Außer Rumänien wurden ganz besiegt  : Belgien, Montenegro und Serbien und alle anderen teilweise besiegt. Also dürfen wir auf einen Frieden hoffen.«57 Ab Dezember 1916 lässt sich bei ihr eine verstärkte Friedenssehnsucht, wohl ausgelöst durch das in den Zeitungen stark thematisierte »Friedensangebot des Viererbundes«58 beobachten  : »12. Dezember, 7 h abends. Gedankenvoll nehme ich heute die Feder zur Hand. Welche Gedanken beschäftigen mich  ? Ich denke an den Frieden  !«59 In den folgenden Tagen setzt sich Anna eingehend mit dem sogenannten Friedensangebot der Mittelmächte vom 12. Dezember 1916 auseinander und hält fest  : »Wir müssen beten und vertrauen.«60 England und Italien werden zunächst als diejenigen etikettiert, die nicht für den Frieden seien, während Russland und Frankreich eine Friedensneigung zugeschrieben wird. Aber England versuche, Russland und Frankreich auf seine Seite zu ziehen.61 Der Papst übe hingegen eine Vermittlungsfunktion aus.62 Friedensbefürworter und -gegner sind aber schon am 16. Dezember für Anna nicht mehr eindeutig festzumachen, auch die unterschiedlichen Zeitungen vertreten divergente Einschätzungen  : Die Welt ist in Spannung, was wird auf die Friedensnote geantwortet werden  ? Noch lassen d. Feinde nichts von ihren Vorhaben verlautbaren. Es herrscht unterschiedliche Auffassungen u. Ansichten. Manche behaupten Rußland u. Frankreich werden Frieden machen, manche jedoch meinen es würde gar nichts daraus werden. Auch die Zeitungen sind verschiedener Ansichten. […] Die Völker sind jetzt in so großer Spannung, das sehe ich bei uns. Vater schaut jetzt b. jeden Tag gleich in der Frühe d. Zeitungen an um zu sehen, ob nichts vom Frieden steht, alles wartet gespannt auf die Zeitungen. Ach käme der Friede doch bald  !63

55 Vgl. Hörmann (verheiratete Stingl), Mein Tagebuch, 23–24 sowie 35–36. 56 Ebd., 35. Die gewonnene Schlacht und die Einnahme von Bukarest sind beispielweise im Grazer Volksblatt die vorrangigen Titelseitenthemen vom 5. bis zum 10.12.1916. 57 Hörmann (verheiratete Stingl), Mein Tagebuch, 36. 58 Vgl. Ein Friedensangebot des Vierbundes, in  : Grazer Volksblatt, 12.12.1916, Mittag-Ausgabe, 1. 59 Hörmann (verheiratete Stingl), Mein Tagebuch, 36. 60 Ebd., 37. 61 Vgl. dazu  : Die feindliche Presse gegen das Friedensangebot. Haßausbrüche der Londoner Zeitungen, in  : Grazer Volksblatt, 14.12.1916, Mittag-Ausgabe, 1. 62 Vgl. Hörmann (verheiratete Stingl), Mein Tagebuch, 38. Vgl. dazu  : Der Papst und das Friedensangebot, in  : Grazer Volksblatt, 13.12.1916, Mittag-Ausgabe, 1. 63 Hörmann (verheiratete Stingl), Mein Tagebuch, 39–40.

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Am Silvestertag 1916 zieht Anna in ihrem Tagebuch Resümee über das vergangene Jahr, in dem es viele »denkwürdige Tage« gegeben habe  : Die größten sind wohl der Todestag […] unseres guten Landesvaters, welchem der Tag der Thronbesteigung unseres jetzigen Landesvaters folgt, nämlich d. 21.  November 1916, und 22. November 1916. Einen Monat vorher starb Ministerpräsident, am 21. Okt. Der schönste war der 30. Dezemb. An diesem Tage war die Königskrönung Kaiser Karls I. und Kaiserin Zita in Ungarn. Eine prächtige Feierlichkeit. (Die Beschreibung liegt bei.) Die Königin erhielt als Geschenk d. Ungarn das Krönungskleid, welches kunstvoll mit Gold gestickt ist. Dazu brauchte man kg Gold (Beschreibung d. Kleides liegt bei). Andere denkwürdige Tage sind noch jene, an denen große Dinge zu verzeichnen sind, wie der 6. Dezemb., wo d. Hptst. Rumäniens, Bukarest, fiel. Ein sehr großer Tag ist auch d. 12. Dezemb., an welchem die Friedensnote herausgegeben wurde.64

Ihre Friedenssehnsucht ist groß  : sie hebt die Bemühungen der neutralen Staaten, der Schweiz, Norwegens, Schwedens und Dänemarks hervor  ; besonders schätzt sie die Bemühungen des amerikanischen Präsidenten Wilson um den Frieden.65 Nach der Ablehnung der Friedensnote durch England und Italien hofft Anna weiter auf die Initiative der Neutralen.66 Die U-Boot-Sperre Anfang 1917, deren Wirkung eine »gewaltige« sei, notiert sie ebenso wie die Bemühungen des amerikanischen Präsidenten, Verbündete zu finden, die Kriegserklärung der USA, die 10. Isonzoschlacht, deren Geschütze man bis nach Graz hört, die 11. Isonzoschlacht67 und die russische Februarrevolution.68 Am Ende des Tagebuchs nimmt die Beschreibung der Frontereignisse im Zuge der 12. Isonzoschlacht breiten Raum ein.69 Das Tagebuch gibt auch Hinweise darauf, wie die Dauer des Krieges im Jahr 1914, rund drei Monate nach Kriegsausbruch, eingeschätzt worden war  : »Vater wollte einige alte Zeitungen haben, da zog ich die untersten vom alten Zeitungspack heraus. Eine davon war vom 11.  November 1914. Da hieß die Aufschrift  ; ›Schlacht gewonnen – Ende des Weltkrieges  ?‹ Es ist doch gelungen  ! Im November 1914 liest man vom bevorstehenden Frieden – und heute, am 12. Jänner 1917 haben wir keine Aussicht auf einen Frieden.«70

64 Ebd., 41. 65 Vgl. dazu  : Eine Washingtoner Friedenskonferenz  ?, in  : Grazer Volksblatt, 17.11.1916, Mittag-Ausgabe, 1. In diesem Leitartikel findet sich eine Unterüberschrift mit dem Titel »Wilson als Friedensvermittler«. 66 Vgl. Hörmann (verheiratete Stingl), Mein Tagebuch, 41–42. 67 Vgl. dazu ebda., 96  : »Wieder wird viel österreichisches Blut den Isonzo rot färben, aber hoffentlich wird Österreich nicht weichen. Gebe es Gott  !« 68 Vgl. ebda., 47–53 sowie 63, 70–72, 75, 96–98, 99–100. 69 Vgl. ebda., 105–112. 70 Ebd., 44.

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Annas Tagebuch schließt abrupt mit folgenden Einträgen  : »9.  November. In Rußland ist Revolution ausgebrochen. Alle Minister bis auf Kerenski verhaftet. Kerenski entflohen. So lauten die heutigen Nachrichten. Nun ist während des Krieges die 2. Revolution ausgebrochen. 10.  November. Der Widerstand der Italiener am Livenza ist gebrochen. Die Verbündeten haben den Fluß an der ganzen Front überschritten und drangen […].«71

Zur Verbundenheit mit dem Herrscherhaus Im letzten Jahrzehnt wurden im wissenschaftlichen Diskurs wieder verstärkt Rituale und Praktiken beleuchtet, mit deren Hilfe und in deren Rahmen Wir-Gefühle in der Habsburgermonarchie gelebt und verstärkt wurden.72 Die Loyalität zum Kaiser bzw. zu den Habsburgern spielte hier eine bedeutende Rolle  : »Bei Jubiläen oder Geburtstagsfeiern etwa legten regionale und städtische Eliten – ob in Galizien oder in Wien – dynastische Symbole der Habsburger an, um ihr politisches Programm und ihre soziale Position zu legitimieren.«73 In den letzten Jahrzehnten seines Lebens verstärkte sich – einhergehend mit seiner Entpolitisierung – der Personenkult um Kaiser Franz Joseph. Hier war nicht von Bedeutung, dass der Kaiser die Zügel der Macht nie aus der Hand gab. Wichtiger war es, eine Illusion der Unparteilichkeit um seine Person zu erzeugen, die ihn über die politischen Auseinandersetzungen erhob. Schlussendlich trug diese Entwicklung zwar nichts zu einer Lösung der nationalen Konflikte bei, aber sie etablierte den Kaiser als einen Bezugspunkt für eine emotionale Beziehung zum Staat. Dabei kann jedoch die »emotionale Loyalität gegenüber dem Herrscher […] durchaus auch im Verein mit nationalistischen Orientierungen auftreten, die im Prinzip eigentlich im Widerspruch zur dynastisch-gesamtstaatlichen Denkfigur standen«74. Abgesehen von der »Vaterfunktion« Kaiser Franz Josephs wurde der Dynastie auch eine apostolische Funktion zugeschrieben  : Sie galt als »Schutzmacht des christlichen Glaubens« und als »Vermittler westlicher Zivilisation in Südosteuropa«75. Ein wichtiger Aspekt des väterlichen Bildes des Kaisers war das ausgesprochen religiöse Element in den letzten Jahren seiner Regentschaft  ; es hatte einen stabilisierenden Effekt auf die 71 Ebd., 112. 72 Vgl. Cole, Laurence  : Militärische Loyalität in der späten Habsburgermonarchie, in  : Buschmann, Nikolaus/Murr, Karl Borromäus (Hg.)  : Treue. Politische Loyalität und militärische Gefolgschaft in der Moderne, Göttingen 2008, 347–376, hier 347–348. 73 Cole, Militärische Loyalität (2008), 348. 74 Hois, Eva Maria et al.: Gedächtnis/Erinnerung und Identität – Konstruktionen kollektiver Identität in einer pluriethnischen Region, in  : Csáky, Moritz/Kury, Astrid/Tragatschnig, Ulrich (Hg.)  : Kultur – Identität – Differenz. Wien und Zentraleuropa in der Moderne 4  : Gedächtnis – Erinnerung – Identität, Innsbruck-Wien-Bozen 2004, 215–254, hier 224–225. 75 Ebd., 225.

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Habsburgermonarchie.76 Die Kaisergeburtstage am 18. August wurden in der ganzen Monarchie gefeiert, nach Kriegsausbruch auch an der Front.77 Als Kaiser Franz Joseph am 21. November 1916 starb, war sich, wie der Regimentsadjutant Fröhlich festhält, jedermann der Tragweite des Geschehnisses bewußt, das für den habsburgischen Völkerstaat einem schweren Schicksalsschlage gleichkam. War doch mit dem verewigten Monarchen der stärkste Garant für den Zusammenhalt der politisch auseinanderstrebenden Nationen der Monarchie dahingegangen. […] Die Gestalt des Kaisers, der seine letzten Jahre in der Einsamkeit des Schlosses Schönbrunn verlebte, hatte im Bewußtsein des Volkes schon unpersönliche, legendäre Formung erhalten.78

Der Tod des Kaisers beschäftigt auch die 13-jährige Anna sehr  :79 »Ach  ! jetzt haben wir unseren guten, edlen kaiser franz josef i. verloren. Und zwar hat er am 21. November 1916 im Schloß Schönbrunn um 9h abends sein tatkräftiges Leben beendet. […] Am 2. Dezember 1848 bestieg er in Olmütz den Thron. In schwerer Kriegszeit bestieg er den Thron, in noch schwerer [sic  !] Kriegszeit starb er.«80 Die von Anna hervorgehobenen Passagen werden in dem unten abgebildeten Tagebucheintrag ersichtlich. Sie widmet Kaiser Franz Joseph nach seinem Tod mehrere Seiten, die sie mit seinem Kurzlebenslauf füllt, der die politischen Eckdaten seiner Regentschaft, die unter seinem Oberbefehl geführten Kriege und die innenpolitischen Reformen, sowie die zentralen familiären Daten (Daten zu seinen Eltern, Hochzeiten, Geburten der Kinder) umfasst.81 Die Beerdigung des Kaisers findet am 30. November statt, einem »gar trau-

76 Vgl. Wolf, Christiane  : Representing Constitutional Monarchy in Britain, Germany, and Austria, in  : Cole, Laurence/Unowsky, Daniel L. (Hg.)  : The Limits of Loyalty. Imperial Symbolism, Popular Allegiances, and State Patriotism in the late Habsburg Monarchy (Austrian and Habsburg Studies 9), New York 2007, 199–222, hier 210–211. 77 Fröhlich, Geschichte 1 (1937), 18. 78 Vgl. Fröhlich, Geschichte 2 (1937), 120. 79 Das christlichsoziale Milieu zeigte sich eindeutig loyal zu Kaiser und Reich und zur habsburgischen Dynastie. Vgl. dazu auch die »Programmatische Resolution der Christlichsozialen«, 1895, in  : Berchtold, Klaus  : Österreichische Parteiprogramme 1868–1966, Wien 1967, 167–168  : »Als österreichische Reformpartei hält sie in angestammter Treue zu Kaiser und Reich und bewahrt der allerhöchsten Habsburger Dynastie, mit welcher Österreichs Bestand und Wohlfahrt auf ’s Innigste verknüpft ist, für immer jene volle Ergebenheit, welche ein bleibendes Erbe aller wahren Österreicher ausmacht.« 80 Hörmann (verheiratete Stingl), Mein Tagebuch, 27. Am 21. November berichtet die Zeitung  : »In dem Befinden Sr. Majestät des Kaisers ist heute nachmittag insofern eine Ve r s c h l e c h t e r u n g eingetreten, als eine E r h ö h u n g d e r Te m p e r a t u r konstatiert wurde.« Der Kaiser, in  : Grazer Volksblatt, 21.11.1916, 6 Uhr-Ausgabe, 1. 81 Hörmann (verheiratete Stingl), Mein Tagebuch, 28–29. In den Zeitungen finden sich ebenfalls sehr ausführliche Nachrufe auf den Kaiser, die seine außen- und innenpolitischen Verdienste rühmen und »den Kaiser und seine Familie« beschreiben. Vgl. dazu die mit zahlreichen Bildern versehene Beilage des »Grazer Volksblatts« vom 22.11.1916, Morgen-Ausgabe.

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Abb. 4: Tagebucheintrag anlässlich des Todes von Kaiser Franz Joseph.

rigen Tag«82. Die Schulen bleiben geschlossen, die Schüler:innen haben schulfrei, um die Trauermessen besuchen zu können  : In der Marienkirche war d. Marienschule u. Keplerschule bei d. Trauermesse versammelt. Zuerst hielt ein Priester von d. Kanzel aus eine Ansprache und dann wurde die Messe feierlich gelesen. Vorne stand die Tumba welche ganz von Blumen u. Blattpflanzen eingeschlossen war. Auch brannten etliche 30 Kerzen. Das Kaiserbildnis war von einem schwarzen Schleier umgeben und ebenso d. Krone. Die Beisetzung d. verewigten Kaisers fand zwischen 2 und 4 Uhr statt. In dieser Zeit waren alle Geschäfte gesperrt (Graz) und alle Laternen brannten. Auch war so ein eintöniges Grau am Tage. Schon seit dem Todestage des Kaisers hängen lange, schwarze Fahnen von den meisten Häusern d. Stadt. Unsäglich traurig erscheint die Stadt.83

Anschließend an diesen Eintrag vom 1. Dezember 1916 beschreibt Anna detailliert die Beerdigung des Kaisers in Wien und erwähnt zahlreiche Mitglieder des europäischen Hochadels, die dem verstorbenen Monarchen die letzte Ehre erwiesen.84 Auch in dem 82 Hörmann (verheiratete Stingl), Mein Tagebuch, 31. 83 Ebd., 31–32. 84 Vgl. ebda., 32–35. Auch »Kaiser Franz Josephs letzte Fahrt« (Kaiser Franz Josephs letzte Fahrt, in  : Grazer Volksblatt, 30.11.1916, Morgen-Ausgabe, 1) wird u. a. im »Grazer Volksblatt« detailliert beschrieben  : Siehe dazu Die Leichenfeier in Wien, in  : Grazer Volksblatt, 30.11.1916, 6 Uhr-Ausgabe, 1 sowie Die Leichenfeier in Wien, in  : Grazer Volksblatt, 1.12.1916, Morgen-Ausgabe, 1–3.

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von Christa Hämmerle herausgegebenen Band zum Thema Kindheit im Ersten Weltkrieg, in dem 24 Frauen und Männer über ihre kindliche Lebenswelt zwischen 1914 bis 1918 erzählen, wird die besondere Rolle des Kaisers deutlich  : Erinnerungen an das besondere Erlebnis, ihn gesehen oder gefeiert zu haben, oder aber an den Wunsch, ›einmal den Kaiser zu sehen‹, auch an sein Begräbnis 1916, sind häufig ausgeführt. In autobiographischen Erzählungen über Kindheit in der k. u. k. Monarchie, geradezu zum Topos geronnen, tauchen sie oft ähnlich verschriftlicht auf und deuten so, als Erinnerungsmuster einer Generation, auf das kollektiv verinnerlichte Bild des ›Vater Kaiser‹.85

Die Krönung Karls zum ungarischen König beschreibt Anna ebenfalls in ihrem Tage­ buch  ; Kaiserin Zita habe sogar eigenhändig den Krönungsmantel Stephans  I. umgearbeitet.86 Am Geburtstag des deutschen Kaisers, am 27. Jänner haben alle Schulen geschlossen und somit Anna und ihre Freundinnen schulfrei, Kaiser Karl besucht den deutschen Kaiser, wie sie festhält, in dessen Hauptquartier.87 In der Schule schreiben die Mädchen am 25. Februar einen Aufsatz zum Thema »Unser Kaiser«.88 Kaiser Karl wird im Tagebuch als volksnaher89 und als liebevoller Monarch, der für seine Mannschaft sorgt, gezeichnet. Schulfrei gibt es auch am Namenstag der Kaiserin.90 Als Kaiser Karl vom 17. August 1917 seinen 30. Geburtstag feiert ist Anna ein bisschen irritiert  : »An jeder Pfarrkirche sind Festmessen, die ganze Stadt ist beflaggt. Jedoch sonderbarer Weise nicht so stark, wie bei anderen Anläßen. Warum aber  ?«91

Das Leben in Graz »Tage des Schreckens«

Dem »erfolgreichen« Fronteinsatz der k. u. k. Soldaten stellt Anna die »Tage des Schreckens« in Graz im Oktober 1916 gegenüber  :92 Ach, welche Tage des Schreckens sind jetzt  ! Alles in Aufruhr  ! Gestern in der Nacht ging es in der Stadt um  ! Fensterscheiben vom Café Kaiserhof und v. anderen Cafés und Hotels wurden 85 Hämmerle, Christa  : »Diese Schatten über unserer Kindheit gelegen …«. Historische Anmerkungen zu einem unerforschten Thema, in  : Hämmerle, Christa (Hg.)  : Kindheit im Ersten Weltkrieg (Damit es nicht verloren geht … 24), Wien-Köln-Weimar 1993, 265–334, hier 270–271. 86 Vgl. Hörmann (verheiratete Stingl), Mein Tagebuch, 42–43. 87 Vgl. ebda., 46. 88 Vgl. ebda., 50 sowie 54–55, 64. 89 Vgl. ebda., 54–55, 64. 90 Vgl. ebda., 65. 91 Ebd., 94. 92 Vgl. dazu auch Hämmerle, »Diese Schatten…« (1993), 302–303.

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eingeschossen. Auch vor Bäckermeistern und Gasthöfen schrie die wütende Menge. Vor der Burg beschimpften sie den Statthalter mit Worten, die ich hier nicht wiedergeben will. Um 11h sollte das Militär ausgerückt sein. Heute waren die Kasernen schon um 5h geschlossen. Alles Militär mußte in den Kasernen schlafen. […] Was wird heute wieder sein  ! In den Schulen ist nachgefragt worden, ob jemand von den Kindern dabei war. Nähmlich jene, welche dabei waren, werden im Rathause angemeldet, und deren Eltern bekommen weder eine Ausweiskarte von Brot, noch von Mehl, noch von anderen Lebensmitteln.93

Anna hofft, dass am nächsten Tag die »5000 Weiber und eine Menge von ehrlosen Buben« ausbleiben  : »Hoffentlich hat der Krieg bald ein Ende, und mit ihm diese Greuel und Wirrnis. Möge es Gott geben  !«94 Doch am nächsten Tag sei die Situation in den Straßen von Graz noch schrecklicher gewesen  : Die zogen in den Straßen umeinander und hauten Fenster ein, so beim Gasthaus zum Löwen, (Absenger, Idlhofgasse), zum Bayrischen Hof (Hasel, Annenstraße). Auch die Fenstern Privathäuser [sic  !], so beim Engelhofer und sehr viele andere. Beim Bäcker Blechschmidt stößten [sic  !] sie 22 Scheiben ein. Auch sehr viele Straßenlaternen wurden umgeworfen. Während diese ehrlosen Buben und Weiber es hier, im Hinterlande, so treiben, vergießen tapfere Männer ihr Blut, um das Vaterland zu retten. Sie kämpfen mit den Feinden, um sie abzuhalten von ihrem teuren Vaterlande, während eigene Einwohner, direkte Österreicher, hier hausen, wie die ärgsten Feinde.95

Das »ehrlose« Hinterland stellt die 13-jährige Anna hier den tapferen Soldaten an der Front gegenüber  : Tapfere, treue, echte Österreicher sind jene, welche um ihr Vaterland kämpfen, während jene ehrlosen Buben nicht wert sind, den Namen Österreicher zu tragen. Sie kämpfen in Rußland, sie kämpfen in Serbien, sie kämpfen um Recht, sie haben erworben, was sie [sic  !] gebührt. Wir wollen Gott um seine Gnade bitten, daß er uns den Frieden gibt, uns den Sieg gibt, uns aber auch den innern Frieden gibt.96

Daraufhin verschärft das Militärkommando der Stadt Graz, wie Anna am 14.  Oktober festhält, die Ausgangsregeln  : »Kinder unter 15 Jahr dürfen nach ½ 5 nicht auf der Gasse sein. Die Geschäfte müssen um 5  h geschlossen werden, Gasthäuser um 9  h, Caféhäuser um 5 h und Haustore um 6 h geschlossen werden. Wer diesen Regeln wider-

93 Hörmann (verheiratete Stingl), Mein Tagebuch, 5. 94 Ebd. 95 Ebd., 6. 96 Ebd., 6–7.

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spenstig ist, verfällt dem Militär und wird nach dem Standrecht gerichtet.«97 Ein sehr langer Eintrag in Annas Tagebuch befasst sich mit der Ermordung des 1859 in Graz geborenen Ministerpräsidenten Stürgkh.98 Ende 1916 werden Front und Hinterland einander gegenübergestellt  ; an beiden »Fronten« seien »Schlachten« zu schlagen  : Zwei Jahre und drei Monate stehen unsere Soldaten im Felde, in den vordersten Reihen die Söhne der Alpenwelt, auf die wir mit dankerfüllter Liebe und berechtigtem Stolze blicken. Unvergleichliche Ruhmestaten haben sie vollbracht und Blatt für Blatt am Lorbeerkranze Österreichs angereiht. Sie haben sich als echte Österreicher erwiesen, sowohl in zäher Verteidigung der heimatlichen Scholle gegen einen an Zahl vielfach überlegenen Feind, wie im kühnen, unwiderstehlichen Angriff. […] Damit all diese Opfer nicht vergeblich seien obliegt auch uns im Hinterlande die Schlacht trotz aller Not durchzuhalten. Standhaft und treu haben bis jetzt die Steirer, wie vor dem Feinde, so auch daheim ihre Pflicht im Kriege erfüllt. Möge Gott uns helfen, daß sie auch jetzt wieder ihre Liebe und Treue gegen Kaiser und Reich beweisen, indem sie (durch) gegen alle Feinde arbeiten und dadurch mithelfen, zum Siege.99

»Schwämme« suchen und das Schreiben des »Ehrenblattes«

Die Tagebucheinträge über das Kriegsgeschehen wechseln mit Schilderungen des Schulalltags ab.100 So macht Anna gemeinsam mit sieben weiteren Kindern und den  97 Ebd., 8. Martin Moll weist in seinem Artikel »Heimatfront Steiermark« darauf hin, dass bis zum Herbst 1918 in der Steiermark »Ausbrüche von Gewalt im weitesten Sinne« sich »in Grenzen« hielten  : »Wo sie vorkamen (Truppenmeutereien), hielt sich die einheimische Bevölkerung meist fern. Ob Plünderungen, vielfach von Jugendlichen und Frauen der unteren sozialen Schichten begangen, als Ausdruck von Politisierung anzusehen sind, ist umstritten.« Moll, »Heimatfront Steiermark« (2006), 192–193. Vgl. weiter Kahr, Stefanie  : »Zu den beklagenswertesten Begleiterscheinungen des Krieges gehört das Anstellen«. Nahrungsmittelmängel im Ersten Weltkrieg und deren Auswirkungen auf die Grazer Bevölkerung mit Fokus auf den Geschlechterverhältnissen, Phil. Dipl. Graz 2020, hier 113.  98 Vgl. dazu auch  : Ministerpräsident Graz Stürgkh ermordet, in  : Grazer Volksblatt, 21.10.1916, 6 UhrAusgabe, 1. Vgl. weiter Rauchensteiner, Manfried  : Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie, Wien-Köln-Weimar 2013, 624–628.  99 Hörmann (verheiratete Stingl), Mein Tagebuch, 26. Im April 1917 findet es Anna »rührend«, »wie manche Leute das Letzte geben, um dem Vaterlande zu helfen« (ebda., 65). In diesem Kontext zitiert sie eine Geschichte aus dem »Schutzengel«, einem katholischen, bayrischen Blatt, in welchem die Menschen ihr letztes Hab und Gut als Liebesgaben den Soldaten an der Front schicken. So gibt eine alte Frau, deren Mann 1870 gefallen war und deren Sohn jetzt an der Front ist, eine Uhr und einen Ring, den ihr Mann getragen hat, als »Liebesgaben«. Vgl. ebda., 65–68. Zu den »Liebesgaben« vgl. u. a. das Kapitel Hämmerle, Christa  : Habt Dank ihr Wiener Mädgelein… ›Liebesgaben‹ für die Soldaten, in  : Hämmerle, Heimat/Front (2014), 139–159. 100 Die Schule als bedeutsame Sozialisationsinstanz nahm bei der Mobilisierung der Kinder eine zentrale Rolle ein  : »In a vision of the war in which everyone must remain at their post, the child’s place was at their desk, as the woman’s was in the factory and the man’s at the front  ; school was the terrain, where the ›battles‹ of childhood were to be won  : diplomas and laurels, information and knowledge.« Pignot,

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Ordensschwestern Huberta und Monika eine Wanderung von Gösting nach Dult, wo sie anschließend in den Wäldern Pilze suchen  ;101 drei Körbe Habichtpilze sammeln die Kinder schließlich insgesamt und putzen sie anschließend. Bereits im Sommer 1916 hatte sie ihre Tante Pepi in Judendorf102 besucht und mit ihr einen Ausflug nach Schüsserlbrunn auf dem Hochlantsch gemacht.103 Besondere Erwähnung findet in Annas Tagebuch das so genannte Ehrenblatt  : »Dieses ist eine Tafel, auf welcher am Ende jeder Woche jene Kinder aufgeschrieben werden, welche sich in der ganzen Woche untadelhaft benommen hatten. Die allerbravste ist Schriftführerin, das heißt, sie darf die Namen aller Kinder, welche sich in der Woche untadelhaft benommen hatten, auf das Ehrenblatt schreiben.«104 Die Schriftführerin hat besondere Privilegien. Sie darf in der Woche nach ihrer Auszeichnung als Schriftführerin eine »Ehrenmedaille«, ein Glasperlenhalsband mit Medaille, tragen und das Stundengebet beten. In der zweiten Woche danach ist sie »Aufseherin« in den Zwischenpausen, und in der dritten Woche darf sie die Tintenfässer kontrollieren. Jeden Samstag wird das »Ehrenblatt« verlesen, und Anna ist sehr stolz, dass sich ihr Name immer auf dem »Ehrenblatt« befindet.105 Auch über den Lernstoff der Klasse berichtet sie und darüber, dass sie am Ende des Schuljahres die Bürgerschulprüfung machen muss.106 Zu Annas Alltag zählen insbesondere auch die Erfahrungen in der Schule der Barmherzigen Schwestern, detaillierte Beschreibungen des in den unterschiedlichen Unterrichtsfächern durchgenommenen Lernstoffes und schließlich auch die Zeugnisverteilungen.107 Im Dezember 1916 bekommt Anna ihr Zeugnis  ; sie ist eine sehr gute Schülerin  : »Vor acht Tagen haben wir das Zeugnis bekommen. Ich habe alles sehr gut, nur in Zeichnen befriedigend und in Gesang genügend.«108 Der Vater belohnt – trotz der finanziellen Notlage – ihre guten Noten mit Geld für ihre Sparkasse  : »Bei dieser Gelegenheit […] bekam meine Sparkasse wieder etwas, was jetzt allerdings sehr selten Children (2013), 34. Vgl. auch Audoin-Rouzeau, Stéphane  : Die mobilisierten Kinder  : Die Erziehung zum Krieg an französischen Schulen, in  : Hirschfeld/Krumeich/Renz, Enzyklopädie Erster Weltkrieg (2009), 151–174, sowie Hämmerle, Christa  : An der ›Schulfront‹. Kindheit – staatlich instrumentalisiert, in  : Stekl/Hämmerle/Bruckmüller, Kindheit und Schule im Ersten Weltkrieg (2015), 112–136. 101 Neben dem Gemüseanbau in Heimgärten und Innenhöfen sammelten insbesondere Frauen und Kinder während des Krieges im Grazer Umland Brennesseln, Sauerrampfer, Löwenzahl u. v. m., um die Nahrungsmittelknappheit und -not etwas abzumildern. Und auch das »Schwammerlsuchen erlebte eine Renaissance«, wie Stefanie Kahr in ihrer Diplomarbeit festhält. Kahr, »Zu den beklagenswertesten Begleiterscheinungen des Krieges gehört das Anstellen« (2020), 109. 102 Tante Pepi (Josefa oder Josefine) war eine Schwester von Anton Hörmann, Annas Vater (Auskunft von Brigitte Essler, Enkelin von Anna Hörmann). 103 Hörmann (verheiratete Stingl), Mein Tagebuch, 9. 104 Ebd., 12. 105 Vgl. ebda., 13. 106 Vgl. ebda. 107 Vgl. ebda., 20, 37, 48, 75–76. 108 Ebd., 37.

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Abb. 5: Abschlussklasse von Anna Hörmann.

ist. Vater hat mir nämlich versprochen für jedes ›sehr gut‹ 40 h zu geben. Da ich 11 Einser hatte bekam ich 4 K 40 h in d. Sparkasse. Jetzt ist es spät geworden und ich muss nun d. Zimmer von Vater einheizen und noch etwas bei meiner Nachtjacke nähen. Gute Nacht  ! mein Büchlein.«109 Als Anna im Geschichtsunterricht den Dreißigjährigen Krieg durchnimmt, vergleicht sie diesen mit dem Ersten Weltkrieg  : »Ach, wie schrecklich war es zu dieser Zeit  ! Und doch war es nichts gegen diesen Weltkrieg.«110 Ende Juni 1917 macht sie ihre Bürgerschulprüfung.111 Am letzten Tag vor der Prüfung untersagt ihnen die »liebe Schwester Sabina Kurz« noch etwas zu lernen, »denn dann komme einem alles durcheinander«112. Anna besteht mit Vorzug, auch wenn sie vor den Prüfungen am Nachmittag »fast ein bisschen Angst«113 hat. Ab Anfang Juli muss die noch nicht 14-Jährige im Geschäft helfen, denn die Mutter nimmt keine neue Kellnerin auf.114 Anna besucht schließlich einen Handelskurs. Zu109 Ebd., 37–38. Auch für das Halbjahreszeugnis Anfang März bekommt Anna vom Vater Geld für ihre guten Noten. Für zehn Einser wandern vier Kronen in ihre Sparkasse (vgl. ebda., 52). 110 Ebd., 43. 111 Vgl. ebda., 78. 112 Ebd., 80. 113 Ebd., 81. 114 Ebd., 83.

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nächst fühlt sie sich einsam, schon bald aber freundet sie sich mit einigen Mädchen an. Sie lernt  : »Maschinschreiben, Stenographie, Kalligraphie, Verrechnung, Buchhaltung, Wechsellehre, Rechnen, Rechtschreiben«.115 »Man könnte fast verzweifeln bei diesen Preisen. Aber hoffen wir, daß der Krieg bald ein Ende finde.«116

Das Tagebuch beginnt – wie in der Einleitung bereits dargelegt – mit Annas Beschreibung der Lebensmittelteuerung und -knappheit.117 Einschränkungen und Knappheit als Folge des andauernden Krieges betreffen aber nicht nur Lebensmittel, sondern auch andere Bereiche  :118 So dürfen zu Allerheiligen 1916 wie schon im Jahr zuvor, aufgrund des Mangels an »Fettstoffen« die Gräber nicht beleuchtet werden.119 Geschirr aus Kupfer oder Zinn muss ebenso wie ein Teil der Kirchenglocken abgeliefert werden und wird durch Gegenstände aus Stein oder billigen Eisenblechen ersetzt  :120 Alles was von Kupfer od. Zinn war, mußte dem Vaterland geopfert werden. Solche Dinge sind z. B. v. Kupfer  : Mörser, Wasserschiffe, Waschkessel, Einsiedepfannen  ; v. Zinn  : Zinnpfannen und überhaupt Zinngeschirr. Außerdem sind Zinn u. Kupfergeschirr alte Andenken von alten guten Zeiten. Freilich bekommt alles bezahlt und zw. für 1 kg Kupfer 3 K. Aber dieses Eisenblech, woraus jetzt die Kesseln sind, ist nichts wert. Wir mußten Zinnteller und Zinn […] hergeben. Außerdem viele Kupfersachen. Möge Gott geben, daß dieser schreckliche Krieg bald aus sein wird.121 115 Ebd., 103. 116 Ebd., 49. 117 Ab Ende 1916 spitzte sich die Versorgungslage für viele Bevölkerungskreise immer mehr zu. Schon im Herbst 1914 waren die Reserven an Lebensmittel und Bekleidung weitgehend aufgebraucht. Die Einfuhrblockaden der Alliierten und die Ausfuhrblockaden Ungarns für Getreide und Vieh verschärften die Lage. Schon 1915 mussten die wichtigsten Lebensmittel rationiert werden, im Mai 1915 zwei fleischlose Tage festgesetzt werden. Vgl. Hämmerle, »Diese Schatten…« (1993), 300–301  ; zur prekären Ernährungssituation in der Monarchie vgl. auch Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg (2013), 683–692 sowie im vgl. zu den anderen kriegsführenden Staaten Corni, Gustavo  : Hunger, in  : Hirschfeld/Krumeich/Renz, Enzyklopädie Erster Weltkrieg (2009), 565–566. 118 Im Hinblick auf die Verwaltungsbehörden spricht Martin Moll von einer »Strategie des ›Loch auf, Loch zu‹«. »Mobilisierung« meinte, so Moll, »die ständige Bereitstellung von Ressourcen, deren Requirierung im Hinterland eine Situation hervorrief, welche sogar die regionalen Behörden als existenzbedrohend einstuften. Demzufolge wird ›Mobilisierung‹ hier als permanenter Vorgang, nicht als Ergebnis verstanden. […] Jeder Ausweg behob bestenfalls die momentan dringlichsten Probleme, riss jedoch an anderer Stelle ein Loch auf.« Moll, »Heimatfront Steiermark« (2006), 184. 119 Vgl. Gräberbeleuchtung untersagt, in  : Grazer Volksblatt, 19.10.1916, Morgen-Ausgabe, 4. 120 Vgl. Hörmann (verheiratete Stingl), Mein Tagebuch, 21–22. Im November 1916 wurde ein österreichisches Amt für Volksernährung errichtet. Vgl. Errichtung eines österreichischen Amtes für Volksernährung, in  : Grazer Volksblatt, 14.11.1916, Morgen-Ausgabe, 1. 121 Hörmann (verheiratete Stingl), Mein Tagebuch, 22.

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Ende 1916 wird das Nickelgeld eingezogen und durch Eisengeld ersetzt.122 Der Jänner 1917 ist sehr kalt  : »Seit Jahren haben wir keine so strenge Kälte gehabt. Dazu bekommt man absofort [sic  !] keine Kohle. Der Bahnverkehr u. d. Elektrischenverkehr ist auch eingestellt und zwar wegen d. Kohlemangels. Sogar d. große Plattensee in Ungarn ist zugefroren.«123 Im Februar nimmt die Kälte ab, die Zimmer seien, so Anna, jetzt leichter zu heizen  : »Hoffentlich wird es nicht nocheinmal [sic  !] kalt.«124 Doch nicht nur die Lebensmittel werden immer teurer, sondern auch die Schulsachen – die Preise für Papier steigen stark  : »Man könnte fast verzweifeln bei diesen Preisen. Aber hoffen wir, daß der Krieg bald ein Ende finde.«125 Auch die Schuhe werden teurer  : Ihr Bruder Karl bekommt ein neues Paar, das 60 Kronen kostet.126 Anfang April 1917 ist es noch immer ziemlich kalt. Knoblauch, Karotten, Petersilie und Kohlrüben wurden zwar schon angepflanzt, aber Anna befürchtet, dass der Frost die Pflanzen zerstören und sie somit das Gemüse nicht ernten könnten.127 Ihre Eltern besitzen einen Garten, der im Mai schließlich einiges an Obst und Gemüse verspricht. Um Pfingsten 1917 thematisiert Anna die Lebensmittelknappheit, nachdem sich in den Monaten davor kaum Einträge dazu finden  : Jetzt ist wohl eine schreckliche Zeit  ! In einigen Tagen ist das Pfingstfest da. Wie manche wohl hätten gerne ein Stückchen Fleisch, um d. Pfingstfest zu feiern. Aber nichts ist zu bekommen. Weder ein Stückchen Fleisch, noch Mehl, noch irgend etwas anderes. Wie manche Mutter wird weinend bei etwas so teuer erstandenen Stückchen Fleisch stehen. Es ist wirklich traurig  ! 26. Mai. Heute standen einige hundert Menschen beim Selchmeister Baumgartner angestellt, um ¼ kg Schweinefleisch zu erhalten. Kaum die Hälfte erhielt etwas von dem kleinen Vorrate. Um zu verhindern, daß die Leute Brot backen, beschlagnahmte die Gemeinde die ganze Germ. Mehl bekommt man ja jede Woche so wenig zugewiesen, daß dieses schon in 2 Tagen weg ist. Wir haben vom Herrn Berger, einem Gastwirt aus Liebenau, einen Braten zugesprochen bekommen, diesen müssen wir beim Münzgraben holen. Auf der ›Ries‹ hat der Vater einen Kalbsschlögel erstanden. Da wir ein Gasthaus haben, so bekommen wir Mehl zugewiesen. Da hat die Mutter gesagt, sie werde d. Kriegskuchen versuchen. Zu diesem braucht man weder Eier noch Germ. […] Vater sagt immer, wir können glücklich sein, uns geht noch nichts ab, gegen das, was anderen Kindern abgeht.128

Annas Familie scheint in der glücklichen Lage zu sein, noch über hinreichend Lebensmittel zu verfügen und keinen Hunger leiden zu müssen.129 Doch nehmen im 122 Vgl. ebda., 42. 123 Ebd., 46. 124 Ebd., 48. 125 Ebd., 49. 126 Vgl. ebda., 50. 127 Vgl. ebda., 55. 128 Ebd., 73–74. 129 Dass die Lebensmittelknappheit und als Folge der Hunger nicht alle Bevölkerungsschichten in dem-

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letzten Abschnitt des Tagebuchs die Einträge zur Lebensmittelteuerung (von Anna als »Preistreiberei«130 bezeichnet), -knappheit sowie -kontrolle stark zu. »Will man Einsiedezucker haben, so muß man es bei d. Gastw.-Genossenschaft melden. Dann bekommt man eine Obstkarte. Dann kommt die Polizei nachschauen, ob man wirklich Obst zum Einsieden hat. Nach einem Monat bekommt man erst den Zucker.«131 Doch nicht nur um Lebensmittel müssen sich die Menschen anstellen, sondern unter anderem auch um Tabak und Seife.132 Der Zeuganzug für Bruder Karl kostet 100 Kronen, »schlechter, wie es jetzt ist, kann es kaum mehr werden«133, notiert Anna am 30. Juli 1917. Lebensmittel – unter anderem Tomaten, Gurken und Bohnschotten – bekommt ihre Familie aus dem eigenen Garten  ; auch auf der Alm wird gesammelt  – Erdbeeren, Himbeeren, Schwarzbeeren, Schwammerln und Kümmel, die vor Ort gegessen und/oder nach Hause mitgenommen werden.134 »Wir müssen nur auf Gott vertrauen«135

Ab dem zweiten Drittel des Tagebuches zeigt sich ein starkes Zunehmen religiöser Bezüge.136 Viele Tageseinträge schließen mit einem Bezug auf oder einen Appell an Gott, so auch jener am 21. November  : »Es sind also an allen Fronten (manch) kleinere od. größere Erfolge zu verzeichnen. Hoffentlich kommt bald der langersehnte Friede mit dem vollständigen Sieg. Wir müssen nur auf Gott vertrauen.«137 In der Zeitschrift »Die christliche Familie«, das als Organ des Katholischen Schulvereins galt, findet sich in der Kinderbeilage »Das gute Kind« die Frage  : »Mit welchen Waffen kämpft das Kind  ?« »Mit dem Gebet« lautete die in der Zeitschrift gegebene Antwort  : Denn »das Gebet ist eure Waffe.«138 Anna betet viel. Gerade der Appell an das Gottvertrauen nimmt in selben Maße traf, darauf weisen auch Hämmerle, »Diese Schatten…« (1993), 299, und Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg (2013), 683–692, hin. 130 Hörmann (verheiratete Stingl), Mein Tagebuch, 84. 131 Ebd. 132 Vgl. ebda., 87. 133 Ebd., 88. 134 Vgl. ebda., 93–94. 135 Ebd., 27. Zu den unterschiedlichen Sammelaktionen, an denen sich auch die Schulen beteiligten vgl. u. a. Nikic, Monika  : An der »Schulfront« – Kindheit und Schule im Ersten Weltkrieg, Phil. Dipl. Graz 2017. 136 Vgl. dazu u. a. Annette Becker  : Religion, in  : Hirschfeld/Krumeich/Renz, Enzyklopädie Erster Weltkrieg (2009), 192–197, Zitat 192  : »Die Spiritualität des Krieges muß im Kontext des ständigen Austausches zwischen Front und Heimat verstanden werden  : ein Hin- und Her von Munition und Verpflegung, aber auch von Propaganda und Liebe, religiöser und patriotischer Begeisterung, von Hoffnungen und Enttäuschungen, Tod und Trauer, männlichen und weiblichen Empfindungen.« 137 Hörmann (verheiratete Stingl), Mein Tagebuch, 27. 138 Vgl. dazu Hämmerle, »Diese Schatten…« (1993), 269. Hier bezieht sich Hämmerle auf Staudinger, Anton  : »Die Christliche Familie« im Krieg, in  : Amann, Klaus/Lengauer, Klaus (Hg.)  : Österreich und der Große Krieg 1914–1918 – Die andere Seite der Geschichte, Wien 1989, 113–121.

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Abb. 6: Rezept für den »Kriegskuchen«

ihren Eintragungen ab Ende 1916 eine immer zentralere Stelle ein. Anna tritt über ihr Tagebuch in einen Dialog mit Gott  ; so auch am 14. Dezember 1916  : Jetzt kommt die schöne Weihnachtszeit  ! Wie traurig wird es jetzt bei so vielen, ach, so vielen Familien sein  ! Alles ist jetzt so teuer, nichts bekommt man mehr zu kaufen. Das dritte Weihnachtsfest im Kriegsjahre. Ach  ! wird heuer der Friedensfürst, unser Erlöser, Gott und Heiland den Frieden bringen  ? […] Ein Ende machen dem schrecklichen Weltkriege  ? Ach, möge es doch sein  ! Wir müssen hoffen, auf Gott vertraun und beten  ! Ja, beten müssen wir, beten und Gott bestürmen mit Bitten um den Frieden. Unser Erlöser wird ja genannt, der ›Friedensfürst‹. Jetzt in der Adventzeit müssen wir zur Rorate gehen und ›wo die Not am größten, ist Gott am nächsten‹ sagt das Schriftwort. Also, hoffen wir  ! Gott wird uns helfen  !139

Das Weihnachtsfest 1916 feiert Anna wie schon im Jahr zuvor, wie sie festhält, für die Soldaten  : »Überall wird für d. Soldaten gesammelt. In unserer Schule wurde auch Geld eingesammelt. Unsere Klasse (7.) brachte allein 20 K zusammen, die ganze Schule 103 K.«140 Zu Hause putzt sie mit ihrem Bruder Karl den bis fast an die Decke reichenden Christbaum auf. Auch Geschenke gibt es  : für Anna ein Buch und ein Früchtebrot sowie von Schwester Agnes einen Schürzenstoff und ein »Häferl«.141 Ausführlich berichtet sie auch über den »Weißen Sonntag«, an dem die Kinder der dritten Klasse die Erstkommunion feiern. Sie darf an diesem Tag, wie auch schon im Jahr zuvor, als eine der ›Auserwählten‹ die Fahne des Heiligen Schutzengels tragen.142 Anna betet – wie bereits mehrfach erwähnt  – viel  : für den Frieden, den Sieg, die C-Tauglichkeit des Vaters, für Regen, für das Verschontwerden vom Hagel143 und für ihren Prüfungserfolg in der Schule144.

139 Hörmann (verheiratete Stingl), Mein Tagebuch, 40. 140 Ebd. 141 Vgl. ebda. 142 Vgl. ebda., 60–62. In der Nacht vom Weißen Sonntag auf den Montag werden um 2.00 Uhr Früh die Uhren aus Energiespargründen (weniger Petroleumverbrauch) um eine Stunde nach vor  – also auf Sommerzeit – gestellt. Vgl. ebda., 62–63. 143 Vgl. ebda., 79. 144 Vgl. ebda., 80  : »In 14 Tagen ist die Prüfung. Da heißt es fest wiederholen, um sie gut zu bestehen. Wir

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Zusammenfassende Schlussbemerkung Als Christa Hämmerle im Jahre 1993 das 24 Erinnerungstexte umfassende Buch »Kindheit im Ersten Weltkrieg« herausgab, hielt sie im Vorwort fest, dass sie am Beginn ihrer Beschäftigung mit den großteils in den 1980er-Jahren entstandenen, im »Dokumentationsarchiv lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen« in Wien gesammelten Erinnerungstexten davon ausgegangen wäre, dass der Erste Weltkrieg die Kinder maßgeblich geprägt habe und somit einen zentralen Ort und eine große Bedeutung im Rahmen der jeweiligen Lebenserinnerungen gehabt hätte. Doch sei dies überraschenderweise häufig nicht der Fall gewesen  : Manchen sehr dichten, inhaltsreichen Texten standen viele andere, auch auf die Jahre 1914 bis 1918 bezogene autobiographische Manuskripte gegenüber, in denen der Umstand des Krieges nur am Rande erwähnt, wie nebenbei in die Erzählung der Kindheit eingestreut und somit fragmentarischer Hintergrund bleibt oder aber gar nicht ausgeführt wird. Nicht kriegsbezogene Erinnerungen an die Schule, an Eltern und Geschwister, Spielen und Kinderarbeit, Feste, Wohnen, Kleidung, Essen und dergleichen stehen hier seitenlang im Vordergrund, ohne Rekurs auf den parallel verlaufenden Kriegszustand.145

Ganz anders verhält es sich bei Anna Hörmann, deren Tagebuch in der Kriegszeit und nicht als autobiographisches Manuskript in der Retrospektive mit einem Abstand von mehreren Jahrzehnten geschrieben wurde.146 Sie schildert chronologisch das Frontgeschehen sowie außen- und innerpolitische Themen sehr ausführlich, mehr als die Hälfte des gesamten Umfangs ist diesen Bereichen gewidmet. Denn sie habe sich nach eigenen Angaben, nie für den »typischen Jungmädchenkram« interessiert.147 Ihr Tagebuch zeugt von starkem, der offiziellen, u. a. auch in den Tageszeitungen transportierten Propaganda folgendem Patriotismus148 und tiefer Siegesgewissheit. Noch im Juli 1917 notiert sie  : »23. Juli. Morgen sind es drei Jahre, daß Österreich mit Serbien diesen fürchterlichen Weltkrieg begann. Hoffentlich nimmt er bald ein Ende. Gebe es Gott  ! Jetzt können wir noch zufrieden sein. Noch überall, an allen Kriegsschauplätsparen Geld zusammen, um hl. Messen für die armen Seelen im Fegefeuer lesen zu lassen, damit wir die Prüfung gut bestehen.« 145 Hämmerle, Christa  : Vorwort, in  : Hämmerle, Kindheit (1993), 7–28, hier 12. 146 Die von Christa Hämmerle veröffentlichten Texte stammten überwiegend aus den 1980er-Jahren. 147 Diese schriftlichen Hinweise gab Annas Tochter Anna Steitz dem Verein »Dokumentationsarchiv lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen«, als sie diesem das Tagebuch ihrer Mutter überließ. 148 Noch 1917 notiert sie  : »Wir können stolz sein, den edlen Namen einer Österreicherin zu tragen.« Hörmann (verheiratete Stingl), Mein Tagebuch, 56. Am 26.8.1917 zählt Anna die »größten österreichischen Feldherren auf  : Generalfeldmarschall Erzherzog Friedrich, Generalfeldmarschall Conrad v. Hötzendorf, Feldmarschall v. Köveß, Generaloberst v. Böhm-Ermolli, Generaloberst Erzherzog Josef, Feldmarschall Erzherzog Eugen, Generaloberst v. Boroevic, Generaloberst Kluck«. Ebd., 99.

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zen, ist Österreich mit seinen Verbündeten Sieger.«149 Von Erfolgen und Heldentaten österreich-ungarischer Armeen und Einheiten und deren Verbündeten liest man in den Eintragungen viel, Niederlagen finden kaum Erwähnung. Anna folgt hier also weitgehend der offiziellen Berichterstattung über den Krieg und dessen Verlauf  ; Kritik daran wird nicht laut, auch wenn die Friedenssehnsucht im zweiten Teil des vorliegenden Tagebuches stark spürbar wird. Erst im Oktober 1917 gibt sie kurz vor der 12. Isonzoschlacht der Hoffnung Ausdruck, dass diese Offensive »nicht wieder so unnütz viel Blut« fordert, und hinterfragt damit zum ersten Mal ›leise‹ die hohen Verluste der Kriegsführung. Ihre Verehrung des Kaiserhauses und ihre Beziehung zu Gott, dem sie immer wieder ihr Vertrauen ausspricht und von dem sie sich Hilfe erhofft, sind in ihren Aufzeichnungen ebenfalls deutlich greifbar. Das Vaterland wird dabei, wie Hämmerle festhält, »im ›Vater Kaiser‹ verkörpert«150. Trotz ihrer bisweilen stark zum Ausdruck kommenden Friedenssehnsucht wird der Krieg als Durchsetzung von Gerechtigkeit nicht in Frage gestellt, sondern letztlich auch  – wie im zeitgenössischen offiziellen politischen Diskurs – legitimiert und nicht zuletzt religiös gerechtfertigt. Anna studiert offensichtlich sehr ausgiebig die Tageszeitungen. Zwei Hinweise dafür gibt sie selbst im letzten Abschnitt ihres Tagebuches, den ersten am 27. Oktober 1917  : »Bin schon begierig, was die morgigen Zeitungen bringen werden, ich kann es kaum erwarten.«151 Der zweite Hinweis findet sich am 29. Oktober  : »Die Montagzeitung brachte heute ausführlichen Bericht.«152 Insofern veranschaulicht das Tagebuch eindrucksvoll die Interdependenzbeziehungen zwischen den Akteur:innen auf der Mikroebene und den intermediären Instanzen wie Zeitungen und Schulen auf der Mesoebene, die wiederum gerade in Kriegszeiten eng mit der Makroebene des politischen Systems, hier der Habsburgermonarchie, verflochten sind. Darstellungen des Frontgeschehens und des Alltags im Hinterland stehen im Tagebuch nebeneinander. So finden die Feier anlässlich Annas Namenstags, die »trotz Kriegszeit ganz festlich« begangen wird,153 die starken Lebensmittelteuerungen, die Eroberung von Czernowitz, das hoffentlich »ganz österreichisch«154 bleiben werde, und ein Ausflug auf die Teichalm, der ausführlich dargestellt wird und dessen Kosten detailliert aufgeschlüsselt werden, nacheinander im Tagebuch Erwähnung155. Wir erfahren daraus einiges über den Alltag einer Schülerin in Graz während des Ersten Weltkriegs, und zwar aus einer katholisch-bürgerlichen und insofern ›privilegierten

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Ebd., 89. Hämmerle, »Diese Schatten…« (1993), 269. Ebd., 107–108. Ebd., 106. Anna bekommt vom Vater ein Perlmutter-Taschenmesser mit Schere und von der Mutter einen Stoff für ein Dirndl. Sie schenkt der Mutter wiederum eine selbstgestrickte Decke. 154 Ebd., 90. 155 Vgl. ebda., 90–93.

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Perspektive‹, als ihre Familie noch über Lebensmittel verfügt und die dringlichsten Anschaffungen tätigen kann. Auch ist der Vater zu Hause bei seiner Familie. 100  Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs berichtete eine seiner wenigen noch lebenden Zeitzeug:innen, die 1908 in Berlin geborene Gertrud Dyck, in einem Interview, das sie der »Süddeutschen Zeitung« gab, über ihre zentralen Kriegserfahrungen  : die Geschichten, die Kriegsflüchtlinge aus dem Osten erzählten  ; das Wohnen von fremden Menschen in der eigenen Wohnung, da die Mutter aus Geldnot Zimmer vermietet hatte  ; den ständig präsenten Hunger, insbesondere im letzten Kriegsjahr  ; die Kälte in der Wohnung, die die Mutter durch Manipulation des Gaszählers abzumildern suchte  ; und die ständige Sorge um den Vater an der Front, dessen Briefe die Zurückgebliebenen »sehnlichst« erwarteten.156 Im Vergleich dazu geht es Anna gut – sie hat ihre Familie um sich, kann die Schule und dann einen Handelskurs besuchen und muss nicht Hunger leiden. Verständnis für die in ihrem Tagebuch angesprochenen Teilnehmer:innen der Hungerrevolten zeigt sie nicht. Vielmehr sieht sie diese als eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und letztlich auch für den Besitz – in ihrem Fall das Gasthaus der Eltern. Für sie sind die Protestierenden die »inneren Feinde« und nicht durch den Krieg in Not geratene und verzweifelte Menschen. Sie folgt also auch in ihrer Darstellung der innenpolitischen Ereignisse und Problemlagen weitgehend der vom System eingeforderten Haltung. Zahlreiche Belege finden sich auch für die patriotischnationale Mobilisierung breiter Bevölkerungsschichten und unterschiedlicher Alterskohorten. Die Kinder und Jugendlichen sammeln und beten für den Krieg. Während die Soldaten an der Front kämpfen und im Hinterland die nicht eingezogenen Männer und die Frauen ihre »Pflicht« erfüllen, ist es Aufgabe der Kinder und Jugendlichen, in der Schule ihr Bestes zu geben. Die Schule ist der Ort, wo die Kinder ihren »Kriegsbeitrag« leisten. Und Anna ist eine brave Schülerin, wie unter anderem die Episode vom »Ehrenblatt« deutlich macht. Das Tagebuch zeigt deutlich, wie die durch die unterschiedlichen Sozialisationsinstanzen wie beispielsweise die Schule oder Medien (Zeitungen) transportierten Normen und Werte in den Erzählungen der Akteurin ihren Niederschlag finden. Ein typisches Mädchentagebuch ist es jedoch nicht. Über Annas »Innenleben«, über die Gefühlswelt, die Wünsche und Sehnsüchte einer 13-Jährigen erfahren wir wenig. Das Schulleben, die Lebensmittelknappheit und -teuerung sowie Ausflüge in den Ferien sind für sie die zentralen Themen des Grazer Alltags. Das Tagebuch liefert durch seine »Unmittelbarkeit« wichtige Einblicke in den Alltag von Kindern im Krieg und dessen Analyse zeigt auf, wie fruchtbar die Beschäftigung mit dieser Form von Quelle sein 156 Vgl. Günther, Anna  : Was die Schülerin Trudl vom Ersten Weltkrieg mitbekam, in  : Süddeutsche.de, 4.1.2014 (http://www.sueddeutsche.de/politik/-jaehrige-zeitzeugin-was-schuelerin-trudl-vom-erstenweltkrieg-mitbekam-1.1853080  ; download 6.3.2014.). Eine Mieterin habe – traumatisiert vom Krieg – immer im Schlaf geschrien, ein »Mann aus dem Polnischen« sei durch seine ungewohnten Essgewohnheiten – Leberwurstbrote mit Marmelade – aufgefallen. Vgl. ebda., 2–3.

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kann. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit weiteren Zeugnissen von Kindern und Jugendlichen aus unterschiedlichen Milieus wie beispielsweise von Schulaufsätzen157 kann darüber hinaus wichtige Einblicke in die Lebenswelt von Kindern im Krieg im Allgemeinen und im Ersten Weltkrieg im Speziellen liefern und weitere Differenzierungen und Perspektivierungen ermöglichen. Dieser Beitrag versteht sich als ein Schritt in diese Richtung.

157 So analysierte beispielweise Monika Nikic Schulaufsätze der Kaiser Franz-Joseph-Bürgerschule in Graz  : Nikic, An der »Schulfront« (2017) und Verena Gruber Aufsatzthemen und Maturaarbeiten an Tiroler Gymnasien  : Gruber, Verena  : Versuche ideologischer Beeinflussung – Aufsatzthemen und Maturaarbeiten an Tiroler Gymnasien, in  : Stekl/Hämmerle/Bruckmüller, Kindheit und Schule im Ersten Weltkrieg (2015), 180–204.

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Kampf gegen den Hunger Initiativen zur Behebung des Lebensmittelmangels in der Steiermark 1914–1918 Einleitung und Problemaufriss Unter den Ursachen, die  – neben den militärischen Rückschlägen seit Mitte 1918  – zum Zusammenbruch der »Heimatfront« in Österreich-Ungarn und zum Zerfall des Staates führten, steht der bereits 1914 bemerkbare und sich ständig verschärfende Lebensmittelmangel an oberster Stelle. Diesem schon zeitgenössisch erkennbaren Befund entspricht, dass dem Phänomen von der Zwischenkriegszeit an bis heute seitens der Forschung große Aufmerksamkeit zuteilwurde.1 Im Zentrum standen dabei die Ursachen der in Österreich-Ungarn, einem bis 1914 auf dem Ernährungssektor weitgehend autarken Staat, verglichen mit anderen kriegführenden Ländern besonders schlimmen Misere und deren politisch-soziale Auswirkungen, weniger die – anscheinend erfolglosen – Bemühungen, den Mangel zu lindern. Doch auch solche gescheiterten Anläufe sind der näheren Betrachtung wert, ist doch anzunehmen, dass ohne sie der Hunger noch dramatischer ausgefallen und der Zusammenbruch daher früher eingetreten wäre. Daneben verrät die Beurteilung von Rationalität und/oder Irrationalität der Lösungsversuche viel über die Effizienz des politisch-administrativen Systems Altösterreichs, auf dessen Legitimität in den Augen der Bevölkerung die getroffenen (oder unterlassenen) Maßnahmen direkt zurückwirkten. Fragen wie diesen soll im Folgenden anhand einer Fallstudie für das Kronland Steiermark nachgegangen werden.2 Individuelle Strategien der Bevölkerung, dem Mangel abzuhelfen (insbesondere 1 Zuerst Löwenfeld-Russ, Hans  : Die Regelung der Volksernährung im Kriege, Wien 1926. Überblick bei Rauchensteiner, Manfried  : Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918, Wien-Köln-Weimar 2013. Monographisch Haselsteiner, Horst  : The Habsburg Empire in World War I  : Mobilization of Food Supplies, in  : Király, Béla K./Dreisziger, Nándor F. (Hg.)  : East Central European Society in World War I (War and Society in East Central Europe XIX), New York 1985, 87–102  ; Healy, Maureen  : Vienna and the Fall of the Habsburg Empire. Total War and Everyday Life in World War I (Studies in the Social and Cultural History of Modern Warfare 17), Cambridge 2004. 2 Als Überblicke zur Steiermark  : Karner, Stefan  : Die Steiermark im 20. Jahrhundert. Politik – Wirtschaft – Gesellschaft  – Kultur, Graz-Wien-Köln 2000  ; Moll, Martin  : Die deutschsprachige und slowenische Historiographie zur Steiermark im Ersten Weltkrieg, in  : Überegger, Oswald (Hg.)  : Zwischen Nation und Region. Weltkriegsforschung im interregionalen Vergleich. Ergebnisse und Perspektiven (Tirol im Ersten Weltkrieg 4), Innsbruck 2004, 179–196  ; Moll, Martin  : »Heimatfront Steiermark«. Ein gemischtsprachiges Kronland im ersten »totalen Krieg«, in  : Kuprian, Hermann J.W./Überegger, Oswald (Hg.)  : Der Erste Weltkrieg im Alpenraum. Erfahrung, Deutung, Erinnerung (Veröffentlichungen des Südtiroler

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durch Schwarzhandel und Hamsterfahrten) werden nicht bzw. nur am Rande behandelt  ; Gleiches gilt für die staatlichen Bestrebungen, die durch leere Mägen verursachte, erhebliche Konfliktbereitschaft der Bevölkerung einzudämmen.3 Allerdings werden auch die seitens der Betroffenen gegen die von oben angeordneten Lösungen praktizierten Widerstände thematisiert.

Die Ausgangslage: Die steirische Landwirtschaft im Sommer 1914 Obwohl in der Steiermark unmittelbar vor Kriegsbeginn mit rund 57 % aller Erwerbstätigen noch ein erheblicher Teil der rund 1,45 Millionen Köpfe zählenden Bevölkerung in der Land- und Forstwirtschaft beschäftigt war, war die Steiermark als eines der industriellen Zentren der Habsburgermonarchie bereits in Friedenszeiten auf Lebensmittelzufuhren angewiesen, um die Lücke zwischen der eigenen Erzeugung und dem Verbrauch zu schließen  ; zu einem erheblichen Teil kamen diese Lieferungen aus der ungarischen Reichshälfte. Um welche bedeutenden Mengen es sich hierbei handelte, ist aus dem Umstand zu ersehen, dass vor 1914 die Getreideproduktion des Landes den Bedarf nur etwa zur Hälfte deckte, sodass pro Jahr rund eine Million Meterzentner Mehl zugekauft werden musste.4 Günstiger gestaltete sich die Viehzucht, bei der die Steiermark einen relativ hohen Grad an Eigenversorgung aufwies. Doch erwies sich dies im Krieg eher als Nachteil denn als Vorteil, weil gerade gut versorgten Kronländern die höchsten Ablieferungen zwecks Deckung des Fleischbedarfs der Armee aufLandesarchivs 23), Innsbruck 2006, 181–196  ; Moll, Martin  : Mobilisierung für den totalen Krieg. »Heimatfront« Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg am Beispiel der Steiermark, in  : Dornik, Wolfram/ Gießauf, Johannes/Iber, Walter (Hg.)  : Krieg und Wirtschaft. Von der Antike bis ins 21.  Jahrhundert, Innsbruck-Wien-Bozen 2010, 443–460  ; Moll, Martin  : Die Steiermark im Ersten Weltkrieg. Der Kampf des Hinterlandes ums Überleben 1914–1918 (Veröffentlichungen der Historischen Landeskommission für Steiermark 43), Wien-Graz-Klagenfurt 2014  ; Mittermüller, Franz  : »Ein Volk von Bettlern«. Die Wirtschaft der Steiermark zwischen Staatsdirigismus und Neubeginn, in  : Riegler, Josef (Hg.)  : November 1918. Die Steiermark zwischen Monarchie und Republik, Graz 2008, 101–133  ; Hammer-Luza, Elke  : Kriegsbrot, Volksschuhe und Wärmestuben. Der steirische Alltag im Jahre 1918, in  : ebda., 135–157. 3 Vielfältiges, überwiegend aus der Steiermark stammendes Quellenmaterial hierzu in  : Neck, Rudolf (Hg.)  : Arbeiterschaft und Staat im Ersten Weltkrieg 1914–1918. A. Quellen. I. Der Staat. 1. Vom Kriegsbeginn bis zum Prozeß Friedrich Adlers, August 1914–Mai 1917 (Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft für Geschichte der Arbeiterbewegung in Österreich 3), Wien 1964  ; Neck, Rudolf (Hg.)  : Arbeiterschaft und Staat im Ersten Weltkrieg 1914–1918. A. Quellen. I. Der Staat. 2. Vom Juni 1917 bis zum Ende der Donaumonarchie im November 1918 (Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft für Geschichte der Arbeiterbewegung in Österreich 4), Wien 1968. 4 Hansak, Peter  : Die steirische Landwirtschaft im I. Weltkrieg und in den Nachkriegswirren, 1914–1920, Phil. Dipl. Graz 1989, 5  ; Hansak, Peter  : Die steirische Landwirtschaft 1914–1920, in  : Blätter für Heimatkunde, Jg. 65 (1991), 20–26  ; Weber, Franz Christian  : »Wir wollen nicht hilflos zu Grunde gehen  !« Zur Ernährungskrise der Steiermark im Ersten Weltkrieg und ihren politisch-sozialen Auswirkungen, in  : Blätter für Heimatkunde, Jg. 74 (2000), 96–131, hier 100.

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erlegt wurden. Die Reduzierung des Viehbestandes löste negative Folgewirkungen aus, da sie den bestehenden Mangel an Zugtieren und Naturdünger (für den nur unzureichender Ersatz durch Kunstdünger zur Verfügung stand) verschärfte und dadurch die Erträge des Ackerbaus senkte. Hinzu kam, dass vorrangig die für die Kriegsproduktion am ehesten entbehrlichen Arbeitskräfte der Land- und Forstwirtschaft von Einziehungen zum Militär betroffen waren, was per se zu einem Rückgang der Produktion führen musste, da die männlichen Arbeitskräfte nur zum Teil durch Frauen, Jugendliche und Kriegsgefangene ersetzt werden konnten. Ein Blick auf die – teilweise rasch, teilweise erst im weiteren Kriegsverlauf – spürbaren Auswirkungen aller dieser ungünstigen Faktoren ergibt den überraschenden Befund, dass sich erste unübersehbare Vorboten der Lebensmittelmisere bereits rund um den Kriegsausbruch, ja teilweise schon während der Juli-Krise 1914 bemerkbar machten. Bereits im Juli kam es auf den Grazer Getreidemärkten zu einem fühlbaren Preisanstieg, besonders beim Hafer, was sich durch die Erwartung eines bevorstehenden Krieges bzw. durch Hamsterkäufe erklären lässt.5 Derlei Tendenzen, die bald auch den Viehmarkt erfassten, sollten sich bis Kriegsende weiter steigern. Hier interessiert dieses Phänomen insofern, als die Behörden nicht nur mit der Aufbringung und Verteilung der benötigten Nahrungsmittel alle Hände voll zu tun hatten, sondern ihnen zusätzlich die Preisentwicklung Sorge bereiten musste, da sich ein immer größerer Teil der Bevölkerung die ihm zustehenden Rationen nicht mehr leisten konnte, es folglich amtlicher Eingriffe in die durch große Nachfrage und geringes Angebot bestimmte Gestaltung der Verbraucherpreise bedurfte, um zu verhindern, dass die Agrarpreise zu einem primären Antriebsfaktor einer drohenden bzw. auftretenden Inflation wurden. Ebenso bemerkenswert sind die bereits im August 1914 artikulierten Klagen über ausbleibende Lieferungen vertraglich zugesagter, ja teilweise bereits bezahlter Lebensmittel aus Ungarn sowie über die enorm gestiegenen Anforderungen seitens der Armee.6 Parallel zum Rückgang an verfügbaren Nahrungsmitteln stieg allerdings im Kronland die Zahl der zu füllenden Mägen durch Einquartierungen großer Truppenverbände, die Errichtung von Lazaretten sowie den Bau großer Kriegsgefangenen-, Flüchtlings- bzw. Interniertenlager. Es kann vor diesem besorgniserregenden Hintergrund nicht verwundern, dass die Landesbehörden – bis dahin an eine funktionierende Verwaltung gewöhnt – anfangs ihr Heil im Verfassen offizieller Berichte, Beschwerden und Wunschkataloge erblickten. Von unten nach oben – von den Kommunen zu den Bezirkshauptmannschaften (BHs), von da an die Statthalterei in Graz und weiter zu den Zentralstellen in Wien – ergoss sich seit dem Sommer 1914 eine Flut einschlägiger Schreiben, deren Verfasser – noch – auf eine Abstellung der aufgezeigten Übelstände 5 Vgl. Hansak, Landwirtschaft (1989), 14–18. 6 Z. B. Österreichisches Staatsarchiv Wien (ÖStA), Allgemeines Verwaltungsarchiv (AVA), MdI Präsidiale 11/6, Karton 1579, Akt 10.799/1914, Vermerk k. k. Ministerium des Innern (MdI), 24.8.1914. Der Stadtrat Marburg berichtete, die dortigen Getreide- und Mehlvorräte seien »vollkommen erschöpft«.

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hofften. Am Inhalt sollte sich bis Kriegsende nichts ändern (abgesehen von dem immer mehr um sich greifenden pessimistischen Ton), wohl aber am Vertrauen der Absender auf Hilfe von oben.

Frühe Initiativen zur Sicherung der Lebensmittelversorgung Die Desillusionierung, welche die steirischen Behörden aller Ebenen schon kurz nach Kriegsausbruch erfasste, löste vielfältige Initiativen aus, der Probleme mit eigenen Mitteln Herr zu werden, da Hilfe von auswärts ausblieb.7 Selbstredend gab es daneben Ideen oder sogar Anordnungen aus Wien, bei deren Umsetzung den Landesbehörden jedoch an möglichster Berücksichtigung steirischer Belange gelegen war. Eine strikte Trennung steirischer und gesamtösterreichischer Maßnahmen ist daher unmöglich, vielmehr ist nach der charakteristischen, sich im Zeitablauf wandelnden Verzahnung beider Bereiche zu fragen. Besonders deutlich wird diese Verschränkung in dem Umstand, dass die Statthalterei erfolgreich bestrebt war, von den in Wien gebildeten, wild wuchernden Erfassungs- und Verwertungsgesellschaften bzw. -zentralen (nicht nur) für Lebensmittel entsprechende Filialen in der Steiermark zu errichten, welche sie mit von ihr ausgewähltem, loyalem Personal besetzte, auf das der Statthalter, Manfred Graf Clary-Aldringen, Einfluss nehmen konnte.8 Unter den ersten derartigen Filialen befand sich jene der »Österreichischen Vieh- und Fleischverkehrsgesellschaft«, die das durch im Land umherziehende Viehaufkäufer der Armee verursachte Chaos bei der Schlachtviehaufbringung eindämmen sollte.9 Theoretisch standen zur Linderung, wenn nicht Behebung des Lebensmittelmangels verschiedene Strategien zur Verfügung, die sich nicht gegenseitig ausschlossen, sondern kumulativ eingesetzt werden konnten. Ein Dauerthema den ganzen Krieg hindurch blieben die Versuche der Regierung Cisleithaniens, vom versorgungsmäßig besser dastehenden Ungarn höhere Lieferungen zu erwirken. Trotz verzweifelter Appelle aus Wien sträubte sich die Regierung in Budapest hartnäckig dagegen, zusätzliche Verpflichtungen zu übernehmen  ; erst in der letzten Kriegsphase willigte sie ein, mehr zur Versorgung der Armee beizutragen, was indirekt die Belastung Cisleithaniens reduzierte.10 Als Wunschvorstellungen erwiesen sich in den letzten beiden Kriegsjah  7 Umfangreiche Akten hierzu in  : Steiermärkisches Landesarchiv Graz (StLA), Statthalter-Korrespondenz (Statth.-Korr.) 1915 A-C.   8 Hierzu Dornik, Wolfram  : Verwaltung des Mangels. Die österreichisch(-ungarisch)en Kriegszentralen 1914–1918, in  : Schöpfer, Gerald/Stelzl-Marx, Barbara (Hg.)  : Wirtschaft. Macht. Geschichte. Brüche und Kontinuitäten im 20. Jahrhundert. Festschrift Stefan Karner (Unserer Zeit Geschichte 9), Graz 2012, 261–274.   9 Vgl. Hansak, Landwirtschaft (1989), 20. 10 Vgl. Fussek, Alexander  : Die Lebensmittelsorgen der österreichischen Reichshälfte in den ersten Weltkriegsjahren, in  : Österreich in Geschichte und Literatur, Jg. 9 (1965), 119–125.

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ren die hochgesteckten Erwartungen, die Misere durch Lieferungen aus militärisch kontrollierten, agrarischen Überschussgebieten (Ukraine, Serbien und Rumänien) zu beheben.11 Daneben gab es bescheidene Möglichkeiten, beim deutschen Verbündeten und bei den wenigen neutralen Staaten, mit denen Handelsverbindungen fortbestanden, Nahrungsmittel zu erwerben. Kontakte zum Ausland wurden in der Regel durch die Wiener Zentralstellen abgewickelt, es gab aber steirische Initiativen, oft von international tätigen Kaufleuten ins Spiel gebracht, sich da oder dort bietende Kaufgelegenheiten zu nützen, was häufig an bürokratischen Hindernissen oder dem Fehlen der zur Bezahlung der Waren benötigten Devisen scheiterte. Ankaufskommissionen, welche die Grazer Statthalterei in andere Reichsteile oder in besetzte Gebiete entsandte, kehrten regelmäßig mit leeren Händen zurück. So kam nur mehr eine Steigerung der Inlandsproduktion, gekoppelt mit deren effizienterer Erfassung (was auch Maßnahmen gegen die explodierende Zahl von Flurdiebstählen bedeutete)12, in Betracht. Hierfür boten sich mehrere, parallel einsetzbare Strategien an. Noch am wenigsten Hindernissen begegneten Appelle, die Anbauflächen auszuweiten, sei es bei den Bauernhöfen selbst oder durch die Umwandlung bisheriger städtischer oder privater Grünflächen. Auf Letzteren sollte – neben der Haltung von Geflügel oder Kaninchen  – Gemüse angebaut werden, was auf kleinen Flächen mit geringem Aufwand möglich ist.13 Im Frühjahr 1915 setzte hierfür in der Steiermark eine intensive Werbekampagne ein, bei der Interessenten sachdienliche Ratschläge von Agrarexperten einholen konnten. Trotz erheblichen Aufwands blieben die Resultate bescheiden, woran neben dem Saatgutmangel der geringe Kalorienertrag von Gemüse die Hauptschuld trug.14 Selbstredend sollte ebenfalls verhindert werden, dass landwirtschaftliche Flächen verloren gingen, indem sie verkauft und seitens der neuen Eigentümer anderweitig verwendet wurden. Bei den 68 die Grundbücher führenden Bezirksgerichten der Steiermark wurden sogenannte wirtschaftliche Hilfsbüros eingerichtet, welche die zum Verkauf stehenden Agrarflächen einer »Vermittlungsstelle für Verkäufe landwirtschaftlicher Liegenschaften bei der k. k. Statthalterei« zu melden hatten. Diese bemühte sich dann, Bauern oder Bäuerinnen (und nicht etwa an der Jagd Interessierte) als Käufer zu gewinnen.15 Wegen der von den Landwirtschaft Betreibenden für ihre Produkte erzielten Höchstpreise und wegen der in Kriegszeiten typischen Flucht in Sachwerte 11 Hierzu Scheer, Tamara  : Zwischen Front und Heimat. Österreich-Ungarns Militärverwaltungen im Ersten Weltkrieg, Frankfurt/Main 2009. 12 Als Beispiel  : StLA, Bezirkshauptmannschaft (BH) Voitsberg J-L, N, O, S, U, V 1915, Karton 249, Akt I 21.662/1915, Kriminalitätsstatistiken des Bezirks Voitsberg, 1915–1918. 13 Siehe etwa StLA, Statthalterei-Präsidium (Statth. Präs.) A 5 b Zahl (Zl.) 2869/1916, Statthalterei Graz an Verein der Hausbesitzer in Graz, 6.9.1916. 14 Vgl. Hansak, Landwirtschaft (1989), 36. 15 Vgl. ebda., 33.

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lagen günstige Rahmenbedingungen vor, wenngleich es den häufig Kriegsdienst leistenden Bauern schwerfiel, derart weitreichende Entscheidungen zu treffen, und die zurückgebliebenen Frauen ohne das Plazet ihrer Männer nicht handeln mochten.

Die Bereitstellung von Arbeitskräften, Zugtieren und Dünger Mit Nachdruck kämpfte die Statthalterei darum, die erforderlichen Arbeitskräfte aufzubringen  – sei es durch Bitten um vermehrte Heranziehung von Kriegsgefangenen oder von einsatzfähigen, unbeschäftigten Insassen der diversen Lager  : Im Juni 1915 teilte die Statthalterei dem k. k. Innenministerium mit, im Flüchtlingslager Wagna bei Leibnitz befänden sich rund 1.000 landwirtschaftliche Arbeitskräfte, die alle Anwerbungsversuche mit »Unlust« quittierten, da sie auf eine baldige Rückkehr in ihre Heimat hofften. Die Lagerverwaltung möge verlautbaren, dass derlei Hoffnungen nicht aktuell seien  ; jene Insassen, die zur Arbeitsverweigerung aufhetzten, sollten »strengste Zwangsmaßregeln« zu gewärtigen haben.16 Andere Zielgruppen wurden sanfter angesprochen  : Es gab wortreiche Appelle an Schulkinder höherer Klassen, sich während der Sommerferien freiwillig zu landwirtschaftlichen Arbeiten zu melden17  ; außerhalb der Ferien erhielten diese jugendlichen Erntehelfer ab 1916 durch den Landesschulrat schulfrei. Unter der Aufsicht ihrer Lehrkräfte, die damit zu wichtigen Kommunikatoren mutierten, allerdings selbst einer sachkundigen Anleitung bedurften, schwärmten Schüler und Schülerinnen in Wald und Flur aus, wo sie allerlei Essbares oder als Viehfutter Verwertbares wie Pilze, Bucheckern, Eicheln, Brennnesseln, Maikäfer, Flechten, Laub u. a. einsammeln sollten. Der Steiermärkische Landesschulrat entwarf ein Programm, das übersichtlich erläuterte, welche Früchte zu welcher Jahreszeit gesammelt werden sollten  ; die Schulkinder waren damit von Mai bis Oktober, also die Hälfte des Jahres, beschäftigt.18 Schulkinder, als eines der wenigen verfügbaren Menschenreservoirs inmitten der bis aufs Äußerste angespannten Personalressourcen, wurden zudem für unzählige, nicht-landwirtschaftliche Sammel- und Mobilisierungsaktionen herangezogen, sodass die entsprechenden Bemühungen bald an ihre Grenzen stießen – sieht man einmal vom Unmut der Eltern ab, die es keineswegs goutierten, dass ihre Kinder mehr Zeit auf den Feldern als in den Klassenräumen verbrachten. Obendrein stellte sich bald heraus, was ohnedies zu erwarten gewesen war  : Der städtischen Schuljugend war die Landwirtschaft fremd und 16 ÖStA, AVA, MdI Allgem. 19 in gen., Karton 1935, Akt 32.226/1915, Aktennotiz über telefonische Mitteilung der Statthalterei Graz, 22.6.1915. 17 StLA, BH Voitsberg Gruppe 3 1914, Steiermärkischer Landesschulrat an BHs und Stadträte Marburg, Cilli und Pettau, 4.8.1914, mit anliegendem Plakat »Aufruf an die Schuljugend«, o. D. 18 Verordnungsblatt für das Schulwesen im Herzogtume Steiermark Nr.  12 (1916), 77. Vgl. Weber, Wir (2000), 100.

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sie bewies folglich beim Arbeitseinsatz eine wenig glückliche Hand, sehr zum Missfallen der Bauern und Bäuerinnen.19 Als landwirtschaftliche Arbeitskräfte besonders begehrt waren die meist jungen und kräftigen Soldaten  ; dies galt sowohl für die im Hinterland stationierten eigenen Truppen (etwa Ersatz- und Ausbildungseinheiten), für die arbeitsfähigen Rekonvaleszenten und erst recht für die an der Front stehenden Bauern und Knechte, denen die Heeresführung während der Anbau- und Erntesaison einen maximal zweiwöchigen Sonderurlaub bewilligen konnte und – ausweislich der ständigen Bitten der Statthalterei – mehr als zuvor gewähren sollte. Gleiches galt für den nach Meinung der steirischen Arbeitseinsatz- bzw. Landwirtschaftsbehörden zu restriktiv gehandhabten Einsatz der Kriegsgefangenen.20 Das für sie zuständige Kriegsministerium sorgte sich wegen der praktisch unmöglich werdenden Bewachung der Gefangenen, wenn diese wie gewünscht in Kleingruppen auf die ländlichen Gemeinden, ja die einzelnen Höfe verteilt würden. Wie komplett abweichend die Statthalterei die Gefahrenlage beurteilte, erhellt daraus, dass sie die kontinuierlich einlaufenden Warnungen des Kriegsministeriums vor einer angeblich bevorstehenden Massenflucht unbearbeitet archivierte  ; man nahm derlei nicht ernst. Am zurückhaltendsten waren alle involvierten Stellen bei der zeitweise angedachten Heranziehung von Frauen aus städtischen Gebieten zu Hilfsdiensten in der Landwirtschaft  ; entsprechende Planungen kamen über die Registrierung der geeigneten Personen, die zwangsweise herangezogen werden sollten, nicht hinaus.21 Abzuhelfen galt es auch dem Mangel an Zugtieren (Traktoren spielten damals keine Rolle), insbesondere an Pferden, die in großer Zahl von der für Transporte auf Pferdegespanne angewiesenen Armee requiriert wurden  ; der Pferdebestand in der Steiermark ging zwischen 1914 und 1916 auf rund zwei Drittel zurück und erholte sich danach nur langsam. Selbst die noch bei den landwirtschaftlichen Betrieben verbliebenen Pferde wurden von der Armee ständig zu Vorspannleistungen herangezogen, was ausweislich zahlloser Klagen, denen sich die Statthalterei anschloss, die Felderbestellung gefährdete.22 Nur widerwillig schritt die landwirtschaftliche Bevölkerung zur Selbsthilfe, indem sie auf Kühe oder Ochsen zurückgriff. Vielmehr musste die Statthalterei durch wiederholte Hinweise in Agrarzeitschriften auf diese naheliegende Abhilfe drängen, zumal viele befürchteten, die für Gespannzwecke verwendeten Kühe würden weniger Milch liefern – eine unbegründete Sorge, die der Landbevölkerung nur schwer auszureden war. Man darf ferner bezweifeln, ob das in hohen Auflagen vertriebene Belehrungsschrifttum von den Adressaten überhaupt gelesen wurde. Erfolgreicher 19 Vgl. etwa StLA, Statth.-Korr. 1918 H, Landtagsabgeordneter Franz Hagenhofer an Ministerpräsident Karl Graf Stürgkh, 30.9.1916. 20 Hierzu Hansak, Peter  : Kriegsgefangene im Gebiet der heutigen Steiermark 1914 bis 1918, in  : Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark, Jg. 84 (1993), 261–311. 21 Vgl. Hansak, Landwirtschaft (1989), 21–25. 22 Als Beispiel  : StLA, BH Leoben A-F 1916, Karton 633, Akt C 5.332/1916, Gemeindevorstehung St. Michael an BH Leoben, 10.3.1916.

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waren die steirischen Bemühungen hinsichtlich der Bereitstellung des erforderlichen Kunst- oder Naturdüngers, dessen verfügbare Menge ausweislich der von Peter Hansak recherchierten Zahlen zwar 1914 und 1915 deutlich absackte, sich dann jedoch erholte und 1918 sogar einen Rekordwert erreichte.23

Neue Anbauverfahren – Erhebungsmethoden – Surrogate Erfolgversprechend schien mit Blick auf die vorhandenen landwirtschaftlichen Flächen der weitgehende Umstieg von der Viehzucht auf Ackerbau, da Letzterer deutlich höhere Kalorienerträge pro Flächeneinheit erzielt, doch brachten die Viehzüchter und -züchterinnen diesem Ansinnen wenig Sympathie entgegen. Ebenso konservativ reagierten viele Landwirte und deren Frauen, denen der Übergang auf kalorienreiche Fruchtsorten (etwa Hülsenfrüchte oder Kartoffel anstelle von Obst und Salat) nahegelegt wurde, wenngleich gerade die Hülsenfrüchte von 1914 auf 1915 einen außergewöhnlichen Anstieg hinsichtlich Anbauflächen und Ernteertrag erlebten.24 Dieses auf den ersten Blick erfreuliche Resultat ist jedoch zu relativieren  : 1914 war die steirische Ernte an Hülsenfrüchten besonders schlecht ausgefallen, 1915 stieg sie zwar an, um in weiterer Folge jedoch wieder zu sinken, was freilich für nahezu alle landwirtschaftlichen Produkte mit Ausnahme der Kartoffel galt. Um eine Verbesserung der statistischen Datengrundlage zwecks effizienterer Planung der künftigen Ernteerträge war die Statthalterei nachhaltig bemüht. Ein gutes Beispiel für eine Frühform dessen, was man heute als wissenschaftliche Politikberatung bezeichnet, verkörpert die »Steiermärkische landwirtschaftliche chemische Landesversuchs- und Samenkontrollstation«, deren Aufgabe es u. a. war, dem Mangel an chemischem Dünger durch Empfehlung geeigneter Anbaumethoden und -früchte abzuhelfen. Sie vermochte freilich die kriegsbedingte Auslaugung der Äcker nicht in den Griff zu bekommen, sodass im Verbund mit allen anderen, bereits erörterten Ursachen ein weiterer Rückgang der Hektarerträge und damit der Gesamternte – trotz einer geringfügigen Ausweitung der Anbauflächen – nicht aufzuhalten war.25 Auf Seite der Konsumenten und Konsumentinnen sollte effizienter, etwa in Großküchen, gekocht, sollten bisher nicht dem menschlichen Verzehr dienliche Pflanzen und Tiere (Brennnessel, Dohlen, Krähen u. a.) bzw. Teile von Tieren gegessen und auf jeglichen friedensmäßigen Luxus, der die Verschwendung von Lebensmitteln bedeutete, verzichtet werden. Folglich wurde beispielsweise das Backen bestimmter Mehlspeisen verboten  ; Gleiches galt für die übliche Verfütterung eines Teils der Ernte an Ackerfrüchten zur Aufbesserung des Viehfutters. Im zweiten Kriegsjahr wurde für Mehl und 23 Vgl. Hansak, Landwirtschaft (1989), 28–30. 24 Vgl. ebda., 36. 25 Vgl. ebda., 39–47.

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Gerste ein Verfütterungsverbot erlassen, das sich wie viele andere mit strengen Strafen bewehrte Vorschriften nur schwer kontrollieren ließ  ; am ehesten konnte überprüft werden, ob das Warenangebot der Bäckereien den Direktiven entsprach. Demgegenüber darf man bei den in der Landwirtwirtschaft Tätigen von deren passiver Resistenz ausgehen, da bekanntlich die Leistungsfähigkeit von Zugtieren von der Qualität des verabreichten Kraftfutters (etwa Hafer und Gerste bei Pferden) abhängig ist.26 Mangelprodukte sollten weitestgehend durch – angeblich qualitativ gleichwertige – Surrogate ersetzt werden.27 Für die Umsetzung eines Teils der unter diese Strategie fallenden Einzelmaßnahmen war der Staat auf die Mitarbeit der Bevölkerung nicht angewiesen  : Er konnte beispielsweise anordnen, dass der Ausmahlungsgrad des Getreides erhöht werden musste (bei Weizen von 76 % im Frieden auf 85 %) oder dass dem Mehl Gerste und Mais, wenn nicht gar Sägespäne, in bestimmten Anteilen beizumischen waren. Mangels Alternativen mussten die Konsumenten die solcherart verschlechterten Produkte wohl oder übel kaufen und verzehren.28 Flankiert wurden diese Initiativen durch eine Flut amtlicher Merkblätter, neuer Kochbücher und von Experten verfasster, leicht verständlicher Ratgeber, die vor allem den Hausfrauen als Leitfaden zu dienen hatten.29 Unter dem Strich ging es um einen umfassenden Umerziehungsprozess, der darauf abzielte, die bisherigen, historisch gewachsenen, vielfach regional und/oder religiös bestimmten Konsumgewohnheiten weiter Bevölkerungskreise umzukrempeln bzw. vom Gewohnten, aber nicht mehr Vorhandenen auf das Unbekannte/ Ungeliebte, aber Verfügbare umzustellen. Als der Statthalter Anfang 1915 das vom k. k. Ministerium des Innern herausgegebene Merkblatt »Volksernährung in Kriegszeiten« an seine Unterbehörden weiterleitete, gab er zu bedenken, die Bevölkerung sei nicht gewöhnt, »mit Lebensmitteln ökonomisch umzugehen und sich hierbei Einschränkungen aufzuerlegen.«30 Entsprechend intensiv müsse die Belehrung ausfallen. Angesichts der dramatischen Lage ist es frappierend, wie sehr den Verantwortlichen daran gelegen war, der Bevölkerung einzureden, sie würde durch die erforderliche Umstellung ihres Speisezettels keinerlei Verlust erleiden, ja sogar davon profitieren. In dieselbe Kerbe schlugen die Alkoholgegner beiderlei Geschlechts, die nicht müde wurden zu betonen, wie absurd es sei, angesichts der herrschenden Hungersnot noch immer große Mengen an Getreide und Obst in Bier und Schnaps umzuwandeln.31 Wo bei all dem die Grenze zum kulturell Unzumutbaren zu ziehen war, ist eine inter­essante Frage  : Vor dem naheliegenden Ratschlag, geliebte Haustiere wie Hunde 26 Vgl. ebda., 38. 27 Vgl. Brenner, Andrea  : Wruken – Maisbrot – Dottofix. Ersatzlebensmittel am Beispiel des Ersten Weltkrieges in Wien, in  : Wiener Geschichtsblätter, Jg. 60 (2005) Heft 3, 1–21. 28 Vgl. Weber, Wir (2000), 101. 29 Exemplarisch  : ÖStA, AVA, MdI Präsidiale 11/6, Karton 1582, Akt 18.606/1914, Volksernährung in Kriegszeiten. Merkblatt, herausgegeben vom k. k. Ministerium des Innern, Januar 1915. 30 StLA, Statth.-Korr. 1915 A-C, Statthalter an Unterbehörden, 1.2.1915. 31 Typisch StLA, Statth.-Korr. 1914 G+H, Univ.-Prof. Johannes Ude an Statthalter, 14.9.1914.

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oder Katzen in den Kochtopf wandern zu lassen, schreckte die Regierung zurück, während Dohlen und Krähen nicht in den Genuss einer derartigen Sonderbehandlung kamen. Völlig unbeachtet blieb bei den Kochratschlägen die Frage, wie diese Vögel von Zivilpersonen, die nur ausnahmsweise über Schusswaffen verfügten und in deren Handhabung versiert waren, erlegt werden sollten.32 Der Regierung war vollkommen bewusst, dass alle diese Maßnahmen das grundlegende Problem des Lebensmittelmangels bestenfalls mildern, aber ebenso wenig eine Lösung darstellen konnten wie der gegen den heftigen Widerstand der Jägerschaft umgesetzte Vorschlag, die Wildbestände radikal zu dezimieren, um die Fleischversorgung zu erhöhen.33 An oberster Stelle vertrat man die Meinung, Österreich-Ungarn sei im Frieden bei Lebensmitteln nahezu autark gewesen  ; dieser Autarkie gelte es im Krieg nachzueifern, selbst wenn ein gewisser Ertragsrückgang aufgrund des Mangels an Arbeitskräften, Düngemitteln, Zugtieren etc. unvermeidlich sei. Diese Defizite könne man aber kompensieren und damit eine allgemeine Hungersnot vermeiden, wenn es gelänge, das Vorhandene lückenlos zu erfassen, optimal zu verwerten und gleichmäßig zu verteilen.34

Erfassung, Transport und Verteilung der Nahrungsmittel Dies war leichter gesagt als getan. Die Distribution der für den zivilen Bedarf bestimmten Güter zu den Empfangsberechtigten war von der Leistungsfähigkeit des durch Militärtransporte überbeanspruchten Transportsystems abhängig. Welchen Schwierigkeiten sich die Statthalterei auf diesem Gebiet gegenübersah, erhellt nicht nur aus ihren laufenden Klagen, bereits vereinbarte, versandfertige Lieferungen könnten nicht oder nur mit großer Verzögerung befördert werden  ; es drohe ein Verderb nicht haltbarer Lebensmittel. Noch störender wirkte, dass etwa im Herbst 1914 ein in Agram/Zagreb stationiertes Armeekorps für die Steiermark bestimmte Lebensmittel beschlagnahmte, was jede Eigeninitiative ad absurdum führte.35 Von solchen punktuellen Störfällen abgesehen, gab es auch grundlegende Probleme. Noch Anfang 1915 musste der Statthalter 32 Vgl. etwa Verordnungsblatt der k. k. steiermärkischen Statthalterei 1915, 102. 33 Die BH Gröbming meldete immerhin, in der Jagdsaison 1915/16 seien ca. 2.000 Stück Hochwild mehr als zuvor geschossen worden  ; der Statthalter wünschte die Abgabe von mindestens einem Viertel der Strecke zur Versorgung der Stadt Graz. Umfangreicher Schriftwechsel hierzu in  : StLA, BH Gröbming E, F, Fa, H 1915. 34 Die wöchentliche Erfassung der Vorräte in größeren Gemeinden erfolgte bereits aufgrund einer kaiserlichen Verordnung vom 1. August 1914. RGBl. Nr. 194/1914. Zu ersten Resultaten (Stichtag 15.10.1914) etwa ÖStA, AVA, MdI Präsidiale 11/6, Karton 1581, Akt 15.218/1914, Statth.-Präs. Graz an MdI, 30.10.1914. 35 Vgl. ÖStA, AVA, MdI Präsidiale 11/6, Karton 1582, Akt 16.114/1914, Statthalterei Graz an MdI, 14.11.1914.

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beim Innenministerium vorstellig werden, um zu erwirken, dass Getreide und Mehl zu »Approvisionierungsgütern erster Ordnung« erklärt wurden, was ihre bevorzugte Beförderung ermöglichen würde  ; die Staatseisenbahngesellschaft vertrat nämlich die skurrile Einschätzung, Getreide und Mehl seien – da nicht zum unmittelbaren Verzehr geeignet – keine Lebensmittel. Dieser Grazer Initiative war Erfolg beschieden  ; ob sich die Verhältnisse dadurch besserten, steht dahin.36 Blieben die Appelle zum sparsamen Umgang mit Lebensmitteln auf die Einsicht der Konsumenten und Konsumentinnen angewiesen, verfügte die Regierung hinsichtlich der Erfassung der Agrarprodukte am Ort ihrer Erzeugung über vergleichsweise großen Handlungsspielraum. Sie nutzte ihn auch, indem sie im Lauf der Jahre mit unterschiedlichen Erfassungsmethoden experimentierte. Anfangs noch von Vertrauen gegenüber den landwirtschaftlichen Betrieben motiviert, überließ es die Regierung zunächst diesen selbst, ihre Erträge bzw. das – nach Abzug von Saatgut, Viehfutter und Eigenbedarf – für den Markt Verfügbare zu melden und abzuliefern. Da aber schon seit dem Herbst 1914 eine Reihe wichtiger Nahrungsmittel rationiert war, was ein rasantes Ansteigen der Preise auf dem aufblühenden Schwarzmarkt zur Folge hatte, war für die Bauern und Bäuerinnen die Versuchung beträchtlich, einen möglichst großen Teil ihrer Erträge am legalen Markt mit seinen amtlich festgesetzten, nicht marktkonformen Höchstpreisen vorbei über den Schleichhandel in klingende Münze zu verwandeln. Die Statthalterei protestierte schon im Januar 1915 gegen die Getreidehöchstpreise, die im Vergleich zu den ungarischen zu niedrig seien  ; obendrein könne man sie nicht für das ganze Land einheitlich festsetzen. Die Folge sei, dass »trotz aller Bemühungen kein Anbot zu erlangen« war und viele Mühlen stillstanden  ; die Produzenten und Produzentinnen hielten ihre Vorräte zurück, da sie auf baldige höhere Preise spekulierten.37 Das Hinauftreiben der Preise unter Missachtung der Obergrenzen ging nicht zuletzt von den amtlichen Aufkäufern selbst aus, denn diese würden – glaubt man einem Bericht des Stadtamtes Hartberg über die Praktiken auf dem dortigen Viehmarkt  – mit staatlichen Geldern um sich werfen, »als wären die Scheine nur ein Pflanz«.38 Als die Behörden dieser Schwindeleien gewahr wurden, reagierten sie Anfang 1915 damit, den landwirtschaftlichen Betrieben die Verfügung über ihre Produkte insoweit zu entziehen, als sie diese nicht mehr an die Kundschaft ihrer Wahl, sondern nur an autorisierte Ankaufsstellen verkaufen durften  ; mit Blick auf die kommende Ernte abgeschlossene Verträge wurden annulliert. Unter strengster Geheimhaltung wies das Innenministerium die Statthaltereien darauf hin, welche umfangreichen Vorbereitungen zur überfallsartigen Umsetzung einer kaiserlichen Verordnung betreffend Sperre der Verfügung über Vorräte an Getreide und Mehl zu treffen waren  ; die Verordnung sollte 36 Vgl. ÖStA, AVA, MdI Präsidiale 11/6, Karton 1583, Akt 1.477/1915, Aufzeichnung MdI, 17.2.1915. 37 Ebd. Telegramm Statthalterei Graz an MdI, 13.1.1915. 38 StLA, BH Hartberg B, D-G 1915, Karton 112 a, Stadtamt Hartberg an BH Hartberg, 17.5.1915.

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dann am 24. Februar 1915 im Reichsgesetzblatt publiziert werden.39 Zur Übernahme der zu erfassenden Vorräte und Ernteerträge bestimmt waren die in den Kronländern zu errichtenden Filialen der Kriegsgetreideverkehrsanstalt.40 Diesen Filialen oblagen der Ankauf zu festgesetzten Höchstpreisen, die Vermahlung sowie die Verteilung der Getreideprodukte gemäß dem für jedes Kronland erstellten Versorgungsplan. Der Staat änderte ferner den Erfassungsmodus für agrarische Produkte  : Nunmehr wurden die landwirtschaftlich genutzten Flächen jedes Hofes, getrennt nach der jeweils angebauten Fruchtsorte, sowie der für den Anbau benötigte Bedarf an menschlicher und tierischer Arbeitskraft, für deren Bereitstellung die Behörden notfalls zu sorgen hatten, ermittelt.41 Erst danach wurde jedem Betrieb  – je nach angebauter Fruchtsorte – ein auf Durchschnittswerten beruhendes, geschätztes Ablieferungssoll auferlegt, bei dessen Unterschreitung eine Strafzahlung fällig war.42 Obwohl die Schätzwerte ziemlich niedrig angesetzt waren und deshalb tüchtigen Bauern und Bäuerinnen einiger Spielraum für Schwarzmarktgeschäfte blieb, löste diese Methode einen Proteststurm aus, da die Vorgaben den verschiedenen, z. B. klimatischen Umständen in den Anbaugebieten nicht Rechnung trugen  ; das Verfahren erwies sich obendrein als ausgesprochen kompliziert und daher nicht zielführend. Der Statthalter musste bekennen, zahlreiche der mit Erhebungen betrauten Gemeindevorsteher und -sekretäre seien bei ihrem geringen Bildungsgrad von dieser Aufgabe überfordert. Dies und weitere praktische Schwierigkeiten, nicht böse Absicht, erklärten die vom Innenministerium gerügte Verzögerung bei der Vorlage der Daten.43 Noch explosiver wirkte eine weitere Methode zur Kontrolle der Ablieferung, bei der von der Regierung ernannte Kommissäre vor Ort die Ernte sicherstellen, de facto  : requirieren sollten – wenn nötig (und Widerstand gab es in zahlreichen Fällen) unter Beiziehung von Gendarmerie und Militär. Um zu verhindern, dass in den Betrieben ein Teil des Getreides auf die Seite gebracht wurde, wurden die meisten bäuerlichen Mühlen amtlich versiegelt, sodass ein Vermahlen des Getreides und damit ein illegaler Verkauf an die Endverbraucher und -erbraucherinnen unmöglich waren. Glaubt man den zahlreichen Beschwerden, agierten die oft ortsfremden Kommissäre, gegen die sich nebenbei auch antisemitische Ressentiments entluden44, mit äußerster Brutalität und transportierten aus dem Wunsch heraus, die vorgeschriebenen Quoten zu erfüllen, rücksichtslos alles ab, was sie vorfanden – inklusive des Saatgutes für das folgende Jahr 39 Vgl. StLA, Präs. Landeshauptmann, Korrespondenz 1919, Karton 1, MdI an politische Landesstellen, 20.2.1915. 40 Zu deren Arbeiten siehe etwa  : StLA, Statth.-Korr. 1917 E, Aufzeichnung o. D., Steiermärkische GetreideEinkaufs-Gesellschaft m.b.h. 41 Beispiele derartiger überaus komplizierter Formulare in  : StLA, BH Gröbming Gruppe 3 1915–1916. 42 Hansak, Landwirtschaft (1989), 48–49. 43 ÖStA, AVA, MdI Präsidiale 11/6, Karton 1584, Akt 4.361/1915, Statth.-Präs. Graz an MdI, 26.2.1915. 44 Siehe etwa StLA, Statth.-Korr. 1916 P, BH Murau an Statthalter, 27.7.1916  ; StLA, Statth.-Korr. 1918 H, Landtagsabgeordneter Franz Hagenhofer an Ministerpräsident Karl Graf Stürgkh, 30.9.1916.

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und der zum Eigenverbrauch der bäuerlichen Bevölkerung (130 Kilogramm Getreide pro Kopf und Jahr) bestimmten Mengen, die eigentlich unangetastet bleiben sollten. Kein Wunder, dass sich die Wut der in der Produktion Tätigen gegen die Amtspersonen am Schauplatz des Geschehens richtete, ohne die Regierung, welche die Kommissäre ausgesandt hatte, zu verschonen.45 Angeblich für die hungernde städtische Bevölkerung sprechend, warf umgekehrt sogar Stadthalter Graf Clary-Aldringen dem Bauernstand pauschal vor, er würde sich auf Kosten seiner Kundschaft schamlos bereichern.46 Auch diese personalintensive Erfassungsmethode stiftete also insgesamt mehr Schaden als Nutzen. Ebenso undurchdacht wirken die wenigen Ansätze, die Lieferbereitschaft mittels pekuniärer Anreize zu steigern. 1915 sollten der Höhe nach gestaffelte Prämien gezahlt werden, je nachdem, zu welchem frühen Termin ein Bauer seine Weizenernte ablieferte. Da das Reifwerden des Getreides aber von allerlei Umständen abhing, auf welche die in der landwirtschaftlichen Produktion Tätigen nur geringen Einfluss hatten, und dieser Prozess obendrein nicht in allen Landesteilen gleichzeitig ablief, war hier nur eine neue Quelle für bäuerlichen Missmut geschaffen.47 Besonders geringes Ansehen genossen die zahlreichen Kommissionen und Anstalten, die von den Betroffenen als bürokratische Ungetüme eingestuft wurden, bei denen sich zahlreiche kriegsdiensttaugliche Männer vor dem Fronteinsatz drückten und sich im Hinterland, die Produzierenden schikanierend, wichtigmachten. In der Tat fällt auf, dass derartige Gremien auf Reichs-, Landes-, Bezirks- und Gemeindeebene für immer mehr Sparten bzw. einzelne Produktgruppen errichtet wurden, was naturgemäß egoistische Bestrebungen förderte und die Bewahrung des volkswirtschaftlichen Zusammenhangs erschwerte. Neben der bereits erwähnten Getreideanstalt erlangte in der Steiermark die »Viehverkehrs-Landeskommission« besondere Bedeutung  ; ihr wurde die Regelung der gesamten Schlachtviehversorgung des Kronlandes übertragen. Originell war immerhin, dass die Kommission aus Vertretern aller betroffenen Gruppen, inklusive eines Repräsentanten des Verbandes landwirtschaftlicher Genossenschaften, zusammengesetzt war, um den Bauern und Bäuerinnen wenigstens den Anschein ihrer Mitbestimmung zu vermitteln.48 45 Beispiele in der Anfrage der Abgeordneten Roškar und Genossen, 29.11.1917. Anhang zu den Stenographischen Protokollen des Hauses der Abgeordneten des österreichischen Reichsrates. XXII. Session (1917–1918). 4. Band, Wien 1918, 4182–4183 sowie in der Anfrage der Abgeordneten Pišek und Genossen betreffend Requisitionen im Bezirke Marburg, 30.11.1917. Ebd., 4284. 46 Ebd., 3691. Anfrage Verstovšek und Genossen betreffend das Vorgehen und die Äußerungen seiner Exzellenz des Statthalters Grafen Clary gegenüber dem Bauernstande in der Steiermark, 14.11.1917. 47 Vgl. Hansak, Landwirtschaft (1989), 51. 48 Vgl. ÖStA, AVA, MdI Präsidiale 11/6, Karton 1585, Akt 5.861/1915, Unterlagen über den Beirat der Kriegs-Getreide-Verkehrsanstalt für Steiermark. Auf Vorschlag des Statthalters saßen in dem Beirat u. a. der sozialdemokratische Reichsratsabgeordnete Vinzenz Muchitsch (Konsumenten), der slowenische Politiker Franz Pišek (Kleinproduzenten) sowie der Mühlenbesitzer Wilhelm Rakusch (Müller).

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Zwischen Mai 1916 und Dezember 1917 blieben die Ablieferungen von Schlachtvieh mit Ausnahme von drei Monaten stets hinter den Vorschreibungen zurück. Für den genannten Zeitraum betrug das Soll 351.000 Stück Vieh, tatsächlich geliefert wurden 316.000. In der Folge wurde es noch schlimmer, da die bis dahin weitgehend konstanten Viehbestände im Lauf des Jahres 1918 auf etwa die Hälfte zurückgingen. Dem korrespondierte naturgemäß ein drastischer Einbruch bei der an die Konsumenten und Konsumentinnen gelieferten Milch. Es gilt außerdem zu bedenken, dass der Rückgang bei den Stückzahlen (ca. um ein Viertel während des Krieges, der höchste Wert sämtlicher Alpenländer) nur einen Teil der tristen Realität widerspiegelt, denn unter dem herrschenden Futtermangel litt auch die Qualität des Viehs – die Tiere kamen mit einem immer niedrigeren Lebendgewicht in die Schlachthöfe.49 Gegen diesen Trend konnte nicht viel unternommen werden, sieht man von den Kampagnen gegen die Schlachtung von Kälbern ab.50 Wie bereits angedeutet, fand der Betätigungseifer der Verantwortlichen insbesondere auf institutionell-organisatorischem Gebiet lohnende Objekte. Das Ziel der laufenden Umstrukturierungen des mit der Lebensmittelbewirtschaftung befassten Apparats war die Bündelung der zersplitterten Kompetenzen auf der Ebene sämtlicher Gebietskörperschaften, wobei die angestrebte – aber nie erreichte – enge Kooperation aller Instanzen auf eine Behebung der Versorgungsmängel hoffen ließ. Der steiermärkischen Statthalterei ging es nicht zuletzt darum, ihre für die Anfangsphase typische und in ihrem ersten umfassenden Bericht in Versorgungssachen vom 4. Oktober 1914 anhand zahlreicher Beispiele dargelegte, direkte Einschaltung selbst in kleinste Detailfragen zu beenden bzw. diese Agenden auf spezialisierte Dienststellen zu übertragen. Es konnte schließlich wenig Sinn machen, dass die Zentralbehörde eines Kronlandes sich mit Einzelproblemen wie der Beschaffung von Waggons und des für die Dreschmaschinen benötigten Treibstoffs oder mit der Bildung von Mühlengemeinschaften abgeben musste.51 Erst im November 1916 wurde nach diversen halbherzigen Anläufen mit dem Amt, später Ministerium für Volksernährung eine (theoretisch) die gesamte Approvisionierung zusammenfassende Zentralinstanz geschaffen  ; als ihr Unterbau in den Kronländern errichtete man jeweils ein Landeswirtschaftsamt (Lawa) mit weiteren unterstellten Filialen auf Bezirks- und Gemeindeebene.52 Hinzu kamen noch die aus Vertretern 49 Vgl. Hansak, Landwirtschaft (1989), 57–62 und 90. 50 Beispielsweise  : ÖStA, AVA, MdI Präsidiale 11/6, Karton 1582, Akt 18.606/1914. Volksernährung in Kriegszeiten. Merkblatt, herausgegeben vom k. k. Ministerium des Innern, Januar 1915. »Das Schlachten junger Tiere ist unwirtschaftlich«. 51 Vgl. ÖStA, AVA, MdI Präsidiale 11/6, Karton 1581, Akt 13.650/1914, Statth.-Präs. Graz an MdI, 4.10.1914. Anlage  : Bericht über die bisherige Tätigkeit in Approvisionierungssachen  ; StLA, BH Voitsberg Gruppe 3 1914, Statthalterei Graz an Unterbehörden, 18.8.1914, betreffend  : Bildung von Mühlengemeinschaften. 52 Vgl. die spärlichen Hinweise zu Geschäftsordnung und Referatseinteilung des Lawa in  : StLA, Statth. Präs. A 5 b Zl. 888/1917. Zu Änderungen ab 1.5.1918 vgl. StLA, Statth. Präs. A 5 b Zl. 1051/1918.

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von Produktion und Konsum gebildeten Wirtschaftsräte, die  – ebenso wie die in erheblicher Zahl ständig oder von Fall zu Fall beigezogenen, externen Experten  – die Kommunen in Versorgungsfragen zu beraten hatten. Es dauerte aber bis April 1917, bis endlich die Geschäftsordnung des der Statthalterei angegliederten Lawa vorlag. Ein vom Lawa in Kooperation mit den aus Wien entsandten Ernährungsinspektoren ausgearbeitetes, modifiziertes Aufbringungssystem, dem eine komplette Neuberechnung der Ablieferungsquoten des nun in drei Inspektionsbezirke (Leoben, Graz und Cilli/ Celje) eingeteilten Kronlandes zugrunde lag, sollte wegen der erforderlichen Umstellungs- und Vorlaufzeit erst ab Sommer 1918 zur Anwendung kommen. Bis dahin waren etliche der Daten, auf denen die Reform basierte, bereits überholt, sodass der mit großem Aufwand unternommene Neuansatz keine praktischen Konsequenzen mehr zeitigte. Selbstredend blieb es dabei, dass so gut wie alle Gemeinden und Bezirke weiterhin der felsenfesten Überzeugung waren, gerade ihr Gebiet werde, verglichen mit den Nachbarn, über Gebühr belastet.53 Daneben häuften sich  – je länger der Krieg dauerte, desto mehr  – die Belege dafür, dass die ständig revidierten Regelungen bei sämtlichen Betroffenen heillose Verwirrung hervorriefen  ; oft war nicht einmal klar, wer wo noch oder schon zu welchen Anordnungen befugt war, da die Ausstellung der erforderlichen Legitimationen der rasanten Entwicklung hinterherhinkte. Die Folge war vielerorts ein bizarres Nebenund Gegeneinanderarbeiten diverser Amtsorgane, welches das korrekte Ausfüllen der komplizierten Formulare nicht eben erleichterte. Für jeden Grundbesitzer war beispielsweise ein eigener Vordruck auszufüllen, der sich wie folgt gliederte  : Acker, Wiesen, Gärten, Weingärten, Hutweiden, Alpen, Wald, Seen/Sümpfe/Teiche, Bauareal, unproduktive Flächen, sonstige steuerfreie Fläche – davon war die entsprechende Summe, basierend hierauf wieder die Summe pro Ortsgemeinde und so weiter aufsteigend zu bilden.54 Die daraus folgenden Fehlschläge bei Erfassungsaktionen lösten postwendend eine Flut von Schriftverkehr mit Selbstrechtfertigungen und Schuldzuweisungen aus.55 Damit verlief auch die umfassende Informationskampagne, die den Landwirten und -wirtinnen die angeblichen oder wirklichen Vorteile des neuen Plans erläutern und ihre Eigeninitiative anregen sollte, weitgehend im Sande. Das Jahre hindurch genährte Misstrauen der bäuerlichen Bevölkerung, die schon unzählige haltlose Versprechungen zu hören bekommen hatte, war durch einige wenn auch gut klingende Ankündigungen nicht aus der Welt zu schaffen. Dies erlebten die Inspektoren und die für das Lawa tätigen Wanderlehrer am eigenen Leib  : Ihnen schlug vielerorts kalte Ablehnung, 53 Exemplarisch StLA, Statth. Präs. A 5 b Zl. 115/1918, Expositur Bad Aussee an Statthalterei Graz und Lawa, 3.1.1918. 54 Beispiele solcher Drucksorten in  : StLA, BH Radkersburg, Sonderfaszikel Anbauflächenerhebung 1918, Kartons 47 und 48. 55 Ein krasses Beispiel in  : StLA, Statth. Präs. A 5 b Zl. 1888/1916, BH Cilli an Statth.-Präs. Graz, 30.6.1916.

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wenn nicht physische Gewalt entgegen.56 Die im Krieg weitgehend zur Untätigkeit verurteilten, im Frieden gewählten politischen Vertreter der Bauernschaft hielten den leitenden Staatsmännern unumwunden vor, sie dürften sich nicht wundern, dass sie bei ihrer permanenten Missachtung der ländlichen Lebens- und Wirtschaftsverhältnisse von den im Grunde staatsloyalen Menschen für alle Übelstände verantwortlich gemacht würden. Man hätte, so der Tenor dieser Proteste, die legitimierten Repräsentanten der Landbevölkerung stärker einbinden bzw. auf ihre ebenso sachkundigen wie wohlmeinenden Ratschläge hören sollen, anstatt das Land mit den unbeliebten jüdischen Erntekommissären zu überschwemmen.57

Politische Diskussionen rund um das Approvisionierungssystem Als der neue Kaiser Karl I. mit Ende Mai 1917 den Reichsrat nach mehr als dreijähriger Unterbrechung wieder einberief, erhielten die Politiker ihre wichtigste Bühne zurück  ; sie nutzten diese neben der Gesetzgebung und der Diskussion der Regierungspolitik für eine bis Kriegsende in die Hunderte gehende Serie von Interpellationen und parlamentarischen Anfragen an die Regierung, ein probates Mittel, einzelne Minister mit behaupteten oder tatsächlichen Missständen ihrer Ressorts zu konfrontieren und Abhilfe zu verlangen. Die interpellierten Minister reichten die Anfragen zwecks Vorbereitung der Beantwortung an die Unterbehörden weiter, sodass wir auch über deren Stellungnahmen unterrichtet sind.58 Eine sorgfältige Durchsicht der mehrere tausend Seiten umfassenden Protokollbände auf Interpellationen mit Steiermark-Bezug hat ergeben, dass zwei Themenkomplexe im Vordergrund standen  : Zum einen der schon aus den Friedensjahren bekannte, nationale Hader zwischen der deutsch-steirischen und der slowenischen Bevölkerung sowie – als neue Frage – die Lebensmittelbewirtschaftung seitens der Grazer Statthalterei. Die Interpellanten rekrutierten sich aus sämtlichen nationalen und politischen Lagern, von den Sozialdemokraten über die Christlichsozialen und die Slowenen bis zu den Deutschnationalen. Die von ihnen vorgebrachte Kritik unterschied sich bestenfalls in Nuancen und reichte von dem generell als ineffizient, ja kontraproduktiv eingestuften Erfassungssystem, das die Steiermark ständig benachteilige, über Kritik an konkreten auf dem Lebensmittelsektor tätigen, als korrupt gezeichneten Personen, welche die Bevölkerung schikanierten und die bäuerliche Bevölkerung geradezu terrorisierten59, bis zum Aufzeigen von Misswirtschaft und Inkompetenz der Landes­ 56 Vgl. Weber, Wir (2000), 105–108. 57 Exemplarisch  : StLA, Statth.-Korr. 1918 H, Landtagsabgeordneter Franz Hagenhofer an Ministerpräsident Karl Graf Stürgkh, 30.9.1916. 58 Hierzu Moll, Martin  : Interpellationen  – eine kaum genutzte Quelle zur Landesgeschichte der späten Habsburgermonarchie, in  : Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark, Jg. 110 (2019), 325–354. 59 Vgl. als Fallstudie den dicken Akt über den Gemeindevorsteher von Gams im Bezirk Deutschlandsberg,

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behörden, ­wodurch dem Herzogtum entweder erreichbare auswärtige Lieferungen durch die Lappen gegangen oder vorhandene Lebensmittel verdorben seien.60 Die erforderlichen Beantwortungen übertrugen den steirischen Landes- und Bezirksbehörden eine beträchtliche zusätzliche Arbeitsbelastung. In ihren Stellungnahmen rechtfertigten sie regelmäßig ihr Handeln und verwiesen, wenn Übelstände nicht geleugnet werden konnten, auf die in der Tat mehr als widrigen Umstände, die sie nicht zu ändern vermochten.

Kriegsfürsorge Über das bisher Gesagte hinaus musste sich die Statthalterei mit allen ihren Zweigen, aber unter weitestgehender Absenz der autonomen Landesverwaltung61, schon seit dem Spätsommer 1914 um die steigende Zahl jener »Notleidenden« kümmern, die wegen ihrer Armut die ihnen theoretisch zustehenden, sich permanent verteuernden Lebensmittel und sonstigen dringenden Bedarfsgegenstände nicht bezahlen konnten. Auf das Gesamtpanorama der allein auf Landesebene entfalteten, zahllosen Sammelaktionen und Kriegsfürsorgemaßnahmen kann hier aus Platzgründen nicht eingegangen werden.62 Erwähnt seien aber die enormen Aktivitäten zur Aufbringung der für die Beschaffung und Verteilung preiswerter Lebensmittel erforderlichen Gelder  – dafür schnorrte die Statthalterei so ziemlich jede private und öffentliche Stelle an, die dafür irgendwie in Betracht kam. Nicht übersehen werden darf, dass allein der Betrieb der unzähligen Milchausgabe-, Suppen- und Beköstigungsstellen, wie sie z. B. bei allen Schulen errichtet werden sollten, gewaltige materielle und personelle Ressourcen erforderte.63 Und die bereitgestellten Ressourcen reichten nie lange aus, meldeten sich doch stets neue Gruppen  – ab 1916 sogar Beamte höherer Rangklassen  – zum Bezug verbilligter Lebensmittel an.64 In sämtlichen 68 Gerichtsbezirken der Steiermark wurden »Bezirkshilfsbureaus« etabliert und überwiegend mit ehrenamtlich tätigen

der wegen Malversationen bei Viehrequisitionen von der Gendarmerie angezeigt und verhaftet wurde  ; das Verfahren wurde eingestellt. StLA, BH Deutschlandsberg Gruppe 3 1917. 60 Die Interpellationen finden sich in  : Anhang zu den Stenographischen Protokollen des Hauses der Abgeordneten des österreichischen Reichsrates. XXII. Session (1917–1918). 7 Bände, Wien 1917 und 1918 sowie ebda. Anfragebeantwortungen. Band I und II, Wien 1918. 61 Dies ergab eine Durchsicht folgender Quelle  : StLA, Landtag/Landesregierung, Landesausschuß-Protokolle 1914–1918, Kartons 69–73. Obwohl Sitzungen des Landesausschusses auch im Krieg unverändert stattfanden, wurden Ernährungsfragen nur äußerst selten, als Reaktion auf Initiativen der Statthalterei, erörtert  ; hinsichtlich finanzieller Unterstützungen zeigte sich der Ausschuss zugeknöpft. 62 Vgl. allein den diesem Thema gewidmeten, rund 15 cm dicken Akt im StLA, Statth. Präs. A 5 b Zl. 1768/1914. 63 Hinweise etwa in  : StLA, Statth. Präs. A 5 b Zl. 1353/1916, Landeshauptmann an Statthalter, 23.12.1915. 64 Nachweise hierzu in  : StLA, Statth. Präs. A 5 b Zl. 1702/1916.

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Beamten aller Sparten besetzt.65 Auch wenn die Anliegen der nach Hunderttausenden zählenden Personen, die dort vorsprachen, vielfach unerfüllbar waren, schärfte die Statthalterei den heillos überlasteten Beamten ein, den Hilfesuchenden wenigstens »freundlich und wohlwollend« zu begegnen.66 Die Hilfsaktionen sollen anhand eines Fallbeispiels veranschaulicht werden, das zugleich das enge Aufeinander-Angewiesensein des staatlich-zivilen, militärischen und privaten bzw. privatwirtschaftlichen Sektors illustriert. Für eine von der Statthalterei initiierte »Ausspeiseaktion« hatte die Brauerei Reininghaus eine zuvor vom Militär geräumte Bierhalle im Süden von Graz zur Verfügung gestellt. Das administrative Personal stellte der Steiermärkische Frauenhilfsausschuss, der unumgängliche männliche Leiter wurde vom Militär dienstfrei gestellt. In den für die Verköstigung von 400 Personen geeigneten Lokalitäten sollte ein nahrhaftes Mittagessen für den geringen Betrag von 50 Hellern ausgegeben werden. Zur Verköstigung ärmerer Schichten, die sich selbst dies nicht leisten konnten, wurden zwei fahrbare Küchen angekauft.67 Zur gleichen Zeit – Mitte 1916 – waren bei der Statthalterei mehr als 22.000 Personen für den Bezug verbilligter Lebensmittel vorgemerkt  ; der hierfür eingerichtete Fonds verfügte dank umtriebig, wenn nicht gar mit sanftem Druck eingeworbener Spenden über ausreichende Finanzmittel und erzielte sogar Überschüsse, obwohl sich der Kreis der zu reduzierten, nicht marktkonformen Preisen abgegebenen Lebensmittel und Bedarfsgegenstände laufend erweiterte (Schuhe, Textilien, Heizmaterial etc.). Flächendeckend setzten diese Verteilungsaktionen im Frühjahr 1915 ein  ; im April 1915 wurde auch der bedeutendste Geldgeber, der Steiermärkische Approvisionierungsfonds, gegründet, für den das Benediktinerstift St. Lambrecht den finanziellen Grundstock beisteuerte.68 Bei diesen Bestrebungen ging es sekundär darum, die selbst unter den allgemein herrschenden Mangelbedingungen besonders knappen Güter – allen voran Milch – gezielt jenen zukommen zu lassen, die ihrer am dringendsten bedurften, das waren Kinder, Kranke und stillende Mütter.69 Ein Manko dieser Hilfsmaßnahmen bestand darin, dass sie allein aufgrund der unterschiedlichen infrastrukturellen und personell-logistischen Rahmenbedingungen die beträchtlichen Unterschiede der Versorgung zwischen den Bezirken der Steiermark nicht beseitigen konnten. Wenngleich in den agrarischen Regionen wegen des hohen 65 Eine entsprechende Liste ist publiziert in  : Kleine Zeitung, 9.4.1916, 5. Vgl. als Beispiel  : StLA, BH Leoben A, B, D 1917, Akt B 3.713/1917, Bericht über die Tätigkeit des Bezirkshilfsausschusses Leoben während der abgelaufenen 30 Kriegsmonate, 25.2.1917. 66 StLA, Statth. Präs. A 5 b Zl. 3332/1916, Statth.-Präs. Graz (Konzept) an Regierungskommissär für Graz, 28.10.1916. 67 StLA, Statth.-Korr. 1916 A, Aufzeichnung betreffend Ausspeiseaktion, 1.8.1916. 68 Vgl. die umfangreichen Akten ebda. 69 Vgl. StLA, Statth.-Korr. 1916 L, Bericht über die am 17. Juni 1916 im Statthaltereipräsidium abgehaltene Sitzung des Beirates für die Versorgung der notleidenden und mindermittelten Bevölkerung von Steiermark mit Lebensmitteln und anderen Bedarfsgegenständen zu billigen Preisen, o. D. (Juni 1916).

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Anteils an Selbstversorgern und -versorgerinnen, die höhere Rationen zur Verfügung hatten als ihre städtischen Landsleute, eine bessere Versorgungslage herrschte, fielen doch die Zuschübe der nicht selbst erzeugten Lebensmittel von Bezirk zu Bezirk verschieden aus. Ende 1916 war die Kartoffel zum zentralen Grundnahrungsmittel geworden, doch die steirischen Bezirke wurden zu dieser Zeit – gemessen an ihrem Bedarf – mit Quoten zwischen 23,7 % (Cilli-Land) und 133 % (Graz-Stadt) beliefert. Der eine Bezirk erhielt also nicht einmal ein Viertel des für ihn berechneten Mindestbedarfs an Kartoffeln, der andere eine Überlieferung.70 Fraglich ist, inwieweit die amtlichen Statistiken die Gesamtlage korrekt abbilden, berücksichtigten sie doch nicht die von den Leitungen großer Betriebe, insbesondere in der Eisen- und Stahlindustrie, für ihre Belegschaften getätigten Lebensmitteleinkäufe, welche die industriellen Bezirke der Steiermark etwas besser stellten. Führend bei diesen Aktionen, die der Erhaltung der Arbeitskraft der Werktätigen dienen sollten, war die Österreichische Alpine-Montan-Gesellschaft (ÖAMG), mit 20.000 Beschäftigten der größte Arbeitgeber des Kronlandes. Da der ÖAMG zur Beschaffung von Nahrungsmitteln jedes Mittel recht war und sie deshalb die amtlichen Höchstpreise regelmäßig überbot, sahen sich einige ihrer Werksdirektoren mit Strafverfahren konfrontiert. Erst im Mai 1917 ordnete das Amt für Volksernährung in einem Akt von Pragmatismus an, es sei »nicht opportun«, der »selbsthilflichen Approvisionierungstätigkeit […] Schwierigkeiten zu bereiten.«71 In der zweiten Oktoberhälfte 1918 gingen alle wirtschaftlichen, somit auch die landwirtschaftlichen Agenden auf den mehr oder minder revolutionär und gegen den Willen des Statthalters gebildeten »Wohlfahrtsausschuss« über, der freilich in den wenigen bis zum Zusammenbruch verbleibenden Tagen nichts Wesentliches verändern konnte. In der Untersteiermark rätselten einzelne Bezirkshauptmannschaften, ob der Ausschuss überhaupt für die Versorgung des Unterlandes zuständig sei – man sah sich gleichzeitig mit Requisitionsanordnungen des ebenso revolutionär gebildeten »Slowenischen Nationalrats« konfrontiert. In Graz wurden die entsprechenden Meldungen nur mehr kommentarlos archiviert.72 Bestrebungen der neuen Staatsregierung unter Karl Renner in Wien, die Verwirrung in sachlicher und territorialer Hinsicht zu beseitigen, datieren bereits in die Zeit nach dem Waffenstillstand und werden hier nicht mehr behandelt.73

70 Vgl. StLA, Statth.-Korr. 1916 G, Aufzeichnung  : Versorgungsstand von Steiermark während der Zeit vom 2. bis 29. Oktober 1916, o. D. (November 1916). 71 StLA, Statth.-Korr. 1918 M-R, hier M, Amt für Volksernährung an Statthalterei Graz, 12.5.1917. 72 Vgl. StLA, Statth. Präs. A 5 b Zl. 2947/1918, Schriftverkehr mit der BH Gonobitz (Ende Oktober/Anfang November 1918). 73 Akten hierzu in  : StLA, Statth. Präs. A 5 b Zl. 3094/1918. Vgl. auch Weber, Wir (2000)  ; Hansak, Landwirtschaft (1989)  ; Weber, Franz Christian  : »So ein trauriges Lied ohne Worte…«. Die Versorgung der Steiermark durch die Alliierten 1918/19, in  : Blätter für Heimatkunde, Jg. 75 (2001), 118–137.

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Zusammenfassung Als stark industrialisiertes Kronland machte sich in der Steiermark, bei Agrarprodukten schon vor 1914 ein Zuschussgebiet, der für den Ersten Weltkrieg typische Lebensmittelmangel bereits in den ersten Kriegswochen bemerkbar, wofür sowohl der Wegfall bisheriger Importe als auch der Rückgang der Ernteerträge, bei kaum vorhandenen Vorräten, verantwortlich waren. Nachdem sich steirische Hoffnungen auf eine reichsweite Lösung dieses Problems als haltlos erwiesen hatten, setzten auf Ebene der Statthalterei in Graz vielfältige Initiativen ein, um den Mangel zu beheben. Beispielsweise wurde danach getrachtet, neue Anbauflächen zu erschließen, die bestehenden Flächen auf (nach Kalorien pro Hektar berechnet) ertragreichere Sorten umzustellen, die Verteilung der vorhandenen Lebensmittel besser zu organisieren, deren Abfließen auf den Schwarzmarkt zu verhindern, rationeller zu kochen, der menschlichen Ernährung bis dato nicht dienende Substanzen zu propagieren und vieles mehr. Die Landesbehörden entwickelten hierbei einen durchaus kreativen Mix unterschiedlichster Methoden, die auf agrar- bzw. ernährungswissenschaftlichen Erkenntnissen beruhten  – ein frühes Beispiel für wissenschaftliche Politikberatung. Die eine oder andere Manifestation dieses Expertenwissens mag heute makaber wirken (Mitte 1916 reiste eine Delegation des Landeskulturinspektorates ins Deutsche Reich, um dort »Kadaver-Küchenabfälleverwertungs-Anstalten« zu besichtigen), es handelte sich aber um aus der Not des Tages geborene Maßnahmen.74 Allen Anläufen war gemeinsam, dass sie weitgehend auf steirische Eigeninitiativen setzten. Unter den gegebenen Rahmenbedingungen, z. B. wegen der von der Steiermark allein nicht zu lösenden Transportkrise, war diesen Bestrebungen jedoch wenig Erfolg beschieden. Während bisher in der Forschung vor allem die politischen und stimmungsmäßigen Auswirkungen des Hungers in Form von Streiks oder Protestdemonstrationen behandelt wurden, stehen in diesem auf reichhaltiger Aktenüberlieferung beruhenden Beitrag die Lösungsversuche, deren Rationalität bzw. Irrationalität sowie deren Erfolge und Misserfolge im Zentrum.

74 Vgl. StLA, Statth. Präs. A 5 b Zl. 1665/1916, Landeskulturinspektorat an Statth.-Präs. Graz, 29.5.1916.

Ute Sonnleitner

Zwischen Unterhaltungslust und patriotischer Pflicht »Kriegstheater«1 in der Steiermark und das Beispiel Alexander Girardis »Die Geschichte der österreichischen und deutschen Bühnen während der Kriegsjahre muss erst geschrieben werden.«2 Diese 1925 von Robert Baravalle in einer Abhandlung über das Grazer Schauspielhaus formulierte Feststellung hat ihre Gültigkeit bis in die Gegenwart kaum verloren. Die Thematik von Theater im Ersten Weltkrieg hat bislang erst wenig Aufmerksamkeit erfahren.3 Gerade die Situation »provinzieller« Unterhaltungsräume ist nahezu unerforscht. Der mit der gesamten Publikation intendierte 1 Der Begriff ist der Publikation Martin Baumeisters entlehnt  : Kriegstheater. Großstadt, Front und Massenkultur 1914–1918, Essen 2005, 213. Im zeitgenössischen Diskurs wurde unter »Kriegstheater« das kriegerische Geschehen an der Front subsummiert. So titelte die »Tagespost« im September 1914 mit der Schlagzeile »Vom Kriegstheater«, in  : Tagespost (Abendblatt), 7.9.1914, o. S. 2 Baravalle, Robert  : 100 Jahre Grazer Schauspielhaus, hg. v. Stadtgemeinde Graz, Graz 1925, 141. 3 Martin Baumeister kann als Vorreiter im deutschsprachigen Raum zu dieser Fragestellung gelten. Er liefert ausführliche Verweise auf die Literatursituation und zeitgenössische wissenschaftliche Auseinandersetzungen. Der Fokus seiner Arbeit ist jedoch auf die »Großstadt« Berlin gerichtet (siehe Anm. 1). Auch Eva Krivanec konzentriert sich in ihrer Studie auf die »Kriegsbühnen« der Metropolen. Vgl. Krivanec, Eva  : Kriegsbühnen. Theater im Ersten Weltkrieg. Berlin, Lissabon, Paris und Wien, Bielefeld 2012. Zu Kleinkunst/Kabarett ist aus Forschungen im Rahmen des Österreichischen Kabarettarchivs eine Publikation erschienen  : Veigl, Hans/Fink, Iris  : Galgenhumor. Kleine Kunst im Großen Krieg – Ein Beitrag zur k. k. Unterhaltungskultur 1914 bis 1918 (Veröffentlichungen des ÖKA 4), Graz 2014. Die Feststellung einer bislang relativ geringen Auseinandersetzung mit dem Thema »Theater und Krieg« hat auch über den deutschsprachigen Raum hinaus Gültigkeit  : Krivanec, Eva  : Staging War. Theatre 1914–1918, (https://encyclopedia.1914-1918-online.net/article/staging_war_theatre_1914-1918  ; download 10.2.2022)  ; Köhne, Julia B./Lange, Britta  : Mit Geschlechterrollen spielen. Die Illusionsmaschine Damenimitation in Front- und Gefangenentheatern des Ersten Weltkriegs, in  : Köhne, Julia B./Lange, Britta/Vetter, Anke (Hg.)  : Mein Kamerad die Diva. Theater an der Front und in Gefangenenlagern des Ersten Weltkriegs (Begleitbuch zur Ausstellung), München 2014, 25–64  ; Rachamimov, Iris  : Er war für die Gefangenen, was er darstellte. Geschlechtertransgressionen in Kriegsgefangenenlagern des Ersten Weltkriegs, in  : ebda., 115–128  ; Rachamimov, Alon  : The Disruptive Comforts of Drag  : (Trans)Gender Performances among Prisoners of War in Russia, 1914–1920, in  : The American Historical Review, Jg. 111 (2006) Heft 2, 362– 382. Zur Steiermark und Geschlechterperspektiven siehe auch zwei Beiträge der Autorin  : Sonnleitner, Ute  : Fluchtraum oder patriotische Bühne. Das Medium Theater in der Steiermark 1914–1918  : Inklusionen, Exklusionen und das Beispiel Mella Mars, in  : Pro Civitate Austriae. Informationen zur Stadtgeschichtsforschung in Österreich, Themenheft »Österreichische Städte im Ersten Weltkrieg«, (2014) Heft 19, 57–72  ; Sonnleitner, Ute  : Diven im Feld. Darstellende Künstler*innen und die Kategorie Geschlecht im Zentraleuropa des Ersten Weltkriegs, in  : Streichhahn, Vincent/Altieri, Riccardo (Hg.)  : Krieg und Geschlecht im 20. Jahrhundert  : Interdisziplinäre Perspektiven zu Geschlechterfragen in der Kriegsforschung, Bielefeld 2021, 231–250.

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Blick auf das Kriegsgeschehen und eine entsprechende Lebensgestaltung in der »Provinz« während der Kriegsjahre muss auch die Unterhaltungskultur einschließen, um ein möglichst umfassendes Bild »steirischer« Lebenswelten zu ermöglichen. Die Beschäftigung mit »Theater« zeigt einmal mehr die umfassende – »totale« – Präsenz des »Krieges« im Hinterland auf. Zwar wurde er nur selten mit darstellerischen Mitteln auf die Bühne gebracht, dennoch war seine Gegenwart stets greifbar. Der vorliegende Artikel ist dem Versuch gewidmet, Überlegungen zu theatralen Unterhaltungsmedien in der Steiermark anzustellen, wobei den ausübenden Künstler:innen besonderes Augenmerk geschenkt wird.4 Steirische Tageszeitungen fungieren hierbei als Hauptquellen in der Rekonstruktion des Theatergeschehens.5 Die zahllosen Veranstaltungen unterschiedlichster Genres und Größenordnungen, mit divergierendem Zielpublikum sind in anderen Medien, wie etwa Almanachen kaum greifbar.6 Ankündigungszettel sind in verschiedensten Überlieferungszusammenhängen zerstreut und meist ebenfalls auf ein selektives Bild repräsentativer Großveranstaltungen reduziert.7 Dagegen bestand in Zeitungen, entsprechend dem florierenden Unterhaltungswesen, auch eine rege Berichterstattung zu den Aufführungen. Diese Artikel transportierten auch Bedenken, in Kriegszeiten der Unterhaltung zu frönen – und boten in weiterer Folge die Zerstreuung dieser Einwände. Ein Verhaltens- und Wertekanon wird greifbar, an Hand dessen Bewertungsrahmen gesellschaftliche Grundstimmungen ablesbar sind. Die Dichotomie zwischen Unterhaltungslust und patriotischer Pflicht war nicht allein beim Publikum von Relevanz, auch für Künstler:innen stellte sich die Frage des »Kriegseinsatzes«, wobei insbesondere Männer als Bühnenangehörige gefordert waren.8 Die Strategien des Umgangs mit dem »Kriegstheater« stehen im Zentrum der folgenden Überlegungen. Die Biografie eines prominenten Bühnenangehörigen dient in einem weiteren Schritt als Grundlage der Dekonstruktion, beziehungsweise Hinterfragung des vorgezeichneten Bildes schauspielerischer Tätigkeit während der Kriegszeit. Die intersektionale 4 Viele Aspekte können nur angeschnitten und gestreift werden. Eine weiterführende Auseinandersetzung mit der Thematik ist wünschenswert und notwendig. 5 Sämtliche genannten Zeitungen sind auf Mikrofilm in der Mediathek der Karl-Franzens-Universität Graz zugänglich. Die »Tagespost« steht im Folgenden im Zentrum der Überlegungen. Das liberal-natio­ nale Blatt wurde in Graz herausgegeben, bot jedoch Berichte aus der gesamten Steiermark. Kunst- und Kulturkritik nahm relativ breiten Raum ein. Dem »Theater« wurde hier breiterer Raum geschenkt als in anderen Printmedien. 6 Die gängigen Bühnenjahrbücher waren auf etablierte Theaterräumlichkeiten einer gewissen Größe beschränkt. 7 Vergleiche etwa die Theatersammlung des GrazMuseums  : Hier finden sich zahlreiche Plakate zu Theaterproduktionen – diese waren jedoch ausnahmslos in den beiden großen festen Grazer Theaterhäusern lokalisiert. 8 Bisherige Auseinandersetzung mit der Thematik »Kriegstheater und Geschlechterrollen« waren meist auf die Verhandlung des Geschlechterdiskurses in den zur Aufführung gelangenden Stücken fokussiert. Vgl. Krivanec, Kriegsbühnen (2012), 163–179. Die Betroffenheit der Akteur:innen auf der Bühne, der Künstler:innen, gelangt selten oder gar nicht zur Sprache. Zu Ausnahmen siehe  : Sonnleitner  : Diva.

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Analyse des Lebenslaufes Alexander Girardis wird hierfür als Beispiel herangezogen9  : Der, 1850 geborene, »Volksschauspieler« kehrte 1914, nachdem er sich bereits von der Bühne zurückgezogen hatte, wieder in den Beruf zurück und verblieb bis zu seinem Tod im Frühjahr 1918 in wechselnden Gastspielengagements. Schauspielende Männer sahen sich mit der besonderen Herausforderung konfrontiert, der »Pflicht« zum Kriegsdienst nachkommen zu müssen. Gleichzeitig konnten sich in der Ausnahmesituation des »Kriegstheaters« ungeahnte Auftritts- und Karrieremöglichkeiten bieten. Auch bei der Analyse der Gastspiele Girardis und deren Bewertung durch die Medien – unter anderem in Graz – gilt es, die Positionierung des »steirischen« »Ur-Wieners« in besonderer Weise zu bedenken.10 Die Betrachtung des Theatergeschehens während des Ersten Weltkriegs in der Steiermark gleicht dabei vielfach einem Prisma  : Die zahllosen Facetten der  – gebrochenen  – Bilder sollen aufgegriffen und dem historischen Blick zugeführt werden.11

Die Theaterlandschaft in der Steiermark Die Theaterlandschaft in der Steiermark ist gedanklich unweigerlich mit den beiden großen Häusern der Oper und des Schauspielhauses in Graz verbunden.12 Eine Traditionslinie, die auch relativ ausgeprägte internationale Etablierung einschloss, zeichnete diese beiden Einrichtungen aus, die Konzentration der Forschung auf sie ist auch hier-

  9 Die Mechanismen intersektionaler Strukturen wurden in jüngster Zeit intensiv diskutiert. Insbesondere in der Geschlechterforschung, aber beispielsweise auch in der Migrationsforschung konnte der Ansatz gewinnbringend genutzt werden. Um Kritik am Bild der »Kreuzung« entgegen zu wirken sei darauf hingewiesen, dass die verschiedenen intersektionalen Kategorien zwar beständigen Veränderungen ausgesetzt sind, aber auch laufend miteinander interagieren. Vgl. Lutz, Helma/Herrera Vivar, María Teresa/ Supik, Linda (Hg.)  : Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzeptes, Wiesbaden 22013  ; Walgenbach, Katharina  : Intersektionalität  – eine Einführung (www.portalintersektionalität.de, 2012  ; download 30.7.2020). 10 In Charakterisierungen Girardis wird dieser vornehmlich als »typischer« Wiener beschrieben, wobei er insbesondere in Nachrufen als Verkörperung einer »alten Zeit« stilisiert wurde. 11 Zum Bild des Prismas vgl.: Fillafer, Franz Leander  : Imperium oder Kulturstaat  ? Die Habsburgermonarchie und die Historisierung der Nationalkulturen im 19. Jahrhundert, in  : Ther, Philipp (Hg.)  : Kulturpolitik und Theater. Die kontinentalen Imperien in Europa im Vergleich, Wien-Köln-Weimar 2012, 23–53, 23. 12 Die heutige Trennung in »Oper« und »Schauspielhaus« entspricht nicht den zeitgenössischen Gegebenheiten  : »Theater am Franzensplatz« (das heutige Schauspielhaus) und »Stadttheater« (die von Fellner/ Helmer erbaute Oper) wurden nicht nach Genres unterschieden. Vgl. hierzu etwa die Ankündigungen in Theateralmanachen. Die Almanache sind im Theatermuseum Wien zugänglich. Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger (Hg.)  : Neuer Theater-Almanach. Theatergeschichtliches Jahr- und AdressenBuch, 25. Jahrgang, Berlin 1914.

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aus erklärbar.13 Daneben aber bestanden (und bestehen) zahlreiche weitere Theaterinstitutionen. Ein stark verästeltes Netz von in Größe und angebotenem Repertoire stark variierenden Räumlichkeiten überzog die Steiermark, der vielfach konstatierte Theaterboom der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigte auch hier seine Auswirkungen. Nahezu jeder größere Ort verfügte über entsprechend adaptierte Gebäude, teilweise auch Neubauten  : in Cilli/Celje, Bruck an der Mur, Leoben und Maribor/Marburg etwa waren eigene Theatergebäude vorhanden  ; über fixe Einrichtungen verfügten ebenso Deutschlandsberg, Judenburg, Leibnitz und Radkersburg.14 Nicht zu vergessen jene Orte, die sich auf Grund des wachsenden Tourismus städtisches Gepräge verschaffen wollten, wozu neben der Errichtung einer »Promenade« auch zwangsläufig das Theater zählte  : wie etwa in Bad Gleichenberg, oder um 1900 auch in Bad Aussee.15 Ebenso verfügte Mürzzuschlag über ein Kurhaustheater in dessen Räumlichkeiten auch 1914 eine der ersten Wohltätigkeitsveranstaltungen des Ersten Weltkriegs in der Steiermark stattfand.16 Daneben darf keinesfalls auf die zahllosen Möglichkeiten theatraler Auftritte vergessen werden, die in den »Vorstädten« oder auch »auf dem Land« fixe Bestandteile des kulturellen Lebens darstellten  : Wirtshaussäle waren explizit für Aufführungen vorgesehen, wandernde Truppen bespielten in regelmäßigen Abständen derartige Lokalitäten.17 The13 Die beiden Theaterhäuser in Graz waren im 19.  Jahrhundert immer wieder Schauplätze der Auftritte internationaler Stars. Graz stellte auch in einigen Fällen Ausgangspunkt für bedeutende Karrieren dar  : als Beispiel sei die Wagnersängerin Amalie Materna genannt. Die »Pensionopolis« Graz fungierte auch für Bühnenkünstler:innen als Alterssitz  ; viele von ihnen entschlossen sich nach einem Rückzug von der Bühne dafür Unterricht zu geben und so bestanden auch in Graz zahlreiche Schauspiel- und Gesangsschulen. Hinzu kommt die Ausbildungstätigkeit des Musikvereins, der als zentrale Instanz zu erwähnen ist. 14 Die Erbauungszeiträume variieren stark  : Während in Bruck an der Mur ein Gebäude zu Beginn des 19. Jahrhunderts eingerichtet wurde und in Radkersburg ein unter Joseph II. säkularisiertes Kloster adaptiert wurde, gelangte das Theaterkino Leibnitz 1913 zur Einweihung (Aufführungen an verschiedenen Stätten gab es schon zuvor). Pläne des Theatergebäudes – Stadtmuseum Radkersburg  ; Christian, Gert (Hg.)  : Leibnitz. 75 Jahre Stadt – Festschrift zum Jubiläum der Stadterhebung am 27. April 1913, Leibnitz 1988, 158  ; Antauer, Richard  : Bruck an der Mur. Ein Heimatbuch, Bruck/Mur 1951, 73–74  ; Stadtmuseum Judenburg 78/10/1, Theaterrechnung 1851–1853. 15 In Bad Gleichenberg entstand 1873 ein fixes Theatergebäude (als Vorgängereinrichtung bestand eine »Arena«) in dem während der Saison bis zu zweimal täglich Theateraufführungen geboten wurden. Das Gebäude fand später Nutzung als Kino. Fuksas, Anatol P.: Bad Gleichenberg  : Geschichte eines steirischen Heilbades, Bad Gleichenberg 1979, 67–69. Die Errichtung eines Theaters in Bad Aussee datiert auf 1904, die Aufführungstradition ist deutlich länger nachweisbar. Pollner, Martin  : Historische Strukturen der Stadtgemeinde Bad Aussee und des Ausseerlandes. Zum 500-Jahr-Jubiläum der Verleihung des Marktsiegels Aussee durch Kaiser Maximilian I. 1505–2005, Wien 2005, 270. 16 Tagespost (Morgenblatt) 4.8.1914, o. S. 17 Peter Rosegger berichtete über diverse Aufführungen von »Wanderbühnen« in der Obersteiermark, eine dieser Vorstellungen fand in einem Heustadel statt. Vgl. Rosegger, Peter  : Heimgärtners Tagebuch (Gesammelte Werke 33), Leipzig 1916, 36–37  ; 355–357  ; Tagespost (Morgenblatt), 7.5.1916, o. S. Wanda von Sacher-Masoch erzählte über improvisierte Aufführungen unter freiem Himmel in der Untersteiermark  :

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ater und darstellende Kunst in all ihren Ausprägungsformen18 bildeten fixe Bestandteile einer schichtenübergreifenden Alltagskultur.19 Gerade in den sogenannten ›unteren‹ Bevölkerungsgruppen etablierten sich eigenständige Theatertraditionen und damit auch der Rezeption des Bühnengeschehens.20 In Graz stand mit dem Orpheum (Grazer Varieté Orpheum) ab 1899 eine große zusätzliche Bühne zur Verfügung, die abseits des ›klassischen‹ Repertoires Theaterunterhaltung bot.21 Wird mit der bereits angekündigten exemplifizierenden Konzentration auf Alexander Girardi der Fokus abschließend wiederum auf das Grazer Opernhaus gelenkt, so gilt es auch unter den Rezipient:innen des »ständischen Theaters« Vertreter:innen nahezu aller Bevölkerungskreise mitzudenken  : »Die Galerie« und ihre Geschmacksäußerungen als regelmäßiger Reibungspunkt der Theaterkritik sei an dieser Stelle – auch als Hinweis auf das Konfliktpotenzial der Theaterlust weiter Bevölkerungsteile – genannt. Insbesondere mit Beginn des 20. Jahrhunderts fanden die Versuche den Zugang zu Theaterproduktionen, beispielsweise mittels ›volksthümlicher‹ Preise, weiter zu öffnen deutliche Intensivierung. Theater als politisches Medium er-

vgl. Von Sacher-Masoch, Wanda  : Meine Lebensbeichte. Memoiren, Berlin-Leipzig 1906, 312. Es fanden sich zudem zahlreiche weitere Hinweise auf wandernde Truppen. Die lange Zeit vertretene Meinung, das Wandertruppenwesen hätte bereits um 1850 geendet, ist eindeutig widerlegt. Nach dem Ersten Weltkrieg kam es zu einem Wiederaufleben unter neuen Vorzeichen – neue Theaterkonzepte, oft auch mit gesellschaftspolitischen Gedanken verbunden, sollten einer breiten Bevölkerung vermittelt werden. Es sei an dieser Stelle auf sozialdemokratische Initiativen verwiesen. Vgl. Arbeiterwille, 3.6.1923, 6  ; Rosenthal, Friedrich  : Die Wanderbühne. Ein Beitrag zur Not, Rettung und Genesung des deutschen Theaters, Zürich-Leipzig-Wien 1922  ; Brandt, Haide-Marie  : Die Holtorf-Truppe. Wesen und Wirken einer Wanderbühne, Phil. Diss. Berlin 1960. 18 Eine »Gattungstrennung« erscheint bis ins beginnende 20.  Jahrhundert gerade im Umfeld einer ›Massenunterhaltung‹ nicht zielführend. Stücke wurden dem jeweiligen Bedarf angepasst, oftmals flexibel umgestaltet. Auch darstellende Künstler:innen wechselten vielfach je nach Notwendigkeit die Genres, die Grenzen zwischen Sänger:innen und Schauspieler:innen beispielsweise waren fließend. 19 Vergleiche hierzu auch  : Tyrolt, Rudolf  : Aus der Theaterwelt. Ernste und heitere Bilder, Leipzig 1879  ; Schacherl, Lillian  : Der Komödianten Karren kommt. Von den Wandertheatern in Böhmen, Kempten 1967. 20 Das Schlagwort der Partizipation sei an dieser Stelle als entscheidender Faktor genannt. Stücke wurden etwa durch Zurufe aus dem Publikum, Zeichen der Unmutsäußerung etc. in ihrem Ausgang beeinflusst. Zeitgenössische bildungsbürgerliche Berichterstattung interpretierte die Teilhabe des Publikums an der Aufführung wiederum typischerweise als Zeichen der Unbildung. Zur Durchsetzung – der zumeist auch heute noch gültigen – Normen des Zuhörens/Zusehens vgl.: Müller, Sven Oliver  : Hörverhalten als europäischer Kulturtransfer. Zur Veränderung der Musikrezeption im 19. Jahrhundert, in  : Stachel, Peter/ Ther, Philipp (Hg.)  : Wie europäisch ist die Oper  ? Die Geschichte des Musiktheaters als Zugang zu einer kulturellen Topographie Europas, Wien-Köln-Weimar 2009, 41–54. Hier werden allerdings lediglich Veränderungen des Verhaltens der Zuhörer:innen untereinander (miteinander reden  ; klatschen) thematisiert. 21 Kanzian, Rezka Theresia  : »… von Sinnen«. Das Grazer Varieté Orpheum, (Katalog zur Ausstellung im Stadtmuseum Graz), Graz 1999.

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langte gerade vonseiten der erstarkenden Sozialdemokratie große Aufmerksamkeit.22 Auch die Politik erkannte damit in zunehmendem Ausmaß die Massenwirksamkeit von Theaterproduktionen und nutzte diese mit zahlreichen Aufführungen zu verschiedensten Gelegenheiten. In welcher Form gelangte nun die Theaterleidenschaft weiter Bevölkerungskreise während des Ersten Weltkriegs zum Ausdruck  ?

Unterhaltung im »Kriegstheater« Gerade zu Beginn des Krieges stand die Frage der Legitimation von Theater und Unterhaltungsgewerbe generell intensiv in Diskussion. Die verantwortlichen Direktoren zeigten Hemmungen nach Kriegsausbruch den Betrieb wieder aufzunehmen. Ein Großteil der »festen« Betriebe war traditionell über die Sommermonate geschlossen, der sonst übliche Saisonstart Ende September wurde massiv infrage gestellt. Niemand wollte etwa durch unnötige Unterhaltung pietätlos erscheinen, oder sich gar dem Vorwurf ausgesetzt sehen, für den Krieg benötigte Kräfte zu vergeuden. Inoffiziell schien es die Angst vor Verlusten gewesen zu sein, die einen Gutteil der Bedenken trug. Thea­ terdirektoren hielten Versammlungen ab, bis schließlich im Verlauf des Augusts und Septembers 1914 der Entschluss zur Aufnahme der Spielzeit erfolgte.23 Die Erfolge bereits stattgefundener Wohltätigkeitsveranstaltungen, die den großen Bedarf nach Unterhaltung dokumentierten, spielten wohl eine wesentliche Rolle in der Entscheidungsfindung. Dennoch war es kein gewöhnlicher Saisonstart, der sich im Verlauf des Herbstes 1914 an den diversen Theaterhäusern vollzog. Die Auftaktveranstaltungen der beiden großen Grazer Theaterhäuser im September wurden mit großem Aufwand zelebriert.24 Mit zweiwöchiger Verspätung eröffneten Schauspielhaus und Oper am 16. und 17. September die Saison 1914. Das »patriotische Festspiel« »Alt-Österreichs Er22 So bestanden Initiativen einer expliziten »Heranführung« der Arbeiterschaft an das Theater (die Notwendigkeit einer solchen ist stark hinterfragbar, siehe im Text an anderer Stelle). Spezialvorführungen wurden durch den sozialdemokratischen Verein »Arbeiterbühne« mit-organisiert. Riesenfellner, Stefan  : Konkurrenzkultur. Anmerkungen zur Grazer Arbeiterbühne, in  : Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 15 (1984)  : Theater in Graz, hg. von Friedrich Bouvier, Helfried Valentinitsch, 167–181. 23 Bereits am 1.8.1914 kam es laut Bericht der Tagespost zu einem Treffen der »Direktoren fast sämtlicher Wiener Privattheater« in Bad Ischl, die über die Wiedereröffnung berieten. Über die Gebarung in Hinblick auf die Hoftheater sei noch nichts bekannt, wurde ausgeführt. Tagespost (Mittagsblatt), 1.8.1914, o. S. Am 4.9. folgte eine Sitzung in Wien, bei der auch der Direktor des Grazer Theater Julius Grevenberg anwesend war. Die Argumentation war bereits stark auf eine baldige Aufnahme des Betriebes gelenkt, wobei die Notlage vieler Theaterangestellter als Hauptargumentationspunkt eingesetzt wurde. Tagespost (Mittagsblatt), 4.9.1914, o. S. 24 Die Bespielungspolitik sah vor, dass vornehmlich die Bühne des Opernhauses genutzt wurde, die Öffnung des Schauspielhauses beschränkte sich auf das Wochenende. Vgl. Tagespost (Morgenblatt), 11.9.1914, o. S.

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wachen« von Ernst von Dombrowski und der neu inszenierte »Lohengrin« Richard Wagners standen auf dem Programm und waren von patriotischen Festakten umrahmt.25 Kleinere Theaterunternehmen verhielten sich abwartend, verschoben ihre Eröffnungstermine, blieben teilweise ganz geschlossen, beziehungsweise erfolgte eine Reduktion der Bespielung auf einige wenige Termine. Das Theater Cilli/Celje etwa nahm in der Saison 1914/15 den Betrieb nicht wieder auf.26 In Leoben wurde zunächst eine abwartende Position eingenommen, das Ensemble trat jedoch zu Wohltätigkeitszwecken auf.27 Der Theater-Almanach verkündete, dass das Theater »des Krieges wegen« geschlossen bliebe.28 Auch in Maribor/Marburg wurde der Betrieb zunächst kriegsbedingt eingestellt. Mit der Saison 1916/17 wurden die Aufführungen wieder aufgenommen, die damit verbundenen Schwierigkeiten werden anhand einer Ankündigung aus dem September 1916 offenkundig, wonach es der Direktion gelungen war eine neue Schauspielergesellschaft zu verpflichten.29 Die Situation der Theater erwies sich über die Kriegsjahre hinweg als relativ konstant, jene, die von Beginn an tätig waren, hielten den Betrieb – wenn auch mit zunehmenden Schwierigkeiten – weiterhin aufrecht. Bald schon wurden Probleme offenkundig, Andeutungen fehlenden Heizmaterials fanden in die Berichterstattung Eingang. Vor allem aber machte sich – in Umkehrung der Situation zu Kriegsbeginn – der Personalmangel auf Grund des Kriegseinsatzes sowohl des männlichen Bühnenpersonals, als auch der Künstler massiv bemerkbar. Größere Theaterunternehmer und etablierte Häuser waren hier im klaren Vorteil gegenüber der »Provinz«  : Da diese auf Grund des Personalmangels auch Künstler:innen engagierten, die in Friedenszeiten keinen Kontrakt erhalten hätten, entzogen sie kleinen Bühnen jegliche personelle Gestaltungsmöglichkeit. Die Fortführung des Betriebes über die Dauer des Krieges hinweg erwies sich für die Theaterunternehmungen als herausfor-

25 Zunächst trug Direktor Grevenberg Grillparzers »Das Österreichische Volkslied« vor, ihm folgte der zweite Satz des Kaiser-Quartetts von Haydn und schließlich Dombrowskis »Alt-Österreichs Erwachen«. Das Stück endet mit dem Ruf »Hoch-Österreich«, der vom Publikum mitgetragen wurde und »brausenden Jubel« hervorbrachte. Tagespost (Morgenblatt), 18.9.1914, o. S. 26 Es bestand ein eigenständiges Ensemble, jedoch ein Direktionsverbund mit Ljubljana/Laibach. Beide Häuser waren in der Saison 1914 geschlossen. Vgl. Tagespost (Morgenblatt), 28.11.1914, o. S. 27 So fand im September 1914 eine Wohltätigkeitsvorstellung für das Rote Kreuz in Bruck an der Mur statt, die von der Brucker Stadtkapelle und Mitgliedern des Stadttheaters Leoben bestritten wurde. Eine genaue Datierung, beziehungsweise ein Beleg über die Häufigkeit der Aufführungen ist aus der bisherigen Forschung nicht eruierbar. Tagespost (Morgenblatt), 8.9.1914, o. S.; List, Rudolf  : Geschichte des Stadttheaters Leoben 1790–1965, Ried im Innkreis 1966. Einzelne Hinweise weisen auf eine kontinuierliche Aufführungspraxis hin  : so fand im Jänner 1916 eine Jubiläumsvorstellung für einen Schauspieler statt. Vgl. Tagespost (Morgenblatt), 9.1.1916, o. S. 28 Genossenschaft deutscher Bühnen Angehöriger (Hg.)  : Deutsches Bühnen-Jahrbuch (bisher Neuer Theater-Almanach), 26. Jahrgang, Berlin 1915. 29 Tagespost (Morgenblatt), 5.9.1916, o. S.

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dernd, war aber finanziell lohnend  : Der Blick auf Einnahmen und Gewinne erlaubt, die Kriegsjahre als eine Blütezeit des Theaterbesuchs zu bezeichnen.30 Die Möglichkeit der Generierung von Geldern mittels künstlerischer Veranstaltungen wurde sehr rasch erkannt und bereits im August 1914 für Wohltätigkeitszwecke genutzt. Insbesondere während der ersten Kriegsmonate entwickelte sich eine wahre Flut von Aufführungen, die sich anfangs enormer Beliebtheit erfreuten. Neben der Möglichkeit öffentlich patriotische Kundgebungen zu gestalten, boten die Wohltätigkeitsveranstaltungen gleichzeitig Gelegenheit, sich an Fürsorgeaktionen aktiv zu beteiligen und gleichzeitig Unterhaltung zu erleben. Hobbykünstler:innen in allen Teilen des Landes eröffneten sich Präsentationschancen in bislang nie gekannter Zahl. Um die Attraktivität der Aufführungen zu steigern, waren den »Dilettant:innen« nach Möglichkeit stets bekannte Künstler:innen beiseitegestellt.31 Gerade in den Anfangsmonaten des Krieges beteiligten sich viele von ihnen äußerst gerne und bereitwillig – die Ungewissheit über die Fortführung der Unterhaltungsbetriebe führte zu Vakanzen in Verträgen, Anstellungsverhältnisse fanden keine Fortsetzung oder blieben ungeregelt. So stellten die »patriotischen Abende« willkommene Auftrittsmöglichkeiten dar und boten wenigstens ein geringes Grundeinkommen.32 Mit Fortdauer des Krieges verlangsamte sich der Strom von Veranstaltungen, wenn er auch nie vollständig versiegte.33 Gerade zu bestimmten – teils für den Zweck der Wohltätigkeit neu geschaffenen  – Anlässen wie dem »Soldatentag« oder der »Rotes Kreuz Woche« kam es zu wahren Veranstaltungsfluten. Der Fokus verlagerte sich aber auf die etablierten Häu30 Baravalle, Schauspielhaus (1925), 141. Siehe dazu auch die Einschätzung der Theaterkritik der »Tagespost« 1918, wonach »die Grazer Bühnen, wie alle anderen Theater in der Kriegszeit, ein durchaus aktives Unternehmen geworden sind, dem Geldsorgen ferne gerückt erscheinen.« Tagespost, 18.2.1918, 6. 31 Im Saal der »Hauptbahnhofswirtschaft« in Graz fand eine Reihe von »Vortragsabenden für Verwundete« statt, die über Monate zur fixen Einrichtung wurde. Vgl. Tagespost (Mittagsblatt), 5.10.1914, o.  S. In Römerbad wurde ein Unterhaltungsabend für das Rote Kreuz organisiert. Vgl. Tagespost (Morgenblatt), 13.11.1914, o.  S., in Gratkorn ein Wohltätigkeitsabend, dessen »Glanzpunkt« der »Opernsänger Herr Dr. Coppony« bildete. Vgl. Tagespost (Mittagsblatt), 5.12.1914, o. S. Auch die Einbindung von Kindern in das Programm war beliebt  : Am 7.12. veranstalteten die Kindergärtnerinnen Marianne und Emilie Stöger in Leoben mit ihren Zöglingen ein Weihnachtsfest. Vgl. Tagespost (Morgenblatt), 2.12.1914, o. S. Aus Platzgründen muss eine minimale Auswahl an Beispielen zur Illustration dienen – die Liste ließe sich nach Belieben erweitern. 32 Die finanzielle Notlage der Bühnenangestellten stellte eines der Argumente zur Wiedereröffnung der Grazer Oper und des Schauspielhauses dar  : 300 Menschen würde Arbeit geboten, wurde argumentiert, vgl. Tagespost (Morgenblatt), 14.9.1914, o. S. Bereits zu Beginn des Septembers wurde auf die Not der Angestellten hingewiesen und daher für eine Aufnahme des Betriebes plädiert. Vgl. Tagespost (Morgenblatt), 1.9.1914, o. S. 33 Als Beispiele seien Kindervorstellungen genannt, die in der Schauspiel- und Opernschule der Frau MayrPeyrimsky mit großem Erfolg zu Weihnachten 1915 präsentiert wurden. Vgl. Tagespost (Morgenblatt), 1.12.1915, o. S. Im Mai 1916 gab ein Teil der Schüler der Gesangsschule Stipetic einen Vortragsabend, dessen Reinertrag dem Fonds für verwundete Krieger gewidmet war. Vgl. Tagespost (Morgenblatt), 16.5.1916, o. S.

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ser aller Kategorien, immer wieder waren auch abseits von Anlassdaten Abende mit ihren Einnahmen der Wohltätigkeit gewidmet. Im Angesicht der zunehmenden Not der Versorgungslage, der Einbeziehung der »Heimatfront« blieb der Rechtfertigungsdruck auf die Unterhaltungsbetriebe und ihre Mitglieder erhalten.34 Da jedoch die Unterhaltungslust des Publikums gleichermaßen fortdauerte, erfuhr der reale Betrieb keine Veränderungen35, die seit Kriegsbeginn erprobten Rechtfertigungsstrategien gelangten weiterhin zur Anwendung  : Bestimmte Vorstellungen waren der Wohltätigkeit zugedacht, mittels »volkstümlicher« Preise das Theater breiteren Bevölkerungskreisen geöffnet.36 Auch eine Notwendigkeit der Bewahrung und Pflege kultureller Errungenschaften (getragen durch einen intensiven Deutschnationalismus) gelangte immer wieder zur Sprache37, zentral in den Mittelpunkt aber wurde die Funktion des Theaters als »Fluchtpunkt« gerückt. Gerade das allgegenwärtige Elend bedürfe eines Kontrapunktes, die Bevölkerung benötigte Ablenkung von ihrem kriegsbestimmten Alltag, lautete die Maxime. Die Argumentation, eine Fluchtmöglichkeit darzustellen und Erholung in schwierigen Zeiten zu bieten, wurde auch von Julius Grevenberg,38 dem Leiter der Grazer Theater, aufgenommen. Im Dezember 1915 druckte die »Tagespost« unter dem Titel »Das siegreiche Theater« ein Gespräch mit ihm ab. Die Menschen seien in jeder Situation gleichsam vom Krieg umgeben, formulierte er, weshalb sie gerade im Theater eine Abkehr von der kriegerischen Aktualität erhoffen würden  : »Und nun suchen sie einen ausgenommenen Raum, einen Platz der hermetisch geschlossen ist, durch dessen Ritzen nichts dringt – und sie sitzen andächtiger als sonst, kirchenstill, dichtgedrängt im Alleinsein mit der Kunst und wollen das Theater um des Theaters Willen nicht verlas34 Die Frage »wozu Theater« in Kriegszeiten benötigt würde, war beispielsweise auch in den USA sehr präsent. Vgl. insbesondere zum Rechtfertigungsdruck der Metropolitan Opera New York während des Zweiten Weltkrieges  : Fauser, Annegret  : Carmen in Khaki. Europäische Oper in den Vereinigten Staaten während des Zweiten Weltkrieges, in  : Müller, Sven Oliver/Ther, Philipp/Toelle, Jutta/Zur Nieden, Gesa (Hg.)  : Die Oper im Wandel der Gesellschaft. Kulturtransfers und Netzwerke des Musiktheaters in Europa, Wien-Köln-Weimar 2010, 301–327, hier 303–304 und 307. 35 Noch im Jänner 1918 kam es zu Berichten über eine stetig anwachsende Theaterbegeisterung. Tagespost 23. 1. 1918, o. S. 36 Im Orpheum kam es etwa zu einer Halbierung der Eintrittspreise. Vgl. Kanzian, »…von Sinnen« (1999), 38. Auch in der Grazer Oper und dem Schauspielhaus scheint der Krieg tatsächlich eine Verbreiterung des Rezipient:innenkreises bewirkt zu haben. 1918 ist von neuen Publikumsschichten die Rede. 37 Diese Argumente bewegten sich eindeutig in deutschnationalem Kontext und stellten die Theaterschaffenden immer wieder vor massive Herausforderungen  : Gerade in der Oper standen der Geschmack und das Verlangen des Publikums oftmals diametral den Ansichten einer deutschnationalen Kunstkritik gegenüber – konkret zu verdeutlichen ist das an der Begeisterung für Giuseppe Verdi. Wie sollte nun mit den Stücken verfahren werden  : genügte ein ins Deutsche übertragenes Libretto oder waren Werke »deutscher« Komponisten vorzuziehen  ? Entlang derartiger Fragestellungen kreiste die Problematik. 38 Julius Grevenberg übernahm 1911 die Leitung der Grazer Bühne und verblieb bis 1923 als Direktor. Vgl. Baravalle, Schauspielhaus (1925), 141.

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sen, weil sie fühlen  : draußen wartet er [der Krieg  ; Hervorhebung im Original] schon wieder.«39 Diesen Gedanken aufgreifend erscheint es nur logisch, dass gerade im Schauspiel die Stücke zunehmend weniger direkten Bezug zu Krieg und Kriegsgeschehen aufwiesen. Hatte anfänglich der Versuch bestanden, mittels aktueller, neu verfasster Werke wie der Operette »Gold gab ich für Eisen« den Krieg oder die gegenwärtige Kriegssituation gleichsam »auf die Bühne« zu holen,40 fand bald eine Verbannung des Zeitgeschehens aus dem Schauspiel-Theater statt. Das Bedürfnis der Rezipient:innen nach Erholung spielte dabei mit Sicherheit eine entscheidende Rolle. Gleichzeitig aber muss auch die grundlegend veränderte Unterhaltungslandschaft Berücksichtigung finden  : Aktuelle Ereignisse hatten eine mediale Verlagerung erfahren, Varieté und – in noch weitaus stärkerem Ausmaß – das Kino waren nun für die Kommentierung des Tagesgeschehens zuständig.41 Während das Theater gleichsam die Phantasiewelt eröffnete, kam es auf der Leinwand zur Darstellung der »Realität«.42 Varieté und »Kleinkunst« boten den Raum »Kriegsbegeisterung und nationalen Chauvinismus zum Ausdruck« zu bringen.43 Trotz seiner »Verbannung« von der Bühne blieb der Krieg in den Theaterhäusern dennoch stets präsent. Die Programm-Zettel von Grazer Oper und Schauspielhaus waren auf der Rückseite mit »patriotischen« Dichtungen versehen.44 Das »Jahrbuch der Grazer Theater« verwies explizit auf die »Kriegsspielzeit«.45 Die zahlreichen  – stets groß angekündigten und beworbenen – Benefizveranstaltungen vergegenwärtigten die 39 Das siegreiche Theater. Ein Gespräch mit Direktor Grevenberg, in  : Tagespost 25.12.1915, o. S. 40 Zur Parallelität der Ereignisse auch in den europäischen Metropolen vgl.: Baumeister, Kriegstheater (2005)  ; Krivanec, Kriegsbühnen (2012), 102–108, 187–193. »Gold gab ich für Eisen« gelangte in Graz erstmals Anfang Dezember 1914 zur Aufführung. Das Rührstück begeisterte das Publikum zunächst, Tagespost (Mittagsblatt), 7.12.1914, o. S. 41 Zur engen Verbindung zwischen Varieté und Kino (während des Krieges kam es gerade in Österreich auf Grund des Mangels vorführbarer Filme zu einer neuerlichen Vermischung der Genres) siehe  : Krivanec, Kriegsbühnen (2012), 252–254  ; sowie zum Grazer Orpheum während des Krieges  : Kanzian, »… von Sinnen« (1999), 22, 38–39. 42 Direktor Grevenberg wies in seinem Gespräch mit der Tagespost implizit darauf hin  : »Die Leute haben die klare, sichere Empfindung, daß die Geschehnisse oben auf der Bühne geradezu erbärmlich aussehen gegen die ungeheure Wirklichkeit.« Das siegreiche Theater. Ein Gespräch mit Direktor Grevenberg, in  : Tagespost 25.12.1915, o. S. In den Kinos wurde von Beginn des Krieges an über das aktuelle (Kampf-) Geschehen berichtet. 43 Kanzian, »… von Sinnen« (1999), 38. 44 Programm vom 17.11.1914, GrazMuseum Theaterzettelsammlung  : Inv.Nr. STMMVS05/00024. Die Zusammenstellung erscheint aussagekräftig  : Neben der österreichischen Volkshymne, »Prinz Eugen, der edle Ritter«, und dem Gedicht »Österreich, mein Vaterland« von Baron von Klesheim (das unter anderem die frohe Lieder singende Almerin beschwor) war auch »die Wacht am Rhein« vertreten. 45 Die Theateralmanache der Grazer Bühnen sind in der Sondersammlung der Grazer Universitätsbibliothek greifbar (Signatur I 46528). Die Kriegsspielzeiten 1914 bis 1916 (Druck Anfang 1917) fanden Darstellung, in Folge setzen die Jahrbücher erst nach 1918 wieder ein.

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Notlage weiter Bevölkerungskreise, vor allem aber die Akteure verdeutlichten mit ihrer Nicht-Anwesenheit, wie sehr das Theater in das Kriegsgeschehen involviert war. In dem bereits zitierten Interview sprach Direktor Grevenberg auch den Kriegsdienst der Schauspieler und die damit verbundenen Schwierigkeiten der Besetzung insbesondere in der Oper an, indem er auf den Personalmangel hinwies  : »Theaterhunger ist jetzt ausgebrochen… Wenn man noch ein vollständiges Künstlerpersonal bekommen könnte, alle notwendigen musikalischen und technischen Hilfskräfte, dann wären die Kriegszeiten für alle vom Theater wahrhafte Segenszeiten.«46 Die betroffenen Akteur:innen selbst, die Künstler:innen waren durch ihre öffentliche Position herausgefordert. Engagement und »Kriegseinsatz« wurde von ihnen erwartet, die Teilhabe zahlreicher Schauspieler:innen und Sänger:innen an Fürsorge und Wohltätigkeit ist auch in diesem Licht zu verstehen. Der Wunsch »Gutes zu tun« und die Gelegenheit »Öffentlichkeitsarbeit« zu leisten, hielten einander vielfach die Waage und waren meist kaum zu trennen.47 Die Varieté Künstlerin und Diseuse Mela Mars48 engagierte sich schon in den ersten Kriegsmonaten für das Rote Kreuz und nutzte ihren Einsatz, um Auftritte in Graz zu bewerben beziehungsweise umgekehrt ihre Beliebtheit um Wohltätigkeitsvorstellungen ein »volles Haus« zu bescheren.49 Im August 1914 gestaltete der Geiger Fritz Kreisler50 in Leoben einen Wohltätigkeitsabend.51 Der als Offizier zum Landsturmbataillon Leoben eingerückte Künstler trat in Uniform auf und erspielte eine ansehnliche Summe für das Rote Kreuz.52 Patriotische Kundgebung, Kunstdarbietung und Wohltätigkeitsgedanke ergänzten einander. Das Auftreten 46 Das siegreiche Theater. Ein Gespräch mit Direktor Grevenberg, in  : Tagespost 25.12.1915, o. S. 47 Berichte darstellender Künstler:innen zu ihren Erfahrungen in der Kriegszeit betonen – so sie überhaupt vorhanden sind  – die patriotischen/fürsorgerischen »Sondertätigkeiten«. [Besonders überraschend ist dies bei Maria Jeritza, deren Erinnerungen auf Englisch publiziert wurden. Jeritza, Maria  : Sunlight and Song. A Singer’s Life, (translated by Frederick H. Martens), New York-London 1924, 127–138] Der Bühnenalltag während des Krieges findet kaum Erwähnung. Eine Ausnahme stellt Tilla Durieux dar, die grundsätzlich mit starker Analysefähigkeit ihre autobiographischen Schriften hinterfragte. Durieux, Tilla  : Eine Tür steht offen. Erinnerungen, Berlin 1954. 48 Geboren 1882 in Wien, verstorben 1919 auf einer Gastspielreise in Berlin. Mela (Melanie) Mars war Pflegerin des Roten Kreuzes und unternahm zu dessen Gunsten ab 1915 eine Tournee. (http://www.musiklexikon.ac.at/ml/musik_M/Mars_Mella.xml  ; download 10.2.2022). 49 Siehe dazu die Berichterstattung im Vorfeld eines Auftrittes in Graz  : Mella Mars und das Rote Kreuz, in  : Tagespost (Morgenblatt), 12.11.1914, o. S. 50 Geboren 1875 in Wien, verstorben 1964 in New York. Kreisler war nur wenige Monate im Kriegseinsatz ehe er auf Grund einer Verwundung entlassen wurde. Er ging Ende November 1914 nach New York. Zur weiteren Biographie siehe  : Langner, Thomas M.: »Kreisler, Fritz«, in  : Neue Deutsche Biographie 12 (1979), 738–739, (http://www.deutsche-biographie.de/pnd119069261.htm  ; download 10.2.2022) 51 Kreisler verfasste bereits 1915 – und in den USA befindlich – einen Bericht über seinen Kriegseinsatz. Darin wird auch der Leobener Auftritt geschildert. Kreisler, Fritz  : Four Weeks in the Trenches. The War Story of a Violinist, Boston-New York 1915, online zugänglich unter  : http://net.lib.byu.edu/~rdh7//wwi/ memoir/Kreisler/Kreisler.htm. 52 Vgl. Tagespost (Morgenblatt), 20.8.1914, o. S.

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Kreislers beschwört mit seiner Demonstration einer – Künstlern vielfach abgesprochenen – militärischen Männlichkeit, die in der Folge hinterfragt werden soll.

Darstellende Künstler und Krieg Die »Militarisierung des Mannes als Kern des hegemonialen Männlichkeitsmodells«53, wie es sich im 19. Jahrhundert etablierte, fand in der Forschung bereits vielfache Beschwörung. Auch in »Deutschland« verfestigte sich das Bild des heroischen Todes für das Vaterland im Verlauf des 19.  Jahrhunderts als Idealbild  – eng verknüpft mit Vorstellungen von Patriotismus, Heldenmut und Tapferkeit, Ehre und Freiheitsliebe.54 Mit dem Vorbild eines kämpfenden Helden wurden bereits Buben in der Schule konfrontiert, der Kriegseinsatz wurde ihnen immer wieder als Notwendigkeit und ultimativer Test der Männlichkeit präsentiert.55»Maskulinität« und »Kampf-Bereitschaft« waren konzeptionell aneinander gekoppelt. Aus einem zivilen »Helden«-Ideal, wie es beispielsweise während der napoleonischen Kriege geherrscht hatte, entwickelte sich zunehmend die Vorgabe »soldatischer« Männlichkeit.56 In »Österreich« fand mit der direkten Bindung des Militärdienstes an Patriotismus / Staatsbildung und Kaiserhaus eine zusätzliche Ebene der Verpflichtung und der Bedeutungsaufladung statt.57 Geschlechterforschung hat in den vergangenen Jahren wichtige Erkenntnisse gewinnen können, indem die Wechselbeziehungen zwischen »Militär« und Geschlechterordnungen untersucht wurden.58 Neben Fragen nach »Männlichkeitskonstruktionen« standen vor allem auch Frauen, ihr Einsatz insbesondere in Kriegszeiten und die Instrumentalisierung einer »Heimatfront« im Zentrum der Überlegungen. Ein Verständnis für die Funktionalismen kriegerischer Auseinandersetzungen auf gesell53 Schmale, Wolfgang  : Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450–2000), Wien-Köln-Weimar 2003, 198. 54 Vgl. Hagemann, Karen  : German Heroes  : the Cult of the Death for the Fatherland in Nineteenth-Century Germany, in  : Dudink, Stefan/Hagemann, Karen/Tosh, John (Hg.)  : Masculinities in Politics and War. Gendering Modern History, Manchester-New York 2004, 116–134, hier 124. 55 Vgl. ebda., 128. 56 Vgl. ebda., 131. 57 Vgl. Hanisch, Ernst  : Männlichkeiten. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts, Wien-Köln-Weimar 2005, 19–20. 58 Vgl. Kühne, Thomas  : Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert, Göttingen 2006  ; Hämmerle, Christa  : »Vor vierzig Monaten waren wir Soldaten, vor einem halben Jahr noch Männer …«. Zum historischen Kontext einer »Krise der Männlichkeit« in Österreich nach dem Ersten Weltkrieg, in  : L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft, Jg. 19 (2008) Heft 2, 51–73  ; Siehe auch  : »Die allgemeine Wehrpflicht zwischen Akzeptanz und Verweigerung  : Militär und Männlichkeit/en in der Habsburgermonarchie (1868–1914/18)«  : Projekt des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (P 15234), https://www.univie.ac.at/Geschichte/p_ehrman.html.

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schaftlicher Basis ist vielfach nur durch die Einbeziehung der Kategorie Geschlecht erreichbar. Der Erste Weltkrieg in seiner Dimension als »totaler Krieg« verdeutlicht dies in eindrücklicher Weise. Die »Geschlechterdimension« ist als »zentraler Indikator« für die »Totalität« des Krieges zu verstehen, markiert sie doch »am deutlichsten das Niederreißen der Grenzlinien zwischen Heimat und Front«.59 Die Positionierung von außerhalb des Militärdienstes verbleibenden Männern fand bislang in geringerem Ausmaß Aufmerksamkeit.60 Gerade sie vermögen Brüche und Widersprüche gesellschaftlicher Vorgaben aufzuzeigen, beziehungsweise deren Funktionalismen zu hinterfragen. Darstellende Künstler waren grundsätzlich nicht vom Kriegsdienst ausgenommen, und so erschwerten Einberufungen mit Fortdauer des Krieges zunehmend den Bühnenbetrieb. Jedoch standen diejenigen, die – vorerst – im »zivilen« Leben verblieben, durch ihre öffentliche Position unter besonderer Aufmerksamkeit. Zudem nahmen Künstler:innen auch abseits von Kriegszeiten eine gesellschaftliche Sonderposition ein. Sie entsprachen nicht dem Ideal bürgerlicher Normen, ein »unsteter« Lebenswandel stand dabei im Zentrum der Überlegungen. Theaterspielende Männer und Sänger waren von der künstlerischen Außenseiter:innenstellung zwar in weitaus geringerem Ausmaß als ihre Kolleginnen betroffen  ;61 Geld zu verdienen und ein unabhängiges Leben zu gestalten, als zentrale Faktoren der Ablehnung weiblicher Bühnentätigkeit, wurden ihnen zuerkannt. Das herausragende Startum, das – einigen wenigen – Frauen einen außergewöhnlichen Karriereweg beschied, blieb Schauspielern und Sängern des 19.  Jahrhunderts aber weitgehend verschlossen.62 Das Künstlerdasein führte in 59 Hagemann, Karen  : »Jede Kraft wird gebraucht«. Militäreinsatz von Frauen im Ersten und Zweiten Weltkrieg, in  : Thoß, Bruno/Volkmann, Hans-Erich (Hg.)  : Erster Weltkrieg/Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich. Krieg, Kriegserlebnis, Kriegserfahrung in Deutschland, Paderborn et al. 2002, 79–106, hier 82  ; Hagemann, Karen  : Frauen, Nation und Krieg  : Die Bedeutung der antinapoleonischen Kriege für die Bedeutung der Geschlechterordnung – Geschichte, Nachwirkung und Erinnerung, in  : Aschmann, Birgit/ Stamm-Kuhlmann, Thomas (Hg.)  : 1813 im europäischen Kontext, Stuttgart 2015, 217–240  ; Hagemann, Karen  : Militär, Krieg und Geschlecht  : Ein Kommentar zur Militärgeschichtsschreibung in der MGZ, in  : MGZ 76/Sonderbeilage (2017), 175–184. 60 Hagemann verweist in ihrem Aufsatz zu Frauen im Militärdienst auf die Hierarchisierungen, die nicht nur zwischen »Frauen« und »Männern«, sondern gleichermaßen zwischen innerhalb und außerhalb des Militärdienstes stehenden »Männern« stattfinden. Hagemann, Jede Kraft (2002), 81. Siehe dazu auch Hagemann  : Frauen, Nation, Krieg. 61 Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit darstellenden Künstlern aus einer gender-orientierten Perspektive ist bislang gering ausgeprägt. Während in den 1990er-Jahren eine Welle des Interesses Frauen und ihre Bühnenwege hinterfragte (wenn auch keineswegs in abschließender Form), blieben Forschungen zu Theater und »Männlichkeit« nahezu vollständig aus. Vgl. Möhrmann, Renate (Hg.)  : Die Schauspielerin – Eine Kulturgeschichte, Frankfurt/Main 2000. 62 Es sei auf die internationalen Karrieren von Sarah Bernhardt oder Eleonore Duse verwiesen  ; im österreichischen Raum waren es Künstlerinnen wie Charlotte Wolter und Amalie Materna, die Starruhm umgab, während die Künstler über Bekannt- und Beliebtheit verfügten, ihre Berühmtheit aber keineswegs zu Sensationsmeldungen oder Szenen von Massenhysterie führte.

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jedem Fall zu einer Sonderstellung  : Es bestand kein verpflichtender Ausbildungskanon  ; Schauspieler, die zuvor einen anderen Beruf erlernt hatten, konnten sich zwar einerseits als wahrhaft Berufene positionieren, gleichzeitig haftete aber auch ihnen das Scheitern im Sinne bürgerlicher Ideale an.63 Zudem waren mit oftmals wechselnden Engagements auch zahlreiche Veränderungen von Wohnorten verbunden, die massiv dazu beitrugen, »künstlerischen« Lebenswandel tendenziell negativ zu bewerten. Vor allem aber schienen durch die – hinterfragbare – Kollegialität im Theaterbetrieb hegemoniale Vorgaben einer Geschlechterordnung in Frage gestellt. In Kriegszeiten kam die fragile Positionierung der Künstler deutlich zu Tage. Diejenigen unter ihnen, die nicht eingezogen worden waren, hatten die Sinnhaftigkeit ihres Tuns in Hinblick auf die Erfüllung einer »patriotischen Pflicht« zu erklären.64 Schauspielerinnen und Sängerinnen stand als »selbstverständlicher« Weg die Fürsorge offen, die Spende von »Liebesgaben«, das wohltätige Engagement war als »typisch weiblicher« Beitrag zum Kriegsdienst anerkannt und geschätzt.65 Der Beitrag zu Benefizveranstaltungen von Künstlern fand zwar Anklang beim Publikum, bedeutete jedoch keinen Beweis der »Männlichkeit«. Die Einberufung stellte somit für viele im künstlerischen Bereich tätige Männer die Chance eines Beweises der Pflichttreue und des Mutes dar. Durch die starke Verknüpfung des »maskulinen Ideals« mit dem Kampf war der Kriegseinsatz Gelegenheit sich im Krieg als »echter Mann« beweisen zu können, das zentrale Ideal der Opferbereitschaft zu erfüllen.66 Darstellende Künstler lancierten gezielt Meldungen über ihre Einberufung in der Presse. Der Schauspieler Alfred Fischer67 beispielsweise verkündete im Zuge einer »Jubiläumsvorstellung« (er feierte 1916 seine 30-jährige Bühnentätigkeit) in Leoben, dass er einrücken werde.68 Mitteilungen über »Künstler im Felde« fan63 Der Gang zum Theater bedurfte auch in der Selbstdarstellung besonderer Erklärung  – während eine vorangegangene Ausbildung zumeist als ein Element der Erfüllung elterlicher Wünsche skizziert wurde. Vergleiche hierzu beispielsweise die Autobiographien von Barnay und Tyrolt. Barnay, Ludwig  : Erinnerungen, Berlin 1954  ; Tyrolt, Rudolf  : Aus dem Tagebuche eines Wiener Schauspielers 1848–1902. Erinnerungen und Betrachtungen, Wien-Leipzig 1904. 64 Baumeister weist darauf lediglich in einem Nebensatz hin. Baumeister, Kriegstheater (2005), 66. 65 Zur Thematik der »Liebesgaben« siehe  : Hämmerle, Christa  : »Habt Dank, Ihr Wiener Mägdelein«  : Soldaten und weibliche Liebesgaben im Ersten Weltkrieg, in  : L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft, Jg. 8 (1997) Heft 1, 132–154. 66 Vergleiche etwa auch die Position von Dichtern  : Das Bild des »schwächlichen Dichters« überwinden zu können, führte zu enormen (Über-)Betonungen der eigenen kriegerischen Männlichkeit. Mosse, Männlichkeit, 60–61, 63. 67 Der Lebenslauf Alfred Fischers konnte bislang von der Autorin nicht rekonstruiert werden. Er dürfte 1867 in Wien geboren und jüdischer Herkunft sein. Vgl. Staudacher, Anna  : »…meldet den Austritt aus dem mosaischen Glauben« 18.000 Austritte aus dem Judentum in Wien. 1868–1914  : Namen – Quellen – Daten, Frankfurt/Main 2009, 148. 68 Vgl. Tagespost (Morgenblatt), 9.1.1916, o.  S. Die Bekanntgabe wichtiger Stationen der Karriere stellte einen integralen Bestandteil der Selbstvermarktung von Künstler:innen dar und wies lange Tradition auf.

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den mediale Verbreitung und sind als explizite Werbemaßnahme der Betroffenen zu verstehen.69 Die Deutung der Presse als eines der »wichtigsten Propagandainstrumente hegemonialer Männlichkeit« findet hierbei erneute Bestätigung.70 Der im folgenden Abschnitt in seinem theatralen »Kriegseinsatz« vorgestellte Alexander Girardi stand auf Grund seines Alters abseits einer Diskussion um Einrückung und Teilhabe am aktiven Kampfgeschehen. Dennoch hatten der Krieg und die damit verbundene »patriotische Verpflichtung« auch massive Auswirkungen auf seine – letzten  – Lebensjahre. Die Wirkmächtigkeit eines Pflichtgefühls und die gleichzeitige Nutzung der Chancen, die patriotische Verpflichtungen eröffneten, sollen in der Folge anhand der Auftritte Alexander Girardis in Graz diskutiert werden. Die Chancen der intersektionalen Analyse werden gerade an diesem Beispiel offenkundig  : Die alleinige Konzentration auf die Kategorie Geschlecht brächte kaum Nutzen zum Verständnis der Situation eines pensionierten Schauspielers, der als österreichische Berühmtheit galt und mit Kriegsbeginn auf die Bühne zurückkehrte.

Das Beispiel Alexander Girardi »Mit größtem Interesse verfolgt Girardi die gegenwärtige Kriegslage und er ist selbstverständlich glücklich, so oft er liest, daß seine lieben Landsleute aus Steiermark oder seine geliebten Grazer wieder einen großen Erfolg auf dem Schlachtfeld errungen haben.«71 Bei Veröffentlichung dieser Meldung am 15.  November 1914 befand sich Alexander Girardi in Bad Ischl, wo er mit seiner zweiten Frau einen Ferienaufenthalt in seinem Ruhestand verbrachte. Er hatte ab 1913 kein fixes Engagement mehr angenommen und schließlich seinen Rückzug von der Bühne eingeleitet.72 Am Vorabend des Erfolgsmeldungen von Gastspielreisen etwa wurden gezielt an die Presse der »Heimatbühne« weitergleitet. 69 Im November 1914 griff die »Tagespost« einen Bericht der Zeitung der Bühnengenossenschaft auf, wonach 304 Bühnenangehörige des deutschsprachigen Raumes »zu den Fahnen eingerückt oder als Kriegsfreiwillige eingerückt« seien. Genaue Auflistungen über Gefallene (17) und Auszeichnungen (18) folgten, wobei betont wurde, dass die Liste keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhebe. Tagespost (Morgenblatt), 8.11.1914, o. S. Auch in den Theateralmanachen fand der Kriegseinsatz Hervorhebung  : Unter der Rubrik »Ehrentafel« wurden kriegsteilnehmende Männer aufgelistet und in Kategorien unterteilt  : »Von Bühnenangehörigen fielen auf dem Felde der Ehre«, »Verwundet sind zurzeit«, »Mit dem Eisernen Kreuz wurden ausgezeichnet«, »Unter der Fahne stehen«. Vgl. Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger (Hg.)  : Deutsches Bühnen-Jahrbuch (Bisher Neuer Theater-Almanach), 26. Jahrgang, Berlin 1915, 603–629. 70 Vgl. Schmale, Männlichkeit (2003), 199. 71 Tagespost (Morgenblatt), 15.11.1914, o. S. 72 Vgl. Tagespost (Morgenblatt), 4.5.1916, o. S. Auf Grund seiner immer wieder erfolgenden Gastspielauftritte kann nicht von einem Rückzug von der Bühne gesprochen werden. So war er im Mai 1914 in Graz aufgetreten. Vgl. Jahrbuch der Grazer Theater 1916 – Rückblick auf die Kriegsspielzeit 1914–1915. Allen Freunden der Kunst hochachtungsvollst gewidmet, Graz 1916, o. S.

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Berichtes aber war er wieder aufgetreten und gab nun bekannt, dass er für Gastspiele auf die Bühne zurückkehren werde.73 Die gesamte Kriegszeit hindurch trat Girardi auf zahlreichen österreichischen Bühnen auf, seine Auftritte standen unter dem Vorzeichen der Besonderheit, des »einmaligen« Gastspiels. Ein erneutes fixes Engagement fand seine Ablehnung – bis im Jänner 1918 der Ruf an das Burgtheater erfolgte. Mit den 18 dort absolvierten Auftritten dürfte sich ein Lebenstraum verwirklicht haben, der Erfolg markierte gleichzeitig Höhepunkt und Schlusspunkt seines Lebens. Alexander Girardi starb unerwartet im April 1918. Der »Charakterkomiker«, wie er in der Darstellung der »Neuen Deutschen Biographie« zusammenfassend bezeichnet wird, kam am 12. Dezember 1850 in Graz zur Welt.74 Wie Vater und Stiefvater erlernte Girardi das Handwerk des Schlossers, wandte sich jedoch relativ rasch von diesem Beruf ab und der Bühne zu  : Nach ersten Erfahrungen mit Grazer Dilettanten-Truppen,75 absolvierte er eine Reihe kleinerer Engagements »in der Provinz«, ehe ein Vertrag ihn 1871 an das Strampfertheater nach Wien führte. Mit Ausnahme einiger  – vergleichsweise weniger außerösterreichischer76  – Gastspielreisen verbrachte er sein gesamtes Berufsleben an wechselnden Bühnen in Wien. Sein Repertoire trug zu der Bindung an regionale Gegebenheiten massiv bei, war er doch in erster Linie dem Genre des »Volksstücks« und der »Possen«, später auch der Operette verbunden. So erklären sich die Charakterisierungen, wonach Alexander Girardi in seiner Art »Österreich beinahe mystisch« verkörpere, er sei der »letzte alte Wiener«, lauteten Beschreibungen.77 Neben den Erfolgen in Wien blieb auch die Verbindung mit seiner »Heimatstadt« Graz eng. Das 40-jährige Bühnenjubiläum beging er in Graz, eine Gasse wurde hier nach ihm benannt und Girardi zum Ehrenmitglied 73 Ebd. 74 Hansen, Günther  : »Girardi, Alexander«, in  : Neue Deutsche Biographie 6 (1964), 409–410, (http://www. deutsche-biographie.de/pnd11869510X.html  ; download 19.9.2013). 75 Girardi rief zunächst 1866 mit zwei Kameraden eine Privatbühne ins Leben und trat im Thalia-Theater im Rahmen des Dilettanten-Theatervereins »Tonhalle« auf. Vgl. Andorfer, Eduard  : Girardi-Ausstellung. Musik- und Theaterschau 1950. Veranstaltetet von der Stadt Graz, (Katalog zur Ausstellung in den Redoutensälen 5.–19.12.1950), Graz 1950, 13. 76 Zwei Reisen nach Berlin in den Jahren 1908 und 1909 stellten die ersten Auslandsaufenthalte beruflicher Natur in Girardis Karriere dar. Wird die rege Gastspieltätigkeit einer Vielzahl von darstellenden Künstler:innen der 2. Hälfte des 19.  Jahrhunderts ins Auge gefasst, so stellt die »Sesshaftigkeit« Girardis eine regelrechte Ausnahmeerscheinung dar – insbesondere wenn seine Beliebtheit Berücksichtigung findet  : Gerade Schauspieler:innen-Größen waren international gefragte Sensationen (siehe die USATouren vieler »österreichischer« Künstler:innen in den 1880er- und 1890er-Jahren). Zu Girardis Berliner Auftritten vgl. Wutzky, Anna Charlotte  : Girardi, Wien 1943, 61. 77 Es handelt sich hier um Aussagen, die Bertha Zuckerkandl und Hermann Bahr zuzurechnen sind. Zit. nach  : Grandner, Margarete/Harmat, Ulrike  : Begrenzt verliebt. Gesetzliche Ehehindernisse und die Grenze zwischen Österreich und Ungarn, in  : Bauer, Ingrid/Hämmerle, Christa/Hauch, Gabriella  : Liebe und Widerstand  : Ambivalenzen historischer Geschlechterbeziehungen (L’Homme 10), Wien-Köln-Weimar 22009, 287–304, hier 289.

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der Grazer Bühne ernannt.78 Ehrungen wurden ihm vielfach zuteil, so erhielt er das Ritterkreuz des Franz-Joseph-Ordens. Dennoch nahm ihn die Kritik lediglich als Komiker wahr, die letzte Anerkennung als »großer«, »ernster« Schauspieler blieb ihm über lange Jahre verwehrt. Erst knapp vor seinem Tod erfolgte mit der Ernennung zum »Hofschauspieler« jene Auszeichnung, wie sie in Österreich für Schauspieler:innen  – nahezu ausschließlich – über die Aufnahme in den Kreis der Burgtheatermim:innen erreichbar war (und ist).79 Alexander Girardi genoss jahrzehntelang lokalen Ruhm, errang mit seinen Auftritten kommerzielle Erfolge, die Begeisterung des Publikums war jedoch allmählich im Schwinden begriffen, immer öfter füllten sich bei seinen Wiener Auftritten die Zuschauerräume nur spärlich.80 Der Entschluss zum Rückzug im Jahr 1913 dürfte davon nicht unwesentlich beeinflusst worden sein. Auch zuvor immer wieder im Rahmen von Gastauftritten tätig,81 wurde Girardi im November 1914 gleichsam aus dem Ruhestand zurück auf die Bühne gerufen und leistete bald schon seinen »Kriegseinsatz« im Theater. Der immer deutlicher werdende Bedarf an darstellenden Künstlern auf Grund der Einberufungen ließ die Auftritte von Gastkünstlern zunehmend an Wert gewinnen. Dies galt in besonderem Maße für Oper und Operette und steigerte damit nochmals die Bedeutung der Gastspiele Girardis. Alexander Girardi hatte gerade in der »Provinz« auch noch in den 1910er-Jahren als Publikumsmagnet fungiert. Er hatte sich als ›Volksschauspieler‹ positioniert, paradoxerweise aber gehörten nun während der Kriegszeit gerade seine Vorstellungen eben nicht zu jenen, die mit ermäßigten, »volksthümlichen« Preisen zu besuchen waren.82 78 Die Benennung der Girardigasse in Graz fand bereits 1909 statt, vgl. Kubinzky, Karl A./Wentner, Astrid M.: Grazer Straßennamen. Herkunft und Bedeutung, Graz ²1998, 152. Auch in Wien existiert seit 1918 eine Girardigasse, vgl. Autengruber, Peter  : Lexikon der Wiener Straßennamen. Bedeutung – Herkunft – frühere Bezeichnungen, Wien 62007, 91. Nach seinem Tod wurde von Freund:innen und Verehrer:innen ein »Girardi-Denkmal-Fonds« eingerichtet und Veranstaltungen zur Sammlung von Geldern abgehalten. So am 1.  März 1927 eine Girardi-Redoute. Vgl. Graz-Museum Theatersammlung  : Inv.Nr.  STM THE 05/00499-05/00524. 79 Helene Odilon beschreibt den – vor allem im Ausland unerfüllt gebliebenen – Drang Alexander Girardis, von seinem Umfeld als Berühmtheit wahrgenommen zu werden. Ihre Aufzeichnungen sind allerdings mit Vorsicht zu behandeln, da zwischen ihr und Girardi ein heftiger Scheidungskrieg (inklusive versuchter Einweisung in die »Irrenanstalt«) getobt hatte. Odilon, Helene  : Das Buch einer Schwachsinnigen. Lebenserinnerungen, Berlin 1909. 80 Vgl. Wutzky, Girardi (1943), 61. Girardi erging es ähnlich wie zuvor Josephine Gallmeyer, die als sein weiblicher Konterpart galt. Die nachlassende Anerkennung für das Volksstück schlug sich auch auf die Darsteller:innen nieder. Ehemals umjubelte Künstler:innen blieben zwar weiterhin beliebt, wurden aber in der Publikumsgunst durch neue Stars ersetzt. Vgl. dazu  : Glossy, Blanka/Berger, Gisela  : Josefine Gallmeyer. Wiens größte Volksschauspielerin, Wien o. J. 81 Vgl. Tagespost (Morgenblatt), 15.11.1914, o. S. 82 Girardi hatte auch vor dem Krieg für wohltätige Zwecke Auftritte absolviert, war etwa einmal im Rahmen einer Vorstellung der »Arbeiterbühne« aufgetreten. Vgl. Der Bühnenkünstler Girardi gestorben, in  : Arbeiterwille, 23.4.1918, 6.

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Girardi war ein Bühnenstar gewesen, sein Name schien ein willig zahlendes Publikum und volle Häuser zu garantieren. Der zweite »Steirische Soldatentag« im Dezember 1915 war mit einer Festvorstellung im Grazer Opernhaus begangen worden, der kurze Auftritt Girardis – er war einer unter vielen – fand begeisterte Aufnahme im Publikum, der Erlös der Veranstaltung war Fürsorgezwecken gewidmet. Der Darstellung des Zsupan im »Zigeunerbaron« am 27. Dezember 1915 und einer Einlage am Silvesterabend folgten am 4., 6., 10., 14. und 16. Jänner 1916 rund um Girardi inszenierte Aufführungen. In der »Tagespost« wurde für diese Veranstaltungen massiv die Werbetrommel gerührt. Im Rahmen einer Fürsorgevorstellung präsentierte sich Girardi erstmals in der Rolle des »Steinklopfer« in »Die Kreuzelschreiber« von Ludwig Anzengruber.83 Die Einmaligkeit der Gelegenheit fand starke Hervorhebung.84 Grundsätzlich sticht die stetige extreme Betonung des Erfolges ins Auge und gemahnt in ihrer Formelhaftigkeit mehr an Beschwörungen denn an echte Überzeugung. Die »Tradition von ausverkauften Häusern, von stürmischen Beifallskundgebungen«85 wird betont  : »Es besteht kein Zweifel, dass das Publikum dafür dem Künstler mit einem gänzlich ausverkauften Hause danken wird.«86 Am Vortag der letzten Jännervorstellung des Grazer Gastspiels findet sich die Ankündigung, wonach Girardi sich nun »für lange Zeit vom hiesigen Publikum« verabschieden würde.87 In Anbetracht der Tatsache seiner Wiederkehr nach drei Monaten erscheint auch diese Meldung in erster Linie als Werbemaßnahme gesetzt, um eine Aufmerksamkeit zu garantieren, die vollumfänglich nicht mehr gegeben war. Im Mai 1916 stand Alexander Girardi in Graz wieder für eine Fürsorge-Vorstellung auf der Bühne. Die Ankündigung für »Das dumme Herz« am 20. Mai war erneut von Werbebotschaften bestimmt  : Das Werk sei für ihn geschrieben worden, biete ihm damit beste Möglichkeit seine Kunst zu entfalten  ; zudem würden »trotz Gastspiel und Wohltätigkeit« nur normale Preise eingehoben.88 Im Bericht zur Aufführung am 20.  Mai 1916 wurde der Jubel der Verehrer:innen beschrieben und deren Bedauern, dass er nicht öfter in Graz, wo er jetzt wieder wohnhaft war, anwesend sei.89 83 Die Einkünfte wurden dem Verein »Concordia« gewidmet. Hierbei handelte es sich um einen Unterstützungsverein für Journalisten und Schriftsteller, dessen Ehrenmitglied Girardi war. Vgl. Tagespost (Morgenblatt), 31.12.1915, o. S. 84 Vgl. Tagespost (Morgenblatt), 1.1.1915, o. S. 85 Tagespost (Mittagsblatt), 28.12.1915, o. S. 86 Tagespost (Morgenblatt), 30.12.1915, o. S. Ähnliche Formulierungen finden sich in weiteren Artikeln, so etwa der Hinweis in der Ankündigung zu »Er und seine Schwester« am 6. Jänner 1916  : »Seine bisherigen Gastspiele fanden stets vor ausverkauftem Hause statt.« Vgl. Tagespost (Morgenblatt), 6.1.1916, o. S. 87 Tagespost (Morgenblatt), 15.1.1916, o. S. 88 Tagespost (Morgenblatt), 18.5.1916, o. S. 89 Tagespost (Morgenblatt), 20.5.1916, o. S. Im Mai 1916 gelangte auch »Künstlerblut« zur Aufführung. Der Bericht verwies darauf, dass Girardi in Tragik und Komik sein Können ausspielen konnte. Das Publikum fand keine Erwähnung mehr, vielmehr verlagerte sich der Fokus der Darstellung in ungewohnter Weise auf andere Darsteller:innen. Tagespost (Morgenblatt), 29.5.1916, o. S.

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So schienen neben dem »Zugpferd« Girardi in immer stärkerem Ausmaß Krieg und Fürsorge den Kartenverkauf zu garantieren. Die Unterhaltungslust ermöglichte kurzfristige Erfolge mit dem Rückgriff auf  – bereits aus der Mode gekommene  – Genrewerke des »Volksstücks«, wie sie dem Repertoire Girardis entsprachen. Sie garantierten für einen Abend die »Flucht« aus dem Alltag, indem sie gleichsam eine Rückversetzung in die Vorkriegszeit versprachen. Über einen längeren Zeitraum hinweg dürfte das immer selbe Angebot an Stücken jedoch zur Ermüdung des Publikumsinteresses geführt haben. Kurzfristigkeit, gepaart mit der Verpflichtung zum Besuch, die Wohltätigkeitsvorstellungen innewohnte, stellte den Schlüssel zum Erfolg dar. Alexander Girardi hatte 1914 die Gelegenheit genutzt, ab diesem Zeitpunkt fortgesetzte Gastspielreisen unternommen. Seine Auftritte waren dabei vielfach mit Fürsorgezwecken verknüpft. Wie bereits zuvor ausgeführt beförderte der zunehmende Personalmangel Gastspiele, ermöglichte Girardi die Fortführung seiner Bühnentätigkeit und eröffnete ihm schlussendlich im Jänner 1918 – drei Monate vor seinem Tod – den Zugang zum Burgtheater  : Der neue Direktor berief ihn nach ausführlichen Verhandlungen zum Hofschauspieler.90 Die Zusammenschau der Kriegsauftritte Alexander Girardis erschließt ein vielschichtiges Bild, dessen Facetten durch starke Ambivalenzen bestimmt sind. In der Darstellung der »Tagespost« erfolgte eine Stilisierung zum opferbereiten »Helden«  : der gefeierte Star, der unermüdlich zur Unterhaltung des Publikums im Einsatz war, im Sinne der Fürsorge seine Kunst zur Verfügung stellte und schließlich gar dem Ruf an die »Burg« folgte  – obwohl er es vorgezogen hätte in Graz zu bleiben.91 Auf Grund seines Alters stand Girardi in gewisser Weise abseits einer Diskussion um die Einbeziehung von Schauspielern in den Kriegsdienst. Der Krieg ermöglichte es ihm aber in bislang nie gekannter Weise »patriotischen Dienst« zu erfüllen, seine »Pflicht« zu tun. Gleichzeitig eröffneten sich Möglichkeiten der persönlichen künstlerischen Karriere  : Die Verpflichtung ans Burgtheater wäre in anderem Zusammenhang kaum denkbar erschienen. Notwendigkeiten, Verpflichtungen und Nutzen waren miteinander verzahnt, ergänzten und bedingten einander. Der Krieg war von unzweifelhaft großer Bedeutung für die letzten Karriereschritte 90 Er konnte eine Reihe von Auftritten absolvieren, ehe eine Verletzung am Fuß des zuckerkranken Girardi zu einer Amputation führte. Nach Komplikationen verstarb er am 20.4.1918 in Wien. Auch die Burgtheater-Vorstellungen wurden von Graz aus stürmisch bejubelt, jedoch von Kollegen keineswegs so positiv wahrgenommen. Rudolf Tyrolt äußerte sich kritisch, sprach vom »Spätherbst« des Könnens Girardis und der »wehmütigen Enttäuschung«, die die Burgtheaterauftritte ihm beschieden hätten. Vgl. Schreiber, Hermann  : Alexander Girardi, Himberg 1991, 288. Auch in den Nachrufen wird die Zeit an der Burg tendenziell verhalten bewertet. Vgl. Prerovsky, Leo  : Der letzte Biedermeier, in  : Sport und Salon, 28.4.1918, Jg. 22 (1918) Heft 17, 7–8. 91 In einem Bericht aus der Probenzeit wird Girardi mit einem entsprechenden Ausspruch (»In Graz wärs heut herrlich«) zitiert und seine Liebe zu und Sehnsucht nach der Stadt beschrieben. Tagespost, 15.2.1918, o. S.

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des Alexander Girardi. Die Erfolge seiner Gastspieltourneen, getragen durch den in den 1890er- und 1910er-Jahren errungenen Ruhm, den Odem der »Einmaligkeit« und Besonderheit und zusätzlich befördert durch die oftmalige Verknüpfung an Fürsorge und Wohltätigkeit, waren eng mit der Unterhaltungssehnsucht des Theaterpublikums verbunden. Die Auftritte Girardis gemahnten an vergangene Zeiten  – Zeiten ohne Krieg. Sein Tod wiederum wurde ebenfalls mit dem Kriegsgeschehen verknüpft und symbolisch gedeutet  : Der Krieg habe eine neue Zeit gebracht, mit Girardi sei die alte Ordnung gegangen.92

Resümee Das »Kriegstheater« verdeutlicht die gesellschaftliche Bedeutung der Unterhaltungsmedien ebenso wie die »totale« Präsenz des Ersten Weltkrieges, die auch auf den  – »provinziellen«  – Bühnen stets gegeben war. Die Auswirkungen »des Krieges« auf »das Theater« waren vielfältiger Natur  : »Hatten die Kriegsjahre auch auf die künstlerischen Werte des Spielplanes ungünstig gewirkt, so brachten sie doch reiche finanzielle Erfolge,«93 lautete das Resümee für die Grazer Bühnen 1925. Was hier zugespitzt für Grazer Oper und Schauspielhaus formuliert wurde, hatte Geltung für viele Unterhaltungsbetriebe. Einschränkungen auf Grund mangelnden Personals und der durch den Krieg auferlegten Programmgestaltungen wurden durch gesteigerte Verdienstmöglichkeiten infolge der enormen Unterhaltungslust konterkariert. Auch für die Akteur:innen war im »Kriegstheater« eine ambivalente Situation gegeben – geschickte Positionierung erlaubte zusätzliche Erfolge, gleichzeitig bedeutete die patriotische Verpflichtung gerade für darstellende Künstler mittleren Alters eine enorme Herausforderung. Im Falle Alexander Girardis spielten sein fortgeschrittenes Alter und seine gesellschaftliche und soziale Stellung als Schauspieler, der in Österreich über einen relativ großen Grad an Berühmtheit verfügte, eine entscheidende Rolle. In Wechselwirkung mit den Einflüssen und Vorgaben des »Kriegstheaters« gelang es ihm schließlich, den für ihn letzten entscheidenden Karriereschritt zu vollziehen und die Verpflichtung an das Burgtheater zu erreichen. Krieg und Theater standen in Wechselbeziehung, der Einfluss des Kriegsgeschehens auf die Unterhaltungsmaschinerie war von großer Wirkung. In seinen Ausprägungen oftmals nicht auf den ersten Blick ersichtlich gestaltete das Kriegsgeschehen gleichsam das Unterhaltungsprogramm und belegt die »totale« Präsenz des Ersten Weltkriegs – auch – im »provinziellen« Theaterbetrieb.

92 Prerovsky, Biedermeier (1918), 8. 93 Baravalle, Schauspielhaus (1925), 142.

Anita Ziegerhofer

»Soldaten des Hinterlandes«1 Der Erste Weltkrieg und der Anteil der steirischen Frauen* Allgemeine Betrachtungen: Frauen und der Erste Weltkrieg Soweit meine persönlichen Erfahrungen reichen, besteht mit Bezug auf ihre Stellung zur Friedensfrage kein Unterschied zwischen den Menschen männlichen und weiblichen Geschlechts. Begeisterung für Kriegsthaten und Kriegshelden findet man bei Frauen so gut wie bei Männern, Begeisterung und Energie für die Friedensbewegung wird von Frauen ebenso intensiv an den Tag gelegt wie von Männern, und schliesslich die grosse Gleichgiltigkeit [sic  !], das Haften an der Routine, die Verständnisslosigkeit einem neuen Zeitgedanken gegenüber gehört gleichfalls unterschiedslos allen Massen an.2

Mit diesen Worten trat Bertha von Suttner (1843–1914) dem Stereotyp entgegen, Männer mit Krieg, Frauen mit Frieden gleichzusetzen. Als Friedensaktivistin lehnte sie sich ständig gegen diese Gleichsetzung auf, allerdings zunächst mit mäßigem Erfolg. Immerhin zeichnete die ältere Forschung in der Beantwortung der Frage »Frauen und Krieg« genau das Bild, gegen das die Friedensnobelpreisträgerin ankämpfte. Dieses »Dogma« kann den Ergebnissen der Gender-Forschung längst nicht mehr standhalten, und es ist ein Faktum, dass sich die Thematik nicht auf diese zwei Kategorien reduzieren lässt, sondern viel differenzierter zu betrachten ist.3 Frauen konnten und können am Krieg beteiligt sein, an der Front als Kämpferinnen oder im Hinterland etwa als * An dieser Stelle möchte ich mich herzlichst bei Frau Edith Fuchsbichler für die großartige Zeitungsrecherche und bei Frau Josefa Pfeifer für die Transkriptionen bedanken. 1 Vgl. weitere Veröffentlichungen der Autorin zu hier behandelten Fragestellungen  : Ziegerhofer, Anita  : Der Erste Weltkrieg und die »Kriegsdienstleistungen« von Frauen. Spurensuche in der Steiermark, in  : Renner, Elke/Hautmann, Hans/Malina, Peter (Hg.)  : Bildungsanlass Erster Weltkrieg, Schulheft 159/2015, 93–104  ; Ziegerhofer, Anita  : Der Erste Weltkrieg und die »Kriegsdienstleistungen« der steirischen Frauen. Eine Spurensuche, in  : Historische Mitteilungen 28 (2016)  : Der Erste Weltkrieg – Regionale Perspektiven, 59–73. Einen allgemeinen Überblick über Frauen in der Steiermark bietet Schmidlechner, Karin M./Ziegerhofer, Anita/Sohn-Kronthaler, Michaela/Sonnleitner, Ute/Holzer, Elisabeth  : Geschichte der Frauen in der Steiermark. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Graz 2017. 2 Von Suttner, Bertha  : Die Waffen nieder, in  : Monatsschrift zur Förderung der Friedensbewegung, IV. Jg. (1895) 7, 254. 3 Siehe etwa Hämmerle, Christa/Überegger, Oswald/Bader-Zaar, Birgitta (Hg.)  : Gender and the First World War, New York 2014  ; Grayzel Susan R.: Women and the First World War, Essex 2002  ; Grayzel, Susan R.: Women’s identities at war. Gender, Motherhood, and Politics in Britain and France during the First World War, North Carolina 1999.

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Lehrerinnen, Krankenschwestern oder als Arbeiterinnen in den Munitionsfabriken.4 Man kann auch dann von einer »Kriegsbeteiligung« von Frauen sprechen, wenn diese ihre Männer, Väter oder Söhne motivierten, in den Krieg zu ziehen, wie es »die natio­ nale Propaganda in der Verbindung von Mutterschaft, Nationalismus und Militarismus von ihnen verlangte.«5 »Frauen und Krieg« bedeutet(e) das Zeichnen des traditionellen Bildes der Frau als Kämpferin für den Frieden, es galt demnach  : »Entweder den Krieg heroisch bekämpfen oder ihn passiv erleiden  !«6 Im Jahr 1915 stellte Olga Misar (1876–1950), Vorstandsmitglied des »Allgemeinen Österreichischen Frauenvereins« die Frage, »Wollen Frauen Krieg oder Frieden  ?« und bejahte sie zugunsten des Krieges – denn es ging dabei um die Vaterlandsliebe, die Frauen üben müssten.7 Damit war klar – dem Patriotismus galt es nun alles unterzuordnen  ! Im selben Jahr lud die niederländische Frauenrechtlerin Aletta Jacobs (1854–1929) nach Haag zum Internationalen Frauenkongress (27. bis 30. April 1915). Über 1.000 Frauen nicht nur neutraler, sondern auch kriegführender Staaten fanden sich ein, um über das Thema Frieden zu diskutieren.8 Das Ergebnis dieses Kongresses fand Niederschlag in einer Resolution, die man mit den Worten »im Bewusstsein unseres Anteils an der Schuld, dass weder den Kriegen der Vergangenheit, noch dem jetzigen vorgebeugt wurde«9 einleitete. In dieser Resolution protestierten die Friedenskämpferinnen gegen den Krieg und traten für seine baldige Beendigung ein und forderten, dass der Friedensschluss dergestalt erfolgen müsse, dass den Frauen die gleichen Rechte gewährt werden wie den Männern.10 In der Resolution des Friedenskongresses klingt ein weiterer Fragenkomplex an, der sich im Zusammenhang mit der Thematik »Frauen und Krieg« ergibt  : die Frage der Mittäterschaft von Frauen im Krieg. Diese Frage versuchten bereits Vertreterinnen der »alten« Frauenbewegung zu beantworten. Die deutsche Frauenrechtskämpferin Hedwig Dohm (1831–1919) etwa fand dafür eine radikale Antwort als sie meinte, dass Mittäterschaft bereits bei der »Männeranbetung bürgerlicher Frauen« beginne.11 Die   4 Vgl. Schmidlechner, Karin M.: Überlegungen zur Thematik »Frauen und Krieg« als Gegenstand der Geschlechtergeschichte, in  : Dornik, Wolfram/Gießauf, Johannes/Iber, Walter M. (Hg.)  : Krieg und Wirtschaft. Von der Antike bis ins 21. Jahrhundert, Innsbruck 2010, 67−77, 71.  5 Ebd.   6 Stöhr, Irene/Aurand, Detel  : Opfer oder Täter, in  : Courage 11 (1982), 44.   7 Misar, Olga  : Für Frieden und Völkerverständigung. Wollen die Frauen Krieg oder Frieden  ?, in  : Neues Frauenleben. Organ der freiheitlichen Frauen in Österreich, Jg. 17 (1915) Heft 3, 60–62.   8 Minor, Daisy  : Über den internationalen Haager Frauenkongress, in  : Der Bund. Zentralblatt des Bundes österreichischen Frauenvereine, Jg. 10 (1915) Heft 6, 8–10.   9 Zit. nach Kurz-Scherf, Ingrid et al. (Hg.)  : Reader Feministische Politik und Wissenschaft. Positionen, Perspektiven, Anregungen aus Geschichte und Gegenwart, Königstein/Taunus 2006, 74. 10 Ebd., 75. 11 Thürmer-Rohr, Christina  : Mittäterschaft von Frauen  : Die Komplizenschaft mit der Unterdrückung, in  : Becker, Ruth/Krotendiek, Beate (Hg.)  : Handbuch der Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methode, Empirie, Wiesbaden ³2010, 88.

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Frage nach den Täterinnen spitzt sich vor allem in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg zu, aufgrund der totalitären Ideologien wie Nationalsozialismus, Faschismus und Stalinismus – sie stellte den Kern des Historikerinnenstreites an der Wende von den 1980erzu den 1990er-Jahren dar.12 Auf den Ersten Weltkrieg umgelegt, stellt sich die Frage »Opfer oder bzw. und Täterin« in geringem Maße bis gar nicht, sofern man »Massenfürsorge« oder Mitwirkung in der Rüstungsindustrie nicht bereits als Kollaboration betrachtet.13 Die Veränderung der Geschlechterverhältnisse durch den Krieg lag zu einem Gutteil darin, dass Frauen ab Ausbruch des Krieges nicht mehr nur jenen Tätigkeiten nachgehen mussten, die ihnen kraft ihres Frau-Seins durch die Gesellschaft zugeschrieben wurden, sondern sie mussten auch solche übernehmen, die bis dato beinahe ausschließlich Männer verrichteten, wodurch sich die Lebenswelt der Frauen dementsprechend veränderte. Dies galt vor allem im Ersten Weltkrieg für die bürgerlichen Frauen, die ihr »beschauliches« Leben zugunsten der Aufrechterhaltung und Wohlfahrt des Staates aufgeben mussten.14 Mit Ausbruch des Ersten Krieges stellten die bürgerlichen Frauen vorübergehend ihre Forderungen etwa nach Gleichberechtigung und politischer Partizipation zugunsten eines Diskurses der Mütterlichkeit als ureigensten weiblichen Gefühls hintan  : Der Krieg bedeutete für sie den »gewaltigen Durchbruch jenes lange verschütteten weiblichen Gefühls, das nichts anderes will als  : helfen und heilen, – jenes primitiven Geschlechtsgefühls, das ein einziges Wort am reinsten darstellt  : Mütterlichkeit«15. »Mütterlichkeit« wird zur »politischen« Kategorie  : Caritas zur Sozialpolitik, Wohlfahrt zur Massenfürsorge. Der Krieg führte zur »Verflechtung von Staat und Einzelleben« von »Öffentlichkeit und Privatheit.«16 Es begann sich somit schon im Laufe des Ersten Weltkrieges die Transformation des Privaten zum Öffentlichen in schwachen Konturen abzuzeichnen. Sie sollte sich im Zuge der »zweiten Frauenbewegung« in den 1970erJahren durchsetzen, als deren Vertreter:innen laut und medienwirksam »Das Private ist öffentlich« forderten. »Soldaten des Hinterlandes« wurden die Frauen genannt, die an der Heimatfront mobilisiert wurden, um so den Alltag während des Krieges aufrecht zu erhalten. Daraus ergab sich eine dichte Vernetzung zwischen Front und Heimatfront, Kriegsgebiet und Hinterland.17 Bereits einen Tag vor der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien, am 28. Juli 1914, erfolgte ein Aufruf der Vorsitzenden des Bundes österreichischer Frauen, Marianne Hainisch (1839–1936), »An Österreichs Frauen«, um Hilfs12 Ebd., 89. 13 Zit. nach Schmidlechner  : Überlegungen (2010), 71. 14 Vgl. Kreuter-Gallé, Lina  : Frauenversammlung, Einberufung vom Deutschen Frauenbund Steiermarks. Hauptrede, Graz 1918, 3. 15 Braun, Lily  : Die Frauen und der Krieg, Berlin 1915, 11. 16 Stöhr/Arnaud, Opfer oder Täter (1982), 50. 17 Siehe dazu ausführlich Hämmerle, Christa  : Heimat/Front. Geschlechtergeschichte/n des Ersten Weltkrieges in Österreich-Ungarn, Wien 2014, 20.

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aktionen zu leisten.18 Die »Reichsorganisation der Hausfrauen Österreichs« (ROHÖ) sollte ab nun eine zentrale Vermittlerrolle zwischen »Gesamtstaat und Kronländern« einnehmen. Im Sinne des Patriotismus bildete sich in der Steiermark der Frauenhilfsausschuss. Er stand unter der Führung des »Allgemeinen Deutschen Frauenvereins« und der »Katholischen Frauenorganisation für die Steiermark«. Den Ausschuss bildeten 32 Vereine19, und die Gattin des Statthalters des Kronlandes Steiermark, Gräfin Franziska von Clary und Aldringen (1859–1938), übernahm die ehrenamtliche Patronanz. Der Statthalter, Graf Manfred von Clary und Aldringen (1852–1928), bekleidete gleichzeitig das Amt des Präsidenten des Roten Kreuzes in der Steiermark und wohl aufgrund dieser Funktion ist auch die Kooperation des Frauenhilfsausschusses mit dem Roten Kreuz zu erklären. Die Präsidentin des »Allgemeinen Deutschen Frauenvereins« in der Steiermark, Sylvia Glowacki, rühmte im Jahr 1915 geradezu das »überaus bereitwillige Entgegenkommen und die unschätzbar wertvolle und tatkräftige Unterstützung und Förderung seitens des Statthalters.«20 Ebenfalls im Jahr 1915 fasste Helene Granitsch (1876–1956), führende österreichische Frauenrechtlerin und Vorsitzende der ROHÖ, die Kriegsdienstleistungen der Frauen in einer mit Bildern versehenen Broschüre zusammen.21 Diese Kriegsdienstleistungen der Frauen rechtfertigte man mit den »heroischen« Begriffen Patriotismus, Wirtschaftlichkeit und Fürsorge. Zum patriotischen Kriegsdienst zählte etwa der Appell an die Mütter, ihre Männer und Söhne zu ermutigen in den Krieg zu ziehen. Darüber hinaus übten diese Mütter und Ehefrauen in den Spitälern und SäuglingsSchutzstellen ihre (Hilfs-)Dienste aus.22 Die Kriegsdienstleistung im wirtschaftlichen Sinne bezog sich auf die Rolle der Frau als Hausfrau, deren Wissen gerade in Notzeiten gefragt war. Ökonomie im Haushalt und Patriotismus wurden verschränkt  : Das richtige ökonomische Prinzip, die rationelle Verwertung aller vorhandenen Lebensmittel bis auf die Ausnützung ihres letzten Nährwertes zur Viehverfütterung ist Kriegsaufgabe der wirtschaftsführenden Hausfrauen und je tiefer das Verständnis für die Wichtigkeit dieser Frage in die Bevölkerung eindringt, desto rationeller wird der Staatshaushalt arbeiten können und desto widerstandsfähiger wird das Vaterland gegen die Aushungerungsmethode seiner Feinde sein.23

18 Hainisch, Marianne  : Frauen Österreichs  !, in  : Der Bund. Zentralblatt des Bundes österreichischen Frauenvereine, Jg. 9 (1914) Heft 8, 3. 19 Glowacki, Sylvia  : Kriegshilfsaktion der Grazer Frauen, in  : Almanach des Kriegsjahres 1914/15 der patriotischen Frauen Österreichs, hg. zu Gunsten des Witwen- und Waisenhilfsfond für die gesamte bewaffnete Macht, Wien o. J., 33. 20 Ebd. 21 Granitsch, Helene  : Kriegsdienstleistung der Frauen, Wien 1915. 22 Vgl. ebda., 15. 23 Ebd., 20–22.

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Die Kriegsdienstleistung im sozialen Bereich schließlich meinte nicht so sehr »Armenunterstützung«, sondern vielmehr das Schaffen von Arbeitsmöglichkeiten.24 Im Folgenden werden nun diese Kriegsdienstleistungen steirischer Frauen dargestellt und der Versuch unternommen, die Frage nach den Auswirkungen des Krieges auf die Frauen zu beantworten.

Der Anteil der Frauen am Ersten Weltkrieg im Lichte der »Tagespost« Eine Tageszeitung als Quelle einer Recherche zu verwenden, bedeutet nicht nur, einen bestimmten Zeitraum untersuchen zu können, sondern auch die Möglichkeit, das Lokalkolorit in seiner Aktualität und Publizität zu beleuchten. Die seit 1856 in Graz erscheinende »Tagespost« bietet sich für den hier zu untersuchenden Zeitausschnitt als Quelle an. Sie zählte neben der 1904 gegründeten »Kleinen Zeitung« zu den auflagenstärksten Tageszeitungen der Steiermark mit einer weiten Verbreitung in den südlichen und östlichen Teilen der Monarchie.25 1945 erfolgte der letzte Andruck, um dann im selben Jahr zunächst als »Steirerblatt« und ab 1951 als »Südost-Tagespost« bis zum endgültigen Aus im Jahr 1986 wieder zu erscheinen. Vor dem Ersten Weltkrieg verzeichnete die »Tagespost« eine Auflage von 22.000, danach von bis zu 36.000 Stück pro Tag.26 Zwischen 1914 und 1918 erschien sie morgens, mittags und abends. Die Leser:innen der bürgerlich-liberal ausgerichteten Zeitung stammten großteils aus dem Großbürgertum und der Beamtenschaft. Anhand der »Tagespost«-Recherche soll der Anteil der Frauen am Krieg nachgezeichnet werden, soll die, wie Hämmerle es nennt »Verschmelzung von Front und Heimatfront« dargestellt sowie der oben aufgeworfenen Frage nachgegangen werden, welchen Einfluss der Krieg auf das Geschlechterverhältnis hatte. Darüber hinaus wird auch eine kurze Darstellung über das Bild der Frau in der »Tagespost« erfolgen. Allerdings muss vorausgeschickt werden, dass es sich hier lediglich um einen kursorischen Überblick handeln kann – eine eingehende Untersuchung ist aufgrund der gebotenen Kürze nicht möglich. Die ersten Mitteilungen in Bezug auf die Kriegsdienstleistungen von Frauen liegen ab August 1914 vor. Die »Tagespost« berichtete über den unmittelbar nach Kriegsbeginn ins Leben gerufenen Frauenhilfsausschuss, der unter der Patronanz der Frau »Statthalter [sic  !], Franziska Gräfin von Clary und Aldringen« seine Arbeiten aufnahm. Im Vorstand befand sich die »Gemahlin des Oberlandesgerichtspräsidenten Frau Fanny von Pitreich«, die Leitung des Ausschusses hatte Frau Aktionspräsidentin Helene von 24 Vgl. ebda., 25. 25 Vgl. auch Pilch, Günther  : Propaganda im Ersten Weltkrieg am Beispiel der Italien-Berichterstattung ausgewählter Grazer Tageszeitungen, Phil. Dipl. Graz 2004, 57–59. 26 Aschacher, Nora  : Die Presse in der Steiermark von 1918 bis 31. Juli 1955, Phil. Diss. Wien 1972, 56–62.

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Fleischhacker »in hingebungsvoller Weise« inne.27 Für das III. Korps hatte man bereits warme Wäsche und gestrickte Ausrüstungsartikel angefertigt.28 Zum damaligen Zeitpunkt verfügte der Frauenhilfsausschuss bereits über 9.000 Kronen29 an Geldspenden, wovon der Statthalter Graf Clary und Aldringen 2.000 Kronen Vorschuss gewährte. Im September 1914 versorgte der Ausschuss bereits sechs öffentliche Spitäler und die freiwillige Sanitätsabteilung Graz des Roten Kreuzes stellte 7.311 Stück Wäsche, Kissen, »Kotzen« (Decken) und sonstige Ausrüstungsgegenstände zur Verfügung. Außerdem ergingen an 15 Spitäler und die Bahnhoflabestelle ca. 2.700 Gläser Fruchtsäfte und Kompotte. Die Näharbeiten und das Einkochen von Obst erfolgten in den Räumlichkeiten der Frauengewerbeschule des »Steiermärkischen Gewerbevereines«. Für die Herstellung sowie die Transport- und Verzehrungskosten musste der Frauenhilfsausschuss selbst aufkommen. Daher erging die Bitte, eine monatliche Beitragszahlung von ein bis fünf Kronen zu leisten und weiters, Wohnungen für Verwundete und Rekonvaleszente zur Verfügung zu stellen. Damals konnten 83 Wohnungen mit 231 Betten bereitgestellt werden. Eng verknüpft mit den wirtschaftlichen Kriegsdiensten der Frauen waren soziale Aspekte, zumal die Näharbeiten nicht nur von freiwilligen Helferinnen, sondern auch von bezahlten Näherinnen ausgeführt wurden. Auf diese Weise erhielten einige wenige Frauen eine Verdienstmöglichkeit, was damals – angesichts des großen Ausmaßes der Arbeitslosigkeit – von wesentlicher Bedeutung war. Fürsorge – verstanden als Jugendfürsorge  – erfolgte durch die im Grazer Rathaus untergebrachte »Jugendfürsorgestelle«. Nicht nur die sozialdemokratische Frauenvereinigung wirkte hier eifrig mit, sondern auch viele Familien, wohltätige Institutionen oder Unternehmen, sodass etwa ein Mittagstisch für zahlreiche Kinder (in 88 Familien wurden ca. 140 Kinder verpflegt, wobei der Israelitische Frauenverein 24 derartige Angebote vermittelte) organisiert werden konnte. In den Grazer Kindergärten verköstigte man 400 Kinder großteils kostenlos oder gegen kleines Entgelt.30 Der Grazer Frauenhilfsausschuss hatte seinen Sitz in der Albrechtgasse 3. W ­ ährend der gesamten Kriegsjahre organisierten seine Mitglieder die Entgegennahme von Lebensmittel- oder Geldanweisungen, die Übernahme von Kriegspatenschaften, die Durchführung von Koch-, Säuglings- oder Rechtskursen (z. B. Vormundschaftswesen) oder die Organisation der Errichtung von Näh- und Strickstuben, Kriegsküchen, Freitischen oder Heimkrippen für jene Kinder, deren Mütter Wöchnerinnen waren. Diese Einrichtung wollte man auch nach dem Krieg bestehen lassen.31 27 Allgemeine Frauenhilfsstelle in der Burg, in  : Tagespost, 25.9.1914, o. S. 28 Steiermark, in  : Neues Frauenleben, Jg. 16 (1914) Nr. 11, 258. 29 Im Jahr 1914 betrugen 100 Kronen (kaufkraftmäßig) etwa 465 €, 1915 nur mehr ca. 275 €, im Jahr 1916 ca. 136 €, 1917 ca. 68 €. Für diese Auskunft danke ich Herrn ao. Univ.-Prof. Dr. Peter Teibenbacher sehr herzlich. 30 Vgl. Allgemeine Frauenhilfsstelle in der Burg, in  : Tagespost, 25.9.1914, o. S. 31 Einen Überblick über die Tätigkeiten des Frauenhilfsausschusses gibt Glowacki  : Kriegshilfsaktion (o. J.), 33–38.

»Soldaten des Hinterlandes« 

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Die Gründung eines Frauenhilfsausschusses erfolgte jedoch nicht nur in der Hauptstadt des Kronlandes, sondern auch am »Land« entstanden ähnliche Institutionen. So hob man die Arbeit des Frauenhilfsausschusses von Stainz besonders lobend hervor.32 Die dortigen Frauen hatten einen Hilfsfond gegründet und viele Sammlungen eingeleitet, um Reservistenfrauen, aber auch Arbeitslose zu unterstützen. Polnische Flüchtlinge wurden untergebracht und mit Hausrat, Wäsche und Nahrungsmittel versehen. Den Soldaten an der Front sandten die Frauen warme Wäsche. Sie fertigten für »60 Mann eine warme Ausstattung an«  – teils freiwillig  – teils bezahlt. Die Entlohnung wurde besonders betont, da dadurch nicht nur den Soldaten geholfen war, sondern auch arbeitslosen Näherinnen eine Verdienstmöglichkeit gegeben wurde.33 Bereits einen Monat nach Kriegsbeginn fand die Arbeit des Frauenhilfsausschusses höchste Anerkennung, als der Dichter Peter Rosegger (1843–1918) einen mit »Ein Hilferuf« betitelten Artikel in der »Tagespost« veröffentlichte.34 Er appellierte an die Menschenliebe, die aus dem Felde zurückkehrenden Soldaten zu verarzten. In diesen Zusammenhang wies er darauf hin, dass allerorts Frauenhände tätig seien, um Wäsche zu nähen und Wollkleider zu stricken  : »Voran in dieser Arbeit heftigster Liebe stellt sich wohl der Grazer Frauenhilfsausschuss.«35 Sein »Hilferuf« kann im Zusammenhang mit der Flüchtlingswelle, die zur selben Zeit aus Galizien einsetzte, gesehen werden. Unter dem Vorsitz der »Exzellenz Baronin Thoemmel-Teuffenbach«, Präsidentin des Frauenhilfsvereins vom Roten Kreuz in Görz/Gorizia, bildete sich in Graz ein Ausschuss von Görzer Damen, der es sich zum Ziel machte, »das große Elend der hier weilenden Flüchtlinge aus dem Küstenlande etwas zu mildern.«36 »Da es sich in diesem Fall um jene Grenzbewohner handelt, die als gute österreichische Patrioten bezeichnet werden können, verdient die Tätigkeit dieses Ausschusses auch die Förderung unserer Bevölkerung«37, weshalb man aufrief, Geld, Kleider oder Schuhe zu spenden oder Kriegspatenschaften zu übernehmen. Peter Rosegger sollte im Jahr 1917 nochmals einen Aufruf an die Frauen richten, jetzt allerdings, um den Mangel an Wäsche der im Felde stehenden Soldaten zu beheben.38 Seine Bitte um Kleiderspende beendet er mit folgendem Satz  : »Wer schließlich für unsere lieben Tapferen sein letztes Hemd hingibt, dem bleibt immer noch die Haut  ! Um unsere Haut wehren wir uns  !«39

32 Vgl. Steiermark (1914), 258. 33 Ebd. 34 Rosegger, Peter  : Ein Hilferuf, in  : Tagespost, 30.9.1914, o. S. 35 Ebd. 36 Für die küstenländischen Flüchtlinge, in  : Tagespost, 16.1.1916, o. S. 37 Ebd. 38 Rosegger, Peter  : Bitte an die Frauen  !, in  : Tagespost, 14.10.1917, o. S. 39 Ebd.

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Liebesgaben Allgemein kann festgehalten werden, dass die Berichterstattung über die Kriegsdienstleistungen der Frauen auf dem Gebiet der »Ökonomie« den Hauptteil der Zeitungsartikel ausmachte. So findet man ab Kriegsbeginn bis ca. Mitte 1915 Aufrufe, die Soldaten mit »Liebesgaben« zu versorgen. Damit wird bewusst öffentlich an die Opferbereitschaft von Frauen, an weibliche Liebe und Fürsorge appelliert.40 Die »Liebesgaben« fertigten Frauen und Kinder als Ausdruck ihres Dankes für die Kampfbereitschaft der Männer an und versuchten auf diese Weise, Heimat und Front über Ausweitung der »familiären Bande zwischen Mutter und Sohn, Vater und Tochter, Ehefrau und Ehemann, Bruder und Schwester«41 zu verbinden. Mittels Spendenaufrufen appellierte man an die Opferbereitschaft der Frauen, handelte es sich doch um »winzige«42 Opfer im Vergleich zu den Entbehrungen der Männer, die an der Front dienten. Unter den Begriff der »Liebesgaben« subsummierte man folgende Gegenstände  : Wäsche und Bekleidungsgegenstände, Konsumartikel wie Feigen im Fass, gedörrte Zwetschken, Johannisbrot in Säcken, erfrischende Zuckergattungen wie Pfefferminzbonbons etc., Senf, Mixed Pickles, Essig, pulverisierte Zitronensäure, Schokolade, Keks, Makkaroni und sonstige Teigwaren, Himbeersaft, Apfel- und Birnenmost, Pilsner Bier, Wein, Cognac, Mineralwasser, Zigarren und Zigaretten, Zigaretten- und Pfeifentabak, Zigarettenpapier, Tabakpfeifenstopfmaschinen. Weiters Hemden, Unterhosen, Sommer­ socken, Taschentücher, leichte Fußklappen für den Sommer, Nackenschützer aus grauem Leinen, Wickelgamaschen aus grauem Leinen, Handtücher und Toilettenartikel wie Haarschneidemaschinen, Rasiermesser und -apparate, Toilette- und Rasierseifen, Zahnreinigungsmittel, Taschenkämme, Sonnenbrillen, Briefpapier, Notizblöcke, Bleistifte, handliche Musikinstrumente, brauchbare Taschenuhren.43 Die Sammeltätigkeit im Sinne der »Liebesgaben« beschränkte sich nicht nur auf den Frauenhilfsausschuss oder auf die Frauenvereine, sondern auch Einzelpersonen konnten diese initiieren. So berichtete die »Tagespost« über Gräfin Anna Wels-Colloredo, Gemahlin des Bezirkshauptmanns von Parenzo/Poreč, die seit Ausbruch des Krieges eine große Sammeltätigkeit leitete.44 So konnten bereits im Dezember 1914 Geschenke an die Soldaten des III. Korps geschickt werden  ; etwa im August 1915 »über 140.000 Zigaretten, mehr als 20.000 Zigarren und eine beträchtliche Menge Tabak und Wein an die Verteidiger der Süd-West-Front«.45 Die dortige Schuljugend sammelte über 14.000 kg wollene Kleidungsstücke und über 1.000 kg Metalle. Auch den Frauen und Mädchen von Pettau/Ptuj dankte man für die Herstellung der Winterausrüstung für 40 Vgl. Hämmerle, Heimat/Front (2014), 141. 41 Ebd. 42 Ebd. 43 Liebesgaben für unsere Truppen im Felde, in  : Tagespost, 23.5.1915, o. S. 44 Rubrik  : Aus den Nachbarländern, in  : Tagespost, 26.4.1916, o. S. 45 Ebd.

»Soldaten des Hinterlandes« 

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die »braven, im Felde stehenden Soldaten«.46 Ende Februar 1915 drückte die »Tagespost« ihren Dank an alle Spenderinnen aus, die dem Aufruf gefolgt waren und »Liebesgaben« an die Verwundeten des III. Korps sandten, die in Kaschau/Košice im Spital untergebracht waren. Es wurden Früchte (Orangen, Äpfel), Schokolade, Bäckereien, Zucker- und Teebäckereien, Dörrobst, Ribiselwein, Kakao oder Käse gespendet.47 In Hinblick auf die Zigarettenspenden, zu denen vor allem in den ersten beiden Kriegsjahren aufgerufen wurde, sei auf einen »Aufruf an die Frauen und Mädchen in Graz« aus dem Jahr 1916 hingewiesen.48 Die Frauen werden gebeten, durch »Aufgeben einer lieben Gewohnheit abermals ein gutes Werk [zu] schaffen. […] Lasset so lange das Zigarettenrauchen, so lange der Vorrat an Zigaretten ein so knapp bemessener ist, daß tagelang die Trafiken ohne eine Zigarette dastehen.«49 Als Begründung für dieses Opfer führte die anonyme Verfasserin des Aufrufes – »Eine Frau an Viele« – an  : »Für uns Frauen ist ja das Zigarettenrauchen keine Notwendigkeit, es ist etwas Gewohnheit dabei, etwas Spielerei, vielleicht auch etwas Koketterie, sonst nichts«  ; hingegen für unsere Männer ist es ein unerläßliches Genußmittel, vollends heute, da jeder Mann, in welchem Berufe er auch immer stehen mag, eine erhöhte Leistungsfähigkeit bekunden muß. Darum Frauen und Mädchen von Graz, laßt das Zigarettenrauchen und zählt diese Enthaltsamkeit mit zu den vielen schönen Taten, die ihr schon während all der ernsten Kriegsmonate vollbracht habt.50

Die Sendung von »Liebesgaben« blieb nicht unbedankt  : So erhielt das steirische Kriegsfürsorgeamt des k. u. k. Kriegsministeriums viele Dankesschreiben für die WeihnachtsLiebesgabensammlung aus dem Jahr 1915.51 Unter den Persönlichkeiten, die im Namen der Soldaten des III. Korps den Dank aussprachen, befanden sich Feldmarschall Erzherzog Friedrich, der Chef des Generalstabes Franz Conrad von Hötzendorf und Ministerpräsident Karl Graf Stürgkh. »Die Gewißheit, dass die Lieben in der Heimat der draußen zum Schutze des Vaterlandes schwer kämpfenden Soldaten gedenken und ihnen liebe, schätzbare Gaben widmen, wird den braven Kriegern des Korps ein erneuter Ansporn in ihrer eisernen, nie erlahmenden Ausdauer sein.«52

46 Dank an die Frauen und Mädchen Pettaus, in  : Tagespost, 13.4.1916, o. S. 47 Liebesgaben für das Kaschauer Vereinsspital, in  : Tagespost, 5.3.1915, o. S. 48 Offene Sprechstelle. Aufruf an die Frauen und Mädchen in Graz  !, in  : Tagespost, 26.4.1916, o. S. 49 Ebd. 50 Ebd. 51 Der Dank der Armee, in  : Tagespost, 16.1.1916, o. S. 52 Ebd.

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Hausfrauenarbeit für das Vaterland Durch den Krieg wurde die »Hausfrauenarbeit« öffentlich, durch das In-den-DienstStellen für das Vaterland. Dieser Übergang des Privaten in die »patriotische« Öffentlichkeit fand geradezu eine Überhöhung durch eine Ausstellung zum Thema »Frauenfleiß«, die im November 1915 in Graz in Anwesenheit des Statthalters Clary und Aldringen und seiner Frau eröffnet wurde.53 Käthe Casatti führte namens des Kuratoriums durch die Ausstellung in den Räumlichkeiten des Militärwissenschaftlichen Casinovereins in der Hofgasse 12, und die »Tagespost« berichtete darüber mit überschwänglichen Worten  : »In dem echten großen Wettstreit, zu dem der Krieg alle Kräfte aufgerufen hat und der in jeder Woche Überraschungen bringt, hat sich auch die Frauenarbeit gewagt. Nun sie kann ihn ruhig annehmen, sie wird ihn bestehen.«54 Der Ertrag dieser Ausstellung kam der Unterstützung der Witwen und Waisen des III. Korps zugute. Für diese Personengruppe, aber auch etwa für erblindete steirische Soldaten findet man bereits ab dem Jahr 1914 in der »Tagespost« Ankündigungen von Wohltätigkeitsveranstaltungen.55 So fand z. B. Anfang Mai 1916 eine derartige Veranstaltung statt, organisiert vom Lehrkörper der Landes-Oberrealschule in Graz.56 Abgesehen davon bekamen Militärwitwen und -waisen besondere staatliche Unterstützung.57 In diesem Zusammenhang sei auf einen Artikel verwiesen, in dem sich die Soldatenwitwe Therese Ivanic aus Marburg/Maribor bei den treuen Kameraden ihres verstorbenen Mannes für deren Geldspende in der Höhe von 635 Kronen und 83 Heller bedankt. Die Kameraden hatten dieses Geld für die Witwe und die beiden Kinder gesammelt.58 Einen wesentlichen Bereich der Berichterstattung in der »Tagespost« nahm die Ernährung ein. Bereits am 1.  August 1914 forderte man die Hausfrauen »dringend« auf, »derzeit vorwiegend jene Lebensmittel zu verwenden, die für die Verpflegung des Heeres nur in geringen Mengen nötig sind.«59 Ab dem Frühjahr 1915 gehörten etwa Berichte über die Einschränkung und Rationierung von Fleisch- und Fettverbrauch, des Brot-, Mehl- und Milchverkaufs etc. zu den täglichen Meldungen wie jene über die Front. Der Engpass in der Ernährung führte sogar dazu, dass eine Aufnah-

53 Frauenfleiß im Dienste der Kriegsfürsorge, in  : Tagespost, 13.11.1915, o. S. 54 Ebd. 55 Wohltätigkeitsabend des Allgemeinen Deutschen Frauenvereines, in  : Tagespost, 16.11.1915, o. S.; Fürs Vaterland, in  : Tagespost, 16.11.1915, o.  S.; Wohltätigkeits-Theaterabend, in  : Tagespost 10.4.1916, o.  S. (zugunsten der blinden Soldaten unter dem Schutz von Gräfin Laja Meran). 56 Wohltätigkeits-Musikaufführung, in  : Tagespost, 17.5.1916, o. S. 57 Für die Witwen und Waisen nach Staatsbeamten, in  : Tagespost, 20.2.1916, o. S.; Unterstützung für Militärwitwen und -waisen, in  : Tagespost  : 2.9.1916, o. S. 58 Dank einer Soldatenwitwe, in  : Tagespost, 9.3.1916, o. S. 59 An die Hausfrauen von Graz  !, in  : Tagespost, 1.8.1914, o. S.

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mesperre für galizische Flüchtlinge für Graz verhängt wurde.60 Als Gegenmaßnahme organisierte der Frauenhilfsausschuss ab Anfang April 1915 eine Ausspeiseaktion.61 Mit den Ausspeisungen, die ausschließlich für die arme, einheimische Bevölkerung von Graz bestimmt waren, wollte man Anfang Mai in den Bezirken Gries, Jakomini und Lend beginnen. Eine Ausweitung der Aktion auf weitere Bezirke stellte man in Aussicht. Während der Frauenhilfsausschuss als Zentralstelle fungierte, übernahmen die »Katholische Frauenorganisation«, der »Allgemeine Deutsche Frauenverein« und die ROHÖ die Leitung der einzelnen Küchen. Der Statthalter begrüßte die geplante Fürsorgeeinrichtung und sagte den Damen seine volle Unterstützung mit Rat und Tat sowie auch finanzielle Beihilfe zu. Für die Lagerung der Vorräte stellte er einen geeigneten Kellerraum in der Alten Universität in der Bürgergasse zur Verfügung. Auch die Stadtgemeinde bekundete ihre Absicht, diese »segensreiche Aktion« tunlichst fördern zu wollen.62 Doch diese Ausspeiseaktion allein war nicht ausreichend, andere Wege mussten beschritten werden, um der anhaltenden Lebensmittelknappheit bzw. -teuerung Einhalt gebieten zu können, um so den Hungerwinter 1916/17 durchzustehen. So beschloss die Grazer Ortsgruppe der ROHÖ eine Eingabe an das Präsidium des Ernährungsamtes in Wien zu tätigen, quasi als Notschrei einer über 160.000 Einwohner:innen zählenden Stadt.63 Aus dieser Eingabe wird ersichtlich, dass einer Grazer Hausfrau für eine Woche ¼ kg Mehl zugestanden wurde, pro Kopf 1 kg Kartoffeln, »wovon die Hälfte verdorben ist«, und die Butter, sofern man sie überhaupt erhält, ebenfalls ungenießbar sei. Äpfel konnte man nur zu unerschwinglichen Preisen beziehen, Käse gab es nicht mehr zu kaufen und das Gemüseangebot wurde immer rarer. Man verwies in diesem Zusammenhang auf den Kölner Kardinal, der sich für eine bessere Ernährungslage eingesetzt hatte, bzw. bat nun den Fürstbischof von Seckau, Leopold Schuster (1842–1927), um seine Unterstützung. Auch sollten die Frauen, wie in Deutschland, zur aktiven Mitarbeit im Ernährungsamt herangezogen werden.64 Tags darauf überbrachte eine Abordnung von Frauen ihre Wünsche dem Statthalter Clary und Aldringen, den Statthaltereirat von Rainer vertrat. Er versprach sein Möglichstes zu tun.65 Bereits am 8.  Juni 1916 demonstrierten 500 bis 600 Frauen vor der Bezirkshauptmannschaft Leoben und forderten die Freigabe von Polenta und Rollgerste, die ersten Mehldemonstrationen setzten Ende September 1916 ein und im Laufe des Jahres 1917 häuften sich die Lebensmittelunruhen in Graz. Sie wurden in erster Linie von Arbeiterinnen organisiert, die sich gegen eine Bevorzugung der Offiziers- und Beamtenfamilien richteten.66 60 Sperre über Graz für galizische Flüchtlinge, in  : Tagespost, 15.4.1915, o. S. 61 Die Ausspeiseaktion des Steiermärkischen Frauenhilfsausschusses, in  : Tagespost, 15.4.1915, o. S. 62 Ebd. 63 Die Klagen der Grazer Hausfrauen, in  : Tagespost, 13.12.1916, o. S. 64 Ebd. 65 Ebd. 66 Vgl. Weber, Franz Christian  : »Wir wollen nicht hilflos zu Grunde gehen  !« Zur Ernährungskrise der Stei-

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So beschloss der Grazer Gemeindewirtschaftsrat in seiner Sitzung im Februar 1918 die Maßnahmen zur Sicherung der Ernährung der Bevölkerung (es galt vor allem die Ernährung der Kinder, Beschaffung der notwendigen Milch und des nötigen Zuckers zu sichern) zu beschleunigen, um die Ernährungslage der Bevölkerung zu verbessern.67 Als Begleitmaßnahme zu den eben geschilderten Aktionen begann der Frauenhilfsausschuss mit Vorträgen in den steirischen Bezirken etwa über Gemüseanbau, wozu man die Heimgärten verwenden sollte68, über die Kriegsküche oder die Verwertung von Küchen- und Wirtschaftsabfällen und hielt Kriegskochkurse in der gesamten Steiermark ab. Mit dem Vortrag über die Kriegsküche war auch meistens ein Vortrag über »Sparen und Durchhalten« verbunden wie auch über die Kriegsfürsorge der weiblichen Hinterbliebenen von gefallenen Reservisten.69 Einige Mitglieder des Frauenhilfsausschusses unternahmen im Frühjahr 1915 eine Studienreise nach Berlin und Dresden, um Möglichkeiten der Beschaffung billigerer Lebensmittel und die Verabreichung der billigen Mittagsküche zu studieren.70 Die Beschaffung von Lebensmitteln bedeutete für die Hausfrauen eine zusätzliche Belastung, weshalb ein anonymer Autor in der »Tagespost« den Vorschlag machte, Frauen den »Orden fürs Durchhalten« zu verleihen.71

Frauen als »Soldaten des Hinterlandes« Neben den Haus- und Erziehungsarbeiten, dem Spenden und Sammeln, zog man allmählich die Frauen auch zu Arbeiten heran, die bis dato Männer verrichtet hatten. So erfolgte ein Erlass des k. k. Eisenbahnministeriums über die »versuchsweise Verwendung weiblicher Kräfte im Eisenbahnfahrdienste während der Kriegsdauer.«72 Allerdings blieb der Einsatz weiblicher Hilfskräfte vorläufig auf den Fahrkartenrevisionsdienst zunächst bei den Lokalpersonenzügen, dann bei solchen Personenzügen, die bloß in Teilstrecken der Haupt- oder auf Seitenlinien verkehren, beschränkt. Es war dafür Sorge zu tragen, dass der Zugführer- und Schlusskondukteurdienst von männlichen Zugbegleitern versehen werde. Die Schaffnerinnen waren in der Mitte des Zuges zu positionieren. Keine Verwendung fanden Schaffnerinnen bei Schnell- und Fernpersonenzügen und ferner bei allen personenbefördernden Zügen, auch auf Lokalbahnen, bei denen nur ein oder zwei Zugbegleiter eingeteilt waren, die neben dem Fahrkartenrevisionsdienst auch noch Verschiebungen zu besorgen hatten. Bei der Aufnahme ermark im Ersten Weltkrieg und ihren politisch-sozialen Auswirkungen, in  : Blätter für Heimatkunde, Jg. 74 (2000), 96–131, 117. 67 Die Ernährungssorgen der Stadt Graz, in  : Tagespost, 8.2.1918, o. S. 68 Vortrag über Gemüseanbau, in  : Tagespost, 21.4.1915, o. S. 69 Vgl. etwa Voitsberg, Kriegskochkurs oder Rottenmann, Kriegskochkurs in  : Tagespost, 7.5.1915, o. S. 70 Steiermärkischer Frauenhilfsausschuss, in  : Tagespost, 28.4.1915, o. S. 71 Unsere Frauen, in  : Tagespost, 8.12.1916, o. S. 72 Verwendung von Frauen im Eisenbahndienst, in  : Tagespost, 23.4.1916, o. S.

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musste den Frauen ausdrücklich gesagt werden, dass ihre Verwendung nur für die Zeit des Bedarfs und für die Dauer des Krieges beabsichtigt sei.73 Neben ihrer Tätigkeit bei der Eisenbahn, fanden Frauen schon früher eine Anstellung als Straßenbahnschaffnerinnen. Im September 1915 berichtete die »Tagespost« über die bestens bewährten Straßenbahnschaffnerinnen in Linz. Deshalb plante die dortige Direktion der Straßenbahngesellschaft versuchsweise den Einsatz von Frauen als Straßenbahnlenkerinnen, weshalb »bereits sechs theoretisch geschulte Mädchen« zu den ersten Probefahrten zugelassen wurden.74 Aus einem Feuilleton in der »Tagespost« vom September 1916 geht hervor, dass die Schaffnerin bereits zu diesem Zeitpunkt zum gewohnten Bild einer Großstadt gehörte.75 Wenn nicht in dieser Funktion so doch als Kutscherin, schaffte es eine Mürzzuschlagerin, in die »Tagespost« zu kommen.76 Da man für den Postpaketzustellwagen keinen Kutscher mehr finden konnte, erklärte sich die »Tochter der angesehenen Bürgerfamilie, Fräulein Resi Mörser«, bereit, diesen Dienst zu übernehmen. Die »gewandte Rosslenkerin« übte ihren Dienst tadellos aus. Außerdem spendete sie die ihr gebührende tägliche Vergütung von drei Kronen dem Labedienst des Roten Kreuzes am Mürzzuschlager Bahnhof. Die Verwendung von Frauen als Krankenschwestern, Krankenpflegerinnen und auch vereinzelt als Ärztinnen wird in einem eigenen Beitrag thematisiert.77 Es sei hier lediglich angemerkt, dass oftmals Annoncen erschienen, in welchen auf die Abhaltung von Pflegekursen hingewiesen wurde. Man ermunterte und ermutigte die Frauen, diese zu besuchen. Dies kann durchaus als Folge des seit Beginn des Weltkrieges herrschenden eklatanten Mangels an ausgebildeten Krankenschwestern angesehen werden  : Immerhin erfolgte erstmals unmittelbar vor Ausbruch des Krieges die gesetzliche Regelung der Krankenpflegerinnen-Ausbildung. Elke Hammer-Luza vermutet, dass diese Maßnahme bereits in Hinblick auf »künftige kriegerische Ereignisse« erlassen wurde.78 So taten sich aufgrund des Krieges neue Berufsfelder für Frauen bzw. auch Bereiche einer künftigen »Frauenpolitik« vor allem im Bereich der Fürsorge auf, die aus dem Findelwesen heraus entstanden ist.

73 Vgl. dazu allgemein Prettenthaler-Ziegerhofer, Anita  : … sag mir, wo die Frauen sind … Gedanken zur Geschichte der Eisenbahnerinnen anlässlich des Jubiläums »150 Jahre Südbahn«, in  : Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 37 (2007)  : Stadt und Eisenbahn  : Graz und die Südbahn, hg. von Friedrich Bouvier und Nikolaus Reisinger, 223–239. 74 Weibliche Motorführer in Linz, in  : Tagespost, 21.9.1915, o. S. 75 R. Adelsberger, Die brave Schaffnerin, in  : Tagespost, 10.9.1916, o. S. 76 Weibliche Kriegsfürsorge, in  : Tagespost, 11.7.1915, o. S. 77 An dieser Stelle sei auf Heidrun Zettelbauers Beitrag in diesem Sammelband verwiesen. 78 Vgl. Hammer-Luza, Elke  : »An den Schmerzenslagern unserer verwundeten Krieger.« Die Krankenschwester im Ersten Weltkrieg  – Ideal und Realität, in  : Riegler, Josef (Hg.)  : »Ihr lebt in einer großen Zeit, …« Propaganda und Wirklichkeit im Ersten Weltkrieg (Veröffentlichungen des Steiermärkischen Landesarchives 38), Graz 2014, 171–186, 174.

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Während der Dauer des Krieges berichtete die »Tagespost« lediglich einmal über eine Soldatin, die an der Grazer Universität studierte. Unter dem Titel »Eine Heldin unserer Universität« wird über Sophie Haletschko berichtet, die seit September in den Reihen der Ukrainischen Legion in Galizien und in den Karpaten als Soldatin kämpfte und dafür die Goldene Tapferkeitsmedaille erhielt. Die »unerschrockene Kämpferin« weilte »zur Erholung in unserer Stadt und hatte Samstag die Liebenswürdigkeit, einen unserer Mitarbeiter zu empfangen«.79 Diesem berichtete sie über ihren Entschluss, fürs Vaterland zu kämpfen  : Als sie gehört hatte, so der Berichterstatter, dass ihre Landsleute ein freiwilliges Schützenkorps gebildet hätten, war es sogleich ihr sehnlichster Wunsch, in dieses einzutreten. Wenngleich ihre Aufnahme von verschiedenen Schwierigkeiten begleitet war, ließ sie sich nicht von ihrem Entschlusse abbringen und versuchte über die Krankenpflege ihr Ziel zu erreichen  : Sie kam nach Munkacs [heute Mukatschewe, Westukraine, Anm. d. Verf.] und war dort in Feldspitälern tätig. Ihre Bitte um Einreihung in die Schützenschar wurde endlich erfüllt. Als gewöhnlicher Soldat trat das Mädchen in den Kriegsdienst, wo es bald zum Feldwebel vorrücken sollte. Fortwährend in der Schwarmlinie machte Fräulein Haletschko die Einnahme von Drohobytsch mit, wobei sich die Kompanie, der sie angehörte, ganz besonders hervortat. Vor allem zeichnet sich Fräulein Haletschko als Streifwachführerin aus. Wiederholt erhielt sie den Auftrag, mehrere Kilometer hinter die russische Deckung zu gehen. So kam die Tapfere einige Male bis 30 Kilometer hinter die feindliche Schwarmlinie. […]. Ihre letzten Gefechte waren bei Tuchulko und Annaberg in den Karpathen. Sie ist voll Siegeszuversicht und freut sich, recht bald wieder in die Front zu kommen. Sonntag Nacht verließ Fräulein Haletschko unsere Stadt, um zu ihrer Kompanie zurückzukehren.80

Die »Heldin« findet man in den Matriken der Karl-Franzens-Universität eingetragen als Sophie Haleczko. Sie studierte vom Wintersemester 1910/11 bis zum Sommersemester 1914 hauptsächlich Germanistik an der Philosophischen Fakultät, um später als Mittelschulprofessorin tätig zu werden.81 Am 6.  Dezember 1914 war sie, die am 8. September 1891 in Lemberg/L`viv/Lwów geboren wurde, als Feldwebel mit der Silbernen Tapferkeitsmedaille 2. Klasse ausgezeichnet worden.82 Diese Auszeichnung 79 Eine Heldin unserer Universität, in  : Tagespost, 8.2.1915, o. S. 80 Ebd. 81 Für diese Auskunft danke ich Herrn Univ. Prof. i. R. Dr. Alois Kernbauer, ehemaliger Leiter des Universitätsarchivs, sehr, die er mir aufgrund folgender Quelle erstattete  : UAG Nationale der Philosophischen Fakultät 1910–1914. Die Studentin war in Galizien geboren und hatte in Lemberg mit Auszeichnung maturiert. 82 Rutkowski, Ernst  : Ein leuchtendes Beispiel von Pflichttreue. Frauen im Kriegseinsatz 1914–1918, in  : Scrinium. Zeitschrift des Verbandes österreichischer Archivarinnen und Archivare, 28 (1983), 343–353, 345. Für diesen Hinweis danke ich Frau Andrea Hackel vom Österreichischen Staatsarchiv (ÖStA) sowie Frau Dr. Elisabeth Schöggl-Ernst vom Steiermärkischen Landesarchiv (StLA) recht herzlich.

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erhielt Haleczko gemeinsam mit einem weiteren »Schützenfräulein« aus der Ukraine, Olena Stepaniwna, für »besonders kühnes, tapferes und beispielgebendes Verhalten vor dem Feinde in den Karpatenkämpfen bzw. bei einem Handstreich«83. In den folgenden schweren Kämpfen bewährten sich die beiden Frauen, sodass sie zu Feldwebeln befördert und mit der Führung von Infanteriezügen betraut, im Sommer 1915 sogar zu Legions-Fähnrichen auf Kriegsdauer ernannt wurden.84 Über ihr weiteres Leben ist nichts bekannt. Gesichert ist jedoch, dass die junge Lembergerin zu den wenigen Ausnahmen von Frauen gehört, die bereits im Ersten Weltkrieg in »bescheidenem Ausmaß auch auf österreichisch-ungarischer Seite […] auf absolut freiwilliger Basis Kriegsdienst«85 als »Soldat« leisteten. Die organisierte Ausbildung der Frau zum Kampf mit der Waffe und somit zum Teil auch praktizierten Einsatz erfolgte erst im Zweiten Weltkrieg.86 Wenngleich die kaiserliche Armee gegen den bewussten Einsatz von Frauen war, verhielt es sich bei den ukrainischen Einheiten anders. Auf Initiative ruthenischer Mitglieder des österreichischen Abgeordnetenhauses war unmittelbar nach Kriegsausbruch die Ukrainische Legion von Freiwilligen gebildet worden. Von Anfang an war es auch Frauen erlaubt, mit den Männern zu kämpfen, weil als Spezifikum dieses Verbandes die Vorbehalte gegen eine aktive Teilnahme von Frauen am militärischen Kampf weitaus geringer waren.87 Sechs Monate nach dem Bericht über die Soldatin Haletschko erschien in der »Tagespost« im Dezember 1915 ein Artikel über die Mobilisierung der Frauen für die Heeresarbeit.88 Das Kommuniqué der Heeresleitung vom 10.  Dezember 1915 beinhaltete die Heranziehung von Frauen zu individueller und sonstiger Arbeit, um die Leistungsfähigkeit der heimischen Industrie zu steigern, aber auch um die Wehrkraft zu erhöhen, d. h. waffen- und wehrfähige Männer an die Front zu schicken. Und wieder appellierte man an die patriotische Opferbereitschaft und moralische Verpflichtung der Frauen, um sie in »weitaus größerem Umfange als bisher für industrielle und sonstige Arbeiten zu gewinnen.«89 Als Argumente für die Verwendung von Frauen nannte man Vorteile wie etwa die Steigerung der Leistungsfähigkeit der für die Wehrmacht tätigen Fabriken durch Anstellung zahlreicher weiblicher Arbeiter  : »Manches Heeresbedürfnis könnte besser und rascher gedeckt werden, und – was für den gemeinsamen Kriegserfolg, aber auch für unsere wirtschaftliche Zukunft von großer Bedeutung ist –

83 Ebd. 84 Vgl. ebda. 85 Ebd., 343. 86 Vgl. ebda. 87 Vgl. ebda., 344–345. Siehe allgemein  : Rutkowski, Ernst  : Die k. k. Ukrainische Legion 1914–1918 (Österreichische militärhistorische Forschungen 9/10), Wien 2009. 88 Die Mobilisierung der Frauen für Heeresarbeit, in  : Tagespost, 11.12.1915, o. S. 89 Ebd.

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auch unsere Verbündeten sehen dann in unserer Industrie reichere Quelle für ihren Bedarf erschlossen.«90 Und selbstverständlich würde durch Zuziehung des weiblichen Elements eine namhafte Anzahl kriegsdiensttauglicher und militärisch ausgebildeter Männer für den Frontdienst frei. Dorthin zu gelangen, soll das Streben jedes Einzelnen sein. Dass nicht nur der einfache Arbeiter von der Arbeiterin abgelöst werden soll, sondern dass auch manche industriellen Beamten von unserer intelligenten Frauenwelt ersetzt werden können, wodurch die Armee zahlreiche Offiziere gewänne, ist selbstverständlich.91

Dies gelte für jeden Schreibtischberuf, in dem ein gescheites Mädchen während des Krieges schalten und walten könne. Der Autor gelangte daher zur Erkenntnis, dass »die Verwendbarkeit der Frauen im praktischen Leben eines der großen Erkenntnisse dieses Krieges [ist]. Wo man das Weib auch hinstellte, hatte es entsprochen. […] Kein Zweifel, die für das Heer arbeitende Frau ist der Soldat des Hinterlandes.«92 Der Verfasser dieses Beitrages verfolgte die Intention, die Frauen »ganz zu Soldaten des Hinterlandes« zu machen, weshalb er Frauenvereine und Beratungsstellen aufforderte, Frauen dahingehend zu motivieren  : »So manche Mutter, die vormittags ihre Kinder betreut, könnte nachmittags, wo sie ihre Familie, sei es bei Verwandten, sei es in Kindergärten und dgl. beaufsichtigt weiß, industrielle oder sonstige Halbtagsarbeit leisten und dadurch zur Verbesserung ihrer und ihrer Familie Lebensführung beitragen.«93 Um den Frauen die Arbeit schmackhaft zu machen, wies er auf die Folgen dieser Mobilisierung im kommenden Frieden hin. Fest stand für ihn, dass die Verdrängung des Mannes nicht zulässig sei, man sich aber auf eine Steigerung des wirtschaftlichen Lebens gefasst machen müsse  : Dass viele Arbeiterinnen Ersatz für gefallene und invalid gewordene Männer sein werden, ist wohl auch verständlich. Den verstorbenen Helden vertritt dann seine Frau, seine Tochter, die so auch am besten versorgt sein werden. Zahlreiche Frauen jedoch werden nach Beendigung des Krieges wieder aufs Land, in die Küche usw. zurückkehren, also keine Platzräuber für den Mann sein, wohl aber tüchtigere Menschen als früher, Frauen, die stolz von sich sagen können, auch ich habe zum großen Sieg beigetragen.94

Ein weiterer Versuch, Frauen für die Arbeit im patriotischen Sinne gewinnen zu können, war die Erstellung eines Angebots an unentgeltlichen Frauenkursen an Gewerbe90 Ebd. 91 Ebd. 92 Ebd. 93 Ebd. 94 Ebd.

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schulen. Dies hätte ausschließlich ein Ziel  : »der Wehrhaftigkeit der Monarchie neue Kraft, neue Wucht zuführen [zu wollen], um hiedurch beizutragen, dem Kriege ein baldiges siegreiches Ende zu bereiten.«95 Nicht unerwähnt soll die Tatsache bleiben, dass man Frauen als Kanzleikräfte oder im Feldpostdienst einsetzte. So etwa bot das Generalgouvernement in Lublin (Polen) im Jahr 1916 hilfsbedürftigen Offizierstöchtern und -witwen offene Stellen als Kanzleikräfte an96 und Anfang Jänner 1918 suchte man pensionierte weibliche Postbedienstete für die Verwendung im Telegrafen- und Telefondienst sowie im Feldpostdienst.97 Die Werbung um die Arbeitskraft der Frauen erhielt im September 1917 eine weitere Dimension, als man »weibliche Hilfskräfte des Heeres im Feld«98 suchte. Aufgrund kaiserlicher Verordnung vom 18. März 191799 erfolgte erstmals die Unterordnung der Frauen unter das Kriegsleistungsgesetz, was für diese die Verpflichtung zur Arbeit zur Folge hatte. Man wolle das »lächerliche« Vorurteil aus der Welt schaffen, dass Frauen nicht an der Seite der Männer in Kasernen arbeiten könnten. Nicht dieses Vorurteil, sondern der Wohnortswechsel hindere sie daran, diese gut bezahlte Arbeit anzunehmen. Nicht nur die Verpflegung, Unterkunft oder Bekleidung stellte man kostenlos zur Verfügung, sondern auch die ärztliche Versorgung, und es bestand eine Urlaub- und Reisevergütung. Darüber hinaus bot man jenen Frauen auch die Sicherheit, nach dem Krieg nicht sofort entlassen zu werden  : Denn die Demobilisierung wird eine lange Zeit dauern und eine unendlich große Menge Arbeit beanspruchen. […] Männer und Frauen werden Beschäftigung finden, neue Industrien werden entstehen, der Bedarf nach allen Gebrauchsartikeln wird steigen, kurz, es wird ein wirtschaftlicher Aufschwung folgen, wie noch immer nach jedem Krieg. Und die Frauen werden an diesem Aufschwung auch aktiv teilnehmen. Sie haben ihre Reise dazu im furchtbaren Weltkriege erlangt und bewiesen.100

Da dieser Aufruf erfolgreich war, führte die Heeresverwaltung neue, wesentlich verbesserte Anstellungsbedingungen ein.101 Einige Monate später machte Generaloberst  95 Ebd.  96 Offene Stellen für Offizierswitwen und Töchter in Lublin, in  : Tagespost, 20.3.1916, o. S.  97 Pensionierte weibliche Postbedienstete im militärischen Dienste, in  : Tagespost, 31.1.1918, o. S.  98 Die weiblichen Hilfskräfte des Heeres, in  : Tagespost, 16.9.1917, o. S.  99 RGBl. 122/1917, Kaiserliche Verordnung vom 18. März 1917, betreffend die Regelung von Lohn- und Arbeitsverhältnissen in den militärischen Zwecken dienenden Betrieben  ; sowie RGBl. 123/1917, Verordnung des Ministeriums für Landesverteidigung im Einvernehmen mit den beteiligten Ministerien und im Einverständnisse mit dem k. u. k. Kriegsministerium vom 19. März 1917 über die Durchführung der Kaiserlichen Verordnung vom 18. März, betreffend die Regelung von Lohn- und Arbeitsverhältnissen in den militärischen Zwecken dienenden Betrieben. 100 Die weiblichen Hilfskräfte des Heeres, in  : Tagespost, 16.9.1917, o. S. 101 Anstellung weiblicher Hilfskräfte bei der Armee im Felde, in  : Tagespost, 31.10.1917, o. S.

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Freiherr Samuel von Hazai (1851–1942), »Chef des Ersatzwesens«, auf der ersten Frauenkonferenz, die in Wien am 19. April 1918 stattfand, die Mitteilung, dass bereits 30.000 weibliche Hilfskräfte mit 200 Kronen Monatslohn im Feld dienten.102 Um ihnen auch die Sicherheit zu bieten, »daß ihre weibliche Eigenart volle Rücksicht finde«, schuf man die Stelle einer Fraueninspektorin. An Hazais Seite begann dann auch die neu errichtete Frauenschutzkommission zu arbeiten. Da die weibliche Erwerbstätigkeit nach den im Krieg gemachten Erfahrungen allgemeine Anerkennung fand, können die Frauen daraus nicht nur das Recht auf Arbeit ableiten, »sondern auch auf wirkliche Staatsbürgerschaft«103, lautete der Befund des Redakteurs. Die Beschäftigung weiblicher Arbeitskräfte blieb nicht ohne Folgen  : Im September 1918 berichtete die »Tagespost« über die Einführung der Berufsberatung für Frauen.104 Dies war notwendig geworden, zumal »Umwälzungen auf dem weiblichen Arbeitsmarkt nicht ohne verderbliche Folgen« blieben  : »Viele Frauen haben sich einem schädlichen Berufswechsel unterzogen, viele durch augenblicklich bessere Bezahlung. […] Dieses wahllose Zuströmen zu vorübergehend ungeeigneten Posten wird verderbliche Wirkungen zeigen.«105 Um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, erfolgte die Errichtung einer Berufsberatungsstelle beim steirischen Arbeitsnachweis in der Hofgasse 14. Hier sollte Frauen jener Beruf zugewiesen werden, zu dem sie »nach geistiger und körperlicher Veranlagung am meisten«106 geeignet erscheinen. Diese Stelle der Berufsberatung kann man durchaus als Versuch der Re-Etablierung der traditionellen Geschlechterverhältnisse definieren, immerhin hatte man die Jahre zuvor weibliche Arbeitskräfte »bedenkenlos« Männerberufe ausüben lassen.

Forderung nach rechtlicher Gleichstellung Mit der Arbeitspflicht junktimierten die Repräsentantinnen der Frauenbewegung die Forderung nach politischer Partizipation  – wenn Frauen die gleichen Pflichten wie den Männern auferlegt werden, dann sollen sie auch die gleichen Rechte besitzen, lautete ihr Argument.107 So bewirkte der Erste Weltkrieg einige Änderungen hinsichtlich einer (vorübergehenden) rechtlichen Gleichstellung der Geschlechter. Beinahe zeitgleich mit der Forderung nach besseren Arbeitsbedingungen kam das Postulat des Frauenwahlrechts (wieder) auf. Für die Frauen stellte ihr Stimmrecht ein wesentliches 102 Die Frauenarbeit im Krieg, in  : Tagespost, 20.4.1918, o. S. 103 Ebd. 104 Einführung der Berufsberatung für Frauen beim Steirischen Arbeitsnachweis, in  : Tagespost, 11.9.1918, o. S. 105 Ebd. 106 Ebd. 107 Guschlbauer, Elisabeth  : Der Beginn der politischen Emanzipation der Frau in Österreich, Phil. Diss. Salzburg 1974, 366.

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Mittel dar, um künftige Kriege zu verhindern.108 Sie blieben nach der bisherigen Auffassung deshalb von dem Staatsbürgerrecht bzw. von der Staatsbürgerpflicht, wählen zu gehen bzw. gewählt zu werden, ausgeschlossen, weil sie nicht wehrfähig waren. Ihre Leistungen während des Krieges, als »Soldaten des Hinterlandes«, machten sie nun zu vollwertigen Staatsbürgerinnen, denen das aktive und passive Wahlrecht zuzuerkennen war. Dazu eine Wortmeldung des sozialdemokratischen Abgeordneten Karl Seitz im Abgeordnetenhaus am 30. Mai 1917  : Das Wahlrecht für Frauen sei keine Entschädigung für die Kriegsleiden, »sondern der tatsächlichen Leistungen wegen, die alle Frauen in dieser schweren Zeit vollbracht haben, und weil die Mitarbeit der Frauen an den Aufgaben der Verwaltung sich als dringende Notwendigkeit für das Gemeinwohl erwiesen habe.«109 Aber die Frauen verlangten auch in anderen Bereichen normative Gleichstellung mit den Männern  : Zu Kriegsbeginn übergab eine Delegation des Wiener Frauenstimmrechtskomitees eine Petition an das k. k. Justizministerium mit der Bitte, den Frauen das Vormundschaftsrecht zu gewähren.110 Bereits am 12. Oktober 1914 erfolgte ein kaiserlicher Erlass, wodurch das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch im Jahr 1914 die erste (Kriegs-)Novelle erfuhr.111 Frauen gestand man, weil »sie nun in ihrer Gesamtheit auch beweisen, daß sie reif sind, zur Übernahme der ihnen zuwachsenden Pflichten«112, das Recht zu, Vormund über die eigenen und fremden Kinder zu sein.113 Darüber hinaus erhielten sie das Recht, Testamentszeugin zu sein, wie auch eine Teilerbrechtsfähigkeit.114 Dieses Vormundschaftsrecht musste umgesetzt werden, weshalb nicht nur in Graz, sondern auch in den Bezirken Informationsabende abgehalten wurden bzw. in der Albrechtgasse die Errichtung einer diesbezüglichen Anlaufstelle erfolgte.115 Auf Anregung der Katholischen Frauenorganisation leitete am 14. Jänner 1915 Oberlandesgerichtsrat Dr. Douglas Aichelberg 108 Über den internationalen Haager Frauenkongress, in  : Der Bund. Zentralblatt des Bundes österreichischen Frauenvereine, Jg. 10 (1915) Nr. 6, 8. 109 Zitiert bei Hauch, Gabriella  : Vom Frauenstandpunkt aus. Frauen im Parlament 1919–1933 (Studien zur Gesellschafts- und Kulturpolitik 7), Wien 1995, 61. 110 Petition des Bundes österreichischer Frauenvereine an das k. k. Justizministerium, in  : Der Bund. Zen­ tralblatt des Bundes österreichischen Frauenvereine, Jg. 9 (1914) Nr. 8, 6–8. 111 RGBl. 276/1914, Kaiserliche Verordnung über eine Teilnovelle zum allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuche. Weitere Novellen erfolgten während des Krieges in den Jahren 1915 (RGBl. 208/1915) und 1916 (RGBl. 69/1916). Siehe allgemein Ziegerhofer, Anita  : Die zweite Hochblüte des § 14. Die Zeit währen des Ersten Weltkrieges in der österreichischen Reichshälfte, in  : Neschwara, Christian/Reiter-Zatloukal, Ilse/Staudigl-Ciechowicz, Kamila/Ziegerhofer, Anita (Hg.)  : Normsetzung im Notstand. Außerordentliche Gesetzgebungsbefugnisse im 19. und 20. Jahrhundert (Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs, Jg. 8 (2018) Heft 2), 259–273, 266. 112 Zitiert bei Guschlbauer, Emanzipation (1974), 357. 113 §§ 193–195 ABGB. 114 Flossmann, Ursula  : Frauenrechtsgeschichte. Ein Leitfaden für den Rechtsunterricht (Linzer Schriften zur Frauenforschung 26), Linz 2002, 165–166. 115 Vereinsnachrichten  : Allgemeiner deutscher Frauenverein, in  : Tagespost, 21.5.1915, o. S.

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einen Vortragszyklus zum Thema »Die Frau als Vormünderin [sic  !]«116, der am 1. Februar endete.117 Bei dieser Schlussveranstaltung erging der Appell, ein Waisenratsamt zu übernehmen. Dieser richtete sich in erster Linie an Frauen, da diese »namentlich für die Überwachung der Kleinkinderpflege und Erziehung, in den meisten Fällen ein viel schärferes Auge haben als Männer.«118 Daraufhin meldete sich eine Anzahl an Kandidatinnen, die bereit waren Mündel zu übernehmen, weshalb im Mai 1915 der »Allgemeine Deutsche Frauenverein« eine sogenannte Vereinsvormundschaft einrichtete.119 In diesem Zusammenhang betonte man, dass »Vormünderinnen [sic  !]« nur jenen Teil der Vormundschaft übernehmen mussten, der sich auf die körperliche Pflege, die erzieherische Überwachung und die Ausbildung zu einem dem Wesen, den geistigen und körperlichen Anlagen und den äußeren Lebensverhältnissen des Mündels entsprechenden Berufe dient.120 Dieser konkreten rechtlichen Gleichstellung folgte eine weitere, ebenfalls aus der Not heraus entstandene und nur für die Kriegszeit gültige Gleichstellung im Versicherungswesen. Am 22. Mai 1917 erging ein Aufruf »An Österreichs Frauen und Mädchen« von Seiten der Kriegsanleiheversicherung. Einleitend wird bereits ersichtlich, worum es in weiterer Folge gehen wird  : »Die Phrase vom schwachen Geschlecht ist in den Sturmtagen des Weltkrieges verweht wie so mancher anderer Aberglaube, unsere Frauen haben sich im Opfern und Ertragen, in bitterem Leid und in dem für viele unsäglich harten Ringen um das tägliche Brod [sic  !] einen Ruhmeskranz erworben, der nicht weniger leuchtend grünt als jener ihrer Väter, Gatten und Brüder auf blutiger Wahlstatt.«121 Man appellierte an die weibliche Opferwilligkeit und somit an ihre vaterländische Pflicht, eine derartige Versicherung abzuschließen. Aufgrund der Kriegsnot hob man die allein für Frauen gültigen Bestimmungen auf wie etwa das Erfordernis, einen selbständigen Beruf ausüben zu müssen, den Prämienaufschlag von 5 bis 10 % sowie den Entbindungszuschlag  ; eine ärztliche Untersuchung bei Abschluss einer Versicherung war nicht mehr erforderlich. Man empfahl den Frauen diese Versicherung einzugehen, um beispielgebend zu agieren, und schließlich »ihr Erfolg [wird] einer der herrlichen Edelsteine in der diesen harten Tagen abgerungenen Siegeskrone sein.«122 Weiters gewährte man Witwen von Staatsbeamten die geforderten Teuerungszulagen seitens des Staates, weil »es nicht allein Menschenpflicht sei, sich der Staatsangestelltenwitwen anzunehmen, sondern, daß es auch im Interesse des Staates gelegen sei, daß besonders jene Kinder vom Hun116 Die Frau als Vormünderin, in  : Tagespost, 15.1.1915, o. S. 117 Die Frau als Vormund, in  : Tagespost, 5.2.1915, o. S. 118 Ebd. Die Katholische Frauenorganisation bot in ihrer Amtsstube in der Bürgergasse 1/I von 8 bis 12 Uhr tägliche Dienste an mit Ausnahme des Mittwochs. Hier waren die Amtsstunden von 2 bis 6 Uhr nachmittags. 119 Vereinsnachrichten  : Allgemeiner deutscher Frauenverein, in  : Tagespost, 21.5.1915, o. S. 120 Vereinsvormundschaft des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins, in  : Tagespost, 13.6.1915, o. S. 121 An Österreichs Frauen und Mädchen, in  : Tagespost, 22.5.1917, o. S. 122 Ebd.

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ger bewahrt werden, die infolge des elterlichen Berufes im vaterländischen Geiste aufwachsen und daher den verlässlichsten Nachwuchs bilden.«123 Am 2. April 1917 erfolgte mittels kaiserlicher Verordnung die Neuerung des Unterhaltsbeitragsgesetzes. Dieses begünstigte Frauen von Soldaten, denen man jetzt, abhängig von Wohnsitz und Nebeneinkommen, eine Erhöhung des Unterhaltes zwischen 10 und 25 % zugestand. Argumentiert wurde diese Leistung damit, dass Frauen nun zu Hause bei den Kindern bleiben können  : »Hierdurch soll ihre Lebensführung und damit auch jene ihrer Kinder leichter und möglichst verhütet werden, dass sie sich solchen Nebenbeschäftigungen widmet, die sie der Pflege ihrer Kinder und der Besorgung der häuslichen Geschäfte gänzlich entziehen müsste.«124 Die Argumentation steht im Widerspruch zu jener im Zusammenhang mit der Mobilisierung der Frauen für die Heeresarbeit. Im Jahr 1916 erschien in der »Tagespost« ein Artikel mit dem Titel »Soldatenbraut«.125 Dahinter versteckte sich die Thematisierung eines Konzepts von Weiblichkeit, dass Frauen über ihren gesellschaftlichen Stand definierte – die Benennung der Soldatenbraut als Frau und nicht Fräulein  : »Wenn der Gefallene sie wirklich heimführen wollte, so soll die Braut von nun an Frau genannt werden.«126 Wenngleich die Frau daraus keine Rechte ableiten konnte, so würde diese Umbenennung zu einer sozialen Besserstellung führen, sprach man doch gemeinhin die Soldatenbraut mit »Fräulein« an, die Kinder waren Kinder des »Fräuleins«. Die Benennung Fräulein bewirkte daher nicht nur eine Diskriminierung der Frau, sondern auch des (ledig geborenen) Kindes. Aufgrund dessen und vor allem im Sinne des Patriotismus stellte man Überlegungen an, diese diskriminierende Bezeichnung aufzuheben, denn »der Krieg, der alles umwälzt«, soll die »Braut, die ohne ihre Schuld unvermählt bleibt«, nicht bestrafen.127

Abschließende Bemerkungen Der Großteil der Zeitungsmeldungen im Zusammenhang mit den Kriegsdienstleistungen steirischer Frauen umfasste die Bereiche »Liebesgaben« und »Ernährung«, wobei dies in verstärktem Ausmaß die ersten Jahre des Krieges betraf. Die Bereiche »Frauen in Männerberufen« und »Rechtliches« erlangen ab 1916 zunehmende Bedeutung. Beinahe regelmäßig erschien die Rubrik »Frauenleben«  : in der Zeit von 1915 bis Sommer 1917 häufiger und von da an bis 1918 sporadisch. Interessant ist, dass man durch diese Rubrik offenbar versuchte, das typische Bild der bürgerlichen Frau, als eben jener, die 123 Teuerungszulagen für die Witwen von Staatsbeamten, in  : Tagespost, 18.5.1916, o. S. 124 Die Erhöhung der Unterhaltsbeiträge, in  : Tagespost, 1.4.1917, o. S. 125 Die Soldatenbraut, in  : Tagespost, 19.11.1916, o. S. 126 Ebd. 127 Ebd.

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der Mode, dem Luxus und allen dahin gehenden Neuerungen interessiert und aufgeschlossen gegenüberstand, aufrechtzuerhalten, bei gleichzeitiger Berichterstattung über ihre Kriegsdienstleistungen. Ob man damit eine »Verrohung« aus der Sicht eines bürgerlichen Konzepts von Weiblichkeit verhindern wollte  ? Damit gelangen wir zum Frauenbild, das in der »Tagespost« transportiert wurde. Dabei handelt es sich um das der adeligen und bürgerlichen Frau, die ihre Position zugunsten der patriotischen Opferbereitschaft und Fürsorge, für karitative Aufgaben, nutzte. Über die Alltagsprobleme und Lebensverhältnisse der steirischen Arbeiterinnen findet man keine Meldungen. Interessant ist auch, dass Frauen über die Position ihrer Männer identifiziert werden und nur dann über ihre eigene Tätigkeit, wenn sie unverheiratet waren. Ein »amüsanter« Artikel über Frauen und Automobile gibt ein Bild wieder, das das Spannungsfeld zwischen partiell gewachsener Anerkennung der Kompetenzen von Frauen und der weiterhin gegebenen »Verdinglichung« als Teil einer männlich dominierten Lebenswelt deutlich macht.128 Der Autor setzte sich mit der durch den Krieg erfolgten Aufhebung des Vorurteils auseinander, dass sich Frauen zur Steuerung eines Autos nicht eignen  : »Heute steuern sie mit großer Sicherheit und Kaltblütigkeit Kraftomnibusse, Krankenwagen und Droschken«129 und stellte in Aussicht, dass sie in künftigen Zeiten als Automobillenkerinnen einen neuen Wirkungskreis erobern werden. Nach dem Krieg werde das Automobil Allgemeingut sein, wie bereits das Telefon und die Schreibmaschine.« Den Vergleich, die Zigarre sei die Frau, die Zigarette die Geliebte eines Mannes, könne man für schwere und leichte Autos anwenden, das schwere Auto für die Frau, das leichte für die Geliebte. Das erkläre nach Meinung des Verfassers vielleicht auch, dass man leichte Autos als »Darling« oder »Püppchen« bezeichnet.130 Wenngleich der Autor diesen Vergleich als geschmacklos bezeichnete, so verraten derartige Bezeichnungen doch, dass »das Automobil als das Erzeugnis der Mode und des Luxus für unser Gefühl etwas Weibliches hat, während wir ihm in allen seinen praktischen Leistungen etwas durchaus Männliches nachrühmen.«131 So blitzschnell der Frauenhilfsausschuss unmittelbar nach Kriegsbeginn ins Leben gerufen wurde, so schnell verschwand er auch nach Beendigung des Krieges. Ähnlich verhielt es sich, bezogen auf die Tätigkeiten der bürgerlichen Frauen des Ausschusses, mit der steirischen Identität – hier wurde das Bild erzeugt, sie wäre mit Kriegsbeginn in der Identität des gemeinsamen Vaterlandes Österreich aufgegangen wie das Mütterliche in der patriotischen Liebe. Hinsichtlich der steirischen Identität ist anzumerken, dass man sich anlässlich des bevorstehenden Geburtstages Kaiser Karls erinnerte, indem man sie für den 17. August 1917 zum Spenden aufrief  :

128 Althies, Ernst  : Über Automobile und Frauen, in  : Tagespost, 13.7.1916, o. S. 129 Ebd. 130 Ebd. 131 Ebd.

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Unser steirisches Heimatland hat fürwahr in dieser Kriegszeit eine Gebefreudigkeit an den Tag gelegt, die ohnegleichen ist, und es wird daher auch zur Kaiser-Geburtstagsfeier 1917 nicht zurückbleiben wollen […] So rufen wir denn alle die getreuen Steirer und gemütreichen Steirerinnen auf, aus ihren besten Kräften an der allgemeinen Sammlung am 17. August 1917 werktätig teilzunehmen, damit sich auch diese Veranstaltung heimatlicher Fürsorgebestrebung ebenbürtig den glanzvollen Äußerungen der steirischen Volksseele aus früheren Kriegsjahren anreihe.132

Und im selben Jahr erfolgte abermals ein Aufruf an die Steirer und Steirerinnen durch Ottokar Kernstock – es ging darum, die 7. Kriegsanleihe zu zeichnen.133 Man gewinnt den Eindruck, dass nach Kriegsende die Frauen ihre Arbeitsplätze abgaben und wieder in ihre angestammte Rolle zurückkehrten. Doch unterschieden sich die (bürgerlichen) Weiblichkeitskonzepte vor 1914 von jenen nach 1918, was zum Versuch der Beantwortung der eingangs gestellten Frage führt, ob und in welcher Weise sich der »Große Krieg« als förderlich für die vor 1914 verfolgten Forderungen der Frauenbewegung erwies. »Wir müssen das Leben in der Heimat so erhalten und gestalten, daß die zurückkehrenden Männer sich wieder heimisch fühlen, daß ihnen alles, was sie vorfinden, die Ueberzeugung erweckt, es lohne dafür gekämpft zu haben«134, wurde schon während des Krieges propagiert. Durch diese Äußerungen wurde die von Hämmerle genannte Re-Etablierung der Geschlechterverhältnisse, wie sie vor 1914 existierte, zum Programm gemacht. Bereits in den Kriegsjahren fanden diese Überlegungen statt, vor allem im Zusammenhang mit der Frauenarbeit als Konkurrenz zur Männerarbeit.135 »Ebenso sehr wie die Männer, trifft die Frauen der Vorwurf, den Krieg nicht verhindert zu haben, ebenso sehr und ebenso wenig. Er hätte auch ohne die Frauen nicht geführt werden können  – mittelbar haben sie es möglich gemacht, indem sie das ungeheure Maschinenwerk des Lebens der Gesellschaft in Betrieb erhielten«,136 lautet der Befund des Journalisten und Zeitungsherausgebers Carl Colbert. Sie hielten den Verkehrsbetrieb, Straßenbahnen, Züge des Nahverkehrs aufrecht, die Zustellung des Brotes, die Büroarbeit, und auf dem Land ersetzten die Frauen »so ziemlich die ganze Männerarbeit«137, wofür sie jedoch im Vergleich zum Mann weniger bezahlt bekamen. Dies wohl auch deshalb, so der Autor, weil die Frauen schlechter als Männer ausgebildet wären. Die Situation nach dem Kriege könnte entweder Wiederherstellung des früheren, Beibehaltung des gegenwärtigen Standes der Dinge oder Verständigung bedeuten.138 Alle drei Vorschläge, so der Autor, wären nicht 132 133 134 135 136 137 138

Steirer  ! Steierinnen  !, in  : Tagespost, 22.7.1917, o. S. Kernstock, Ottokar  : Herzliebe Steirer und Steirerinnen  !, in  : Tagespost, 21.11.1917, o. S. Der Bund. Zentralblatt des Bundes österreichischen Frauenvereine, Jg. 11 (1916) Nr. 1, 13. Hämmerle, Heimat/Front (2014), 21. Colbert, Carl  : Der Abbau der Kriegsarbeit der Frauen, in  : Neues Frauenleben, Jg. 20 (1918) Nr. 1–2, 7. Ebd., 7. Ebd., 8.

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gangbar, da sie nur mit Kampf durchsetzbar seien. Daher kam der Autor zu dem Ergebnis, dass der Krieg den Frauen nichts gebracht hätte, dass ihre Gleichberechtigung mit der Entrechtung des Mannes beginne, weshalb sie wieder in ihre angestammte Rolle zurückkehren139 und erkennen sollten, dass der Krieg eben nicht der Vater der Dinge, sondern der Zerstörer ist.140 Dies ist in letzter Konsequenz eine radikal pa­ triarchale Ansicht, der Autor hat jedoch nicht damit gerechnet, dass die Frauen nun selbstbewusster und selbständiger geworden waren. Bereits am Bundestag der österreichischen Frauenvereine in Wien, Anfang Juni 1916, kamen die Frauen, darunter Sylvia Glowacki, Helene von Fleischhacker und Schreiner aus der Steiermark, überein, dass Mädchen nach dem Krieg nicht nur soziale Arbeiten verrichten sollten und so in die angestammte Rolle der Frau als Ehefrau, Hausfrau und Mutter zurückgedrängt werden. Vielmehr dachte man an neue selbständige weibliche Berufssparten vor allem in der bisher vernachlässigten Land- und Gartenwirtschaft. Weitere Forderungen der Frauen auf der erwähnten Bundestagung waren gleicher Lohn für gleiche Arbeit (!), die Anerkennung der Hausfrauentätigkeit als Berufstätigkeit, die Aufhebung des Zölibates der im Staatsdienst stehenden weiblichen Angestellten bzw. überhaupt die Aufhebung der Zölibatsklausel in öffentlichen und privaten Dienstverträgen. Abschließend beschloss man eine entsprechende Eingabe an die Regierung zu richten, die Erweiterung des Dienstberufsfeldes für Frauen betreffend.141 Als Resultat des Ersten Weltkrieges erfolgte, wie schon erwähnt, die Einführung des Frauenwahlrechts mittels Gesetz vom 18. Dezember 1918.142 Wenngleich auf der Bundesebene bereits in der zweiten Hälfte des Krieges über die Einführung des Frauenwahlrechts diskutiert wurde, erfolgte die diesbezügliche Berichterstattung in der »Tagespost« erst einen Tag nach Verlautbarung des Frauenwahlrechts. Die »Tagespost« berichtete über »Die erste Frau in einem Verwaltungskörper Deutschösterreichs« – gemeint war damit die Sozialdemokratin Martha Tausk, Gattin des Psychoanalytikers Dr.  Tausk, die als erste Frau in die steirische Landesversammlung als Sekretärin der sozialdemokratischen Frauenorganisation Einzug hielt.143 Im Oktober 1918 erfolgte bereits die Entdiskriminierung des Vereinsrechts, ab nun war es Frauen erlaubt, politi139 Ebd., 10. 140 Ebd., 11. 141 Bundestag der österreichischen Frauenvereine, in  : Tagespost, 11.6.1916, o. S. 142 Vgl. etwa Bader-Zaar, Birgitta  : Wahlrecht. Die Gründung der Republik und der Grundsatz des »allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Stimmrechts aller Staatsbürger ohne Unterschied des Geschlechts«, in  : Karner, Stefan/Mikoletzky, Lorenz (Hg.)  : Österreich. 90 Jahre Republik. Beitragsband zur Ausstellung im Parlament, Innsbruck 2008, 25–34. Vgl. allgemein zur Wahlrechtsentwicklung  : Ziegerhofer, Anita  : Ohne Frauenbewegung kein Frauenwahlrecht. »Müht euch um den Stimmzettel, er ist der Schlüssel zu allen bürgerlichen Rechten  !«, Graz-Wien 2018. 143 Die erste Frau in einem Verwaltungskörper Deutschösterreichs, in  : Tagespost, 13.11.1918, o.  S. Vgl. dazu auch Dorfer, Brigitte  : Die Lebensreise der Martha Tausk. Sozialdemokratie und Frauenrechte im Brennpunkt, Innsbruck 2007.

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sche Vereine zu gründen bzw. politischen Vereinen beizutreten.144 Man gewährte den Frauen u. a. die Zulassung zum Rechtsstudium145, durch die Teilnovellen des ABGB erhielten sie Teilerbfähigkeit, Testierfähigkeit und Vormundschaft über die eigenen Kinder. Wie schon in der Dezemberverfassung aus dem Jahr 1867, im Artikel 2 des Staatsgrundgesetzes (StGG) über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, wurde den Frauen in Artikel 7 des Bundes-Verfassungsgesetzes (B-VG) von 1920 die »Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz ohne Ausnahme des Geschlechts« garantiert, was allerdings nur im Sinne der Rechtsanwendungsgleichheit interpretiert werden kann. Abschließend sei ein Auszug aus einem Artikel des französischen Schriftstellers ­Pierre Drieu la Rochelle wiedergegeben, der in der »Tagespost« abgedruckt wurde.146 Darin setzte sich der Autor mit der Frau als Arbeitskonkurrentin des Mannes auseinander und kam zu dem Schluss, dass der Mann sich der »neuen« Frau anpassen müsse und daher folgende Regeln befolgen sollte  : 1. Der Mann entsagt endgültig dem Trunk. Er darf nicht mehr die Entschuldigung haben  : Das Wirtshaus ist der Salon des Armen. 2. Der Mann empfindet Hochachtung vor der Frau und sieht in ihr nicht mehr ein schwächliches, schwachbegabtes und zum Gehorsam verpflichtetes Wesen. 3. Es wird mit der abscheulichen Gepflogenheit der Mitgift gebrochen. Man verheiratet sich nicht länger, um sich zur Ruhe zu setzen, wenn man die Jugend lange hinter sich hat, sondern solange man noch jung ist, um zusammen zu kämpfen und zusammen die Freuden des Erfolges zu genießen. 4. Die Mütter pflanzen ihren Söhnen die Hochachtung vor dem weiblichen Geschlecht ein und geben sich nicht zufrieden, so lange noch eine Frau gezwungen wird, sich wegen ihres leiblichen und sittlichen Elends zu verkaufen.147

Conclusio der Tagespost  : »Wenn also diese Bedingungen erfüllt sein werden, dann wird man sagen können, daß der Weltkrieg doch wenigstens zu etwas gut war  : zu der sittlichen Erneuerung der Menschheit.«148

144 Vgl. dazu etwa Ziegerhofer, Anita  : 100 Jahre Frauenwahlrecht – 100 Jahre Vereinsrecht für Frauen, in  : Gesellschaft und Politik. Zeitschrift für soziales und wirtschaftliches Engagement, Jg. 54 (2018) Heft 2–3, 89–100. 145 Ziegerhofer, Anita  : Die Zulassung der Frauen zum rechts- und staatswissenschaftlichen Studium an der Karl-Franzens-Universität Graz, in  : Kernbauer, Alois/Ziegerhofer, Anita  : Frauen in den Rechts- und Staatswissenschaften der Universität Graz. Der Weg zur Zulassung und die ersten Doktorinnen von 1919 bis 1945, Graz 2019, 1–34. 146 Der Kampf der Geschlechter nach dem Krieg, in  : Tagespost, 16.4.1916, o. S. Der Artikel ist ein Abdruck aus einem Beitrag Drieu la Rochelles im »Pariser Journal« vom 9.4.1916. 147 Ebd. 148 Ebd.

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Steirische Industriearbeiterinnen im und nach dem Ersten Weltkrieg Einleitung Konventionelle Studien zum Thema Krieg gingen davon aus, dass Männer Kriege führen und in Kriegen kämpfen, während Frauen dem Kampf fernbleiben und von ihren Männern beschützt werden.1 Diese traditionellen Ansätze der Kriegsforschungen hat bereits die in den 1970er-Jahren aktiv werdende Frauenforschung mit ihrer These, dass der Krieg zwar spezifische, aber doch sowohl für Männer als auch für Frauen gleichermaßen Konsequenzen hat, stark in Frage gestellt und eindeutig widerlegen können. In weiterer Folge hat sich auch die Geschlechterforschung mit dem Zusammenhang von Geschlecht und Krieg auseinandersetzt, wobei der Begriff »Gender« auf eine Reihe von kulturell geformten und definierten Eigenschaften und sozialen Normen im Zusammenhang mit Männlichkeit und Weiblichkeit bezogen wird.2 Dabei konnte gerade die Historische Geschlechterforschung sehr klar zeigen, dass Kriegsgesellschaften und Folgen von Kriegen »ganz generell ohne Berücksichtigung der analytischen Kategorie Geschlecht nicht ausreichend erfasst und verstanden werden können«.3 Speziell in Bezug auf den Ersten Weltkrieg ist festzustellen, dass die Bedeutung dieses Krieges nicht nur für die politische, sondern auch für die soziale und ökonomische und Situation von Männern und Frauen während des Krieges, aber auch in den Nach-

1 Vgl. Carter, April  : Should Women Be Soldiers Or Pacifists  ?, in  : Lorentzen, Lois Ann/Turpin, Jennifer (Hg.)  : The Women and War Reader, New York 1998, 33–37. 2 Dabei kam es zu zahlreichen Studien, in welchen die Annahme von den biologisch vorgegebenen unterschiedlichen psychischen und physischen Fähigkeiten von Männern und Frauen, die zu unterschiedlichen Tätigkeiten prädestinieren, widerlegt wird. Die Debatte konzentrierte sich dabei auf die spezifischen auf den Krieg zurückzuführenden Folgen für die Frauen, da während des Krieges männliche und weibliche Eigenschaften polarisiert werden und Militarismus und Männlichkeit die gesamte Gesellschaft durchdringen. Jean Elshtain hat in ihrer Arbeit über »Frauen und Krieg« darauf hingewiesen, dass die sozialen Rollen der Frauen als Reaktion auf die Tatsache, dass der Krieg institutionalisiert wurde, verstanden werden sollten. Diese Tatsache war aber nicht eine der Natur, sondern der sozialen Konstruktion. So wurden »Geschlecht« und »Krieg« für Männer und Frauen in der Geschichte des westlichen Denkens und der Praxis unausweichlich miteinander verbunden. Vgl. Elshtain, Jean Bethke  : Women and War, Brighton 1987  ; Hey, Barbara/Huber, Cécile/Schmidlechner, Karin M. (Hg.)  : Krieg, Geschlecht und Gewalt, Graz 1999. 3 Hämmerle, Christa  : Heimat/Front. Geschlechtergeschichte/n des Ersten Weltkriegs in Österreich-Ungarn, Wien-Köln-Weimar 2014, 10.

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kriegsgesellschaften Historiker:innen bereits seit längerer Zeit beschäftigt4 und es im Zuge dessen auch zur Entwicklung neuer Forschungsansätze gekommen ist. Diesbezüglich ist vor allem auf die Formulierung des Begriffs der »Heimatfront« hinzuweisen, mit welchem die Aufhebung der Trennung zwischen den kämpfenden Soldaten und der Zivilbevölkerung auf Grund der Totalisierung des Kriegsgeschehens des Ersten Weltkriegs ihren sprachlichen Ausdruck gefunden hat. Heimatfront bedeutete in diesem Zusammenhang, dass auch die Heimat und damit auch die dort verbliebene, nicht kämpfende Bevölkerung aktiv in den Krieg miteinbezogen wurde.5 Auch für Österreich wurden – allerdings mit beträchtlicher Verzögerung – mittlerweile zahlreiche Arbeiten zum Ersten Weltkrieg und vor allem zur darauffolgenden Nachkriegszeit verfasst,6 in welchen ebenfalls nicht mehr ausschließlich die politische Geschichte, sondern auch gesellschafts-, kultur-, sowie geschlechterspezifische Themen behandelt wurden.7 4 Vgl. Higonnet, Margaret Randolph et al. (Hg)  : Behind the Lines  : Gender and the Two World Wars, New Haven 1987  ; Ulrich, Bernd  : Die Augenzeugen. Deutsche Feldpostbriefe in Kriegs- und Nachkriegszeit 1914–1933, Essen 1997  ; Hirschfeld, Gerhard et al. (Hg.)  : Kriegserfahrungen. Studien zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkrieges, Essen 1997  ; Ziemann, Benjamin  : Front und Heimat. Ländliche Kriegserfahrungen im südlichen Bayern, Essen 1997  ; Ulrich, Bernd/Ziemann, Benjamin (Hg.)  : Krieg im Frieden. Die umkämpfte Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, Frankfurt/Main 1997. 5 Vgl. Hagemann, Karen/Schüler-Springorum, Stefanie (Hg.)  : Heimat-Front. Militär und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege, Frankfurt/Main 2002. 6 In diesem Zusammenhang ist vor allem auf Christa Hämmerle hinzuweisen, die sich in ihren zahlreichen Arbeiten sehr intensiv mit dem Ersten Weltkrieg aus einer frauen- und geschlechterspezifischen Perspektive auseinandergesetzt hat. Vgl. Hämmerle, Heimat/Front (2014)  ; Hämmerle, Christa/Bader-Zaar, Birgitta/Überegger, Oswald  : Gender and the First World War, Basingstoke et al. 2014  ; Cole, Lawrence/ Hämmerle, Christa/Scheutz, Martin (Hg)  : Glanz  – Gewalt  – Gehorsam. Militär und Geschlechtergeschichte in der Habsburgermonarchie (1800 bis 1918) (Frieden und Krieg. Beiträge zur Historischen Friedensforschung 18), Essen 2011  ; Hämmerle, Christa  : Kindheit im Ersten Weltkrieg, Wien-KölnWeimar 1993. Vgl. Hauch, Gabriella  : »Die Versklavung der Männer durch feministische Gesetze«  ? Zur Ambivalenz der Geschlechterverhältnisse in Krieg, Kultur und Politik 1917/18–1933/34, in  : Wolfgruber, Elisabeth/Grabner, Petra (Hg.)  : Politik und Geschlecht. Dokumentation der 6. Frauenringvorlesung an der Universität Salzburg WS 1999/2000, Innsbruck-Wien-München 2001, 85–106  ; Healy, Maureen  : Vienna and the Fall of the Habsburg Empire. Total War and Everyday Life in World War I, Cambridge 2004  ; Healy, Maureen  : Becoming Austrian  : Women, the State, and Citizenship in World War I, in  : Central European History, Jg. 35 (2002) Heft 1, 1–35  ; Hanisch, Ernst  : Männlichkeiten  : Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts, Wien 2005. 7 Hier soll insbesondere auf die aktuellen Arbeiten von Veronika Helfert verwiesen werden  : Helfert, Veronika  : Frauen, wacht auf  ! Eine Frauen- und Geschlechtergeschichte von Revolution und Rätebewegung in Österreich, 1916–1924, Göttingen 2021  ; Dies.: Verzweiflung, Empörung und Wut  : Intersektionale Perspektiven auf Geschlecht, Politik und Gewalt in und nach dem Ersten Weltkrieg, in  : Mesner, Maria/ Mesquita, Sushila (Hg)  : Eine emotionale Geschichte. Geschlecht im Zentrum der Politik der Affekte, Wien 2018, 48–81  ; Dies.: »Ja, wir machten damals im Arbeiterrat hohe Politik  !« Vom Versprechen des Rätesystems  : ein Instrument für Selbstorganisation und Selbstermächtigung, in  : Zeitgeschichte, Jg. 48 (2021) Heft 4  : Weltenwende  ? Der politische Umbruch 1918/19 und die Frage nach dem Wesen der »Österreichischen Revolution«, hg. von Florian Wenninger, 459–480.

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Im Zentrum des hier vorgelegten Beitrags steht die Lohnarbeit von Frauen, vor allem in der Schwerindustrie in der Steiermark, sowie sich daraus für die Geschlechterordnung ergebende Konsequenzen während bzw. nach der Zeit des Ersten Weltkriegs. Mit diesem Fokus soll ein Beitrag zur Aufarbeitung des Ersten Weltkriegs aus einer regionalgeschichtlichen Geschlechterperspektive, die bis jetzt in den meisten Studien weitgehend vernachlässigt bzw. für die Steiermark noch gar nicht thematisiert wurde, geleistet werden.8 Insbesondere soll überprüft werden, ob bezüglich der Lohnarbeit von Frauen – vor allem in Branchen, in welchen der mobilisierungsbedingte Ausfall der Männer während des Krieges kompensiert werden sollte und die Frauen vor dem Krieg nicht zugänglich waren,– das Ende des Krieges tatsächlich einen so markanten Wendepunkt darstellt, wie häufig angenommen wird. Als Ausgangspunkt für diese These soll hier auch auf die Überlegungen der US-amerikanischen Historikerin Maureen Healy hingewiesen werden, die in ihren Arbeiten9 in Bezug auf das Jahr 1918 für eine veränderte Periodisierung der österreichischen Geschichte im 20. Jahrhundert plädiert, da aus Sicht der Sozialgeschichte, aber auch der Alltags- und der Geschlechtergeschichte, dieses Jahr keine solche Zäsur darstellt, wie es die politische Geschichte als markanten Einschnitt und Systembruch beschreibt. Healy sieht die Kriegsjahre, die ja zumeist als Endzeit der Monarchie behandelt werden, eher als Anfangsjahre der nachfolgenden Epoche, weil die zwischen 1914 und 1918 gemachten Erfahrungen beträchtliche Konsequenzen für die Geschichte der Republik Österreich hatten.10

Frauenbeschäftigung in der Kriegszeit Generell konzentrierte sich die Frauenarbeit während des Ersten Weltkrieges im Wesentlichen auf drei große Bereiche. Dazu gehörten einerseits die traditionellen weiblichen Berufe, also die Textil- und Wäscheindustrie, die Uniformkonfektion in Heim  8 Zur Steiermark sei an dieser Stelle auf folgende aktuelle Arbeiten verwiesen  : Zettelbauer, Heidrun  : »Mit blutenden Herzen(…) für Kaiser und Vaterland«. Weibliche Selbst/Mobilisierung für Kriegsfürsorge im Kontext des Ersten Weltkriegs, in  : Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 47 (2017)  : GeschlechterGeschichten, hg. von Friedrich Bouvier, Wolfram Dornik, Otto Hochreiter, Nikolaus Reisinger, Karin M. Schmidlechner, 163–184  ; Schmidlechner, Karin M./Wind, Viktoria  : Frauen in Graz von 1918–1938, in  : Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 48 (2019)  : Graz 1918–1938, hg. von Friedrich Bouvier, Wolfram Dornik, Otto Hochreiter, Nikolaus Reisinger, Karin M. Schmidlechner, 119–157  ; Kahr, Stefanie  : »zu den beklagenswertesten Begleiterscheinungen des Krieges gehörte das Anstellen«. Nahrungsmittelmängel im Ersten Weltkrieg und deren Auswirkungen auf die Grazer Bevölkerung mit Fokus auf den Geschlechterverhältnissen, Phil. Dipl. Graz 2020.   9 Vgl. Healy, Vienna and the Fall of the Habsburg Empire (2004). 10 Vgl. Schmidlechner, Karin Maria  : Die neue Frau  ? Zur sozialökonomischen Position und kulturellen Lage, in  : Konrad, Helmut/Maderthaner, Wolfgang (Hg)  : …der Rest ist Österreich. Das Werden der Ersten Republik II, Wien 2008, 88–102, 87.

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arbeit und die Arbeit im privaten Dienstleistungssektor, andererseits die quantitativ weniger bedeutsamen, exponierten Arbeitsplätze bei Straßenbahn, Eisenbahn, Heer und dergleichen und die Rüstungsindustrie, zu welcher die metallverarbeitenden Betriebe, die sich großteils auf Geschoßprodukttion umgestellt hatten, die Waffen-, die Eisenindustrie und aus der chemischen Industrie die Pulverfabriken zu zählen waren.11 Die Frauenarbeit in der Rüstungsindustrie war in zwei verschiedene Bereiche geteilt, einerseits in die Metallverarbeitung und andererseits in die Schwerindustrie, wozu in der Steiermark als eines der wichtigsten Unternehmen die Oesterreichisch-Alpine Montangesellschaft (ÖAMG)12 von der bedauerlicherweise nur wenige Zahlen über die Frauenarbeit vorhanden sind, gehörte.13 In der Steiermark betrug der Frauenanteil bei Kriegsbeginn im Landesdurchschnitt aller Industriezweige nur 16 %, in der Obersteiermark sogar nur 7 %. 21 % aller Arbei­ terinnen waren in der Nahrungsmittel-, 15 % in der Papierindustrie, 13 % in metallverarbeitenden Betrieben und 12 % in der Industrieklasse Glas-Steine-Erden beschäftigt.14 Schon vor dem Krieg waren 15,6 %, während der Jahre 1916 bis 1918 mehr als 30 % aller in steirischen Industrie- und Gewerbebetrieben beschäftigten Frauen Metallarbeiterinnen,15 was die Bedeutung der Metall- und Maschinenindustrie des Landes unterstreicht.16 Zu Beginn des Krieges war die ökonomische Situation in der Steiermark von einer Krise geprägt, die zu einer völligen Lähmung des Wirtschaftslebens und einer Arbeitslosigkeit, die katastrophale Ausmaße erreichte, führte. Besonders trostlos war die Situation in den traditionell »weiblichen« Berufen, wie etwa bei den Schreibkräf11 Vgl. Augeneder, Sigrid  : Arbeiterinnen im Ersten Weltkrieg. Lebens- und Arbeitsbedingungen proletarischer Frauen in Österreich (Materialien zur Arbeiterbewegung 46), Wien 1987, 52. 12 Die ÖAMG, 1881 durch den Zusammenschluss von sechs Industrieaktiengesellschaften gegründet, war das größte und bedeutendste Montanunternehmen der Monarchie, und im Besitz fast des ganzen Eisenvorkommens Österreichs. 1912 waren 12.000 Arbeiter:innen in diesem Unternehmen beschäftigt. Ein großer Teil der Betriebe befand sich in der Steiermark. Betriebe der ÖAMG waren immer Schauplätze sozialer Konflikte, weil die ÖAMG gegen die Arbeiterbewegung auftrat. Die Arbeiterschaft der Alpine war in vielen Fällen die Avantgarde der organisierten Arbeiterklasse. Hier ausbrechende Konflikte, hier erkämpfte Rechte oder hier erlittene Niederlagen hatten vielfach Signalcharakter für die Arbeiterschaft anderer Betriebe, ja sogar für die österreichische Arbeiterschaft insgesamt. Vgl. Stocker, Karl  : »Trotz völliger Lockerheit der Manneszucht…« Soziale Konflikte in der Österreichisch-Alpinen Montangesellschaft 1917–1919, in  : Konrad, Helmut/Schmidlechner, Karin M. (Hg.)  : Revolutionäres Potential in Europa am Ende des Ersten Weltkrieges. Die Rolle von Strukturen, Konjunkturen und Massenbewegungen, Wien 1990, 111–127. 13 Vgl. Augeneder, Arbeiterinnen im Ersten Weltkrieg (1987), 52. 14 Bericht über den 11. Aufsichtsbezirk. Amtssitz  : Leoben, 1919, 12. 15 Augeneder, Arbeiterinnen im Ersten Weltkrieg (1987), 12. 16 1913 lag der Frauenanteil in dieser Branche bei 6 % und erreichte auch während des Krieges nie die 20%-Marke. Auch die Textilindustrie war in der Steiermark bedeutungslos. Andere Industrien mit relativ hohem Frauenanteil, die Papier- und Nahrungsmittelindustrie, erhöhten diesen zwar weiter, ihr Anteil an der Gesamtzahl der weiblichen Beschäftigten sank aber deutlich. Ebd., 46.

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ten und den Näherinnen, aber auch Dienstmädchen waren von der Arbeitslosigkeit betroffen.17 Mitte August 1914 wurden 12.000 Arbeitslose verzeichnet, das entsprach 10 % der Beschäftigten.18 Massenarbeitslosigkeit von Frauen gab es vor allem in Graz, wo die meisten steirischen Arbeiterinnen lebten. Bürgerliche wie sozialdemokratische Frauenorganisationen versuchten, Abhilfe zu schaffen, indem sie Strick- und Nähstuben errichteten, in welchen tatsächlich ein Teil der weiblichen Arbeitslosen Beschäftigung durch das Nähen von Militärwäsche fand, allerdings zu einem sehr geringen Verdienst.19 Doch auch diese Verdienstmöglichkeiten waren durch den Umstand, dass kriegsbegeisterte, gutsituierte Frauen diese Handarbeiten für das Rote Kreuz kostenlos durchführten, sehr eingeschränkt.20 Der Höhepunkt der Krise war im Herbst überschritten und schon um den Jahreswechsel 1914/15 kam es zu einem Mangel an Arbeitskräften, der in erster Linie auf die Umstellung der Wirtschaft auf die Kriegsgüterproduktion zurückzuführen war.21 Besonders die Metallindustrie hatte einen immensen Arbeitskräftebedarf, da die Mobilisierung den Unternehmen Arbeitskräfte entzog, der nur durch den Einsatz von bis dahin branchenfremden Bevölkerungsgruppen kompensiert werden konnte.22 Tatsächlich wanderten Arbeitslose – darunter viele unqualifizierte – der verschiedensten Branchen in die Kriegsindustrie ab, v. a. aber führte dieser Boom in der kriegswichtigen Metallindustrie dazu, dass auch weibliche Arbeitskräfte, von welchen viele gezwungen waren, Geld zu verdienen, da der staatliche Unterhaltsbeitrag für Angehörige der Soldaten wegen der Teuerungen bald nicht mehr ausreichte,23 einen Arbeitsplatz erhielten.24 Auch im Handelsgewerbe wurde der Mangel an männlichen Arbeitskräften ausschließlich durch die Einstellung von Frauen und Mädchen kompensiert.25 Dass die Beschäftigung von Frauen nur eine Notlösung darstellen sollte, zeigt der Bericht des Gewerbeinspektorats für das Jahr 1915, in welchem auf den Mangel an Arbeitskräften hingewiesen und festgestellt wurde, dass »die Gewerbe- und Handelsunternehmungen fast ausnahmslos zur Verwendung von Frauen und Mädchen zu sonst

17 Ebd., 6, 12. 18 Ebd., 12. 19 Mitte August 1914 wurden 12.000 Arbeitslose (10 % aller Beschäftigten) verzeichnet. Der Arbeiterstand der Alpine sank auf 11.000 Personen. Im Donawitzer Hüttenwerk von 3.800 auf 2.000. Ebda, 12. 20 Die Vermittlung von Arbeitslosen stieß auf große Probleme. Als eine der Maßnahmen der Regierung gegen Arbeitslosigkeit wurde die Arbeitsvermittlung länderweise zentralisiert. Die Arbeitslosen sollten in die Landwirtschaft vermittelt werden. Diesbezüglich war auch eine zwangsweise Heranziehung möglich. In der Landwirtschaft waren sie jedoch unerwünscht, weil die Bauern sie von ihrer körperlichen Konstitution her als ungeeignet für bäuerliche Arbeiten ansahen. Vgl. ebda., 19. 21 Ebd., 8, 26. 22 So wurden von den 16.000 Arbeitern der Alpine zu Kriegsbeginn 5.000 einberufen. Ebda, 28. 23 Vgl. ebda., 28. 24 Vgl. ebda., 9. 25 Bericht über den 10. Aufsichtsbezirk, Amtssitz Graz, 1915, Wien 1916, 150.

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nur von Männern verrichteten Arbeiten Zuflucht nehmen mussten.«26 Ein Jahr später wurde berichtet, dass »der Hauptteil der Frauen in den größeren Werken wohl nur zu untergeordneten Arbeiten«27 herangezogen werde, »doch ist eine weitere Vermehrung der Frauenarbeit auch in den Geschoßdrehereien, bei Stanz-, Press- und Bohrarbeiten mit gutem Erfolge durchgeführt worden.«28 Außerdem hätten sich Frauen »nach Überwindung gewisser Anfangsschwierigkeiten auch bei maschinellen Fördereinrichtungen, die einen höheren Grad von andauernder Aufmerksamkeit und Geistesgegenwart erfordern, gut bewährt. So wurden in einem großen Eisenwerke vielfach die Stellen der Kranführer, der Einsetzmaschinisten bei Martiniöfen sowie der Rollgang- und Hebtischführer in Walzwerken durch besonders ausgewählte Frauen besetzt.«29 Der Einsatz der Arbeiterinnen zu schwereren und gefährlicheren Arbeiten, besonders in der Eisenindustrie führte allerdings auch zu einer erhöhten Unfallgefahr für die Arbeiterinnen, was sich an den Zahlen der Unfälle zeigte  :30 Der Gewerbeinspektor stellte diesbezüglich fest, dass die Unfallshäufigkeit bei den Frauen während der Zeit der intensiven Kriegsarbeit ganz bedeutend angestiegen sei. Dies galt sowohl hinsichtlich der gesamten Industrie des Aufsichtsbezirkes als insbesondere hinsichtlich der Eisenindustrie, deren Anteil am Gesamtarbeiterstand um 75 % angestiegen war. Im Unterschied zu den Männern, bei denen die Unfallhäufigkeit im Vergleich zur Friedenszeit in den Jahren 1915, 1916 und 1917 um etwas mehr als ein Drittel gestiegen, 1918 aber fast auf den alten Stand zurückgegangen war, stieg diese bei den Frauen, die v. a. in der Eisenindustrie verstärkt zu schwereren und gefährlicheren Arbeiten herangezogen worden waren, in den Jahren 1916 und 1917 um mehr als das Dreifache »und war auch 1918 noch fast doppelt so hoch wie in den letzten Friedensjahren.«31 Auch in den folgenden Jahren kam es zu einem kontinuierlichen Anstieg der weiblichen Arbeitskräfte. So war die Gesamtzahl der in Fabriken des Amtsbezirkes Leoben beschäftigten Frauen von 1914 bis 1917 bis auf das Doppelte des Friedensstandes angestiegen und wies erst 1918 wieder eine stärkere Abnahme auf.32 26 Ebd., 147. Auch im Bericht über den 11. Aufsichtsbezirk mit dem Amtssitz Leoben wurde für 1915 eine Zunahme der Hilfsarbeiterinnen gegenüber dem Vorjahr um 3,3 % festgestellt. Es gab 2.173 offene Stellen, vermittelt wurden 1.547. Bericht über den 11. Aufsichtsbezirk, Amtssitz Leoben, 1915, Wien 1916, 162–164. 1916 gehörten insgesamt 70 Betriebe mit 9.400 Arbeitern und 3.900 Arbeiterinnen zum Aufsichtsbezirk Graz. Vgl. Bericht über den 10. Aufsichtsbezirk. Amtssitz Graz, 1916, Wien 1917, 121, 122. 1917 war der Anteil der Frauenarbeit im Bezirk Graz gegenüber dem Durchschnitt in den Jahren 1909 bis 1913 von 23,2 % relativ um 9 %, absolut um rund 38 % angestiegen. Vgl. Bericht über den 10. Aufsichtsbezirk. Amtssitz Graz, 1917, Wien 1918, 127. 27 Bericht über den 11. Aufsichtsbezirk, Amtssitz Leoben, 1917, Wien 1918, 141. 28 Ebd. 29 Ebd., 141. 30 Bericht über den 11. Aufsichtsbezirk. Amtssitz Leoben, 1918, Wien 1919, 141. 31 Ebd., 141. 32 Ebd., 141. Augeneder berichtet für den Bezirk Leoben von einem Frauenanteil von 5 % für 1914, 9 % für 1915, von 12 % für 1916, von 16 % für 1917 und von 11,6 % für 1918. In Zahlen ergaben das für 1914 622,

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Generell stieg der Anteil der Frauenarbeit in der Steiermark von 16,5 % im letzten Vorkriegsjahr auf 16,9 % im Jahre 1914, auf fast 22 % im Jahr 1915, auf 24,4 % im Jahre 1916 und 26,8 % im Jahr 1917. 1918 wurde berichtet, dass sich der Arbeitsmarkt für die Industriearbeiter trotz des Rücktransports der Kriegsgefangenen im Herbst drastisch verschlechtert habe. Zurückgeführt wurde dies auf die wegen der Kohlennot immer zahlreicher werdenden Betriebsschließungen sowie die Rückkehr der Heimkehrer. Dementsprechend sank auch der Anteil der Frauenarbeit im letzten Kriegsjahr, blieb aber mit 23 % noch immer deutlich über dem Vorkriegswert.33

Frauenbeschäftigung in der Nachkriegszeit Schon vor dem Ende des Krieges wurden die österreichischen Sozialpolitiker mit dem Problem konfrontiert, Arbeitsmöglichkeiten für die heimkehrenden Soldaten zu schaffen, diese also wieder in ihre früheren oder in neue Arbeitsverhältnisse einzugliedern. Zuständig für die Versorgung der Heimkehrer auf dem Arbeitsmarkt sowie die Frage, was mit den von den Arbeitsplätzen verdrängten Frauen geschehen sollte, war das im Jahre 1917 errichtete Ministerium für soziale Fürsorge. Im Hinblick auf die bevorstehende Entlassung von Soldaten wurde durch die Ministerialverordnung vom 30. März 1917 des österreichischen Handelsministeriums ein »Generalkommissariat für Kriegsund Übergangswirtschaft« zur Regelung des Arbeitsmarktes installiert,34 wobei darunter explizit die Revision kriegsbedingter Verschiebungen, die sich durch die Beschäftigung von Frauen in bisher Männern vorbehaltenen Arbeitsplätzen ergeben hatten, verstanden wurde.35 Im Jänner 1918 wurde eine eigene Kommission für Frauenarbeit eingerichtet, die das Ministerium in Fragen der Frauenarbeit beraten sollte. In dieser Kommission, die sich aus Vertreterinnen der großen Frauenorganisationen zusammensetzte, regte die christlich-soziale Abgeordnete Alma Seitz an, arbeitslose Frauen im Kleingewerbe und für 1915 1.334, für 1916 2.390, für 1917 2.390 und für 1918 1.662 Frauen. Vgl. Augeneder, Arbeiterinnen im Ersten Weltkrieg (1987), 54. Leicht abweichend davon sind die Angaben des Gewerbeinspektors, der für 1916 von einem Frauenanteil von 13,3 % und für 1917 von 16,8 % berichtet. Vgl. Bericht über den 11. Aufsichtsbezirk, Amtssitz Leoben 1918, Wien 1919, 140. In den vom Beamten besuchten Betrieben der Eisen- und Stahlindustrie war die Frauenarbeit 1917 gegenüber 1916 um 27 % gestiegen. Im selben Aufsichtsbezirk sank 1918 der Anteil der Arbeiterinnen auf das Maß des Jahres 1916 und zwar von 16,8 % auf 13,8 %, vor allem in der Metall-, Holz- und Papierindustrie sowie im Baugewerbe stieg er jedoch an. Ebd., 141. Für den Zeitraum von 1913 bis 1919 ergaben sich bezüglich der Beschäftigung von Frauen im Amtsbezirk Graz folgende Prozentwerte  : 1913 30,8 %, 1914 34,2 %, 1915 42,4 %, 1916 51,8 %, 1917 54,9 %, 1918 53,8 %, 1919 43,6 %. Bericht über den 10. Aufsichtsbezirk. Amtssitz Graz 1920, Wien 1921, 223–260, hier 236. 1918 ist der Prozentsatz der weiblichen Beschäftigten in Graz um 2,9 % gesunken. 33 Bericht über den 10. Aufsichtsbezirk, Amtssitz Graz 1918, Wien 1919,131. 34 Schmidlechner, Die neue Frau  ? (2008), 90, FN 13. 35 Ebd., 90, FN 14.

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in der Haus- und Landwirtschaft unterzubringen, sowie die weibliche Erwerbstätigkeit überhaupt einzuschränken. Von den Männerarbeitsplätzen sollten die Frauen durch spezielle Arbeitsschutzbestimmungen verdrängt werden. Dazu gehörten die Wiedereinführung des Nachtarbeitsverbotes und die Einführung der 44-Stunden-Woche für Frauen.36 Bei allen damals stattfindenden Diskussionen herrschte Übereinstimmung darüber, dass den Soldaten ein Anrecht auf ihre früheren Arbeitsplätze zustand, obwohl kein Zweifel daran bestand, dass jeder zurückkehrende Soldat die Entlassung einer Frau verursachen würde, wodurch es zu einer hohen Frauenarbeitslosigkeit kommen würde. Allerdings wurde es trotzdem als wichtiger betrachtet, den Heimkehrern Arbeitsplätze zu sichern. Diese Einstellung ist auch unter dem Gesichtspunkt zu sehen, dass man sich von staatlicher Seite Sorgen um den Erhalt der Familien machte, die durch den Krieg und die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen von Auflösung bedroht zu sein schienen. Da zu diesem Zeitpunkt weder die bürgerlichen Frauen noch die Arbeiterinnen gegen die geplante Verdrängung der weiblichen Beschäftigten aus dem Arbeitsmarkt protestierten, konnten diesbezügliche Vorkehrungen von der Regierung und den Gewerkschaften ohne Probleme getroffen werden.37 Diesbezüglich wurden im Laufe des Jahres 1919 von den Behörden mehrere Verordnungen erlassen, die hauptsächlich darauf abzielten, möglichst viele Frauen aus dem Stellenmarkt zu entfernen, wie auch ein Erlass des deutschösterreichischen Staatsamtes vom 14. Februar 1919 zeigt, der die Arbeitsämter dahingegen instruierte, dass »dahin zu wirken sei, dass von den zahlreichen Frauen, die in der Kriegsindustrie reichlichen Arbeitsverdienst fanden, ein möglichst großer Teil in die Hauswirtschaft zurückkehre […]«38, das heißt, dass diejenigen, die bis zum Kriegsende Männerarbeiten verrichtet hatten, den zurückströmenden Männern Platz machen sollten. Für die Vorgangsweise bei den Entlassungen der Frauen sollten Richtlinien erstellt werden, wobei Kriegerwitwen sowie Gattinnen und Töchter von Kriegsinvaliden so lange wie möglich beschäftigt werden sollten.39 Diesbezüglich kam es sogar vor, dass der Betriebsrat wegen der Schwierigkeit, diesen Frauen einen anderen Erwerb zu verschaffen, um eine Frist für ihre angeordnete Entlassung er­suchte.40 Zudem sollten die entlassenen Frauen angehalten werden, wieder in ihre früheren Arbeitsplätze, vornehmlich in der Haus- und Landwirtschaft, zurückzukehren. Die Gesellschaft signalisierte den Frauen damit sehr klar, dass ihre Arbeit als zweitrangig und unqualifiziert galt und lediglich als Zusatzverdienst bzw. Ersatz betrachtet wurde. 36 Das Gesetz über den Achtstundentag war nicht nur eine Maßnahme zum Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Gleichzeitig war damit ein lang erstrebtes Ziel der Arbeiterbewegung erreicht. Ebd., 91, FN 17. 37 Ebd., 91, FN 15. 38 Schmidlechner, Die neue Frau  ? (2008), 93, FN 26. 39 Ebd., 91, FN 16. 40 Bericht über den 11. Aufsichtsbezirk, Amtssitz Leoben, 1920, Wien 1921, 275.

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Hier sei allerdings darauf hingewiesen, dass es sehr wohl Frauen gab, die mit der Heimkehr ihres Ehemannes oder eines anderen sie versorgenden Familienmitgliedes freiwillig aus dem Berufsleben ausschieden, vor allem deshalb, weil sie ihre Berufstätigkeit während des Krieges nicht als Befreiung, sondern als Zwangsverpflichtung empfunden hatten. Auch die katastrophalen Arbeitsbedingungen sowie die Doppelund Dreifachbelastung ließen bei vielen Frauen den Wunsch nach einer Rückkehr zu den traditionellen Aufgaben in der Familie entstehen. Allerdings war die Zahl dieser Frauen zu gering, um eine effektive Umstrukturierung der Frauen- und Männerarbeitsplätze zu erreichen, weil sehr häufig eine solche Rückkehr in die Normalität aus ökonomischen Gründen nicht möglich war, zurückzuführen auf die schlechte ökonomische Lage auch jener Frauen, die von ihrem Selbstverständnis her durchaus mit der Rolle als Hausfrau und Mutter zufrieden waren. Auch sie konnten ihre Arbeit nach dem Krieg nicht aufgeben, weil sie aus unterschiedlichen Gründen auf eine Erwerbstätigkeit angewiesen waren, z. B. wenn sie alleinstehend waren, ihre Ehemänner aus dem Krieg nicht mehr zurückkehrten oder nach ihrer Rückkehr nicht arbeitsfähig waren.41 Von den vielen Frauen, die ihre Arbeitsplätze den heimkehrenden Soldaten überlassen mussten, hatten die meisten – vor allem die nicht gut ausgebildeten – danach nur mehr beschränkte Arbeitsmöglichkeiten, wie etwa die Heimarbeit, die damals einen starken Zulauf hatte.42 Etliche arbeitslose Frauen und solche mit geringen Löhnen wurden nicht selten in die Prostitution getrieben. Davon waren nicht nur Arbeiterinnen und Dienstmädchen, sondern auch Kontoristinnen, Erzieherinnen und Telefonistinnen betroffen.43 Tatsächlich stellte die Unterbringung der arbeitslosen Frauen – von denen vor 1914 bei weitem nicht alle in der Land- und Hauswirtschaft beschäftigt gewesen waren – auf andere Arbeitsplätze ein großes Problem dar, weil die Frauen an diesen Tätigkeiten nicht sehr interessiert waren, waren sie doch mit geringeren Löhnen und größerer Abhängigkeit von den Arbeitgebern verbunden. Daran änderten auch Werbekampa­ gnen und Umschulungsmaßnahmen für diese Tätigkeitsbereiche nichts. Da die Erwartungen, dass die Frauen wieder in die ihnen offenstehenden sehr schlecht bezahlten Arbeitsbereiche zurückkehrten, nicht erfüllt wurden, blieb eine große Anzahl solcher Stellen unbesetzt. Mit dem Anstieg der Arbeitslosigkeit häuften sich nicht nur die Angriffe auf weibliche Erwerbstätige, sondern auch auf arbeitslose Frauen,44 die häufig verdächtigt wurden, wegen der Höhe des neu eingeführten Arbeitslosengeldes nicht in ihre früheren Beschäftigungen zurückzukehren. Im Zuge solcher Diskussionen wurde gefordert, 41 Ebd. 42 Ebd., 95, FN 35. 43 Ebd., 95, FN 35. 44 Ebd., 93, FN 24.

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dass Frauen, deren Ehemänner eine Arbeit hatten, die Unterstützung verlieren sollten.45 Gemäß den Angaben der Arbeitsvermittlung der Jahre 1918 und 1919 zeigte der Arbeitsmarkt tatsächlich eine deutliche Grenze zwischen den Kriegsmonaten des Jahres 1918 und den ersten zwei Monaten nach dem Zusammenbruch. Beim Vergleich der Angebote und Gesuche der Männer mit jenen der Frauen ergab sich in den Kriegsmonaten noch eine überwiegende Nachfrage nach weiblichen Arbeitskräften, was sich auch an den Zahlen für die Steiermark zeigte. Im Jänner 1918 z. B. überwogen die Angebote für Frauen mit 11.974 die der Männer, die 8.748 betrugen. Setzt man für die Angebote für Männer jeweils 100, so betrugen die Angebote für Frauen im Jänner 1918 138, im Februar 136, im März 128, im November aber nur mehr 48, im Dezember 53. In den letzten beiden Monaten des Jahres 1918 sanken die offenen Stellen für Frauen auf die Hälfte der den Männern angebotenen Stellen. Demgemäß war auch die Zahl der Vermittlungen gegen Ende 1918 für die Männerarbeit ungefähr doppelt so hoch wie für die Frauenarbeit, während sie in den Kriegsjahren beträchtlich darunter lag. Ein zahlenmäßiger Überblick zeigt, dass die Anzahl der Vermittlungen für Frauen im Jänner 1918 noch ca. 114 % des Anteils der Männer betrug, im Februar ca. 124 %, im März 140 %, im November 1918 dagegen nur mehr 14 % und im Dezember nur mehr 5,8 %.46 Allerdings betrug der Anteil der Frauenarbeit in der Steiermark im Jahre 1919 noch immer 22,6 %.47 Erklärt wurde dies unter anderem damit, dass das nach der Auflösung der Armee erwartete starke Rückströmen der Arbeiter in ihre früheren Betriebe ausgeblieben war und sich nicht nur langsam, sondern auch in geringem Maße vollzog. Ein weiterer Grund lag darin, dass ein Teil der Heimkehrer sich bei der gut bezahlten Wald- und Holzarbeit eine besser lohnende Beschäftigung gesucht hatte.48 Dazu kam, dass im Spätherbst ein »Abströmen« von Arbeitern in die aus der alten Monarchie hervorgegangenen Nationalstaaten erfolgte, das durch das langsame Rückströmen von Arbeitern aus dem Militärdienst nicht aufgewogen wurde. Außerdem verließ ein weiterer Teil der Arbeiter nach Aufhebung des Kriegsdienstleistungsgesetzes die Betriebe, sodass oft nicht die nötige Zahl geschulter Arbeitskräfte vorhanden war.49 Dies führte sogar dazu, dass einzelne Eisenwerke im Jahre 1920 im Vorjahr entlassene Frauen we45 Diskussionen um den Aufbau eines effizienten Arbeitsnachweissystems und die Schaffung einer staatlichen Arbeitslosenversicherung wurden in Österreich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts geführt. Nach Kriegsende stand die Arbeitslosenfürsorge inhaltlich und auch organisatorisch eng mit anderen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen in Verbindung. Nach der teilweisen Aufhebung des geschlechtsspezifisch segmentierten Arbeitsmarktes während des Krieges sollte in der Nachkriegszeit der Zugang zum Arbeitsmarkt mit Hilfe von Arbeitslosengesetzen in neue Bahnen gelenkt werden. Ebd., 93, FN 25. 46 Ebd., 92, FN 18. 47 Augeneder, Arbeiterinnen im Ersten Weltkrieg (1987), 32–36. 48 Bericht über den 11. Aufsichtsbezirk, Amtssitz Leoben, 1918, Wien 1919, 142. 49 Ebd., 141.

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gen Mangel an Arbeitern wieder einstellen mussten. Auch die Holzstoff- und Papierindustrie hatte Schwierigkeiten, weibliche Beschäftigte durch Männer zu ersetzen50, sodass diese sogar zur Nachtarbeit eingesetzt wurden.51 Demgemäß berichtete der Gewerbeinspektor des Amtsbezirkes Graz, dass »die hierländischen Industrie- und Gewerbeunternehmungen im Jahre 1920 vergleichsweise noch immer mehr Frauen beschäftigten als in der Vorkriegszeit.«52 Auch im Aufsichtsbezirk Leoben hatte sich die Zahl der Arbeiterinnen im gleichen Verhältnis wie die allgemeinen Beschäftigungszahlen erhöht.53 Somit scheint es durch die vorhin erwähnten durchgeführten Maßnahmen nicht gelungen zu sein, die Frauen nach dem Ende des Krieges nachhaltig vom Arbeitsmarkt zu verdrängen. Tatsächlich ist der Anteil der weiblichen Berufstätigen an den Beschäftigten zwischen 1910 und 1923 praktisch gleich geblieben.54 Dies ergab sich einerseits aus den durch die Kriegsverluste bedingten Lücken in den entsprechenden Altersgruppen der Männer und auch aus der Tatsache, dass Frauen sich während des Krieges in Branchen etablieren konnten, die sie danach nicht mehr verließen55 bzw. dass sie von den Zuwächsen in den Berufsgruppen mit steigender Beschäftigtenzahl profitierten.56 Positiv beeinflusst wurde die Erwerbsbeteiligung von Frauen in der Zwischenkriegszeit aber vor allem durch den wirtschaftlichen Strukturwandel, der einen Bedeutungsgewinn jener Berufsgruppen mit sich brachte, die entweder traditionelle weibliche Domänen darstellten57 oder in welchen Frauen verstärkt Einzug hielten.58 Erst durch die Wirtschaftskrise und die Kündigungswellen ab etwa 1925, von denen vor allem Frauen be-

50 Dies auch deshalb, weil keine Wohnmöglichkeiten vorhanden waren. Bericht über den 11. Aufsichtsbezirk, Amtssitz Leoben, 1920, Wien 1921, 281. 51 Im Amtsbezirk Leoben gab es im Jahre 1920 1.970 Stellenangebote für Frauen und 12.439 für Männer, 1914 Stellengesuche für Frauen und 14.577 für Männer und 1.321 Vermittlungen für Frauen und 11.767 Vermittlungen für Männer. Ebd., 281. 52 Bericht über den 10. Aufsichtsbezirk, Amtssitz Graz 1920, Wien 1921, 237. 53 Bericht über den 11. Aufsichtsbezirk, Amtssitz Leoben 1920, Wien 1921, 275. 54 Bolognese-Leuchtenmüller konstatiert einen Zuwachs von etwa 1 %. Bolognese-Leuchtenmüller, Birgit  : »Der Zwang zur Freiwilligkeit«. Zur Ideologisierung der »Frauenerwerbsfrage« durch Politik, Wissenschaft und öffentliche Meinung, in  : Bolognese-Leuchtenmüller, Birgit/Mitterauer, Michael (Hg.)  : Frauen-Arbeitswelten. Zur historischen Genese gegenwärtiger Probleme (Beiträge zur historischen Sozialkunde, Beiheft 3/1993), Wien 1993, 169–190. 55 Dazu gehörten die Chemische Industrie, die Verkehrsbetriebe, die Maschinenbauindustrie. Vgl. ebda., 169–190. 56 Im Geld- und Kreditwesen, im Handel und Verkehr. Vgl. ebda., 173. 57 Wie etwa die Textilindustrie, das Gesundheitswesen, Reinigung und Körperpflege, Erziehung und Gastgewerbe. Vgl. ebda., 173. 58 Büroberufe, Handel, Bildungsbereich. Hauptmerkmal der Entwicklung der Erwerbsstruktur der Frauen ist ein mehrfacher Umschichtungsprozess. Bis zur Jahrhundertwende arbeiteten etwa 75 % der Frauen in der Land- und Forstwirtschaft. Bis 1910 ergab sich an Anstieg des Anteils an den Handels- und Verkehrsberufen um etwa 7 % und im öffentlichen Dienst und den freien Berufen um etwa 8 %. Vgl. ebda., 173.

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troffen waren, kam es zu einem Rückgang des weiblichen Anteils an den Beschäftigten auf 38 %.59

Frauenproteste und Politisierung In ihrer doppelten Zugehörigkeit zum Produktions- und Reproduktionsbereich entwickelten die Arbeiterinnen vor allem in Bezug auf die furchtbare Ernährungslage ihrer Familien, die zunächst der Hauptauslöser von Protestbewegungen und Unruhen war, ein bemerkenswertes Potential zur Artikulation von – den nach der herrschenden Geschlechterordnung eigentlich den Männern vorbehaltenen – öffentlichen Protesten.60 Schon zu Beginn des Jahres 1916 wurden von der Arbeiterschaft »ernste Klagen über (die) unzureichende Verpflegung«61 erhoben, bald darauf folgten konkrete Protestaktionen, ebenso auch im Jahre 1917, als Frauen und Jugendliche wegen der katastrophalen Ernährungssituation im Februar die Lebensmittelausgabestelle der Alpine stürmten.62 Wie aus den Berichten hervorgeht, waren an den Aktionen gegen die katastrophale Versorgungslage auch in der Steiermark viele Frauen nicht nur beteiligt, sondern stellten vielfach sogar die treibende Kraft daran dar. Ihr Anteil ist zwar nicht exakt feststellbar, da sie in den meisten Berichten zwar explizit erwähnt, jedoch zahlenmäßig nicht erfasst wurden, Schätzungen gehen aber davon aus, dass die Beteiligung dem weiblichen Anteil an der Arbeiterschaft entsprach.63 Die immer dramatischer werdende Lebensmittelknappheit führte in Zusammenhang mit der Russischen Revolution und der allgemeinen Friedenssehnsucht der Bevölkerung in weiterer Folge auch zum Jännerstreik, der  – von Wiener Neustadt ausgehend – zwischen 17. und 19. Jänner 1918 auch Graz und die obersteirischen Industrieorte erreichte und an dem sich rund 20.000 Industriearbeiter:innen, davon etwa 9000 Arbeiterinnen beteiligten, um die Unzufriedenheit der Arbeiterschaft mit der damals beabsichtigten Kürzung der Brotquote zum Ausdruck zu bringen.64 59 Ebda, 172. Im Jahre 1925 gab es in der steirischen Industrie 5.037 Betriebsstätten, in denen 76.367 Arbeiter und 10.058 Arbeiterinnen beschäftigt waren, das entspricht einem Anteil von nur 12 %, das war der niedrigste Wert nach Salzburg mit 10 %. Dass sich die wirtschaftliche Lage der steirischen Frauen gravierend verschlechtert hatte, war auch daran zu sehen, dass ihre Arbeitslosigkeit stärker gestiegen war als jene der Männer. Vgl. Hinteregger, Robert/Schmidlechner, Karin/Staudinger, Eduard  : Für Freiheit, Arbeit und Recht. Die steirische Arbeiterbewegung zwischen Revolution und Faschismus (1918–1938), Graz 1984, 109. 60 Vgl. Stocker  : »Trotz völliger Lockerheit der Manneszucht…« (1990), 115. 61 Ebd., 115. 62 Ebd., 115–116. 63 Vgl. Augeneder, Arbeiterinnen im Ersten Weltkrieg (1987), 210. 64 Bericht über den 10. Aufsichtsbezirk, 1918, Graz 1919, 121–132, hier 131.

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Auch im Bericht des militärischen Leiters des Bergbaues Fohnsdorf über den MaiStreik 1918, an welchem sich österreichweit insgesamt 42.000 Arbeiter:innen65 beteiligten, wird die aktive Rolle von Frauen hervorgehoben  : »Nach der Versammlung sah man eine größere Anzahl von Weibern bereits mit Taschen und Körben in der Nähe des Geschäftes Benedek in Fohnsdorf stehen und auf den Moment warten, wo die Plünderung beginnen sollte […]«66 Zwei Tage später schrieb er  : »Die Stimmung unter der Arbeiterschaft – speziell müssen als hetzende Elemente die Weiber bezeichnet werden  – ist sehr gereizt […].«67 In der Bezirkshauptmannschaft Bruck wurde festgestellt, dass die eigentlichen Hetzer beim Streik in der Gußstahlfabrik der Gebrüder Böhler nicht erruierbar seien, da sie im Verborgenen arbeiteten und »Weiber ins Vordertreffen schickten«.68 Da sich die Versorgungslage nach Kriegsende nicht verbessert hatte,69 kam es zu weiteren Lebensmittel-Demonstrationen in verschiedenen Orten, an denen sich neben den Arbeiterinnen auch Frauen aus dem bürgerlichen Milieu zahlreich beteiligten. Stellvertretend dafür sei der Kirschenrummel in Graz genannt, der sich aus Protesten der Hausfrauen wegen der überhöhten Kirschenpreise entwickelte und in dessen Verlauf zahlreiche Menschen ums Leben kamen.70 Am 7. April 1919 kam es in LeobenDonawitz wegen der Preiserhöhung für Fett zu einer Protestaktion, die ebenfalls von empörten Frauen initiiert worden war. Dabei wurde der Werksdirektor von einer aufgebrachten Menge gefangen genommen, in seine Villa geschleppt und diese nach Lebensmitteln durchsucht.71

65 Augeneder, Arbeiterinnen im Ersten Weltkrieg (1987), 195. 66 Stocker, »Trotz völliger Lockerheit der Manneszucht…« (1990), 118. 67 Ebd., 118. 68 Augeneder, Arbeiterinnen im Ersten Weltkrieg (1987), 195. 69 Wie katastrophal die Lage war, ist am Vergleich der Löhne mit den Preisen zu sehen. 1919 erhielten in Militärbetrieben – die Löhne waren in solchen wesentlich höher als in anderen – beschäftigte Facharbeiter pro Woche 260 Kronen (K), verheiratete Hilfsarbeiter 234 K, ledige Hilfsarbeiter 208 K und Hilfsarbeiterinnen 146,5 K. Diese Löhne waren zwar zehnmal höher als 1913, deckten aber nicht einmal annähernd die Lebenshaltungskosten. So kosteten Ende des Jahres 1919 in Graz von den auf Karten erhältlichen, staatlich bewirtschafteten Lebensmitteln 1 kg Fett 150 K – was bedeutete, dass eine Arbeiterin dafür mehr als eine Woche arbeiten musste – gegenüber einem Friedenspreis von 1 K 90 h, 1 kg Mehl 5 K 60 h gegenüber 40 h, 1 kg Fleisch 10 K 40 h gegenüber 1 K 60 h und 1 kg Zucker 15 K gegenüber 92 h. Eine ähnliche Erhöhung war auch bei den Preisen von teils im freien Handel, teils bei Bauern erhältlichen Lebensmitteln zu verzeichnen  : So kostete 1 kg Kartoffeln 6 bis 9 K gegenüber 10 h, 1 kg Reis 24 K gegenüber 72 h, 1 kg Bohnen 9 K gegenüber 40 h, 1 kg ausländisches Rindfleisch 48 K gegenüber 1 K 60 h, 1 kg Sauerkraut 4 K gegenüber 20 h und 1 Ei bis zu 5 K 60 h gegenüber 10 h vor dem Krieg. Auf dem Schwarzmarkt kosteten die Lebensmittel noch wesentlich mehr. So waren für 1 kg Mehl bis zu 40 K zu bezahlen. Vgl. Bericht über den 10. Aufsichtsbezirk, Amtssitz Graz, Wien 1920, 209, 210. 70 Vgl. Berger, Petra  : Frauen in Hunger- und Brotkrawallen am Beispiel des Grazer »Kirschenrummels«, Phil. Dipl. Graz 1994. 71 Vgl. Stocker  : »Trotz völliger Lockerheit der Manneszucht…« (1990), 121.

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Dies führte dazu, dass die Arbeiterinnen in den Betrieben zunehmend als Risikofaktoren gesehen wurden. Das Kriegsministerium erteilte den staatlichen Betrieben die Weisung, Frauen nur mehr dort in größerer Zahl einzusetzen, wo es für die Produktion unerlässlich sei, da Arbeiterinnen, wo immer »sie in Industrien massiert verwendet werden, stets dasjenige Element darstellen, welches die Ruhe und Ordnung der Betriebe durch ihre zumeist angeborene schürende Tätigkeit stört und wiederholt die Ursache von Streiks bildet«.72 Tatsächlich zeigten die von Hunger und Überarbeitung erschöpften Arbeiterinnen, die nur in Ausnahmefällen Partei- oder Gewerkschaftsmitglieder waren, eine weit größere Bereitschaft, sich auf Konflikte einzulassen als ihre organisierten Kollegen, wobei sie vorrangig wilde Streiks und Plünderungen durchführten.73 Die Gründe für diese Bereitschaft zu radikalem Verhalten lagen unter anderem darin, dass die Frauen mehr von der Versorgungssituation betroffen waren, weil sie ja für die Ernährung zuständig waren. Außerdem hatten sie weniger zu verlieren als die Männer. So konnten sie z. B. nicht zum Militärdienst eingezogen werden. Da sie weniger gewerkschaftlich organisiert waren, mussten sie auch nicht Rücksicht auf die Gewerkschaftslinie nehmen, bzw. konnten von der Gewerkschaft nicht diszipliniert werden.74 Die Gewerkschaft war von der Tatsache, dass sie nur beschränkt Einfluss auf die Frauen hatte, nicht begeistert und agierte sehr frauenfeindlich.75 In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass die Radikalisierung der Arbeiterinnen in den Jahre 1917 und 1918 auch zu einem bis dahin nicht erreichten Ausmaß von Frauen-Politisierung führte, was am Aufschwung der organisierten Arbeiterinnenbewegung erkennbar ist.76 So wurde am Frauentag der Sozialdemokratinnen im April 1917 festgestellt, dass fast alle Ortsgruppen Mitglieder gewonnen hatten. Besonders erfolgreich war die steirische Frauenorganisation, so war in Kapfenberg die Zahl der organisierten Sozialdemokratinnen von 240 zu Kriegsbeginn auf 900 im September 1917 gestiegen. Auch andere steirische Ortsgruppen konnten Zuwächse verzeichnen.77 Diese Politisierung führte in der Steiermark zu einer ständig wachsenden sozialdemokratischen Frauenbewegung. Ob es dadurch auch zu Veränderungen der Geschlechterordnung gekommen ist, soll in den nachfolgenden Überlegungen behandelt werden.

72 Augeneder, Arbeiterinnen im Ersten Weltkrieg (1987), 195. 73 Ebd., 2. 74 Ebd., 195. 75 Ebd., 197. 76 Ebd., 2. 77 In 16 Versammlungen traten 450 Frauen der Organisation bei. Ebd., 203.

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Geschlechterordnung Bei der Auseinandersetzung mit der Thematik der Geschlechterordnung stellt sich die Frage, ob und welche Konsequenzen sich durch die als Folge des Krieges auf dem Gebiet der Erwerbsarbeit eingetretenen Veränderung der alten geschlechterspezifischen Rollenmuster für die Geschlechterordnung ergeben hatten.78 Wie bereits ausführlich dargestellt, hatten Frauen während des Krieges ja nicht nur weiter in den ihnen zugestandenen Bereichen gearbeitet, sondern waren auch in so genannten Männerberufen tätig, in welchen sie die im Krieg eingesetzten Männer ersetzen mussten, wobei sie in der Rüstungsindustrie sehr oft auch gegen ihren Willen eingesetzt worden waren. 1918 finden sich Frauen aber in nahezu allen Bereichen der Arbeitswelt. Außer in der Industrie arbeiteten sie auch als Schaffnerinnen und vor allem in Büros, wobei sie im öffentlichen Dienst im Jahre 1917 bereits die Mehrheit der Beschäftigten stellten.79 Auch in anderen Bereichen, vor allem bei der Organisation der Versorgung, hatten sie vermehrt gesellschaftliche Aufgaben zu übernehmen, zu denen sie vorher für nicht fähig erklärt worden waren. Dies führte dazu, dass die strikten Abgrenzungen zwischen der den Männern vorbehaltenen öffentlichen Sphäre und der privaten Reproduktions-Sphäre der Frauen nicht mehr durchgängig aufrechterhalten und die geschlechtsspezifischen Stereotype bezüglich der Rollenverteilung hinfällig geworden waren. Bereits seit etwa 1916 wurden jedoch Forderungen nach einer Wiederherstellung von »Ordnung« in den Familien, in der Gesellschaft, in Politik und Wirtschaft, erhoben, wobei darauf hingewiesen werden soll, dass auch die bereits dargestellte Entfernung der Frauen von eigentlich den Männern vorbehaltenen Arbeitsplätzen in diesem Zusammenhang gesehen wurde. Diese Wiederherstellung der Ordnung blieb auch in der Nachkriegszeit ein vorrangiges Ziel, nicht nur in Österreich, sondern auch in weiten Teilen Europas. Eine zentrale Bedeutung nahm dabei die Geschlechterordnung ein. Gerade in diesem Bereich sollten die alten Hierarchien, die durch den Krieg in »Unordnung« geraten waren, restauriert werden, v. a. durch die heimkommenden Männer, wobei gehofft wurde, dass dies so schnell wie möglich erfolgen würde.80 Die »Wiederherstellung« der tradierten Familienordnung wurde  – ungeachtet ihrer sonstigen 78 Vgl. Schmidlechner, Die neue Frau  ? (2008), 90, FN 11. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass Frauen, speziell die aus den unteren Schichten, schon längst an Lohnarbeit gewohnt waren. Vor Beginn der Kämpfe betrug der Anteil von Frauenarbeit in den westlichen Ländern zwischen 25 % und 36 %, eine Zahl, die sich nach dem Krieg nicht wesentlich veränderte. 79 Ebd., 90, FN 12. 80 Healy weist darauf hin, dass es allerdings nicht die »Ordnung«, sondern vielmehr das Element der Gewalt war, welches die heimkehrenden Soldaten in die Familien brachten. Gewalt gehörte zu den Charakteristika der Zwischenkriegszeit in Österreich, wobei sie nicht nur ein Produkt der Frontkämpfermentalität war, sondern auch der Erfahrungen von Frauen und Kindern an der »Heimatfront«. Beide Prägungen zusammen drückten der spezifischen politischen und gesellschaftlichen Kultur der Zwischenkriegszeit ihren Stempel auf. Vgl. Healy, Vienna and the Fall of the Habsburg Empire (2004), 258–299.

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unterschiedlichen politischen Vorstellungen – von allen Parteien, also auch der Sozialdemokratie, angestrebt. Diese hatte  – als Gegenmodell zu bürgerlichen Vorstellungen  – nach 191981 eine Reihe von theoretischen Überlegungen für die verschiedensten Lebensbereiche der Arbeiterschaft entworfen,82 die diesen Anleitungen und Richtlinien für ihr Leben bieten sollten, wozu auch Überlegungen bezüglich Familie und Partnerschaft gehörten.83 Zumindest in der Steiermark war die Realisierung dieser Konzepte jedoch nicht möglich, auch deshalb, weil sie in keiner Weise der gesellschaftlichen Realität entsprachen, waren doch in den meisten steirischen Arbeiterfamilien die patriarchalen Strukturen noch besonders tief verankert. Daher stießen sie nicht einmal bei den Arbeiterinnen selbst auf Resonanz.84

Zusammenfassung Zusammenfassend kann daher festgestellt werden, dass die durch den Krieg bedingten Veränderungen im Produktionsbereich, die zu einer Erhöhung des Frauenanteils 81 Sogleich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges begann die Arbeiterbewegung, ihre Reformüberlegungen zu realisieren, wie die neue Sozialgesetzgebung und der Ausbau des Mieterschutzes zeigen. Die konkrete Umsetzung gelang jedoch hauptsächlich in Wien. Am 21.  September 1923 wurde vom Wiener Gemeinderat ein großes Wohnbauprogramm beschlossen. Die neu errichteten Wohnungen stellten die Grundlage jener sozialdemokratischen Gegenwelt dar, die die Partei in Wien errichten wollte. Bis 1934 waren mehr als 60.000 Wohnungen, in denen fast 250.000 Menschen lebten, entstanden. Vgl. Schmidlechner, Die neue Frau  ? (2008), 100, FN 67. 82 Dies war zum einen durch die teilweise gravierenden Änderungen der Lebensbedingungen, die zu einem großen Teil Resultat der neu erlassenen Sozialgesetze waren, wie etwa die Vermehrung der Freizeit durch die Arbeitszeit- und Urlaubsregelungen, für notwendig erachtet worden, andererseits sollten dadurch die Enttäuschungen, hervorgerufen durch die nicht erfüllten politischen Erwartungen, kompensiert werden. Vgl. Schmidlechner, Karin M.: Die Frauen in der Arbeiterkultur der Zwischenkriegszeit am Beispiel Österreichs, in  : Boll, Friedhelm (Hg.)  : Arbeiterkulturen zwischen Alltag und Politik. Beiträge zum europäischen Vergleich in der Zwischenkriegszeit, Wien 1986, 214. 83 Das theoretische Hauptunterscheidungsmerkmal zwischen bürgerlichen und sozialdemokratischen Vorstellungen von der Ehe war die in sozialdemokratischen Konzepten geforderte Gleichrangigkeit von Frau und Mann, wobei die traditionelle Aufgabenteilung zwischen den Geschlechtern aber ebenfalls nicht in Frage gestellt wurde. Dass fast ausschließlich die Frauen, auch wenn sie berufstätig waren, für den Haushalt und die Kinderbetreuung zuständig waren, wurde als gegeben hingenommen, auch von den sozialdemokratischen Politikerinnen. In ihren theoretischen Konzeptionen behandelten sie diese Problematik zwar aus der Sicht der Frauen und charakterisierten sie auch richtig, bezogen aber in ihre Vorschläge zur Verbesserung ihrer Situation nur selten die Männer mit ein. Vielmehr sollte diese Verbesserung durch die Zentralisierung und Professionalisierung des Haushalts ermöglicht werden, also durch Einküchenhäuser, Zentralküchen und genossenschaftliche Waschanstalten. Vgl. Schmidlechner, Die neue Frau  ? (2008), 100, FN 67. 84 Vgl. Schmidlechner, Die Frauen in der Arbeiterkultur der Zwischenkriegszeit am Beispiel Österreichs (1986), 214.

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führten, trotz intensiver Bemühungen von Seiten des Staates und der Gesellschaft zumindest in den ersten Nachkriegsjahren nicht zur Gänze rückgängig gemacht werden konnten, während die kriegsbedingten Veränderungen in Bezug auf die Geschlechterordnung mit wenigen Ausnahmen – dazu gehört u. a. auch die zunehmende Politisierung der Arbeiterinnen – korrigiert wurden. Allerdings kam es mit der Erlangung des Wahlrechtes für Frauen nach dem Ende des Krieges85 zu folgenreichen und auch dauerhaften Veränderungen für die Frauen86 und in weiterer Folge auch für die Geschlechterordnung, wobei zunächst damit aber weder die tatsächliche Anerkennung als vollwertige Staatsbürgerinnen noch eine stärkeren Beteiligung am politischen Leben und an der Macht verbunden war. Somit stellte das Wahlrecht zwar einen wichtigen ersten Schritt, aber letztendlich doch nur eine von mehreren Komponenten auf dem Weg zur Gleichberechtigung dar.87 Bis zur tatsächlichen Erreichung dieser Gleichberechtigung sollte es noch Jahrzehnte dauern.

85 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass auf Grund einer von einer Delegation des Wiener Frauenstimmrechtskomitees zu Kriegsbeginn an das k. k. Justizministerium übergebenen Petition mit der Bitte, den Frauen das Vormundschaftsrecht zu gewähren, tatsächlich bereits am 12.10.1914 ein kaiserlicher Erlass erfolgte, wodurch das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch im Jahr 1914 die erste (Kriegs-)Novelle erfuhr, in welcher Frauen, weil »sie nun in ihrer Gesamtheit auch beweisen, daß sie reif sind, zur Übernahme der ihnen zuwachsenden Pflichten«, das Recht zugestanden wurde, Vormund über die eigenen und fremden Kinder zu sein. Darüber hinaus erhielten sie auch das Recht, Testamentszeugin zu sein sowie auch eine Teilerbrechtsfähigkeit. Vgl. den Beitrag von Anita Ziegerhofer in diesem Band. 86 Im April stellte der sozialdemokratische Gemeinderat Jakob Reumann in Wien den Antrag auf Beseitigung des nach Steuerleistung abgestuften Wahlsystems, wobei er auch für die Frauen, die sich in der Kriegszeit als vortreffliche Sachwalter der Interessen der gesamten Bevölkerung bewahrt hatten, das Wahlrecht forderte. Die umfassende Mobilisierung von Frauen aller sozialen Schichten für öffentliche Angelegenheiten im Chaos und der Not seit 1914 führte sogar beim christlich-sozialen Wiener Bürgermeister Richard Weiskirchner zu einer Meinungsänderung. Hauch, Gabriella  : Vom Frauenstandpunkt aus  : Frauen im Parlament 1919–1933, Wien 1995, 61–62. 87 Österreich lag damit voll im internationalen Trend. Kurz nach dem Ersten Weltkrieg war das Wahlrecht den Frauen in Großbritannien, Deutschland, Irland und Luxemburg, sowie der Sowjetunion, den USA und Kanada zugestanden worden. In Finnland bestand es bereits seit 1906, in Norwegen seit 1913 und in Dänemark einschließlich Island seit 1915. Weltweit gesehen gab es zum damaligen Zeitpunkt das Frauenwahlrecht allerdings nur im britischen Neuseeland (seit 1893) und in Australien (seit 1902). Vgl. Kuhn, Annette (Hg.)  : Die Chronik der Frauen, Dortmund 1992, 430–434.

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Vergeschlechtlichte Konfliktzonen Kriegsfürsorge zwischen patriotisch-nationalen Geschlechterentwürfen und staatlich-militärischen Interessen Euer Exzellenz  ! Seit 20 Monaten tobt der Krieg und zahllos sind die Opfer, die er fordert. Nicht nur unsere todesmutigen Helden kämpfen und leiden, auch wir im Hinterlande, wir Frauen und Mädchen, die klaglos, wenn auch mit blutendem Herzen ihr Liebstes hingeben für Kaiser und Vaterland. In unermüdlicher, rastloser Arbeit suchen wir uns der großen Zeit in der wir leben würdig zu erweisen. Mit tausend Tränen und bitterem Weh haben wir uns das Recht erkauft unsere Helden zu pflegen, ihre Schmerzen zu lindern, vielleicht ihre Todesstunde zu erleichtern. Nun ist uns dieses Recht genommen worden. Die abgeordneten Frauen und Pflegerinnen sind aus einem großen Teil der Spitäler ausgewiesen und wenn auch diese harte Maßregel gemildert wurde, so sind wir doch nur geduldet, können jeden Tag wieder entlassen werden. Wir Frauen und Mädchen lassen uns eben dieses teuer erkaufte Recht nicht schmälern und unser Entschluß steht fest dieses Recht zu verteidigen, um Gewährung unserer Bitte, wenn es sein muß, bis an die Stufen des Thrones zu gehen. Euer Exzellenz bitten wir unsere Beschwerde zur Kenntnis zu nehmen, unser Anwalt zu sein und unsere Bitte zu unterstützen.1

Am 17. März 1916 übermittelten Ladislaja Gräfin von Meran in ihrer Funktion als Vizepräsidentin des »Landes- und Frauen-Hilfsvereins vom Roten Kreuz in Steiermark«, Helene Gräfin Waldstein-Wartenberg als Vorsitzende der »Katholischen Frauenorganisation Steiermarks«, Berta Schreiner als Obfrau des »Deutschen Frauenbundes Steiermark«, Baronin Marie Rokitansky für die »Reichsorganisation der Hausfrauen Oesterreichs« (ROHÖ), Sylvia Glowacki, Vorsitzende des »Allgemeinen Deutschen Frauenverbandes«, sowie die nicht näher ausgewiesenen Unterzeichnerinnen M.C. Corti und Marie von Mouillé diesen Brief an den k. k. Statthalter der Steiermark, Manfred Graf von Clary und Aldringen. Ihre Zeilen affirmierten in hohem Maß den in der Zeit des Ersten Weltkriegs präsenten Geschlechterdiskurs, in welchem streng zwi1 Steiermärkisches Landesarchiv (StLA), Statth. Präs. M297c-1187/1916, Karton 1221, Brief steirischer Frauenorganisationen an den steirischen Statthalter vom 17.3.1916, 40–41. Für die kritische Lektüre des Beitrags und die konstruktiven Hinweise danke ich herzlich Christa Hämmerle. Zum vorliegenden Fallbeispiel siehe auch  : Zettelbauer, Heidrun  : Sich der Nation ver|schreiben. Politiken von Geschlecht und nationaler Zugehörigkeit in autobiographischen Selbsterzählungen von Akteurinnen des völkischen Milieus, unveröff. Habilitationsschrift Graz 2016 (Drucklegung in Vorbereitung), 147–190.

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schen einer männlich konnotierten Kriegsfront und einem weiblich konnotierten Hinterland unterschieden, den daheim gebliebenen Frauen und Mädchen die Pflege von verwundeten und kranken Soldaten übertragen und die Verehrung der Frontkämpfer als Helden auferlegt wurde. Die Bestätigung der patriotisch-nationalen Geschlechterordnung, deren Grundstrukturen sich (kaum abgeändert) bis in die Zeit der napoleonischen Befreiungskriege zurückverfolgen lassen und die in verschiedensten kriegerischen Auseinandersetzungen immer wieder rasch reaktiviert wurden2, ist wenig erstaunlich, war dieser Diskurs doch in den unterschiedlichsten politischen Milieus, insbesondere aber in bürgerlich-konservativen und patriotisch-nationalen Kontexten, bereits Jahre vor dem Krieg stark präsent.3 Irritierend erscheint an dieser Stelle jedoch die Vehemenz, mit der die genannten Protagonistinnen steirischer Frauenverbände über konfessionelle und politische Grenzen hinweg die freiwillige Pflege der verwundeten Soldaten als ihr »teuer erkauftes Recht« behaupteten und nicht vor der Drohung zurückschreckten, ihr Anliegen bei Nicht-Entsprechen ans Kaiserhaus heran zu tragen. Was hatte eine solche Irritation in bürgerlich-konservativen Frauennetzwerken ausgelöst  ? Welches politische Selbstverständnis knüpfte sich an diesen Schritt, die höchsten politischen Repräsentanten zur Unterstützung anzurufen  ? Welche Konzepte von Geschlecht und citizenship4 werden hier sichtbar und inwieweit erhellt eine Analyse dieser Prozesse gerade den kulturellen Konstruktionscharakter der Diskursfiguren von der ›männlichen Kriegsfront‹ und der ›weiblichen Heimatfront‹5  ? Das Bild der pflegenden, fürsorglichen, opferbereiten und demütigen Pflegerin, welche den verletzten Kriegshelden umsorgt, um ihn nach seiner Gesundung erneut dem Kampf zu opfern, war zumindest in den ersten Kriegsjahren in der öffentlich-medialen Wahrnehmung ohne Zweifel das zentrale Gegenbild zum tapferen deutschen Soldaten, der zur Verteidigung von Frauen, Kindern und Alten in den Krieg zog.6 Ausgeblendet 2 Vgl. Planert, Ute  : Nationalismus und weibliche Politik. Zur Einführung, in  : Planert, Ute (Hg.)  : Nation, Politik und Geschlecht. Frauenbewegungen und Nationalismus in der Moderne (Geschichte und Geschlechter 31), Frankfurt/Main-New York 2000, 9–14  ; Planert, Ute  : Vater Staat und Mutter Germania. Zur Politisierung des weiblichen Geschlechts im 19. und 20. Jahrhundert, in  : Ebd., 15–65. 3 Vgl. Zettelbauer, Heidrun  : »Die Liebe sei Euer Heldentum«. Geschlecht und Nation in völkischen Vereinen der Habsburgermonarchie, Frankfurt/Main-New York 2005, 177–210. 4 Vgl. Canning, Kathleen  : Der Körper der Staatsbürgerin als theoretisches und historisches Problem, in  : Bowald, Béatrice et al. (Hg.)  : KörperSinnE. Körper im Spannungsfeld von Diskurs und Erfahrung (gender wissen 2), Bern-Wettingen 2002, 109–133, hier 111–113. Canning definiert citizenship als Status und als Praxis und lenkt den Blick auch auf kulturelle Dimensionen, öffentliche Diskurse und alltägliche Lebenserfahrungen in Zusammenhang mit dem Begriff, wobei sich die genannten Ebenen nicht miteinander decken müssen. Ebd., 118. 5 Vgl. Hagemann, Karen/Schüler-Springorum, Stefanie (Hg.)  : Heimat-Front. Militär und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege (Geschichte und Geschlechter 35), Frankfurt/Main-New York 2002. Zu Österreich-Ungarn vgl. Hämmerle, Christa  : Heimat/Front. Geschlechtergeschichte/n des Ersten Weltkriegs in Österreich-Ungarn, Wien-Köln-Weimar 2014. 6 In den letzten Jahren stellen Untersuchungen zu den Frontschwestern und zunehmend auch zu männ-

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aus diesem Geschlechterdiskurs blieben dabei konsequenterweise die Dimensionen der Transgression7 politisch-kultureller Normen, welche solche Geschlechterbilder auch in sich trugen und besonders im Feld der Kriegsfürsorge und Verwundetenpflege sichtbar wurden. Dies belegen sowohl die Tätigkeiten der Kriegskrankenschwestern, deren Einsatz an der Front in vielerlei Hinsicht Gemeinsamkeiten dem soldatischen Alltag aufwies, als auch das männliche militärische Pflegepersonal, dessen Ideal einer helfenden/sorgenden Männlichkeit durchaus in die Nähe von als weiblich betrachteten Aufgaben rückte.8 Im Fall professioneller Frontschwestern und freiwilliger Pflegerinnen zeigte sich die Überschreitung hegemonialer Geschlechterordnungen schon beim gemeinsamen Einrücken mit den Männern, in ihrem unzweifelhaft gefährlichen Einsatz in Feldlazaretten oder Sanitätskolonnen und ihrer impliziten Teilhabe an der lichem Pflegepersonal ein zentrales Thema geschlechtergeschichtlicher Forschungen dar, vgl. dazu exemplarisch  : Schulte, Regina  : Die Schwester des kranken Kriegers. Verwundetenpflege im Ersten Weltkrieg, in  : Schulte, Regina (Hg.)  : Die verkehrte Welt des Krieges. Studien zu Geschlecht, Religion und Tod (Geschichte und Geschlechter 25), Frankfurt/Main-New York 1998, 95–116  ; Higonnet, Margaret R.: Nurses at the Front. Writing the Wounds of the Great War, Boston 2001  ; Schönberger, Bianca  : Mütterliche Heldinnen und abenteuerlustige Mädchen. Rotkreuz-Schwestern und Etappenhelferinnen im Ersten Weltkrieg, in  : Hagemann/Schüler-Springorum, Heimat-Front (2002), 108–127  ; Panke-Kochinke, Birgit/Schaidhammer-Placke, Monika  : Frontschwestern und Friedensengel. Kriegskrankenpflege im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Ein Quellen- und Fotoband, Frankfurt/Main 2002  ; Stölzle, Astrid  : Kriegskrankenpflege im Ersten Weltkrieg. Das Pflegepersonal der freiwilligen Krankenpflege in den Etappen des Deutschen Kaiserreichs (MedGG-Beiheft 49), Stuttgart 2013  ; Toman, Cynthia  : Sister Soldiers of the Great War. The Nurses of the Canadian Army Medical Corps, Vancouver-Toronto 2016  ; Hallett, Christine E.: Nurse Writers of the Great War, Manchester 2016  ; Reid, Fiona  : Medicine in First World War Europe. Soldiers, Medics, Pacifists, London 2017  ; Quiney, Linda J.: This Small Army of Women. Canadian Volunteer Nurses and the First World War, Vancouver-Toronto 2017  ; Schwamm, Christoph  : Wärter, Brüder, neue Männer. Männliche Pflegekräfte in Deutschland, ca. 1900–1980 (MedGG-Beiheft 79), Stuttgart 2021, 9–77. Zur Situation in der Habsburgermonarchie vgl. Hämmerle, Christa  : Seelisch gebrochen, körperlich ein Wrack… Gewalterfahrungen von Kriegskrankenschwestern, in  : Hämmerle, Heimat/Front (2014), 27–54  ; Zettelbauer, Heidrun  : Krankenschwestern im Ersten Weltkrieg. Zwischen gesellschaftlichen Normvorstellungen und Gewalterfahrungen, in  : Leopold, Diethard/Pumberger, Stephan/Summerauer, Birgit (Hg.)  : Wally Neuzil – Ihr Leben mit Egon Schiele, Wien 2015, 131–151  ; Zettelbauer, Heidrun  : Das fragile Geschlecht der Kriegsheldin. Diskursivierungen weiblicher Heilungs- und Verletzungsmacht im Ersten Weltkrieg, in  : Rolshoven, Johanna/Krause, Toni Janosch/Winkler, Justin (Hg.)  : Heroes. Repräsentationen des Heroischen in Geschichte, Literatur und Alltag (Edition Kulturwissenschaft 156), Bielefeld 2018, 91–126. 7 Zur Figur der Transgression vgl. Hacker, Hanna  : Gewalt ist  : keine Frau. Der Akteurin oder eine Geschichte der Transgressionen, Königstein/Taunus 1998  ; Hacker, Hanna  : Mannweib. Cyborg. Mestiza. Transgressive (Frauen-)Körper zwischen Geschichte und Utopie, in  : Zettelbauer, Heidrun et al. (Hg.)  : Verkörperungen. Embodiment. Transdisziplinäre Analysen zu Geschlecht und Körper in der Geschichte. Transdisciplinary Explorations on Gender and Body in History, Göttingen 2017, 45–64. 8 Zum militärischen Sanitätspersonal vgl. das laufende Dissertationsprojekt von Viktoria Wind (Graz) zu vielfältigen Entwürfen soldatisch-militärischer Männlichkeit im Ersten Weltkrieg, u. a. zu männlichem Sanitätspersonal in der Habsburgermonarchie. Zur britischen Situation vgl. Meyer, Jessica  : An Equal Burden. The Men of the Royal Army Medical Corps in the First World War, Oxford 2019.

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Verteidigung der Nation als »Kamerad Schwester« – und das gerade nicht nur wie propagiert im ›sicheren Hinterland‹, sondern oft in unmittelbarer Frontnähe. Meist gänzlich beschwiegen blieben nach 1918 auch jene Kriegsteilnehmerinnen, die sich in den hegemonialen Geschlechterdiskurs kaum einordnen ließen  : Ärztinnen, die im Feld oder auch in Militärspitälern Dienst versahen9, die »weiblichen Hilfskräfte der Armee im Felde«10, denen (so sie medial überhaupt Beachtung fanden) meist pauschalisierend Geldgier und sexuelle Motive unterstellt wurde11, oder auch kämpfende Soldatinnen12, die punktuell mitunter romantisierend in den Medien auftauchten, überwiegend jedoch ein offenkundig beunruhigendes Gefühl evozierten, weil sie die zeitgenössische Rede vom »männlichen Krieg« schlicht ad absurdum führten.13 Der nationalisierte und schon vor dem Krieg in vielen politischen Milieus militarisierte Diskurs konzipierte ein Geschlechterverhältnis, das »männliches Soldatentum und Wehrfähigkeit« einerseits und »weibliche Mütterlichkeit, Opferbereitschaft, Demut und Fürsorge« andererseits konstruierte. Daran gekoppelt war die Idee, dass männliche Soldaten die Nation »nach außen hin« zu verteidigen und damit Frauen und Kinder »im Inneren der Nation« zu schützen hätten.14 Dieser Tugendkatalog erwies sich im Kronland Steiermark auch in bürgerlichen-konservativen Frauenvereinen und im völkischen Milieu als sehr präsent und erhielt hier in den Monaten vor bzw. unmittelbar nach Kriegsausbruch starken Aufschwung.15 Tatsächlich leisteten viele Aktivistinnen steirischer Frauenvereine wichtige Arbeit in der Kriegsfürsorge  : im Bereich Nahrungsmittelversorgung, Kinder- und Waisenfürsorge, in der Unterstützung von Arbeitslosen oder bei der Flüchtlingsbetreuung, im Rahmen karitativer Wohl-

  9 Vgl. Stadler, Angelika  : Ärztinnen im Krieg am Beispiel der Ärztinnen Österreich-Ungarns, Phil. Diss. Graz 2003. 10 Diese Bezeichnung galt für Österreich-Ungarn, im Deutschen Reich wurden sie als »Etappenhelferinnen« bezeichnet. Vgl. Hämmerle, Heimat/Front (2014), 21  ; Hois, Alexandra  : »Weibliche Hilfskräfte« in der österreichisch-ungarischen Armee im Ersten Weltkrieg, Phil. Dipl. Wien 2012. 11 Vgl. Schöneberger, Mütterliche Heldinnen (2002), 117. 12 Leszczawski-Schwerk, Angelique  : Amazonen, emanzipierte Frauen, »Töchter des Volkes«. Polnische und ukrainische Legionärinnen in der österreichisch-ungarischen Armee im Ersten Weltkrieg, in  : Hämmerle, Christa/Scheutz, Martin (Hg.)  : Glanz – Gewalt – Gehorsam. Militär und Gesellschaft in der Habsburgermonarchie (1800 bis 1918) (Frieden und Krieg. Beiträge zur Historischen Friedensforschung 18), Essen 2011, 55–76. Vgl. Hämmerle, Heimat/Front (2014), 20–21. 13 Vgl. Stadler, Ärztinnen (2003), 91–94  ; Hacker, Gewalt ist  : keine Frau (1998), 281. 14 Die US-amerikanische feministische Politikwissenschaftlerin Cynthia Enloe hat den stehenden Ausdruck womenandchildren geprägt, um auf diese stereotype und Militarisierung befördernde Diskursfigur hinzuweisen. Vgl. Enloe, Cynthia  : Alle Männer sind in der Miliz, alle Frauen sind Opfer. Die Politik von Männlichkeit und Weiblichkeit in nationalistischen Kriegen, in  : Fuchs, Brigitte/Habinger, Gabriele (Hg.)  : Rassismen & Feminismen. Differenzen, Machtverhältnisse und Solidarität zwischen Frauen, Wien 1996, 92–110  ; Enloe, Cynthia  : Maneuvers. The International Politics of Militarizing Women’s Lives, Berkeley 2000. 15 Vgl. Zettelbauer, Die Liebe (2005), 375.

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fahrtstätigkeiten16, unzähligen Liebesgabensammlungen17 und nicht zuletzt in der Verwundetenpflege. Auch ideologisch-propagandistisch unterstützten viele bürgerlichkonservative Frauen den Krieg, in dem sie als Journalistinnen und Schriftstellerinnen die genannte Geschlechterordnung narrativ ausgestalteten und etwaige Abweichungen medial verteufelten. Manche meldeten sich selbst als Pflegerinnen für den Fronteinsatz, thematisierten die Rolle von Frontschwestern in fiktionalen Romanen oder berichteten über ihre eigenen Erfahrungen in autofiktionalen und/oder autobiographischen Texten.18 Als signifikant erwies sich dabei meist die intensive Beschwörung ›richtigen‹ weiblich-nationalen Verhaltens, das Herbeischreiben adäquater geschlechtsspezifischer Handlungsmuster oder das Erzeugen von Bedrohungsszenarien bei Nichteinhaltung von Geschlechternormen. Aus einer geschlechterhistorischen Perspektive kann eine solche Intensivierung von Diskursen um Geschlechterordnungen als Hinweis auf eine in der sozialen Praxis in »Unordnung geratene Geschlechterordnung« (J. Scott) gelesen werden19  : aus Sicht vieler Zeitgenoss:innen überschritten Akteurinnen im Rahmen ihrer Tätigkeiten in der Kriegsfürsorge offenkundig jene Handlungsspielräume, die als zulässig für weibliches Handeln in der Öffentlichkeit erachtet wurden20. Ausgehend von diesen Überlegungen möchte der folgende Beitrag das Feld der Kriegsfürsorge als paradigmatischen Ort der Aushandlung von Geschlechterordnungen thematisieren. Neuere Forschungen21 verdeutlichen, wie lohnenswert ein geschlechterhistorischer Blick hier sein kann, denn er verdeutlicht, dass Kriegsfürsorge 16 Beispielhaft für die von Frauen und Frauenverbänden organisierte umfassende Spendentätigkeit vgl. Frauen-Fleiss im Dienste der Kriegsfürsorge. Ausstellung zugunsten des Steiermärkischen Witwen-, Wai­sen- und Invaliden-Kriegsschatzes, 6.–21.11.1915, Graz 1915. 17 Zu den Liebesgabensammlungen vgl. Hämmerle, Christa  : Wäsche für die Soldaten. Die Militarisierung des weiblichen Handarbeitens, in  : Hämmerle, Heimat/Front (2014), 105–138  ; Hämmerle, Christa  : »Wir strickten und nähten Wäsche für die Soldaten…« Von der Militarisierung des Handarbeitens im Ersten Weltkrieg, in  : L’Homme. Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft, Jg. 3 (1992) Heft 1, 88–128. Zu den Liebesgabensammlungen völkischer Vereine in der Steiermark siehe  : Zettelbauer, Die Liebe (2005), 398–401. 18 Vgl. etwa  : Kreuter-Gallé, Lina  : Kriegserinnerungen einer freiwilligen Pflegerin, in  : Mitteilungen des Verein Südmark (MdVS), Jg. 10 (1915) Heft 1/2, 2–6. Als literarisches Beispiel  : Salburg, Edith Gräfin  : Kamerad Susanne. Ein Erleben, Dresden 1936. 19 Zur Gleichzeitigkeit von Destabilisierung und Stabilisierung von Geschlechterdiskursen vgl. Scott, Joan W.: Rewriting History, in  : Higonnet, Margaret et al. (Hg.)  : Behind the Lines. Gender and the Two World Wars, New Haven 1987, 21–31. 20 Vgl. Zettelbauer, Das fragile Geschlecht (2018), 101. 21 Vgl. das laufende Elisabeth-List-Fellowship-Projekt »War Welfare and Gender Politics in the First World War. Local and Global Dimensions«, das 2021/2022 unter der Projektleitung der Verfasserin an der Universität Graz durchgeführt wird. In diesem Rahmen fand auch eine internationale Konferenz zur Thematik unter dem Titel »Gender Politics and War Welfare During World War One and Beyond« am 9./10.12.2021 an der Universität Graz statt. Aktuell zur Thematik der humanitären Hilfe im Ersten Weltkrieg aus Geschlechterperspektive vgl. die internationale Konferenz »Women, Gender Roles and Humanitarian Aid in the Greater War 1912–1925« in Brüssel am 13./14.12.2021.

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nicht per se pazifistisch war, auch nicht allein altruistisch oder lediglich eine humanitäre Geste, um Schmerzen und Verletzungen zu lindern. Dahingegen konnten sehr unterschiedliche politische und individuelle Zielsetzungen in ein Engagement im Feld der Kriegsfürsorge eingeschrieben sein. Im Folgenden wird der Begriff der Kriegsfürsorge jedenfalls breit gefasst als Sorgearbeit22 verstanden, welche nicht nur die Soldaten und die Verwundeten selbst, sondern auch ihre Familien sowie verschiedene kriegsbedingt hilfsbedürftige zivilgesellschaftliche Gruppen adressierte.23 Dies wirft aus geschlechterhistorischer Sicht vor allem die im ersten Teil des Beitrags behandelte Frage auf, welche Identifikationsfiguren der Geschlechterdiskurs im Feld der Kriegsfürsorge vor und in den ersten Kriegsjahren bereitstellte  ? Was genau wurde als Norm, Abweichung oder Grenzüberschreitung in den Handlungen bürgerlich-konservativer Frauen betrachtet und wie wurde dies argumentiert  ? Auf welche Weise wurden angenommene Verstöße gegen das hegemoniale Geschlechterbild diskursiv und praktisch politisch geahndet  ? Welche vergeschlechtlichten Konflikte um politisches Handeln von Frauen werden dabei sichtbar  ? Umgekehrt  : welche politischen Strategien evozierten diese Debatten unter den Akteurinnen patriotischer, national-konservativer oder völkischer Politik und welche Konzepte weiblicher Staatsbürgerschaft wurden in diesem Rahmen entwickelt  ? Diese Fragen lenken den Blick nicht zuletzt auch auf Prozesse der Selbstmobilisierung von Frauen im Umfeld bürgerlich-konservativer Frauenvereine oder völkischer Deutschtumsvereine, welche im zweiten bzw. dritten Abschnitt diskutiert werden. Die Praxis der freiwilligen Kriegsfürsorge und (als ein zentraler Teil davon) die Verwundetenpflege verdeutlicht jedenfalls nicht nur zugespitzte Geschlechterbilder, sondern auch die Überschreitung normativer Vorgaben durch zivilgesellschaftliche Aktivistinnen sowie deren Konsequenzen. Sichtbar wird beispielhaft die prozesshafte (mitunter konfliktreich verlaufende) Aushandlung von Geschlechterordnungen im Ersten Weltkrieg. Aus einer aktuellen geschlechterhistorischen wie kulturgeschichtlichen Perspektive24 rücken insbesondere Ambivalenzen, Uneindeutigkeiten und Konflikte 22 Vgl. exemplarisch zu den aktuellen Debatten um Care-Work und Care-Ethik aus feministischer Perspektive  : Conradi, Elisabeth/Vosman, Frans (Hg.)  : Praxis der Achtsamkeit. Schlüsselbegriffe der Care-Ethik. Frankfurt/Main-New York 2016  ; Kohlen, Helen  : Sorge als Arbeit und Ethik der Sorge  – Zwei wissenschaftliche Diskurse, in  : Conradi/Vosman, Praxis der Achtsamkeit (2016), 116–127  ; Lutz, Helma  : Care migration. The connectivity between care chains, care circulation and transnational social inequality, in  : Current Sociology, Jg. 66 (2018) Heft 4, 577–589. 23 Vgl. Zettelbauer, Heidrun  : »Mit blutendem Herzen […] für Kaiser und Vaterland.« Weibliche Selbst/ Mobilisierung für Kriegsfürsorge im Kontext des Ersten Weltkriegs, in  : Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 47 (2017)  : GeschlechterGeschichten, hg. von Friedrich Bouvier, Wolfram Dornik, Otto Hochreiter, Nikolaus Reisinger, Karin M. Schmidlechner, 163–184, hier 164. 24 Als Überblick über den aktuellen Forschungsstand zur Geschlechtergeschichte des Ersten Weltkriegs im europäischen Vergleich vgl. Hämmerle, Christa/Sharp, Ingrid/Zettelbauer, Heidrun (Hg.)  : 1914/18 – revisited. L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft, Jg. 29 (2018) Heft 2  ; Hämmerle, Heimat/Front (2014), 9–26  ; Hämmerle, Christa/Überegger, Oswald/Bader-Zaar, Birgitta (Hg.)  : Gender and the First World War, Basingstoke et al. 2014  ; vgl. auch Hämmerle, Christa  : Von den

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im kriegsbedingten Geschlechterverhältnis in den Blickpunkt, welche im letzten Abschnitt des Beitrags diskutiert werden. Das vehemente Beschwören eindeutiger Geschlechternormen entpuppt sich bei näherem Besehen als Versuch der Stabilisierung der Kriegsgesellschaft, als Kehrseite der zentrifugalen Kräfte und destabilisierenden Prozesse, die der Krieg evozierte, als Reaktion auf das im und durch den Krieg herausgeforderte moderne, dichotome bürgerliche Geschlechtermodell. Denn tatsächlich kam die Kriegs- und Rüstungsindustrie25 ohne Arbeiterinnen nicht aus, Frauen aller Schichten sicherten durch außerhäusliche Erwerbstätigkeit das Überleben und die tagtägliche Versorgung der Familien an der sogenannten Heimatfront, welche unter den Kriegsbedingungen nur sehr erschwert gewährleistet werden konnte.26 Vielen war ein Aufrechterhalten der ihnen zugewiesenen Geschlechterrollen und -räume kaum möglich. Dabei war der Krieg keineswegs ein »Schrittmacher der Frauenemanzipation«, wie dies noch die ältere sozialhistorische Forschung unter Rekurs auf Modernisierungstheorien behauptet hatte.27 Vielmehr kann von einer Gleichzeitigkeit von Destabilisierung und Restabilisierung von Geschlechterverhältnissen ausgegangen werden, was Margaret R. Higonnet mit dem trefflichen Bild der »double helix« ausgedrückt und auf diese Weise die beständige Annäherung und das Auseinanderdriften männlich-weiblicher Lebenswelten im Krieg umschrieben hat.28 Der folgende Beitrag möchte vor diesem Hintergrund gerade die Prozesshaftigkeit der Ausverhandlung kultureller Geschlechterordnungen und das

Geschlechtern der Kriege und des Militärs. Forschungseinblicke und Bemerkungen zu einer neuen Debatte, in  : Kühne, Thomas/Ziemann, Benjamin (Hg.)  : Was ist Militärgeschichte  ? (Krieg in der Geschichte 6), Paderborn et al. 2000, 229–262. 25 Vgl. Daniel, Ute  : Der Krieg der Frauen 1914–1918. Zur Innensicht des Ersten Weltkriegs in Deutschland, in  : Hirschfeld, Gerhard/Krumeich, Gerd (Hg.)  : Keiner fühlt sich hier als Mensch. Erlebnis und Wirken des Ersten Weltkriegs (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte N.F. 1), Essen 1993, 131–149. Daniels Arbeiten zählten zu den ersten im deutschsprachigen Raum, die eine geschlechtergeschichtliche Perspektive auf den Ersten Weltkrieg einforderten, lange Zeit konzentrierten sich die einschlägigen Arbeiten dabei auf Prozesse der Umverteilung von Produktionsarbeit. Vgl. etwa in einer europäischen Perspektive  : Rouette, Susanne  : Frauenarbeit, Geschlechterverhältnisse und staatliche Politik, in  : Kruse, Wolfgang (Hg.)  : Eine Welt von Feinden. Der Große Krieg 1914–1918, Frankfurt/Main 1997, 92–126. 26 Vgl. z. B. Neue Kochvorschriften. Gesammelt im dritten Kriegsjahre vom Allgemeinen Deutschen Frauenverein Graz, Graz 1917  ; Rubner, Max  : Unsere Ernährung, in  : Bund deutscher Gelehrter und Künstler (Kulturbund) (Hg.)  : Deutsche Volkskraft nach zwei Kriegsjahren. Vier Vorträge, Leipzig-Berlin 1916. 27 Vgl. Zettelbauer, Heidrun  : Krieg und Geschlecht im deutschnationalen Diskurs im Ersten Weltkrieg, in  : Ernst, Petra/Haring, Sabine A./Suppanz, Werner (Hg.)  : Aggression und Katharsis. Der Erste Weltkrieg im Diskurs der Moderne (Studien zur Moderne 20), Wien 2004, 187–218. 28 Vgl. Christa Hämmerle im Gespräch mit Margaret R. Higonnet. »When is change not change  ?« Gender Relations and the First World War, in  : Hämmerle/Sharp/Zettelbauer, 1914/18  – revisited (2018), 117–126  ; Wiederabdruck in  : Bauer, Ingrid/Hämmerle, Christa/Opitz-Belakhal, Claudia (Hg.)  : Politik – Theorie – Erfahrung. 30 Jahre feministische Geschichtswissenschaft im Gespräch (L’Homme Schriften 26), Göttingen 2020, 193–204.

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Abstecken männlich-weiblicher Handlungsspielräume im Feld der Kriegsfürsorge als einer gendered conflict zone in den Blick nehmen.29

Kriegsfürsorge und Verwundetenpflege als Geschlechterdiskurs In Österreich-Ungarn gab es während des Krieges drei große Hilfeorganisationen, das »Kriegshilfsbüro« des k. k. Ministeriums des Innern, das »Kriegsfürsorgeamt« im k. u. k. Kriegsministerium sowie (für die freiwillige Verwundetenpflege maßgeblich) die »Österreichische Gesellschaft vom Roten Kreuz« mit ihren vielen Landesverbänden und lokalen Zweigvereinen.30 Eberhard Sauermann hat in seinem Überblick über die Thematik herausgearbeitet, dass sowohl die staatlichen Organisationen, wie auch die halbstaatlichen und privaten Vereine ihre Aktivitäten nicht nur im engeren Sinne auf die Unterstützung von (verwundeten) Soldaten und ihren Familien sowie die Angehörigen von Gefallenen richteten, sondern mit ihren Tätigkeiten nicht zuletzt auch für die Fortdauer des Kriegs sorgten, in hohen Maß alles Militärische verherrlichten und wohl auch eigene Eitelkeiten befriedigten.31 Die von den Institutionen der Kriegsfürsorge mitgeprägten Rhetoriken definierten jedenfalls nicht nur die erkrankten, verletzten und gefallenen Soldaten und ihre Angehörigen, sondern zugleich auch die eigenen sowie die verbündeten kriegführenden Staaten als Opfer des Krieges, denen ohne eigenes Zutun ein »Verteidigungskrieg« aufgezwungen worden sei.32 Vor diesem Hintergrund interessieren hier besonders die Tätigkeiten von Frauen im Rahmen der freiwilligen Kriegsfürsorge und Verwundetenpflege33, wobei davon ausgegangen wird, dass die Pflege der verletzten Soldaten eine Art »Überlappungszone« von Front und 29 Grundlage für den Beitrag sind in erster Linie die umfangreichen Akten des steirischen Statthaltereipräsidiums, die nicht nur Einsicht in die offizielle Landespolitik geben, sondern – durch die Doppelfunktion des Statthalters als Präsident des Landesverbandes vom Roten Kreuz – auch eine Rekonstruktion von Debatten im Rahmen des halbstaatlich agierenden Roten Kreuzes ermöglichen. Darüber hinaus wurden Quellen aus den steirischen bürgerlich-patriotischen Frauenvereinen sowie völkisch-nationalen Deutschtumsvereinen herangezogen und Debatten in der Grazer bzw. steirischen Presse berücksichtigt. 30 Sauermann, Eberhard  : Aspekte der österreichischen Kriegsfürsorge im Ersten Weltkrieg, in  : Österreich in Geschichte und Literatur mit Geographie (ÖGL), Jg. 45 (2001) Heft 2b–3, 98–121, hier 99. 31 Vgl. ebd., 98. 32 Zum zweideutigen Opferbegriff sowie zu den Debatten von »Kriegsopfern«, die sich als Schnittstelle vielschichtiger Interessen, Diskurse und Identitätskonstruktionen zeigen vgl. Kienitz, Sabine  : Beschädigte Helden. Kriegsinvalidität und Körperbilder 1914–1923 (Krieg in der Geschichte 41), Paderborn et al. 2008, hier 15 u. 22. 33 Zu Österreich-Ungarn aus organisationshistorischer Sicht vgl. Biwald, Brigitte  : Von Helden und Krüppeln. Das österreichisch-ungarische Militärsanitätswesen im Ersten Weltkrieg (Militärgeschichtliche Dissertationen österreichischer Universitäten 14), Wien 2002  ; zum Deutschen Kaiserreich vgl. Stölzle, Astrid  : Kriegskrankenpflege im Ersten Weltkrieg. Das Pflegepersonal der freiwilligen Krankenpflege in den Etappen des Deutschen Kaiserreichs, Stuttgart 2013.

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Heimat darstellte  : in der Pflege und Versorgung verletzter Soldaten wurde die Gewalt und Zerstörungswucht des modernen maschinellen Krieges unmittelbar erfahrbar, hier bildete sich der Krieg mit all seinen schockierenden Seiten ab, in den entstellten Gesichtern und verstümmelten, gelähmten und erblindeten Körpern der Soldaten und ihren verstörten Psychen. In den militärischen, halbstaatlichen und privaten Sanitätsanstalten und Genesungsheimen abseits der Front zeigten sich die Kriegsfolgen auch jenen, die qua Alter, Geschlecht oder Berufstätigkeit von direkten Kampfhandlungen ausgeschlossen waren. Wie die Wiener Historikerin Christa Hämmerle in ihren Arbeiten zu Selbstzeugnissen von Frontschwestern zeigen konnte, erlitten häufig nicht nur die verletzten Soldaten, sondern auch das sie pflegende Personal Traumatisierungen durch die (in/direkte) Konfrontation mit der Kriegsgewalt.34 Dies lässt sich nur selten direkt aus den Quellen ablesen, denn zum weitaus überwiegenden Teil blieben die Narrative der Frontschwestern in Briefen an ihre Familien, Tagebuchaufzeichnungen oder in nach dem Krieg verfassten Erinnerungen eng an den stereotypen und propagandistischen Kriegsdiskurs gebunden  – wobei Hämmerle dies überzeugend als Bewältigungsstrategie deutet.35 Die narrative Reproduktion hegemonialer Geschlechterdiskurse hatte zudem den Zweck, die potentielle Bedrohung diskursiv abzufedern, welche von den Seite an Seite mit den Soldaten im Feld stehenden Frontschwestern für die bürgerliche Geschlechterordnung ausging. Darauf hat die deutsche Historikerin Regina Schulte in ihren Arbeiten zu Kriegskrankenschwestern aufmerksam gemacht. Dies gelang, indem das hegemoniale bürgerliche Geschlechtermodell kurzerhand an die Front projiziert und dort gewissermaßen ein »Intimraum bürgerlicher Familien­ idylle« reinszeniert wurde  : »Schwestern-Mütter« pflegten an der Front – so der hegemoniale Diskurs  – verwundete und kranke »Soldaten-Söhne« und »reproduzierten« mit ihrer Tätigkeit erneut Soldaten für den Kriegseinsatz.36 Solche kulturellen Imaginationen waren jedoch nicht nur im Frontraum präsent, sondern – wie die folgenden Ausführungen zeigen – durchaus auch in den Geschlechterdebatten an der sogenannten Heimatfront. In den Diskursen37 um Kriegsfürsorge und Verwundetenpflege im Kronland Steiermark wird Geschlecht dabei auf verschiedenen Ebenen sichtbar  : in der diskursiven Aushandlung von männlichen und weiblichen »Kriegspflichten«, in der frauenspezifi34 Vgl. Higonnet, Nurses (2001), X  ; bzw. Hallett, Christine E.: Containing trauma. Nursing work in the First World War (Cultural History of Modern War), Manchester 2009  ; Hämmerle, Seelisch gebrochen (2014), 35–36. 35 Vgl. Hämmerle, Seelisch gebrochen (2014), 35–36  ; Panke-Kochinke/Schaidhammer-Placke, Frontschwestern (2002), 99–154, vgl. etwa als ein Beispiel die darin edierten Brieftagebücher von Grete Josephson, 110–115. 36 Schulte, Schwester (1998), 110–111. 37 Zum hier verwendeten Diskursbegriff vgl. Sarasin, Phillip  : Diskurstheorie und Geschichtswissenschaft, in  : Keller, Reiner et al. (Hg.)  : Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Bd.  1 Theorien und Methoden, Wiesbaden 2001, 53–79.

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schen Mobilisierung und generell der Militarisierung der Zivilgesellschaft schon vor Kriegsbeginn, im Rahmen der Entwicklung und Etablierung von einschlägigen Organisationsstrukturen und Projekten oder in der Schaffung von Institutionen, welche Protagonistinnen der katholisch-konservativen, patriotisch-nationalen oder völkischen Frauenvereine in diesem Feld realisierten. Das Hauptaugenmerk der folgenden Ausführungen liegt dabei vor allem auf den politischen Strategien deutschnational-völkischer Aktivistinnen in der Kriegsfürsorge und Verwundetenpflege an der sogenannten Heimatfront. Sie affirmierten den hegemonialen Geschlechterdiskurs einerseits, andererseits brachte sie ihr öffentlich-politisches Engagement entlang eines nationalpatriotischen Geschlechterideals aber auch in Konflikt mit militärischen Interessen. Zunächst gilt es jedoch, die Eckpunkte der hier diskutierten Geschlechterordnung zu skizzieren.

Kriegsbedingte Geschlechterordnungen und vergeschlechtlichte Arbeitsteilungen 1916 druckte die Monatszeitschrift des radikal deutschnational-völkischen »Verein Südmark« eine Artikelserie der steirischen Schriftstellerin Ida Maria Deschmann38 ab. Darin thematisierte die Autorin die Anforderungen, die der Krieg an ›deutsche Frauen‹ im Alltag stelle. Als deren vorrangige Aufgabe definierte sie die Pflege verwundeter Soldaten, das Hochhalten einer ›deutschen Alltagskultur‹ etwa im Bereich Wohnen, Konsum, Kunst oder Kindererziehung sowie die Sorge um die Gesundheit der Familien.39 Deschmanns Entwurf rekurrierte auf die seit den 1880er-Jahren umfassend ausgearbeitete deutschnational-völkische Geschlechterordnung, welche als zentrale Eckpunkte militärische Männlichkeit und weibliche Fürsorglichkeit konstruierte. In ihren Texten malte sie den drohenden nationalen Untergang und eine Kriegsniederlage an die Wand und nahm insbesondere Frauen in die Pflicht, sich wieder auf das ihrer Ansicht nach durch den Krieg in Unordnung geratene Geschlechterverhältnis zu besinnen.40 Das Hauptaugenmerk ›deutscher Frauen‹ müsse ihren Familien gelten, schließlich seien diese als Nukleus des Volkes anzusehen.41 Frauen müssten sich der 38 Vgl. Deschmann, Ida Maria  : Laßt die Sonne herein, in  : MdVS, Jg. 11 (1916) Heft 11/12, 126–128. Zur Biographie Ida Maria Deschmanns vgl. Zettelbauer, Heidrun  : Das nationale Erweckungserlebnis Ida Maria Deschmanns, geschildert im Jahre 1919. Oder  : Vom Ein/Schreiben lebensgeschichtlicher Ereignisse in einen nationalen Bezugsrahmen, in  : Franz, Margit et al. (Hg.)  : Mapping Contemporary History. Zeitgeschichten im Diskurs, Wien-Köln-Weimar 2008, 203–242  ; Gradwohl-Schlacher, Karin  : Ida Maria Deschmann, in  : Baur, Uwe/Gradwohl-Schlacher, Karin  : Literatur in Österreich 1938–1945. Handbuch eines literarischen Systems, Bd. 1  : Steiermark, Wien-Köln-Weimar 2008, 88–91. 39 Vgl. Deschmann, Laßt die Sonne herein (1916), 127. 40 Ebd., 126–127. 41 Ebd., 127. Vgl. dazu auch  : Deschmann, Ida Maria  : Die deutsche Frau, in  : MdVS, Jg. 14 (1919) Heft 2/3, 49–50.

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nationalen Konkurrenz bewusst sein und ihre Aufgabe als Grenzwächterinnen natio­ naler Kultur42 wahrnehmen. Verdichtet fasste Deschmann in ihren Texten jene Eigenschaften als »deutsche Frauentugenden«43 zusammen, die sich im deutschnational-völkische Milieu seit den 1880er-Jahren etabliert hatten und übersetzte den Diskurs in den aktuellen Kriegskontext. Sie untermauerte sowohl die bürgerliche Sphärentrennung als auch eine weibliche Zuständigkeit für das Private und postulierte eine männlichsoldatische Öffentlichkeit44 – ungeachtet der Tatsache, dass sich diese Konstruktion im Kriegsalltag als unhaltbar erwies. Deschmanns Entwurf einer national-patriotischen Geschlechterordnung ist nur eines von vielen Beispielen für ähnliche journalistische und literarische Beiträge, die zu Beginn und in den ersten Jahren des Krieges die öffentlich-medialen Debatten bestimmten. Im Kronland Steiermark wurde der Diskurs in erster Linie von den bereits vor dem Krieg stark nationalisierten und militarisierten Deutschtumsvereinen getragen. Sie propagierten – wie eingangs skizziert – ein hierarchisches Verhältnis von Männern und Frauen und nahmen zugleich eine vergeschlechtlichte Analogiesetzung vor  : männlich-soldatische Heldentaten und das Sterben der Soldaten auf dem Schlachtfeld wurden mit weiblicher Liebes- und Fürsorgetätigkeit an der Heimatfront gleichgesetzt.45 Über ihren »Liebesdienst« konnten Frauen und Mädchen an Ruhm und Ehre der kämpfenden Männer partizipieren, der soldatische Kampf diente wiederum der Verteidigung »wehrloser Frauen und Kinder« daheim. Auch die eingangs zitierten Vertreterinnen katholisch-konservativer und patriotisch-nationaler Frauenvereine schlugen mit ihrem Beschwerdebrief in dieselbe Kerbe. Ihre Gegenüberstellung männlicher und weiblicher Kriegstätigkeiten entlang der Termini »Kampf« und »Fürsorge« bündelte sich im Begriff der »Verletzung«  : Die blutenden Wunden der Männer am Schlachtfeld korrespondierten mit den blutenden Herzen der Frauen in der Heimat. Verletzungen der Soldaten an der Front als Teil der männlichen Pflichterfüllung entsprachen in ihren Deutungen der Sorge um die und der Pflege der verwundeten und erkrankten Krieger durch Frauen und Mädchen. Wie ausgeführt, mahnten die Schreiberinnen jedoch auch ihr Recht auf Ausübung der affirmierten frauenspezifischen Kriegstätigkeiten ein und stellten zugleich ein Bedrohungsszenario 42 Nira Yuval-Davis hat dieses Bild von Frauen als »national border guards« geschlechtertheoretisch analysiert. Yuval-Davis, Nira  : Gender & Nation, London et al. 1997. Wie sehr diese Thematik auch zeitgenössisch präsent war, zeigt beispielsweise  : Ulreich, Alois  : Die österreichische Frau und die Kriegsgefangenen, in  : Beck, Christian (Hg.)  : Die Frau und die Kriegsgefangenen, 1. Halbband  : Die fremdländischen Frauen und die deutschen Kriegsgefangenen, Nürnberg 1919, 5–15. 43 Vgl. Deschmann, Die deutsche Frau (1919), 49. Vgl. auch Deschmann, Ida Maria  : Wahrworte einer deutschen Frau, in  : MdVS, Jg. 13 (1918) Heft 1, 8. 44 Ebd., 8. 45 Vgl. Rosen-Fabricius, Kathinka von  : Frauenpflichten, in  : MdVS, Jg.  9 (1914) Heft 10/11/12, 292–293, hier 292  ; exempl. auch  : Adam-Kappert, Karl  : Die Greuel des Krieges, in  : MdVS, Jg. 9 (1914) Heft 8/9, 273–274.

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in den Raum  : Würde ihnen das genannte Recht vorenthalten, resultiere daraus ein prinzipieller Verstoß gegen die kriegsbedingte Geschlechterordnung, es drohe die Auflösung und Destabilisierung des mit hohem medialen Aufwand inszenierten, aber offenkundig äußerst fragilen, bürgerlich-nationalen »Burgfriedens der Geschlechter«46. Die offenkundige Empörung der zitierten Vereinsaktivistinnen erschließt sich nicht allein durch einen Blick auf das hegemoniale Geschlechterbild, vielmehr verweist der Brief auch auf konkrete Organisationsstrukturen der freiwilligen Kriegsfürsorge im Kronland Steiermark bereits vor dem Ersten Weltkrieg. Schon Jahre vor dem Krieg war die Rekrutierung freiwilliger Pflegerinnen für den Kriegsfall offensiv von den politischen Behörden propagiert und vom Landesverband des »Roten Kreuz« vehement unterstützt worden. Spätestens seit Kriegsbeginn stellte die Affirmation »patriotischer Frauenpflichten« zudem eine Erweiterung öffentlich-politischer Handlungsspielräume für engagierte Akteurinnen in Aussicht. Die genannten patriotisch-nationalen Protagonistinnen der freiwilligen Kriegsfürsorge rekurrierten zweifellos auf diese Bestrebungen.

Der Aufbau der freiwilligen Verwundetenpflege im Gefolge der Balkankriege Rund zwei Jahre vor Kriegsbeginn setzten im Kronland Steiermark intensive Bemühungen um die Etablierung (mobiler) Pflegedienste ein, insbesondere auch verbunden mit dem Ziel, im Kriegsfall über eine ausreichende Anzahl von Berufs- und freiwilligen Hilfs-Pflegerinnen verfügen zu können. Unter dem Eindruck der im Herbst 1912 begonnenen Kriegshandlungen des Ersten Balkankrieges47 instruierte Manfred Graf Clary und Aldringen in seiner Funktion als k. k. Statthalter die politischen Unterbehörden in der Steiermark am 4. Dezember 191248, den Rettungsdienst im Rahmen des »Landes- und Frauen-Hilfsvereins vom Roten Kreuz für Steiermark«49 ganz allgemein zu fördern sowie Ausbildungen für Pflegerinnen in Friedenszeiten, aber auch »für den [kriegerischen, Anm. d. Verf.] Ernstfall« zu initiieren bzw. auszubauen.50 Ziel des 46 Vgl. Zettelbauer, Heidrun  : Krieg und Geschlecht im deutschnationalen Diskurs im Ersten Weltkrieg, in  : Ernst, Petra/Haring, Sabine A./Suppanz, Werner (Hg.)  : Aggression und Katharsis. Der Erste Weltkrieg im Diskurs der Moderne (Studien zur Moderne), Wien 2004, 187–218, hier 196. 47 Der Erste Weltkrieg war – nach Ansicht Christopher Clarks – »genau genommen der dritte Balkankrieg, bevor er zum Weltkrieg wurde.« Dies zeigen besonders die im Folgenden behandelten Konzepte in der Verwundetenpflege. Vgl. Clark, Christopher  : Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2014, 318–407, 318. 48 StLA, Statth. Präs. M297c-2084/1912, Karton 1220, Zl. 2084/1, Erlass des k. u. k. Statthalters vom 4.12.1912. 49 Zur Geschichte des »Roten Kreuz« in der Steiermark vgl. Pieslinger, Herwig  : Das Rote Kreuz in der Steiermark, Phil. Diss. Graz 1995. Pieslinger geht leider nur sehr marginal auf die Zeit des Ersten Weltkriegs ein, vgl. 40–43. 50 StLA, Präs. Statth. M297c-2084/1912, Karton 1220, Z. 48/4, Statth. Präs.-Erlass vom 8.1.1913  ; Brief der BH Leoben an die Statthalterei, 5.4.1913, o. S. Vergleichbare Ausbildungen wurden bereits seit 1908 im

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Erlasses war es Ausbildungskurse in Gang zu setzen, um dem »Roten Kreuz« hauptberufliche Pflegerinnen zuzuführen, die von den örtlichen Zweigvereinen oder den Landesverbänden angestellt und besoldet werden sollten, darüber hinaus aber auch freiwillig und unentgeltlich tätige Hilfspflegerinnen zu schulen. Als Vorbild für Ausbildungs- und Organisationsstrukturen sollte in der Steiermark dabei der Zweigverein in Leibnitz fungieren  : dort hatte der ansässige k. k. Bezirksarzt Dr. Friedrich Ambrožič bereits im Dezember 1909 zentrale Richtlinien formuliert.51 Die vom »Roten Kreuz« geschulten Pflegerinnen verpflichteten sich hier seit 1909 dazu, sich »[i]m Kriegsfalle […] gegen Entgelt und Verpflegung am Kriegsschauplatze verwenden zu lassen«52. Ambrožič‹ Richtlinie regelte zudem die Besoldung, Ausrüstung und Bekleidung, tägliche Essensrationen sowie Ruhe- und Arbeitszeiten der vermittelten Pflegerinnen. Der Statthalter selbst agierte bei der Rekrutierung weiblicher Pflegerinnen zugleich als Präsident des steirischen Landesverbandes vom »Roten Kreuz«.53 In dieser Funktion verlautbarte er am 18. Dezember 1912, dass das »Rote Kreuz« in der Steiermark »schon in Friedenszeiten so auszugestalten« sei, »daß es in erster Zeit eine wirksame Ergänzung der militärischen Sanitätspflege zu bilden« vermöge und demnach die Bildung freiwilliger Sanitätsabteilungen anzustreben sei, die »im Ernstfalle den Truppen zu folgen und die mobilen Feldsanitätsanstalten (Feldspitäler) der Armee durch rascheste Übernahme der Verwundeten und Pflege derselben frei zu machen« hätten, sodass die »Feldsanitätsanstalten sofort wieder ihrer eigentlichen Bestimmung, der vorrückenden Armee zu folgen«, nachkommen könnten. Um solche Sanitätsabteilungen aufstellen zu können, sei »die Ausbildung unserer opferwilligen und arbeitsfreudigen Frauen und Mädchen zu praktischen Hilfspflegerinnen unbedingt erforderlich, damit diese, wenn der Ruf an sie ergeht, zur Pflege Verwundeter und Kranker herangezogen werden können«.54 Rahmen fünfwöchiger Kurse von der Katholischen Frauenorganisation (Bürgergasse 1, Graz) sowie von Seiten der Stadt Graz seit 1910 im Rahmen einjähriger Pflegerinnenkurse im städtischen Krankenhaus respektive nach dessen Auflösung im alten Landeskrankenhaus (LKH) durchgeführt. Das Rote Kreuz förderte diese Kurse mit Stipendien und Subventionen. Dazu kam eine Ausbildungsmöglichkeit in der städtischen Pflegerinnenschule in Graz, die jedoch aufgrund finanzieller Engpässe beständig um ihr Bestehen ringen musste. Vgl. StLA, Präs. Statth. M297c-2084/1912, Karton 1220, 1–5. Vgl. dazu auch  : Hammer-Luza, Elke  : »An den Schmerzenslagern unserer verwundeten Krieger.« Die Krankenschwester im Ersten Weltkrieg – Ideal und Realität, in  : Riegler, Josef (Hg.)  : »Ihr lebt in einer großen Zeit, …« Propaganda und Wirklichkeit im Ersten Weltkrieg, Graz 2014, 171–186, besonders 174. 51 Vgl. Ambrožič, Friedrich  : Wege und Ziele der Krankenfürsorge auf dem Lande, in  : Das Österreichische Sanitätswesen, Jg.  3 (1910). Separatabdruck, in  : StLA, Präs. Statth. M297c-793/1911, Karton 1220, 4, 15–17v. 52 StLA, Präs. Statth. M297c-793/1911, Karton 1220, 4–6. 53 Vgl. Pieslinger, Rotes Kreuz (1995), 7. 54 StLA, Präs. Statth. M297c-2084/1912, Karton 1220, Verlautbarung des Präsidiums des Landes- und Frauenhilfsvereines vom Roten Kreuz für Steiermark Nr.  1390/St.V. vom 18.12.1912 an die Präsidien der Zweigvereine, o. S.

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Die einzurichtenden freiwilligen Sanitätsabteilungen wurden für die Übernahme von je 200 bis 300 Kranken bzw. Verwundeten dimensioniert. Sie bestanden aus zwei Ärzt:innen – im besten Fall Chirurg:innen, die nicht mehr landsturmpflichtig waren, keine Kriegsdienstbestimmung mehr hatten und im Mobilisierungsfall nicht für Sanitätsanstalten im Hinterland vorgesehen waren. Daneben umfasste jede freiwillige Sanitätsabteilung jeweils 30 Personen für den Pflegedienst, die sich mindestens zu 20 % aus Berufspfleger:innen, zu 80 % aus ausgebildeten Hilfspfleger:innen zusammensetzten. Auch diese Pfleger:innen sollten nur dann zum Einsatz kommen, wenn in den Sanitätsanstalten des Hinterlandes ein ausreichendes Kontingent an Ersatzkräften verfügbar war. Die Berufspfleger:innen wurden getrennt nach geistlichem und weltlichem Stand eingeteilt, die freiwilligen Hilfspfleger:innen bildeten drei Kategorien  : erstens Personen, die nach einer vierwöchigen Ausbildung als Hilfspfleger:innen für den Einsatz im Feld geeignet befunden wurden, zweitens solche, die aufgrund ihrer häuslichen Verhältnisse nicht zum Felddienst, wohl aber für den »Hilfspflegedienst im Hinterlande« vorgemerkt wurden und drittens jene »Gruppe von patriotischen und opferwilligen Frauen, die sich dem Pflegedienst überhaupt nicht widmen können und die als unterstützende Mitglieder zur Förderung der Krankenpflege« beitragen sollten. Zu den Pfleger:innen kamen pro Sanitätsabteilung noch je zwei Köchinnen, welche die Sanitätsabteilung versorgten.55 Allen Mitgliedern der freiwilligen Sanitätskolonnen wurde von Seiten des »Roten Kreuz« zugesichert, die Reiseauslagen und Kosten für Verpflegung und Unterkunft (gegebenenfalls unter Rückforderung von der Heeresverwaltung) rückzuvergüten. Den Ärzt:innen wurde ein Tageshonorar von 40 Kronen, den Berufspfleger:innen ein Monatshonorar von 40–50 Kronen in Aussicht gestellt.56 Erstaunlich an dieser Mobilisierung seit Herbst 1912 scheint die Selbstverständlichkeit, mit der diese Form der Mobilmachung für Verwundetenpflege im Kriegsfall explizit die weibliche Bevölkerung adressierte. Denn auch wenn tunlichst vermieden wurde, das explizit auszusprechen, so waren die freiwilligen Sanitätskolonnen, die seit Dezember 1912 in der Steiermark vom »Roten Kreuz« zusammengestellt wurden, definitiv weiblich geprägt. Nicht nur das Pflege- und Versorgungspersonal war überwiegend weiblich, tatsächlich waren auch  – wie sich nach Kriegsbeginn zeigte  – unter dem im Kriegsfall verfügbarem ärztlichen Personal viele Frauen. Wenngleich in den Verlautbarungen und Erlässen nur von »Ärzten« die Rede war, so waren in der Habsburgermonarchie im Vergleich zum Deutschen Reich eine ungleich höhere Anzahl an Medizinerinnen und Ärztinnen im Einsatz – sowohl in Krankenhäusern, Spitälern und 55 Vgl. StLA, Präs. Statth. M297c-2084/1912, Karton 1220, Verlautbarung des Präsidiums vom 18.12.1912, o. S. 56 StLA, Präs. Statth. M297c-2084/1912, Karton 1220, Brief des Vizepräsidenten und des Referenten für Spitalsangelegenheiten des Landes- und Frauen-Hilfsvereins vom Roten Kreuze für Steiermark an die k. k. Statthalterei in Graz vom 11.2.1913, o. S.

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Sanitätsanstalten im Hinterland wie auch an der Front, wie Angelika Stadler in ihrer Dissertation nachgewiesen hat.57 Die Reaktionen auf den zitierten Erlass des Statthalters waren zunächst überwiegend reserviert und zeugen zumindest bis Mitte 1914 einerseits von einem dezidierten Desinteresse der angesprochenen Frauen und Mädchen, andererseits auch von wenig Verständnis der lokalen Behörden für diese Mobilisierung der weiblichen Zivilbevölkerung. In einer der wenigen vorliegenden positiven Stellungnahmen berichtete nur der Bezirkshauptmann aus Gonobitz/Slovenske Konjice Mitte Dezember 1912, dass bereits 39 Frauen und Mädchen aus dem Markt bzw. dem Umland dem Statthalterei-Erlass entsprechend theoretisch und praktisch im Pflegedienst unterwiesen worden seien. Von den aktuell verfügbaren 40 freiwilligen Pflegerinnen hätten sich 15 auch schon für einen Dienst außerhalb des Bezirkes bereit erklärt.58 In den meisten anderen steirischen Bezirken verliefen die Anstrengungen des Statthalters im Sand. Einige wenige Hilfspfleger:innen wurden in Deutschlandsberg, Judenburg und Feldbach ausgebildet, in Weiz gab es zwar geeignete Kandidat:innen, jedoch keine Kurse.59 In vielen Bezirken der Steiermark reagierte man zudem deutlich zögerlich und bisweilen ablehnend auf die geplante Rekrutierung von freiwilligen Pflegerinnen, so etwa in Mürzzuschlag60 oder auch im Bezirk Graz-Umgebung61. In manchen steirischen Bezirken wurde überhaupt erst damit begonnen Zweigvereine des »Roten Kreuz« einzurichten, hier war eine gezielte Ausbildung von Pfleger:innen oder die Nennung von verfügbaren Ärzt:innen für Sanitätskolonnen im Kriegsfall außerhalb jeglicher Realisierbarkeit.62

57 Für das Kronland Steiermark lassen sich rund 25 promovierte Ärztinnen bzw. (in Ausbildung stehende) Medizinerinnen für den Zeitraum von 1914 bis 1918 fassen, welche in Militärlazaretten oder Sanitätskolonnen tätig waren. Vgl. Stadler, Ärztinnen im Weltkrieg (2003), Register, I-LXXV. 58 StLA, Präs. Statth. M297c-2084/1912, Karton 1220, Bericht des k. k. Bezirkshauptmanns von Gonobitz/ Slovenske Konjice an das Präsidium der Statthalterei in Graz vom 12.12.1912, o. S. 59 Vgl. StLA, Präs. Statth. M297c-2084/1912, Karton 1220, Brief der Bezirkshauptmannschaft (BH) Deutschlandsberg an das Präsidium der Statthalterei, 13.3.1913  ; sowie weiters Brief der BH Judenburg an das Präsidium der Statthalterei, 27.3.1913. Ebd.; Brief der BH Feldbach an die Statthalterei, 28.3.1913. Ebd.; Brief der BH Weiz an die Statthalterei, 7.4.1913. Ebd., o. S. 60 Vgl. StLA, Präs. Statth. M297c-793/1911, Karton 1220, Brief des k. k. Bezirkshauptmanns von Mürzzuschlag an die Statthalterei, 20.12.1912, 18–19. 61 Vgl. StLA, Präs. Statth. M297c-793/1911, Karton 1220, Brief der BH Graz an die Statthalterei, vom 29.1.1913, 47. 62 Das zeigen verschiedenste Rückmeldungen, vgl. StLA, Präs. Statth. M297c-2084/1912, Karton 1220, Brief der k. k. politischen Expositur in Bad Aussee an das Präsidium der Statthalterei, 5.3.1913, o. S.; Ebd., Brief der k. k. politischen Expositur Prassberg an das Präsidium der Statthalterei, 10.3.191, o. S.; Ebd., Brief der BH Radkersburg an das Präsidium der Statthalterei, 10.3.1913, o. S.; Ebd., Brief der BH Murau an die Statthalterei, 17.3.1913, o. S.; Ebd., Brief des Zweigvereines vom Roten Kreuz Murau an das Präsidium des Landes- und Frauenhilfsvereins vom Roten Kreuz für Steiermark vom 18.1.1913, o. S.; Ebd., Brief der BH Bruck an der Mur, 14.3.1913, o. S.; Ebd., Brief der BH Luttenberg an die Statthalterei, 28.3.1913, o. S.

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Im Rahmen der Etablierung eines Systems der freiwilligen Verwundetenpflege im Kriegsfall werden von Beginn an Differenzen entlang von Klasse/Schicht, Alter oder körperlichen Dispositionen sichtbar. So berichtete etwa die Bezirkshauptmannschaft Hartberg, dass die 15 Frauen und Mädchen, die sich nach der Kundmachung des Statthalterei-Erlasses für den Pflegerinnenkurs gemeldet hatten, »wegen ihres Alters, ihrer Körperkonstruktion und ihrer gesellschaftlichen Stellung von vornherein zu dem gedachten Zwecke als ungeeignet«63 abgewiesen worden waren. Manche Frauen wurden aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters von den Behörden als nicht »kriegsdienstfähig« angesehen. Zudem erfolgte auch eine offene Diskriminierung von nichtvermögenden, nicht-bürgerlichen sozialen Gruppen, was wiederum Rückschlüsse auf das schichtspezifische Profil zulässt, welches der »Landes- und Frauen-Hilfsvereines vom Roten Kreuz« für den Pflegeberuf im Auge hatte. Pflegerinnen sollten in erster Linie aus bürgerlichen und/oder freiberuflichen Kreisen sowie dem (verarmten) Adel kommen. Gegen Pflegerinnen aus der Arbeiter:innenschaft bestanden dezidiert grobe Vorurteile, ihnen wurde häufig eine ›moralische Minderwertigkeit‹64 attestiert. Aber auch umgekehrt zeigte sich auf Seiten der Arbeiterinnen ein hohes Desinteresse am Pflegeberuf. Dies wird besonders deutlich in Rückmeldungen aus den obersteirischen Industriegebieten der Mur-Mürz-Furche. So berichtete der Bezirkshauptmann von Judenburg, dass die Aktionen zur Förderung des »Roten Kreuz« in Knittelfeld bislang zu keinem befriedigenden Ergebnis geführt hätten und dem Verein kaum Interesse entgegengebracht werde. Insbesondere in Knittelfeld selbst ist der Boden für die eingeleitete Aktion äußerst ungünstig, was wohl in den exzeptionellen Verhältnissen dieses Industrieortes begründet ist. Nahezu 80 Perzent [sic] der Bevölkerung gehören der Arbeiterklasse an, die Beamtenschaft verfügt nur zum geringen Teile über die ausreichenden Mittel und die Bürgerschaft ist einesteils stark verschuldet und andererseits wenig geneigt, den Anregungen zu folgen, welche von autoritativer Seite ausgehen.65

Mit den prekären finanziellen und »rückständigen« Verhältnissen, die der Rekrutierung von freiwilligen Pflegerinnen entgegenstünden, argumentierte wiederum der Bezirkshauptmann von Windischgraz/Slovenj Gradec.66 Dabei konnte auch die vom »Landes- und Frauen-Hilfsverein vom Roten Kreuz« in Aussicht gestellte Möglichkeit, 63 Vgl. StLA, Präs. Statth. M297c-2084/1912, Karton 1220, Brief der BH Hartberg an das Präsidium der Statth. 10.3.1013, o. S. 64 StLA, Präs. Statth. M297c-2084/1912, Karton 1220, Brief der Bezirkshauptmannschaft Radkersburg an das Präsidium der Statthalterei, 10.3.1913, o. S. 65 Vgl. StLA, Präs. Statth. M297c-2084/1912, Karton 1220, Brief des k. k. Bezirkshauptmannes Judenburg für die politische Expositur Knittelfeld an das Präsidium der Statth. 10.3.1913, o. S. 66 Vgl. StLA, Präs. Statth. M297c-2084/1912, Karton 1220, Brief des k. k. Bezirkshauptmanns Windischgraz/Slovenj Gradec an das Präsidium der Statth. 16.3.1913, o. S.

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wonach die für den Kriegsfall ausgebildeten Pflegerinnen in Friedenszeiten Arbeit in bürgerlich-mittelständischen und adeligen Haushalten finden würden, das weibliche Interesse an einer Pflegeausbildung nicht befördern. Besonders in ländlichen Regionen gab es dafür schlicht keine Nachfrage. Der Bezirkshauptmann von Bruck an der Mur formulierte in seiner Reaktion auf den Statthalterei-Erlass somit einen wohl weit verbreiteten Standpunkt in dieser Sache  : »Die Nachfrage nach Hauspflegerinnen ist am flachen Lande bzw. auch in den kleinen Städten & Märkten eine derart verschwindende, dass von einem Friedensbedarfe überhaupt gar nicht gesprochen werden kann«.67 Ursache dafür seien die enorm hohen, für die bäuerliche und mitunter sogar die bürgerliche Bevölkerung untragbaren Kosten für eine Pflegerin sowie die geringe Attraktivität der Krankenpflege als Beruf, die zudem keine sichere Lebensgrundlage bieten konnte.68 Erst ein halbes Jahr nach den genannten Erlässen zur Förderung der freiwilligen Verwundetenpflege, ließen sich offenbar erste zögerliche Erfolge69 verzeichnen, aber auch diese waren nicht von Dauer.70 Mitte 1913 versuchte sich die Statthalterei einen Überblick über den aktuellen Stand der Bemühungen zu verschaffen und verzeichnete rund 125 bereits zu (Hilfs-)Pflegerinnen geschulte bzw. gerade in Ausbildung stehende Frauen und Mädchen.71 Insgesamt waren die Erfolge von politischer Seite wie von Seiten des »Roten Kreuz« äußerst bescheiden  : viele Bezirke vermeldeten nur vage Beschlussfassungen zur Umsetzung der Statthalterei-Erlässe und trotz intensiver Bemühungen der politischen Behörden gab es offenkundig kaum Interesse von Seiten geeigneter Kandidatinnen. In seinem Bericht über das Vereinsjahr 1913 konnte der Statthalter abschließend kaum Positives hinsichtlich seiner Anstrengungen festhalten  : »Bei der Gesamtbeurteilung fällt […] auf, daß am Lande die Bestrebungen auf Ausbildung des Krankenpflegerinnenwesens bisher nur langsam fortschreiten.«72 Deutlich erfolgreicher als in ihren Bemühungen um die Pfleger:innenausbildung waren Statthalterei und Präsidium vom »Roten Kreuz« in der Aktivierung potentiel-

67 Vgl. StLA, Präs. Statth. M297c-2084/1912, Karton 1220, Brief des BH Bruck a.d. Mur an das Präsidium der k. k. Statthalterei, 14.3.1913, o. S. 68 Ganz ähnlich argumentiert auch der Bezirkshauptmann von Gröbming am 6.4.1913, in  : ebda. 69 Vgl. diesbezüglich auch die Korrespondenz zwischen dem Statthalterei-Präsidium und dem Präsidium des Landes- und Frauen-Hilfsvereins vom Roten Kreuz in der Steiermark. Vgl. StLA, Präs. Statth. M297c-2084/1912, Karton 1220, Brief vom 23.4.1913, o. S. 70 Vgl. StLA, Präs. Statth. M297c-2084/1912, Karton 1220, Brief der BH Leoben an die Statthalterei, 5.4.1913, o. S.; Ebd., Brief der BH Cilli an die Statthalterei, 15.5.1913, o. S. 71 StLA, Präs. Statth. M297c-2084/1912, Karton 1220, Bericht der politischen Unterbehörden auf die Erlässe von 4.12.1912 Z. 2084/1 pr. betreffend der Förderung des Landes- und Frauen-Hilfsvereines vom Roten Kreuze und vom 8.1.1913 Zl. 48/4 präs. betreffend die Bildung von freiwilligen Sanitätsabteilungen, o. S. 72 StLA, Präs. Statth. M297c-2084/1912, Karton 1220, Protokoll der 45. Generalversammlung des Landesund Frauen-Hilfsvereins vom Roten Kreuz für Steiermark, vom 4.4.1914, Bericht über das Vereinsjahr 1913, 10.

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ler Sanitätsanstalten für den Kriegsfall73  : »Im Mobilisierungsfalle« stand laut Arbeitsbericht über das Vereinsjahr 1913 zwei Reservespitäler, vier Rekonvaleszentenhäuser, acht Krankenhaltstationen und eine freiwillige Sanitätsabteilung Graz bereit sowie zugesicherte Bettenbelegungen für verwundete Offiziere und Mannschaften in zwölf Zivilheilanstalten zur Verfügung. 1913 konnte von der privaten Kuranstalt Dr. Großmann in Graz-Eggenberg zudem eine Zusicherung der Übernahme von 120 Kranken und Verwundeten gewonnen werden. Insgesamt gelang es, dass für den Kriegsfall 3.529 Pflegeplätze für verwundete Offiziere und Mannschaftssoldaten in diversen Privatpflegestätten zu sichern.74 Mit der Kriegserklärung an Serbien begannen in der Steiermark nicht nur die allgemeine Mobilmachung von Soldaten, sondern auch erneut offensive Anstrengungen hinsichtlich der Ausbildung und Rekrutierung der weiblichen Bevölkerung mit dem Ziel einer Erhöhung verfügbarer Pflegekräfte. Bereits am 31. Juli 1914 erließ k. k. Innenminister Karl Freiherr Heinold von Udyński im Einvernehmen mit der Bundesleitung des »Roten Kreuz« einen Erlass zur Einrichtung von mehrwöchigen theoretischpraktischen Kursen für freiwillige Hilfskrankenpflegerinnen, mit dem Ziel möglichst viele Frauen zu gewinnen, die sich für den Fronteinsatz meldeten oder rekrutierte Berufspfleger:innen im Hinterland ersetzen sollten. Aufnahmevoraussetzung für die Kurse war das vollendete 18. Lebensjahr, ein »unbescholtener Lebenswandel«, die »volle physische und intellektuelle Eignung für den Krankenpflegeberuf« sowie der Nachweis, dass keinerlei Verpflichtung für die Versorgung unmündiger Kinder oder Führung eines eigenen Haushaltes vorliege. Die Kandidat:innen erhielten eine mindestens einwöchige theoretische Ausbildung (in Anatomie, Physiologie, Pathologie unter besonderer Berücksichtigung von Infektionskrankheiten und Krankenpflegetechnik) und wurden anschließend in praktischen Pflegetätigkeiten an internen und chirurgischen Abteilungen lokaler Krankenhäuser geschult. Um in kurzer Zeit eine möglichst große Anzahl solcher Hilfskräfte durch die Ausbildung schleusen zu können, sollten die Schülerinnen nur halbtags praktisch unterwiesen werden.75

73 Zu den Sanitätsanstalten in der Steiermark vgl. auch  : Die Kriegsbeschädigtenfürsorge in Steiermark. Tätigkeitsbericht der Steiermärkischen Kommission zur Fürsorge für heimkehrende Krieger über die Jahre 1915, 1916 und 1917, Graz 1918. Ich danke Gerald Lamprecht für den Hinweis auf diese Publikation. Generell zur Heroisierung bzw. Entheroisierung von dauerhaft Kriegsgeschädigten vgl. Kienitz  : Beschädigte Helden (2008), 22. 74 StLA, Präs. Statth. M297c-2084/1912, Karton 1220, Bericht über das Vereinsjahr 1913, Beilage A., o. S. Vgl. auch Ebd., Rechenschaftsbericht des Landes- und Frauenhilfsvereins vom Roten Kreuze für Steiermark für das 45. Vereinsjahr 1913. 3. 75 Vgl. StLA, Statth. Präs. M297c-1741/1914, Erlass des Ministers des Inneren vom 31.7.1914, l 9076/M.I. bezüglich Hilfskrankenpflegekurse  ; Ebd., Brief des Innenministers an die Statthalterei Graz, vom 31.7.1914, 1–4.

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Wie aus den Berichten von Statthalter Clary-Aldringen über die Umsetzung der ministeriellen Erlässe hervorgeht, scheint seit Juli 1914 keine besondere Werbetätigkeit von Seiten der politischen Behörden oder des »Roten Kreuz« mehr notwendig gewesen zu sein. Bis Ende August wurde aus fast allen steirischen Bezirken und Regionen vermeldet, dass bereits Hilfspflegerinnen-Kurse durchgeführt wurden  : in Cilli/Celje, Feldbach, Fürstenfeld, Hartberg, Judenburg, Knittelfeld, Leoben, Liezen, Marburg/Maribor, Pettau/Ptuj, Radkersburg, Rann/Brežice, Rottenmann, Voitsberg sowie Windischgraz/ Slovenj Gradec. Auch in der Landeshauptstadt Graz wurden Kurse angeboten, organisiert von der »Katholischen Frauenorganisation«, dem »Roten Kreuz«, von völkischen Vereinen respektive direkt von den Krankenhäusern, etwa dem Landeskrankenhaus St. Leonhard, dem Alten Krankenhaus in der Paulustorgasse, dem Spital der Barmherzigen Brüder sowie dem Hygieneinstitut der Universität Graz. Insgesamt – so berichteten die steirischen Bezirksbehörden an die Statthalterei  – würden rund 1.150 Frequentant:innen an diesen Angeboten partizipieren.76 Die Zahl der ausbildungswilligen Personen – überwiegend Frauen – hatte sich damit im Vergleich zu Mitte 1913 nahezu verzehnfacht. Die einschlägigen Kurse sprossen allerorts nur so aus dem Boden. Entsprechend der medial präsenten Kriegsbegeisterung kündigten zudem zahlreiche steirische Tageszeitungen die Abhaltung diverser Ausbildungen in Verwundetenpflege an. Ausbildungsangebote nahmen in kurzer Zeit so überhand, dass sich der Statthalter gezwungen sah, in den großen steirischen und Grazer Tageszeitungen zu verlautbaren, dass nur solche Hilfspflegerinnen für den Einsatz in Verwendung kämen, die einen Kurs im Sinne des Lehrplanes laut Ministerialerlass vom 31.  Juli 1914 absolviert hätten.77 Bereits am 12.  August meldete die Direktion des Landeskrankenhaus Graz, dass die Institution mit einer »derartige[n] Ueberschwemmung« mit Pflegeschülerinnen zu kämpfen hätte, dass eine »gedeihliche Arbeit« unmöglich geworden sei und die Befürchtung bestehe, das Krankenhaus könne seinem »eigentlichen Zweck« nicht mehr nachkommen. Eine Beaufsichtigung der vielen Kursteilnehmerinnen sei inzwischen vollkommen unrealistisch, ebenso wie eine wirkliche Ausbildung von Hilfspflegerinnen, welche »bei der grossen Anzahl unmöglich und zur Selbsttäuschung« werde.78 In der Folge wurden nur mehr solche Kurse zugelassen, welche die Statthalterei zuvor genehmigt hatte.79 Auch von Seiten des Innenministeriums gab es Befürchtungen, die Qualität der Ausbildung könne ob der starken Nachfrage Schaden erleiden  :

76 StLA, Statth. Präs. M297c-1741/1914, 12v-28, 32–51. 77 StLA, Statth. Präs. M297c-1741/1914, 30v-31v. 78 StLA, Statth. Präs. M297c-1741/1914, Brief der Direktion des LKH Graz an die Statthalterei vom 12.8.1914, 37r, 37v. Auch das AKH Leoben verwies darauf, dass es nicht in der Lage sei den Zustrom aus ausbildungswilligen Hilfspflegerinnen zu bewältigen, ebda., 76. 79 StLA, Statth. Präs. M297c-1741/1914, Brief der Statthalterei an die Katholische Frauenorganisation Steiermarks vom 13.8.1914, 38v-40.

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Unter allen Umständen ist bei der Organisation von Hilfskrankenpflegekursen nachdrücklichst zu verlangen, daß nur Bewerberinnen zugelassen werden, die physisch, intellektuell sowie in sonstiger Hinsicht geeignet sind, die verantwortungsvollen und ernsten Pflichten des Hilfsdienstes bei der Pflege von Kranken und Verwundeten zu erfüllen, und daß das Hilfskrankenpflegewesen nicht durch Verwendung ungenügend geübter freiwilliger Hilfskräfte – wie im Balkankriege – diskreditiert werde.80

Die rege Nachfrage von Ausbildungswilligen wie auch die Organisationsfreudigkeit von Seiten der bürgerlich-konservativen steirischen Frauenorganisationen sowie nationalpatriotischer Vereine hielt ungebrochen den ganzen Herbst 1914 über an. Mitte Oktober übermittelte der Statthalter an den Innenminister eine tabellarische Aufstellung, aus welcher eine Anzahl von ca. 1.070 weiblichen Hilfspflegerinnen und 74 männlichen Hilfspflegern hervorgeht, welche in 18 steirischen Krankenanstalten eine Ausbildung erhalten und sich im Anschluss daran für den Pflegedienst bei Formationen des »Roten Kreuz«, »für den auswärtigen Dienst« in einem Militärspital oder für Sanitätsanstalten im Hinterland freiwillig gemeldet hatten.81 Auch die Berichte der Bezirksbehörden sowie der Statthalterei selbst dokumentieren ohne Zweifel, dass im Hinblick auf die weibliche Mobilisierung für die freiwillige Verwundetenpflege in Folge der allgemeinen Mobilmachung in der Steiermark im Vergleich zur Vorkriegszeit eindeutig ein Umbruch erfolgt war. Waren viele angebotene Kurse Anfang 1914 noch schlicht am Desinteresse der Adressat:innen gescheitert, so konnten die Krankenhäuser und Frauenorganisationen den Zustrom ausbildungswilliger Frauen nun offensichtlich kaum mehr bewältigen. Doch bedeutet dieser rege Zulauf automatisch, dass die allerorts sichtbare Kriegsbegeisterung auch flächendeckend zu einer Mobilisierung der weiblichen Bevölkerung für Kriegszwecke geführt hatte  ? Wohl eher nicht, denn auch wenn der Zulauf von patriotisch-nationalen Frauen offenbar regional mitunter enorm war – etwa in den größeren Städten wie Graz, Leoben oder Pettau/Ptuj – so gab es im August und September 1914 noch immer viele steirische Regionen, in denen nach wie vor sehr reserviert auf die Rekrutierung freiwilliger Pflegekräfte reagiert wurde. In Mürzzuschlag etwa gab es kaum Nachfrage nach Kursangeboten und die lokalen Ärzte kamen den Aufforderungen der politischen Behörden, Kurse anzubieten, nur sehr zögerlich oder überhaupt 80 StLA, Statth. Präs. M297c-1741/1914, Brief des Innenministers an die k. k. Statthalterei in Graz, 28.8.1914, 55–56. 81 Vgl. StLA, Statth. Präs. M297c-1741/1914, Brief des Statthalters der Steiermark an den Innenminister, vom 15.10.1914, inklusive tabellarischer Aufstellung über die Umsetzung der Min.Erlässe, 105–113. Die hier angeführten Zahlen können nur als Richtwerte gesehen werden, sie variieren auch in den jeweiligen Rückmeldungen aus den Bezirken stark. Es dürfte  – ob der vielen Kurse, der vielen beteiligten Krankenanstalten und Kursleitern sowie der differierenden Anzahl an Frequentantinnen, Absolventinnen und Freiwilligenmeldungen von Frauen und Mädchen – für das Präsidium der Statthalterei schlicht unmöglich gewesen zu sein, eine korrekte Evidenzhaltung aller verfügbaren freiwilligen Pflegerinnen zu gewährleisten.

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nicht nach bzw. lehnten deren Übernahme dezidiert ab. Die heftige und monatelange Propaganda, Flugblätter und Verlautbarungen zeigten offenkundig nicht überall die gleiche Wirkung. Dazu kam, dass sich – wie aus den Berichten an die Statthalterei hervorgeht – viele Interessierte zwar oft in hoher Zahl zu den Kursen anmeldeten, nach einigen Ausbildungsteilen jedoch wegblieben oder nur die theoretischen Vorträge besuchten, vor Beginn der praktischen Abschnitte jedoch aus den Kursen ausschieden. In dieser Hinsicht müssen die überaus positiven Berichte der Statthalterei an das Innenministerium wohl durchaus kritisch gelesen und als »geschönt« betrachtet werden. Über die Frauen, welche die Pflegeausbildung tatsächlich abschlossen, geht vergleichsweise wenig aus den vorhandenen Quellen hervor. Die Bezirkshauptmannschaft Judenburg wies die Absolventinnen eines Hilfspflegerinnenkurses namentlich aus, wie auch ihr Alter und ihren Familienstand  : 18 Frauen (teils minderjährig) sowie zwei Männer waren im Krankenhaus Judenburg von 12. bis 31. August unterwiesen worden. Von den Absolvent:innen waren 18 unverheiratet (16 Frauen, zwei Männer), zwei Frauen verheiratet. Der Großteil der Ausgebildeten war vergleichsweise jung, die meisten zwischen 17 und 27 Jahre alt, die älteren Frauen waren entweder unverheiratet oder hatten keine Obsorgepflichten für minderjährige Kinder. Eine ältere Absolventin hatte zwar Betreuungspflichten, wurde aber dennoch aufgrund ihrer Sprachkompetenzen zugelassen, sie beherrschte neben Deutsch auch Ungarisch, Tschechisch und Slowenisch, was für die vielsprachige k. u. k. Armee zweifellos von Interesse war. Zwei junge Frauen durften den Kurs zwar absolvieren, sich aber aufgrund ihrer Minderjährigkeit noch nicht freiwillig für den Kriegseinsatz melden. Eine weitere Liste aus Graz aus dem Bestand der Statthaltereiakten vermerkt, dass die elf Absolventinnen eines Kurses am Landeskrankenhaus Graz im Gegensatz zu Judenburg mehrheitlich verheiratet waren und – soweit dies aus den Namen hervorgeht – gut situierten bürgerlichen Grazer Familien entstammten.82 Sie meldeten sich überwiegend für die Pflege in Sanitätsanstalten im Hinterland. Unverheiratete Frauen meldeten sich – so lässt sich auf Basis der vorliegenden Listen rückschließen – eher für den »auswärtigen Dienst«. Die wenigen in den Statthaltereiakten vorhandenen personenbezogenen Aufstellungen untermauern somit die Einschätzungen älterer einschlägiger Studien, wonach in erster Linie junge, unverheiratete Frauen die Möglichkeit nutzten, im Rahmen einer Tätigkeit als Frontschwester den – vielfach als begrenzt und eng empfundenen – Räumen elterlicher Aufsicht zu entkommen, um Seite an Seite mit den männlichen Soldaten ins Feld zu ziehen. Im Unterschied dazu dürfte es sich bei den Frauen, die im Hinterland in der Verwundetenpflege tätig wurden, oft auch um verheiratete, tendenziell auch gut situierte bürgerliche oder adelige Frauen gehandelt haben, die selbst keiner Lohnarbeit nachgehen mussten. Eine systematische schichtspezifische Analyse des in der Habsburgermonarchie sowie im Kronland Steiermark rekrutierten Pflegepersonals auf Basis militärischer Akten steht bislang jedoch noch gänzlich aus. 82 Vgl. StLA, Statth. Präs. M297c-1741/1914, 62–75.

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Weibliche Selbstmobilisierung in der freiwilligen Verwundetenpflege Für eine lange Zeit waren Kriegskrankenschwestern aus geschichtswissenschaftlicher Sicht buchstäblich »zwischen den Fronten durchgefallen«, da sie weder der sogenannten Heimatfont noch der Front zugezählt werden konnten,83 dies hat sich in den letzten Jahren doch deutlich gewandelt und zahlreiche Studien dokumentieren inzwischen wie sehr die weibliche Krankenpflege im Ersten Weltkrieg ein globales Phänomen darstellte. Insbesondere die frauen- und geschlechterhistorische Forschung konnte zeigen, dass sich Abertausende von Frauen, oft unverheiratet, aus der Ober- oder Mittelschicht, aber auch aus unterbürgerlichen Milieus und Arbeiterinnen seit Beginn des Krieges freiwillig für den Kriegseinsatz meldeten oder als professionelle Schwestern rekrutiert wurden. Viele Aspekte der Organisation und des Alltags der Frontschwestern stellen nach wie vor Desiderata der Forschung dar, wobei die Geschlechtergeschichte in jüngster Zeit vor allem auf subjektiv-individuelle Wahrnehmungen von Frontschwestern sowie geschlechtsspezifische Formen der Gewalterfahrung fokussiert.84 Im Hinblick auf das Kronland Steiermark gibt es wenige bekannte Selbstzeugnisse von Berufsschwestern und freiwilligen Pflegerinnen, die sich für den Fronteinsatz meldeten. Eine dieser Erinnerungen, welche noch im Krieg in der Zeitschrift des in der Steiermark stark präsenten deutschnational-völkischen »Verein Südmark« publiziert wurde, stammt von der Grazerin Karoline Kreuter-Gallé, die von August 1914 bis Jänner 1915 als Mitglied der freiwilligen Grazer Sanitätskolonne zunächst an der Nordostfront in Galizien und dann in einem Spital in Ungarn als freiwillige Hilfspflegerin tätig war. Ihre national-patriotischen »Kriegserinnerungen einer freiwilligen Pflegerin«85 sind nicht so sehr im Hinblick auf den Alltag und die Tätigkeiten von Hilfspflegerinnen an der Front erhellend, vielmehr vermittelt Kreuter-Gallés Text Einblicke in die Wirkmächtigkeit nationalistischer Geschlechterdiskurse sowie in narrative Strategien weiblicher Selbstintegration in die nationale Kriegergemeinschaft.86 Nach wie vor stellen systematische Analysen von kulturellen Geschlechterordnungen im Rahmen humanitärer Hilfe und in der freiwilligen Kriegsfürsorge und Verwundetenpflege noch am Anfang. Insbesondere intersektionale Aspekte, Organisationstrukturen, Prozesse der Institutionalisierung oder weibliche Handlungsspielräume 83 Vgl. Schulte, Schwester (1998), 96. 84 Vgl. Hämmerle, Seelisch gebrochen (2014), 32–34 u. 38–50  ; exemplarisch für die internationalen Debatten vgl. Higonnet, Nurses (2001). 85 Kreuter-Gallé, Kriegserinnerungen (1915), 2–6. 86 Ausführlich zu Kreuter-Gallé, vgl. Zettelbauer, Die Liebe (2005), 436–454, sowie Zettelbauer, Krieg und Geschlecht (2004). Lina Kreuter-Gallé kam aus begüterten Verhältnissen und entspricht damit im Hinblick auf ihre soziale Herkunft dem Bild der typischen Freiwilligen. In Hinblick auf ihr Alter unterscheidet sie sich jedoch signifikant vom Gros der Hilfspflegerinnen. Während die meisten jungen freiwilligen Schwestern oft unverheiratet waren, war Kreuter-Gallé zum Zeitpunkt ihres Einrückens 58 Jahre alt und Witwe. Kürzlich  : Zettelbauer, Sich der Nation ver|schreiben (2016), 155–189.

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sind kaum erforscht. Im Folgenden soll vor allem ein Aspekt herausgegriffen werden, nämlich Strategien weiblicher Selbstermächtigung im Feld der freiwilligen Verwundetenpflege auf Seiten deutschnational-völkischer Aktivistinnen und deren Versuche der Institutionalisierung einschlägiger Projekte. Die Anstrengungen dieser Akteurinnen belegen, dass sehr unterschiedliche politische Zielsetzungen im Feld der freiwilligen Kriegsfürsorge präsent sein konnten. Hier wird argumentiert, dass dies auch aus Aushandlung von spezifischen Formen vergeschlechtlichter citizenship in einem bürgerlich-konservativen respektive patriotisch-nationalen politischen Milieu verstanden werden kann. Mit Stand vom 10. Juni 1915 gab es im Kronland Steiermark 90 Rot-Kreuz-Sanitätsanstalten87, die seit Kriegsausbruch ins Leben gerufen worden waren  : 17 Vereinsreservespitäler, drei spezielle Krankenanstalten (das Diätische Sanatorium des »Roten Kreuz« im Katholischen Lehrerkonvikt in der Grazer Carnerigasse, die Physikalisch-orthopädische Heilanstalt vom »Roten Kreuz« in Rohitsch-Sauerbrunn/Rogaška Slatina sowie das Notspital in der Tabakfabrik in Fürstenfeld), zwei Vereinsmarodenhäuser in Großreifling und Groß-Laubegg bei Leibnitz.88 Dazu kamen 33 Vereins-Rekonvaleszentenhäuser89 und zwei private (mit Unterstützung des »Roten Kreuz« betriebene) Pflegestätten  – eines in der »Anton Bauer’schen Stiftung« in Friedberg sowie das Genesungsheim des »Vereines Südmark« in Kroisbach bei Graz. Darüber hinaus betreute das »Rote Kreuz« in der Steiermark insgesamt acht Krankenhaltstationen mit bzw. ohne Möglichkeit der Nachtruhe. Dazu kamen 25 öffentliche und private Krankenhäuser, die verwundeten Soldaten, die vom »Roten Kreuz« zugewiesen wurden, entgeltlich bzw. unentgeltlich Pflege zukommen ließen. Mit den anfallenden Verwundetentransporten koordinierte und betreute das »Rote Kreuz« im Kronland Steiermark in Kooperation mit lokalen konfessionellen und patriotisch-nationalen Vereinen und Institutionen in den Sanitätsanstalten bis Juni 1915 laut Selbstbericht 5.702 verletzte und erkrankte Soldaten (darunter 192 Offiziere und 5.510 Mannschaftssoldaten).90 Auffallend präsent waren neben religiösen Einrichtungen, die sich teils traditionell der Krankenbetreuung widmeten, dabei vor allem deutschnational-völkische Vereine, dies belegen insbesondere die Aktivitäten des radikalen deutschnational-völkischen »Vereins Südmark« im Feld der Kriegsfürsorge. Der Verein, der in nahezu allen Kronländern der Monarchie Zweigvereine unterhielt und dessen Hauptleitung in Graz 87 Vgl. StLA, Statth. Präs. M297c-1187/1916 Karton 1221, Bericht des Statthalters an den k. u. k. GeneralInspektor der freiwilligen Sanitätspflege Erzherzog Franz Salvator vom 15.4.1916, 3. 88 StLA, Statth. Präs. M 297c-1187/1916 Karton 1221, 43–47. 89 Zahlenmäßig abweichend der Bericht von 1915  : vgl. StLA, Statth. Präs. M 297c-1187/1916 Karton 1221, Verzeichnis der Sanitätsanstalten und Bettenwidmungen vom Roten Kreuze in Steiermark nach dem Stande vom 10.6.1915, 43–47 u. 49. 90 Vgl. StLA, Statth. Präs. MM297c-1187/1916 Karton 1221, Verzeichnis der Sanitätsanstalten und Bettenwidmungen vom Roten Kreuze in Steiermark nach dem Stande vom 10.6.1915, 43–47.

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residierte, hatte sich und seine rund 100.000 Mitglieder auf dem Gebiet ÖsterreichUngarns im August 1914 rasch in den Dienst der Kriegsziele gestellt. Weibliche Vereinsmitglieder nahmen sich dabei in hohem Maß der Kriegsfürsorge in einem breiten Sinn und der Verwundetenpflege im Engeren an. So hatte etwa die »Südmark-Frauenortsgruppe Graz ›Rechtes Murufer‹« schon unmittelbar zu Kriegsbeginn im Haus der Vereinsleitung am Joanneumring einen Unterrichtskurs für Erste Hilfe bei Unglücksfällen und für die Pflege von Verwundeten unter der Leitung von Dr. Wilhelm Maresch durchgeführt. Der Kurs sollte laut Vereinszeitschrift dabei nur jenen Frauen und Mädchen der Grazer Ortsgruppen zugänglich sein, »die ernstlich gesonnen sind, freiwilligen Krankenpflegedienst zu verrichten«. [A]ußerdem hat diese Frauengruppe im Sitzungssaal der Hauptleitung für Kriegszwecke eine Nähstube eingerichtet und verfügbare Kanzleiräume werden im Bedarfsfalle zur Aufnahme Verwundeter bereitgestellt. Betten und Wäsche stellen Südmärkerinnen bei. So erfüllen unsere Frauen auch in dieser Hinsicht ihre Hilfs- und Schutzpflicht.91

Mit großer Selbstverständlichkeit okkupierten die Vereinsaktivistinnen nicht nur die Räume der Hauptleitung, sondern aus der zitierten »Schutz- und Hilfspflicht« entwickelte sich bald die Idee, ein eigenes Soldaten-Genesungsheim zu schaffen. Die erste Anregung dazu gab neuerlich die genannte »Frauenortsgruppe ›Rechtes Mur­ ufer‹« unter ihrer Obfrau Hilde Maresch, die das Vorhaben rasch in die Tat umsetzte.92 Feierlich eröffnet wurde das Genesungsheim am 4.  Oktober 1914 mit einer Ansprache des Obmann-Stellvertreters Dr.  Rudolf Scharizer und unter »Flaggenhissen des deutschen Dreifarb, und der Rot-Kreuz-Flagge« und dem Singen der »österreichischen und der deutschen Volkshymne«93. Die ärztliche Leitung über das Heim hatte Dr.  Maresch inne, seine Frau Hilde Maresch übernahm die gesamte wirtschaftliche Führung der Einrichtung, unterstützt von Mitgliedern der Hauptleitung, der Grazer »Gauleitung« des Vereines und weiteren Freiwilligen.94 Im Genesungsheim gab es eine eigene Wäsche- und Nähstube,95 die täglich anfallenden Arbeiten wurden von Mitgliedern der Frauenortsgruppe bzw. der Grazer Mädchenortsgruppe unentgeltlich geleistet.96 Das Genesungsheim wurde aus dem Budget des »Vereines Südmark« sowie durch Zuwendungen finanziert. Dazu kamen Essensspenden von »30 warmherzige[n] soldatenfreundliche[n]« Grazer Familien.97 Das Haus, das zeitgleich 18 verwundete 91 Für die Krankenpflege, in  : MdVS, Jg. 9 (1914) Heft 8/9, 279. 92 Adam, K.[arl]  : Im Soldatengenesungsheim der Südmark, in  : MdVS, Jg. 9 (1914) Heft 10/11/12, 296–298, hier 296. 93 Eröffnung des Genesungsheimes, in  : MdVS, 9. Jg. , (1914) Nr. 10/11/12, 298. 94 Adam, Im Soldatengenesungsheim der Südmark (1914), 296. 95 Eröffnung des Genesungsheimes (1914), 298. 96 Bericht Soldatengenesungsheim Graz Kroisbach, in  : MdVS, Jg. 10 (1915) Heft 6/7, 58–59. 97 Ebd.

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Soldaten aufnehmen konnte98, beherbergte im Frühjahr und Sommer des Jahres 1915 70 bzw. 77 »Pfleglinge«, in der Zeit seines Bestehens insgesamt 166 Heeresangehörige.99 Die betreuten Soldaten kamen aus Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg, der Steiermark, aus Kärnten, Tirol, Böhmen, Mähren, Ungarn, Kroatien und aus Bosnien100, 1916 wurden in Berichten auch Soldaten aus Bayern, der Bukowina, aus Galizien und Krain, Schlesien, Slawonien, Rumänien und Polen genannt101. Zugewiesen wurden die Verwundeten dabei von Militärspitälern, sodass das Bestreben des völkisch-rassistisch, antislawisch und antisemitisch agitierenden Vereins, der ausschließlich »deutsche Soldaten« aufnehmen wollte, von den Militärbehörden zeitweilig unterlaufen wurde. So »mussten«  – wie die Mitteilungen 1916 berichteten  – auch »4 Kroaten, 2 Rumänen, und 1 Pole Aufnahme finden. Diese nicht-deutschen Krieger erwiesen sich jedoch« – wie das Vereinsblatt gönnerhaft vermerkt  – »der südmärkischen Gastfreundschaft durchaus würdig und zeigten sich für dieselbe in rührender Weise dankbar.«102 Im hier diskutierten Zusammenhang erscheint das Genesungsheim vor allem deshalb von Interesse, weil es sich zunehmend als Prestige-Projekt des Vereins erwies. Zudem oblag insbesondere den weiblichen Aktivistinnen die Ausgestaltung der Institution, die sie als ein dem grausamen Kriegsalltags entrissenes »Eiland der Barmherzigkeit« inszenierten  : Fern vom Lärm der Großstadt, in landschaftlich stiller, reizender Gegend, umgeben vom Tannengrün der angrenzenden Wälder von Kroisbach-Mariagrün, liegt das Eiland der Barmherzigkeit, das Soldatenheim der Südmark, das Angehörige des Vereines im edlen Wetteifer zur Pflege verwundeter Krieger gemietet und in kurzer Zeit in ein anheimelndes Lazarett umgewandelt haben, worin Menschliebe die Wunden zu heilen versucht, die der grimmige Völkerhaß jetzt tausendfach verursacht.103

In dieser  – vom Kriegsalltag losgelösten  – Welt schien all das verwirklicht, was im völkischen Diskurs als »deutsche Häuslichkeit« vorgestellt wurde. Vom Dach des Gebäudes wehte »das deutsche Dreifarb und die Rote-Kreuz-Flagge«104, die Gänge mit grünen Pflanzen vermittelten den »Hauch eines Familienheimes«, »[i]n den schönen, hellen, freundlichen Zimmern«, in denen zwei bis vier Betten standen, waren »die  98 Vgl. StLA, Statth. Präs. MM297c-1187/1916 Karton 1221, Verzeichnis der Sanitätsanstalten und Bettenwidmungen vom Roten Kreuze in Steiermark nach dem Stande vom 10.6.1915, 43–47.  99 Vgl. Soldatenheim, in  : MdVS, Jg.  10 (1915) Heft 3/4/5, 42  ; Bericht Soldatengenesungsheim (1915), 58–59  ; Das Soldaten-Genesungsheim des Vereines Südmark in Kroisbach bei Graz, in  : MdVS, Jg. 11 (1916) Heft 7/8, 85. 100 Bericht Soldatengenesungsheim Graz Kroisbach (1915), 58–59. 101 Das Soldaten-Genesungsheim des Vereines Südmark in Kroisbach bei Graz (1916), 85. 102 Ebd. 103 Adam, Im Soldatengenesungsheim der Südmark (1914), 296. 104 Ebd.

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Wände […] mit den reizenden Gemälden der Südmarkkarten-Entwürfe geschmückt. Das verbreitet Stimmung und gibt einen echt vaterländischen und zugleich kriegerischen Eindruck.«105 Es gab Krankenräume, eine Liegehalle, ein Verbands-, Bade- und ein Sprechzimmer, eine Bücherei, eine Küche, eine Wäscherei sowie die »von Spenden und Liebesgaben« gut gefüllte Vorratskammer. Die Nachbarinnen des Heimes, die »Hausmütter der umliegenden Landhäuser« brachten täglich Obst, Backwerk und Mehlspeisen und »wetteifer[te]n« im Beschenken  : »Ein Insasse meinte daher, sie hätten’s so gut wie bei Muttern daheim.«106 Die Stimmung der Pfleglinge war laut Bericht des Vereinsfunktionärs Karl Adam »bei der fürsorglichen Pflege, die von der Hausmutter, unterstützt von freiwilligen Helferinnen bereitwilligst und aufopferungsvoll abwechselnd geleistet wird«, gut, froh und zuversichtlich  : Die anspruchslosen Soldaten erzählen in kargen, kurzen Worten, aber mit leuchtenden Augen von dem großen Kampfesmute, der die ganze Armee beseelt, von der beispiellosen Tapferkeit, mit der jeder Mann in dem gewaltigen Kampfe auf dem Posten der Pflicht auszuhalten sucht. Jeder erzählt gern von seinen Taten, jeder verabschiedet uns mit einem freundlichen Heilgruße.107

Im Narrativ der völkischen Presse wurde das Soldatenheim als symbolischer Ort der »weiblichen Heimatfront« aufgeladen, als Insel der Friedfertigkeit, Opferbereitschaft, »familiärer Innerlichkeit«, »mütterlicher Harmonie« imaginiert und fungierte als Gegenbild zum »männlichen Krieg« und seinen Grausamkeiten. Die in den verletzten Soldatenkörpern präsente Gewalt des Krieges bildet in den zitierten Beschreibungen dahingegen eine Leerstelle und ist  – ob der intensiven Beschwörung des notwendigen weiblichen »Liebeswerkes« – doch unmittelbar präsent. Beschwiegen wurden die Verstümmelungen, Verletzungen, dauerhaften, temporären und/oder irreversiblen Schädigungen der verwundeten Soldaten, deren körperlichen und psychischen Traumata, welche die Existenz des Genesungsheimes überhaupt erst nötig machten. Wie präsent gerade letztere waren  – sowohl auf Seiten der Soldaten als auch auf Seiten vieler Schwestern und Pflegerinnen –, darauf hat Christa Hämmerle in ihren Arbeiten eindrücklich hingewiesen.108 Die im Fall des Südmark-Genesungsheimes sichtbaren Strategien der Naturalisierung der Kriegsgewalt können als Teil des hegemonialen Geschlechter- wie Kriegsdiskurses angesehen werden, sind aber gleichzeitig auch als Strategie zu lesen, die allgegenwärtige Kriegsgewalt zu bewältigen.

105 Ebd., 297. 106 Ebd. 107 Ebd. 108 Vgl. dazu Hämmerle, Seelisch gebrochen (2014).

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Die friedliche Stille, die Ruhe inmitten der Gärten und Wälder, die Beschaulichkeit tut den braven Soldaten sichtlich wohl, den treuen Kämpfern, denen die völkische Opferfreudigkeit der Grazer Frauen und Mädchen nach den Unbilden, Entbehrungen und Anstrengungen des Feldzuges ein gastliches Genesungsheim geschaffen hat  – ein Eiland der völkischen Barmherzigkeit.109

Der Rekurs auf nationalistische Geschlechterdiskurse ermöglichte es den hier tätigen Protagonistinnen die in der Verwundetenpflege allgegenwärtige Gewalt rhetorisch zu überbrücken. Zugleich bot das Genesungsheim für die Vereinsaktivistinnen einen Ort, an dem sie selbst den völkischen Geschlechterdiskurs reproduzieren und performativ inszenieren konnten. Die Pflegetätigkeiten wurden entsprechend des Tugendkanons einer »nationalen Weiblichkeit« medienwirksam als »unterstützend« und »opferbereit« präsentiert. Hinter dieser Selbstdeutung und -inszenierung verbarg sich allerdings nicht nur eine Affirmation hegemonialer Geschlechterrepräsentationen, sondern zweifellos auch eine politische agency. Die Vereinsaktivistinnen zelebrierten hier geradezu die Vorstellung separater Geschlechterräume, stützten die dichotome bürgerliche Trennung gesellschaftlicher Sphären und arbeiteten an ihrer symbolischen Überhöhung mit. Völkische Geschlechterkonstruktionen konnten sich hier im Sinne eines doing gender, war and nation auch materiell verfestigen. So positiv die völkische Presse diese zugespitzten Geschlechterimaginationen und deren Institutionalisierung bewerteten, so sehr stießen die skizzierten Auffassungen, Interpretationen und Inszenierungen weiblicher Kriegsfürsorge auf Kritik von militärischer Seite. Der nachfolgend geschilderte Konflikt legt dabei nicht nur grundsätzliche Spannungsfelder zwischen nationalistischen Geschlechterentwürfen und militärischen Zielsetzungen im Feld der Verwundetenpflege offen, sondern eröffnet zugleich Einblicke in einen spezifischen Entwurf einer weiblichen Teilhabe an Staat und Nation auf Seiten patriotisch-konservativer und nationalistischer Akteurinnen. Sichtbar werden nicht nur Konfliktlinien rund um die Aushandlung männlich-weiblicher sowie militärisch-ziviler Handlungsspielräume, sondern auch die wirtschaftliche Bedeutung der freiwilligen weiblichen Kriegsfürsorge.

Verwundetenpflege als gendered conflict zone Das »Südmark«-Genesungsheim wurde nach nur 16 Monaten seines Bestehens vom Militärkommando Graz im Februar 1916 aufgelöst.110 Die Schließung war Teil einer umfassenden Neustrukturierung der (freiwilligen) Verwundetenpflege, welche nicht zuletzt dadurch in Gang gesetzt worden war, dass auch im Kronland Steiermark durch 109 Adam, Im Soldatengenesungsheim der Südmark (1914), 297–298. 110 Vgl. Die Auflösung des Südmark-Genesungsheims, in  : MdVS, Jg. 11 (1916) Heft 3/4, 33.

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den Kriegseintritt Italiens im Mai 1915 die zivile Verwaltung unter militärische Weisungsbefugnis gestellt worden war.111 So waren von Jahresende 1915 bis Frühjahr 1916 37 der 90 steirischen Sanitätsanstalten des »Roten Kreuz« (bzw. Privatpflegeanstalten von Vereinen, die mit diesem kooperierten) durch die Militärverwaltung aufgelöst worden. Betroffen waren vor allem kleinere Einrichtungen, wobei die Schließungen in mehreren Fällen offenbar von militärischer Seite aus angeordnet worden waren, ohne die vorherige Zustimmung des »Roten Kreuz« einzuholen. Bei einer Sitzung des Landesverbands am 17. Februar 1916 in dieser Causa war es von Seiten der beratenden Ausschussmitglieder zu heftiger Kritik an der Militärverwaltung gekommen, da die Auflösungen – so die Wahrnehmung der Anwesenden – sowohl in Vereinskreisen als auch in weiten Teilen der Bevölkerung als Stellungnahme gegen die Institution des »Roten Kreuz« und als Maßregelung verstanden wurde. Es wurde nicht nur befürchtet, dass die Schließungen das Ansehen des »Roten Kreuz« in der Öffentlichkeit massiv schädigen würden, sondern auch dass als hinter den Schließungen liegendes Ziel sogar die langfristige Auflösung des »Roten Kreuz« selbst angedacht wäre. In dem Zusammenhang wurden von Anwesenden während der Sitzung vor allem auch die militäreigenen Sanitätsanstalten aufs Heftigste kritisiert, was wiederum dem Militärkommandanten zugetragen wurde. Dieser erließ eine Woche später, am 23.  Februar 1916, eine Note112, welche zwei Anordnungen enthielt  : erstens wurden die weiblichen Delegierten des »Roten Kreuz« in den Militärspitälern angewiesen, von nun an lediglich mit den Spitalskommandanten oder deren Stellvertretern in Kontakt zu treten, um die »Liebesgaben« und sonstigen Zuwendungen zu kontrollieren bzw. zu übergeben, ansonsten aber habe jegliche Kontaktaufnahme mit den Verwundeten zu unterbleiben. Mit Ausnahme derjenigen freiwilligen Mitarbeiterinnen des »Roten Kreuz«, welche die Küchen und Wäschemagazine beaufsichtigten, durften weibliche Delegierte entsprechend des Militärkommando-Erlasses die Spitäler jedoch nicht mehr betreten – auch nicht während der allgemeinen Besuchsstunden. Als zweite Maßnahme veranlasste der Militärkommandant, dass alle freiwilligen Pflegerinnen in den Militärspitälern nach und nach von »Berufspflegerinnen« zu ersetzen seien, welche nun als Armeebesoldete in die militärischen Befehlsketten eingegliedert wurden.113

111 Vgl. Moll, Martin  : Die Steiermark im Ersten Weltkrieg. Der Kampf des Hinterlandes ums Überleben 1914–1918 (Veröffentlichungen der Historischen Landeskommission für Steiermark 43), Wien-GrazKlagenfurt 2014, 40. 112 StLA, Statt. Präs. Nr. 2424/Sch. Karton 1221, Note des k. u. k. Militärkommandos an den Landes- und Frauenhilfsverein vom Roten Kreuz in Steiermark vom 23.2.1916  ; vgl. Bezugnahme darauf in der Note des Präsidenten und des Sanitätsreferenten des Landes- und Frauen-Hilfsvereins vom Roten Kreuz, Präs. M297c-1187/1916 Karton 1221, 42. 113 Vgl. StLA, Statth. Präs. M297c-1186/1916 Karton 1221, Bericht des Statthalters an den General der Kavallerie Erzherzog Franz Salvator, k. u. k. Generalinspektor der freiwilligen Sanitätspflege in Wien vom 15.4.1916, 3–16.

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Die angesprochenen weiblichen Delegierten des »Roten Kreuz« hatten seit Kriegsbeginn zu den zentralen Figuren in der Organisation der freiwilligen Verwundetenpflege gehört. Ihre Präsenz gewährleistete den Fluss von hohen Spenden in Richtung der militärischen Sanitätsanstalten und hatte somit eine bedeutende finanzielle Komponente. Die Bundesleitung der »Österreichischen Gesellschaft vom Roten Kreuz« hatte nämlich im Dezember 1914 den Betrag von einer Million Kronen zum Zweck gewidmet, die Militär-Sanitätsanstalten nach den geltenden Vorschriften und entsprechend der jeweiligen sanitären Bedürfnisse auszugestalten. Berechnet nach der Bettenanzahl entfiel von dieser Fördersumme auf das Kronland Steiermark ein Teilbetrag von 85.100 Kronen, welcher (wieder entsprechend einer Bettenbelagsziffer) in Militär-Sanitätsanstalten in Graz, Bruck a.d. Mur, Cilli/Celje, Marburg/Maribor, Pettau/Ptuj und Leoben zur Verteilung gelangte. Um in den Genuss dieser Summe zu kommen, hatte das Militärkommando Graz zu Beginn des Krieges dem Vorschlag zugestimmt, weibliche Delegierte des »Landes- und Frauen-Hilfsvereins vom Roten Kreuz in Steiermark« in die einzelnen Militär-Sanitätsanstalten zu entsenden. Diese sollten sich – in Absprache mit den Spitalskommandanten – jeweils über die konkrete Verwendung der Gelder ins Einvernehmen setzen. In die Grazer Sanitätsanstalten wurden beispielsweise 13 weibliche Delegierte entsandt, welche aus den höchsten gesellschaftlich-politischen Kreisen der Landeshauptstadt kamen und einflussreiche steirische bürgerlich-adelige konservative Wohltätigkeits- oder Deutschtumsvereine repräsentierten. Unter den weiblichen Delegierten in Graz fanden sich etwa die Frau des Statthalters Gräfin von Clary und Aldringen, Helene von Fleischhacker, eine zentrale Aktivistin des »Vereins Südmark« und Frau des von November 1912 bis Juni 1914 amtierenden Grazer Bürgermeisters oder Baronin von Rokitansky, die Präsidentin der »Reichsorganisation der Hausfrauen Österreichs« oder Gräfin Luise von Stauffenberg.114 Das Militär hatte der Entsendung der delegierten Frauen offenbar wohl oder übel zugestimmt, um auf die Spenden zugreifen zu können, nutzte allerdings die erste Möglichkeit (konkret die Übernahme der Zivilverwaltung durch das Militärkommando), um deren Einfluss zu beschneiden. Der Ausschluss der weiblichen Delegierten und die Schließung symbolträchtiger Einrichtungen der freiwilligen Verwundetenpflege schlug politisch hohe Wellen und stieß nicht nur die weiblichen Delegierten selbst vor den Kopf, sondern auch das Präsidium der steirischen Statthalterei sowie die Bundes- und Landesleitung des »Roten Kreuz«. Der Konflikt zog in der Folge Kreise bis ins Innen- und Kriegsministerium sowie ins Kaiserhaus. Die Empörung, welche der Anordnung des Militärkommandos folgte, war enorm  : Das Präsidium des Landesverbandes vom »Roten Kreuz« zog alle seine Delegierten gänzlich aus den steirischen Militärspitälern ab, versehen mit der Bemerkung, dass die neuen Richtlinien nur als »Strafmaßnahmen« gegen das »Rote Kreuz« zu interpretieren seien, denn das Militärkommando sei »ohne jede Rücksicht

114 Vgl. StLA, Statt. Präs. M297c-1187/1916 Karton 1221, Verzeichnis der Delegierten, 48.

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auf Namen und Stellung der delegierten Damen«115 vorgegangen. Vertreterinnen von Frauenvereinen aus Graz oder Leoben meldeten sich empört in der Causa öffentlich zu Wort und auch der Statthalter versuchte beim Militärkommando in der Sache zu intervenieren. Er erreichte, dass die getroffenen Maßnahmen in einem Punkt revidiert wurden – insofern, als »verdiente« freiwillige Pflegerinnen erneut als »angemeldete Berufspflegerinnen« bzw. nun bezeichnet als »Kriegsberufspflegerinnen« in den Spitälern tätig werden konnten. Die weiblichen Delegierten des »Roten Kreuz« blieben in der Folge jedoch definitiv aus den Militärspitälern ausgeschlossen. Rund um den Konflikt entspann sich von März bis August 1916 eine umfangreiche Debatte an welcher der steiermärkische Statthalter Clary-Aldringen, k. k. Ministerpräsident Karl Graf Stürgkh, der k. k. Minister des Inneren Prinz Konrad zu HohenloheSchillingsfürst, k. u. k. Kriegsminister Alexander Freiherr von Krobatin, der k. k. Minister für Landesverteidigung Friedrich Freiherr von Georgi sowie der General-Inspektor der freiwilligen Sanitätspflege und Mitglied des Kaiserhauses, Erzherzog Franz Salvator, zentral respektive peripher involviert waren. Wie zahlreiche wechselseitige Berichte und Stellungnahmen dokumentieren, warf Clary-Aldringen dabei sein gesamtes politisches Gewicht in die Waagschale. Er argumentierte unter Rekurs auf den eingangs zitierten Brief der steirischen Frauenvereine nicht nur mit dem »heiligen Recht« von Frauen und Mädchen darauf, »aufopfernden Dienst in den Spitälern zu leisten«, sondern auch mit der sozialen und politischen Vorbildwirkung der freiwilligen Pflegerinnen als Garantinnen eines völkerverbindenden Gesamtstaatspatriotismus.116 Er wies zudem die von Seiten militärischer Inspektoren gegen die Sanitätsanstalten vom »Roten Kreuz« erhobenen Vorwürfe auf das Entschiedenste zurück und setzte sich insbesondere gegen die darin vorgebrachten Kritikpunkte zur Wehr. So seien die Vorwürfe wegen »mangelnder Hygiene« sowie hinsichtlich »unzweckmäßiger« Unterbringung und Behandlungen ebenso haltlos wie die von Seiten der Militärbehörden heftig kritisierte angebliche Heranziehung minderjähriger Mädchen zum Pflegedienst in den freiwillig organisierten Pflegeeinrichtungen. Clary-Aldringen nahm dazu ebenso Stellung wie zum Vorwurf, wonach ärztliche Behandlungen in einzelnen Rot-Kreuz-Spitälern 115 Vgl. StLA, Statth. Präs. M297c-1186/1916 Karton 1221, Bericht des Statthalters an den General der Kavallerie Erzherzog Franz Salvator, k. u. k. Generalinspektor der freiwilligen Sanitätspflege in Wien vom 15.4.1916, 6v, 9v, 15. 116 Eberhard Sauermann weist darauf hin, dass die Propagandatätigkeiten aller Kriegsfürsorgeeinrichtungen stark österreich-patriotisch oder deutschnational argumentierten und alles Deutsche respektive Österreichische gleichsetzten. Es gab jedoch kaum ein Bekenntnis zum Vielvölkerstaat, Bezugnahmen auf den supranationalen Gesamtstaat erfolgten nur strategisch und wenn es darum ging, Einigkeit und Pflicht im Krieg zu beschwören. Vgl. Sauermann, Kriegsfürsorge (2001), 108. Insofern erstaunt der Appell an einen völkerverbindenden Gesamtstaatspatriotismus durch den Statthalter  – nicht zuletzt angesichts der Präsenz radikal deutschnational-völkisch positionierter Kooperationsvereine des »Roten Kreuz«, die – wie beispielsweise der »Deutsche Schulverein« oder der »Verein Südmark« – seit Jahren immer wieder anti-habsburgische Politik praktizierten und eine intensive Annäherung an das Deutsche Reich verfolgten.

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»verzögert« begonnen worden seien und Soldaten somit zu lange dem nächsten Feldeinsatz fernblieben.117 Angesichts der Anschuldigungen vermerkte der Statthalter auch in Hinblick auf die an ihn selbst adressierte Aufforderung durch den Militärkommandanten, den ehemals delegierten Frauen Dank für die bisher geleisteten Tätigkeiten auszusprechen, höchst erbost  : Es ist im allgemeinen nicht üblich und wird auch niemanden zugemutet[,] sich für Bemängelungen und Verstellungen noch zu bedanken  ; werden jedoch Bemängelungen und Ausstellungen ohne jede Anführung von konkreten Daten – im vorliegenden Fall ohne Bekanntgabe der betreffenden Anstalten – erhoben oder frech und völlig unbegründet und haltlos oder von geradezu aufreizend lächerlicher Bedenkenlosigkeit und in ironisch[er] […] Form gehalten wie vorliegenden Falls – so ist eine Danksagung hiefür würdelos. – Sogar der Wurm krümmt sich, wenn er getreten wird.118

Aus Sicht des zuständigen Kriegsministers stellte sich die Causa naturgemäß gänzlich anders dar. Wie aus einer (dem steiermärkischen Statthalter vertraulich übermittelten) Note des Kriegsministers Krobatin an Ministerpräsident Stürgkh vom 3. August 1916 hervorgeht, waren es in erster Linie »grobe Mißstände« in den steirischen Anstalten der freiwilligen Sanitätspflege gewesen, die zu deren Schließung geführt hatten. Insbesondere bemängelte Krobatin die »nicht rechtzeitige Entlassung geheilter Mannschaften […] und […] die damit verbundene schwere Schädigung der Interessen des Staates und der Armee«, welche wiederholt vorgekommen sei. In einigen steirischen Rot-Kreuz-Einrichtungen habe es »Inspizierungsanträge« und »stichhaltige Anzeigen« gegeben, aufgrund derer das Militärkommando Graz tätig geworden sei. In Mürzzuschlag etwa seien widerrechtlich Urlaubsscheine ausgestellt worden bzw. militärische Vorschriften nicht befolgt worden. In Schloss Thannhausen bei Weiz sei es mehrfach zu Differenzen zwischen der lokalen Anstaltsleiterin Baronin Gudenus und einzelnen Militärpersonen gekommen und das Vereinsreservespital in Öblarn sei wegen »Mißständen gröbster Art« geschlossen worden, welche sogar eine gerichtliche Verfolgung nach sich gezogen hätten. Die Schließung der betreffenden Anstalten sei »in allen Fällen dringendst geboten« und »im Interesse der militär[ischen] Disziplin und Ordnung gelegen«. Weiters hätten »sachliche Gründe«, u. a. die Gewinnung von Pflegepersonal oder die »Freimachung von Inspektionsoffizieren« für eine Auflösung gesprochen. Auch hinsichtlich des Verweises der weiblichen Delegierten des »Roten Kreuz« aus den Grazer Militärspitälern nahm sich der Kriegsminister kein Blatt vor den Mund  : Zu Kriegsbeginn seien für die entsprechenden Ausschuss- bzw. Präsidiumsmitglieder Legitimationen ausgestellt worden, welche zum Besuch der Spitäler berechtigt hat117 Vgl. StLA, Statth. Präs. M297c-1186/1916 Karton 1221, Amtsvermerk des Statthalters, 63–83 u. 78. 118 StLA, Statth. Präs. M297c-1186/1916 Karton 1221, Amtsvermerk des Statthalters, 63. Hervorhebungen im Original.

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ten und aus denen Rechte und Pflichten ersichtlich seien. Einzelne Delegierte hätten sich jedoch »Uebergriffe und Einmengungen in militär. Angelegenheiten zu schulden kommen l[a]ssen und ihre Aufgabe vielfach dahin aufgefasst […], die militär. Anordnungen und Einrichtungen einer Kontrolle zu unterziehen.« Dieses »angemasste[…] Inspizierungsrecht« sei durch den Verzicht auf die Delegierten abgestellt worden.119 Die Plausibilität der wechselseitig vorgebrachten Vorwürfe lässt sich kaum mehr feststellen. Auf der Hand liegt jedoch, dass die involvierten Protagonistinnen der katholisch-konservativen und deutschnationalen Vereine sowie die weiblichen Delegierten des »Roten Kreuz« zweifellos eine eigene Agenda verfolgten. Auch wenn aufgrund ihrer unbedingten Kriegsunterstützung nicht anzunehmen ist, dass hier systematisch oder subversiv militärische Interessen boykottiert werden sollten, so war ihre Richtschnur in der Kriegsfürsorge und Verwundetenpflege die Idee eines »Liebesdienstes« an den Soldaten. Diese Auffassung scheint den militärischen Vorgaben, welche in erster Linie intendierten, genesene Soldaten so rasch wie möglich zurück an die Front zu bringen, diametral entgegengesetzt. Der geschilderte Konflikt verdeutlicht also eine Diskrepanz zwischen einer nach militärischen Gesichtspunkten strukturierten Pflegepolitik einerseits und einer entlang national-patriotischer Geschlechterdiskurse konzipierten freiwilligen Verwundetenpflege andererseits. Aktivistinnen bürgerlichkonservativer und national-patriotischer Frauenvereine nutzten unter Affirmation des hegemonialen Geschlechterdiskurses die ihnen angebotenen Handlungsspielräume im Bereich der freiwilligen Kriegsfürsorge. Aber anders als in Bereichen Nahrungsmittelversorgung, Waisenfürsorge oder Flüchtlingsbetreuung, wo Protagonistinnen des bürgerlich-liberalen Frauenbewegungsspektrums, katholische, jüdische, sozialdemokratische Frauenorganisationen oder auch deutschnationale Aktivistinnen im Verlauf des Krieges durchaus in kommunale oder staatlich Entscheidungsprozesse im Bereich der sozialen Fürsorge integriert wurden,120 gestaltete sich ein weiblicher Anspruch auf Teilhabe im Feld der militärisch wichtigen Verwundetenpflege konfliktreicher. Auch wenn die hier präsenten Akteurinnen die politischen Dimensionen ihres Tuns explizit von sich wiesen, gerieten sie dennoch in Konflikt mit ihrem Anspruch auf Teilhabe an staatlichen Entscheidungsprozessen. Von Interesse erscheint darüber hinaus, dass die hier in den Blick genommenen konservativen und deutschnational-völkischen Aktivistinnen eine spezifisch »weibliche Form von Staatsbürgerschaft« konzipierten, welche nur bedingt mit den Forderungen der bürgerlich-liberalen Ersten Frauenbewegung121 in Einklang stand. Ihr spezifi119 StLA, Statth. Präs. M297c-1187/1916 Karton 1221, Abschrift einer Note des Kriegsministers an den Ministerpräsidenten, vom 3.8.1916, Abt. 14, Nr. 14.836 von 1916, vertraulich übermittelt an den Statthalter der Steiermark, 59–60v. 120 Hämmerle, Christa  : Die ›Frauenhilfsaktion im Kriege‹. Weibliche (Selbst-)Mobilisierung und die Wiener Arbeitsstuben, in  : Hämmerle, Heimat/Front (2014), 84–103. 121 Zu den partei- und konfessionsübergreifenden Zielen der Ersten Frauenbewegung vgl. Hauch, Gab-

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scher Entwurf einer Teilhabe an Staat und Nation zielte weder auf die formalrechtliche Gleichstellung von Frauen ab, noch war sie auf die Erlangung des Wahlrechts hin ausgerichtet. Nichts desto trotz ging es auch in diesem Milieu um die Beanspruchung einer bestimmten (eingeschränkten) Teilhabe an öffentlich-politischen Entscheidungen, wenngleich sich die geschilderten defensiven Politikstrategien im hier diskutierten Feld als nicht erfolgreich erwiesen. Zweifellos war die freiwillige Kriegsfürsorge aber ein Raum, in dem staatsbürgerliches weibliches Handeln erprobt und im Rahmen selbst geschaffener Institutionen auch punktuell praktisch-politisch umgesetzt werden konnte  : durch den Aufbau politischer Frauennetzwerke, mittels Petitionen an und Funktionen in staatlichen und militärischen Behörden, im Rahmen einschlägiger Vereinsaktivitäten, durch die Konzeption und Realisierung von Wohltätigkeit oder in Versuchen, temporäre Kriegsfürsorge-Projekte dauerhaft zu institutionalisieren.

Resümee Die in der medialen Öffentlichkeit präsenten Konstruktionen einer »männlichen Front« und einer »weiblichen Heimatfront« bildete die soziale Praxis kaum ab. Nicht nur gab es im Ersten Weltkrieg viele »Überlappungszonen« von Front und Heimat, auch eine geschlechterspezifische Sphärentrennung entsprach nicht dem Kriegsalltag. Paradigmatisch wird dies sichtbar in der freiwilligen Kriegsfürsorge und Verwundetenpflege. Wenn das Verhältnis von Frontschwestern und zu pflegenden Soldaten als »Intimraum bürgerlicher Familienidylle« (R. Schulte) reinszeniert wurde oder völkische Aktivistinnen Genesungsheime als politisch-ideologische Symbolräume inszenierten, dann wird deutlich, dass vielschichtige Geschlechterkonzepte in die freiwillige Verwundetenpflege eingeschrieben sein konnten. Ein geschlechterhistorischer Blick auf das hier diskutierte Feld erscheint lohnenswert, weil dies geschlechtsspezifische Handlungsspielräume, aber auch Begrenzungen offenlegt und auf diese Weise historische Narrative zugleich auch als Produkte (konflikthafter) Aushandlungsprozesse um gesellschaftlich-kulturelle Ressourcen begreifen kann.122 In den hier skizzierten Räumen der freiwilligen Verwundetenpflege werden Frauen jedenfalls als Akteurinnen sichtbar, die auf je unterschiedliche Weise auf die angestrebte Mobilisierung im Gefolge der Balkankriege ab 1912 reagierten. Besonders katholisch-konservative und deutschnational-völkische Aktivistinnen wandten sich dem Feld der freiwilligen Verwundetenpflege bald mit glühendem Patriotismus und Nationalismus zu, entsprach dies doch einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, die in bürgerlich-konservatiriella  : »Arbeit, Recht und Sittlichkeit«. Die Frauenbewegung als politische Bewegung 1848–1918, in  : Hauch, Gabriella  : Frauen bewegen Politik. Österreich 1848–1938 (Studien zur Frauen- und Geschlechterforschung 10), Innsbruck-Wien-Bozen 2009, 23–60, besonders 35–48. 122 Vgl. Scott, Joan W.: Gender and the Politics of History (Gender and Culture), New York 1998, 42–43.

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ven und nationalistischen Kreisen schon lange vor dem Krieg existierte. Dagegen reagierten Frauen und Männer aus dem sozialdemokratischen Milieu zögerlich auf die angestrebte Mobilisierung und Militarisierung der Zivilbevölkerung oder verweigerten sich explizit einer solchen. Die hier in den Blick genommenen freiwilligen Pflegerinnen, die sich zu Kriegsbeginn für die Verwundetenpflege ausbilden ließen, reihten sich wohl überwiegend in die erstgenannte Gruppierung ein. Aber auch unter den prinzipiell kriegsbefürwortenden und patriotischen Frauen gab es offenbar viele, die ihre anfängliche Begeisterung rasch verloren, eine Ausbildung abbrachen oder andere Prioritäten setzten. Für diejenigen, die sich tatsächlich für den Fronteinsatz meldeten oder in Verwundeten-Spitälern und Genesungsheimen an der Heimatfront als freiwillige Pflegerinnen arbeiteten, verzahnten sich Front und Heimat ineinander, insofern als hier wie dort Tod und Gewalt, Verletzungen und kriegsbedingte Traumata präsent waren. Der hier skizzierte deutschnational-völkische Geschlechterdiskurs stellte dabei ein sprachliches Repertoire bereit, um diese präsente Kriegsgewalt zu verharmlosen oder nationalistische Deutungen des Krieges zu rechtfertigen. Zugleich machten Akteurinnen in der freiwilligen Kriegsfürsorge die Erfahrung, dass sich an die Erfüllung und Affirmation national-patriotischer »Frauenpflichten« durchaus Rechte knüpfen ließen (etwa im Bereich Nahrungsmittelversorgung oder Flüchtlingsbetreuung). Im Feld der freiwilligen Verwundetenpflege waren selbst uneingeschränkt kriegsunterstützende konservative und nationalistische Frauen jedoch auch damit konfrontiert, dass sie trotz ihrer Affirmation hegemonialer Geschlechterrepräsentationen in Konflikt mit militärischen Zielsetzungen geraten konnten. Aus Sicht militärischer Behörden bedeutete die Beanspruchung einer weiblichen Teilhabe an Entscheidungsprozessen im Feld der Verwundetenpflege in erster Linie eine Anmaßung und einen Verstoß gegen militärische Hierarchien. Die eingeschlagenen politischen Handlungsstrategien auf Seiten konservativer und nationalistischer Akteurinnen funktionierten somit offenkundig zwar in zivilgesellschaftlichen Kontexten, nicht aber in militärischen Zusammenhängen. Der politische Aktivismus von Frauen aus dem hier im Besonderen in den Blick genommenen deutschnational-völkischen Milieu konnte ungeachtet solcher Erfahrungen zu einem Politisierungsschub führen – individuell wie kollektiv. Die erwähnte Karoline Kreuter-Gallé trat nach ihrer Tätigkeit als freiwillige Pflegerin 1916 etwa als erste Frau in die Hauptleitung des in der Steiermark einflussreichen völkisch-anti­ semitischen und rassistischen »Verein Südmark« ein, was den Beginn ihrer  – nach völkischen Gesichtspunkten »erfolgreichen«  – politischen Karriere im deutschnationalen Milieu markierte. Und der an den Beginn des vorliegenden Beitrags gestellte Protestbrief wiederum kam wohl auch deshalb zustande, weil sich mehrere konservative, bürgerliche, deutschnational-völkische, und teils antisemitische steirische und Grazer Frauenvereine Mitte Februar 1916 zu einem Dachverband deutschnationaler Frauenorganisationen zusammengeschlossen hatten. Der dabei entstandene »Deut-

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sche Frauenbund Steiermarks« sollte sich in der Folge überregional als wichtiges Netzwerk deutschnationaler Frauenvereine etablieren.123 Die skizzierten Prozesse zeigen, dass konservative und nationalistische Aktivistinnen den zutiefst vergeschlechtlichten Diskurs der (freiwilligen) Kriegsfürsorge dazu nutzten, um spezifische Formen von »weiblicher Staatsbürgerschaft« zu entwickeln. Als Protagonistinnen eines politischen Milieus, indem die Vorstellung von »politikunfähigen« Frauen stark präsent war, beanspruchten sie dabei keine gleichberechtigten Positionen oder eine formalrechtliche Gleichstellung. Vielmehr leiteten sie analog zu männlicher Staatsbürgerschaft, welche diskursiv auf der »Verteidigung der Nation« basierte, eine Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen von einem »Heldentum der Liebe« ab. Wie die genannten Prozesse belegen, war die freiwillige Kriegsfürsorge somit keineswegs nur altruistisch oder gar pazifistisch. Dahingegen waren – wie nicht zuletzt das hier untersuchte Engagement konservativer und völkischer Akteurinnen zeigt  – höchst unterschiedliche und vergeschlechtlichte politische und individuelle Ziele in Kriegsfürsorgepolitiken und auch die freiwillige Verwundetenpflege eingeschrieben.

123 Zu den Homogenisierungstendenzen in den Netzwerken steirischer Frauenvereine vgl. Zettelbauer, Heidrun  : Antisemitismus und Deutschnationalismus. Von Prozessen der Ausdifferenzierung zu Strategien der Homogenisierung am Beispiel deutschnational-völkischer Frauenvereine, in  : Halbrainer, Heimo/Lamprecht, Gerald/Mindler, Ursula (Hg.)  : NS-Herrschaft in der Steiermark. Positionen und Diskurse, Wien-Köln-Weimar 2012, 63–88.

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»Galizianer-Juden« »Ostjüdische« Flüchtlinge in der Region Aichfeld-Murboden Der noch in den ersten Wochen und Monaten des Jahres 1914 von den lokalen Zeitungen der Region Aichfeld-Murboden als »Erlösung«, als »lange ersehnter Befreiungsschlag« gefeierte »heilige Krieg« strahlte bald weit ins Hinterland aus. Bereits im September desselben Jahres erschienen in den Lokalzeitungen die ersten Meldungen über verwundete und gefallene Soldaten. Die bald wöchentlich abgedruckten Listen der Verwundeten und Toten aus dem Bezirk Judenburg wurden im Verlauf des Krieges immer umfangreicher, füllten bis Kriegsende mitunter mehrere Zeitungsspalten. Allgegenwärtig war in der mit reichlich nationalistischem Pathos unterlegten Berichterstattung der »Heldentod«. »Zur großen Armee eingerückt« oder »auf dem Feld der Ehre gefallen« lautete die Phraseologie, mit der sich die Barbarei den Anschein eines ritterlichen Kräftemessens gab und den Menschen abseits der Kriegsschauplätze den Eindruck zu vermitteln versuchte, dass Krieg eine helden- und ehrenhafte Sache sei. Neben der bereits zu Jahresbeginn 1915 spürbaren Verschlechterung der Versorgungslage waren es vor allem die in eilig errichteten Behelfsspitälern und Genesungsheimen untergebrachten verwundeten Soldaten, aber auch die im Kriegsgefangenenlager Knittelfeld festgehaltenen russischen Soldaten und die aus den umkämpften Gebieten in den östlichen Provinzen der Monarchie geflohenen Menschen, die den Krieg und seine Folgen weit abseits der Fronten sichtbar machten. Der wechselnde Frontverlauf des Ersten Weltkrieges trieb hunderttausende Juden und Jüdinnen aus Galizien und der Bukowina in den Westen, hauptsächlich nach Böhmen und Mähren, eine beträchtliche Anzahl aber auch nach Wien, nach Graz, aber auch in steirische Provinzorte wie Judenburg und Knittelfeld. Ungebetene, durch ihr äußeres Erscheinungsbild fremdartig empfundene Gäste, als Juden und als Flüchtlinge doppelt stigmatisiert, zudem belastet von jahrhundertealten, in krisenhaften Zeiten immer wieder politisch instrumentalisierten Vorurteilen und Feindbildern. Sie seien, bemerkt der Journalist und Romancier Joseph Roth in seinem 1927 erschienenen Essay »Juden auf Wanderschaft« im Wissen um den allenthalben grassierenden Antisemitismus, »gewiß nicht gekommen, um die Pest zu verbreiten und die Schrecken des Krieges […]. Sie sind von der Gastfreundschaft der Westeuropäer noch weniger entzückt gewesen als diese von dem Besuch der geschmähten Gäste.«1

1 Roth, Joseph  : Juden auf Wanderschaft, Köln 1985, 16.

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»Luftmenschen« Wer waren diese »ostjüdischen« Flüchtlinge und woher kamen sie  ? »Die Ostjuden gehen meist nur als Bettler und Hausierer über Land«, sie »haben nirgends eine Heimat, aber Gräber auf jedem Friedhof« notiert Joseph Roth.2 Mit den Mitteln der Sozialreportage schildert Roth fernab der späterhin auch literarisch reichlich verwerteten Schtetl-Romantik das von Armut und Elend, von bedrückender geistiger und religiöser Enge geprägte Leben im Schtetl, der traditionellen Siedlungsform der jüdischen Bevölkerung Osteuropas. Joseph Roth wusste, wovon er sprach, denn er stammte selbst aus Galizien, dem Armenhaus der Habsburgermonarchie.3 Die Juden Osteuropas leben in schmutzigen Straßen, in verfallenen Häusern […]. Der christliche Nachbar bedroht sie. Der Herr schlägt sie. Der Beamte läßt sie einsperren. Der Offizier schießt auf sie, ohne bestraft zu werden […]. In dunklen Chedern4 werden sie erzogen. Die schmerzliche Aussichtslosigkeit des jüdischen Gebets lernen sie im frühesten Kindesalter kennen  ; den leidenschaftlichen Kampf mit einem Gott, der mehr straft, als er liebt, und der einen Genuß wie eine Sünde ankreidet.5

Als Joseph Roth diese Zeilen niederschrieb, hatte der Begriff »Ostjude« bereits einen grundlegenden Bedeutungswandel erfahren. Entstanden Ende des 19.  Jahrhunderts, bezeichnete er zunächst allgemein die aus dem östlichen Europa in die westeuropäischen Metropolen zugewanderten Jüdinnen und Juden, die, vermeintlich rückständig und an vormodernen Traditionen festhaltend, gleichsam das Gegenbild des modernen, akkulturierten, ins Bürgertum aufgestiegenen Judentums darstellten. Für die antisemitische Bewegung waren die »Ostjuden« der Inbegriff für die kollektive, mehr und mehr rassisch begründete Andersartigkeit des Judentums, die »selbst durch Assimila-

2 Ebd., 12, 14. 3 Zu Joseph Roths Kindheit und Jugend in Brody, dem unweit der russischen Grenze gelegenen wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum Ostgaliziens mit seinem besonderen ethnischen und topographischen Gepräge vgl. Bronsen, David  : Joseph Roth. Eine Biographie, Köln 1974, 43–101  ; Magris, Claudio  : Weit von wo. Verlorene Welt des Ostjudentums, Wien 1974, sowie die von Christian Brandstätter herausgegebene illustrierte Ausgabe von Roths »Juden auf Wanderschaft«, Wien-München 2010. 4 Cheder, das hebräische Wort für Zimmer, bezeichnet die traditionelle, religiös geprägte Schule, wie sie im osteuropäischen Judentum bis zum Holocaust üblich war. Im Schtetl wurde großer Wert auf die Erziehung und Ausbildung der Kinder gelegt. Gelehrt wurde nach der so genannten Cheder-Methode, d. h. ständige Beschäftigung mit der Thora und ihren Kommentaren sowie die Einprägung des Gebetskanons. Der Unterricht beschränkte sich in der Regel auf das Lesen und Schreiben des Hebräischen sowie auf das Auswendiglernen einiger Gebete. Weltliches Wissen wurde kaum vermittelt. Vgl. dazu  : Sperber, Manès  : Die Wasserträger Gottes. All das Vergangene…, München 1978, 21  ; Schoeps, Julius H.: Proste und Schejne, in  : Die Presse, 19.7.1997, III–IV. 5 Roth, Juden (1985), 11, 12.

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tionsbestrebungen nicht abzuschütteln sei.«6 Im Verlauf des Ersten Weltkrieges erfuhren derartige Vorstellungen von den Juden Galiziens eine deutliche Zuspitzung und Radikalisierung. Das nördlich an den Karpatenbogen anschließende Galizien mit der Hauptstadt Lemberg/L`viv/Lwów bzw. bis 1918 ein Kronland der österreichisch-ungarischen Monarchie, wurde im Verlauf der ersten Teilung Polens im Jahr 1772 von Österreich annektiert. Das österreichische Galizien reichte weit nach Westen über die heutige Ukraine hinaus. Offiziell lautete der Name des Kronlandes »Königreich Galizien und Lodomerien mit dem Großherzogtum Krakau und den Herzogtümern Auschwitz und Zator«. Mit der Angliederung Galiziens hatte das Habsburgerreich ein Kronland erhalten, das während des gesamten 19. Jahrhunderts hindurch ein Zentrum der jüdischen Bevölkerung in Österreich-Ungarn bleiben sollte. Ende des 19.  Jahrhunderts betrug ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung etwas mehr als 10 %.7 Das Staatsgrundgesetz von 1867, das unter anderem auch die Glaubens- und Gewissensfreiheit, zudem die freie Wahl des Wohn- und Arbeitsortes in allen Gebieten der Monarchie zusicherte, hatte die Juden zwar zu gleichberechtigten Staatsbürgern erklärt, doch lebte die Mehrzahl der jüdischen Bevölkerung Galiziens trotz der verbesserten rechtlichen Stellung weiterhin in Armut. Ihren kargen Lebensunterhalt verdienten sie sich, wie erwähnt, als Bettler, Hausierer und Gelegenheitsarbeiter, als Pfandleiher, Kleinhändler und Krämer, Handwerker und Schankpächter.8 »Unsere Stadt«, erinnert sich der in Brody an der Nordostgrenze des Habsburgerreiches aufgewachsene Joseph Roth, »war arm. Ihre Einwohner hatten kein geregeltes Einkommen, sie lebten von Wundern. Es gab viele, die sich mit nichts beschäftigten. Sie machten Schulden. Bei wem aber liehen sie  ? Auch die Geldverleiher hatten kein Geld. Man lebte von guten Gelegenheiten.«9 Galizien, das gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu den wirtschaftlich rückständigsten Regionen der Habsburgermonarchie gehörte, wurde zur Heimat der ärmsten jüdischen Bevölkerung Osteuropas. Nach einer aus dem Jahre 1910 stammenden Untersuchung führte in diesem Armenhaus des Vielvölkerstaates die Hälfte der 800.000 Juden und Jüdinnen des Kronlandes ein Leben ohne Einkommen und soziale Sicherheit.10 Eine   6 Saß, Anne-Christin  : Ostjuden, in  : Diner, Dan (Hg.), Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Bd. 4, 459–464, hier 461.   7 Rosenfeld, Max  : Die jüdische Bevölkerung Galiziens 1867–1910, in  : Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden, Jg. 11 (1915), 96–105, hier 96, Jg. 12 (1916), 16–22, hier 16  ; Rosenfeld, Max  : Galizien, in  : Neue Jüdische Monatshefte, Jg. 2 (1918), 195.   8 Vgl. Margulies, Heinrich  : Die Juden in der galizischen Wirtschaft, in  : Neue Jüdische Monatshefte, Jg. 2 (1918), 215.   9 Roth, Joseph  : Erdbeeren, in  : Hackert, Fritz (Hg.)  : Joseph Roth Werke, Bd. 4, Stuttgart-München 1989, 1030. 10 Dazu und zu den armseligen Lebensbedingungen der Schtetl-Bewohner vgl. Pollack, Martin  : Galizien. Eine Reise durch die verschwundene Welt Ostgaliziens und der Bukowina, Frankfurt/Main-Leipzig 2001, 24  ; Shanes, Joshua  : Die Genese einer Nation  : Das galizische Judentum unter österreichischer Herrschaft 1772 bis 1918, in  : Purchla, Jacek et al. (Hg.)  : Mythos Galizien, Wien 2015, 153–159.

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der Ursachen dieser prekären Lebensbedingungen war ein »anhaltendes, überproportionales Bevölkerungswachstum, das von den traditionell-jüdischen Erwerbssparten wie Handel, Handwerk und Geldverleih nicht mehr absorbiert werden konnte.«11 Die Folge  : Die meisten Juden fristeten als Kleinhändler, Tagwerker und als Hausierer ohne geregeltes Einkommen ein kümmerliches Dasein. »Luftmenschen« oder »Luftexistenzen«12 nannten sich die galizischen Juden mit jener Selbstironie, »auf die sie schwerer verzichten hätten können als auf ihre kärgliche Nahrung oder ihre schäbige Kleidung […]. Sich kaum je wirklich satt zu essen«, erinnert sich der aus einer chassidischen Rabbinerfamilie stammende Schriftsteller und Philosoph Manès Sperber an seine Kinderjahre in Zablotow/Zabłotów/Sabolotiw am östlichen Rand der Habsburgermonarchie, »war das Schicksal der meisten […]. Es gab Männer, die fasteten nicht nur an den zahlreichen Fasttagen, sondern überdies jeden Montag und Donnerstag, damit auch die Kinder oder die Enkel etwas mehr zu essen hätten […]. Bis spät in den kalten Herbst gingen die Kinder barfuß  ; im Winter mußten häufig ein oder zwei Paar Stiefel für die ganze Familie reichen.«13 »Hungerkünstler sind es«, bemerkt die Frauenrechtlerin und Sozialarbeiterin Bertha Pappenheim nach ihrer mehrmonatigen Reise durch Galizien, Hungerkünstler, »deren Bedürfnislosigkeit die einfachsten Existenzbedingungen so sehr herabgedrückt hat, daß bei den meisten ein Zustand dauernder Unterernährung herrscht.« Für den durch Bildung und Kultur verfeinerten Menschen in den urbanen Zentren des Westens wäre »ein Aufenthalt unter den dort landläufigen Bedingungen gleich dem in einer Folterkammer, die zur Verletzung aller unserer Sinne und Empfindungen eingerichtet ist.«14

Emigration in den Westen Die drückenden Existenzbedingungen und die grassierende Judenfeindschaft lösten in den 1880er-Jahren eine breite Wanderungsbewegung unter der pauperisierten Masse 11 Meyer, Almut  : »…der Osten Europas schüttet sie aus…«. Zur Migration osteuropäischer Juden bis zu Beginn des Ersten Weltkriegs, in  : Kohlbauer-Fritz, Gabriele (Hg.)  : Zwischen Ost und West. Galizische Juden und Wien, Wien 2000, 21–31, hier 23. 12 Den Ausdruck »Luftmensch« für die subproletarischen Gesellschaftsschichten Osteuropas prägte der Kulturkritiker des Fin de siècle Max Nordau (1849–1923)  ; vgl. dazu  : Häusler, Wolfgang  : Das galizische Judentum in der Habsburgermonarchie. Im Lichte der zeitgenössischen Publizistik und Reiseliteratur von 1772–1848 (Österreich Archiv), Wien 1979, 36  ; Neumark, D.: Das galizische Judenelend, in  : Jüdisches Volksblatt, Heft 3, 3.3.1899, 2  ; Krassnitzer, Michael  : Heimat nirgendwo, Gräber überall, in  : Die Furche, 16.11.2000 sowie die eindringliche Reise- und Sozialreportage des Publizisten und Rechtsanwaltes Saul Raphael Landau, Unter jüdischen Proletariern. Reiseschilderungen aus Ostgalizien und Russland, Wien 1898. 13 Sperber, Wasserträger (1978), 21–22. 14 Pappenheim, Bertha/Rabinowitsch, Sara  : Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse, Frankfurt/Main 1904, 27–28.

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aus. Ziel waren die städtischen Zentren im Westen der Monarchie. Diese jüdische Emigrationswelle wurde gleichsam zu einem Ventil, um der wirtschaftlichen Not und dem nicht minder lebensbedrohlichen Antisemitismus, der sich 1898 im Westteil Galiziens in mehreren Pogromen entlud, zu entkommen. Mehr als 280.000 Juden und Jüdinnen emigrierten zwischen 1881 und 1910 aus der österreichisch-ungarischen Monarchie in die Vereinigten Staaten. Mehr als 80 % davon stammten aus Galizien.15 Nicht nur Amerika, auch die städtischen Metropolen im Westen der Monarchie, insbesondere die Kaiserstadt Wien als prosperierendes Wirtschafts- und Industriezentrum, versprachen ein Leben ohne soziale Not und Diskriminierung, versprachen wirtschaftliche und kulturelle Aufstiegsmöglichkeiten, zumindest aber die Chance, das armselige Schtetl und seine geistige Enge hinter sich zu lassen. Jahrzehnte vor der großen Fluchtbewegung zu Beginn des Ersten Weltkrieges gelangten so zehntausende Juden und Jüdinnen aus den Elendsgebieten am östlichen Rand der Monarchie in den Westen. Wien und der Westen waren für viele dieser »Luftmenschen« das Tor zur Welt, der Ort, wo sich alle Wünsche und Hoffnungen erfüllen sollten. Die Lebenswirklichkeit der meisten dieser Zuwanderer hatte sich aber auch in Wien und in den Städten der westlichen Provinzen, wo sie ungleich günstigere wirtschaftliche Rahmenbedingungen vorfanden, kaum gebessert. Von wenigen Ausnahmen abgesehen bildeten sie auch hier durchwegs den ärmsten Teil der Bevölkerung.16 Diese breit angelegte Migrationsbewegung betraf die Region Aichfeld-Murboden freilich nur am Rande. Die wenigen erhaltenen Schriftquellen17  – und das sollte im Folgenden immer wieder berücksichtigt werden – überliefern uns allenfalls Bruchstücke individueller Biografien, gleichsam biografische Splitter, zumeist zu wenig, um eine auch nur annähernd geschlossene Erzählung dieses jahrzehntelang kaum beachteten Kapitels der regionalen Geschichte präsentieren zu können. Es sind deshalb auch nur wenige authentische Spuren, die uns vom Aufenthalt und von den Lebensbedingungen dieser Menschen in den städtischen Zentren der Region, Knittelfeld und Judenburg, berichten. Besser unterrichtet sind wir von den Anfeindungen, denen sie ausgesetzt waren, und von den durch Wort und Schrift verbreiteten, tief im Alltagswissen verankerten Vorurteilen und Verdächtigungen, die ihr Flüchtlingsschicksal zusätzlich erschwerten. Zu diesen vagabundierenden Außenseitern, zu diesen sich mehr schlecht als recht durchs Leben schlagenden »Luftmenschen« und »Hungerexistenzen«, die in erster Linie der wirtschaftlichen Not, den katastrophalen hygienischen und nicht selten den 15 Vgl. Hödl, Klaus  : Vom Schtetl an die Lower East Side. Galizische Juden in New York, Wien 1991, 35. 16 Kohlbauer-Fritz, Gabriele  : Jiddische Subkultur in Wien, in  : Bettelheim, Peter/Ley, Michael (Hg.), Ist jetzt hier die »wahre« Heimat  ? Ostjüdische Einwanderung nach Wien, Wien 1993, 89–115, hier 93. 17 Von den wenigen Schriftquellen seien hier angeführt  : Parteienmeldeprotokolle der Stadt Judenburg (1881–1923), 6 Bde., Stadtamtsarchiv Judenburg  ; Meldekartei der Stadt Judenburg im Meldeamt Judenburg (1923–1938)  ; Meldebücher der Stadt Knittelfeld (1880–1919), 16 Bde., Stadtarchiv Knittelfeld  ; Meldekartei der Stadtgemeinde Knittelfeld (ca. 1930–1965), Stadtarchiv Knittelfeld.

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durch christliche Judenfeindschaft bedrohten Lebensbedingungen des osteuropäischen Schtetl zu entkommen suchten und deren Spuren sich für kurze Zeit, oftmals nur für wenige Monate, in der Region Aichfeld-Murboden verfolgen lassen, zählten etwa die Bücherausträger Juda Hölzer, David Sobel, Heinrich Redisch, Jacob Barth, Siegfried Eisenberg, Elias Finkel, Leonhard Auerbach, Chaim Friedler, Osias Horn, ­Julius Chaimovicz, Norbert Halpern, Gustav Hauser, Salomon Hulles, Isak Lempel, Adolf Nimhauser, Moritz Sternhell, Julius Höker, Oskar Wachs, Moritz Stern, Hersch Löwy, Max Lermann und Eduard Schiffmann. Ebenfalls aus Galizien kamen um die Jahrhundertwende die Handelsgehilfen Salomon Horawitz, Josef Isaak Opisdorf und Moritz Koppel, die Hilfsarbeiter Isidor Herzel, Samuel Hescheles, Moses Kreps und Moses Winter, der Bahnbeamte Adolf Altschüler, der Damenschneider Hermann Langsam, der Kleiderhändler Samuel Metzger und der Magazineur Bernhard Rubinstein, die Hausierer Josef Perl, Naftalj Sandig, Moritz Brecher, Moses Brodfeld, Moses Peller, Saul Friedmann, Hermann Popper, Moses, Osias und Chaim Fischbach, Josef und David Joel Taub, Gedalin Laster, die Brüder Israel und Moses Nussbaum, Samuel Roth sowie die Hausiererin Zenta Wirth. Der in den Meldebüchern, der oftmals einzig erhaltenen schriftlichen Quelle, auffallend häufig genannte Beruf des »Bücherausträgers« wird ebenso wie der des »Handelsmannes«, des »Commis« oder des »Marktfieranten« und »Reisenden« durchwegs als Synonym für den Hausierer, den vazierenden jüdischen Händler, zu lesen sein. Denn das Betätigungsfeld des Bücherausträgers, des »Colporteurs«, »Expeditors«, »Bücher-Expeditors«, »Buchhandlungsgehilfen«, »Bücher-Agenten« und »-Zustellers«, mitunter des »Bücher-Reisenden« – um nur einige wenige Namensvarianten anzuführen – mochte zwar in der Welt des Schtetl mit seiner traditionellen Wertschätzung von Buch und religiöser Bildung zu einer bescheidenen Existenz reichen  ; im behäbigen katholisch-bürgerlichen Milieu einer kleinstädtischen Region, in dem noch bis weit ins 19. Jahrhundert Lesen außerhalb des fast ausschließlich durch Pfarrbüchereien und deutschnationale Lesezirkel bestimmten, der Anti-Moderne verpflichteten LiteraturKanons als verdächtig galt, hatte der Kolporteur von Bildern und Druckschriften kaum materielle Überlebenschancen.18 Nur wenigen dieser ihre Kunden von Tür zu Tür aufsuchenden Hausierer und Kleinhändler gelang es, sich und ihrer Familie im traditionellen, noch weithin vom Zunftgeist geprägten wirtschaftlichen Gefüge einer Kleinstadt wie Judenburg oder Knittelfeld eine dauerhafte Existenz zu sichern. Erschwerend und für die Mehrzahl eine wohl unüberwindbare Hürde dürfte der Umstand gewesen sein, dass der Hausierhandel im bürgerlichen Wirtschaftsdenken als »typisch jüdisch« und der eigenen christlichen 18 Vgl. Schiestl, Michael  : Geduldet, verfemt und vertrieben. Historische Skizzen zur Geschichte der Juden in der Region Aichfeld-Murboden, in  : Berichte des Museumsvereines Judenburg, Jg. 41 (2008), 8–9  ; vgl. dazu auch  : Neumark, D.: Das galizische Judenelend, in  : Jüdisches Volksblatt, Heft 1, 18.2.1899, 2–3, und 3.3.1899, 2.

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Wirtschaftstradition als fremd galt. Zudem war der in christlich-antijüdischer Tradition mit »Schacher« und »Wucher« konnotierte Hausierhandel stets mit dem Makel des Unstatthaften, des gemeinhin Verbotenen behaftet. Fremd war aber nicht nur der Beruf, fremd waren oftmals auch die Menschen, die durch die existenzbedrohende Judenfeindschaft, durch die wirtschaftliche Not, späterhin auch durch die Zerstörungen des Krieges in den Westen getrieben wurden. Anders als ihre weitgehend akkulturierten Glaubensgenossinnen und -genossen aus Böhmen und Westungarn, den beiden Hauptherkunftsgebieten der jüdischen Bevölkerung in Knittelfeld und Judenburg, unterschieden sich die galizischen Juden und Jüdinnen im Aussehen, d. h. in erster Linie in Kleidung und Haartracht, aber auch in ihrer Sprache, ihren Bräuchen und religiösen Gewohnheiten, deutlich und vor allem sichtbar von der übrigen Bevölkerung. Dies mochte auch für die kurz vor dem Ersten Weltkrieg aus Buczacz/Butschatsch in Galizien nach Judenburg zugezogenen Hausierer Hermann und Hilda Brenner, aber auch für den Bücherausträger David Simon Dachinger und den Hausierer Moses Brodfeld gelten, die beide aus Borysław/Boryslaw im Bezirk Drohobycz/Drohobytsch stammten. Aus dem selben Ort kam um 1900 auch der Kolporteur und Kaufmann Norbert Halpern nach Judenburg, der gemeinsam mit seiner ebenfalls aus Borysław stammenden Frau Chana-Anna, einer geborenen Brodfeld, ab 1910 einen Gemischtwarenhandel in der Herrengasse 8 betrieb. Die Kaufmannsfamilie Dachinger lebte bis 1938, bis zur Enteignung und Vertreibung durch die Nationalsozialisten, in Judenburg. Gemeinsam mit den Anfang der 1860er-Jahre aus dem Bezirk Tábor in Böhmen zugezogenen Kaufleuten Wilhelm Gottlieb und Adolf Posamentier sowie dem aus Ungarn stammenden Geschäftsmann David Weiss gehörte David Simon Dachinger zur Gründergeneration der israelitischen Kultusinstitution Judenburg.19 Aus der Bezirksstadt Brody an der Grenze zu Russland kam der israelitische Religionslehrer Leo Fränkel, der, allerdings nur für kurze Zeit, in Judenburg die Stelle des nach Vorarlberg weggezogenen Lehrers Ignaz Hauser, des nachmaligen Rabbiners der Klagenfurter Kultusgemeinde, übernahm. Der in der Bezirksstadt Dobromil/Dobromyl südlich von Przemyśl/Peremyšl geborene Hausierer und Schnittwarenhändler Samuel Metzger, der Sohn des Schächters Abraham Metzger und dessen Frau Rifka, ließ sich um die Jahrhundertwende in Judenburg nieder und heiratete hier im Jahr 1904 Feige Brodfeld, die aus demselben Ort wie ihr Mann stammte. Samson Kiesel und sein Zwillingsbruder Simon, die beide 1908 als Hausierer nach Judenburg gekommen waren und in der Kaserngasse 33 eine Gemischtwarenhandlung eröffneten, wurden 1876 in Mostyska/Mościska östlich von Przemyśl geboren. Charlotte Kiesel, die Ehefrau Samsons, die ledig Wagmann hieß, stammte aus dem Bezirk Drohobycz. Aus Alt-Sandec/Stary Sącz südöstlich von Krakau/Kraków in Galizien stammten die seit 1918 in Judenburg lebenden Kaufleute Josef und Oskar Rößler. Josef Rößlers Ehefrau Elsa, die Tochter der Hausierer Hermann und Hilda Brenner, kam wie ihre Eltern aus 19 Vgl. Schiestl, Geduldet (2008), 20.

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Buczacz östlich von Stanislau/Stanislawów/Stanislawiw (heute Iwano-Frankiwsk). Aus Sądowa-Wisznia westlich von Lemberg/L`viv/Lwów bzw. aus Krzywcza bei Przemyśl in Galizien stammten der seit 1907 in Judenburg lebende Kaufmann Josef Isaak Opisdorf (auch Apisdorf), der im Jahr 1923 seinen Namen in Teicher änderte, und seine Frau Lotte, die Tochter des Hausierers und Fellhändlers Moses Peller.20 Josef Teicher führte bis 1938 ein für kleinstädtische Verhältnisse überaus mondänes, weit über die Region hinaus bekanntes Modehaus in der Kaserngasse. Zu den als Hausierer und ambulante Händler aus den östlichen, von Karl Emil Franzos despektierlich als »Halb-Asien« genannten Provinzen zugezogenen, schließlich in den bürgerlichen Handelstand aufgestiegenen Juden in Knittelfeld gehörte neben Moritz Koppel, Salo Reinert und den Brüdern Max und Leo Bibring der Kaufmann Abraham Bauernfreund. Er kam als Hausierer aus Tarnau/Tarnów zuerst nach Wien. Kurz nach 1890 zog er weiter nach Knittelfeld, wo er in der Bahnstraße am so genannten Stadthügel eine Gemischtwarenhandlung von den aus Mähren stammenden jüdischen Kaufleuten Katharina und Hugo Grünhut übernahm. Sein in Wien geborener Sohn Norbert Bauernfreund, der spätere Obmann des Knittelfelder Fußballvereines Red Star, eröffnete im Jahr 1925 in dem seinem elterlichen Geschäft benachbarten Haus am Stadthügel ein Textil- und Schuhgeschäft, dem auch eine Möbelhandlung angeschlossen war.21 Max und Leo Bibring zogen kurz nach 1890 von Stanislau nach Klagenfurt und von hier weiter nach Knittelfeld, wo sie 1895 in der Bahnstraße einen als »Wiener Bazar« bezeichneten Gemischtwarenhandel mit einem umfassenden Warenangebot und vergleichsweise niedrigen Preisen eröffneten. Die beiden Brüder betrieben – durchaus ein Novum im damaligen Wirtschaftsleben – auch Filialen in Fohnsdorf und Zeltweg.

Jüdische Kriegsflüchtlinge in der Region Aichfeld-Murboden Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges und das rasche Vordringen russischer Truppen in Galizien und der Bukowina im Sommer und Herbst 1914 setzten erneut gewaltige Massen »ostjüdischer« Flüchtlinge in Bewegung. Bereits Anfang 1915 war ein Großteil der Bukowina unter russischer Herrschaft. Die mit dem Kriegsverlauf einhergehenden Plünderungen und Requirierungen von Gütern und Menschen, die gezielte Zerstörung 20 Hermann und Hilda Brenner, Stadtamtsarchiv Judenburg, Abt. A (ca. 1830–1938), Karton 19, Heft 91  ; David Simon Dachinger, Karton 19, Heft 85  ; Moses Brodfeld, Karton 19, Heft 91  ; Norbert Halpern, Karton 19, Heft 87  ; Leo Fränkel, Karton 19, Heft 92  ; Samuel Metzger, Karton 19, Heft 87  ; Josef, Oskar und Elsa Rößler, Karton 27, Heft 15  ; Josef Teicher, Karton 19, Heft 89  ; Lotte Teicher, Karton 41, Heft 31  ; Samson und Simon Kiesel, Karton 19, Heft 91  ; Feige Brodfeld, Steiermärkisches Landesarchiv (StLA), Judenkataster, Karton 370  ; Charlotte Kiesel, StLA, Judenkataster, Karton 382. 21 Schiestl, Michael  : Geschichte der Knittelfelder Juden, in  : Knittelfeld. Stadtmagazin (Beilage), Juni 2011, 1–4.

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der wirtschaftlichen Existenz der Bevölkerung und die Verwüstung ganzer Ortschaften und Landstriche führten in kürzester Zeit zur sozialen Verelendung der Bevölkerung. Schon während des Rückzuges der österreichisch-ungarischen Armee im Herbst 1914 kam es wiederholt zu systematischen Zerstörungen ganzer Dörfer, um dem vorrückenden Gegner eine »verbrannte Erde« zu hinterlassen. Von den Kriegsflüchtlingen suchten weit über 100.000 Personen alleine in Wien Zuflucht vor der russischen Armee, die bereits wenige Wochen nach Kriegsbeginn weite Teile im Nordosten der Habsburgermonarchie erobert hatte und bis an die Karpaten vorgedrungen war. Die jüdische Bevölkerung Wiens stieg sprunghaft um die Hälfte an, eine Entwicklung, die vor allem nach Kriegsende heftige politische Kontroversen über die »ostjüdischen« Flüchtlinge auslöste, die für alle Folgen des verlorenen Krieges – für die wirtschaftliche Notlage, für die als bedrohlich empfundenen sozialen und politischen Umwälzungen – verantwortlich gemacht wurden.22 Angesichts dieser dramatischen Entwicklung war auch das Kronland Steiermark verpflichtet worden, eine gewisse Anzahl von Flüchtlingen zu beherbergen.23 Nach Graz kamen 1.20024, nach Knittelfeld kamen etwa 800, eine geringere Anzahl jüdischer Flüchtlinge, knapp 300 Personen, wurden in der Stadt und in der Umgebung von Judenburg untergebracht, wo sie von Mitgliedern der Schutzwehr »nach vorheriger ärztlicher Untersuchung in die bereitstehenden Wohnungen geleitet« wurden. »Von ihrer Habe konnten die meisten nur das Notwendigste mitnehmen, während ein Teil Einrichtungsstücke, ja selbst Haustiere mit auf die Flucht nehmen konnte.«25 Ein Großteil der Flüchtlinge wurde in den ehemaligen Betriebsräumen der Pau­ lus’­schen Brauerei in der Heiligengeist-Gasse einquartiert und wie alle Flüchtlinge auf Kosten des Militärärars verpflegt. 80 Männer und Frauen, darunter Flüchtlinge aus Ostpreußen, erhielten eine Unterkunft in Rothenthurm, in St. Peter ob Judenburg und in Weißkirchen (Gasthaus Pliemitscher). Einige Flüchtlinge erhielten im Steirischen Gussstahlwerk in Judenburg, einige fanden auch im Blech- und Eisenwerk »Styria« in Wasendorf Arbeit.26 Im Dezember 1914 wurden Plakate affichiert, die die Bevölkerung der Region aufforderten, für die Flüchtlinge aus Galizien und der Bukowina zu spenden.27 Noch galten die »ostjüdischen« Flüchtlinge als Opfer eines Krieges, den, so der 22 Vgl. Hoffmann-Holter, Beatrix  : »Abreisendmachung«. Jüdische Kriegsflüchtlinge in Wien 1914 bis 1923, Wien-Köln-Weimar 1995, 35. 23 Mandl, Hildegard  : Galizische Flüchtlinge in der Steiermark zu Beginn des ersten Weltkrieges, in  : Zeitschrift des Historischen Vereins für Steiermark, Jg. 77 (1986), 279–294, hier 281. 24 Die galizischen Juden im Exil, in  : Allgemeine Zeitung des Judentums, Heft 22, 28.5.1915, 262–263, hier 262, und Flüchtlingsfürsorge in Oesterreich, in  : Der Israelit 27 (24.6.1915), 2–3, hier 2. 25 Galizische Flüchtlinge, in  : Murtaler Zeitung, 4.10.1914, 4. 26 Galizische Flüchtlinge, in  : Tauernpost, 21.11.1914, 9  ; Von den galizischen Flüchtlingen, in  : ebda., 28.11.1914, 5  ; Die Flüchtlinge aus Galizien, in  : Murtaler Zeitung, 11.10.1914, 4  ; Galizische Flüchtlinge, in  : ebda., 18.10.1914, 5 und 6.12.1914, 5. 27 Stadtamtsarchiv Judenburg, Abt. A (ca. 1830–1938), Karton 91, Heft 4.

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Judenburger Bürgermeister Rudolf von Foest Monshof, die Feinde der Habsburger­ mon­archie und ihren Verbündeten »aus Mißgunst in treuloser und ränkesüchtiger Weise aufgezwungen« hätten.28 In Knittelfeld wurde die Mehrzahl der Flüchtlinge, zumeist galizische Bahnbeamte und Bahnbedienstete, die Anfang Oktober 1914 in der Stadt eintrafen, in Privatwohnungen, eine kleinere, rund 30 Personen zählende Flüchtlingsgruppe galizischer Frauen kurzzeitig im Gasthaus zur »Gobernitzbrücke« einquartiert.29 Die Eisenbahnarbeiter fanden vereinzelt in der Staatsbahnwerkstätte, u. a. als Magazinschreiber, Kesselschmiede, Schlosser, Dreher, Lackierer und Tapezierer, eine Beschäftigung. Die Spuren einiger weniger Flüchtlinge, zumeist nicht mehr als der Name, der Beruf und die Herkunft, finden sich in den Schriftquellen  : der Hilfsarbeiter Moses Korngold, die Taglöhnerin Julie Maicher, die Hausierer Juda Sack, Karl und Regina Taub, die Advokatskandidaten Josef Krym und Roman Dombczewsky, die Hausfrauen Anna Kurz, Elka Penner und Amalia Broder, die Kaufleute Moses Roschner und Salo Reinert, der Gerichtsamtsdiener Jakob Ladenberger, Modelltischler Samuel Blumsky, der aus Złoczów/Solotschiw stammende Kellner Viktor Schwarzl-Turteltaub, das Ehepaar Toni und Moses Buchwald, der Tischler Baruch Leitner, die aus Czernowitz/Tscherniwzi, der Hauptstadt der Bukowina stammenden Handelsreisenden Jakob Heller und Jonas Klein, der Beamte Moses Grünspan, der Schneider Friedel Wetter aus Lemberg/L`viv/ Lwów und der ebenfalls aus dieser Stadt geflohene Bahnbedienstete Jakob Kaspryk, der aus Kolomea/Kolomyja nach Knittelfeld geflohene Bautechniker Nuchim Komet und der aus Brody geflohene Gymnasialprofessor Oskar Graubart  ; ebenfalls aus Brody kamen der Kaufmann Salomon Löwenthal, dessen Frau Elsa und die Kaufleute Fanny Wischnitzer und Lea Landau. Nach der Rückeroberung Galiziens kehrten die meisten in Knittelfeld und in Judenburg einquartierten Flüchtlinge vorerst in ihre Heimat zurück.30 Die Kinder der in der Region verbliebenen galizischen Flüchtlinge erhielten in einer am Judenburger Hauptplatz eingerichteten Schule Unterricht vom Religionslehrer Salomon Ducks.31 Die Frontverschiebungen und die im Verlauf der Kriegshandlungen erfolgten Zerstörungen führten, wie uns die Meldeakten berichten, zu immer neuen Flüchtlingswellen. Die historische Darstellung muss sich aufgrund der oben skizzierten Quellenlage auch hier auf eine Art Spurensuche beschränken  : wiederum nur Namen, allenfalls Herkunftsorte und Geburtsdaten, selten Angaben zum Beruf  ; insgesamt kaum ausreichend, um das Flüchtlingsschicksal dieser Menschen »erzählen« zu können. Im November 1916 kam der Kaufmann Moses Roschner nach Knittelfeld und nahm beim 28 Murtaler Zeitung, 29.8.1914, 5. 29 Galizische Flüchtlinge aus Dänemark, in  : Tauernpost, 5.12.1914, 6. 30 Heimkehr der galizischen Flüchtlinge, in  : Murtaler Zeitung, 18.7.1915, 4  ; Rückkehr der Flüchtlinge nach Galizien, in  : ebda., 1.8.1915, 6. 31 Polnische Schule, in  : Murtaler Zeitung, 9.5.1915, 5.

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Rabbiner Markus Herzberg in der Herrengasse 6 Quartier. Aus Brody in Galizien floh der Rechtsanwaltskandidat Dr. Wilhelm Freudenheim. Taube Brandstätter, eine Kaufmannsfrau aus Tarnów, kam im Februar 1917 nach Knittelfeld, gleichzeitig mit R ­ achel Drack aus Kolomea. Ebenfalls aus Kolomea kamen der Privatangestellte Perez Wiesel­ berg und dessen Frau Ida. Aus dem Knittelfelder Lagerspital zog im Juli 1918 der Bahnbedienstete Abraham Safir in die Stadt und nahm im Haus Sandgasse 29 Quartier. Mit seiner Frau Mira kam im Juli 1917 der Gastwirt Jakob Schenker nach Knittelfeld. Deren Sohn Wolf, der sich hier als Hilfsarbeiter verdingte, starb im Jänner 1917. Weitere Flüchtlinge, die nach 1915 nach Knittelfeld kamen  : Gitl Gruber, Sisel Segenreich, Dora Leitner, Regina Schulsinger, die Kaufmannsgattinnen Sara Szeindl-Krieges und Marie Wyel, das Ehepaar Hemma und Felix Süßmann, der Fabriksbeamte Samuel Häusler, die Hausbesitzerswitwe Lea Kohn und der Privatier Abraham Joseles. Die mit den Flüchtlingen befassten steiermärkischen Behörden waren bemüht, den aus ihrer Heimat geflohenen Menschen über das zum Überleben Notwendigste hinaus auch eine angemessene seelsorgerliche Betreuung zukommen zu lassen.32 Mit ­Markus Herzberg, einem vor den Kriegsereignissen geflüchteten Rabbiner aus Kosów/Kossiw in Galizien, stand den Flüchtlingen und wohl auch den im Kriegsgefangenenlager bzw. im Lazarett stationierten jüdischen Soldaten und Ärzten ein eigener Seelsorger zur Seite. Anfang Juli 1916 findet sich dazu ein erster Eintrag in den Meldebüchern der Stadt Knittelfeld. Herzberg wohnte damals mit seiner Frau Feige schon seit geraumer Zeit in der Lobmingerstraße 21. Zuvor war er, wie erwähnt, in der Herrengasse 6 gemeldet. Ende März 1917 zog er nach Lebring. Ob von den Behörden ein Nachfolger Herzbergs für die seelsorgerliche Betreuung eingesetzt wurde, ist nicht überliefert.

Feindbild »Ostjude« Die Einwanderung großer Massen von Kriegsflüchtlingen aus Galizien und der Bukowina in den Jahren 1914 bis 1919, die insbesondere in Wien und Niederösterreich heftige politische Kontroversen auslöste und noch in der Nachkriegszeit eine Flut judenfeindlichen Schrifttums hervorrief, führte auch in der Region Aichfeld-Murboden in der öffentlichen Diskussion zu heftigen antijüdischer Polemiken, in denen das Feindbild »Jude«, speziell das des »Ostjuden«, gleichsam als Sündenbock instrumentalisiert und für mancherlei Schwierigkeiten, die der Kriegsalltag mit sich brachte, verantwortlich gemacht werden konnte. In ihrer Fremdheit waren sie ein exponiertes und beliebtes Angriffsziel, das die ohnedies prekäre Existenz der »ostjüdischen« Flüchtlinge potenzierte. Elend, durch den Kriegsverlauf hoffnungslos, entwurzelt und verstört, wie sie waren, konnten sie bei der nichtjüdischen Bevölkerung auf keinerlei Verständnis oder gar tätige Hilfe hoffen. Ganz im Gegenteil  : Wurde die in weiten Be32 Vgl. Mandl, Flüchtlinge (1986), 292.

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völkerungskreisen tief verwurzelte Judenfeindschaft in der ersten Kriegsphase noch durch Patriotismus und Kriegsbegeisterung überlagert, so brach der Antisemitismus spätestens mit dem Einsetzen der Versorgungskrise und der bald deutlich spürbaren Mangelwirtschaft ungemindert durch. Federführend und Sprachrohr waren dabei in erster Linie die regionalen Zeitungen. Noch zu Kriegsbeginn äußerte die im oberen Murtal weit verbreitete »Murtaler Zeitung« etwa die Ansicht, dass sich durch die in Judenburg und Knittelfeld einquartierten Flüchtlinge aus Galizien und der Bukowina für die heimischen Geschäftsleute »eine nicht zu verachtende Einnahmsquelle« ergebe und appellierte an die Bevölkerung, den heimatlos gewordenen Menschen Gastrecht zu gewähren33. Wenige Monate später war von Gastfreundschaft nicht mehr die Rede und der zunächst freundliche Tonfall wich im Verlauf des Krieges zunehmend gehässigen, zuweilen hasserfüllten Parolen. Über die ca. 120 jüdischen Flüchtlinge, die im Schloss Rothenfels bei Oberwölz einquartiert wurden, wusste der Murauer Bezirkshauptmann in einem Telegramm an das Innenministerium zu berichten, dass sie bereits zu einer »Landplage geworden« seien. Aus Knittelfeld wiederum wurde an die Statthalterei in Graz berichtet, dass es eine »amtsbekannte Tatsache« sei, dass die Flüchtlinge aus Galizien beim Verlassen ihrer Heimat »bedeutende Geldsummen mitgenommen« hätten und damit nun in der Steiermark einen schwunghaften Handel betrieben  ; sie gäben sich als »bemitleidenswerte, hungernde und frierende Flüchtlinge aus«, die allerdings »kein Mitleid« verdienten.34 Nicht das Flüchtlingsschicksal und die damit verbundenen Leiden, Entbehrungen und die vielfachen Demütigungen fanden Eingang in die Berichterstattung  ; die »Ostjuden« wurden zumeist nicht als Opfer, sondern als Gewinner, ja sogar als Urheber der durch Krieg und Zerstörung verursachten Versorgungsprobleme hingestellt. Durchwegs werden sie in den von Schwarzhandel, von Betrug und betrügerischen Geschäften berichtenden Zeitungen durch die ausdrückliche Nennung ihrer Konfession aus dem Heer der Protagonisten und Profiteure einer sich epidemisch ausbreitenden Schattenwirtschaft besonders hervorgehoben. Als »Schieber«, »Hamster« und »Schleichhändler« erscheinen sie in der antisemitischen Polemik stets als diejenigen, die im Gegensatz zu dem von der wirtschaftlichen Krise besonders betroffenen Klein- und mittleren Gewerbe von den sozialen und wirtschaftlichen Missständen und Übeln profitieren.35 Die deutschnationale und christlichsoziale politische Propaganda prägte überdies den Begriff der »Verostjudung« des Geschäftslebens. Mit diesem Schlagwort sollte den jahrhundertelang bewährten »christlich-deutschen«, noch weithin zünftischen Prinzi33 Flüchtlinge aus Galizien, in  : Murtaler Zeitung, 20.09.1914, 5  ; Galizische Flüchtlinge als Arbeiter, in  : ebda., 17.1.1915, 6. 34 Zit. nach Moll, Martin  : Die Steiermark im Ersten Weltkrieg. Der Kampf des Hinterlandes ums Überleben 1914–1918 (Veröffentlichungen der Historischen Landeskommission für Steiermark 43), Graz 2014, 74. 35 Vgl. Pappendeckelschuhe für das Knittelfelder Lager, in  : Murtaler Zeitung, 21.4.1917, 4  ; Festnahme von Schleichhändlern mit Tabak, in  : ebda., 13.4.1918, 4  ; Beschlagnahmt, in  : ebda., 22.3.1919, 3–4  ; Galizianer-Juden, in  : ebda., 4.10.1919, 3  ; Ein neues Preistreibereigesetz, in  : ebda., 18.12.1920, 1.

»Galizianer-Juden« 

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pien verpflichteten Wirtschaftstraditionen der zerstörerische »Schacher« und »Wucher« als eine mit dem jüdischen Wesen vermeintlich naturhaft verbundene Wirtschaftsform gegenübergestellt werden.36 Aber nicht nur für die wirtschaftlichen Probleme wurden die »ostjüdischen« Flüchtlinge verantwortlich gemacht, auch für die im nur wenige Wochen nach Kriegsbeginn errichteten Knittelfelder Kriegsgefangenenlager allenthalben auftretenden Infektionskrankheiten37 erscheinen die als »Schmarotzer« und »Parasiten« diffamierten »Ostjuden« gemeinsam mit den russischen Kriegsgefangenen als Verursacher. Nicht anders ist es zu verstehen, wenn die »Murtaler Zeitung« angesichts der stets drohenden Seuchengefahr der Hoffnung Ausdruck gibt, dass »der Zuzug neuer galizischer Flüchtlinge« bald eingestellt werden möge.38 Den Leserinnen und Lesern der regionalen Zeitungen, für breite Bevölkerungsschichten oftmals die einzige Informationsquelle, wurden solcherart Jüdinnen und Juden nicht nur im sozialen, sondern auch im biologischen Sinne als »fremd« dargestellt und abgewertet.

Jüdische Kriegsgefangene und Soldaten Neben den zumeist in Privatquartieren beherbergten, in der Lokalpresse zumeist polemisch »Galizianer-Juden«39 bezeichneten Flüchtlingen waren während des Ersten Weltkrieges auch im Knittelfelder Kriegsgefangenenlager und Lazarett40 zahlreiche jüdische Soldaten, Ärzte und russische Kriegsgefangene jüdischer Konfession untergebracht. Am wenigsten ist uns über die jüdischen Kriegsgefangenen überliefert  : Erwähnt seien etwa Chaim Bliot, der, wie so viele andere russische Kriegsgefangene, als Hilfskraft zumeist für Arbeiten in der Landwirtschaft außerhalb des Lagers eingesetzt wurde, und Moses Goldberg, ein Kaufmann aus Bessarabien am Schwarzen Meer. Aus Bessarabien stammte auch der Infanterist Nachum Lederman  ; schließlich Izko Kramarowsky, ein Schneider aus Kiew und Lipa Schiwa, der im russischen Infanterieregiment Nr. 15 diente. Keiner von den Genannten kehrte nach Russland zurück. Sie starben im Knittelfelder Lager. Im Lagerspital arbeiteten auch einige Ärzte jüdischer Konfession  : die Assistenzärzte Dr. Josef Korngut und Dr. Salomon Schneidmann. Dr. Korngut stammte aus Ungarn und 36 Vgl. etwa Festnahme von Schleichhändlern mit Tabak, in  : Murtaler Zeitung, 13.4.1918, 4  ; Beschlagnahmt, in  : ebda., 22.3.1919, 3 und Galizianer-Juden, in  : ebda., 4.10.1919, 3. 37 Vgl. dazu Jernej, Bettina/Wieser, Alexandra  : Das Lazarett Knittelfeld und die Bedeutung des Ersten Weltkrieges als Motor der medizinischen Entwicklung, in  : Dienes, Gerhard M./Jungmeier, Gundi (Hg.)  : Geschlossene Gesellschaft  ? Die Entwicklung der Knittelfelder Neustadt vom Gefangenenlager zur aufstrebenden Wohngegend, Graz 2009, 76–81. 38 Infektionskrankheiten, in  : Murtaler Zeitung, 14.2.1915, 4. 39 Z. B. Galizianer-Juden, in  : Murtaler Zeitung, 4.10.1919, 3. 40 Zur Geschichte des Lagers vgl. Brenner, Stefan  : Die ersten russischen Kriegsgefangenen in Knittelfeld, in  : Dienes/Jungmeier (Hg.), Geschlossene Gesellschaft  ? (2009), 48–53.

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lebte mit seiner Frau Elisabeth in der Frauengasse 28. Der k. k. Assistenzarzt Dr. Schneidmann stammte aus Galizien und wohnte während seiner Knittelfelder Dienstzeit in der Leobnerstraße 7. Der Lagerarzt Dr.  Hugo Alt kam mit seiner Frau Sidonie aus Wien nach Knittelfeld und war in der Bahnstraße 37 gemeldet. Der k. k. Oberarzt Dr. Jakob Bernstein wohnte mit seiner Frau Ilma in der Judenburgerstraße, der heutigen Kärntnerstraße. Im Jänner 1919 kehrte die Familie Bernstein nach Wien zurück. Unter den im Lager stationierte Soldaten – in der Mehrzahl vermutlich Angehörige des Wach- und Verwaltungspersonals – gehörten der Fähnrich Dr. Josef Czechowicz, der Rechnungs-Unteroffizier Israel Stahl, der k. u. k. Leutnant Josef Tycholit, Samuel Laszover, David Teitelbaum, Jonas Schapira, Emanuel Deutsch, Dr. Stanislaus Schäffer, Josef Schächter, Isak Pfeffer und die Infanteristen Samuel Laszover, Moses Maier, Leo Weizmann, Otto Schulhof, Sigmund Heller, Elias Hawrylischy und Samuel Bari sowie der bei der Lagerbauleitung beschäftigte Infanterist Wolf Liebermann der jüdischen Konfession an. Baruch Linder, ein Bauer aus der Bukowina, diente als Wachmann in den Knittelfelder Werkstätten der k. k. Österreichischen Staatsbahnen. Weiters sollen hier der Oberleutnant Dr. Anton Kolb, der Leutnant Josef Tycholit, der Kadett-Aspirant Leo Weizmann, der Kanzlist Samuel Streicher, der im Lagerkommando beschäftigte Dr. Roman Domczewskyi, Ysak Ginsberg von der Stabskompanie, Gustav Epstein, ein akademischer Maler aus Wien und die Militärmusiker Samuel Günzer und Pinkas Weich Erwähnung finden. Von den Landsturminfanteristen Pinkas Geller und Jakob Weißbrot erhalten wir Kenntnis, weil sie in einen tragischen Unfall verwickelt waren, der sich zu Beginn des Jahres 1915 ereignete und über den die lokale Presse ausführlich berichtete. Pinkas Geller hatte in einem Gasthaus in Judenburg mit einem Revolver hantiert. Dabei löste sich ein Schuss, der Jakob Weißbrot so schwer verwundete, dass er kurze Zeit später im Krankenhaus der Stadt seinen Verletzungen erlag. Geller wurde von einem Militärgericht zu drei Monaten Arrest verurteilt.41 In Knittelfeld und der Region Aichfeld lassen sich nach 1919, ausgenommen freilich die wenigen seit Jahren und Jahrzehnten hier ansässigen jüdischen Händler und Kaufleute, keine galizischen Juden und Jüdinnen mehr nachweisen. Max Gutmann, ein russischer Kriegsgefangener aus Kowel in Wolhynien, im bürgerlichen Beruf Schlosser, ist wohl der einzige unter der Vielzahl jüdischer Kriegsgefangener und -flüchtlinge, der nach Kriegsende in Knittelfeld blieb und sich hier eine bescheidene Existenz aufzubauen vermochte. In den unmittelbaren Nachkriegsjahren arbeitete er beim Handschuhmacher Josef Fischer am Hauptplatz. Anfang der 1920er-Jahre eröffnete er ein Schuh- und Textilwarengeschäft, das er bis 1938, bis zur Zwangsenteignung und Auflösung durch die Nationalsozialisten, in der Bahnstraße betrieb. Über das Schicksal der jüdischen Flüchtlinge und der russischen Gefangenen jüdischen Glaubens, von denen hier nur ein Bruchteil angeführt werden konnte, sind wir 41 Unvorsichtigkeit mit der Feuerwaffe, in  : Murtaler Zeitung, 17.1.1915, 3  ; Militärgericht, in  : ebda., 24.1.1915, 3.

»Galizianer-Juden« 

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allenfalls in der Lage, Vermutungen anzustellen. Sofern sie sich nicht der breiten Emigrationsbewegung nach Amerika anschlossen, dürften die meisten galizischen Kriegsflüchtlinge westliche städtische Zentren wie Prag und Wien, in geringem Ausmaß Graz, ihrer ursprünglichen Heimat vorgezogen haben.

Resümee Versteht man Sprache nicht nur als Mittel zur Verständigung, sondern auch als Seismograph sozialer und politischer Entwicklungen, so lässt sich am Beispiel der Diskussion über die »ostjüdischen« Flüchtlinge in der Region Aichfeld-Murboden die Eingewöhnung in eine weithin von Vorurteilen und Feindbildern geprägte Alltagswelt, insbesondere aber die ideologische Aufrüstung und der Bedeutungswandel des Begriffs »Ostjude« vom Flüchtling, dem man in der ersten Kriegsbegeisterung noch gerne Gastrecht gewährt, zum Feindbild deutlich nachzeichnen. Die mit den »Ostjuden« verbundenen antisemitischen Stereotype waren keineswegs neu und die »ostjüdischen« Flüchtlinge keineswegs die einzigen Feindbilder, deren sich Presse und Pamphletliteratur zur Erklärung der Mangelwirtschaft und der Kriegsnot reichlich zu bedienen wussten. Der jüdische »Schleichhändler« und »Schieber« fand sich in der öffentlichen Diskussion bald in Gesellschaft etwa mit dem »hinterlistigen Italiener«, der »Katzelmacherbrut«, den »verräterischen Slawen« und dem »rumänischen Judas«, über die sich während des Krieges eine Flut von Schmähungen und Herabwürdigungen ergoss.42 Das freilich schon lange vor dem Krieg durch Schrift und mündliche Erzähltraditionen geformte Alltagswissen über Juden und Judentum wurde durch das von antijüdischer Polemik und Propaganda gezeichnete Bild des »ostjüdischen« Flüchtlings gewissermaßen bestätigt und vertieft. »Ostjude«, »Galizier«, »Kriegsgewinnler«, »Schieber«, »Spekulant« und »Wucherer« waren in der mitunter aggressiv und feindselig geführten Kontroverse zu Synonymen geworden. Außerhalb des verbindlichen religiösen und wirtschaftlichen Wertekanons stehend, gehörte der »Ostjude« zu jenen Droh- und Feindbildern, die die politische Kultur nicht nur der Nachkriegszeit, sondern der ganzen Ersten Republik bestimmten.43 Es genügte fortan das beliebig ausgesprochene oder gedruckte Verdikt »ostjüdisch«, um unter Generalverdacht gestellt zu werden. Als im August 1931 Schülerinnen und Schüler eines Wiener Gymnasiums nach Fohnsdorf auf Erholung kamen und hier in vom Ortsschulrat zur Verfügung gestellten Räumen der »Knaben- und Mädchenschule« untergebracht wurden, kritisierte die »Murtaler Zeitung« unter dem 42 Vgl. dazu Schiestl, Michael  : Patriotismus und Barbarei. Judenburg im Ersten Weltkrieg, in  : Berichte des Museumsvereines Judenburg, (2014) Heft 47, 3–45, hier 40–43. 43 Vgl. Spira, Leopold  : Feindbild »Jud«. 100 Jahre politischer Antisemitismus in Österreich, Wien-München 1981, 71–80  ; Pauley, Bruce  : Eine Geschichte des österreichischen Antisemitismus. Von der Ausgrenzung zur Auslöschung, Wien 1993, 109–112.

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Titel »Widerliche Gäste«, dass trotz der angespannten Finanz- und Versorgungslage es die Gemeinde »wohlgenährten Jugendlichen aus Wien, fast durchwegs polnischpalestinischer Abstammung«, ermögliche, »ausgerechnet hier in Fohnsdorf den Sommer zu verbringen.« Es werde, so der hasserfüllte Kommentar, »allgemein darüber geklagt, daß diese Krummnasen, wenn sie Frauen oder Jugendlichen anderer politischer Gesinnung begegnen, diese auf die gemeinste und frechste Art anstänkern. Die notleidende Bevölkerung« solle daher nachdenken, »wie sich die eigene Armut mit der Unterbringung dieser mosaischen Kolonie auf Gemeindekosten« vereinbaren lasse.44

44 Widerliche Gäste, in  : Murtaler Zeitung, 8.8.1931, 3.

Gerald Lamprecht

»Gut und Blut für unseren Kaiser, Gut und Blut für unser Vaterland« Die Grazer jüdische Gemeinde und der Erste Weltkrieg

Der Erste Weltkrieg stellt für die moderne österreichische jüdische Geschichte eine nachhaltige Zäsur dar. Das betrifft die innerjüdischen Entwicklungen ebenso wie die Verortung der jüdischen Bevölkerung innerhalb der christlich und ab 1918 im neuen Nationalstaat Deutschösterreich/Österreich auch hegemonial deutsch verfassten Gesellschaft. In besonderem Maße waren die Jüdinnen und Juden jedoch ab der Mitte des Krieges auch mit einem sich stetig radikalisierenden Antisemitismus konfrontiert. Diese Verschärfung des Antisemitismus, die auch in anderen zentraleuropäischen Gesellschaften zu beobachten ist, steht im Zusammenhang mit den allgemeinen gesellschaftlichen, sozialen und politischen Krisen jener Jahre. In Kombination mit der durch den Zerfall des Habsburgerreiches einsetzenden Erosion tradierter, an die Monarchie und das Herrscherhaus gebundener jüdischer Identitätsnarrative, erlebte die jüdische Bevölkerung Österreichs die Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegsjahre als vielgestaltige Krise. All die genannten Entwicklungen sind auch innerhalb der jüdischen Gemeinde in Graz zu beobachten, wie dies der Jurist und Zionist Robert Sonnenwald, der 1926 zum Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) in Graz gewählt wurde, festhielt  : »Und doch spiegelt sich in dieser kleinen, durch ihre exponierte Lage aber bedeutsamen Gemeinde en miniature die ganze umwälzende Geschichte der westlichen Judenheit im letzten Jahrhundert wider.«1

Burgfrieden – Heldenmut und Patriotismus Als im Sommer 1914 der Erste Weltkrieg begann, waren für die jüdische Bevölkerung die krisenhaften Entwicklungen der kommenden Jahre keineswegs absehbar. Vielmehr sahen viele Jüdinnen und Juden in einer Welle der patriotischen Euphorie nun die Zeit gekommen, ihre unverbrüchliche Loyalität gegenüber der Heimat, dem Vaterland und dem Herrscherhaus unter Beweis stellen zu können. Der Krieg und der Kriegsdienst sollten gleichsam den Prozess der Emanzipation und Verbürgerlichung zu Ende führen und Juden die endgültige Anerkennung als treue Patrioten und Österreicher durch die nichtjüdische Umgebungsgesellschaft bringen. Bestärkt durch und im Vertrauen 1 Sonnenwald, Robert  : Epilog zu den Grazer Kultusratswahlen, in  : Wiener Morgenzeitung, 17.4.1926, 2.

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auf den auch in Österreich vielbeschworenen »Burgfrieden« stellte sich die jüdische Gemeinde von Graz in Wort und Tat ohne Wenn und Aber hinter das Herrscherhaus und die Kriegsziele. Als beispielsweise im Herbst 1914 die erste Kriegsanleihe zur Deckung der enormen Kriegskosten aufgelegt wurde, beschloss der Kultusrat der IKG Graz noch am Vorabend der Ausgabe, diese in einer Höhe von 100.000 Kronen zu zeichnen.2 Dieser hohe Geldbetrag konnte allerdings nur durch eine Belehnung des Eigentums der IKG aufgebracht werden. Eine riskante Vorgehensweise, die man dahingehend rechtfertigte, dass damit eine »patriotische Tat« vollbracht werde.3 Neben der IKG zeichneten auch viele Privatpersonen in den folgenden Jahren die Kriegsanleihen, wozu sie sowohl von der jüdischen Gemeinde als auch in den jüdischen Zeitungen und Zeitschriften regelmäßig aufgefordert wurden. Darüber hinaus beteiligte sich die Leitung der jüdischen Gemeinde auch an zahlreichen patriotischen Kundgebungen, wie beispielsweise an der Enthüllung des »steirischen Landsturmmannes in Eisen« am Bismarckplatz (Eisernes Tor) im Juli 1915.4 Eine Delegation der IKG war unter den Ehrengästen als dieses vom Verein »Grazer Herbstmesse« gestiftete Denkmal zur »Linderung der Not der Witwen und Waisen« enthüllt wurde.5 Landesrabbiner David Herzog, der während der Kriegszeit nicht nur als Gemeinderabbiner, sondern auch als Militärrabbiner für den Sprengel der Kultusgemeinde (Steiermark, Kärnten und Krain) zuständig war, hielt zahlreiche patriotische Reden und Predigten.6 Diese veröffentlichte er im Jahr 1915 in einem eigenen Band, den er »dem Andenken der auf dem Felde der Ehre gefallenen Helden unserer Gemeinde«7 widmete. Im Vorwort legte er eine grundlegende Argumentation der jüdischen Bevölkerung in Bezug auf die Kriegsdienstleistung dar  : Denn das namentlich unsere Helden, ohne Unterschied des Glaubens und der Nationalität, die lebenden und die auf dem Felde der Ehre gefallenen, unter welchen auch die Kinder unserer Gemeinde reichen Anteil nehmen, […] an schwärmerischer Begeisterung und idealer 2 Vgl. Steiermärkisches Landesarchiv (StLA), Statth. D73-4162/1919, Protokoll der Kultusratssitzung, 15.11.1914. 3 Ebd. 4 Vgl. dazu allgemein Riesenfellner, Stefan  : Todeszeichen. Zeitgeschichtliche Denkmalkultur am Beispiel von Kriegerdenkmälern in Graz und in der Steiermark von 1867–1934, in  : Riesenfellner, Stefan/Uhl, Heidemarie (Hg.)  : Todeszeichen. Zeitgeschichtliche Denkmalkultur in Graz und in der Steiermark vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart (Kulturstudien. Bibliothek der Kulturgeschichte, Sonderband 19), Wien-Köln-Weimar 1994, 1–75, hier 19. 5 Die Enthüllung des steirischen Landsturmmannes in Eisen, in  : Tagespost (Mittagsblatt), 12.7.1915, 2. 6 Zu David Herzog vgl. Lamprecht, Gerald  : Rabbiner Dr. David Herzog – Leben und Werk, in  : Halbrainer, Heimo/Lamprecht, Gerald/Schweiger, Andreas (Hg.)  : Meine Lebenswege. Die persönlichen Aufzeichnungen des Grazer Rabbiners David Herzog, Graz 2013, 165–194. 7 Herzog, David, Kriegspredigten, Frankfurt/Main 1915.

»Gut und Blut für unseren Kaiser, Gut und Blut für unser Vaterland« 

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Hingabe und Aufopferungsfähigkeit geleistet haben, überragt selbst antike Größe  ! Dies alles aber bestärkt mich auch gleichzeitig in der frohen Zuversicht und in dem unerschütterlichen Glauben, daß unserem erhabenen, heißgeliebten Kaiser und unserem teueren Vaterlande ein ehrenhafter, langandauernder Frieden zum Heile aller Bewohner dieses Reiches, ja zum Wohle der Menschheit beschieden sein wird.8

Juden und Nichtjuden opfern sich demnach unterschiedslos für das Vaterland, die Heimat und den Kaiser, der selbst nur den Frieden wolle und letztlich zum Krieg gezwungen wurde. Eine ähnliche Argumentation findet sich auch in einem, an jedem Sabbat und Feiertag vor der geöffneten Bundeslade vorgetragenen Kriegsgebet wider. Darin wird die Kriegsschuld »bösen Feinden«, die den »den Menschen eingegebenen Trieb zur Kultur und zum Fortschritte« vernichten wollen, zugeschrieben und der Kriegsdienst als Erfüllung eines göttlichen Willens gesehen. Denn diesem Verderben, das aus Haß, Neid, und Bosheit seine Wurzeln zieht, entgegenzutreten und Glück und Segen über die Menschheit zu bringen, erachten wir als Ausfluß Deines göttlichen Willens, und darum sind wir alle freudig dem Rufe unseres heißgeliebten Kaisers gefolgt und wollen ihm mit unserem besten Können und unserem ganzen Sein zur Seite stehen. Uns ist kein Opfer zu groß, denn wir fühlen, ja wir wissen es, daß es eine von Dir geforderte Pflicht ist, mit unserem ganzen Sein dem Frieden zum Siege zu verhelfen. Darum stehen wir zu Dir voll Inbrunst und Tiefe, segne unseren allergnädigsten Kaiser Franz Josef I., der bis an die äußerste Grenze gegangen, um seinen Völkern den Frieden zu erhalten.9

Kriegsdienst, Kriegsopfer und »Heldentod« stehen in den Reden und Predigten stets in Verbindung mit dem Dienst am Vaterland, der Person von Kaiser Franz Joseph I. sowie der Ehre des Judentums. Die jüdischen Soldaten ebenso wie die Jüdinnen und Juden an der so genannten »Heimatfront« stellen sich somit vollkommen in den Dienst des Krieges, um durch ihre vorbildliche Opferbereitschaft sowohl ihren Patriotismus als auch ihre Loyalität zum Herrscherhaus unter Beweis zu stellen. Weiters treten sie mit ihrem Kriegsdienst den antisemitischen Unterstellungen der Ehr-, und Wehrlosigkeit sowie eines angeblich fehlenden Patriotismus entschieden entgegen und sie verstehen sich auf diese Art und Weise als Verteidiger der Ehre des Judentums.10 Ein zusätzliches, häufig bemühtes Argument zur Stützung des Krieges war die Darstellung als »heiliger Krieg« gegen das zaristische Russland, dem Erbfeind des Juden  8 Vorwort, in  : Herzog, David, Kriegspredigten, 5–8, hier 7–8.   9 Es folgen zahlreiche Segenwünsche für das Herrscherhaus, die Armee und alle »die in diesen ernsten Tagen, in welcher Art immer, dem Vaterlande Dienst leisten und dadurch zum Ruhme und Heile unseres heißgeliebten Vaterlandes beitragen.« Vgl. Kriegspredigt, in  : Herzog, David  : Kriegspredigten, 9–11, hier 9–10. 10 Vgl. Rozenblit, Marsha  : Reconstructing a National Identity. The Jews of Habsburg Austria during World War I, Oxford 2001, 4–5.

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tums. Der Kampf gegen Russland wurde dem biblischen Kampf gegen Amalek und die Amalekiter gleichgestellt und erhielt somit eine religiöse Dimension.11 Denn das »gegenwärtige, noch im Zuge befindliche Ringen ist, soweit es insbesondere Rußland betrifft, ein Kampf gegen Amalek, den Erbfeind des Judentums und vielleicht nicht minder den Erbfeind unseres Vaterlandes«, argumentierte stellvertretend für viele andere der Meraner Rabbiner Adolf Altman im Februar 1915 in »Dr. Bloch’s Österreichischer Wochenschrift«.12 Die für die Kriegsbegeisterung so wichtige Verbundenheit mit dem Herrscherhaus und der Person von Kaiser Franz Joseph I. resultierte aus der vielfach bekundeten und beinahe ritualisierten Dankbarkeit für die Emanzipation der Juden durch das Staatsgrundgesetz von 1867. Franz Joseph wurde der unvergleichliche Aufstieg des österreichischen Judentums vom Rande der ständischen in das Zentrum der bürgerlich-liberalen Gesellschaft gutgeschrieben und seine Person erhielt vielfache Huldigung. Einen Höhepunkt erreichte diese nochmals anlässlich seines Ablebens im November 1916. In allen Synagogen und jüdischen Gemeinden Österreichs wurden Trauerkundgebungen abgehalten, so auch in Graz.13 Rabbiner Herzog hielt die Trauerrede und würdigte zunächst die Regierungszeit des Kaisers, in der »die Klassen- und Standesgegensätze zerschellten an der kraftvollen, von Gerechtigkeit erfüllten Persönlichkeit unseres Kaisers, der dadurch seine Völker aus der patriarchalischen Enge in den modernen, neuzeitlichen Staat hinüberleitete«.14 Und auf die Beziehung zur jüdischen Bevölkerung eingehend hielt Herzog weiters fest  : Denn was waren wir Juden, ehe Kaiser Franz Joseph I. die Regierung angetreten hatte  ? Wir hatten wohl Rechte, aber wir hatten kein Recht. Wir forderten ja keine Sonderrechte, wir wollten nur Recht, das aber wollte man uns nicht geben. Da kam unser Kaiser und rief  : Ich will kein Judengesetz, und die vielen, die uns entehrenden Beschränkungen sind gefallen. Gewiß, wir hatten in der Folge noch mit manchem harten Vorurteile zu kämpfen, aber unser guter, edler Kaiser, der unsere Tugenden und unsere Treue kannte, ehrte unsere Rechte wie die aller anderen Staatsbürger dieses Reiches. Vor ihm waren alle Staatsbürger, sofern sie nur gut und edel waren, gleich, er kannte keine Unterschiede.15

11 Vgl. dazu u. a. die Rede von Herzog anlässlich der russischen Kriegserklärung gegen Österreich-Ungarn. Das Gelöbnis der Treue, in  : Herzog, David  : Kriegspredigten, 14–18. 12 Altmann, Adolf  : Jüdische Gemeinden, leget Kriegschroniken an  !, in  : Dr. Bloch’s Oesterreichische Wochenschrift, 26.2.1915, 154. 13 Vgl. z. B. Patriotische Kundgebung der »Oesterr.-Israel. Union«, in  : Dr.  Bloch’s Oesterreichische Wochenschrift, 15.12.1916, 817–818. 14 Herzog, David  : Kaiser Franz Josef I. Gedenkrede gehalten im israelitischen Tempel zu Graz, Frankfurt/ Main 1917, 7. 15 Herzog, David  : Kaiser Franz Josef I., 10.

»Gut und Blut für unseren Kaiser, Gut und Blut für unser Vaterland« 

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Mit der Emanzipation, dem Liberalismus sowie der Person des Kaisers wurde von Herzog und einem Großteil der verbürgerlichten jüdischen Bevölkerung in den deutschsprachigen Gebieten der Monarchie auch ein grundlegendes Identitätsnarrativ verbunden.16 Dieses besagte, dass Judentum eine Konfession/Religion sei und in keinerlei Widerspruch zu einem Bekenntnis zur deutschen Kultur und dem österreichischen Staat stehe.17 Juden sind integraler Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft, in kultureller Beziehung Deutsche und überzeugte Österreicher. Ein jüdisches Selbstverständnis, dem jedoch vehement Antisemiten entgegentraten, die vor allem eine Vereinbarkeit von Judentum und Deutschtum in Abrede stellten. Aber auch zionistische Gruppen wollten sich diesem Narrativ nicht ohne Wenn und Aber anschließen und versuchten Judentum als eine eigenständige Nation, Juden als nationale und nicht religiöse Minderheit innerhalb des Vielvölkerstaates zu positionieren.18 Trotz der unterschiedlichen Identitätsnarrative von Zionisten und Liberalen stellten sich beide Gruppen ohne Einschränkung hinter die Ziele der Regierung.19 Die gefallenen Soldaten waren Helden, die für ihre Heimat und das Judentum gestorben waren und wurden als solche geehrt und erinnert. So beschloss bereits im März 1915 16 Nach dem Tod von Franz Joseph gab es auch zahlreiche Huldigungsbekundungen für Kaiser Karl. Vgl. z. B. Ein bedeutungsvoller Tag für die Judenheit Oesterreichs, in  : Dr. Bloch’s Oesterreichische Wochenschrift, 15.12.1916, 810–812. 17 Zu nennen ist hier die Konzeption von Rabbiner Joseph Samuel Bloch, der die jüdische Bevölkerung der Monarchie im Gegensatz zu den anderen Nationalitäten/Volksstämmen als »Österreicher sans phrase«, als gleichsam das »Staatsvolk« betrachtete. Wesentlich dabei war neben einem jüdischen Bewusstsein als Stamm, die Bindung an das Herrscherhaus und die multiethnische Staatsform auf Grundlage der Verfassung von 1867. Marsha Rozenblit hingegen konstatiert für die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung Österreich-Ungarns eine dreifache Identität. Diese setze sich zusammen aus einer ethnischen Zugehörigkeit zum Judentum, einer kulturellen Verbundenheit zur deutschen, tschechischen, polnischen etc. Kultur sowie der Verbundenheit zur Dynastie der Habsburger. Vgl. u. a. Bloch, Joseph Samuel  : Der nationale Zwist und die Juden in Österreich, Wien 1886  ; Cresti, Silvia  : German and Austrian Jews’ Concept of Culture, Nation and Volk, in  : Liedtke, Rainer/Rechter, David (Hg.)  : Towards Normality  ? Acculturation and Modern German Jewry (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts 68), Tübingen 2003, 271–289  ; Rozenblit, Marsha  : Reconstructing a National Identity. 18 So wurde im Mai 1915 von Zionisten die Zeitschrift »Jüdisches Archiv« ins Leben gerufen. Ziel war es den jüdischen Heldenmut zu dokumentieren, um Material gegen antisemitische Anwürfe zu haben. Vgl. Aufruf des »Jüdischen Kriegsarchivs«, in  : Dr. Bloch’s Oesterreichische Wochenschrift, 22.1.1915, 67. Vgl. Lappin, Eleonore  : Zwischen den Fronten  : Das Wiener Jüdische Archiv. Mitteilungen des Komitees Jüdisches Kriegsarchiv 1915–1917, in  : Lappin, Eleonore/Nagel, Michael (Hg.)  : Deutsch-jüdische Presse und jüdische Geschichte I  : Dokumente, Darstellungen, Wechselbeziehungen (Die jüdische Presse – Kommunikationsgeschichte im europäischen Raum 6), Bremen 2008, 229–246. 19 Vgl. dazu diverse Artikel im Leitorgan der österreichischen Zionisten »Jüdische Zeitung«. Diese erschien von 1907 bis 1920. Vgl. dazu  : Hecht, Dieter  : Die Jüdische Zeitung (Wien 1907–1920)  : Ein nationaljüdisches Organ, in  : Lappin, Eleonore/Nagel, Michael (Hg.)  : Deutsch-jüdische Presse und jüdische Geschichte  : Dokumente, Darstellungen, Wechselbeziehungen, Bd. 2  : Religion und Politik in der europäisch-­jüdischen Presse vor der Shoah – Antisemitismus, Faschismus und Nationalsozialismus, 1880–1943 – Neuorientierungen nach der Shoah, Bremen 2008, 57–68.

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der Vorstand des Beerdigungsvereins »Chewra Kadischa« in Graz, dass alle im Grazer Sprengel verstorbenen jüdischen Soldaten auf dem Grazer jüdischen Friedhof in einem eigens anzulegenden Ehrenfeld beerdigt werden sollten. Zudem empfahl man dieselbe Vorgehensweise den Beerdigungsvereinen in Judenburg, Knittelfeld und Klagenfurt.20 In diesem Zusammenhang ist bedeutsam zu erwähnen, dass es gegen die Errichtung eigener Heldenabteilungen auf den jüdischen Friedhöfen auch Gegenstimmen gab. Diese argumentierten vor allem damit, dass es einen »ausserordentlich günstigen Eindruck mache, wenn Grabdenkmäler gefallener jüdischer Helden auf anders konfessionellen Friedhöfen zu finden« wären.21 Ziel war es zu zeigen, dass ganz im Sinne des Burgfriedens und des gemeinsamen Opfers für das Vaterland Juden und Christen gemeinsam beerdigt werden und keine symbolische Abspaltung aus der Gemeinschaft der für das Vaterland Gefallenen erfolge.22 Trotz dieser Bedenken entschied sich die Grazer Gemeinde ähnlich wie die Wiener und weitere für die Errichtung von eigenen Heldenabteilungen innerhalb der jüdischen Friedhöfe. Dabei waren vor allem drei Argumentationen ausschlaggebend. Zum einen obsiegte die Rücksichtnahme auf die religiösen Vorschriften in Bezug auf die Totenruhe und zum anderen erreichte man damit eine eigene Sichtbarkeit des jüdischen Kriegsopfers. Und nicht zuletzt schuf man damit auch Orte der Trauer für die Hinterbliebenen.23 Die Heldenabteilungen der jüdischen Friedhöfe wurden demnach als intime Orte der Trauer für die Angehörigen aber auch als öffentliche Orte der Erinnerung sowohl für eine jüdische als nichtjüdische Öffentlichkeit konzipiert. Sie waren dann auch die Ausgangspunkte der ab 1918 errichteten Heldendenkmäler. Auch in Graz wurde die Errichtung eines Heldendenkmals bereits unmittelbar nach Kriegsende angedacht. Dieses konnte allerdings zunächst auf Grund der wirtschaftlichen Schwierigkeiten nur in Form einer »Kriegsopfergedenktafel« an der nördlichen Außenmauer der Grazer Synagoge realisiert werden. Am 15. Juni 1928 wurde diese im Rahmen des Abendgottesdienstes, dem jüdische und nichtjüdische Gäste beiwohnten von Rabbiner Herzog feierlich eingeweiht.24 In seiner Weiherede verband er den jüdischen Einsatz und die geleisteten Opfer mit dem Kampf gegen den Antisemitismus.25 In weitere Folge brauchte es auf Grund der Wirtschaftskrise jedoch noch mehrerer Anläufe ehe schließlich 1935 ein monumentales Kriegerdenkmal, entworfen von 20 Protokoll der Vorstandsitzung der Chewra Kadischa Graz, 12.2.1915. »Sonderarchiv« beim Staatlichen Militärarchiv in Moskau (RGWA), 709-1-7. 21 Protokoll der Generalversammlung der Chewra Kadischa Graz, 14.3.1915. RGWA, 709-1-2. 22 Für diese Vorgehensweise gab es ein berühmtes Vorbild. Die Opfer der Märzrevolution von 1848 wurden in einem interkonfessionellen Begräbnis beigesetzt. Dieser Akt stand symbolisch für die Überwindung der diskriminierenden Judengesetze. Vgl. dazu etwas älter, aber immer noch gültig  : Häusler, Wolfgang  : Das Judentum im Revolutionsjahr 1848 (Studia Judaica Austriaca 1), Eisenstadt 1974. 23 Protokoll der Vorstandsitzung der Chewra Kadischa Graz, 5.5.1918. RGWA, 709-1-7. 24 Der Dank des Vaterlandes, in  : Die Wahrheit. Jüdische Wochenschrift, 22.6.1928, 1–2. 25 Ebd.

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Grazer Architekten und Mitglied der jüdischen Gemeinde, Eugen Székely für die jüdischen Gefallenen realisiert werden konnte. Im Juni 1935 wurde durch die Initiative der Ortsgruppe des Bundes jüdischer Frontsoldaten am jüdischen Friedhof in Graz das Heldendenkmal für die gefallenen jüdischen Soldaten in einer groß angelegten Zeremonie enthüllt und eingeweiht.26

Die jüdische Gemeinde und Vereine Als eigenständige rechtliche Körperschaft bestand die Grazer Israelitische Kultusgemeinde seit 1869.27 Ihr Verwaltungsgebiet umfasste seit 1893 die gesamte Steiermark, Krain und Kärnten.28 Die Zentren jüdischen Lebens waren die Landeshauptstadt Graz, wie auch die Städte Leoben29, Judenburg30 und Klagenfurt.31 In den drei letztgenannten Städten wurden aufgrund der größeren Anzahl von Jüdinnen und Juden auch ei26 Vgl. dazu u. a. Drei Jahre Bund jüdischer Frontsoldaten Österreichs, Wien o. J., 60–61  ; Berger, Michael  : Kampf gegen Antisemitismus und Ehrung der gefallenen Soldaten am Beispiel des Bundes jüdischer Frontsoldaten Österreichs (BJF) und der jüdischen Kriegerdenkmäler in Wien und Graz, in  : Berger Michael/Römer-Hillebrecht, Gideon (Hg.)  : Jüdische Soldaten  – Jüdischer Widerstand in Deutschland und Frankreich, Paderborn et al. 2012, 226–235  ; Lamprecht, Gerald  : Der Bund jüdischer Frontsoldaten und das Grazer jüdische Heldendenkmal, in  : Historisches Jahrbuch der Stadt Graz, 44 (2015)  : Stadtgeschichte aktuell »Graz 1914 – 1934 – 1944… und darüber hinaus…«, hg. von Friedrich Bouvier, Wolfram Dornik, Otto Hochreiter, Nikolaus Reisinger, Karin M. Schmidlechner, 133–148. 27 Zur Gründung der IKG vgl. Lamprecht, Gerald  : Das Werden der Gemeinde. Von ersten jüdischen Händlern in der Steiermark bis zur Gründung der Israelitischen Kultusgemeinde Graz 1869, in  : Lamprecht, Gerald (Hg.)  : Jüdisches Leben in der Steiermark. Marginalisierung – Auslöschung – Annäherung (Schriften des Centrums für Jüdische Studien 5), Innsbruck-Wien-München-Bozen 2004, 127–169, hier 151–157. 28 Das Verwaltungsgebiet der IKG wurde auf der Basis des Israelitengesetzes vom März 1890 festgelegt. Vom Gesetzgeber wurde dabei die Absicht verfolgt, dass jede genehmigte IKG die für den Betrieb notwendigen finanziellen Mittel selbständig aufbringen können müsse. Daher wurde trotz Widerstandes der Klagenfurter Kultusverein der Grazer Gemeinde zugerechnet. Vgl. StLA, Statth. 35-8776/1888. 29 Zu Leoben vgl. Lamprecht, Gerald  : Zur Geschichte jüdischer Leobner im 19. und 20. Jahrhundert, in  : Anzenberger, Werner/Ehetreiber, Christian/Halbrainer, Heimo (Hg.)  : Die Eisenstraße 1938–1945. NSTerror – Widerstand – Neues Erinnern, Graz 2013, 47–90. 30 Vgl. Schiestl, Michael  : Geschichte der Judenburger Juden. Von der Wiederansiedlung im 19. Jahrhundert bis 1938, in  : Lamprecht, Gerald (Hg.)  : Jüdisches Leben in der Steiermark, 93–125. 31 Auch in verschiedenen anderen steirischen Orten gab es aktives jüdisches Leben. Allerdings reichte die Anzahl der jüdischen Bevölkerung nicht aus, um eigene jüdische Einrichtungen zu erhalten. Vgl. u. a. Kurahs, Hermann  : Zur Geschichte der Juden in Radkersburg, in  : Lamprecht, Gerald (Hg.)  : Jüdisches Leben in der Steiermark, 59–91  ; Halbrainer, Heimo  : Die Geschichte der Juden in der Steiermark Teil II, in  : transversal, Jg. 2 (2001) Heft 2, 52–63  ; Halbrainer, Heimo/Gruber, Heimo  : Jüdisches Leben und Antisemitismus in Mürzzuschlag im 19./20. Jahrhundert, in  : Halbrainer, Heimo (Hg.)  : Zwei Tage Zeit. Herta Reich und die Spuren jüdischen Lebens in Mürzzuschlag, Graz 1998, 65–101  ; Schober, Franz Josef  : Jüdisches Schicksal an der Grenze, in  : signal, Winter/zima 2005/2006, 195–221.

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genständige, der IKG Graz untergeordnete, Kultusinstitutionen eingerichtet.32 Diese regionalen Organisationen betrieben eigene Bethäuser, Friedhöfe und gründeten zudem eigene Vereine.33 Das Zentrum des jüdischen Lebens in der Steiermark war aber stets die Landeshauptstadt Graz. Hier wurde 1892 eine repräsentative große Synagoge eingeweiht sowie angrenzend ein Amtsgebäude samt vierklassiger Volksschule mit Öffentlichkeitsrecht errichtet.34 Weiters gab es an der damaligen Stadtgrenze in Wetzelsdorf einen eigenen Friedhof35 sowie eine im städtischen Bad zur Sonne angemietete Mikwe. Das kulturelle Leben der Gemeinde vollzog sich innerhalb der Gemeinde und im sich stetig weiterentwickelnden Vereinsleben. So wurden seit der Gründung der IKG zahlreiche Vereine ins Leben gerufen, die sich mit religiösen, kulturellen und sozialen Angelegenheiten befassten. Zu nennen sind hier beispielsweise die Beerdigungsbruderschaft »Chewra Kadischa«, der Israelitische Frauenverein, der »Armenbetheilungsverein ›Chebra Mathnos Anijim‹« wie auch die dem Zionismus nahe stehenden Vereine »Jüdisch-akademischer Verein ›Charitas‹« oder der »Jüdische Turnverein ›Makkabi‹«. Sie alle waren gemeinsam mit der Kultusgemeinde ab 1914 von den Folgen des Krieges unmittelbar betroffen, wie weiter unten noch zu zeigen sein wird. Darüber hinaus verfügte die Grazer Gemeinde mit dem Grazer Israelitischen Gemeindeboten seit 1908 über eine eigene Zeitschrift, die als das erste Opfer des Krieges bezeichnet werden kann. Sie wurde wahrscheinlich auf Grund fehlender personeller Ressourcen unmittelbar mit Kriegsbeginn eingestellt.36 Seit ihrem Bestehen bis zum Beginn des Krieges erlebte die Grazer Gemeinde einen steten Aufstieg. Dieser manifestierte sich sowohl in der Mitgliederzahl als auch im Ausbau der Infrastruktur und der Neugründung von Vereinen. So wurde bei der Volkszählung von 1910 ein demographischer Höhepunkt erreicht. In Graz gaben 1.954, in der gesamten Steiermark 2.708 Personen37 an, jüdisch zu sein. Dies war eine Zahl, die bei 32 Die Anbindung der Kultusinstitutionen an die IKG in Graz wurde durch die Statuten der IKG geregelt. Allgemein stellten die Statuten das grundlegende Regelwerk für die Verwaltung und Organisation jüdischen Lebens dar. Vgl. Statuten der Israelitischen Cultusgemeinde Graz, Graz 1896. 33 Vgl. Schiestl, Michael  : Geschichte der Judenburger Juden, 112. 34 Allgemein zur Geschichte der IKG in Graz  : Lamprecht, Gerald  : Fremd in der eigenen Stadt. Die moderne jüdische Gemeinde von Graz vor dem Ersten Weltkrieg (Schriften des Centrums für Jüdische Studien 8), Innsbruck-Wien-München-Bozen 2007. 35 Vgl. Lamprecht, Gerald  : Jüdische Friedhöfe in der Steiermark – ein historischer Überblick, in  : Mitteilungen der Korrespondentinnen und Korrespondenten der Historischen Landeskommission für Steiermark, (2011) Heft 10, 185–196. 36 Die letzte Nummer der alle zwei Monate erscheinenden Zeitung erschien am 27.5.1914. 37 Diese Zahlen beziehen sich auf die Steiermark in ihren Grenzen nach 1918. Die jüdische Bevölkerung der Untersteiermark wurde dabei bereits herausgenommen. Vgl. Die Ergebnisse der Österreichischen Volkszählung vom 22. März 1934 bearbeitet vom Bundesamt für Statistik. Bundesstaat Textheft (Statistik des Bundesstaates Österreich. Heft 1, hg. v. Bundesamt für Statistik), Wien 1935, 50. Inklusive der Gebiete der ehemaligen Untersteiermark ergab sich für die Volkszählung von 1910 eine Anzahl von 2.895

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der nächsten Volkszählung im Jahr 1934 nicht mehr erreicht werden konnte. Die Zahl der Jüdinnen und Juden sank in Graz um rund 13 % auf 1.72038 und in der gesamten Steiermark um rund 23 % auf 2.19539. Die Ursachen dafür sind vielfältig und stehen alle in unmittelbarer Beziehung zu den Ereignissen und Folgen des Ersten Weltkrieges. Denn durch den Zerfall der Habsburgermonarchie und das Entstehen neuer nationaler Grenzen kam die für das Wachstum der Grazer Gemeinde hauptverantwortliche Binnenmigration aus anderen Gebieten der Monarchie zum Erliegen.40 Zudem hatte auch die Grazer Gemeinde mit den Folgen der Säkularisierung und einer durch den sich radikalisierenden Antisemitismus verstärkenden Austrittsbewegungen zu kämpfen. So stieg die Austrittsbewegung vor allem gegen Ende des Krieges und in den unmittelbaren Nachkriegsjahren, als der Antisemitismus auch in Graz am heftigsten zu Tage trat, massiv an. Im Zeitraum von 1901 bis 1910 gab es demnach 185 und im Zeitraum von 1911 bis 1920 277 Austritte aus der Grazer jüdischen Gemeinde. Sieht man sich diesen Zeitraum genauer an, so zeigt sich, dass im Zeitraum von Kriegsbeginn im Juli 1914 bis zum Mai 1917 57 Personen aus dem Judentum austraten und vom Mai 1917, als mit der Wiedereinberufung des Reichsrates auch der Antisemitismus wieder Einzug in die öffentlichen Debatten hielt41, bis zum Jahresende 1922 und dem Abflauen der Antisemitismuswelle 181 Austritte zu verzeichnen waren.42 Ein weiterer Grund für den Mitgliederrückgang ist sicherlich auch im antisemitismusbedingten Aufstieg des Zionismus zu sehen, der zu einer sukzessiven Abwanderung nach Palästina führte. So bemühte sich der im November 1917 in Graz ins Leben gerufene »Jüdische Nationalverband für die Alpen- und Küstenländer«43 mittels eines »Chaluzimfonds« darum, »junge, arbeitsfrohe Elemente« nach Palästina zu bringen.44 Jüdinnen und Juden in der gesamten Steiermark. Davon waren 32 Mitglieder des Militärs. Vgl. Spezialortsrepertorium des Österreichischen Länder, bearbeitet auf Grund der Ergebnisse der Volkszählung vom 31. Dezember 1910, hg. v. der k. k. statistischen Zentralkommission, IV. Steiermark, Wien 1917. 38 Vgl. Die Ergebnisse der österreichischen Volkszählung vom 22. März 1934, bearbeitet vom Bundesamt für Statistik. Steiermark (Statistik des Bundesstaates Österreich Heft 7, hg. v. Bundesamt für Statistik), Wien 1935, 2–3. 39 Vgl. Die Ergebnisse der Österreichischen Volkszählung vom 22. März 1934, Heft 1, 50. 40 Zunächst erfolgte die Zuwanderung vor allem aus den unmittelbaren Nachbarregionen Westungarns sowie aus Böhmen und Mähren. Eine Zuwanderung aus Galizien und der Bukowina setzte erst im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts vermehrt ein, war aber nicht wesentlich. Ergebnis der Auswertung der Heiratsmatrikeln der IKG Graz. Vgl. Lamprecht, Gerald  : Jüdische Migration und die Entstehung der jüdischen Gemeinde von Graz, in  : Kastner, Georg/Mindler-Steiner, Ursula/Wohnout, Helmut (Hg.)  : Auf der Suche nach Identität. Festschrift für Dieter Anton Binder (Austria  : Forschung und Wissenschaft – Geschichte 13), Wien 2015, 305–324. 41 Das Aufflammen des Antisemitismus mit der Wiedereinberufung des Reichsrates durch Karl I. geht einher mit einer Lockerung der Zensur. Dieser Wandel wurde in den jüdischen Zeitungen in Wien ausführlich kommentiert. Vgl. dazu vor allem Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift. 42 Auswertung des Austrittsbuches der IKG Graz. Archiv der IKG Graz. 43 Vgl. StLA, LReg. 206 J 40/1929. 44 Vgl. Jüdische Volksversammlung, in  : Grazer Jüdische Nachrichten, Juli 1920, 2–3, hier 3.

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Stellte der Erste Weltkrieg also eine Zäsur in Hinblick auf die Mitgliederentwicklung dar, so kann dies ebenso beim Ausbau der Infrastruktur wie auch dem Vereinsleben konstatiert werden. Als Ausläufer der Friedenszeiten kann in diesem Zusammenhang noch die Errichtung der Wintersynagoge sowie der Ausbau des Amts- und Schulgebäudes betrachtet werden. Im Jahr 1913 in Angriff genommen, wurde dieser vom Grazer Baumeister Alexander Zerkowitz geplante Bau im Dezember 1914 feierlich eingeweiht.45 Die Einweihungsfeierlichkeit selbst »gestaltete sich zu einer patriotischen Manifestation, da nach der Einweihung als erste gottesdienstliche Handlung im neuen Bethause ein Gottesdienst für den Sieg unseres tapferen Heeres abgehalten wurde«.46 Präsident Simon Rendi47 hielt die Festrede und Rabbiner David Herzog die Weiherede48, wobei beide in ihren Ansprachen die Kaisertreue und Vaterlandsliebe der jüdischen Bevölkerung hervorhoben. Die Einweihung der Wintersynagoge und des erweiterten Amts- und Schulgebäudes markiert dann auch den Wendepunkt in der Entwicklung der jüdischen Gemeinde. Der Krieg und die Erfordernisse des Krieges bedingten zum einen, dass vor allem gesellschaftliche und politische Vereine ihre Tätigkeit zunächst reduzierten und in manchen Fällen auch völlig einstellten. So konnten weder der Jüdische Turnverein »Makkabi« noch der jüdisch-akademische Studentenverein »Charitas«, der Jüdisch-akademische Verein »Herzlia« oder der »Jüdische Handlungsgehilfenverband« über die Kriegszeit hinweg ihre Vereinsaktivitäten aufrechterhalten. Auf Grund Mitgliedermangels durch die Einberufungen stellten sie ihre Tätigkeit ein und wurden meist nach 1918 von den Behörden wegen Inaktivität aufgelöst.49 Jene Vereine, die trotz der Kriegsereignisse weiter aktiv waren, wie auch die Kultusgemeinde selbst, richteten das Hauptaugenmerk ihrer Tätigkeiten ganz auf die Erfordernisse der Kriegszeit aus. Diese lagen vor allem in der Unterstützung und Fürsorge für die jüdischen Soldaten, Verletzten, Witwen und Waisen wie auch der ab Ende 1914 in die Steiermark kommenden Kriegsflüchtlinge aus Galizien und der Bukowina. Konkret gefordert waren die Fürsorgeabteilung der Kultusgemeinde, die Zentralstelle für

45 Vgl. Einweihung eines neuen Bethauses, in  : Tagespost, 15.12.1914, 8  ; Schul- und Bethauseinweihung in Graz, in  : Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift, 25.12.1914, 902–903. 46 Schul- und Bethauseinweihung in Graz, in  : Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift, 25.12.1914, 902. 47 Simon Rendi war erfolgreicher und vermögender Tuchhändler in Graz, der auch bestens in die steirische und österreichische Geschäftswelt eingeführt war. Vgl. zu Rendi  : Breitler, Robert  : »B’nai B’rith« in Graz. Zur Sozialgeschichte des Grazer jüdischen Bürgertums in der Zwischenkriegszeit, Phil. Dipl. Graz 2002, 114–117. 48 Herzog, David  : Die Einweihung des neuerbauten Winterbethauses und des erweiterten Schul- und Verwaltungsgebäudes der Israelitischen Kultusgemeinde in Graz, in  : Herzog, David  : Kriegspredigten, 50–63. 49 Vgl. exemplarisch für die »Herzlia« StLA, Statth. M 197a 2947/1913, für den »Handlungsgehilfenverband«, StLA, Statth. M 297a 343/1914 und für die »Charitas«, StLA, Statth. M 297a 1108/1908.

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jüdisches Armenwesen, der Israelitische Frauenverein, der »Armenbetheilungsverein ›Chebra Mathnos Anijim‹« sowie der Beerdigungsverein »Chewra Kadischa«.

Soldaten und Kriegsflüchtlinge in der Steiermark In den Jahren von 1914 bis 1918 wurden in den Gebieten der Habsburgermonarchie aufgrund der Kriegshandlungen hunderttausende Zivilisten zu Flüchtlingen.50 Besonders traf es die Bevölkerung der östlichen Gebiete der Monarchie, in den Kronländern Galizien und der Bukowina. In ihnen lebte zugleich auch der Großteil der jüdischen Bevölkerung der Monarchie. Als im Spätsommer und Herbst 1914 Teile Galiziens und der Bukowina durch russische Truppen besetzt wurden, kam es zu einer ersten großen Flüchtlingswelle Richtung Westen. Unter diesen Flüchtlingen waren auch viele Jüdinnen und Juden, deren Flucht auch von der Angst vor antisemitischen Übergriffen der zaristischen Armee bestimmt war.51 Und auch wenn die Steiermark für jüdische Flüchtlinge nur am Rande Zielland war, so verschlug es trotzdem eine beachtliche Anzahl von ihnen in die Steiermark und hier vor allem nach Graz.52 So wurden im Herbst 1914 rund 4.500 jüdische Kriegsflüchtlinge aus Galizien in Unterpremstätten und St. Michael für einige Tage53 notdürftig untergebracht. Als Notquartiere dienten dabei eine aufgelassene Ziegelei sowie das Fabrikgebäude des ehemaligen AustriaEmail Werkes in St. Michael. Wie aus einem Bericht von Kurt Pokorny, dem für die Flüchtlingsfürsorge in der Steiermark zuständigen Beamten, hervorgeht, stellten dabei vor allem die rituellen Speisevorschriften eine besondere Herausforderung an die staatlichen Behörden dar. Dieses Problem konnte »erst durch die sehr dankenswerte Mitwirkung der Funktionäre der israelitischen Kultusgemeinde und des Rabbinates in Graz, sowie der freiwilligen Hilfeleistung der Lehrerschaft in Unterpremstätten«54 gelöst werden, resümierte Pokorny nach dem Krieg. Dramatischer schilderte die Situa-

50 Vgl. allgemein  : Mentzel, Walter  : Weltkriegsflüchtlinge in Cisleithanien 1914–1918, in  : Heiss, Gernot/ Rathkolb, Oliver (Hg.)  : Asylland wider Willen. Flüchtlinge im europäischen Kontext seit 1914 (Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Institutes für Geschichte und Gesellschaft 25), Wien 1995, 17–44, hier 17–18. 51 Die Zahl der Kriegsflüchtlinge innerhalb der Habsburgermonarchie ist sehr ungenau. Es wird aber angenommen, dass es sich um die Mitte des Jahres 1915 um rund eine Million Menschen handelte. Vgl. Mentzel, Weltkriegsflüchtlinge in Cisleithanien 1914–1918, 18. 52 Vgl. Karner, Stefan  : Die Steiermark im 20.  Jahrhundert. Politik  – Wirtschaft  – Gesellschaft  – Kultur, Graz-Wien-Köln 2000, 110  ; Mandl, Hildegard  : Galizische Flüchtlinge in der Steiermark zu Beginn des Ersten Weltkrieges, in  : Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark, Jg.  77 (1986), 279–294  ; Stampler, Katharina  : Flüchtlingswesen in der Steiermark 1914–1918, Phil. Dipl. Graz 2004, 19–25. 53 Sie wurden vom 15. bis zum 23 November 1914 in der Steiermark versorgt, ehe sie Richtung Budweis weitergeleitet wurde. Vgl. StLA, Sonderarchiv, Nachlaß Pokorny Kurt, Karton 1, Heft 2. 54 Ebd.

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tion der Präsident der jüdischen Gemeinde, Simon Rendi, in einer Kuratoriumssitzung der Zentralstelle für jüdisches Armenwesen Mitte November 1914  : Der sich bietende Anblick war herzzerreißend, in langen Reihen lagerten die armen Flüchtlinge auf der Straße neben ihren Bündeln, in welchen sie ihre Habseligkeiten hatten. Die Unterkunftstätte spottet jeder Beschreibung. Die in Prämstätten [sic  !] befindliche große Ziegelei, dunkel und zugig, in welcher die Flüchtlinge zu tausenden lagern, bietet ein kaum menschenwürdiges Obdach, Stroh ist viel zu wenig, Decken sind überhaupt nicht vorhanden. Die Möglichkeit eine halbwegs ordentliche Mahlzeit zu bereiten besteht nicht, da keine Kochherde errichtet und überdies Lebensmittel nur ganz ungenügend vorbereitet sind. Mit einem Wort es herrscht ein unerdenkliches kaum vorstellbares Elend.55

Auf den Bericht von Simon Rendi hin wurde sogleich ein Hilfsprogramm beschlossen, wonach neben der Versorgung, Organisation und Verteilung von Lebensmitteln und Kleidern auch bei der Statthalterei interveniert wurde, damit die mit Bargeld ausgestatteten Flüchtlinge Unterpremstätten verlassen und nach Graz ziehen könnten. Weiters sollten einzelne von ihren Eltern getrennte Kinder bei jüdischen Familien in Graz untergebracht und ein entsprechender Suchdienst organisiert werden. Schließlich initiierte man auch eine Spendenaktion unter den Mitgliedern der IKG, um auf diese Weise die Notsituation einigermaßen in den Griff zu bekommen.56 Für die Versorgung und Unterstützung der Flüchtlinge war neben der öffentlichen Hand und einem Landes-Hilfsausschuss unter der Leitung des Statthalters auch die Israelitische Kultusgemeinde zuständig.57 Sie stellte beispielsweise im März 1915 bei der Statthalterei einen Antrag um finanzielle Unterstützung für die Bereitstellung von Osterbrot und Kartoffeln für die jüdischen Flüchtlinge.58 Aber auch die jüdischen Kriegsgefangenen, Zivilinternierten und Soldaten wurden von ihr betreut.59 Dabei bestand die Hilfe vor allem aus der Bereitstellung von Kleidung, koscherer Nahrung und finanziellen Zuwendungen sowie der Belieferung mit Mazzoth zu Pessach.60 Beispielsweise suchten für Pessach 1915 1.141 Soldaten bei der IKG Graz um Zuteilung von Mazzes 55 Protokoll der Kuratoriumssitzung der Zentralstelle für Jüdisches Armenwesen, 15. 11. 1914. RGWA, 709-2-6. 56 Ebd. 57 Im ersten Kriegswinter wurde ein eigener Hilfsausschuss für die Flüchtlinge aus Galizien und der Bukowina eingerichtet, der sich um Spendenaufrufe und die Unterstützung der Flüchtlinge kümmerte. Diesem Ausschuss, der unter dem Protektorat des Statthalters Graf Clary und Aldringen stand, gehörten mit Präsident Simon Rendi, Isidor Preminger und dem Sekretär der Kultusgemeinde Leopold Lemberger führende Repräsentanten der Grazer Gemeinde an. Vgl. Flugblatt in  : Stampler, Katharina  : Flüchtlingswesen, 25. 58 StLA, Statth. Präs. A5b 1737/1915, Ansuchen der IKG an die Statthalterei, 27.3.1915. 59 Vgl. zur Thematik  : Perko, Edgar  : Jüdische Flüchtlinge in Graz 1914–1921, Phil. Diss. Graz 1992. 60 Schreiben des Ausschusses zur rituellen Beköstigung der jüdischen Kriegsgefangenen und Zivilinternierten an die Statthalterei, 17.3.1916. In einem Antwortschreiben bemerkt die Statthalterei, dass in der Stei-

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und ritueller Kost an.61 Die IKG entschied sich dann dazu, jedem Soldaten einen halben Kilo ungesäuertes Brot zur Verfügung zu stellen.62 Neben der Israelitischen Kultusgemeinde beteiligten sich auch verschiedene jüdische Vereine an der Unterstützung der Kriegsflüchtlinge. So beispielsweise der Israelitische Frauenverein, der über diese Tätigkeiten in seinen ausführlichen Jahresberichten Zeugnis ablegte. Mit Kriegsbeginn kümmerte man sich zunächst um die Versorgung der jüdischen und nichtjüdischen Soldaten, Verwundeten sowie um mittellose Kinder. Letztere wurden teils mit Nahrung versorgt, aufgenommen oder durch finanzielle Zuwendungen unterstützt.63 Mit dem Eintreffen der ersten Kriegsflüchtlinge fokussierte sich auch die Tätigkeit des Frauenvereins auf deren Betreuung. Man sammelte Kleider sowie Möbelstücke und verteilte diese an die Flüchtlinge. Noch im Herbst trat man der unter der Leitung von Präsident Simon Rendi stehenden »Zentralstelle für Jüdische Flüchtlinge« bei und unterstützte deren Aktivitäten. Für jene Flüchtlinge, die nach Graz gekommen waren (Höchststand rund 1.200), wurden Wohnungen64 sowie andere Unterkünfte (z. B. eine aufgelassene ­Tuchfabrik) und Kochmöglichkeiten wie auch sonstiger Hausrat und Kleidung organisiert.65 Finanziert wurde all das durch Sammlungen sowie Aufrufe um Sachspenden in Zeitungen und Spenden anderer jüdischer Organisationen, wie beispielsweise der Österreichischen Israelitischen Allianz zu Wien.66 Und nachdem die staatlichen Zuwendungen, die im Auftrag der Statthalterei durch die IKG ausbezahlt wurden67, nicht für den Lebensunterhalt der Flüchtlinge ausreichten, engagierte man sich zunehmend auch bei der Vermittlung von Arbeitsstellen, die man in verschiedensten Fabriken oder in ermark lediglich ein Zivilinterniertenlager in Thalerhof bestehe und sich dort nur 20 jüdische Internierte aufhalten würden. StLA, Statth. Präs A5b 873/1916. 61 Die Versorgung der jüdischen Soldaten und Flüchtlinge stellte ein zentrales Problem der Gemeinden wie auch des Militärs dar. Davon zeugen unter anderem zahlreiche Berichte und Aufrufe in jüdischen Zeitungen. Vgl. u. a. Rituelle Kost für israelitische Soldaten in Oesterreich-Ungarn, in  : Dr. Bloch’s Oesterreichische Wochenschrift, 23.2.1917, 119. 62 Dieser Aufstellung folgend befanden sich jeweils 400 jüdische Soldaten in Knittelfeld und Gröbming und 70 in Schladming. IKG Graz an IKG Wien, 18.3.1915. Central Archives of the History of the Jewish People (CAHJP), Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien A/W 364.3. 63 Vgl. Grazer Israelitischer Frauenverein, Bericht für die Jahre 1914, 1915, 1916, Graz 1917, 4–5. 64 Die IKG bemühte sich um ein Quartier in der Nähe der Universität. Dieses war im Eigentum des Landes Steiermark und konnte rund 800 Flüchtlinge aufnehmen. Weiters wurde der Turnsaal der IKG den Flüchtlingen geöffnet und diese dort vorübergehend untergebracht. Vgl. Protokoll der Kuratoriumssitzung der Zentralstelle für jüdisches Armenwesen, 25.11.1914. RGWA, 709-2-6. 65 Vgl. Protokoll der Kuratoriumssitzung der Zentralstelle für jüdisches Armenwesen, 17.11.1914. RGWA, 709-2-6  ; Grazer Israelitischer Frauenverein, Bericht für die Jahre 1914, 1915, 1916, 5. 66 Für 1917 gibt die Allianz eine Zuwendung von 84.600 Kronen an das Hilfskomitee in Graz an. Vgl. Aus dem Jahresbericht der »Isr. Allianz« zu Wien, in  : Dr. Bloch’s Oesterreichische Wochenschrift, 21.6.1918, 23. 67 Vgl. Protokoll der Kuratoriumssitzung der Zentralstelle für jüdisches Armenwesen, 30.11.1914. RGWA, 709-2-6.

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Heimarbeit für Frauen und Mädchen in den Räumlichkeiten der IKG, fand.68 Generell waren die Kultusgemeinde, einzelne Vereine und die Zentralstelle auf diese Art und Weise über die ganze Kriegszeit hinweg die zentralen Anlaufstellen für alle jüdischen Kriegsflüchtlinge, Soldaten und Verwundete in Graz und darüber hinaus. Und auch wenn die Steiermark und die Stadt Graz, wie aus mehreren Verordnungen hervorgeht, innerhalb der habsburgischen Flüchtlingspolitik nicht für die Unterbringung von jüdischen Flüchtlingen vorgesehen waren, so suchten über die Kriegsjahre hinweg doch Tausende von ihnen Schutz in der Steiermark. Wirklich willkommen geheißen wurden sie jedoch zu keiner Zeit, wie ein Memorandum der Statthalterei aus dem Jahr 1915 belegt. Darin wird in Hinblick auf die staatlich zugewiesene Flüchtlingskategorie (Eisenbahner aus Galizien und der Bukowina und Italiener) festgehalten, dass diese »unserer Bevölkerung kulturell und sozial am nächsten steht« und man daher auch bestrebt sei, nur jene »Flüchtlingskategorie« aufnehmen und betreuen zu wollen, die der Steiermark offiziell zugewiesen ist und alle übrigen »konsequent« aus der Steiermark entfernen wolle. Gemeint waren damit vor allem Ruthen:innen sowie Jüdinnen und Juden.69 Ganz in diesem Sinne wurde im April 1915 von der Statthalterei die Sperrung der Stadt Graz wie auch deren Umgebungsgemeinden Waltendorf, Eggenberg und Wetzelsdorf für den Zuzug weiterer Flüchtlinge verfügt und zudem angeordnet, dass neu nach Graz kommende Flüchtlinge sofort in die eigens vorgesehenen – nach Nationalitäten unterteilten – Flüchtlingsgebiete weiter zu transportieren seien. Zudem wurde verordnet, dass all jene jüdischen Flüchtlinge, die zwischen 1. Jänner 1915 und 20. März 1915 von der IKG Graz aufgenommen worden waren, noch im April 1915 in die Stadt Pardubitz/Pardubice in Böhmen verfrachtet werden sollten.70 Eine Maßnahme, gegen die die Israelitische Kultusgemeinde im Namen der Flüchtlinge beim Ministerium des Inneren Protest einlegte, da die Flüchtlinge viel Entbehrungen und Not erlitten haben, ehe es ihnen mit unserer Hilfe gelungen ist, eine halbwegs menschenwürdige Zufluchtsstätte in Graz zu finden und [sie haben] Angst, dass sie nun neuerdings diese Not und Entbehrungen durchzumachen haben werden. Unsere Amtsräume werden den ganzen Tag von den betroffenen Flüchtlingen belagert, welche flehentlich bitten, dass wir alle Hebel in Bewegung setzen mögen, um ihnen diese neuerliche Verschickung zu ersparen.71

Die Beschwerde dürfte allerdings wenig Erfolg gehabt haben. Vielmehr wurde im November 1915 das Zielgebiet für jüdische Flüchtlinge noch um die Städte Nikols68 Grazer Israelitischer Frauenverein, Bericht für die Jahre 1914, 1915, 1916, 7. 69 StLA, ZGS Karton 42 1931, Memorandum der Statthalterei. 70 Vgl. Sperrung der Stadt Graz gegen den weiteren Zuzug von Flüchtlingen, in  : Amtsblatt der landesfürstlichen Hauptstadt Graz, Jg. 19 (20.4.1915) Nr. 11, 79. 71 IKG Graz an Ministerium des Inneren, 1.4.1915. CAHJP, Archiv der IKG Wien, A/W 357.2b.

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burg/Mikulov, Bohrlitz, Gaya/Kyjov und einzelne Flüchtlingsgemeinden um Brünn/ Brno und Prag sowie für sozial höhergestellte Flüchtlinge um die Stadt Budweis/České Budějovice erweitert. Der Steiermark (Flüchtlingslager Wagna bei Leibnitz) wurden im Zuge dieser Neustrukturierung der Flüchtlingsfürsorge italienische Flüchtlinge aus dem Küstenland überantwortet.72 Neben der Sperrung der Stadt Graz wurde spätestens ab Juli 1915 von Seiten der Behörden, dem Kriegsverlauf entsprechend, damit begonnen, die Flüchtlinge aus Galizien und der Bukowina zur Rückkehr in ihre Heimatgemeinden zu bewegen. Diese Rückkehraufforderungen wurden einerseits mit der Androhung des Entzuges der staatlichen Beihilfen beim Bleiben wie auch der finanziellen Unterstützung im Falle der Abreise unterstrichen.73 Erste Erfolge zeigten diese Maßnahmen im Oktober 1915, als an die 200 Flüchtlinge, darunter auch Juden, aus Graz nach Galizien zurückfuhren.74 Eine vollständige Rückführung der Flüchtlinge dauerte jedoch bis 1920, da sich einzelne Familien immer wieder dagegen zur Wehr setzen.75 Die große Masse an Flüchtlingen des Jahres 1914/15 wurde aber bereits Anfang 1915 von Unterpremstätten in Güterwagons nach Nikolsburg/Mikulov in Mähren transportiert.76 Unmittelbar betroffen von den Ab- und Rücktransporten waren zunächst allerdings nur jene Flüchtlinge, die sich offiziell registriert hatten und damit in den Genuss der staatlichen Unterstützungen gekommen waren. Diejenigen jedoch, die sich nicht bei den Behörden gemeldet hatten, entgingen diesen Maßnahmen. Ihre Zahl ist daher nur schwer abzuschätzen, wie generell eine genaue Angabe der Flüchtlingszahlen in der Steiermark über den Kriegsverlauf hinweg schwierig ist. Im bereits erwähnten Memorandum der Statthalterei von Mitte 1915 wird davon ausgegangen, dass sich rund 25.000 Flüchtlinge in der Steiermark befinden würden. 15.000 davon im Lager Wagna, an die 900 in St. Michael und rund 3.500 in der Stadt Graz selbst. Unter den in Graz befindlichen Flüchtlingen nimmt die Statthalterei rund 400 Juden an, die aber demnächst ausgewiesen werden sollen.77 In Bezug auf die jüdischen Flüchtlinge führt dagegen der Sekretär der IKG, Leopold Lemberger, andere Zahlen an. Er spricht im März 1915 von rund 1.200 jüdischen Flüchtlingen in Graz.78 Und der Bericht des 72 Vgl. Flüchtlingsfürsorge  ; Übersiedlung von Kriegsflüchtlingen, in  : Amtsblatt der landesfürstlichen Hauptstadt Graz, Jg. 19 (30.11.1915) Nr. 33, 209–211. 73 Vgl. Aufruf  ! An die Flüchtlinge aus Galizien und der Bukowina, in  : Amtsblatt der landesfürstlichen Hauptstadt Graz, Jg. 19 (31.7.1915) Nr. 21, 135. 74 Vgl. Heimkehr galizischer Flüchtlinge, in  : Amtsblatt der landesfürstlichen Hauptstadt Graz, Jg.  19 (20.10.1915) Nr. 29, 186. 75 Über die Probleme der Rückführung in die völlig zerstörten Heimatgemeinden berichten zahlreiche Zeitungsartikel. Vgl. u. a. Von den heimkehrenden Flüchtlingen aus Galizien und der Bukowina, in  : Dr. Bloch’s Oesterreichische Wochenschrift, 11.1.1918, 26–27. 76 Grazer Israelitischer Frauenverein, Bericht für die Jahre 1914, 1915, 1916, 5, 8. 77 Vgl. StLA, ZGS Karton 42 1931. 78 Vgl. Protokoll der Kuratoriumssitzung der Zentralstelle für jüdisches Armenwesen, 18.3.1915. RGWA, 709-2-6.

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jüdischen Frauenvereins gibt für den Dezember 1914 rund 4.000 jüdische Flüchtlinge in Unterpremstätten und für Anfang 1915 ebenfalls ca. 1.200 in Graz an. Für die Zeit nach dem Abtransport vieler aus Graz wird festgehalten  : Eine weitere Anzahl von Flüchtlingen konnte später nach Vertreibung des Feindes in ihre Heimat zurückkehren, jedoch blieb noch immer eine Menge von Flüchtlingen in unserer Stadt, meist aus Ostgalizien, aus Ortschaften, die während der ganzen Zeit vom Feinde besetzt sind oder deren Besiedelung durch Zivilbevölkerung noch immer verboten ist.79

Wie hoch die Zahl der sich zwischen 1914 bis 1918 in Graz und der Steiermark aufhaltenden Flüchtlinge war, ist nur schwer zu eruieren, da entsprechende Aufzeichnungen fehlen. Der Frauenverein berichtet 1919 lediglich, dass ihre Zahl wesentlich abgenommen habe.80 Eine statistische Aufstellung über jüdische Flüchtlinge der Österreichischen Israelitischen Allianz zu Wien aus dem Jahr 1917 weist allerdings noch immer für die Steiermark eine Zahl von 3.767 aus.81 Und laut einer amtlichen Zählung vom 1. April 1918 gab es in der Steiermark 18.658 Flüchtlingen, worunter 2.122 Jüdinnen und Juden waren.82 Fest steht auf jeden Fall, dass die Flüchtlingswellen in die Steiermark zu keiner nachhaltigen Vergrößerung der IKG Graz über die Kriegszeit hinaus führten. Denn anlässlich der Verhandlungen über das neue Wahlstatut der IKG Graz im Jahr 1922/23 und der Frage der Wahlberechtigung der Zugewanderten hielt die Landesregierung fest, dass »derzeit etwa 43 seit dem Jahre 1914 zugewanderte ausländische Juden und etwa 80 bis 100 sogenannte Neuausländer« für die Wahlberechtigung in Betracht kommen würden. Unter Neuausländern wurden jene subsummiert, die »schon vor dem Jahre 1914 in Graz und Graz Umgebung ansässig waren und nur infolge der durch den Umsturz hervorgerufenen zwischenstaatlichen Veränderungen ihrer bisherigen österr. Staatsbürgerschaft verlustig geworden«83 waren und aus welchen Gründen auch immer nicht für eine österreichische Staatsbürgerschaft optierten.84 79 Vgl. Grazer Israelitischer Frauenverein, Bericht für die Jahre 1914, 1915, 1916, 8. 80 Vgl. Grazer israelitischer Frauenverein, Bericht für das Jahr 1918, Graz 1919, 2. 81 Im Vergleich dazu wurden in  : Böhmen 72.253, Wien und Niederösterreich ca. 40.000, Mähren 35.682, Ungarn 20.000, Öst. Schlesien 12.800, Oberösterreich 10.000 und in Salzburg 1.815 gezählt. Vgl. Israelitische Allianz zu Wien, in  : Die Wahrheit, 13.7.1917, 4–5, hier 5. 82 Vgl. Jonas Kreppel, Juden und Judentum von Heute. Ein Handbuch, Zürich-Wien-Leipzig 1925, 154. 83 StLA, Statth. D73-1887/1919, Aktenvermerk vom 24.7.1923. 84 Der Friedensvertrag von St. Germain sah die Möglichkeit der Option für eine Staatsangehörigkeit vor, da die Regelung der staatsbürgerlichen Verhältnisse nicht an den Wohnsitz, sondern an die Heimatberechtigung gebunden war. Dies bedeutete, dass jemand, der zwar seit vielen Jahren in Graz oder der Steiermark leben konnte, doch seine Heimatberechtigung noch immer in seiner Heimatgemeinde außerhalb der Steiermark oder Österreichs hatte, nicht automatisch österreichischer Staatsbürger wurde. Für diese Personen sah der Artikel 80 des Friedensvertrages und die Vollzugsanweisung vom August 1920 die Möglichkeit der Option vor, wobei das Optionsrecht an die rechtlich äußerst missverständlichen Begriffe »Rasse und Sprache« gebunden war. So heißt es in Artikel 80  : »Personen, die in einem zur ehemaligen ös-

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Kriegsflüchtlinge – Antisemitismus und seine Abwehr Die Flüchtlingsfürsorge in Kombination mit der allgemeinen Notsituation durch die immer knapper werdenden Versorgungsgüter, stellte sicherlich neben all dem persönlichen Leid durch den Verlust von Angehörigen, die zentrale Herausforderung für die jüdische Bevölkerung während der Kriegszeit dar. Verschärft wurde das Ganze allerdings durch einen zunehmenden Antisemitismus, der die jüdischen Flüchtlinge und Juden im Allgemeinen für die Krisenerscheinungen und Probleme der Zeit verantwortlich machte. So kam es beispielsweise in einer Sitzung des Grazer Gemeinderates im Februar 1918 zu einem Antrag von Gemeinderat Hans Schüller, der in den Weizenmehllieferungen für die Herstellung von Mazzes für das Pessachfest eine Bevorzugung der jüdischen Bevölkerung gegenüber der nichtjüdischen sah und daher den Bürgermeister dazu aufforderte, sich im Namen der Stadt Graz bei den übergeordneten Behörden zu beschweren.85 Darauf reagierte der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Simon Rendi mit einem Beitrag im »Grazer Tagblatt« und wies darauf hin, dass der Verzehr von Mazzes während der Pessach-Feiertage eine religiöse Pflicht sei und zudem die Abgabe von ungesäuertem Brot nur gegen amtliche Brot- und Mehlkartenabschnitte erfolge. Auch hätte die Grazer Kultusgemeinde lediglich 5.600 Kilogramm Mehl für die Versorgung der gesamten jüdischen Bevölkerung von Steiermark, Kärnten und Krain und zudem von rund 3.000 Flüchtlingen erhalten.86 Aber nicht nur die Mazzesversorgung erzeugte immer wieder Aufregung bei antisemitischen Bevölkerungsteilen. Vielmehr galten die jüdischen Flüchtlinge aus den östlichen Gebieten der Monarchie generell als Feindbilder. Geschürt wurden diese Ressentiments besonders von einzelnen Grazer Tageszeitungen, weshalb das Ministerium des terreichisch-ungarischen Monarchie gehörigen Gebiet heimatberechtigt und dort nach Rasse und Sprache von der Mehrheit der Bevölkerung verschieden sind, können innerhalb eines Zeitraumes von sechs Monaten nach dem Inkrafttreten des gegenwärtigen Vertrages für Österreich, Italien, Polen, Rumänien, den serbisch-kroatisch-slowenischen Staat oder die Tschechoslowakei optieren, je nachdem die Mehrheit der Bevölkerung dort aus Personen besteht, welche die gleiche Sprache sprechen und derselben Rasse zugehören wie sie.« Zur Interpretation des Artikels 80 ist weiters festzuhalten, dass er laut Bernhard Mussak kaum nach der Kategorie »Rasse«, sondern vielmehr nach »sprachlichen« Gesichtspunkten umgesetzt wurde. Das brachte die politische Richtlinie mit sich, wonach Juden aus den Sudentenländern und der Bukowina in der Regel als »deutsch« eingestuft werden sollten und jene aus Galizien als »polnisch«. Unter dem öffentlichen antisemitischen Druck wurde die Optionsfrage in Bezug auf Juden allerdings zunehmend restriktiv gehandhabt. Vgl. dazu Mussak, Bernhard  : Staatsbürgerrecht und Optionsfrage in der Republik (Deutsch-)Österreich zwischen 1918 und 1925, Phil. Diss. Wien 1995, 376–400  ; Besenböck, Oskar  : Die Frage der jüdischen Option in Österreich 1918–1921, Phil. Diss. Wien 1992  ; Vgl. Thienel, Rudolf  : Österreichische Staatsbürgerschaft 1, Wien 1989, 51–58  ; Hoffmann-Holter, Beatrix  : »Abreisendmachen« Jüdische Kriegsflüchtlinge in Wien 1914 bis 1923, Wien-Köln-Weimar 1995, 226–228. 85 Vgl. Stenographischer Bericht über die ordentliche Sitzung des Gemeinderates der Landeshauptstadt Graz, am 28. Februar 1918, in  : Amtsblatt der landesfürstlichen Hauptstadt Graz, Jg. 22 (10.3.1918) Nr. 7, 97. 86 Vgl. Zur Aufklärung  !, in  : Grazer Tagblatt, 14.3.1918, 3.

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Inneren, um die Aufrechterhaltung des inneren Friedens besorgt, mehrmals mittels Zensur dagegen vorging. Im Zentrum dieser Erhebungen stand häufig das deutschnational und antisemitisch ausgerichtete »Grazer Tagblatt«.87 Wie die Argumentation gegen die jüdischen Flüchtlinge konkret aussah, kann einem Bericht des Generalstabschefs des Militärkommandos Graz an das Präsidium der Statthalterei vom Juli 1916 entnommen werden. Darin heißt es  : Es sind vielfach Klagen über die mangelhafte Beaufsichtigung der galizischen Juden hörbar, welche rücksichtslos Lebensmittel in großen Quantitäten von Landleuten außerhalb der Stadt- und Ortsrayone und auf Märkten einkaufen sollen, um selbst Geschäfte mit großem Gewinn machen zu können. Hierdurch werden nur kleine Quantitäten von Lebensmitteln auf den Markt gebracht und die Preise willkürlich enorm in die Höhe getrieben. Vielfach wird geklagt, dass manche Geschäftsleute und Verkäuferinnen auf Marktplätzen gegen die Käufer höchst brutal vorgehen und diese sogar mit unflätigsten Schimpfworten überhäufen  ; wenn solche Beschwerden den Marktaufsehern oder Sicherheitsorganen vorgebracht werden, sollen dieselben die gerechtfertigten Beschwerden höchstens mit Achselzucken entgegennehmen und nichts veranlassen, um die beteiligten Käufer in Schutz zu nehmen. Über die geflüchteten Italiener aus den s[üdl.], w[estl], Grenzgebieten wird vielseitig geschimpft, dass sie auf Strassen, Plätzen und in Anlagen ostentativ und mit sehr lauter Stimme nur die jetzt verhasste italienische Sprache sprechen und dadurch die friedliebenden Einheimischen zu unliebsamen Äußerungen herausfordern.88

Durch diesen Bericht offenbar verunsichert, wird in weiterer Folge der Grazer Stadtrat mit der Durchführung von Erhebungen zu diesen Gerüchten angehalten. Dabei kommt man zum Schluss, dass »der bestehende Ausnahmezustand eine vollständige Wandlung des Verkehrs auf den hiesigen Lebensmittelmärkten und des Marktlebens mit sich gebracht« habe. Die Lebensmittelknappheit führt er jedoch nicht auf Großeinkäufe galizischer Flüchtlinge, sondern zunächst auf »verminderte Produktion bedingt durch Leuteund Futtermangel, de[n] aussergewöhnliche[n] Bedarf an Lebensmittel seitens des Militärs und dessen Anstalten, de[n] vielfach geübte[n] Einkäufen der Stadtbewohner an den Erzeugungsstellen, d[er] Versorgung mit Lebensmittel für die Flüchtlings- und Interniertenlager und endlich [auf den] Ankauf durch fremde Händler auf dem flachen Lande« zurück. Und in Bezug auf die galizischen Flüchtlinge wird explizit festgehalten, dass »im gegenwärtigen Zeitpunkte […] ein Missbrauch der Gastfreundschaft, welche die Flüchtlinge aus Galizien in Graz genießen, nur vereinzelt zur Beobachtung« gelangt und im konkreten Falle dagegen auch sehr streng vorgegangen werde.89 87 Das Tagblatt ist das Sprachrohr der Deutschnationalen und verbreitet regelmäßig antisemitische Inhalte. Vgl. StLA, Statth. Präs. A 5 b 2735/1916. 88 Vgl. StLA, Statth. Präs. A5b 2388/1916. 89 Vgl. StLA, Statth. Präs. A5b 2388/1916, Bericht des Grazer Stadtrates an die Statthalterei, 21.3.1916.

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Damit widerlegen die Erhebungen des Stadtrates die vom Militärkommando aufgezeichneten Gerüchte und Stimmungen. Zugleich zeigt sich jedoch das Muster antisemitischer Beschuldigungen, wonach die jüdische Bevölkerung, besonders die galizischen Flüchtlinge, an der immer schlechter werdenden Versorgungslage der Bevölkerung schuld seien. Man bediente sich der über Jahrzehnte/Jahrhunderte hinweg eingeübten antisemitischen Vorurteile und Stereotype, des wuchernden und betrügenden Juden, der getrieben von seiner Gewinnsucht und Vaterlandslosigkeit nur danach trachte die christliche/deutsche Bevölkerung auszubeuten. Es waren dies Bilder, die in der Öffentlichkeit immer wieder diskutiert und verbreitet und schließlich auch konkret handlungsleitend wurden. Und so forderte beispielsweise der Gemeinderat Fritz Schatzl im August 1918, als sich die Kriegs- und Versorgungslage dramatisch verschlechterte, in der Gemeinderatssitzung vom Stadtrat  : Zum Zwecke der Besserung der Ernährungs- und Wohnungsverhältnisse der in der Stadt Graz ansässigen Bevölkerung wird der Stadtrat beauftragt, zweckmäßige Vorschläge dem Gemeinderat zu unterbreiten, durch welche Maßnahmen 1. der längere Aufenthalt von Fremden unterbunden, 2. die Eruierung und der Abschub von arbeitsscheuen, einkommenslosen Elementen erreicht, 3. der möglichst rasche Abzug von Flüchtlingen in die bereits wiederbevölkerten Gebiete gefördert, 4. der Abtransport der einkommenslosen, arbeitsunfähigen, erst im Kriege nach Graz gekommenen Bevölkerung durchgeführt werden kann.90

Nicht nur, dass Schatzl damit in den letzten Kriegstagen die Lösung aller Probleme mit einer Abschiebung der »Fremden«, »Arbeitsunfähigen« und »Flüchtlinge« zu lösen gedachte, wurde damit auch die Richtung für den Umgang mit der jüdischen Bevölkerung für die ersten Jahre der Republik vorgegeben. Jüdische Flüchtlinge, Zuwanderer, Juden im Allgemeinen waren für christlichsoziale und deutschnationale Politiker vorrangige Feindbilder, die für die verschiedensten Probleme verantwortlich gemacht wurden. Und so verwundert es auch nicht, wenn der deutschnationale Bürgermeisterstellvertreter Adolf Fizia (von Dezember 1917 bis Juni 1919 Bürgermeister) beispielsweise in der Gemeinderatssitzung vom 25. September 1919 die Ausweisung der »zahlreichen hier ansässigen polnischen Juden« aus den Notwohnungen forderte.91 90 Vgl. Stenographischer Bericht über die ordentliche Sitzung des Gemeinderates der Landeshauptstadt Graz am Donnerstag dem 11.  Juli 1918, in  : Amtsblatt der landesfürstlichen Hauptstadt Graz, Jg.  21 (10.8.1918) Nr. 22, 497–498. 91 Vgl. Stenographischer Bericht über die ordentliche Sitzung des Gemeinderates der Landeshauptstadt Graz am Donnerstag den 25. September 1919, in  : Amtsblatt der Landeshauptstadt Graz, Jg. 23 (10.10. 1919) Nr. 28, 562.

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Auch wurde von Antisemiten eine zunehmende »Verjudung des Handelsstandes« moniert und zudem der jüdischen Bevölkerung unterstellt, sich während des Krieges vor den Kriegsopfern gedrückt zu haben. So sprach beispielsweise der Gemeinderat Ferdinand Herzog von der Nationalmittelständischen und Christlichsozialen Bürgerpartei im November 1919 davon, dass »es [die] Pflicht einer Gemeinde [sei], die hier ansäßigen Personen in ihrem Erwerb nicht zu gefährden, zumal dann, wenn es sich um Personen handelt, die in der Kriegszeit schwere Opfer brachten, was man von den Juden nicht behaupten kann.« Und er schloss seine Rede mit dem Antrag  : »Der Stadtrat wird beauftragt, ehest geeignete Vorschläge zum Schutze der Einheimischen gegen die immer mehr um sich greifende Verjudung des Handelsstandes dem Gemeinderate vorlegen zu wollen (Bravorufe)«92. Ähnliche Forderungen wurden auch in den folgenden Monaten immer wieder im Gemeinderat und in Zeitungen erhoben93, wobei der sozialdemokratische Bürgermeister Vinzenz Muchitsch diesen mit dem Hinweis auf die Gewerbeordnung und deren Einhaltung entgegen trat.94 Doch auch wenn Bürgermeister Muchitsch damit die offizielle Linie der Stadtverwaltung vorgab, konnten die antisemitischen Anfeindungen nicht unterbunden werden. Vielmehr wurden sie durch die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Spannungen noch verschärft. Antisemitische Hetze stand gleichsam in der gesamten Steiermark auf der Tagesordnung und wurde sowohl in Zeitungen und Zeitschriften betrieben95 als auch durch Aktionismus befördert. So kam es beispielsweise im August 1919 in Mariazell zu einer Pogromdrohung96 und auch in Graz wur92 Vgl. Stenographischer Bericht über die ordentliche Sitzung des Gemeinderates der Landeshauptstadt Graz am Donnerstag den 13. November 1919, in  : Amtsblatt der Landeshauptstadt Graz, Jg. 23 (30.11. 1919) Nr. 33, 650. 93 Vgl. Stenographischer Bericht über die ordentliche öffentliche Sitzung des Gemeinderates der Landeshauptstadt Graz am Donnerstag, den 19. Februar 1920, in  : Amtsblatt der Landeshauptstadt Graz, Jg. 24 (10.3.1920) Nr. 7, 131. 94 Vgl. Stenographischer Bericht über die ordentliche öffentliche Sitzung des Gemeinderates der Landeshauptstadt Graz am Donnerstag, den 11.  März 1920, in  : Amtsblatt der Landeshauptstadt Graz, Jg.  24 (31.3.1920) Nr. 9, 160. 95 Vgl. allgemein  : Rütgen, Herbert  : Antisemitismus in allen Lagern. Publizistische Dokumente zur Ersten Republik Österreich 1918–1938 (Dissertationen der Karl-Franzens-Universität Graz 78), Graz 1989. 96 Demnach wurde beispielsweise ein Flugblatt gefunden, auf dem festgehalten war, dass »Juden welche bis Sonntag den 10. August Mariazell nicht verlassen mit Steirerhieben hinausgetrieben werden«. Der Zettel wurde am Hauptplatz angebracht. Zudem gab es am 13. Dezember 1919 an der jugoslawischen Grenze eine Versammlung des Bauernkommandos unter der Leitung der Gebrüder Probst. Diese suchten Anhänger für einen Putsch gegen »die Juden, bezw. jüdische Regierung«, wie es im Polizeibericht heißt. Und weiter  : »Den Teilnehmern wird versprochen, dass sie Rücksäcke mitnehmen sollen und dass sie nicht leer von Graz zurückkehren werden, es müsse bei dieser Gelegenheit mit den Juden in Graz gründlich Abrechnung gehalten werden.« StLA, Statth. Präs. E91 2537/1918, Posten Ehrenhausen an Landesgendarmeriekommando Steiermark, 14.12.1919. Zum Bauernkommando und den Gebrüdern Probst vgl. Schober, Franz Josef/Staudinger, Eduard G.: Zeitgeschichtliche Biographien. Dr. Willibald Brodmann – Dr. Hans Tita Probst, in  : Marktgemeinde Straden (Hg.)  : Straden, Straden 1999, 131–170, hier 134–147.

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den immer wieder Flugzettel mit antisemitischen Inhalten verteilt. Als Täter wurden hier meist Studenten ausgeforscht.97 Wie krude das Konglomerat an antisemitischen Anschuldigungen war, kann letztlich an einer Entschließung an die Staatsregierung vom »Deutschen Bauerntag« in Arnfels vom 30. November 1919 abgelesen werden. Darin heißt es, dass man namens der ganzen deutsch gesinnten Bevölkerung der Gemeinde entschiedenste Verwahrung ein[lege], gegen den übermäßig starken Einfluß der Judenschaft bei der Staatsregierung, gegen die ungerechtfertigt starke Besetzung von Staatsämtern mit Juden, gegen die Vorherrschaft des Judentums in den Zentralen, gegen die ungemein sich häufenden Übergriffe der Arbeiter und Soldatenräte, gegen die Terrorisierung der bürgerlichen Bevölkerung durch die Arbeiterschaft wie es z. B. in Bruck an der Mur geschehen ist, gegen den Fortbestand der Volkswehr bezw. gegen eine Parteiwehr, falls auch die neue Reichswehr eine solche sein sollte, gegen die Verschwendung des Volksvermögens durch die unnötige Arbeitslosenunterstützung, wodurch nur die Arbeitsscheu befördert und der wirklich Arbeitende in seiner Steuerkraft ungemein belastet wird, und endlich auch gegen den Versuch der Einführung einer jüdisch-kommunistischen Räteregierung, wie sie bereits durch die Aufstellung von Arbeiter, Sturmbataillonen vorbereitet wird. Die Gemeindevertretung versichert der hohen Landesregierung, dass sie jederzeit für Ordnung und für die Beachtung der Gesetze eintreten wird, ist aber auch entschlossen mit den äußersten Mitteln gegen gewaltsame Übergriffe seitens ungesetzlicher Organe, wie Arbeiterund Soldatenräte vorzugehen.98

Der Antisemitismus in Österreich erfuhr ab dem Jahr 1917 und hier besonders im Zuge der Wiedereinberufung des Reichsrates im Mai eine neue Publizität. Dieses mediale Erstarken wurde von den jüdischen Gemeinden und Redaktionen sehr wachsam beobachtet.99 Welche Befürchtungen man mit diesen Entwicklungen verband, ersieht man exemplarisch am Leitartikel der ersten Nummer des Jahres 1917 von Dr. Bloch’s Österreichsicher Wochenschrift  : Es ist wirklich nicht nötig, daß das jüdische Problem der nächsten Zukunft durch die Polen­ frage noch verschärft werde. Auch ohne diese werden wir uns unserer Haut genügend zu wehren haben. Die Regierungspartei setzt sich aus Deutschnationalen und Christlichsozialen 97 StLA, Statth. Präs. E91 2537/1918, Polizeidirektion Graz an Landesregierung, 19.10.1919. 98 Die Entschließung deckt sich mit einer Resolution des Gemeinderates der Gemeinde Dietersdorf im Bezirk Radkersburg vom 28.11.1919, die dieser an die Landesregierung schickte. StLA, Statth. Präs. A5b 2947/1919. 99 Es gibt zahlreiche Artikel, die sich auch mit dem Antisemitismus in der Steiermark beschäftigen. Hier wird immer wieder auf das den Christlichsozialen zugeordnete »Grazer Volksblatt«, wie auf das Sprachrohr der Deutschnationalen, das »Grazer Tagblatt« verwiesen. Z. B  : Leser in Graz, in  : Dr. Bloch’s Oesterreichische Wochenschrift, 4.1.1918, 16  ; Was sie in Graz für Sorgen haben, in  : Dr. Bloch’s Oesterreichische Wochenschrift, 24.11.1916, 768.

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zusammen, also aus Leuten, die politisch zum großen Teil vom Antisemitismus leben. Wir wissen, was wir von diesen Parteien zu erwarten haben, wenn auch im Ministerium selbst Männer sitzen, deren fortschrittliche Gesinnung bewiesen ist. Die Antisemiten werden jedoch gleich nach Friedensschluß mit ihrer Demagogie hervortreten. Sie sind mit einem Vulkan zu vergleichen, dessen Grollen man jetzt schon hört, und dessen Ausbruch sicherlich bevorsteht. Es wäre schlimm, wenn man ihnen nicht tatkräftig und bald entgegentritt. Denn man verwendet jetzt gegen die Juden ein russisches Rezept. Alle Kriegsgewinner, an der Spitze die Agrarier, geben die Parole aus, die unzufriedenen Massen gegen die Juden zu hetzen, obwohl die Juden nur einen verschwindenden Bruchteil der Kriegsgewinner ausmachen. Man wird so tun, als ob keine Agrarier, Großgrundbesitzer, Industrielle, Greißler, Wirte usw. auf der Welt wären, sondern alles auf die Juden wälzen wollen. Da wird es wohl harte Kämpfe geben, die Bevölkerung davon zu überzeugen, wo sich die Ausbeuter befinden. Trotz allem Burgfriedens läßt man jetzt schon der antisemitischen Presse die Zügel schießen.100

Beinahe hellsichtig wurde hier die zukünftige Entwicklung vorhergesagt und zugleich auch versucht gegen den Antisemitismus vorzugehen. Die Strategien waren vielfältig. So wurde regelmäßig in den Zeitungen und Zeitschriften, wie »Dr.  Bloch’s Österreichische Wochenschrift«101 oder der Zeitschrift »Die Wahrheit« und anderen gegen den Antisemitismus und die Antisemiten angeschrieben. Es wurden Resolutionen verfasst102 und Protestveranstaltungen durchgeführt. Nichtdestotrotz resümierte man jedoch im Jänner 1920  : Wer über die geringen Erfolge der Abwehrtätigkeit klagt, übersieht die Schwere der Aufgabe, gegen einen tollwütigen, böswilligen, allen Vernunftgründen unzugänglichen Gegner, der sich der niedrigsten und gemeinsten Kampfmethoden bedient, zu kämpfen. Er übersieht das eine, daß wir aus einem ethischen Empfinden heraus den Judenfeinden auf ihr Kampfgebiet nicht folgen, ihre Kampfweise nicht nachahmen, daß wir ihrer heimtückischen Wut nur mit den blanken Waffen des Geistes begegnen können. Es gilt zu erwägen, daß wir uns immer nur in der Verteidigung befinden, daß wir gegen die Giftpfeile eines ungerechten Hasses nur die Defensivstellung einnehmen können.103 100 1917, in  : Dr. Bloch’s Oesterreichische Wochenschrift, 5.1.1917, 2. 101 Lappin-Eppel, Eleonore  : Zensur und Abwehr des Antisemitismus  : Dr. Bloch’s österreichische Wochenschrift im Ersten Weltkrieg, in  : Nagel, Michael/Zimmermann, Moshe (Hg.)  : Judenfeindschaft und Antisemitismus in der deutschen Presse über fünf Jahrhunderte  : Erscheinungsformen, Rezeption, Debatte und Gegenwehr, Bd. 1, Bremen 2013, 299–316. 102 Gegen die antisemitischen Übergriffe, vor allem im Zuge der »Deutschen Volkstage« setzten sich die Österreichischen Kultusgemeinden beispielsweise im Juli 1918 mittels einer Resolution, die von über 300 Kultusgemeinden unterzeichnet wurde, zur Wehr. Darin wies man auf die vielen Opfer der jüdischen Bevölkerung im Krieg hin sowie die völlig aus der Luft gegriffenen Anschuldigungen zurück. Vgl. u. a. StLA, Statth. Präs. E 91 2537/1918. 103 Vgl. Die Abwehr, in  : Dr. Bloch’s Wochenschrift, 2.1.1920, 1–2.

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Der Abwehrkampf richtete sich nicht nur gegen den Antisemitismus und die Antisemiten, sondern appellierte auch an die Jüdinnen und Juden. Sie sollten sich wieder ihres Judentums bewusst werden, um auf diese Art gestärkt gegen die antisemitische Bedrohung bestehen zu können. Eines Judentums jedoch, das von verschiedenen Gruppen zunehmend unterschiedlich verstanden wurde. Und so kann als eine der zentralen Folgen des Zusammenbruchs der Monarchie und der vehementen antisemitischen Bedrohung die damit einherging, letztlich die Politisierung der jüdischen Bevölkerung Österreichs gesehen werden. Liberal-Konservative, zionistische, religiösorthodoxe und sozialistische Gruppierungen boten in den Jahren des Umbruchs und der Zwischenkriegszeit ihren Anhängern je unterschiedliche Auswege aus der Krise an.

Kriegsende – Umbruch und Krise Die Radikalisierung des Antisemitismus und die Umbruchserfahrungen lösten auch bei der jüdischen Bevölkerung in der Steiermark Verunsicherung aus, die die gesamte Zwischenkriegszeit hinweg nicht überwunden werden sollte. Im Kern ging es dabei um die Frage der Verortung der jüdischen Bevölkerung im neuen Staat und der sich zunehmend hegemonial deutschnational verstehenden Gesellschaft. Bildete bis 1918 der multiethnische Habsburgerstaat mit der Verfassung von 1867 den Rahmen für die identitätspolitische Verortung der jüdischen Bevölkerung, so wurden plötzlich die überlieferten und hegemonialen Identitätsnarrative brüchig und unterschiedliche jüdische Gruppierungen versuchten auf die Situation alte und neue Antworten zu geben. Diese betrafen sowohl die grundsätzliche Frage, was Judentum denn überhaupt sei, als auch davon abgeleitet die Organisationsform der jüdischen Gemeinschaften. Es ging zudem um fundamentale Aspekte der Beziehung der Gemeinschaft wie auch des Einzelnen zum Staat und der Umgebungsgesellschaft. In Anlehnung an die allgemeinen Umbruchserfahrungen wurde in diesem Kontext von zionistischen Gruppierungen auch von einer »jüdischen Revolution«104 gesprochen. Angeregt durch das »Völkermanifest«105 von Kaiser Karl I., das auf die von Woodrow Wilson propagierte Selbstbestimmung der Völker setzte, forderten zionistische Gruppen von Wien ausgehend eine Demokratisierung der jüdischen Gemeinden ebenso wie eine Anerkennung der Juden als nationale und nicht länger religiöse Minderheit. So konstituierte sich im Oktober 1918 ein »jüdischer Nationalrat«, der im Namen des »zu neuem nationalen Leben erwachten jüdischen Volke«, 104 Vgl. dazu in Anlehnung an Robert Weltsch, u. a. Rechter, David  : The Jews of Vienna and the First World War, London-Portland 2001, 166–167. 105 Vgl. Rauchensteiner, Manfried  : Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie, WienKöln-Weimar 2013, 1027–1033.

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in Übereinstimmung mit dem von allen kriegführenden Mächten proklamierten Grundsatz der Demokratie und des Selbstbestimmungsrechtes der Völker [forderte], daß [das Judentum] als gleichberechtigte Nation in der Gemeinschaft der Völker anerkannt werde, und eine Vertretung beim allgemeinen Friedenskongreß zuerkannt erhalte. […] In Oesterreich verlangt das jüdische Volk gemäß den oben ausgesprochenen Grundsätzen sofortige Anerkennung als Nation und Gewährleistung seiner nationalen Rechte.106

Der jüdische Nationalrat sollte auf Basis des Zionismus die einzige legitime politische Vertretung der jüdischen Bevölkerung sein und für die Anerkennung als Nation sowie die Zusicherung von nationalen Minderheitsrechten eintreten. Anfang November 1918 verdeutlichte man diese Forderung nochmals in einem Manifest  : Wir fordern innerhalb des deutschösterreichischen Staates, daß gemäß den Grundsätzen der Demokratie vollkommene politische und bürgerliche Gleichberechtigung für alle Bürger tatsächlich durchgeführt werde. In allen Angelegenheiten, die an das Territorium gebunden und daher allen Bürgern gemeinsam sind, wollen wir im besten Einvernehmen mit dem deutschen Volke am Aufblühen des Staates mitarbeiten. Wir wollen, wie es die Juden stets getan haben, unsere geistigen und materiellen Kräfte in den Dienst des Gemeinwesens stellen. Aber wir tun dies nicht als rechtlose und geduldete Einzelpersonen, sondern als Angehörige des jüdischen Volkes. Wir fordern im deutschösterreichischen Staate unsere Anerkennung als Nation. Wir wollen nicht zu einer Lüge gezwungen sein, wir wollen das Recht haben, als Söhne des jüdischen Volkes uns zu unserem Volke zu bekennen. Aber nicht nur die Anerkennung ist unser Ziel  ; wir fordern auch die Gewährung und Sicherung nationaler Rechte. Die Rechte, die wir als Minderheitsnation geltend machen, müssen der Eigenart unserer Lage entsprechen. Alle Angelegenheiten, welche ausschließlich das jüdische Volk angehen, wollen wir in autonome Verwaltung übernehmen. Wir wollen an Stelle der Kultusgemeinde die jüdische Volksgemeinde setzen, welche auf Grund des demokratischen Prinzips nach dem allgemeinen gleichen Wahlrecht aller Männer und Frauen konstituiert wird. Dieser Volksgemeinde obliegt die Verwaltung des ganzen Gebietes des jüdischen kulturellen Lebens, vor allem auch des Schul- und Erziehungswesens. Das jüdische Volk soll selbst die Verantwortung für die Erziehung seiner Kinder tragen  ; wir wollen unsere Jugend zu aufrechten Menschen und ganzen Juden erziehen. Ebenso wird die Volksgemeinde die vom jüdischen Volke stets hochgehaltene Wohlfahrtspflege und soziale Fürsorge nach modernen Grundsätzen als eine wichtige Aufgabe betrachten.107

Auch in Graz erhielt in diesen Monaten die zionistische Bewegung steten Zulauf. Nicht zuletzt auch von jenen Jüdinnen und Juden, die im Zuge der Kriegshandlungen aus 106 Der Wille des Volkes, in  : Jüdische Zeitung, 20.10.1018, 1. 107 Manifest, in  : Jüdische Zeitung, 2.11.1918, 1.

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den östlichen Gebieten der Monarchie in die Steiermark geflohen waren. Diese organisierten sich bereits im November 1917 zum »Jüdischen Nationalverband für die Alpen- und Küstenländer Österreichs« (»Jüdischer Nationalverband«)108, der 1920 mit den »Grazer Jüdischen Nachrichten« auch über eine eigene Zeitung verfügte.109 Der »Jüdische Nationalverband«, der sich in den Statuten der »Stärkung des jüdischen Standesbewusstseins, [der] Wahrung und Förderung jüdisch-nationaler Bestrebungen und Einrichtungen, sowie [der] Geltendmachung der Interessen der Juden in den Alpen- und Küstenländern auf politischem, kulturellem und wirtschaftlichem Gebiete«110 verschrieben hatte, beanspruchte nun für sich die Führungsrolle der Juden in der Steiermark und Kärnten und strebte den Wiener Forderungen folgend die Umwandlung der Grazer Kultusgemeinde in eine »Volksgemeinde« an.111 Es ging ihnen dabei vor allem um die Ablöse der bisherigen Leitung der Kultusgemeinde, die als »Assimilanten«, »Deutschliberale«, »Konservative« bezeichnet wurden. Das organisatorische Zentrum der Konservativen, die dem Zionismus kritisch gegenüber standen, war die 1884 gegründete »Union deutschösterreichischer Juden« (ehemals Österreichisch Israelitische Union) mit ihren in Wien erscheinenden Sprachrohren »Dr.  Bloch’s Österreichische Wochenschrift« und »Die Wahrheit«. So wurde denn auch in diesen beiden Zeitungen gegen die Bestrebungen der Zionisten mobil gemacht und in einem Aufruf an die »Juden Deutschösterreichs«, den auch Simon Rendi als Präsident der Grazer Gemeinde unterzeichnete, festgehalten  : »Wir stehen auf dem von jeher festgehaltenen Standpunkt, daß das Band, welches die Judenheit verbindet und zusammenhält, ausschließlich das konfessionelle ist. Wir fühlen uns durch Heimat, Sprache und Erziehung als Deutsche und als vollberechtigte Bürger der deutsch-österreichischen Republik.«112 Neben den Konservativen und Zionisten griffen noch zwei weitere jüdische Gruppierungen in die Umgestaltungsprozesse jener Jahre ein. Es waren dies orthodoxe und sozialistische Organisationen. Über die orthodoxe Position gibt eine Erklärung von Ende Dezember 1918 Auskunft. Darin wurde festgehalten  : Durch unsere Abstammung, durch unsere mehrtausendjährige Geschichte und insbesondere durch unsere heilige Religion sind wir Juden eine allen anderen Völkern gegenüber geschlossene Volksgemeinschaft, zu der wir treu und unerschütterlich stehen. Diese Tatsache ist uns selbstverständlich und unbestreitbar, daß wir es nicht nötig erachten, das besonders zu betonen. Wir leben hier im Staate Deutschösterreichs, dessen treue und hingebende Bürger wir Juden sind und sein wollen  ; und dementsprechend verlangen wir als solche den vollen

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Vgl. StLA, LReg. 206 J 40/1929. Die »Grazer Jüdischen Nachrichten« erschienen nachweislich 1920 und 1921. Vgl. § 3 der Statuten. Vgl. StLA, LReg. 206 J 40/1929. Vgl. Jüdische Volksversammlung, in  : Grazer Jüdische Vereinsnachrichten, Jg. 1 (Juli 1920) Nr. 8, 2–3. Aufruf an die Juden Deutschösterreichs, in  : Die Wahrheit, 13.12.1918, 5.

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und gleichen und durch nichts beschränkten Genuß aller Staatsbürgerrechte unmittelbar für jeden einzelnen.113

Weder Orthodoxe noch Sozialisten erlangten in der Steiermark und Graz eine bedeutende Stellung, weshalb die Konflikte vor allem zwischen den Konservativen und Zionisten ausgetragen wurden. Im Wesentlichen ging es um die Frage der Vorherrschaft in der Kultusgemeinde und damit eng verbunden um die Frage der Wahlmodalitäten des Kultusrates. Bei den letzten Wahlen vor dem Ersten Weltkrieg im Jahr 1912 wurde mit dem Tuchhändler Simon Rendi ein Vertreter der Konservativen zum Präsidenten der IKG gewählt.114 Rendi blieb, nachdem man Neuwahlen auf Grund der Kriegssituation nicht durchführte, über die ganzen Kriegsjahre hinweg Präsident der IKG und vertrat diese gegenüber den Behörden und dem Staat.115 Nach dem Ende des Krieges strebte man zunächst eine weitere Verschiebung der Neuwahlen an und begründete dies damit, dass das Gebiet der IKG Graz durch den Untergang der Habsburgermonarchie nicht mehr klar bestimmbar sei, die neuen Grenzziehungen abzuwarten seien. Weiters war die Frage offen, wer überhaupt wahlberechtigt sei.116 Nach einer kurzen Verschiebung wurden die Wahlen schließlich Anfang März 1919 durchgeführt und Simon Rendi in seinem Amt bestätigt.117 Die offene Frage der Wahlberechtigung war bis dahin noch nicht geklärt worden, und die Wahl selbst wurde von heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Konservativen und Zionisten begleitet.118 Während man sich in weiterer Folge 1919 rasch auf die Sprengelgröße der Kultusgemeinde einigen konnte (Steiermark und Kärnten) blieben die grundsätzlichen Fragen des Wahlstatuts weiterhin ungeklärt.119 Dieses war vor allem dahingehend umstritten, erwartete man sich doch von dieser Entscheidung eine Weichenstellung innerhalb der IKG. Unklar war vor allem, ob all jene steuerzahlenden Mitglieder der IKG, die keine österreichische Staatsbürgerschaft besaßen, wie bisher wahlberechtigt sein sollten oder nicht. Während die Zionisten darauf drängten, dass alle steuerpflichtigen Mitglieder der IKG ohne österreichische Staatsbürgerschaft an der Wahl teilnehmen können, traten die Konservativen vehement dagegen auf und beschlossen mit ihrer Mehrheit im 113 Erklärung der Wiener Orthodoxen, in  : Die Wahrheit, 27.12.1918, 4. 114 RGWA, 709-2-19. 115 1914 beantragte die IKG eine Statutenänderung. Diese legte fest, dass »in außerordentlichen Fällen wie z. B. im Falle eines Krieges, einer Epidemie, öffentlicher Unruhen u. dergl. […] der Kultusrat berechtigt [sei], die Vornahme der Wahlen in den Kultusrat zu verschieben.« In weiterer Folge kam es zu einer Verschiebung der Wahlen während der Kriegszeit. Vgl. Stadtarchiv Graz, 1329/1914 [XI 313b]. 116 StLA, Statth. D73-78/1919. 117 Vgl. StAG, A2, 313/1948  ; RGWA, 714-1-8. 118 Von 444 Wahlberechtigten wurden 377 Stimmen abgegeben. 187 entfielen auf die Partei von Rendi. Simon Rendi an Siegfried Fleischer, 12.3.1919. RGWA, 714-1-8. 119 StLA, Statth. D73-1887/1919.

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Kultusrat im April 1921 eine diesbezügliche Statutenänderung. Konkret wollten sie das Wahlrecht »ausschließlich an österreichische Staatsbürger mit Ausnahme solcher Ausländer, die bereits im Jänner 1913 besteuert waren« vergeben.120 Dagegen wiederum erhob der »Jüdische Nationalverband« Beschwerde und versuchte seine Anhänger in einer Reihe von Versammlungen zu mobilisieren.121 Über die Vehemenz dieses Streites gibt ein Telegramm der IKG Graz an das Bundesministerium in Wien Anfang Jänner Auskunft. Darin geht es um die bevorstehende Wahl vom 5.  März 1922 und die Bitte, bis dahin den Wahlrechtsvorschlag der Konservativen Leitung der IKG zu genehmigen. Denn »Wahlen nach dem alten Wahlrecht bringen jedoch infolge großen Zuzuges große Gefahr, dass Kultusgemeindeverwaltung in Hände nicht Bodenständiger falle«.122 Zwar wurde dem Wunsch der Leitung der IKG seitens des Ministeriums Ende Jänner 1922 entsprochen, doch noch vor den Wahlen im März konnten sich die Konservativen und der »Jüdische Nationalverband« auf eine gemeinsame Vorgehensweise einigen. Man beschloss, dass jeder Partei je 12 Kultusratssitze zugesprochen werden sollten und somit ein Ausgleich zwischen den Gruppen hergestellt werde. Mit dem Kaufmann David Stern übernahm nach der Wahl ein Vertreter der liberalen Gruppe das Amt des Präsidenten und Julius Grüner vom »Jüdischen Nationalverband« wurde sein erster Stellvertreter. Zweiter Stellvertreter wurde Adolf Rendi, der der kleinen Gruppe der Orthodoxen in Graz vorstand.123 In den folgenden Jahren setzte schließlich eine merkliche Beruhigung ein und in Fragen des Wahlrechts einigte man sich darauf, dass auch Kultusgemeindemitglieder ohne österreichische Staatsbürgerschaft an den Wahlen teilnehmen können, sofern sie ihre Kultussteuern bezahlen.124 1926 übernahm schließlich mit dem Rechtsanwalt Dr. Robert Sonnenwald ein Vertreter der Allgemeinen Zionisten die Führung der Grazer jüdischen Gemeinde. Er hatte dieses Amt bis zu seiner Vertreibung durch die Nationalsozialisten im Jahr 1938 inne.125

Resümee Der Erste Weltkrieg hatte tiefgreifende und nachhaltige Auswirkungen auf die Entwicklung der Grazer jüdischen Gemeinde ebenso wie auf die jüdische Bevölkerung. Die Kriegshandlungen selbst wie auch der Zerfall der Monarchie bedingten einen Abbruch der seit der Emanzipation stattfindenden Weiterentwicklung der Gemeinde. Verschiedene Vereine mussten ihre Tätigkeit einstellen und ebenso kehrte sich das Mit120 121 122 123 124 125

Vgl. StLA, Statth. D73-1887/1919, Protokoll der Kultusratssitzung, 14.4.1921. Vgl. StLA, Statth. D73-1887/1919, Jüdischer Nationalverband an Landesregierung, 27.5.1921. StLA, Statth. D73-1887/1919, Telegramm an Bundesministerium für Innere, 3.1.1922. Vgl. StAG, A2-313/1948. StLA, Statth. D73-1887/1919, Aktenvermerk vom 24.7.1923. Vgl. StLA, LReg. 357 G 11/1938, IKG an Landeshauptmannschaft am 30.9.1938.

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gliederwachstum der letzten Jahrzehnte um. Darüber hinaus stellte das Kriegsgeschehen die Gemeinde, ihre Einrichtungen und Mitglieder vor große Herausforderungen. Diese betrafen vor allem die Bereiche der Wohlfahrt und Fürsorge für die zahlreichen jüdischen Flüchtlinge aus den östlichen Gebieten der Monarchie wie auch für die vielen jüdischen Soldaten und Verwundeten, die im Bereich der IKG stationiert oder untergebracht waren. Schließlich brachte der Krieg eine veritable Identitätskrise mit sich, waren doch wesentliche Versatzstücke des hegemonialen österreichisch-jüdischen Identitätsentwurfes an den multiethnischen dynastischen Habsburgerstaat gebunden. Der im November 1918 entstandene Nationalstaat konnte hier nicht anschließen, vielmehr noch wurden eingeübte Identitätsnarrative von führenden Gesellschaftsgruppen massiv in Frage gestellt. Das Ergebnis dieser Entwicklung, die durch einen ab 1917 immer präsenter werdenden und sich stetig radikalisierenden Antisemitismus befeuert wurde, war eine umfassende Politisierung der jüdischen Bevölkerung ebenso wie ein Rückzug in den familiären Bereich. Innerhalb der jüdischen Gemeinde standen sich fortan unterschiedliche Gruppen oppositionell gegenüber und versuchten je unterschiedliche Antworten auf die Krisenerscheinungen der Nachkriegsjahre zu geben. Eine dieser Gruppen bezog sich dabei auch explizit auf das Kriegserlebnis und die Kriegserfahrung während des Ersten Weltkriegs. Es war dies der Bund jüdischer Frontsoldaten, der 1932 in Wien gegründet und seit 1933 mit einer Ortgruppe auch in Graz vertreten war.

Heimo Halbrainer

Die drittgrößte Stadt der Steiermark – eine Stadt für die Kriegsflüchtlinge in Wagna1 Vorbemerkungen Die drittgrößte Stadt in der Steiermark ist kaum über ein Jahr alt. Aber sie hat an Einwohnerzahl Leoben, Bruck, Cilli bereits überflügelt. Sie steht nächst Leibnitz an der Sulm, in einer schönen, fruchtbaren Gegend. Sie wurde erbaut für fremde Kriegsflüchtlinge, wird aber in Zukunft hoffentlich von Deutschen bewohnt werden. Ich denke, daß sie eine kleingewerbliche Stadt der Kriegerheimstätten werden kann, ein natürlicher, gesunder Anfang für ein entwicklungsfähiges Gemeinwesen. Und diese neue, große Stadt hat eigentlich noch gar keinen Namen. Wagna, sagen die Leute, weil das Dörfchen, das vorher dort gestanden, so geheißen hat. Auch eine Herrschaft daselbst soll diesen Namen getragen haben, aber die vorliegenden Daten reichen nur zurück bis 1790. Der Name Wagna ist nicht deutsch, und steht im Wege, wenn man für die neue Stadt, die in deutscher Gegend liegt, einen deutschen Namen stiften wollte. So könnte man ja aus dem undeutschen und noch ganz unvolkstümlichen Wagna ein deutsches Wagnau machen. (Oder Wagenau oder Wanau.)  – Ich vermute, der Vorschlag wird sachte überhört werden, denn arg wichtig ist die Sache ja gerade nicht. Nur leicht durchführbar. Es geschieht ja so oft, dass fremde alte Ortsnamen, die schon eingebürgert sind, verdeutscht werden  ; um wie viel einfacher ginge das bei einer neuen Ansiedlung, bei der es doch niemanden wehe täte. – Wir hoffen, daß die Ufer der schönen Sulm noch lange deutsch bleiben, daß aus der heutigen Fremdenzufluchtsstätte unseren Nachkommen in besserer Zeit ein ständiges, gesegnetes Heim sich entwickeln wird. Deshalb habe ich mir bescheiden gestattet, für die junge Stadt einen deutschen Namen vorzuschlagen.2

Dieser Vorschlag aus dem Jahr 1916 stammte von Peter Rosegger, der letztlich doppelt Recht behalten sollte, denn zum einen wurde sein Vorschlag hinsichtlich eines neuen Namens »sachte überhört« und zum anderen war aus dem »Dörfchen« Wagna, das gegen Ende des 19. Jahrhunderts nur 715 Joch mit 56 Häuser und 386 Einwohner:innen umfasste,3 eine Großgemeinde geworden.4 1 Der Beitrag ist eine überarbeitete und gekürzte Version der Studie des Autors  : Lager Wagna 1914–1963. Die zeitweise drittgrößte Stadt der Steiermark (Schild von Steier. Kleine Schriften 23), Graz 2014. 2 Rosegger, Peter  : Heimgärtners Tagebuch, in  : Heimgarten, 41. Jg. (1916) Heft 2 (November 1916), 135. 3 Vgl. Janisch, Josef Andreas  : Topographisch-statistisches Lexikon von Steiermark. III. Bd  : S–Z. Anhang, Graz 1980, 1240. 4 Wagna ist heute durch die 1952 erfolgte Eingemeindung der ehemals eigenständigen Gemeinden Aflenz

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Die wiederholte Ankunft von Flüchtlingen und die Schaffung einer Infrastruktur, die der Staat in diesem Zusammenhang 1914/15 ergriff, bestimmten letztlich die Entwicklung einer ganzen Region. Denn als es mit dem Ende der Monarchie wieder zu Vertreibungen kam, tauchten 1919 neue Flüchtlinge – deutschsprachige Eisenbahnerund Beamtenfamilien aus der Untersteiermark/Štajerska, die nicht mehr im neu gegründeten SHS-Staat (Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen) leben konnten bzw. wollten – in der »Barackenstadt« auf. Viele von ihnen blieben in Wagna, wo 1940 erneut innerhalb kürzester Zeit auf dem ehemaligen Gelände des Lagers Baracken errichtet wurden, in die zunächst Umsiedler:innen aus der Südbukowina, danach Kriegsgefangene und nach dem Zweiten Weltkrieg und neuen Vertreibungen u. a. jüdische Displaced Persons, jugoslawische Flüchtlinge und fast 20 Jahre lang Volksdeutsche, die aus Jugoslawien ausgewiesen worden waren, kamen. Die Bevölkerungsentwicklung von Wagna wurde somit von einer durch Krieg und Vertreibungen aggressiv ausgerichteten Mobilität bestimmt.

Die Hintergründe und der Rahmen Die Entscheidung, dass Flüchtlinge nach Wagna kommen sollten, hing mit weit entfernten weltgeschichtlichen Ereignissen zusammen. Schon bald nach Beginn des Ersten Weltkrieges, stießen russische Truppen Ende August 1914 nach Lemberg/L`viv/ Lwów und Przemyśl/Peremyšl vor. Durch diesen Vorstoß bis an die Karpaten und der Aufgabe Ostgaliziens durch die österreichisch-ungarische Armee wurden Tausende Pol:innen, Ruthen:innen und Juden und Jüdinnen ihrer Heimat beraubt. Zwar hatten sich bereits Jahre vor Beginn des Ersten Weltkrieges militär- und zivilbehördliche Stellen mit – wie es hieß – mit der »Entfernung von Zivilpersonen aus permanenten festen Plätzen« befasst, doch fehlten in deren Überlegungen die weitere Versorgung und Betreuung im Hinterland zur Gänze.5 Bereits unmittelbar nach Kriegsbeginn kam es zu massenhaften Verhaftungen, Misshandlungen, Hinrichtungen und letztlich auch Deportationen von der Spionage für Russland verdächtigen Personen aus »operativen Gründen«. Der Abgeordnete des Polenclubs, Graf Zygmunt Lasocki, sprach anlässlich der Debatte im Reichsrat zum »Bericht des Flüchtlingsausschusses über die gesetzliche Regelung der staatlichen Flüchtlingsvorsorge« am 12. Juli 1917 von Fällen, bei denen Personen, die den Evakuierungsauftrag nicht verstanden hatten, als »Spione« exekutiert an der Sulm, Hasendorf an der Mur und Leitring über 13  km2 groß und hat 5.368 Einwohner:innen. Angaben der Statistik Austria zu Wagna (http://www.statistik.at/blickgem/gemDetail.do  ?gemnr=61045  ; download 15.3.2014). 5 Vgl. Kuprian, Hermann J. W.: Flüchtlinge, Evakuierte und die staatliche Fürsorge, in  : Eisterer, Klaus/ Steininger, Rolf (Hg.)  : Tirol und der Erste Weltkrieg (Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte 12), Innsbruck-Wien 1995, 277–305, hier 280–281.

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worden waren. Andere, die diesem nicht rechtzeitig nachgekommen waren, wurden, so Lasocki, oftmals statt in ein Flüchtlings- in ein Interniertenlager eingewiesen, wie jenes am Thalerhof, südlich von Graz,6 wo am 4. September 1914 am Bahnhof Abtissendorf ein erster von mehreren »Russophilen«-Transporten aus Ostgalizien eintraf und in der Folge ein Zivilinterniertenlager und 1917 ein Kriegsgefangenenlager errichtet wurden.7 Neben den »aus operativen Gründen« aus dem Grenz- bzw. Kriegsgebiet abtransportierten Personen wurden durch den raschen Vormarsch der russischen Armee Ende August 1914 tausende Menschen, die in den Grenzgebieten zu Russland lebten, von ihren Wohnsitzen vertrieben. Mit ihnen flohen jene, die aus den auf dem Rückzug der österreichisch-ungarischen Armee evakuierten und niedergebrannten Dörfern aus der Umgebung der Festungsstädte Lemberg/Lwów/L’viv, Przemyśl/Peremyšl und Krakau/Kraków8 stammten. Binnen zweier Wochen im September 1914 wurden fast 400.000 Zivilist:innen aus Galizien evakuiert und in Richtung Westen abgeschoben. Dieser gewaltige Flüchtlingsstrom sprengte den Rahmen des vor Kriegsbeginn strategisch konzipierten Evakuierungsplans. Gleichzeitig versuchte die Regierung den Rückzug zu verheimlichen und »aus den Flüchtlingen ein Staatsgeheimnis zu machen, damit sie ja keine Panik verbreiten und überhaupt nicht mit anderen Teilen der Bevölkerung in Berührung kommen.«9 Bedingt durch diesen Flüchtlingsansturm fand am 13. September 1914 im k. k. Ministerium des Innern eine Sitzung statt, die sich zunächst mit dem Zuzug ostjüdischer Flüchtlinge beschäftigte. In der Folge wurde ein Instruktionsplan geschaffen, der die Logistik und die ordnungspolitischen Maßnahmen der Flüchtlingspolitik regelte und, mit einigen Modifikationen, bis Kriegsende in Kraft blieb.10 Die so zentral organisierte Flüchtlingsfürsorge wurde nicht allein von humanitären Überlegungen bestimmt, sondern auch und vor allem, um die Verbreitung von Krankheiten und Seuchen im Hinterland zu verhindern, um mögliche Versorgungsengpässe, eine Konkurrenzierung des heimischen Arbeitsmarktes, Preistreiberei und Wuchertum, steigende Kriminalität und Spionagegefahr und mögliche aufbrechende nationale Konflikte zu verhindern sowie um die Beunruhigung der einheimischen Bevölkerung   6 Graf Sigismund Lasocki. Stenographisches Protokoll. Haus der Abgeordneten, XXII. Session, 18. Sitzung, 12.7.1917, 919–920.   7 Vgl. Hoffmann, Georg/Goll, Nicole-Melanie/Lesiak, Philipp  : Thalerhof 1914–1936. Die Geschichte eines vergessenen Lagers und seiner Opfer (Mitteleuropäische Studien 4), Herne 2010.   8 Allein im Bezirk Lemberg wurden 21, im Przemyśler Bezirk 104 und im Krakauer Bezirk alle Gemeinden evakuiert, niedergebrannt und planiert. Vgl. Mentzel, Walter  : Weltkriegsflüchtlinge in Cisleithanien 1914–1918, in  : Heiss, Gernot/Rathkolb, Oliver (Hg.)  : Asylland wider Willen. Flüchtlinge in Österreich im europäischen Kontext seit 1914 (Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Institutes für Geschichte und Gesellschaft 25), Wien 1995, 17–44, hier 21.   9 Dr. Alfred von Halban (Polenclub). Stenographisches Protokoll. Haus der Abgeordneten, XXII. Session, 29. Sitzung, 16.10.1917, 1483. 10 Vgl. Mentzel, Weltkriegsflüchtlinge in Cisleithanien (1995), 26.

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durch die Verbreitung von Nachrichten aus dem Kriegsgebiet – die mit den offiziellen in keiner Weise übereinstimmten – zu unterbinden.11 So wurde rasch ein zentralisiertes Verteilungs- und Versorgungssystem geschaffen, das zum einen Naturalverpflegung und zum anderen finanzielle Unterstützung gewährte und die Flüchtlinge entweder in rasch errichtete Barackenlager – wie beispielsweise in Wagna – oder in verschiedenen Gemeinden unterbrachte. Dabei sollte bei der Aufteilung der Flüchtlinge auf die Bevölkerung vor Ort Rücksicht genommen werden, d. h. ihre Zahl sollte nicht mehr als zwei % der dort lebenden Bevölkerung ausmachen.12 Die Verteilung der Flüchtlinge fand über so genannten Perlustrierungsstationen in Prerau/Přerov, Ungarisch Hradisch/Uherské Hradiště, Gänserndorf und Bruck an der Leitha statt. Hier wurde zum einen nach nationalen und konfessionellen Kriterien getrennt und entschieden, ob die Flüchtlinge in einem Barackenlager interniert oder einer Gemeinde zugewiesen werden sollten. Während bemittelte und sozial besser gestellte Flüchtlinge zumeist in Gemeinden untergebracht wurden, kam die breite Masse der mittellosen Flüchtlinge in Barackenlager, wobei jenes in Wagna neben jenem in Gmünd das größte sein sollte. Diese Lager, die allein schon von der Infrastruktur her einen völlig abgeschlossenen Komplex mit Schulen, Gebärstation, Kirchen usw. bildeten, wurden jeweils für eine nationale bzw. religiöse Gruppe geplant. So wurden jüdische Flüchtlinge in die Lager Nikolsburg/Mikulov, Gaya/Kyjov und Pohrlitz/Pohořelice in Mähren, Deutsch-Brod/Německý Brod (heute Havličkův Brod) in Böhmen und Bruck an der Leitha in Niederösterreich eingewiesen, ruthenische Flüchtlinge kamen in Lager in Gmünd, Wolfsberg und St. Andrä und polnische Flüchtlinge wurden bis zum Sommer 1915 in Wagna und in Chotzen/Choceň in Böhmen untergebracht.13 Die Zuweisung in diese Lager bedeutete für die Flüchtlinge letztlich ein »Zwangsdomizil«, denn wenn sie diese Lager eigenmächtig verließen, verloren sie den Anspruch auf Fürsorgeleistung. Diese so unter ständiger Kontrolle stehenden Flüchtlinge konnten bei Bedarf als Arbeitskräfte eingesetzt werden. Was das beispielsweise für die Flüchtlinge des Lagers Wagna heißen konnte, zeigte sich anlässlich einer nächtlichen, überfallsartigen Aktion, bei der rund 4.000 Männer aus dem Lager geholt und nach Serbien transportiert wurden, wo sie für die Armee Bahn- und Straßenarbeiten verrichten mussten. Graf Zygmunt Lasocki schilderte am 12. Juli 1917 in der Debatte zum »Bericht des Flüchtlingsausschusses« diesen Fall, den er bereits erstmals am 25. Jänner 1915 dem Ministerium des Innern mitgeteilt hatte  : Die Baracken wurden in der Nacht von Gendarmen umzingelt, die Männer aus dem Schlafe geweckt, viele ihren Frauen und Kindern mit Gewalt entrissen und nach Serbien expediert. 11 Vgl. Kuprian, Hermann J. W.: Flüchtlinge und Vertriebene im Alpenraum während des Ersten Weltkrieges, in  : Histoire des Alpes – Storia delle Alpi – Geschichte der Alpen, 3 (1998), 339–349, hier 341. 12 Vgl. Mentzel, Weltkriegsflüchtlinge in Cisleithanien (1995), 27. 13 Ebd., 30.

Die drittgrößte Stadt der Steiermark 

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Dort wurden sie von Hunger und Kälte gepeinigt, sie erhielten keinen Lohn, viele verloren ihr Gepäck und sogar das Geld […] Von den zirka 4.000 Mann, die nach Serbien expediert sein sollen, kehrten bis Mitte Jänner bloß ungefähr 1.500 zurück. […] Statt einer gastfreundlichen Aufnahme in den vom Kriege verschonten Kronländern haben viele galizische Flüchtlinge den Tod in Serbien gefunden […].14

Flüchtlingsfürsorge Während internationale Vereinbarungen das Kriegs- und Zivilinterniertenwesen regelten, fehlten solche hinsichtlich der Flüchtlinge bis Ende des Jahres 1917. Nach Ansicht des Ministeriums des Innern war »die Flüchtlingsunterstützung ihrer Natur nach als subsidiäres Eintreten des Staates für die Heimatgemeinde und deren Verpflichtungen hinsichtlich der Armenversorgung anzusehen«.15 Das bedeutete zum einen, dass das Ministerium des Innern die gesamte Flüchtlingsfürsorge übernahm und gemeinsam mit den politischen Behörden den Transport, die Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge organisierte. Zum anderen leitete die Regierung daraus den Anspruch ab, die mittellosen Flüchtlinge zum Aufenthalt in Lagern zu zwingen, wobei die Unterstützung mit dem Verbleib im Lager verknüpft wurde. Eine freie Wahl des Aufenthaltsortes für die Flüchtlinge im Hinterland war an den Besitz von Vermögen bzw. an ihre soziale Herkunft und Bildung gebunden. Mittellose Flüchtlinge sollten nur in Ausnahmefällen außerhalb von Flüchtlingslagern untergebracht werden. Welche Schwierigkeiten dieser plötzlich einsetzende Flüchtlingsstrom für die Steiermark bedeutete, darüber gibt ein 1915 verfasster erster Bericht des für die Flüchtlingsfragen zuständigen Beamten der k. k. steiermärkischen Statthalterei, Dr. Kurt P ­ okorny, Aufschluss. Demnach habe die Statthalterei vom Ministerium des Innern Ende September 1914 die telefonische Weisung erhalten, Unterkünfte für ungefähr 2.000 flüchtende Eisenbahner aus Galizien, die im Laufe der allernächsten Tage eintreffen würden, bereit zu stellen. Einige Tage später hieß es, dass nicht 2.000 sondern rund 10.000 Eisenbahner unterzubringen seien.16 War die Unterbringung dieser Flüchtlinge im Frühherbst 1914 noch relativ einfach, so sah sich die Statthalterei ab Mitte November 1914 durch den immer größer werdenden Zustrom von Flüchtlingen erstmals mit Problemen bei der Unterbringung dieser Menschen konfrontiert, zumal sich die Fertigstellung des Barackenlagers in Wagna infolge unvorhergesehener, in den außerordentlichen Kriegsverhältnissen begründeten 14 Lasocki. Stenographisches Protokoll. Haus der Abgeordneten, 12.7.1917, 921. 15 Die staatliche Flüchtlingsfürsorge im Kriege 1914/15. Hg. v. k. k. Ministerium des Innern, Wien 1915, 5. 16 Steiermärkisches Landesarchiv (StLA), Nachlass Kurt Pokorny, Heft 2  : Manuskript, Die Unterbringung der Flüchtlinge in der Steiermark, 1914.

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Bauschwierigkeiten von Woche zu Woche verzögerte. Auch war lange nicht klar, welche Flüchtlinge in der Steiermark bleiben und nach Wagna eingewiesen werden sollten. Durch die Verzögerungen bei der Errichtung des Lagers Wagna wurde daher zunächst auf leerstehende und aufgelassene Fabriken als Unterbringungsstätten für die Flüchtlinge zurückgegriffen. So versuchte man am 15. November 1914 rund 2.700 jüdische Flüchtlinge in zwei Ziegeleien in Unterpremstätten unterzubringen, was aber unmöglich war, weshalb man einen Teil in den Umgebungsgemeinden einquartierte und einen anderen Teil nach Graz überstellte. Weitere 1.700 jüdische Flüchtlinge wurden nach St. Michael gebracht, wo die Situation für die Ankommenden noch schlimmer war als in Unterpremstätten, wo zumindest eine Heizung existierte. Nachdem das Ministerium des Innern die Verfügung getroffen hatte, dass die jüdischen Flüchtlinge nach Deutsch-Brod/Německý Brod (Böhmen) transferiert werden sollten und dafür die polnischen Flüchtlinge in der Steiermark unterzubringen waren, wurden am 23. November 1914 die jüdischen Flüchtlinge aus der Steiermark nach Budweis/České Budějovice transportiert. In die beiden frei gewordenen Fabriken kamen am nächsten Tag ruthenische Flüchtlinge, die für das Barackenlager in Wolfsberg (Kärnten) vorgesehen waren, die aber infolge einer dort grassierenden Seuche nicht überstellt werden konnten. Bis Mitte Jänner 1915 waren in Unterpremstätten rund 1.400 und in St. Michael bis zu 2.000 Flüchtlinge untergebracht, wobei jene aus Unterpremstätten nach der Fertigstellung des Barackenlagers in Gmünd dorthin überstellt wurden. Einige Flüchtlinge in St. Michael erkrankten kurz vor der Überstellung an Flecktyphus, was zum einen zur Errichtung von Quarantäne-Baracken und zu kostspieligen Adaptierungsarbeiten für eine Entlausungsanlage, ein Brausebad, Räume für Dampf- und Schwefeldesinfektion, Ordinationszimmer usw. in der Fabrik führte und zum anderen zur Folge hatte, dass diese Flüchtlinge noch länger in der Steiermark bleiben mussten. Die anderen rund 900 nicht erkrankten Flüchtlinge wurden nach Wolfsberg überstellt.17 Neben den staatlichen Maßnahmen zur Unterbringung von Flüchtlingen, für die seitens der Statthalterei der Kanzleibeamte Dr. Kurt Pokorny und der k. k. Statthaltereirat Dr. Viktor Negbaur zuständig waren, wurden viele humanitäre Unterstützungsmaßnahmen von privaten, vielfach national und konfessionell ausgerichteten Fürsorgeeinrichtungen getragen. Eine solche – das »Hilfskomitee für die Flüchtlinge aus Galizien und der Bukowina« – wurde Mitte Oktober 1914 in Graz gegründet. In einem Schreiben des vorerst hauptsächlich für die galizischen Eisenbahner zuständigen Hilfskomitees heißt es  : Für die in unserem Kronlande bisher untergebrachten rund 9.000 Flüchtlinge aus Galizien und der Bukowina hat sich unter dem Schutz Sr. Exzellenz des Herrn Statthalters Manfred Grafen Clary und Aldringen ein Landes-Hilfsausschuss aus Vertretern der Landeshauptstadt

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Graz, der Eisenbahnvereine, der Israelitischen Kultusgemeinde, des Beamten-Wirtschaftsverbandes und des Arbeitervereins Kinderfreunde gebildet.18

Zweck und Aufgabe des »Landes-Hilfsausschusses« waren u. a. die Sammlung von Sach- und Geldspenden und die Vermittlung von landwirtschaftlicher und industrieller Arbeit. Als im Winter 1914/15, bedingt durch den Kriegsverlauf im Osten, an eine Repatriierung der Flüchtlinge nicht mehr gedacht werden konnte, mussten Überlegungen zur »Erweiterung der Fürsorgeaktion« eingeleitet werden. Gleichzeitig musste der Öffentlichkeit, die den Flüchtlingen vielfach sehr reserviert gegenüberstand, die Flüchtlingspolitik als Teil einer nationalen und patriotischen Erziehungs- und Kulturarbeit »verkauft« werden, bei der neben der Wahrung der kulturellen Identität der Flüchtlinge, diese »unzivilisierten« Teile der österreichischen Bevölkerung an die Kulturtechniken des Westens herangeführt werden sollten. So meinte etwa Dr. Kurt Pokorny anlässlich der Ausstellungseröffnung »Die Kriegshilfe« in Wien am 14. Dezember 1915, dass es bei dieser Ausstellung vor allem darum ginge, einen Einblick in den ganzen Komplex des Lebens und Treibens und der Versorgung der Flüchtlinge zu gewähren und zu zeigen, wie die Fürsorge des Staates es erreichte, dass das kulturelle Leben der einzelnen Volksstämme durch ihre Flucht aus der Heimat keinen Sprung erleidet, sondern auch für die Dauer des Aufenthaltes in der Fremde fortlebt und mit Verständnis gefördert wird und dass gerade dadurch die Möglichkeit geschafft wird, die Flüchtlinge nach ihrer Rückkehr in die Heimat sofort wieder dem positiven sozialen Leben zuzuführen.

Die gemeinsame Unterbringung im Lager helfe zudem, die »oft kulturell tiefer stehende Bevölkerung« mit den »hoch entwickelten sanitären und hygienischen Einrichtungen (Bäder, Einrichtungen für die Desinfektion, für die Bekämpfung und Verhütung ansteckender Krankheiten)« vertraut zu machen und ihnen »eine Fülle fachgewerblicher Kenntnisse« beizubringen, »die ihnen unter normalen Verhältnissen gewiss vorenthalten geblieben wären und wohl später erst, im Frieden ihre Früchte zeitigen werden.«19

Kritik an der Flüchtlingsfürsorge und dem Barackensystem Mit dem ersten Zusammentreten des Reichsrates seit Kriegsbeginn am 30. Mai 1917 kam es zu einer Zäsur in der staatlichen Flüchtlingspolitik, und die Abgeordneten, wie 18 Mandl, Hildegard  : Galizische Flüchtlinge in der Steiermark zu Beginn des ersten Weltkrieges, in  : Zeitschrift des historischen Vereines für Steiermark, Jg. 77 (1986), 279–294, hier 285. 19 StLA, Nachlass Kurt Pokorny, Heft 1, Kurt Pokorny  : Manuskript  : Die staatliche Flüchtlingsfürsorge auf der Ausstellung »Die Kriegshilfe« in Wien.

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der spätere italienische Ministerpräsident Alcide De Gasperi (1881–1954), kritisierten anlässlich des »Berichts des Flüchtlingsausschusses über die gesetzliche Regelung der staatlichen Flüchtlingsfürsorge« am 12. Juli 1917 massiv die bisherige Praxis der fehlenden gesetzlichen Grundlage sowie die Missstände in den Lagern  : Im großen und ganzen kann man eben sagen, dass der erste Hauptfehler bei der staatlichen Flüchtlingsfürsorge der war, dass keine feste Richtschnur da war, dass sie keine rechtliche Grundlage hatte, sondern nur eine Armenunterstützungsfürsorge war, dass die Flüchtlinge deshalb nicht als Staatsbürger, sondern mehr oder weniger gut nach dem freien Ermessen und nach der individuellen Auffassung als Verwaltungsobjekte behandelt wurden. Sie wurden evakuiert, instradiert, perlustriert, approvisioniert, kaserniert, als ob sie keinen eigenen Willen, als ob sie kein Recht gehabt hätten. […] Der zweite Hauptfehler, der viel mehr als ein Fehler, der eigentlich ein Verbrechen war, ist aus demselben Geiste entsprungen, aus welchem die Evakuierung hervorgegangen ist  : das ist der Verfolgungsgeist. Man weiß ganz genau, […] dass mindestens 70 Prozent der evakuierten Bevölkerung nicht aus wirtschaftlichen Gründen und nicht aus rein militärischen Gründen, sondern aus gemischt-militärischen, das heißt aus politischen Gründen, aus polizeilichen Gründen evakuiert wurden und sie wurden eigentlich nicht evakuiert – das ist ein euphemistisches Wort – sondern verbannt.20

Es sei daher – wie der Abgeordnete des Kroatisch-slowenischen Klubs, Dr. Janez Evangelist Krek, einleitend zur Debatte meinte – »eine Ehrenschuld teilweise abzustatten, sich der vergessensten Armen in unserem Staate, der Evakuierten und Flüchtlinge, zu erinnern.«21 In dem am 7. Juli 1917 von einem aus 53 Abgeordneten bestehenden Flüchtlingsausschuss des Reichsrates vorgelegten Bericht über die Flüchtlingsfürsorge wurden neben der Nichteinhaltung der »Kaiserlichen Verordnung vom 11.  August 1914 betreffend den Schutz der wegen des Krieges evakuierten Personen« und daraus abgeleitet die mangelhafte finanzielle Entschädigung vor allem die fehlende gesetzliche Grundlage der Flüchtlingsfürsorge kritisiert und das »Recht der Flüchtlinge« auf Unterstützung gefordert. Zudem wurde die Einschränkung der »Freizügigkeit« der Staatsbürger:innen als Verletzung des staatsgrundgesetzlich gewährleisteten Rechts kritisiert. Bezüglich der Einquartierungen sprach sich der Ausschuss gegen das Barackensystem und für die gemeindeweise Unterbringung der Flüchtlinge aus. In der Debatte zum »Bericht des Flüchtlingsausschusses« am 12.  Juli 1917 wurde folglich die von der Regierung bislang betriebene staatliche Flüchtlingsfürsorge heftig 20 Alcide De Gasperi. Stenographisches Protokoll. Haus der Abgeordneten, XXII. Session, 18. Sitzung, 12.7.1917, 916. 21 Janez Evangelist Krek. Stenographisches Protokoll. Haus der Abgeordneten, XXII. Session, 18. Sitzung, 12.7.1917, 890. Siehe dazu auch die Beilage zu den Stenographischen Protokollen des Abgeordnetenhauses, 437  : Bericht des Flüchtlingsausschusses über die gesetzliche Regelung der staatlichen Flüchtlingsfürsorge, 7.7.1917.

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kritisiert, die Transporte mit »Höllenfahrten« und die Lager mit »Strafkolonien« (Abg. Alexander Kolessa) gleichgesetzt, in denen die Flüchtlinge als »Gefangene der Beamtenwillkür« wie »Leibeigene« (Abg. Heinrich Reizes) leben müssten. Der Triestiner Abgeordnete Valentino Pittoni vom Klub der deutschen Sozialdemokraten meinte, dass nicht der Gedanke der Fürsorge sondern militärisch-politische Motive für die Entscheidung zur Evakuierung von Hundertausenden von italienischen Grenzbewohner:innen ins Landesinnere maßgeblich war und dass diese Evakuierungen mehr Opfer gefordert hatten als die Kriegseinwirkungen  : »Wenn diese Grenzbewohner der Gefahr der Kanonen und Fliegerbomben ausgesetzt geblieben wären, hätten wir unzählig weniger Opfer zu beklagen, als wir tatsächlich zu beklagen haben.«22

Die Errichtung der Lagerstadt Wagna Entsprechend den Überlegungen, unbemittelte Flüchtlinge in national und religiös getrennte Barackenlager im Hinterland zusammenzufassen, mussten unter Berücksichtigung militärischer Erwägungen – keine Flüchtlinge in der Nähe von Hauptverkehrslinien oder militärisch und kriegsindustriell wichtigen Anlagen einzuquartieren – große Gebiete für die Unterbringung hunderttausender Kriegsflüchtlinge gefunden werden. Dabei sollten diese aber leicht erreichbar sein. So wurden im Herbst 1914 im Hinterland – in Mähren (Nikolsburg/Mikulov, Pohrlitz/Pohořelice und Gaya/Kyjov), in Böhmen (Chotzen/Choceň), in Niederösterreich (Bruck an der Leitha), in Oberösterreich (Gmünd), Kärnten (Wolfsberg) und in Wagna – geeignete Gebiete gefunden, um hier Barackenlager für bis zu 25.000 Flüchtlinge zu errichten.23 Dass in der Steiermark die Wahl auf Wagna fiel, dürfte von einer Reihe von Faktoren  – die Verkehrsanbindung (direkt an der Südbahnstrecke gelegen), der Zugang zu ausreichend Trinkwasser, ein relativ flaches, nicht verbautes Gebiet abseits einer größeren Ortschaft und dennoch in relativer Nähe zur Landeshauptstadt Graz bzw. der Bezirkshauptstadt Leibnitz – abhängig gewesen sein. So wurden in Wagna im Herbst 1914 die teilweise bewirtschafteten und teilweise brach liegenden Parzellen der Bauern gepachtet, die im Frühjahr 1916 nach und nach aufgekauft wurden, sodass sich bis Ende des Jahres das ganze Lagerareal im Eigentum des Staates befand. Anlässlich der Wiener Ausstellung »Die Kriegshilfe« wurde seitens der steiermärkischen Statthalterei in der eigens für die Ausstellung verfassten Publika22 Valentino Pittoni. Stenographisches Protokoll. Haus der Abgeordneten, XXII. Session, 18. Sitzung, 12.7. 1917, 912. Pittoni bezeichnet in seiner Rede die ehemaligen Minister als »Verbrecherbande«, was ihm einen Ordnungsruf eintrug. 23 Im Sommer 1915 wurden schließlich noch in Niederösterreich (Pottendorf, Mitterndorf, Steinklamm), Oberösterreich (Braunau), Böhmen (Deutsch-Brod) und Salzburg Barackenlager für Flüchtlinge errichtet.

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tion »Flüchtlingslager Wagna bei Leibnitz« ein erster Rückblick auf die Entstehung des Lagers und der damit zusammenhängenden Probleme gemacht, wenn es heißt  : Bei der Errichtung der Barackenanlage für Flüchtlinge sah man sich unvorbereitet einer Aufgabe gegenübergestellt, für deren zweckentsprechendste Lösung eigentlich die Erfahrungen vollständig mangelten. Alle baulichen Maßnahmen wurden überstürzt durch die Ereignisse, welche dazu drängten und die nächste Sache musste es immer nur sein, den obdachlos gewordenen, vom Schicksal doppelt schwer geprüften Flüchtlingen eine schützende Wohnstätte zu bieten. Es hat sich demgemäß die volle Aufmerksamkeit vorerst der Frage des Wohnbarackentyps zugewendet, und man war bestrebt, dieselbe bei tunlichster Ökonomie in den Baukosten und in der Baufläche den sanitären Anforderungen entsprechend zu lösen, die einzelnen Baracken aber für einen möglichst großen Belag bereit zu stellen.24

Ab dem 26. November 1914 kamen sukzessive Flüchtlinge in das noch in Bau befindliche Lager, das Ende Dezember 1914 für 10.000 Flüchtlinge fertiggestellt war, zu diesem Zeitpunkt aber bereits 14.449 Personen beherbergte. Noch während der ersten Bauphase wurde ein neuer Plan vorgelegt, der weitere 25 Wohnbaracken für jeweils 400 bis 500 Personen vorsah. Am 20. März 1915 erhielt die Statthalterei in Graz vom Ministerium des Innern die Weisung, das Lager nochmals zu erweitern und Unterkünfte, Küchen und andere Bauten für weitere 4.000 Flüchtlinge zu schaffen. Auf Grund der bislang gemachten Erfahrungen, vor allem auch hinsichtlich der Bekämpfung von Infektionskrankheiten, wurde von der Errichtung großer Wohnbaracken Abstand genommen und stattdessen östlich der bisherigen Baracken kleinere errichtet. Parallel zum Ausbau des Lagers25 – neben den kleineren Wohnunterkünften wurden auch fünf Großküchen mit angebautem Speisesaal für 2.000 Personen, eine Verwaltungskanzlei, Wohngebäude für die Barackenbeamten, für die Geistlichen und Krankenschwestern, eine Spitalsverwaltung, ein Ärztepavillon, eine Nähstube sowie ein Lagerhaus mit entsprechenden Kellern errichtet – kehrten ab Ende Mai 1915 sukzessive die polnischen Flüchtlinge wieder in ihre teilweise völlig zerstörten Heimatorte zurück. Bereits Ende April 1915 kam es – bedingt durch die Vorbereitungen auf den Krieg mit Italien  – zu Veränderungen  : So wurde außerhalb des Lagers, an der Gemeindegrenze zu Leibnitz an der von der Südbahn abzweigenden Gleisanlage, die bis ins Lager hineinreichte, eine provisorische Barackenanlage als Perlustrierungsstation errichtet.26 Zudem wurde ein Teil der durch die Rückkehr der polnischen Flüchtlinge freigewordenen Baracken vom restlichen Lagerareal abgetrennt und diente bis August 1915 als 24 Haimel, Franz  : Flüchtlingslager Wagna bei Leibnitz mit einer Abhandlung über die Alt-Römerstadt Flavia Solva, Graz 1915, 19. 25 Der Auf- und Ausbau des Lagers lässt sich an Hand der Pläne zum Flüchtlingslager Wagna sehr schön nachzeichnen. Siehe dazu  : Haimel, Flüchtlingslager Wagna (1915). 26 Vgl. ebda., 27.

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Interniertenlager für Italiener, die danach zum größten Teil ins Lager Steinklamm (Niederösterreich) kamen.27 Nachdem die letzten 2.884 polnischen Flüchtlinge  – die am 10.  August 1915 ins Lager Chotzen/Choceň (Böhmen) überstellt worden waren – und auch die internierten Italiener das Lager Wagna verlassen hatten, kamen am 27. August 1915 die ersten italie­ nischen, slowenischen und kroatischen Flüchtlinge nach Wagna. Bis November 1915 sollte ihre Zahl auf über 21.000 steigen, was erneut zu einer umfangreichen Bautätigkeit führte. Diesmal wurden allerdings keine Massenquartiere mehr errichtet, sondern Wohnbaracken, in denen es ebenerdig nur 54 und im Obergeschoß 24 Schlafstellen gab. Zudem baute man Wohnbaracken mit Einzelwohnzimmern für Familien. Der Neubau und letztlich vor allem der Umbau der alten Baracken in Kleinwohnungen sollten bis ins Frühjahr 1918 andauern.28 Ab Sommer 1915 wurde auch weiter am Ausbau des Krankenhausbereiches gearbeitet, wobei ein Teil für Infektionskranke und ein Teil für nicht infektiöse Kranke geschaffen wurde. Nach der Fertigstellung der Krankenanlage gab es auf dem Areal fünf Spitäler für innere Krankheiten, eine Chirurgie, ein Spital für Gebärende und Frauenkrankheiten, ein Spital für Haut- und Geschlechtskrankheiten, ein Spital für Tuberkulosekranke29 sowie zwei Kinderspitäler. Zudem wurde eine Isolierabteilung geschaffen, die durch einen hohen Zaun vom übrigen Lager abgeschlossen war und die nur durch ein Schleusengebäude betreten werden konnte, in dem sich Beobachtungseinheiten, Kleiderablagen, Bäder und Desinfektionseinrichtungen befanden. Diese Isolierabteilung bestand aus sechs Baracken und – ebenfalls durch einen Zaun abgetrennt – drei Wohnbaracken mit eigenen Küchen zur Unterbringung ansteckungsverdächtiger Personen.30 Auch wurde nun – nachdem die Kapelle zu klein war – eine Kirche, die Karlskirche (San Carlo) mit einer achtzehnstimmigen Orgel des k. k. Hoforgelbauers Hopferwieser aus Graz31 sowie ein Pfarrhaus errichtet. Für die jeweils rund 1.500 istrianischen und friaulischen Kinder wurden zwei getrennte Schulen und Kindergärten sowie eine Handwerker-, Näh- und Lehrlings- und eine Musikschule errichtet.32 Am 25. Jänner 1917 wurde auch ein Kindergarten für slowenische Kinder eingeweiht.33 Zudem wurde 27 Vgl. Ein Besuch im Flüchtlingslager zu Wagna. 1. Teil, in  : Deutsche Frauen-Zeitung (Beilage zum Grazer Tagblatt), 9.1.1916, o. S. 28 Bericht über die dritte Sitzung des Verwaltungsausschusses, in  : Lagerzeitung für Wagna, 6.1.1918, o. S. 29 Weihe des Tuberkulosespitals, in  : Lagerzeitung für Wagna, 21.4.1916, o. S. 30 Haimel, Flüchtlingslager Wagna (1915), 8–9. 31 Die neue Orgel in der Karlskirche des Flüchtlingslagers Wagna, in  : Lagerzeitung für Wagna, 10.9.1916, o. S. 32 Siehe zu den Bautätigkeiten ab 1915 u. a. die verschiedenen Meldungen in der Lagerzeitung für Wagna  : Baunachrichten (5.11.1915)  ; Eröffnung des Kindergartens (9.11.1915)  ; Handwerkerschule eröffnet (26.1.1916). 33 Lagerzeitung für Wagna, 4.2.1917, o. S. Anlässlich der Verabschiedung des Statthaltereirates Dr. Viktor Negbaur kam es zur Einweihung des Kindergartens.

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eine Baracke zum Waisenhaus für die Kinder aus Görz/Gorizia und zwei für jene aus Pola/Pula errichtet. In zwei Baracken entstand zudem ein Kinderheim. Zur Zerstreuung und Freizeitgestaltung im Lager wurde am 6. Mai 1916 ein Kino eröffnet, das nach nur wenigen Tagen am 16. Juni 1916 abbrannte, nachdem am Beginn einer Vorführung ein Film in Brand geraten war.34 Im Sommer 1916 wurde zudem das Freibad im Lager mit drei Becken eröffnet, für das die Flüchtlinge – man hatte vor ansteckenden Krankheiten weiterhin Angst  – »unentgeltlich die nötige Badewäsche, welche sie vor dem Verlassen des Bades wieder abzugeben haben«, bekamen.35 Um die Flüchtlinge mit frischen Lebensmitteln zu versorgen, wurde nördlich des Lagers ein Landwirtschaftsbetrieb, die Lager-Ökonomie, errichtet. Noch im Herbst 1915 wurden Stallungen für Kühe und Schweine gebaut und die Tiere angeliefert. Zudem kamen Gebäude für die Kaninchenzucht und für den Geflügelhof hinzu. Im Frühjahr 1916 wurden schließlich Wirtschaftsgebäude errichtet und mit der Bewirtschaftung der Felder und Wiesen begonnen. Mit dem Aufbau dieser Ökonomie wurden aber auch andere Ziele verfolgt. So heißt es in der »Lagerzeitung für Wagna / Gazzetta d’accampamento di Wagna« am 9. Jänner 1916  : Diese Ökonomie soll aber nicht nur die Flüchtlinge und später die Invaliden des Lagers versorgen, sondern soll der bäuerlichen Bevölkerung als Musterwirtschaft Nutzen bringen. Der Wirtschaftsbetrieb soll derart eingerichtet werden, dass die bäuerlichen Besitzer ohne erhebliche Kosten diese Einrichtungen bei sich einführen können. Durch vorbildliche Bewirtschaftung des Bodens soll gezeigt werden, dass auch in der Steiermark der Bauernstand bei richtiger energischer Arbeit zu Wohlstand kommen kann.36

Krankheit und Tod im Lager Wie bereits mehrfach angeführt, kam es am 12. Juli 1917 zur Debatte über den fünf Tage zuvor vorgelegten »Bericht des Flüchtlingsausschusses über die gesetzliche Regelung der staatlichen Flüchtlingsfürsorge«. Als sich als erster Redner der k. k. Minister des Innern, Graf Friedrich von Toggenburg (1866–1956), zu Wort meldete, meinte er hinsichtlich der Unterbringung der Flüchtlinge in Lagern  : »Ich will durchaus nicht in Abrede stellen, dass die Baracken bei längerem Aufenthalte gewisse Nachteile bieten, vor allem gesundheitliche Gefahren wegen der engen Zusammendrängung der Bewohner […]«. Auf diese Äußerung hin wurde er von dem aus der Bukowina stammenden fraktionslosen Abgeordneten Dr. Benno Straucher und dem Abgeordneten des Polen34 Die Eröffnung des Lagerkinos, in  : Lagerzeitung für Wagna, 14.5.1916, o. S.; Brand des Kinos im Flüchtlingslager, in  : Lagerzeitung für Wagna, 18.6.1916, o. S. 35 Freibad im Flüchtlingslager Wagna, in  : Lagerzeitung für Wagna, 7.8.1916, o. S. 36 Agrarische Chronik, in  : Lagerzeitung für Wagna, 6.1.1916, o. S.

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clubs Dr. Ignaz Steinhaus mit den Worten »Kennen Sie, Exzellenz, die Kindersterblichkeit  ? Grauenhaft  ! […] Es sind nur Friedhöfe entstanden  !« unterbrochen.37 Der Minister versuchte daraufhin in seiner Rede, die Ursachen der hohen Sterblichkeit nicht den Lagern, sondern den Flüchtlingen anzulasten, die in einem hygienisch desolaten Zustand in diese Lager gekommen seien. Letztlich waren es aber die Überbelegungen in den Flüchtlingslagern, die nicht nur in Wagna zum Ausbruch von Epidemien geführt hatten. So starben etwa in Chotzen/ Choceň in den ersten vier Monaten des Jahres 1915 von 10.000 Flüchtlingen 725, darunter viele Kinder.38 In Gmünd, wo rund 25.000 Flüchtlinge untergebracht waren, starben im November 1915 bis zu 90 Flüchtlinge täglich, in Bruck an der Leitha bei nur 3.300 Flüchtlingen in vier Monaten allein 229 Kinder und in Steinklamm starben von den 6.000 Flüchtlingen in den beiden letzten Monaten des Jahre 1915 über 500 Kinder.39 Auch in Wagna forderten Flecktyphus, Tuberkulose und Pocken viele Menschenleben. Bereits im Dezember 1914 wurde im Lager Wagna eine erste Typhuserkrankung gemeldet.40 Als Mitte Jänner 1915 von den rund 4.000 nach Serbien verschleppten Männern 1.500 wieder nach Wagna zurückkehrten, brachten sie – wie der polnische Abgeordnete Zygmunt Lasocki berichtete – Flecktyphus mit,41 der sich rasch ausbreitete. Da zu diesem Zeitpunkt die Bade- und Desinfektionsanlagen im Lager erst im Bau waren, gestaltete sich die Bekämpfung der Flecktyphusepidemie anfangs schwierig. Doch es gelang bald, durch systematisches Baden und Entlausen der Flüchtlinge sowie der Errichtung von Isolierbaracken  – im Unterschied beispielsweise zum Interniertenlager Thalerhof, wo zeitgleich Flecktyphus ausbrach und insgesamt 2.687 Personen erkrankten, von denen 768 starben42  – der Epidemie Herr zu werden. So wurden in Wagna bei einer doppelt so hohen Zahl an internierten Personen wie in Thalerhof »nur« 545 Personen infiziert, von denen 49 der Krankheit erlagen.43 Trotz der sanitären Anlagen und der sofortigen Maßnahmen kam es im Herbst 1915 zu zahlreichen Todesfällen bei den neu ins Lager Wagna gekommenen Italiener:innen, wobei die meisten an Lungenentzündung und Pocken starben – allein in den letzten vier Monaten des Jahres 1915 1.539 Personen, vor allem Kinder.44 37 Stenographisches Protokoll. Haus der Abgeordneten, 12.7.1917, 893. 38 Lasocki. Stenographisches Protokoll. Haus der Abgeordneten, 12.7.1917, 923. 39 Mentzel, Weltkriegsflüchtlinge in Cisleithanien (1995), 30. 40 Haimel, Flüchtlingslager Wagna (1915), Statistik  : Flecktyphus im Lager Wagna. 41 Lasocki. Stenographisches Protokoll. Haus der Abgeordneten, 16.10.1917, 1508. 42 Hoffmann/Goll/Lesiak, Thalerhof (2010), 103. 43 In Thalerhof lag die Mortalitätsrate bei 29 %, in Wagna hingegen bei nur 9 %. 44 Insgesamt starben von August 1915 bis August 1918 »nur« 26 Personen an Typhus im Lager. Von den in den Monaten November und Dezember 1915 verstorbenen 1.114 Personen waren nur 112 älter als 15 Jahre. Siehe  : Diözesanarchiv Graz, Sterberegister 1915–1918 im k. k. Barackenlager zu Wagna bei Leibnitz.

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Probleme und Konflikte im Lager Nachdem am 4. Oktober 1917 ein Gendarm einen elfjährigen Jungen im Lager Wagna erschossen hatte, wurde eine Kommission von Reichsratsabgeordneten ins Lager entsandt, die in der Folge einen Bericht vorlegte.45 In der am 16. Oktober im Abgeordnetenhaus geführten Debatte meinte der Abgeordnete des Polenclubs, Dr. Alfred von Halban, einleitend, dass, auch wenn man sich heute mit diesem tragischen Einzelfall in Wagna befasse, dies nur verständlich sei, wenn man sich das gesamte Flüchtlingswesen »auf Grund der ganzen Kette von Geschehnissen, aus denen dieser traurige Vorfall hervorgegangen ist«, ansieht. So sei seit 1914 eine »chinesische Mauer zwischen den Geflüchteten und der bodenständigen Bevölkerung« errichtet worden  : Man verwechselte die Evakuierten mit politischen Verdächtigen, aus dem sehr einfachen Grunde, weil [sie] von jeder Berührung mit der bodenständigen Bevölkerung abgeschlossen wurden. […] Sie sah, dass ganze Züge von Leuten transportiert werden, denen das Betreten der Stationen verweigert wurde, die man von den Labestellen ausschloss, denen man nicht ein Glas Wasser reichte. Woher hätte unsere Bevölkerung […] auch nur ahnen sollen, dass das unbescholtene Menschen und nicht etwa politisch Verdächtige sind. […] Die Perfektionierung der chinesischen Mauer zwischen der bodenständigen Bevölkerung und den Flüchtlingen war aber das Barackensystem. Die Bevölkerung musste diese polizeiliche Abschließung als einen Beweis politischer Unverlässlichkeit betrachten. […] Die Bevölkerung konnte nicht darauf kommen, dass es da einen Unterschied zwischen Arrestanten und Flüchtlingen gebe. Und dennoch bestand dieser Unterschied  ; der Unterschied zwischen den Arrestanten und Flüchtlingen reicht sogar sehr weit, aber zugunsten der Arrestanten. Denn unsere Justizverwaltung kann sich dessen rühmen, dass das Vorgehen in den Haftanstalten bei uns im Vergleich mit anderen Staaten ein ziemlich humanes ist. Die Leute sind nicht schlecht untergebracht, in gewöhnlichen Zeiten auch nicht gerade schlecht verpflegt  ; sie haben Ärzte, Spitalseinrichtungen usw., sie wurden mit einem Worte stets viel besser behandelt als die Flüchtlinge, die man in den damals notdürftig zusammengezimmerten Baracken und Konzentrationslagern unterbrachte und für die natürlich in jener Zeit nicht vorgesorgt war. Und als die Bevölkerung immer mehr in den Wahn hineingeriet, dass die Flüchtlinge politisch unverlässliche Leute seien, da konnte die Regierung erst recht sagen, man müsse sie von der bodenständigen Bevölkerung fern halten, weil die bodenständige Bevölkerung gegen die Flüchtlinge aufgebracht sei.46

Die Kritik am Lagersystem allgemein und an Wagna speziell, die anlässlich der Untersuchung der Vorfälle vom 4. Oktober 1917 vorgebracht wurde, richtete sich neben dem 45 Beilage 650 zu den Stenographischen Protokollen des Abgeordnetenhauses, XXII. Session, 1917. Bericht der Vertrauensmänner an den Flüchtlingsausschuss (Beilage zum »Bericht des Flüchtlingsausschusses über die Vorfälle in Wagna, 9.10.1917«). 46 Halban. Stenographisches Protokoll. Haus der Abgeordneten, 16.10.1917, 1483–1486.

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Wegsperren und der teilweise katastrophalen Lebensmittelversorgung vor allem gegen den Einsatz von Lagerbeamten, die nicht die Sprache der Flüchtlinge sprachen, und von denen aus es immer wieder zu Übergriffen auf die Flüchtlinge kam. Zu einem ersten Aufruhr im Lager kam es bereits am 3. Dezember 1914. Denn für die gerade erst im Lager angekommenen Flüchtlinge gab es keine Lebensmittel, was zur Androhung von Plünderungen in der Umgebung führte. Daraufhin bat die Statthalterei beim Ministerium um eine Assistenz-Kompanie zum Schutz von Leibnitz. Gleichzeitig wurde gebeten, keine weiteren Flüchtlinge nach Wagna zu schicken, bevor nicht neue Baracken erbaut und die Verpflegung gesichert sei.47 In den halbfertigen und überfüllten Baracken kam es zu Übergriffen, worüber sich der Polenclub, der die Interessen der polnischen Flüchtlinge vertrat, am 1.  Februar 1915 beim Ministerium beschwerte  : In den wenigen fertiggestellten, weit über den Belagraum überfüllten Baracken zusammengepfercht – hatten sie Kälte und Hunger zu leiden, ihre Bewegungsfreiheit war derart eingeschränkt, dass sie nicht einmal die Kirche besuchen konnten, auch hatten sie infolge Zusammenlebens mit dem Lumpenproletariate unter den Evakuierten aus den größeren Städten zu leiden. Die Gesellschaft öffentlicher Dirnen, Zuhälter u. dgl. war für die übrigen Barackenbewohner in keinerlei Hinsicht vorteilhaft. Anständige Bauernmädchen und Arbeiterinnen wurden vergewaltigt, Diebstähle verübt u. dgl.48

Im Mai 1916 berichtete der Abgeordnete der Italienischen Volkspartei, Dr. Giuseppe Bugatto, von seinem ersten Eindruck vom Lager Wagna ans Ministerium des Innern. Dabei kritisierte er die strenge Absperrung sowie die für die Funktion im Lager ungeeigneten Beamten. Als Vertreter der italienischen Flüchtlinge trug er in der Folge immer wieder Beschwerden an das Ministerium heran  : »Geklagt wird über das Verbot des Einkaufes von Lebensmitteln seitens der Flüchtlinge und über die Beschlagnahme gekaufter Waren  ; auch über die Kost wurden mehr Klagen laut als beim früheren Besuche. Es sind wieder mehrere sprachkundige Funktionäre der Lagerverwaltung abgegangen  ; hierdurch erschwert sich immer mehr der Ersatz mancher minder geeigneter Kräfte.« Als die Lebensmittel kriegsbedingt gekürzt wurden, habe dies – wie Bugatto berichtete  – »eine tiefe Verstimmung hervorgerufen. Sie empfinden es auch als Zurücksetzung, dass ihnen die Möglichkeit genommen ist, die Ergänzung des Abganges auf eigene Mühe und Kosten zu versuchen.« Immer wieder kam es vor, dass die Gendarmerie ihnen alle außerhalb des Lagers – im Frühjahr 1917 durften sie »viermal im Monat auf je einen Tag ausgehen« – besorgten Lebensmittel abnahm und sie zudem bestrafte.49 47 Vgl. Stampler, Katharina  : Flüchtlingswesen in der Steiermark 1914–1918. Phil. Dipl. Graz, 2004, 61. 48 Handschriftliche Beschwerde des Polenclubs, 1.2.1915, zit. nach Stampler, Flüchtlingswesen (2004), 74. 49 Giuseppe Bugatto. Stenographisches Protokoll. Haus der Abgeordneten, 16.10.1917, 1514–1520.

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In dieses Klima des Unmuts, der Armut und Verzweiflung, kam es zu den tödlichen Ereignissen des 4. Oktober 1917. Zwei Soldaten, ein betrunkener und ein geistig verwirrter, »der anstatt in eine Kuranstalt geschickt zu werden, ins Lager von Wagna geschickt wurde«,50 wurden zwischen 16 Uhr und 16.30 Uhr von Gendarmen im Lager festgenommen und schwer misshandelt. Dagegen demonstrierten vor allem Frauen und Kinder, die auch Schottersteine gegen die Gendarmen warfen. Während einige Gendarmen die Festgenommenen fortführten, ging ein Gendarm gegen rund 30 Knaben und einige Frauen vor, die sich in zwei Richtungen zerstreuten und aus einer gewissen Entfernung weiterschrien. Es wurden weiter Schottersteine geworfen, sie fielen aber – wie der »Bericht des Flüchtlingsausschusses über die Vorfälle in Wagna« feststellte – »abseits von dem Gendarmen und bildeten für ihn kaum eine Gefahr. Trotzdem legte er an, wendete sich zuerst androhend gegen die Gruppe, welche in der Richtung der Eskorte stand und sofort verschwand, drehte sich dann in der Richtung der Baracke 56 um, zielte einige Sekunden gegen die zweite Gruppe, und ließ einen Schuss los – Distanz 50 Schritte –, der den eben stolpernden Knaben Antonio Pueli, 11 Jahre alt, durch die Brust traf.« Der Schütze soll dabei ständig »verfluchte Italiener« gerufen haben.51 Die Medien – etwa die »Kleine Zeitung« – berichteten über die Ereignisse grob verzerrt als einer »Revolte im Flüchtlingslager in Wagna«, wo »eine größere Anzahl von Rädelsführern, hauptsächlich junge Burschen« verhaftet worden sein soll, weshalb die Gendarmerie »von einer mehrköpfigen Menge, besonders Weibern« bedroht worden sei. Aus dieser Bedrohung heraus sei ein tödlicher Schuss gefallen.52 Dass das Klima in Wagna und der näheren Umgebung nicht nur durch diesen Vorfall ein mehr als angespanntes war und viele der Flüchtlinge aus Wagna weg wollten, dokumentiert die Wortmeldung des Grazer Abgeordneten für den Deutschen Nationalverband, August Einspinner, zu den Ereignissen  : Überhaupt, ich spreche es ruhig aus  : Die Regierung möge unter solchen Umständen trachten, mit diesem ganzen Flüchtlingslager Wagna aus Steiermark zu verschwinden. Entweder Ordnung und Schutz der einheimischen Bevölkerung oder weg aus dem Lande mit Leuten, die sich nicht einordnen wollen in die Gesetze und Sitten, die im deutschen Lande Steiermark nun einmal gelten. Ich warne die Regierung davor, es etwa darauf ankommen zu lassen, dass sich die Bevölkerung selbst schützt.53

In diesem aufgeheizten Klima verwundert es daher auch nicht, dass sich vor der Totenkammer, in der das erschossene Kind aufgebahrt lag, eine Ansammlung von rund 200 50 Pittoni. Stenographisches Protokoll. Haus der Abgeordneten, 16.10.1917, 1511. 51 Beilage 650 zu den Stenographischen Protokollen des Abgeordnetenhauses 1917, Bericht der Vertrauensmänner an den Flüchtlingsausschuss, 4. 52 Eine Revolte im Flüchtlingslager in Wagna, in  : Kleine Zeitung, 6.10.1917, 3. 53 August Einspinner. Stenographisches Protokoll. Haus der Abgeordneten, 16.10.1917, 1495.

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Personen aus der Umgebung einfand, die – wiederum dem Bericht an den Flüchtlingsausschuss zufolge – »Nieder mit den Fremden  ! Wir werden die Baracken anzünden« und dergleichen mehr riefen.54 Mit dem Hunger und der Fortdauer des Krieges wuchsen die gegenseitigen Animositäten zwischen den Flüchtlingen und der Zivilbevölkerung, wobei die Medien und einzelne Parlamentarier, wie etwa August Einspinner, immer wieder den Unmut auf die Flüchtlinge, auf die Italiener und Slawen, lenkten, die im Lager Wagna lebten. Der aus Triest stammende sozialdemokratische Abgeordnete Valentino Pittoni meinte zu dieser Situation im Juli 1917  : Vor dem Hunger hört jede Gemütlichkeit und hören auch alle Herzensregungen auf, mit dem Hunger kann man nicht mehr fühlen. Denken Sie sich, um wie Vieles ärger dann die Stellung der Flüchtlinge ist, die doch von dieser armen bodenständigen Bevölkerung, die selbst wenig hat, selbstverständlich als Eindringlinge und als lästige Abnehmer eines Teiles des Brotes betrachtet werden müssen. Aber wenn wir von diesen armen Hungerleidenden nicht verlangen können, dass sie durch Vernunft zur Duldung kommen, so müssen die Zentralen dafür sorgen, dass die Reibungen zwischen Flüchtlingen und bodenständiger Bevölkerung nicht dadurch verschärft werden, dass der Approvisionierungsdienst erschwert wird.55

Gleichzeitig appellierte er an die Presse, Vorurteile gegenüber den Flüchtlingen sowie »Missverständnisse und ganz unglaubwürdige Auffassungen in der Bevölkerung des Hinterlands zu zerstreuen. Seine Abgeordnetenkollegen rief er auf  : »Reden Sie zu Ihren Leuten von den Pflichten des Gastrechts und, anstatt die Fehler der anderen Völker hervorzuheben, wodurch man dann den nicht gut gesinnten Leuten Stoff zur Beschimpfung […] verschafft, reden Sie anstatt dessen den Leuten zum Herzen, schildern Sie den Leuten, um wieviel ärger noch die Leiden der armen Flüchtlinge sind als die Leiden der Bevölkerung des Hinterlandes.«56 Doch in den letzten Kriegsmonaten waren keine beruhigenden Worte mehr angesagt, die nationalistischen Anfeindungen und Angriffe auf die Flüchtlinge nahmen zu und gingen letztlich zu Kriegsende so weit, dass die lokale Bevölkerung die Beschlagnahme der Lebensmittelvorräte des Flüchtlingslagers forderte.57

54 Beilage 650 zu den Stenographischen Protokollen des Abgeordnetenhauses 1917, Bericht der Vertrauensmänner an den Flüchtlingsausschuss, 5. 55 Pittoni. Stenographisches Protokoll. Haus der Abgeordneten, 12.7.1917, 914. 56 Ebd., 915. 57 Bericht des italienischen Abgeordneten Giuseppe Bugatto, 21.11.1918. Zit. nach Mentzel, Weltkriegsflüchtlinge in Cisleithanien (1995), 40.

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Die Rückkehr der Flüchtlinge Ab Mai 1915 wurden die Flüchtlinge aus Galizien und Bukowina aufgerufen, wieder in die Heimatgemeinden zurückzukehren.58 Diesen Aufrufen folgten auch die in Wagna Internierten. Viele Gemeinden, in die nun die Flüchtlinge zurückkehrten, waren aber »nur mehr auf der Landkarte zu finden«. So waren etwa im galizischen Bezirk Kolomea/Kolomyja die Gemeinden zu 25 bis 75 % zerstört, im Bezirk Horodenka waren alle zerstört, im Bezirk Tarnopol/Ternopil waren von 83 Gemeinden 21 zur Gänze und weitere 17 zur Hälfte zerstört.59 Diese unüberlegten Repatriierungen in die zerstörten Gemeinden wurden immer wieder massiv kritisiert. So meinte etwa der parteilose, aus der Bukowina stammende Abgeordnete Dr. Benno Straucher  : Die damaligen Maßnahmen der Regierung zeigten aber die gleichen Mängel und Unkenntnis der wahren Verhältnisse, wie die letzthin erflossenen Verordnungen. Ohne vorherige gründliche und verlässliche Erhebungen, ob die Rückkehr von Flüchtlingen in ihre heimatlichen Ortschaften auch möglich sei, hat man einfach eine zwangsweise Heimkehrverordnung erlassen. […] Ich bitte nicht zu übersehen  : diesen Flüchtlingen ist ja ihr Hab und Gut völlig geraubt, die meisten Orte sind eingeäschert, auch die Wohnstätten verbrannt oder zerstört. Einrichtung, Werkzeuge, Gerätschaften, Kleider, kurz alles, was nötig ist, damit die heimkehrenden Flüchtlinge ihre früheren Wohnungen oder neue benützen können, damit sie sich eine Erwerbsmöglichkeit schaffen, ist geraubt.60

Den ab Sommer 1915 ins Lager gekommenen italienischen, slowenischen und kroatischen Flüchtlingen wurde es im Jänner 1917 erstmals freigestellt, das Lager zu verlassen und sich weitgehend selbst zu versorgen. Die »Lagerzeitung für Wagna« warnte am 15.  März 1917 die Lagerbewohner:innen allerdings vor dem unbedachten Verlassen des Lagers, da dabei zum einen die öffentliche Unterstützung erlöschen würde und zum anderen es außerhalb des Lagers in vielen Gegenden keine Lebensmittel mehr gäbe und Arbeit nur schwer zu finden sei. Abschließend meinte sie – »Wir sagen weder »Gehet« noch »Bleibet«.61 Mit dem Erlass des Ministeriums des Innern vom 1. September 1917 wurde schließlich die kollektive Rückkehr der Flüchtlinge in den Süden möglich. Der Hauptgrund dafür war, dass die Versorgungslage im Land katastrophal war und man sich mit der Rückführung der Flüchtlinge eine Besserung erhoffte. Im Erlass, der auch in der »Lagerzeitung für Wagna« abgedruckt wurde, hieß es  :

58 StLA, Nachlass Pokorny, Heft 3, Aufruf  : An die Flüchtlinge aus Galizien und Bukowina. 59 Mentzel, Weltkriegsflüchtlinge in Cisleithanien (1995), 37. 60 Benno Straucher  : Stenographisches Protokoll. Haus der Abgeordneten, 12.7.1917, 1504. 61 An Jene, die das Flüchtlingslager verlassen wollen, in  : Lagerzeitung für Wagna, 15.3.1917, o. S.

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Die sich immer schwieriger gestaltende Unterbringung und Verpflegung von Kriegsflüchtlingen im Hinterlande sowie der Bedarf an Arbeitskräften zur Besorgung landwirtschaftlicher und gewerblicher Arbeiten im Kriegsgebiete veranlasst das Ministerium des Innern im Einvernehmen mit dem Armeeoberkommando einen vielfach geäußerten Wunsch Rechnung tragend, die Rückkehr der Flüchtlinge aus dem Süden in ihre Heimat zu gestatten.62

Im September 1917 wurden in der »Lagerzeitung für Wagna« auch die freigegebenen Bezirke aufgelistet, in die die Flüchtlinge zurückkehren konnten, sowie jene Gebiete genannt, die zwar »noch nicht generell freigegeben« worden waren, in die jedoch Flüchtlinge aus wichtigen öffentlichen und privaten Gründen zurückkehren durften. Nach drei Wochen wurden per Erlass die Rücktransporte wieder eingestellt,63 da infolge der zwölften Isonzoschlacht die Transportmittel für die Truppen- und Nachschubtransporte an die Front benötigt wurden. Damit kam es im Hinterland nicht zu der erhofften Entlastung der angespannten Versorgungssituation, vielmehr kam es durch die Offensive zu massiven Versorgungsproblemen im Hinterland, da für die im Herbst zu tätigenden Lebensmittel- und Heizmaterialtransporte keine Güterwaggons zur Verfügung standen.64 Ab 19. Jänner 1918 war schließlich die Rückkehr in Gemeinden der Grafschaften Görz/Gorizia und Gradiska/Gradisca, ab 23.  Mai 1918 auch nach Triest/Trieste/Trst möglich. Die Rückkehr in diese Gebiete war aber von zahlreichen Schwierigkeiten begleitet, da »die einstigen blühenden Wohnstätten« teilweise in Schutt und Asche gelegt worden waren. Daher wurden erneut Hilfskomitees aktiv, die wie beispielsweise der »Landeshilfsausschuss für Kriegsflüchtlinge« in Graz in Kooperation mit anderen Hilfsvereinen dazu aufriefen, den Flüchtlingen »allen entbehrlichen Hausrat, alte Kleider, Wäsche, Schuhwerk, Bettzeug, Zimmer- und Kücheneinrichtungen etc.« zur Verfügung zu stellen.65 Das Komitee in Görz/Gorizia errichtete vor Ort eine Lebensmittelabgabestelle, die nicht nur die zur Verfügung gestellten Güter wie etwa Lebensmittel oder Kleidung verteilte, sondern auch die gesamte Fürsorge in Hinblick auf Unterkunft und Schulen abwickelte.66 Die noch bei Kriegsende in der Steiermark bzw. im Lager Wagna befindlichen Flüchtlinge waren nun plötzlich fremde Staatsbürger, was u. a. bedeutete, dass sie keine staatliche Unterstützung mehr erhielten. Daher wurde versucht, diese letzten hier befindlichen Flüchtlinge so rasch wie möglich in ihre Heimatgemeinden zurück zu trans62 Ministerium des Innern, Erlass vom 1. September 1917, in  : Lagerzeitung für Wagna, 18.9.1917, o. S. 63 Erlass zitiert bei Weber, Franz Christian  : »… nach Österreich hungern gehen«. Italienische Flüchtlinge in Graz während des Ersten Weltkrieges, in  : Zeitschrift des historischen Vereines für Steiermark, Jg. 88 (1997), 229–265, hier 261. 64 Vgl. Rauchensteiner, Manfried  : Der Tod des Doppeladlers. Österreich-Ungarn und der Erste Weltkrieg, Graz-Wien-Köln 1993, 503–504. 65 Rückkehr der Kriegsflüchtlinge, in  : Lagerzeitung für Wagna, 24.2.1918, o. S. 66 Vgl. Weber, Italienische Flüchtlinge (1997), 262.

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portieren. Regierungsrat Albert Pauer, der Vertreter des »Landeshilfsausschusses für Kriegsflüchtlinge in der Steiermark« meinte Ende November 1918 dazu  : [D]ie Steierm. Landesregierung sah sich mit Rücksicht auf die herrschenden Approvisionierungsschwierigkeiten genötigt, auf die rascheste Abreise der unbemittelten und bemittelten Flüchtlinge zu dringen. Sie habe in der Zeit vom 15. bis 29. November auf Grund eines mit dem italienischen Gouverneur von Triest erzielten Einvernehmens einen großen Teil der in Wagna und einen Teil der in Graz und Umgebung untergebrachten Flüchtlinge ital. Nationalität, u.zw. in Güterwagen repatriiert, da diese Art der Beförderung wegen der Möglichkeit der Heizung und der Effektenmitnahme für die Flüchtlinge die angenehmste ist.67

Am 3. Juni 1919 brachte die Grazer Tageszeitung »Tagespost« folgenden Aufruf  : »Die hiesige ital.[ienische] Delegation teilt mit, dass am 10. Juni 1919 der letzte Sonderzug nach Italien geht.«68 Damit war der Rücktransport der italienischen Flüchtlinge abgeschlossen.

Die Hinterlassenschaft des Lagers Im »Heimgarten« hatte Peter Rosegger 1916 davon gesprochen, dass Wagna »eine kleingewerbliche Stadt der Kriegerheimstätten werden kann, ein natürlicher, gesunder Anfang für ein entwicklungsfähiges Gemeinwesen.«69 Mehrere Konzepte seitens des für das Flüchtlingslager zuständigen Beamten der k. k. steiermärkischen Statthalterei, mit Titeln wie »Besondere Voraussetzungen für die Schaffung einer Kriegerheimstättenansiedlung im Flüchtlingslager« oder »Ackerbauschule für Kriegsverletzte« zeugen von Überlegungen, dass zum einen nach dem Krieg »der Bedarf an Arbeitskräften auf dem Lande größer sein wird denn je«,70 und zum anderen, dass der Staat für die heimkehrenden Krieger und Invaliden zu sorgen haben würde. So könnte – wie es in den Überlegungen hieß – der Staat »wirksam auf die Umgruppierung der Bevölkerung in der Richtung der Zuführung und Zurückführung zur intensiv betriebenen Landwirtschaft« hinwirken, es könnte aber auch »gleichzeitig durch Schaffung einer, besonderen Bestimmungen unterliegenden Type des kleinen Grundbesitzes, der Kriegerheimstätten, der sehr dringlich gewordenen Agrarreform die Wege« geebnet werden.71 Da

67 Aufnahmeschrift über die am 29.11.1918 im Staatsamte des Innern abgehaltene Besprechung betreffend Flüchtlingsfürsorge. Zitiert nach Weber, Italienische Flüchtlinge (1997), 263. 68 Tagespost, 3.6.1919, zitiert nach Weber, Italienische Flüchtlinge (1997), 264. 69 Rosegger, Heimgärtners Tagebuch (1916), 135. 70 StLA, Nachlass Pokorny, Heft 7, Programm für Verwendung des Flüchtlingslagers Wagna nach Abtransport der Flüchtlinge, März 1918. Allgemeine wirtschaftliche und sozial politische Erwägungen. 71 Ebd.

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Wagna hinsichtlich dieser Überlegungen die passende Infrastruktur zu haben schien, heißt es im Konzept  : Im Lager Wagna bestehen bereits eine größere Anzahl dauerhaft aufgeführter Bauten, deren Ausnützung eine wirtschaftliche Pflicht ist und die die Voraussetzung für eine dichtere Besiedelung geben. Im Lager ist ein vollkommenes Wasserleitungs- und Kanalnetz, sowie ein dichtes, solid gebautes Straßennetz vorhanden  ; ein zur Bahnstation führendes Stockgeleise ermöglicht die glatte Beförderung größerer Mengen von landwirtschaftlichen und gewerblichen Produkten, Transformatoren ermöglichen die Abgabe von elektrischer Kraft in jeder erforderlichen Stärke.72

Die Bewohner dieser Anlage sollten Invalide mit einer kleinen Landwirtschaft sein, deren Haupterwerb aber in den bereits im Lager bestehenden Betrieben  – der sich am Markt behauptenden Korbflechterei, der Sodawassererzeugung und der Dampfwäscherei – zu finden wäre. Neben diesen im Rahmen der Invalidenfürsorge gedachten Arbeitsmöglichkeiten war noch an die Weiterführung der Samenzuchtanlage und der Ökonomie gedacht, die ihrerseits für den Transport der Waren wieder Körbe benötigen würde, die aus der lagereigenen Flechterei kommen könnten. Um diese Möglichkeiten für Kriegsinvalide zu testen, wurden bereits im November 1917 36 Invalide mit ihren Familien im Lager untergebracht und in den dortigen Betrieben beschäftigt.73 »Die hiebei gemachten Erfahrungen sind sehr günstig«, hieß es dazu.74 Um das Konzept umsetzen zu können, sollte das Lager umgestaltet werden, weshalb die Statthalterei einen Ideenwettbewerb plante, von dem sich der Entwurf der Ausschreibung erhalten hat. Angedacht war, 270 bis 300 Familien auf dem Lagergelände anzusiedeln, wobei für jede Familie ein Wohnhaus und ein Gartengrundstück von rund 1.000 m2 vorgesehen war. Diese Häuser müssten für unterschiedlich große Familien geschaffen werden, die in Gruppen zusammengefasst werden sollten, sodass »eine durchaus harmonische, künstlerisch befriedigende Gesamtwirkung entsteht  ; hiebei wird sich von selbst der Anschluss an die heimatlich bodenständige Bauweise als zweckmäßig erweisen.«75 Die Pläne aus dem Frühjahr 1918 zerschlugen sich durch die Ereignisse in den darauf folgenden Monaten  : Die Monarchie ging unter, die italienischen, slowenischen und kroatischen Flüchtlinge kehrten wieder in ihre Heimat zurück und aus der Un-

72 StLA, Nachlass Pokorny, Heft 7, Entwurf  : Besondere Voraussetzungen für die Schaffung einer Kriegerheimstättenansiedlung im Flüchtlingslager. 73 Eröffnung der Invalidenschule in Wagna, in  : Lagerzeitung für Wagna, 25.11.1917, o. S. 74 StLA, Nachlass Pokorny, Heft 7, Besondere Voraussetzungen für die Schaffung einer Kriegerheimstättenansiedlung im Flüchtlingslager. 75 Ebd.

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tersteiermark, die nun jenseits der neuen österreichischen Grenze lag, kamen neue Flüchtlinge nach Wagna.76

76 Malli, Rüdiger  : Das Flüchtlingsproblem in der Steiermark Ende 1918 bis Ende 1919, in  : Ebner, Herwig et al. (Hg.)  : Forschungen zur Landes- und Kirchengeschichte. Festschrift Helmut J. Mezler-Andelberg zum 65. Geburtstag, Graz 1988, 321–331.

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Über die Kriegsgefangenenlager auf dem Gebiet der heutigen Steiermark Unter besonderer Berücksichtigung des Lagers Knittelfeld Einleitung War das Massenphänomen »Kriegsgefangenschaft« im »Weltenbrand« 1914–1918 von der Forschung lange Zeit vernachlässigt worden, setzte in den 1990er-Jahren, verstärkt jedoch in den 2000er-Jahren eine intensivere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Aspekten ein. Ausgehend vom angelsächsischen und französischen Raum beschäftigten sich Forscher:innen mit den Kriegserfahrungen der Soldaten an unterschiedlichen Fronten aus zumeist nationaler Perspektive, einzelnen Lager(-Systeme)n und humanitärer Hilfe durch unterschiedliche Organisationen.1 In Deutschland befasste sich Reinhard Nachtigal 2005 mit diesem »neuen Forschungsfeld«.2 Uta Hinz veröffentlichte etwa 2006 ihre umfassende Publikation »Gefangene im Großen Krieg«.3 Für Österreich sind die Arbeiten von Verena Moritz und Hannes Leidinger zu nennen, die sich vor allem russischen Kriegsgefangenen in Österreich widmeten.4 Einen wesentlichen Beitrag zur Erforschung der Funktion und 1 Speed, Richard Berry  : Prisoners, diplomats, and the Great War. A study in the diplomacy of captivity, New York 1990  ; Becker, Annette  : Oubliés de la Grande guerre. Humanitaire et culture de guerre, 1914–1918. Populations occupées, déportés civils, prisonniers de guerre, Paris 1998  ; Procacci, Giovanna  : Soldati e prigionieri italiani nella Grande Guerra. Con una raccolta di lettere inedite, Rome 1993  ; Rachamimov, Alon (Iris)  : POWs and the Great War. Captivity on the Eastern front, New York 2002  ; Wurzer, Georg  : Die Kriegsgefangenen der Mittelmächte in Russland im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2005  ; Oltmer, Jochen (Hg.)  : Kriegsgefangene im Europa des Ersten Weltkriegs, Paderborn et al. 2006  ; Kramer, Alan  : Prisoners in the First World War, in  : Scheipers, Sibylle (Hg.)  : Prisoners in war, Oxford-New York 2010, 75–91  ; Feltman, Brian K.: Tolerance as a crime  ? The British treatment of German prisoners of war on the Western Front, 1914–1918, in  : War in History, Jg. 17 (2010) Heft 4, 435–458  ; Jones, Heather  : Violence against prisoners of war in the First World War. Britain, France, and Germany, 1914–1920, Cambridge 2011  ; Egger, Matthias, Gekämpft, gefangen und vergessen  ? Die k. u. k. Regierung und die österreichischungarischen Kriegsgefangenen in Russland 1914–1918, Phil. Diss. Salzburg 2018. 2 Nachtigal, Reinhard  : Kriegsgefangenschaft an der Ostfront 1914 bis 1918. Literaturbericht zu einem neuen Forschungsfeld, Frankfurt/Main 2005. 3 Hinz, Uta  : Gefangen im Großen Krieg. Kriegsgefangenschaft in Deutschland 1914–1921 (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte, N.F. 19), Essen 2006. 4 Leidinger, Hannes/Moritz, Verena  : Verwaltete Massen  : Kriegsgefangene in der Donaumonarchie 1914– 1918, in  : Oltmer, Jochen (Hg.)  : Kriegsgefangene im Europa des Ersten Weltkriegs, Paderborn et al. 2006, 35–66  ; Moritz, Verena/Leidinger, Hannes  : Zwischen Nutzen und Bedrohung. Die russischen Kriegsgefangenen in Österreich 1914–1921 (Militärgeschichte und Wehrwissenschaften 7), Bonn 2005.

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Bedeutung der Lagersysteme in den Kronländern der Monarchie leistete für die Steiermark die Dissertation von Peter Hansak.5

Neue Dimension Der Erste Weltkrieg hatte eine neue Dimension hinsichtlich der Kriegsgefangenschaft gebracht. Diese wurde von den Militärs völlig unterschätzt, obwohl sich ihre Entwicklung zu einem Massenphänomen etwa schon im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 angekündigt hatte.6 Als im Sommer 1914 der Krieg ausbrach, rechnete man überall mit einer kurzen Dauer. So fragte ein Offizier der russischen kaiserlichen Garde den Leibarzt des Zaren, ob er seine Paradeuniform für den Einmarsch in Berlin gleich einpacken oder sie vom nächsten Kurier bringen lassen solle.7 Der vermeintlich kurze Waffengang wurde zu einem vier Jahre dauernden interkontinentalen Ereignis, für das aufgrund der Fehleinschätzung keine Vorbereitungen für die Unterbringung von Kriegsgefangenen getroffen worden waren. Dabei wurden Soldaten in einem bis dato unvorstellbaren Ausmaße gefangen genommen. Allein in der Schlacht von Tannenberg (26.–30.  August 1914) kamen rund 100.000 russische Soldaten in deutsche Gefangenschaft.8 Die Kriegsgefangenschaft wurde zu einem Massenphänomen. Nach heutiger Schätzung lag die Gesamtzahl der Gefangenen im Ersten Weltkrieg zwischen 6,6 und 8,4 Millionen Menschen. Am Ende des Krieges befanden sich 328.000 Soldaten in britischer und 350.000 in französischer Gefangenschaft, in Russland waren es 2.250.000. In Deutschland betrug der Stand 2.374.769 Mannschaftssoldaten und 40.274 Offiziere. Auf dem Gebiet der österreichisch-ungarischen Monarchie lag die Zahl internierter Angehöriger der Entente zu Kriegssende bei ca. 900.000. Der Höchststand an Gefangenen dürfte rund 1.600.000 betragen haben.9

5 Hansak, Peter  : Das Kriegsgefangenenwesen während des 1. Weltkriegs im Gebiet der heutigen Steiermark, Phil. Diss. Graz 1991. Für Oberösterreich und Salzburg  : Walleczek, Julia  : Hinter Stacheldraht. Die Kriegsgefangenenlager in den Kronländern Oberösterreich und Salzburg im Ersten Weltkrieg, Phil. Diss. Innsbruck 2012. 6 Vgl. Moritz/Leidinger, Nutzen und Bedrohung (2005), 2  ; Hinz, Gefangen (2006), 10. 7 Tuchman, Barbara W.: August 1914. Übertragen aus dem Amerikanischen von Grete und Karl-Eberhardt Felten, Frankfurt/Main 1965, 150  ; vgl. dazu auch Stevenson, David  : Der Erste Weltkrieg 1914–1918. Aus dem Englischen von Harald Ehrhardt und Ursula Vones-Liebenstein, Düsseldorf 32006, 97, 207. 8 Vgl. Tuchman, August 1914 (1965), 366  ; Moritz/Leidinger, Nutzen und Bedrohung (2005), 61. 9 Hinz, Gefangen (2006), 10  ; Moritz/Leidinger, Nutzen und Bedrohung (2005), 320. Siehe auch Nachtigal, Reinhard  : Zur Anzahl der Kriegsgefangenen im Ersten Weltkrieg, in  : Militärgeschichtliche Zeitschrift, 67 (2008) Heft 2, 349–371.

Über die Kriegsgefangenenlager auf dem Gebiet der heutigen Steiermark 

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Die Lager entstehen Überall mussten Barackenlager nach wenigen Wochen Kriegsdauer buchstäblich aus dem Boden gestampft werden. Bei ihrer Errichtung war volle Improvisation notwendig. Mitten in den Feldern, an bis dahin unbewohnten Orten, mehr oder weniger weit entfernt von Städten und Dörfern entstanden sie. Eine Gemeinsamkeit hatten alle  : Sie waren unzureichend ausgerüstet und strukturiert. Uta Hinz sieht darin keine bewusste Strategie, sondern schlicht ungenügende Vorbereitung respektive heillose Überforderung.10 Das trifft auch für die rund 5011 auf dem Boden der Donaumonarchie entstandenen Lager zu. Ihre Standorte wurden derart gewählt, dass sie weit von den Kampfzonen lagen, um die Gefangenen nicht zur Flucht in Richtung »Feind« zu verleiten. Aufgrund seiner Lage wurde das Herzogtum Steiermark zu einem bevorzugten Standort für diverse Lager, genannt sei nur jenes am ehemaligen k. u. k. Exerzierplatz Thalerhof. Hier wurden primär aus der heutigen Ukraine stammende Ruthen:innen, interniert. Schon ihr Transport in verunreinigten Viehwaggons ist als menschenverachtend zu bezeichnen.12 Ein weiteres großes Internierungslager (Höchststand 21.000) entstand in Wagna bei Leibnitz.13 Beide werden in dieser Abhandlung nicht berücksichtigt, ebenso wenig das Lager Sternthal/Strnišče im heutigen Slowenien, in dem insgesamt an die 40.000 Gefangene untergebracht waren.14 Sternthal/Strnišče, wie auch andere im »vergessenen Krieg« entstandene Lager, beispielsweise Mauthausen oder Theresienstadt/Terezín, sollten im Zweiten Weltkrieg zu Orten der Gefangenschaft, der Zwangsarbeit und der Vernichtung werden.15 Im Mittelpunkt dieser Abhandlung steht das Lager von Knittelfeld. Diesem wurde im Jahre 2009 eine Ausstellung samt Begleitpublikation gewidmet.16 Durch diese Ausstellung 10 Hinz, Gefangen (2006), 92. 11 Moritz/Leidinger, Nutzen und Bedrohung (2005), 70. 12 Vgl. Hoffmann, Georg/Goll, Nicole-Melanie/Lesiak, Philipp  : Thalerhof 1914–1936. Die Geschichte eines vergessenen Lagers und seiner Opfer (Mitteleuropäische Studien 4), Herne 2010  ; über den Transport vgl. Früh, Eckart  : Nachwort des Herausgebers, in  : Kraus, Karl  : Die letzten Tage der Menschheit. Bühnenfassung des Autors, hg. von Eckart Früh. Mit Zeichnungen von Georg Eisler und einem Essay von Eric Hobsbawn, Frankfurt/Main-Wien 1994, 368–369. 13 Vgl. Halbrainer, Heimo  : Lager Wagna 1914–1963. Die zeitweise drittgrößte Stadt der Steiermark (Schild von Steier. Kleine Schriften 23), Graz 2014 sowie den Beitrag in diesem Band. 14 »Oj fanti, kaj pa zdaj  ?« (»Oi, Jungs, was aber jetzt  ?«) Vojaška Taborišča in Reservne Bolnišnice v Strnišču med Letoma 1915 in 1918 (Militärlager und Reservekrankenhäuser in Strnišče zwischen den Jahren 1915 und 1918), Broschüre des Pokrajinski Muzej Ptuj, 2007. 15 Vgl. Rauchensteiner, Manfried  : Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918, Wien-Köln-Weimar 2013, 855  ; vgl. allgemein Kotek, Joel/Rigoubet, Pierre  : Das Jahrhundert der Lager. Gefangenschaft, Zwangsarbeit, Vernichtung, Berlin-München 2001  ; zur Definition des Lagers vgl. Agamben, Giorgio  : Was ist ein Lager  ?, in  : Dienes, Gerhard M./Rother, Ralf (Hg.)  : Die Gesetze des Vaters. Problematische Identitätsansprüche. Hans und Otto Gross, Sigmund Freud und Franz Kafka, WienKöln-Weimar 2003, 108–113. 16 Dienes, Gerhard M./Jungmeier, Gundi (Hg.)  : Geschlossene Gesellschaft  ? Die Entwicklung der Knittel-

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zeigte sich das »Russländische Staatliche Militärhistorische Archiv« (»Rossijskij gosudarstvennyj voenno-istoričeskij archiv«) in Moskau am Thema interessiert und machte Archivmaterial, das Lager Knittelfeld betreffend, zugänglich.17 Es handelt sich dabei um Aussagen von russischen Soldaten, die in Knittelfeld in Gefangenschaft waren, 1916 im Rahmen eines Austausches in ihre Heimat zurückkehrten und von der in Petrograd eingerichteten »Außerordentlichen Kommission zur Untersuchung von Kriegsrechtsverletzungen durch österreichisch-ungarische und deutsche Heere« befragt wurden. Erwähnt gehört, dass der Gefangenenaustausch sich explizit auf chronisch kranke und dauerhaft kriegsversehrte Soldaten beschränkte. Die Zahl der ausgetauschten Gefangenen war gemessen an ihrer Gesamtzahl minimal.18 Invalide war zum Beispiel Pavel Krochin, Soldat im 196. Insarsker Infanterieregiment. Er gab an, am 26. August 1914 in Galizien bei einer Attacke am Bein verwundet worden und in österreichisch-ungarische Gefangenschaft geraten zu sein. Krochin kam nach Cilli/Celje, wo dem damals 24-Jährigen das Bein abgenommen wurde »und ich lag bis zum November im Spital«. Schließlich kam er nach Knittelfeld, wo er bis zum August 1915 blieb. Dann nach Böhmen überstellt, kehrte er mit weiteren Invaliden über Schweden nach Russland zurück.19

Das Lager Knittelfeld Das Lager Knittelfeld war bereits im September 1914 entstanden. Die Initiative zur Errichtung ging von dem Industriellen Otto Zeilinger (1872–1961) aus, der Sensenwerke in und um Knittelfeld betrieb. Zeilingers Sensenproduktion litt unter starkem Konkurrenzdruck. Seine finanzielle Situation war triste. Außerdem hatte er mit Kriegsbeginn Russland als traditionelles Absatzgebiet seiner Produkte verloren. Daher kam ihm die Suche der Militärverwaltung nach geeigneten Grundflächen für den Bau eines Lagers äußerst gelegen.20 Zeilinger erkannte die sich ihm ergebenden ökonomischen Möglichkeiten, um seinen Betrieb zu sanieren.21 felder Neustadt vom Gefangenenlager zur aufstrebenden Wohngegend. Unter Mitarbeit von Maria Froihofer und Eva Taxacher. Ein Buch der ARGE Knittelfelder Neustadt, Graz 2009. 17 »O soderžanii voennoplennich v konzentracionnom lagere Knitel’fel’d«. Rossijskij gosudarstvennyj voenno-istoričeskij archiv (RGVIA), Fond 13159, opis’ 1, delo 1573 (im Folgenden zitiert als »RGVIA, »Knittelfeld«). Die Gespräche in Moskau führten der Autor, Mag.a Gundi Jungmeier und Mag. Simon Mraz, der Leiter des Österreichischen Kulturforums in Moskau. Im Rahmen eines Forschungsaufenthaltes sichtete Frau Julia Dornhofer das Material und übersetzte es. 18 Vgl. Hinz, Gefangen (2006), 11  ; Moritz/Leidinger, Nutzen und Bedrohung (2005), 148. 19 RGVIA, »Knittelfeld«, Liste Nr. 3, befragt am 25.5.1916. 20 Vgl. Prettenthaler-Ziegerhofer, Anita  : Eine Ära geht zu Ende. Streifzüge aus dem Leben des Gewerken Otto Zeilinger (1872–1961), in  : Dienes/Jungmeier, Geschlossene Gesellschaft  ? (2009), 40–47, hier 40– 42. 21 Vgl. Hansak, Peter  : Kriegsgefangene im Gebiet der heutigen Steiermark 1914 bis 1918, in  : Zeitschrift des Historischen Vereins für Steiermark, 84 (1993), 261–311, hier 264. Generell erhofften sich viele Un-

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Er entwarf für seine Gründe einen kompletten Lagerplan und präsentierte diesen dem Militär. Neben der Errichtung des Lagers bot der Gewerke an, gegen entsprechende Bezahlung auch Verpflegung, Beleuchtung, Beheizung etc. zu übernehmen. Dank seiner guten Kontakte zu Bezirkshauptmannschaft und Militärkommando gelang es ihm, trotz heftiger Proteste seitens der Stadtgemeinde den Zuschlag zu erhalten. Dabei war der Pachtzins, den man Zeilinger zahlte, um 20 % höher als üblich. Auch erhielt er die Konzession für den Betrieb einiger Lagerkantinen. Später stellte sich heraus, dass er diese für einen hohen Pachtzins an Subunternehmer weitergegeben hatte. Ende Oktober 1914 traf der erste Transport mit Gefangenen ein.22 Die lokale Bevölkerung kam, um den exotisch wirkenden »Feind« zu sehen. Ihre Schaulust wurde – wie auch anderorts  – von der Propaganda als »naive Neugier« verharmlost.23 Die Gefangenen waren Angehörige der zaristischen Armee, in der  – ethnisch gesehen  – mehrheitlich Russen dienten, weswegen diese Bezeichnung für alle üblich wurde. Den Russen gegenüber herrschten erhebliche Vorurteile. Sie wurden als minderwertig und rückständig angesehen. Bei den Soldaten dominierte die soziale Herkunft aus dem bäuerlichen Milieu, vielfach handelte es sich um Analphabeten, was die Überheblichkeit ihnen gegenüber noch verstärkte.24

Gefangene und heimische Offiziere Wie in anderen Lagern wurden auch in Knittelfeld die gefangenen russischen Offiziere von ihren Mannschaften getrennt untergebracht. Bis zur Fertigstellung eigener Unterkünfte führten sie beim Hofwirt in Seckau oder im Schloss Wasserberg ein recht freies Leben.25 Das Anmieten von Räumlichkeiten für gefangene Offiziere gestaltete sich in der Steiermark einfach. Kriegsbedingt blieben Kurgäste und »Sommerfrischler« aus. Gasthöfe, Hotels und Pensionen standen leer. Ihre Besitzer:innen waren daher interessiert, Offiziere aufzunehmen, wurden die Kosten für die Unterbringung doch entsprechend vergütet. Im Kriegsministerium langte daher eine wahre Flut von Angeboten inklusive beigelegter Prospekte, Ansichts- und Speisekarten ein, unter anderem auch vom »Alpenhotel« in Fölz bei Aflenz. Die im Ministerium zuständige Kommission prüfte, gelangte allerdings zu der Erkenntnis, dass der Hotelpächter und die Haushäl-

ternehmer und Gewerbetreibende vom Bau der Lager gute Aufträge. Vgl. Moritz/Leidinger, Nutzen und Bedrohung (2005), 77. 22 Moritz/Leidinger, Nutzen und Bedrohung (2005), 77–78  ; Brenner, Stefan  : Die ersten russischen Kriegsgefangenen in Knittelfeld, in  : Dienes/Jungmeier, Geschlossene Gesellschaft  ? (2009), 48–53, hier 52. 23 Vgl. Hinz, Gefangen (2006), 189. 24 Vgl. Stevenson, Weltkrieg (2006), 88  ; Moritz/Leidinger, Nutzen und Bedrohung (2005), 28, 58. 25 Waldhuber, Heinz  : »Jetzt wir nicht mehr arbeiten, wir bald wieder Russland gehen«. Lebenserinnerungen von Irene Mylius, in  : Dienes/Jungmeier, Geschlossene Gesellschaft  ? (2009), 90–96, hier 91.

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terin nur auf Gewinn aus seien und die gestellten Ansprüche nicht erfüllten.26 Die Bewachung der Gefangenen erfolgte durch Landsturm- bzw. Landsturmersatzbataillons, also Einheiten, die weder dem gemeinsamen Heere noch der Landwehr angehörten.27 In Knittelfeld, und nicht nur dort, gab die Lebensführung der Militärbeamten, Ingenieure und Offiziere mehrfach Anlass zu Kritik, »denn die Leute« – erinnerte sich die Gutsbesitzerin Irene Mylius, eine Nachbarin Zeilingers – hielten sich berechtigt, die Vorteile ihrer Stellung allzu sehr auszunützen und ihre eigenen Vorteile voranzustellen. Dabei erregte der Verbrauch und die Ausnutzung berechtigten Unwillen. Nicht nur, dass fleißig alles Brauchbare requiriert wurde, so ließen einzelne Offizier sich auf aerarische Kosten Kleider, Schuhe, Möbel und allerlei Hausrat anfertigen und es soll manche gegeben haben, die waggonweise ihre Anschaffungen verschickten. Alles wollte am Krieg verdienen und war bestrebt, diese einzigartige Gelegenheit auszunutzen  ; die Etappe war ein Paradies für die Schar der ›Tachinierer‹ – ein treffendes neues Wort – die sich dem Frontdienst zu entziehen gewusst hatten.28

Überfüllung und Seuchen Der erste Plan Zeilingers hatte ein Lager für 3.000 Personen vorgesehen. Doch die Gefangenenzahl stieg rapide bis Ende 1914 auf 18.373 an. Neue Grundstücke mussten gepachtet werden. Wieder erhielt Zeilinger den Zuschlag. Bald war das Lager Knittelfeld größer als die Stadt, die rund 10.000 Einwohner:innen zählte.29 Im Dezember 1914 besuchte ein Offizier des Kriegsministeriums das Lager und wurde auf unzumutbare Verhältnisse aufmerksam gemacht.30 Die Mannschaftsbaracken waren für 400 Mann ausgelegt, mussten jedoch aufgrund des Anstiegs an Gefangenen bis zu 600 aufnehmen. Die Baracken waren »überfüllt und furchtbar verdreckt, deshalb war es schwer zu atmen«, gab der bereits erwähnte Pavel Krochin zu Protokoll. Etliche Fälle von Flecktyphus und Blattern waren die Folge und Ende 1914, so Fëdor Semënovič Sosjach, Arzthelfer im 35. Bransker Infanterieregiment, trat erstmals eine Ruhrepidemie und danach die Cholera auf. Ich behandelte Gefangene, die an akuter Anämie litten, viele erkrankten an Bronchitis, die sich zu einer Lungentuberkulose 26 Vgl. Hansak, Kriegsgefangene (1993), 270. 27 Vgl. Moritz/Leidinger, Nutzen und Bedrohung (2005), 99. 28 Waldhuber, »Jetzt wir nicht mehr arbeiten«, in  : Dienes/Jungmeier, Geschlossene Gesellschaft  ? (2009), 90–96, hier 91–92. Vgl. Moll, Martin  : Interne Feindbilder im Ersten Weltkrieg, in  : Zeitschrift des Historischen Vereins für Steiermark, 95 (2000), 83–101, hier 92–93. 29 Vgl. Hansak, Kriegsgefangene (1993), 267. 30 Vgl. Moritz/Leidinger, Nutzen und Bedrohung (2005), 63. Über die Situation im ersten Kriegswinter vgl. Hinz, Gefangen (2006), 102.

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weiterentwickelte. Die Gefangenen erkälteten sich hauptsächlich aufgrund der Mangelhaftigkeit der Unterkünfte. Die Baracken waren kalt, feucht, mit Erdböden. Es gab wenige Öfen, die schlecht heizten […].31

Die Situation war auch in anderen Lagern angespannt. Dr. Friedrich Koch, Assistenzarzt in Mauthausen, schrieb im Dezember 1914 an seine Mutter  : Wenn es den Soldaten der k. u. k. Armee in der Gefangenschaft auch dermaßen schlecht wie hier ergehen sollte, dann erschiene es besser, am Schlachtfeld zu sterben, als unter solchen Verhältnissen weiter leben zu müssen. Koch starb im Februar 1915 an Flecktyphus.32

Das Lager Feldbach Bereits während der Bauarbeiten in Knittelfeld wurde ersichtlich, dass das Lager nicht ausreichen werde, um die hohe Anzahl an Kriegsgefangenen aufnehmen zu können. Daher begann das Militärkommando Graz mit der Suche nach einem weiteren Standort. Die Wahl fiel auf Feldbach. Am 28. Dezember 1914 begann dort der Bau, für den Internierte aus den Lagern Thalerhof und Knittelfeld abkommandiert wurden. Auch in Feldbach wurde bald eine Erweiterung notwendig. So entstand das Nebenlager in Mühldorf. In beiden betrug der Höchstbeleg 40.000 Mann, in Knittelfeld waren es 35.000 (Mai 1915).33 Über das Lager Feldbach hat sich ein bemerkenswertes Filmdokument erhalten  : Der Film wurde ja als neues Massenmedium erkannt. Und so kamen zu den Spielfilmen vermehrt »Dokumentationen« über das Kriegsgeschehen. Der Leiter der Filmabteilung im Kriegsministerium war Sascha Kolowrat, der auch eine private Firma sein Eigen nannte.34 Und diese produzierte politische Wochenschauen sowie im Jahre 1915 einen über 30 Minuten langen Film (Wien, Filmarchiv Austria) über das Lager Feldbach, dessen Inhalt im krassen Gegensatz zur Realität stand  : Durch schöne Bilder, eine heile Welt zeigend, versuchte die Propaganda die öffentliche Meinung durch Idealbilder zu

31 RGVIA, »Knittelfeld«, Liste Nr. 3, befragt am 25.5.1916. 32 Brenner, Martin  : Das Kriegsgefangenenlager in Knittelfeld. Eine Untersuchung der Akten des Kriegsarchivs in Wien von den ersten Bemühungen Otto Zeilingers zur Errichtung des Lagers Knittelfeld bis zur Umwandlung des Kriegsgefangenenlagers in ein Militärspital. Phil. Dipl. Graz 2011, 65. 33 Hansak, Kriegsgefangene (1993), 276–279  ; vgl. auch Dornik, Wolfram/Grasmug, Rudolf  : Die Südoststeiermark im 20. Jahrhhundert, in  : Dornik, Wolfram/Grasmug, Rudolf/Karner, Stefan (Hg.)  : GrenzenLos. Österreich, Slowenien und Ungarn 1914–2004. Beitragsband zur Ausstellung im Gerberhaus Fehring, Graz-Fehring 2007, 117–119. 34 Vgl. Fritz, Walter  : Kino und Film in Wien (1896–1930), in  : Traum und Wirklichkeit. Wien 1870–1930, Katalog zur 93. Sonderaustellung des Historischen Museums der Stadt Wien Karlsplatz im Künstlerhaus, Wien 1985, 715  ; Stevenson, Weltkrieg (2006), 322, 330, 335–337, 343.

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manipulieren. Der Film zeigt aber auch die Infrastruktur des Lagers sowie die Gefangenen als Menschen, die sonst oft nur als anonyme Zahlen ins Bewusstsein treten.35

Die Verhältnisse bessern sich Im Laufe des Jahres 1915 besserten sich die hygienischen wie die medizinischen Verhältnisse in den Lagern. So hebt ein Bericht des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz36 im November 1915 über die Kriegsgefangenenlager in der Donaumonarchie hervor  :37 Nach den von uns besichtigten Lagern zu urteilen, waren die Einrichtung der Internierungsorte für Gefangene in Österreich-Ungarn, ihre Hygiene, ihre Verwaltung, ihre Versorgung, mit einem Wort alles, was ihre Erhaltung und Wartung betrifft, Gegenstand von sehr vollständigen Maßnahmen, die sehr sorgfältig ausgeführt wurden. Daraus ergab sich eine große Einheitlichkeit der Lager und in ihrem Funktionieren. Die Willkür ist in der Verwaltung aufgrund dieser Tatsache mehr oder weniger ausgeschlossen, ohne dass jedoch die Initiative der Kommandanten im Hinblick auf von ihnen ins Auge gefasste Verbesserungen behindert wird.

Dennoch gab es weiterhin Probleme, wie ein Beispiel aus Feldbach zeigt  : Die zuständige Bezirkshauptmannschaft hatte die Entleerung der Fäkalien aus den Tonnenaborten und Latrinen des Lagers in die Raab erlaubt. Dagegen protestierten die Anrainergemeinden, die in den Fäkalien von rund 30.000 Personen eine Gesundheitsgefährdung der Zivilbevölkerung sahen. Als Notlösung wurden Zementsammelbecken angelegt, in welchen die festen Bestandteile zu Boden sinken konnten, um anschließend kompostiert zu werden.38 Sowohl in Feldbach als auch in Knittelfeld entstanden schließlich Kläranlagen, lange bevor solche in den »Zivilorten« gebaut wurden.

35 Siehe die Filmdokumente »Kriegsgefangenenlager und Betriebe der Bauleitung Feldbach« und »Als Anthropologe im Kriegsgefangenenlager  : Aufnahmen aus dem Kriegsgefangenenlager Feldbach bei Graz«, in  : Ballhausen, Thomas/Kaindlstorfer, Günter/Kieninger, Ernst et al. (Hg.)  : Krieg der Bilder. Filmdokumente zur Habsburgermonarchie im Ersten Weltkrieg. DVD 2  : Leidinger, Hannes/Moritz, Verena/Moser, Karin et al. (Hg.)  : Jubel und Elend. Illustrationen zum Zeitgeschehen, Wien 2014. 36 Das Rote Kreuz konnte aber aufgrund seines fehlenden Mandats nur an den guten Willen der Militärbehörden appellieren. Darüber hinaus fanden regelmäßig Lagerinspektionen durch Vertreter der Schutzmächte statt, vgl. Hinz, Gefangen (2006), 76–77  ; über Spanien, die für die russischen Kriegsgefangenen in Österreich-Ungarn zuständige Schutzmacht, die wenig Eigeninitiative, aber eine deutschfreundliche Gesinnung zeigte, vgl. Moritz/Leidinger, Nutzen und Bedrohung (2005), 57. 37 Internationales Komitee vom Roten Kreuz (IKRK). Dokumente über ihre Besuche in einigen Kriegsgefangenenlagern in Österreich, 4. Serie, Genf-Paris 1915, 4. 38 Hansak, Kriegsgefangene (1993), 278  ; über die hygienischen Verbesserungen in deutschen Lagern vgl. Hinz, Gefangen (2006), 110.

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Ausbrüche ansteckender Krankheiten konnten laut Rotem Kreuz reduziert werden. Auch sei »eine ausreichende Versorgung an absolut reinem Wasser«, in Knittelfeld gespeist aus einem Pumpenhaus – das heute noch existiert39 –, angestrebt.40 Akim Prochorovič Galuzin, Soldat des 192. Rymsker Infanterieregiments, erachtete das Leben im Lager »in jeder Hinsicht [als] schlecht«. Bis zum Februar 1915 habe es kein Bad gegeben, »dann besserten sich die Verhältnisse.«41

Vom Lager zum Spital Die Lager Feldbach und Knittelfeld waren bis zum Sommer 1915 zu regelrechten Barackenstädten angewachsen, als Lebring als Standort für ein weiteres bestimmt wurde. Zwei Monate nach Beginn der Bauarbeiten, noch vor seiner Fertigstellung, trat Italien in den Krieg ein. Das Kommando der Südwestfront verlangte daraufhin die Umwandlung der Lebringer Anlage in ein Spital. Da aber die Bettenkapazität zu gering war, wurde auf einen Umbau verzichtet. Zu einer Auffüllung des Lagers Lebring mit einer großen Anzahl von Gefangenen war es nicht mehr gekommen. Ca. 3.000 Serben, Russen, Rumänen und Italiener waren hier in Gefangenschaft und 15.000 Soldaten, mehrheitlich Bosnia­ ken, stationiert.42 Wie in Feldbach entstand auch im Knittelfelder Lager nach dem Kriegseintritt Italiens eines »der größten und eigenartigsten Kriegsspitäler« der Monarchie. Es nahm Erkrankte und Verwundete von der Südwestfront auf.43 Zwei Drittel der Knittelfelder Anlage wurden für Spitalzwecke reserviert. 5.000 Verwundete und Kranke sowie rund 800 infizierte Soldaten konnte der 63 Baracken umfassende Komplex aufnehmen.44 Da zu nahe der neuen Front, begann nun die Verlegung des Großteils der Gefangenen in die Lager von Freistadt und Marchtrenk.45 Lediglich ein Arbeitskommando von ca. 3.000 Mann blieb. Zu den russischen Kriegsgefangenen kamen nun auch solche

39 Vgl. Reichstam, Martin  : Relikte des Lagers, in  : Dienes/Jungmeier, Geschlossene Gesellschaft  ? (2009), 220–221, hier 221. 40 IKRK. Dokumente, 11. 41 RGVIA. »Knittelfeld«, Liste Nr. 1, befragt am 29.1.1916. 42 Hansak, Kriegsgefangene (1993), 291. 43 Vgl. Knittelfeld, in  : Neues Pester Journal, 22.10.1917, 11  ; Hansak, Kriegsgefangene (1993), 279. 44 Jernej, Bettina/Wieser, Alexandra  : Das Lazarett Knittelfeld und die Bedeutung des Ersten Weltkrieges als Motor der medizinischen Entwicklung, in  : Dienes/Jungmeier, Geschlossene Gesellschaft  ? (2009), 76–81, hier 77–78. 45 Über diese Lager vgl. Rauchensteiner, Weltkrieg (2013), 856  ; umfassend  : Walleczek, Hinter Stacheldraht (2012).

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aus dem Königreich Italien. Italienische und russische Gefangene erbauten im Jahre 1916 für die k. u. k. Offiziere eine feudale Villa.46

Arbeitseinsatz Schon beim Bau der Lager waren Kriegsgefangene im Einsatz. Schließlich beschäftigte man sie im täglichen Betrieb, zum Beispiel bei der Lagerfeuerwehr, »bei der Reinigung der Latrinen, beim Ausheben von Wassergräben«, berichtet der Gefangene Galuzin. Bald fanden sich Gefangene auch in der Knittelfelder Emailfabrik, in den Eisenbahnwerkstätten sowie in der Landwirtschaft, hier wiederum insbesondere bei Otto Zeilinger. Sie wirkten beim Bau von Straßen, wie jener auf die Stolzalpe, regulierten die Raab und erschlossen den Steinbruch am Steinberg in Mühldorf.47 Nicht zuletzt waren Gefangene in Graz bei der Errichtung des Stiegenaufganges vom Schloßbergplatz zum Uhrturm mit tätig.48 Der ungewöhnlichste Einsatz von Kriegsgefangenen war wohl jener von serbischen Gefangenen bei den archäologischen Ergrabungen der römischen Stadt Flavia Solva auf dem Gemeindegebiet von Wagna. In Ermangelung eines ersichtlichen kriegswirtschaftlichen Nutzens lehnte die Militärverwaltung jedoch eine Übernahme der Verpflegungskosten ab.49

Gefangene als Kriegsressource Die Ausweitung zum »totalen Krieg« führte zur restlosen Mobilisierung aller Arbeitskräfte. Die Gefangenen wurden als Kriegsressource entdeckt. Und so wurde, wie Derek Weber ausführt, »die Gefangenschaft zu einer Frage der letzten menschlichen Reserven«.50 Die seit der Mitte des Jahres 1915 einsetzende breite Heranziehung von Kriegsgefangenen zur Arbeit bedingte, dass die Gefangenenarbeit kein Randphänomen blieb, sondern sich vielmehr zu einem wesentlichen Faktor der österreichischungarischen Wirtschaft entwickelte.

46 Vgl. Dienes, Hygiene und Bad, in  : Dienes/Jungmeier, Geschlossene Gesellschaft  ? (2009), 56–59, hier 57–58. 47 RGVIA, »Knittelfeld«, Liste Nr. 3, befragt am 19.1.1916  ; Brunner, Walter  : Die Sonnenheilstätten auf der Stolzalpe, in  : Zeitschrift des Historischen Vereins für Steiermark, 71 (1980), 129–150, hier 134–135  ; Hansak, Kriegsgefangene (1993), 284. 48 Vgl. Laukhardt, Peter  : Der Grazer Schloßberg. Weltkulturerbe im Sturm der Zeit, Graz 2000, 120. 49 Vgl. Hansak, Kriegsgefangene (1993), 297. 50 Weber, Derek  : Die Kriegswirtschaft des Ersten Weltkriegs und das Kriegsgefangenenlager Knittelfeld, in  : Dienes/Jungmeier, Geschlossene Gesellschaft  ? (2009), 60–65, hier 61, 64.

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Die Haager Landkriegsordnung verbot explizit, Kriegsgefangene für Arbeiten heranzuziehen, die im Zusammenhang mit Kriegsunternehmen standen. Aber vermehrt dominierte die Auffassung  : »Not kennt kein Gebot«.51 Dies bestätigt auch die Aussage von Grigorij Nikolaevič Bašuev, Arzthelfer im 194. Troicko-Sergiever Infanterieregiment  : »Mein Regimentsgenosse, […] Vladimir Najdenov, der in Gefangenschaft verblieb, erzählte mir, dass er gezwungen wurde, Gehäuse für Schrapnelle auszuschleifen. Er verweigerte und wurde dafür unter Arrest gestellt und mit der Peitsche geschlagen.«52

Pulverfabrik und Werkstättenbetrieb Im Juli 1915 begann das Militär mit der Errichtung einer Pulverfabrik in Trofaiach. Rund 200 russische Gefangene wurden als Arbeitshilfe herangezogen. Ihre Zahl erhöhte sich rasch auf 5.000. Am Rande des Fabrikgeländes entstand ein 3,5 Hektar umfassendes Lager, dessen Internierte auch in der Pulverproduktion eingesetzt wurden. Auf ihre Versorgung war man nicht vorbereitet. Und so gab es im November 1916 elf Todesfälle, 453 Gefangene wurden als arbeitsunfähig eingestuft, im Jänner 1917 waren es bereits 800 (!).53 Ähnlich war die Situation bei der Oesterreichisch-Alpine Montangesellschaft in Eisenerz. Das Kriegsministerium klassifizierte die dort eingesetzten Gefangenen als »ausgebrannte und unverwendbare Schlacke« ab und riet, einige Russen erschießen zu lassen. Dazu kam es aber doch nicht, vielmehr streikten die heimischen Arbeiter:innen, als ihre Situation zusehends schlechter wurde.54 Durch die Ökonomisierung des Krieges erlangte das Lager Feldbach als Werkstättenbetrieb seine eigentliche Bedeutung. Die Holzverarbeitung überwog. Um von Ankäufen unabhängig zu sein, richtete die Bauleitung im ganzen Kronland mehrere Außenstellen mit Kriegsgefangenen ein, deren Aufgabe die Holzgewinnung war. Die Produktionspalette war vielfältig. 1915 arbeitete man in erster Linie für den Bedarf der 5. Armee, die an der Italienfront unter Bau- und Brennholzmangel litt.55 Der Barackenbau stellte den bedeutendsten Zweig der Feldbacher Lagerproduktion dar. Es wurden Standardbaracken für verschiedene Zwecke, von der Mannschafts- bis zur Munitionsbaracke, in Fertigteilbauweise, auch winterfest, hergestellt. Bei Bedarf wurde die gesamte Einrichtung gleich mitgeliefert. Die Baracken aus Feldbach gingen in die gesamte Monarchie, an Kriegsschauplätze wie in die Etappe. 51 Vgl. Moritz/Leidinger, Nutzen und Bedrohung (2005) 121  ; Hinz, Gefangen (2006) 64, 252, 279. 52 RGVIA, »Knittelfeld«, Liste Nr. 9, befragt am 2.8.1916. 53 Moritz/Leidinger, Nutzen und Bedrohung (2005), 127. 54 Ebd., 188. Vgl. Hansak, Kriegsgefangene (1993), 292  ; Staudinger, Eduard  : Gewerkschaftsorganisationen der Eisen- und Metallarbeiterschaft in der Steiermark, in  : Roth, Paul W.: Erz und Eisen in der Grünen Mark. Beiträge zum steirischen Eisenwesen, Graz 1984, 411–429, hier 422–423. 55 Vgl. Hansak, Kriegsgefangene (1993), 284.

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Feldbach hatte 49 Außenstellen, die entfernteste befand sich in Sofia (zehn Zimmerleute), eine lag sogar nahe der Front zu Italien in Capodistria/Koper.56 Immer mehr wurden die Grenzen hinsichtlich von Fronteinsätzen, die die Haager Landkriegsordnung gezogen hatte, missachtet. So wurden etwa im nordfranzösischen Kriegsgebiet in Deutschland internierte Franzosen im Feuerbereich der eigenen Armee eingesetzt.57 Aufschlussreich sind die Aussagen von Vasilij Ivanovič Vaščinskij, einem Erbadeligen aus dem Gouvernement Ekaterinoslavsk, Freiwilligen im 84. Širvansker Infanterieregiment. Dank seiner Deutschkenntnisse und jener der Medizin war er im Knittelfelder Lagerspital tätig. Dort musste ich sehr oft russische Kriegsgefangene behandeln, die krank von der italienischen Front zurückgekehrt waren, wo sie mit dem Anlegen von Militärstraßen, Felsensprengungen, dem Bau von Drahtverhauen und Schützengräben und nach Angaben einiger sogar mit dem Zubringen von Geschossen zu den Positionen betraut waren. Zurückgekehrt sind sie […] aufgrund von Erschöpfung und Erkältung oder aufgrund von traumatischen Störungen, hervorgerufen durch Dynamitsprengungen. Wie nah an der italienischen Front man unsere Kriegsgefangenen zum Arbeiten gezwungen hat, zeigt der Fall eines Gefangenen, der mit einer italienischen Kugel im Knochen ins Spital eingeliefert wurde.58

Gefangene und Zivilbevölkerung Durch die auswärtigen Arbeitseinsätze kam es vermehrt zu Kontakten zwischen den Gefangenen und der Zivilbevölkerung. Das Verhältnis zwischen den Arbeitgeber:innen in der Landwirtschaft und den ihnen zugeteilten Gefangenen war in der Regel gut. Das beruhte wohl auf der guten Arbeitsmoral der Gefangenen, insbesondere der russischen. Am Bauernhof war der Gefangene zudem nicht Feind, sondern wie das Gesinde zum Hof gehörig.59 Die Beziehungen zwischen den Kriegsgefangenen und ihrer Umgebung waren streng reglementiert. So mussten Frauen, denen sexuelle Kontakte mit Gefangenen nachgewiesen werden konnten, mit harten Strafen rechnen. Allen Erlässen zum Trotz kam es aber immer wieder zu Beziehungen. Das »sichtbare Ergebnis« dieser patriotischen Pflichtverletzungen nannte der Volksmund »Russenkinder«. Der zeitgenössi-

56 Ebd., 286–288  ; generell hatte sich mit Beginn des Arbeitseinsatzes zu den wichtigen ausgebauten Stammlagern ein kaum überschaubares Netz an Arbeitslagern und Arbeitskommandos entwickelt, vgl. Hinz, Gefangen (2006), 127. 57 Hinz, Gefangen (2006), 29. 58 RGVIA, »Knittelfeld«, Liste Nr. 2, befragt am 25.4.1916. 59 Vgl. Hansak, Kriegsgefangene (1993), 302  ; Karner, Stefan  : Die Steiermark im 20. Jahrhundert. Politik – Wirtschaft – Gesellschaft – Kultur, Graz-Wien-Köln 2000, 110.

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schen moralischen Verpflichtung einer Eheschließung konnte der Gefangene, da per Gesetz verboten, während des Krieges nicht nachkommen.60 Doch nach dem Waffenstillstand mit Russland waren Eheschließungen durchaus möglich und aus Knittelfeld ist ein solcher Fall bekannt  : Jakob Kitrovksy/Kedrovskij, gebürtig aus Ludwigstal/Romanovka, war Dolmetsch im Lager. Am 17. August 1918 heiratete er die Gastwirtstochter Rosina Maria Gößler aus Hautzenbichl bei Knittelfeld.61 Über ihn gab Vasilij Ivanovič Vaščinskij zu Protokoll  : »[…] harten Umgang mit den Kriegsgefangenen in Knittelfeld pflegte der ›eigene‹ Kriegsgefangene Jakov Kedrovskij. Er schlug was ihm unterkam, führte Durchsuchungen durch, stellte unter Arrest, spionierte für die Österreicher, provozierte Fluchten.« Das gesamte Lager habe ihn gebeten, in Russland die Machenschaften Kitrovkys zu melden.62

Flucht Mit den zunehmenden Arbeitseinsätzen der Kriegsgefangenen gestaltete sich ihre Kontrolle immer schwieriger.63 Etliche suchten ihr Heil in der Flucht. Der Kommandant von Knittelfeld erzählte dem das Lager visitierenden schwedischen Major Thorsten Wennerström von einem »Fall der Strafbemessung bei der Flucht von Gefangenen, der uns streng vorkam. Wenn nämlich einer entfloh, wurden für alle die Rationen herabgesetzt. […] Das war der erste und einzige Fall, dass in einem Lager der Zentralmächte die Gefangenen kollektiv durch Herabsetzung der Rationen bestraft wurden. In Russland wieder war das alltäglich.«64 Schwere Vorwürfe erhoben ehemalige Gefangene gegenüber einem Offizier der Wachmannschaft, so Vaščinskij  : »[A]m Ende des Winters 1915« habe Oberleutnant Tugendhat, der »Schrecken des gesamten Lagers«, einem Gefangenen »eine Verletzung mit einem Säbel« zugefügt. Dies geschah »einzig deshalb, weil er es bei der Ankunft des Offiziers nicht geschafft hatte, noch rechtzeitig aus der Baracke zu springen. Die 60 Über das Eherecht für Gefangene vgl. Moritz/Leidinger, Nutzen und Bedrohung (2005), 233. 61 Freundliche Mitteilung von Hans Rinofner und Erich Schreilechner, Stadtarchivare in Knittelfeld. Ludwigstal gehörte zu den Schwarzmeerkolonien (Grunauer Kolonie). Dort siedelten sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Familien aus dem Elsass, Baden, Württemberg und Hessen an, vgl. Brandes, Detlef  : Von den Zaren adoptiert. Die deutschen Kolonisten und Balkansiedler in Neurussland und Bessarabien 1751–1914, München 1993, 391–393, 460. 62 RGVIA, »Knittelfeld«, Liste Nr. 2, befragt am 25.4.1916. 63 Hinz, Gefangen (2006), 161. 64 Wennerström, Thorsten  : Gefangen in Österreich-Ungarn. Besuch von Kriegsgefangenenlagern in Österreich-Ungarn, in  : Weiland, Hans/Kern, Leopold (Hg.)  : In Feindeshand  : Die Gefangenen im Weltkrieg in Einzeldarstellungen, Bd. 2, Wien 1931, 223. Über den üblicherweise wenig kritischen Wennerström vgl. Moritz/Leidinger, Nutzen und Bedrohung (2005), 40  ; dazu auch Leidinger, Hannes/Moritz, Verena (Hg.)  : In russischer Kriegsgefangenschaft. Erlebnisse österreichischer Soldaten im Ersten Weltkrieg (Damit es nicht verloren geht … 56), Wien-Köln-Weimar 2008.

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Verletzung war am Rücken und in der Nierengegend und unter Schmerzen wurde der Verletzte in die Aufnahmestube des Hospitals gebracht, wo er dann nach ein oder zwei Tagen in kritischem Zustand nach Graz gebracht wurde – offensichtlich deshalb, um nicht am Ort der Verletzung zu sterben.«65 Häufig praktiziert wurde die Strafe des »Anbindens« an einen Pfahl. Dieser wurde gleichsam als Marterpfahl zum Symbol einer völkerrechtliche und zivilisatorische Prinzipien missachtenden Gefangenenbehandlung. Beim Anbinden berührten die Füße den Boden kaum, so dass den Gefangenen, die zwei oder mehr Stunden in dieser Stellung verharren mussten, das Blut aus Mund und Nase drang. Manche verloren das Bewusstsein.66 Auch ohne Züchtigungen war das Dasein der Gefangenen wenig ersprießlich. Allein die schier endlose Dauer des Zwangsaufenthaltes bedingte traumatische Erfahrungen. Das belegt, so Uta Hinz, die »im Krieg international etablierte Begrifflichkeit für eine spezifische psychische Lagerkrankheit  : ›Barbed wire disease‹, ›cafard‹ oder ›Stacheldrahtkrankheit‹ für einen weit über Heimweh und Lagerkoller hinausreichenden Zustand der Depression.«67 Es fehlte aber nicht an Versuchen, eine Lagerkultur zu etablieren. Intellektuelle, künstlerische, handwerkliche und sportliche Aktivitäten wurden gefördert, es gab Musik- und Theateraufführungen, Bibliotheken wurden eingerichtet. In Knittelfeld war es Basilius Sylvester von Paczowski, der, vom Dienst mit der Waffe befreit, eine 850 Werke umfassende Bibliothek für ukrainisch-sprachige Gefangenen schuf. Im Zivilberuf Gymnasiallehrer, hielt Paczowski auch Vorträge über die Grundbegriffe der österreichischen Verfassung, hob die Gegensätze zum russischen Absolutismus hervor und engagierte sich für den Bund zur Befreiung der Ukraine.68 Mit einem austro-ukrainischen Kurs versuchte Wien den »russischen Koloss ins Wanken« zu bringen  ; den Ukrainern sollte ihre nationale Sonderart, der »Rassengegensatz« zu den »Großrussen« bewusst gemacht werden.69

Problem Versorgung Das größte Problem des Gefangenenwesens blieb die Versorgung, die auch für die Zivilbevölkerung mit zunehmender Kriegsdauer immer prekärer wurde.70 In Deutschland lassen Zeugnisse der Militärverwaltung schließen, dass sich spätestens im letzten 65 RGVIA, »Knittelfeld«, Liste Nr. 2, befragt am 25.4.1916. 66 Vgl. Hinz, Gefangen (2006), 156  ; Moritz/Leidinger, Nutzen und Bedrohung (2005), 153. 67 Hinz, Gefangen (2006), 11, 117. Vgl. Moritz/Leidinger, Nutzen und Bedrohung (2005), 157  ; Rauchensteiner, Weltkrieg (2013), 857. 68 Vgl. Brenner, Kriegsgefangenenlager (2011), 100. 69 Moritz/Leidinger, Nutzen und Bedrohung (2005), 133  ; vgl. Hinz, Gefangen (2006), 86. 70 Vgl. Hinz, Gefangen (2006) 206  ; Stevenson, Weltkrieg (2006), 344  ; auch Schacherl, Michael  : 30 Jahre steirische Arbeiterbewegung. 1890–1920, Graz o. J., 270.

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Kriegsjahre bei russischen Gefangenen sichtbare Zeichen gesundheitlicher Schäden durch Mangelerscheinungen manifestierten.71 »Die Ernährung war sehr schlecht und wir lebten in Hunger, ernährten uns von dünner Maissuppe, einer Brotmischung aus Kastanien und Maismehl, Kartoffeln und Bohnen«, berichtete der Gefangene Galuzin. Später hörte die Versorgung mit Brot ganz auf »und es gab den entsetzlichen und gefürchteten ›Klippfisch‹, der die ganze Gegend mit seinem Gestank nach Aas verpesten konnte«, erinnert sich Irene Mylius. An anderer Stelle vermerkt sie, dass das, was im Herrenhause Zeilinger »an Bewirtung geboten wurde, […] heute nicht mehr vorstellbar [erscheint], auch nicht die aus Heeresbestand beigesteuerten Mengen an Zigarren, Wein, Likören und feinen Bonbons, die achtlos in unkontrollierten Mengen verbraucht wurden.«72 Der Höhepunkt an Dreistigkeit aber war die Errichtung eines Hallenbades für die österreichischen Offiziere. Zuerst wurde das imposante Gebäude errichtet, dann darin das Bassin ausgehoben  ! Das Bad machte das Lager Knittelfeld zu einem der kostspieligsten in der Monarchie  : Das von der Ingering abgeleitete Wasser wurde in einer Heizungsanlage erwärmt, deren Betrieb täglich eine Waggonladung Kohle erforderte, und das zu einer Zeit, in der die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Brennstoffen immer schwieriger wurde, es zu Streiks und Demonstrationen kam, und das nicht nur in Knittelfeld.73 Nach dem Sonderfrieden zwischen Russland und den Mittelmächten hatten die russischen Gefangenen eine Art Sonderstellung  ; es gab Lockerungen, aber vielfach handelte es sich nur um »Kosmetik«. Zudem mutierten nach den russischen Revolutio­ nen des Jahres 1917 die bislang »braven Russen« in der Beurteilung der Heeresstellen mehr und mehr zu unzuverlässigen, ja gefährlichen Elementen.74 »Ihr Verhalten«, so Irene Mylius, hatte sich geändert, nichts mehr von der »gewohnten slawischen Untertänigkeit und Dienstwilligkeit«. »Jetzt wir nicht mehr arbeiten«, versicherten sie bei der Kartoffelernte im Oktober 1918, »wir bald wieder Russland gehen«.75

71 Vgl. Hinz, Gefangen (2006), 230. 72 RGVIA, »Knittelfeld«, Liste Nr. 3, befragt am 29.1.1916  ; Waldhuber, »Jetzt wir nicht mehr arbeiten«, in  : Dienes/Jungmeier, Geschlossene Gesellschaft  ? (2009), 90–96, hier 93–94  ; Brenner, Kriegsgefangenenlager (2011), 105. 73 Vgl. Dienes, Bad, in  : Dienes/Jungmeier, Geschlossene Gesellschaft  ? (2009), 56–59, hier 58  ; Moritz/Leidinger, Nutzen und Bedrohung (2005), 72. Weber, Franz Christian  : »Wir wollen nicht hilflos zu Grunde gehen  !« Zur Ernährungskrise in der Steiermark im Ersten Weltkrieg und ihre politisch-sozialen Auswirkungen, in  : Blätter für Heimatkunde der Steiermark, Jg. 74 (2000) Heft 3, 96–131  ; hier 120–121. 74 Vgl. Moritz/Leidinger, Nutzen und Bedrohung (2005), 21. 75 Waldhuber, »Jetzt wir nicht mehr arbeiten«, in  : Dienes/Jungmeier, Geschlossene Gesellschaft  ? (2009), 90–96, hier 96.

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Kriegsende Das Kriegsende war in den Lagern, in denen auch die Spanische Grippe grassierte, chaotisch und explosiv.76 Schon Wochen zuvor war es in Knittelfeld zur Solidarisierung zwischen den Wachmannschaften und Gefangenen gekommen. Jetzt wurden sie entlassen. Einige wenige blieben in der Hoffnung, für ihre Bauern oder Betriebe weiter arbeiten zu können.77 In Gleichenberg kam es zu einer Messerstecherei zwischen russischen Gefangenen und österreichischen Soldaten, die Idylle der Kurgäste wurde durch das »Umherziehen der Kriegsgefangenen« gestört.78 Im Lager Feldbach wollten Italiener, Russen und nicht österreichische Bewacher umgehend nach Hause. Einige italienische Gefangene hatten gedroht, die Stadt in Brand zu setzen, falls die Evakuation nicht unverzüglich beginne. Binnen kürzester Zeit wurde daraufhin ein Eisenbahnzug bereitgestellt, der via Graz nach Triest/Trieste/ Trst abging.79 Auch in Lebring überschlugen sich die Ereignisse. Die letzten russischen Gefangenen beorderte das Lagerkommando von ihren Außenstellen zurück, um sie in ihre Heimat zu entlassen. Die Bosniaken plünderten das Lager, erbrachen die Magazine und verlangten mit Gewaltandrohung den Heimtransport. Die Bevölkerung machte sich das Chaos zunutze, um wagenweise die restlichen Ausrüstungsgegenstände abzutransportieren.80

Epilog In Lebring steht heute noch auf dem ehemaligen Lagerfriedhof ein Denkmal, daß Kriegsgefangene ihren toten Kameraden hatten setzen lassen. Und in Knittelfeld liegen rund 1.200 russische und 110 italienische Kriegsgefangene begraben.81 Die Todesrate russischer Kriegsgefangener in den Lagern der Donaumonarchie lag im Ersten Weltkrieg zwischen 3,41 und 7,24 %.82 Der Erste Weltkrieg war der Probelauf für den Zweiten, heißt es. Vieles potenzierte sich auf fatale Weise. In Deutschland, schrieb Heinrich Böll in einem Brief an seine Söhne, war die Sterblichkeitsrate bei 76 Vgl. Moritz/Leidinger, Nutzen und Bedrohung (2005), 272. 77 Vgl. Rinofner, Hans  : Aus dem Lager wurde die Neustadt, in  : Dienes/Jungmeier, Geschlossene Gesellschaft  ? (2009), 148–153, hier 148–149  ; Moritz/Leidinger, Nutzen und Bedrohung (2005), 239. 78 Moritz/Leidinger, Nutzen und Bedrohung (2005), 236. 79 Vgl. Hansak, Kriegsgefangenenwesen (1991), 96  ; Hansak, Kriegsgefangene (1993), 288. 80 Vgl. ebda., 292. 81 Ebd., Teibenbacher, Peter  : Der Lagerfriedhof – Kriegsfriedhof – Soldatenfriedhof Knittelfeld in Zahlen, in  : Dienes/Jungmeier, Geschlossene Gesellschaft  ? (2009), 86–90. 82 Moritz/Leidinger, Nutzen und Bedrohung (2005), 330.

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russischen Kriegsgefangenen 5,4 % und »lag damals schon höher als bei den übrigen Kriegsgefangenen, für die sie 3,5 % betrug. Die Sterblichkeitsquote für sowjetische Gefangene lag im Zweiten Weltkrieg mehr als zehnmal höher.«83

83 Böll, Heinrich  : Brief an meine Söhne oder  : vier Fahrräder, in  : Die Zeit. Geschichte. Die Stunde Null, 8. Mai 1945, Teil 2  : Lehren aus der Katastrophe, April 2005, 8.

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Arbeit als Heilbedingung Fritz Hartmann und die Grazer Psychiatrie im Ersten Weltkrieg Der Erste Weltkrieg bedeutete für die Grazer Medizin im Allgemeinen und für die Psychiatrie im Besonderen eine tiefe Zäsur. Mit dem erst kurz vor dem Krieg errichteten Neubau des Landeskrankenhauses sowie einer größeren Anzahl von Kuranstalten und Kliniken verfügte Graz über moderne und spezialisierte Einrichtungen, die 1914 die Wunden eines kurzen Waffengangs heilen sollten. Allerdings wurde schon nach wenigen Monaten Krieg deutlich, dass die vorhandenen medizinischen Kapazitäten nicht ausreichen würden. Insbesondere die Behandlung von Soldaten, die an der Isonzofront einen »Nervenschock« erlitten hatten, wurde als dringliches militärisches und psychiatrisches Erfordernis erkannt. In Zusammenarbeit mit der »Landeskommission für heimkehrende Krieger« sowie den Militärbehörden entwickelten Grazer Psychiater ein zusammenhängendes, differenziertes Behandlungssystem, das die abrupt ansteigende Zahl nervenkranker Soldaten aufnehmen und ihnen ihre Dienst- und Arbeitsfähigkeit wiedergeben sollte. Hier setzt dieser Beitrag an. Er möchte zum einen verdeutlichen, dass in Graz jene wechselseitigen Prozesse wirksam waren, die der britische Historiker Mark Harrison pointiert als »Medikalisierung des Krieges und Militarisierung der Medizin« bezeichnet hat.1 Gemeint ist damit, dass militärische und medizinische Interessen komplementär gedacht und als Voraussetzung für den Sieg definiert wurden. Auch die Ärzteschaft Österreich-Ungarns entwickelte ein ausgeprägtes Bewusstsein dafür, dass es darauf ankam, die erlittenen Verluste möglichst weitgehend zu kompensieren. In einem modernen, industrialisierten Krieg, der die Mobilisierung aller Kräfte zum Zwecke des Kriegserfolges bündelte, war rigorose Regeneration Leitgedanke und Handlungsprinzip. Das 1915 geäußerte Diktum des Grazer Psychiaters Fritz Hartmann, wonach in diesem Krieg »jenes Volk siegen wird, welches zuerst gesundet«, bringt das auf den Punkt.2 Zum anderen soll herausgearbeitet werden, vor welchem spezifischen militärisch-politischen Hintergrund und in welchem konkreten Handlungsrahmen die Grazer Psychiatrie im Ersten Weltkrieg agierte. Im Blick liegt hierbei der eben angesprochene Fritz Hartmann (1871–1937), der als Direktor der Universitäts-Nervenklinik maßgeblichen Einfluss auf die organisatorische Ausgestaltung und therapeutische Aus-

1 Harrison, Mark  : The Medicalization of War – the Militarization of Medicine, in  : Social History of Medicine, Jg. 9 (1996) Heft 2, 267–276. 2 Hartmann, Fritz  : Die Fürsorge für nervenkranke Militärpersonen in der Kriegszeit. 1. Bericht für die Landeskommission zur Fürsorge heimkehrender Krieger, Graz 1915, 2.

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richtung der Kriegspsychiatrie nahm.3 Zu zeigen wird sein, dass Hartmanns Handeln stark von den Ideen der »Volksnervenheilstättenbewegung« geprägt war. Diese hatte sich um 1900 in Abgrenzung zu privaten Nervenheilanstalten gebildet und verfolgte das Ziel, nervenkranke Arbeiter:innen und Minderbemittelte in eigenen Einrichtungen kostengünstig zu behandeln. Im Mittelpunkt der therapeutischen Bemühungen standen handwerkliche und landwirtschaftliche Tätigkeiten, die Hartmann unter dem Begriff der »Arbeit als Heilbedingung« zusammenfasste. Im Krieg hielt Hartmann an diesem Ansatz fest und setzte diesen in den Nervenheilanstalten der Stadt um. Im Vergleich zu Wien oder zu den Militärspitälern Ungarns oder Krains, wo in der Behandlung von nervenkranken Soldaten vornehmlich elektrische Verfahren angewandt wurden, setzte damit die Grazer Psychiatrie andere Akzente. Eine Besonderheit bildete die von Hartmann mitinitiierte »Übungsschule für Sprachkranke und Gehirnverletzte«, wo Soldaten mit Kopfschussverletzungen in interdisziplinärer Zusammenarbeit von Neurologen, Psychiatern und Pädagogen behandelt wurden. Angesprochen werden schließlich zwei weitere Aspekte, nämlich das Hungersterben von psychiatrischen Patient:innen in der Landes-Heilanstalt Feldhof sowie – mit Blick auf die Zeit nach 1918 – die Grazer Nervenklinik als Ort politischer und psychiatrischer Radikalisierung.

Hintergrund und Handlungsrahmen kriegspsychiatrischer Versorgung Nachdem sich im Herbst 1914 die Hoffnung auf einen kurzen Krieg zerschlagen hatte und eine immer größere Zahl von kranken und verwundeten Soldaten zu versorgen war, sahen sich Habsburgs Regierungsbehörden zum Handeln aufgefordert. Ein für die Steiermark und Graz wichtiger Schritt war der am 16. Februar 1915 veröffentlichte Erlass des k. k. Ministers des Innern an die Statthalter der Kronländer. Er sollte eine gezielte, »die ganze Donaumonarchie umspannende, auf breiter Basis aufgebaute Aktion des Staates« einleiten, die auf die »Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit der Kriegsinvaliden« zielte.4 Hierzu war im Besonderen die Medizin gefordert. Als koordinierendes Gremium gründete sich am 6. März 1915 in Graz die steiermärkische »Landes3 Vgl. Hofer, Hans-Georg  : Nervenschwäche und Krieg. Modernitätskritik und Krisenbewältigung in der österreichischen Psychiatrie, Wien 2004, 249–252. Hartmann erhielt nach dem Studium und der medizinischen Promotion (1896) in Graz seine Ausbildung an der Grazer Nervenklinik unter Gabriel Anton, bei dem er sich 1902 habilitierte. Nach dem Weggang Antons an die Universität Halle (1905) übernahm Hartmann zunächst die kommissarische und kurze Zeit darauf als außerordentlicher Professor die definitive Leitung der Klinik. 1911 wurde Hartmanns Professur in ein Ordinariat für Psychiatrie und Neurologie umgewandelt. Im Jahr darauf (1912) konnte er mit seinen Mitarbeitern den Neubau der Psychiatrisch-Neurologischen Klinik beziehen. 4 Burkard, Otto  : Einleitung, in  : Landeskommission zur Fürsorge für heimkehrende Krieger (Hg.)  : Die Kriegsbeschädigtenfürsorge in Steiermark. Tätigkeitsbericht der Steiermärkischen Landeskommission zur Fürsorge für heimkehrende Krieger über die Jahre 1915, 1916 und 1917, Graz 1918, 1.

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kommission zur Fürsorge für heimkehrende Krieger«. Sie stand unter dem Vorsitz des k. k. Statthalters und führte Vertreter politischer Behörden, der Militärverwaltung, des Roten Kreuzes, der Sozialversicherungsinstitute sowie Experten aus Wissenschaft und Medizin zusammen.5 Die Aufgaben der Landeskommission wurden mit dem Kriegsministerium und den Militärkommandos abgestimmt. Festgelegt wurde beispielsweise, dass die Heeresverwaltung für Unterkunft, Verpflegung und Bekleidung der verwundeten Krieger aufzukommen hatte, diese aber im Militärdienst verbleiben mussten. Auch »vorzeitig Superarbitrierte« (aus dem Militärdienst entlassene Soldaten) konnten zur »Nachheilung« wieder einberufen werden. Der Tätigkeitsbereich der Kommission blieb nicht allein auf die Steiermark beschränkt, sondern umfasste von Mitte des Jahres 1915 an auch einen erheblichen Teil der südlichen Nachbarländer wie Kärnten, Krain und das Küstenland, da »die durch den Krieg mit Italien geschaffenen Verhältnisse dortselbst eine breitere Entfaltung der Kriegsinvalidenfürsorge unmöglich machten«6. Verglichen mit den anderen Landeskommissionen der kriegführenden Monarchie hatte die steiermärkische eine gewichtige Bedeutung. Im Etappenraum der Isonzofront gelegen, war sie ein Eckpfeiler der österreichischen Militärmedizin und Invalidenfürsorge. Steiermarkweit, von der im Krieg vorangetriebenen Errichtung der Lungenheilanstalt Stolzalpe bei Murau bis zur Kriegsinvalidenschule in Leibnitz, wurden eine Vielzahl von öffentlichen und privaten Heilanstalten, Kureinrichtungen, Krankenhäusern und Spitälern, aber auch öffentliche Gebäude wie Schulen und Behörden in den Tätigkeitsbereich der »Landeskommission« gestellt. Die anlaufende Tätigkeit der »Landeskommission« sowie der Kriegseintritt Italiens im Mai 1915, der die Frage der Ausweitung von Unterbringungsmöglichkeiten für nervenkranke Soldaten dringlich machte, waren Hintergrund und Handlungsrahmen für die Grazer Universitätspsychiatrie. Schon Ende Februar 1915  – und damit noch vor der Gründung der Landeskommission – hatte Hartmann beim Kriegsministerium auf rasches Handeln gedrängt und von Umstrukturierungen in seiner Klinik berichtet.7 Die inhaltliche Stoßrichtung seiner Initiative legte Hartmann in einer Denkschrift nieder, die er im Juni 1915 unter dem Titel »Die Fürsorge für nervenkranke Militärpersonen der steirischen Landeskommission« übergab. Darin forderte Hartmann vehement die Errichtung einer »Volksheilstätte für Nervenkranke«, um »den ungezählten Fällen von Zusammenbruch des Nervensystems bei aktiven Militärpersonen« entgegen wirken zu können.8 5 Zur Landeskommission zur Fürsorge für heimkehrende Krieger existiert im Steiermärkischen Landesarchiv kein Sonderbestand. Einzelinformationen aus dem Jahr 1915 lassen sich aus dem Bestand »Statthalterei Präsidium« entnehmen  : Steiermärkisches Landesarchiv (StLA), Statth. Präs A5b-1120/1915. Für diesen Hinweis danke ich Dr. Wolfgang Weiß. 6 Burkard, Einleitung (1918), 3. 7 Vgl. Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), KA, KM 1915, 14. Abt., 12-3/50, Hartmann, Fritz  : Schreiben an k. u. k. Kriegsministerium betr. Reformspital auf der psychiatrischen Klinik Graz, 26. Februar 1915. 8 Hartmann, Fürsorge/1. Bericht (1915), 2.

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Leitgedanke und therapeutisches Kalkül von Hartmanns Denkschrift entstammten der »Volksnervenheilstättenbewegung«, einer psychiatrischen Reformallianz, die um 1900 eine ebenso effiziente wie kostengünstige Antwort auf die Nervenkrankheiten der »kleinen Leute« finden wollte. Zuvor war es zu einer Welle von Neugründungen privater Nervensanatorien für wohlhabende, nicht »geisteskranke« Patient:innen gekommen.9 In Graz war dies beispielsweise das 1886 von dem Psychiater Richard von Krafft-Ebing gegründete Sanatorium für Nervenkranke in Mariagrün. Die erste private Nervenheilanstalt in der Stadt erfüllte höchste Ansprüche. Den 19 Nervenkranken, die sich in der Heilanstalt aufhielten, standen im Schnitt zwei Ärzte und 27 Betreuungspersonen zur Verfügung. Als therapeutische Maßnahmen wurden Ruhe, moderate Ablenkung vom Alltag, körperliche Bewegung, kalte Duschen und hydrotherapeutische Praktiken sowie leichte Formen der Arbeitstherapie empfohlen. Das Sanatorium hatte einen hervorragenden Ruf und zog Patient:innen aus ganz Europa an  ; selbst Patient:innen aus Ägypten, Ostindien und den Vereinigten Staaten reisten nach Graz, um ihre neurasthenischen Beschwerden lindern zu lassen.10 Ein ähnliches Publikum hatte einige Jahre später auch der Grazer Internist Franz Müller für seine Nerven-Heilanstalt »Meerscheinschloss« ins Auge gefasst. Das zum Privatsanatorium für Nervenkranke umfunktionierte Barockschlösschen, »in gesunder, ruhiger, vom Geschäftstreiben und Wagenverkehr verschonter Lage«, galt als exklusives Refugium für wohlhabende Nervenkranke.11 An dieser klassenspezifischen Ausrichtung privater Nervenheilanstalten formierte sich Kritik. Der Leipziger Nervenarzt Paul J. Möbius ging 1896 in seiner Schrift »Über die Behandlung von Nervenkranken und die Errichtung von Nervenheilstätten« mit den bestehenden Gepflogenheiten scharf ins Gericht. Für Möbius waren Einrichtungen wie die Grazer Sanatorien »Luxusanstalten«, deren medizinischer Zweck und Nutzen nicht immer erkennbar war und die minderbemittelte Nervenkranke diskriminierten. Voraussetzung für Möbius’ Kritik war die soziale Diffusion der Nervenkrankheit Neurasthenie, die nicht mehr nur als Krankheit privilegierter Schichten galt, sondern als »Volkskrankheit« wahrgenommen und zunehmend auch in Arbeiterkreisen diagnostiziert wurde. 1899 wurde in Berlin das Haus Schönow für mittellose Nervenkranke gegründet  ; weitere Heilstätten folgten. Die erste Einrichtung dieser Art in ÖsterreichUngarn war die 1912 in Wien eröffnete Nervenheilanstalt am Rosenhügel.12

  9 Zur Gründung privater Nervenheilanstalten im ausgehenden 19. Jahrhundert vgl. Shorter, Edward  : Private Clinics in Central Europe 1850–1933, in  : Social History of Medicine, Jg. 3 (1990) Heft 2, 159–195. 10 Vgl. Gugl, Hugo/Stichl, Anton  : Neuropathologische Studien. Stuttgart 1892, 11–13  ; Oosterhuis, Harry  : Stepchildren of Nature. Krafft-Ebing, Psychiatry, and the Making of Sexual Identity, Chicago 2000, 92–94. 11 Müller, Franz  : Nerven-Heilanstalt »Meerscheinschloss«, Graz, Graz [1900], 1. 12 Vgl. Fangerau, Heiner  : Zwischen Kur und »Irrenanstalt«. Die »Volksnervenheilstättenbewegung« und die Legitimation eines staatlichen Sanatoriumsbetriebs am Beispiel der »Rasemühle« bei Göttingen, in  : Wolters Christine/Beyer, Christof/Lohff, Brigitte (Hg.)  : Abweichung und Normalität. Psychiatrie in

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In Graz hatte Fritz Hartmann ähnliche Pläne gefasst, doch war deren Umsetzung daran gescheitert, dass »zunächst der vollkommenen Ausgestaltung der Tuberkulosefürsorge der Vorrang gelassen werden musste«13. Nach Fertigstellung der beiden großen steirischen Lungenheilstätten nördlich von Graz (1906 Hörgas und 1914/15 Enzenbach)14 drängte Hartmann zum Bau einer »Volksnervenheilstätte«, deren bauliche und medizinische Anforderungen er in seiner Denkschrift detailliert darlegte. Die Einrichtung mit geplanten 150 Betten sollte der Grazer Nervenklinik angegliedert werden und ausschließlich »nervenkranke Soldaten« aufnehmen, die mit einer »methodisch strukturierten Arbeitstherapie« behandelt werden sollten. Darunter verstand Hartmann – in Anlehnung an Möbius – eine »ärztlich individualisierte, dosierte und zweckmässig körperlich und geistig angepasste Beschäftigung mit für das Individuum erreichbarem und erkennbarem Arbeitserfolge«15. Gleichzeitig ließ er keinen Zweifel daran, dass die Fürsorge für Nervenkranke Teil der Mobilisierung für den Kriegsgewinn war. Hartmann war sich vollauf bewusst, dass psychiatrisches Handeln im Krieg nach effizienten Rekonvaleszenz- und Rückführungsstrategien auszurichten war. Die Parole, die der Denkschrift vorangestellt war, gab dieser Haltung pointiert Ausdruck  : »In diesem Krieg wird jenes Volk siegen, welches zuerst gesundet.«16

Der »Nervenkrieg« am Isonzo Als Leiter der Grazer Nervenklinik hatte Hartmann eine Sprecherrolle, die über unmittelbare psychiatrische Belange hinausging  – und zentrale Herausforderungen des Krieges adressierte. Wie Hartmann in allen seinen Kriegsschriften betonte, hatten der deutsche Kaiser Wilhelm II. und seine obersten Heerführer den Krieg zu einer »Nervenfrage« erklärt – eine Einschätzung, die von vielen geteilt wurde und gerade auch in Graz ihre Anhänger und Proponenten fand. Für Hans Gross (1847–1915), Leiter des Grazer Kriminologischen Instituts, waren »sehnenstarke Nerven« sowohl für die ins Feld ziehenden Soldaten wie auch für die Zuhausegebliebenen das entscheidende Merkmal, um den Deutschland vom Kaiserreich bis zur Deutschen Einheit, Bielefeld 2013, 25–42  ; Hofer, Nervenschwäche und Krieg (2004), 142–143. 13 Hartmann, Fritz  : Die Fürsorge für nervenkranke Militärpersonen in der Kriegszeit, in  : Landeskommission zur Fürsorge für heimkehrende Krieger (Hg.)  : Die Kriegsbeschädigtenfürsorge in Steiermark. Tätigkeitsbericht der Steiermärkischen Landeskommission zur Fürsorge für heimkehrende Krieger über die Jahre 1915, 1916 und 1917, Graz 1918, 26. 14 Weiss, Norbert  : Im Zeichen von Panther & Schlange, Graz 2006, 315–357. 15 Hartmann, Fürsorge/Landeskommission (1918), 22. Zu Begriff und Entwicklung der Arbeitstherapie vor 1914 siehe Schott, Heinz/Tölle, Rainer  : Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren, Irrwege, Behandlungsformen, München 2005, 435–446 sowie Ankele, Monika/Brinkschulte, Eva (Hg.)  : Arbeitsrhythmus und Anstaltsalltag. Arbeit als Therapie in Psychiatrien vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus, Stuttgart 2015. 16 Hartmann, Fürsorge/1. Bericht (1915), 2.

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Anforderungen der Kriegszeit gewachsen zu sein.17 In Gross’ Formulierung hallte noch die althergebrachte Deutung von Nerven nach, die analog zu Sehnen und Muskeln als gebündelte Körperstränge gedacht wurden und als unverzichtbare Eigenschaften des Soldaten galten, der auf dem Kampfplatz die Kraft aller seiner Fasern benötigte. Doch schnell war klar geworden, dass der moderne, industrialisierte Krieg ganz andere Anforderungen stellte. Nicht mehr schneidige Attacken, Muskelkraft – der Säbel als verlängerter Arm – und kühner Heldenmut im Nahkampf machten den Soldaten aus. Der Stellungskrieg erforderte eine eher passiv agierende Kämpferfigur, die sich trotz der Enge in der Kampfstellung und der Wucht der Explosionen im psychischen Gleichgewicht halten konnte.18 Diese Verschiebung wurde von den Militärs bald erkannt. »Der Mut ist anders geworden, sein Aussehen hat sich gewandelt«, schrieb 1915 Feldmarschallleutnant Erwin von Mattanovich (1861–1942), der Militärkommandant in Graz, in einer Broschüre. Heute sieht der Mut so aus wie der lehmfarbene Mann im Schützenloch, über dem tagelang die schweren Geschosse hinheulen und der zusammengekauert die Einschläge zählt, die Entfernungen schätzt  : ›100 Schritte … 50 Schritte … die nächste Lage muß Dich treffen  !‹ Mit einem Wort  : der passive Mut der Nerven hat heute den aktiven Mut der Muskeln zum großen Teil abgelöst.19

Mattanovich hatte mit dieser Einschätzung erkennbar die Kriegsverhältnisse an der Ostfront sowie an der Westfront im Blick. In Galizien und Flandern hatten die Bodenverhältnisse immerhin den Aushub von Schützenlöchern erlaubt, in denen der »lehmfarbene Mann« Schutz vor Artilleriebeschuss suchen konnte. Der Krieg im Karst verschärfte die Anforderungen an den »passiven Mut der Nerven« noch einmal. Für Soldaten, die an die italienische Front verlegt worden waren, bedeutete die neue Situation ein Schockerlebnis. Die Lehmböden Osteuropas waren für den Bau von Stellungen wie geschaffen gewesen und hatten den Männern ein Gefühl relativer Sicherheit gegeben. Der obersteirische Infanterist Hans Pölzer (1894–1917) schrieb in seinem auf Tagebuchaufzeichnungen basierenden autobiografischen Erlebnisbericht  : »Wir bauten förmlich Wunderwerke von Erdbefestigungen in dem unergründlichen Humus am Rande herrlicher Eichen- und Buchenwälder.« Mit diesen Erdbefestigungen, die sich hinter einem Dickicht von Draht verbargen, entstanden Unterkünfte, »die entschieden wohnlicher als die Bahnhofskaserne in Graz waren«.20 Mit der Verlegung an den Isonzo hingegen kamen die Männer in ein Kampfgelände, das die Zuflucht unter weicher Erde unmöglich machte.21 Im Karst des Triester Hin17 Vgl. Gross, Hans  : Nerven, Familienblätter und Krieg, in  : Die Umschau, 19 (1915), 221. 18 Hofer, Nervenschwäche und Krieg (2004), 260. 19 Mattanovich, FML [Erwin] von  : Mut und Todesverachtung, Graz 1915, 9. 20 Pölzer, Hans  : Drei Tage am Isonzo (verfaßt in Rottenmann 1916), Salzburg 1993, 4. 21 Zur Kriegslandschaft im Karst vgl. Lutz Musner  : Die verletzte Trommel. Der Krieg im slowenisch-triestinischen Karst 1915–1917, Wien 2015  ; Hofer Nervenschwäche und Krieg (2004), 258–260.

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terlandes mussten Schutzvorrichtungen erst in den Felsen gesprengt werden. Je nach Frontabschnitt und Intensität der Kampfhandlungen konnte es Monate dauern, bis die Felskavernen von den Soldaten bezogen werden konnten. Die meisten Laufgräben der vorderen Kampflinien waren anfangs nur mit Holz, Sandsäcken und Dachpappe verstärkt worden und an manchen Stellen so niedrig, dass die Männer robben mussten, um ihren Körper unter dem Grabenrand fortbewegen zu können. Hinzu kam, dass im Karstgestein das Artilleriefeuer eine ungewohnt starke und unberechenbare Wirkung hatte. Die auf Felsgestein explodierenden Geschosse lieferten die Soldaten einer potenzierten Sprengwirkung aus, die selbst kampferfahrene Männer an den Rand des Wahnsinns brachte. »Ich war in diesem Augenblick kein Mensch, sondern nur ein Lebewesen, dessen Nerven nicht hinreichten, die Fürchterlichkeit des Augenblicks zu fassen und die doch zu stark waren, um zusammenzubrechen.«22 Im Kampfgebiet des Karstes zeigte sich, dass selbst die Toten für die Lebenden noch eine Funktion hatten  : In Laufgräben, die nicht vertieft werden konnten, wurde die fehlende Brustwehr durch aufgeschichtete Leichen gebildet  ; tote Kameraden wurden damit zum Kugelfang. Unter Beschuss prasselten auf die Männer Erde, Stahl- und Steinsplitter sowie verwesende Körperteile nieder. Die Momente, die im Maschinenkrieg über Leben oder Tod entschieden, waren kurz. In jeder Feuerpause war ein Sturmangriff des Gegners zu erwarten, dessen Stellungen in Rufweite von den eigenen entfernt lagen. Die »nervenspannende Nähe von 40 bis 50 Schritten zwischen den Gegnern« zwang zu beständiger Aufmerksamkeit.23 Erfolgte der gegnerische Angriff tatsächlich, entschieden präzise Situationserfassung und konzentrierte Waffenbedienung über Erfolg oder Misserfolg der Verteidigung. Psychische Widerstandskraft ging mit der Fähigkeit einher, die Signale der gegnerischen Kampfführung richtig zu deuten und entsprechend zu handeln. In diesem Sinne erforderte, wie sich der Grazer Rechtsanwalt Ludwig Biró erinnerte, das Verharren in den Gräben und Kavernen »intensivste Präsenz und äußerste Anspannung«.24 In dieser Kriegslandschaft, wo der Soldat ebenso zufällig getroffen werden wie überleben konnte, wurden die anthropologischen Anforderungen an den modernen Soldaten über seine »Nervenstärke« definiert. Vor und nach den Kampfhandlungen wurden an die Frontsoldaten am Isonzo »nervenstärkende Mittel« ausgegeben. Diese hatten dafür nur Verachtung übrig  : »Brom bekommt hier jetzt jeder Mann, denn die Nerven sollen durch solchen Quark nach Erschütterungen besser werden«, berichtete ein Medizinstudent seinem Vater.25 Innerhalb der Truppe hatten nervöse, ängstliche 22 Pölzer, Isonzo (1916/1993), 13. 23 Selle, Hermann  : Vom Höhensinn eines österreichischen Kriegsfreiwilligen. Aus den Tagebüchern und Briefen des auf Doberdò am 9. Mai 1916 gefallenen Leutnants Hermann Selle, herausgegeben von seinem Vater, Graz 1917, 32. 24 Biró, Ludwig  : Die erste Hälfte meines Lebens. Erinnerungen eines Grazer jüdischen Rechtsanwaltes von 1900–1940, hg. von Christian Fleck, Graz 1998, 66. 25 Selle, Höhensinn (1917), 23.

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Soldaten einen schweren Stand. »Nervenkrüppel« war in der Schützengrabengemeinschaft ein Schimpfwort, das mit Feigheit gleichgesetzt wurde und den Betroffenen zum Außenseiter machte. Von der allseits geforderten »Beherrschung der Nerven« konnte jedoch selbst bei erfahrenen Frontärzten, die über die Wirkungen des Trommelfeuers Bescheid wussten, keine Rede sein. Beim ersten Donnern der Geschütze »springen [wir] in die Kavernen und saufen Rum, wenn wir einen haben, bis wir bewusstlos sind«, schrieb ein Arzt über seine Erlebnisse an der Front. »Tapferkeit sei eine reine Nervenangelegenheit, hörte ich einmal dozieren. Mit unserer Nervenspannkraft ist’s vorbei.«26 Die Bedeutung der Isonzofront nahm über den weiteren Kriegsverlauf stetig zu und stand im Mittelpunkt der österreichisch-ungarischen Militärmedizin.27 Von keiner anderen Front kamen mehr verwundete oder erkrankte Soldaten – darunter viele mit Verletzungen am Kopf, des Gehirns und des Rückenmarks, mit »Nervenzusammenbrüchen« und »Erschöpfungsneurosen«.28

Ausweitung und Mobilisierung: Die Militärabteilungen der Nervenklinik Von Mitte des Jahres 1915 an wurde Graz – der Isonzofront deutlich näher als Wien – jener Ort, an dem »nervenkranke Soldaten« vordringlich aufgenommen und versorgt werden sollten. Zusätzlich zu den Unterbringungsmöglichkeiten an der UniversitätsNervenklinik (60 Betten), einer »Notabteilung« im Landeskrankenhaus (30 Betten) und dem k. k. Garnisonsspital Nr.  7 in Graz (90 Betten)29 wurden auf dem Gelände der psychiatrischen Landesheilanstalt Feldhof mehrere Krankenbaracken für etwa 300 Soldaten errichtet. Leitung und Betrieb waren der Landesheilanstalt überantwortet.30 Durch die anhaltende Zuteilung nervenkranker Soldaten nach Graz wurden weitere Kapazitäten dringend gebraucht. Anfang des Jahres 1916 pachtete die »Landeskommission« vom Roten Kreuz zwei Sanatorien, um den »Belagraum« zu erhöhen  : Die Nervenheilanstalt Graz-Eggenberg (110 Betten, 20 Offiziere, 90 Mann) und die Nervenheilanstalt Bad Gesundbrunn in Graz-Gösting (60 Betten) wurden mit der Stammanstalt der Nervenklinik als k. u. k. Militärabteilungen der k. k. Nervenklinik vereinigt und der Leitung von Fritz Hartmann übergeben. Hinzu kamen noch einige weitere 26 Leditznig, Christoph  : Sturm und Sonnenschein über den Sieben Gemeinden, in  : Breitner, Burghard (Hg.)  : Ärzte und ihre Helfer im Weltkriege 1914–18, Innsbruck 1936, 80. 27 Vgl. ÖStA, KA, B/41 Nachlass Johann Steiner, Erinnerungen aus dem Großen Krieg (1914–1918), Manuskript (ca. 1939), Bl. 147 und Bl. 187. 28 Di Gaspero, H[einrich]  : Beitrag zur Kenntnis der nervösen Erkrankungen im Kriege, in  : Mitteilungen des Vereines der Ärzte in Steiermark, 53 (1916), 17–29, 37–45. 29 ÖStA, KA, KM. 1916, Präs. 15-25/155-3, k. u. k. Kriegsministerium Behandlung von nervenkranken Militärpersonen, 10. Juli 1916. 30 Vgl. Hartmann, Die Grazer k. k. Nervenklinik im Dienst des Krieges, Graz 1918, 1166, 1250  ; Weiss, Panther (2006), 95.

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Heilanstalten, wie die Nervenheilanstalt Laßnitzhöhe bei Graz (100 Betten) und die »Rekonvaleszenzstation« vom Roten Kreuze Schloss Pfannberg bei Frohnleiten mit rund 30 Betten.31 Fasst man diese von Hartmann bzw. der »Landeskommission« (teils unterschiedlich) mitgeteilten Angaben zusammen, so war 1916 in Graz und Umgebung an acht Orten Platz für rund 800 Militärpersonen zur nervenärztlich-psychiatrischen Unterbringung und Behandlung geschaffen worden. Zu unterscheiden sind hier die als »Militärabteilungen der Nervenklinik« zusammengeschlossenen und unter Hartmanns Leitung stehenden Nervenheilanstalten, in denen die prinzipiell als »heilungsfähig« erachteten »Kriegsnervenerkrankungen« behandelt wurden, und die Krankenbaracken an der Landesheilanstalt Feldhof, die administrativ eben dieser unterstanden und eine geschlossene Unterbringung für »schwierige« oder »aussichtslose Fälle« vorsahen. Die Nervenheilanstalten Eggenberg und Gösting boten aufgrund ihrer Lage an der Peripherie der Stadt sowie jeweils großzügigen Gartenarealen ideale Verhältnisse für die Behandlung der Nervenkranken. Zwar war es aus Hartmanns Sicht nicht  – wie erhofft und vorgeschlagen  – zu einem Neubau einer »Volksnervenheilstätte« gekommen, aber mit der Eingliederung dieser Anstalten war doch »die ersehnte Möglichkeit [gegeben], die Arbeit als Heilbedingung in ausgedehntem Maße zur Behandlung nervöser Störungen heranzuziehen, wie dies seit einem Jahrzehnt in den Volksheilstätten für Nervenkranke des deutschen Reiches in mustergültiger Weise durchgeführt worden ist«.32 An den Grazer Nervenheilanstalten wurden alle Arten der Therapie angewandt, im besonderen Hydro-, Mechano- und Elektrotherapie. Zusätzlich ließ Hartmann die Anstalten zu »Arbeitsschulen« (Hartmann) ausgestalten, um die Patienten gezielt an handwerkliche, landwirtschaftliche und künstlerische Tätigkeiten heranführen zu können. Hierzu zählten Korbflechterei, Tischlerei, Schlosserarbeiten, Buchbinderei und Tonarbeiten. Hinzu kam die Möglichkeit zu Blumen- und Tierzucht sowie zum Anbau von diversen Nutzpflanzen. Musikunterricht und Gesangsstunden sowie Kurse in Maschineschreiben rundeten die Behandlung ab. Hartmanns therapeutische Prämisse – »Arbeit als Heilbedingung« – folgte damit exakt den Behandlungsprinzipien der »Volksnervenheilstätten« aus der Vorkriegszeit.33 Die aus Hartmanns 1918 veröffentlichter Bilanzpublikation »Die Grazer k. k. Nervenklinik im Dienst des Krieges« entnommenen Bilder, die Soldaten bei landwirtschaftlichen Tätigkeiten zeigen, geben einen Eindruck davon. Eine verbindliche Regelung zum Umgang mit nervenkranken Soldaten wurde im Sommer 1916 geschaffen. Das Kriegsministerium wies alle Militärkommandos an, 31 Vgl. Hartmann, Nervenklinik (1918), 1169  ; Landeskommission, Kriegsbeschädigtenfürsorge (1918), 46–48. 32 Hartmann, Fürsorge/Landeskommission (1918), 26. 33 Hartmann, Fritz  : Arbeit als Heilbedingung bei Nervenkrankheiten. Ein Beitrag zur Volksheilstättenbewegung für Nervenkranke, Graz 1917, 18–24.

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Abb. 1: »Übungsschule« für Sprachkranke und Gehirnverletzte.

»nur erfahrene und erprobte Nervenfachärzte in Spezialnervenheilanstalten« mit der Behandlung »nervenkranker Militärpersonen« zu betrauen, um deren erneute Dienstfähigkeit »in möglichst kurzer Zeit« zu gewährleisten. Als »Nervenspezialärzte« mit Einsatzgebiet in Graz wurden genannt  : an der Nervenklinik Fritz Hartmann, Max de Crinis und Simon Auswald  ; am Garnisonspital des Militärkommandos Heinrich di Gaspero, Eduard Phleps und Richard Weeber  ; an der Nervenheilanstalt in Eggenberg Hans Schrottenbach, in Bad Gesundbrunn Alfred Kalmann sowie an der Heilanstalt Laßnitzhöhe Eduard Miglitz. Nicht in der Liste genannt war Othmar Albrecht, der schon vor 1914 als Militärarzt wirkte und im Krieg zur Grazer Psychiatergruppe engen Kontakt hielt.34

34 ÖStA, KA, KM 1916, Präs. 15-25/155-3, k. u. k. Militärkommando in Wien an das k. u. k. Kriegsministerium, Behandlung von nervenkranken Militärpersonen (22. Juli 1916)  : Nachweisung über die im Territorialbereiche vorhandenen Nervenheilanstalten und Nervenspezialärzte. Kurzbiographien zu den hier genannten Nervenärzten und Psychiatern bei Michael Hubenstorf  : Tote und/oder lebendige Wissenschaft  : Die intellektuellen Netzwerke der NS-Patientenmordaktion in Österreich, in  : Gabriel, Eberhard/ Neugebauer, Wolfgang (Hg.)  : Von der Zwangssterilisierung zur Ermordung. Zur Geschichte der NSEuthanasie in Wien. Teil II, Wien 2002, 237–420, hier 405–406.

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Abb. 2–3: Arbeitstherapie für nervenkranke Soldaten in Grazer Nervenheilanstalten.

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Für den Aufenthalt von Patienten in den Nervenspitälern wurden strenge Regeln festgelegt. Der freie Ausgang war auf ein Minimum zu beschränken und Urlaubsansuchen »grundsätzlich abzuweisen«. Arzt und Patient standen in einem Subordinationsverhältnis. Mit der Behandlung in einer Nervenheilanstalt sollten keinerlei Privilegien verbunden sein. Das Kriegsministerium hatte diesbezüglich eindeutige Worte gefunden  : Nervenkranke Militärpersonen hätten den »mitunter auch unangenehmen Anordnungen der Spezialärzte unbedingt Folge zu leisten«.35 Die Bedeutung der Grazer Nervenklinik und ihrer assoziierten Heilanstalten zur Versorgung nervenkranker Soldaten spiegelt die Zahl der »therapeutischen Anwendungen« wider, die Hartmann mit seinen Mitarbeitern durchführte. Darunter waren alle dokumentierten physikalischen, mechanotherapeutischen und arbeitstherapeutischen Maßnahmen zu verstehen, die zur Behandlung der Patienten ergriffen wurden. Die Zahl dieser Anwendungen stieg von 1.300 im Jahre 1914 auf 66.000 (nach anderen Angaben auf über 80.000) im Jahre 1916, und vervielfachte sich damit zumindest um den Faktor 50. Im Jahr 1917 fiel die Zahl der Anwendungen leicht ab, um bis Kriegsende auf hohem Niveau zu stagnieren. Psychiatrie und Nervenheilkunde, bilanzierte Hartmann 1918 mit Blick auf diese Zahlen, seien in diesem Krieg zu einer »neuen militärmedizinischen und sozialmedizinischen Materie geworden«.36 Auch über die Dauer der Aufenthaltszeit der nervenkranken Patienten, ihre Herkunft, militärische Zugehörigkeit sowie ihre soziale und berufliche Stellung wurde Buch geführt. 1916 wurden bei jedem nervenkranken Soldaten, der in den Militärabteilungen der Grazer Nervenklinik untergebracht worden war, durchschnittlich 74 »therapeutische Anwendungen« vollzogen  ; die durchschnittliche Verweildauer der Patienten betrug zwei Monate und 16 Tage. Rund 14 % der Patienten waren Offiziere, die in gesonderten Abteilungen behandelt wurden. Soziale und hierarchische Faktoren spielten in der Diagnosestellung eine bedeutende Rolle. Die Symptome der »nervösen Erschöpfung« und der »Neurasthenie« beispielsweise sah Fritz Hartmann als »die alleinige Domäne der Offiziere« an – eine Position, die in offenem Widerspruch zu der von ihm propagierten Idee und Praxis der Volksnervenheilstätten stand.37 Die meisten Patienten hatten einen landwirtschaftlichen oder handwerklichen Beruf. Ihnen kam die von Hartmann avisierte Arbeitstherapie besonders entgegen. Mehr als ein Drittel der Kranken kam aus der Steiermark, doch wurden Soldaten aus allen Teilen der Monarchie behandelt. Die überwiegende Zahl der Soldaten hatte an der Isonzofront gekämpft.38 Den Erfolg der durchgeführten Behandlungen gab Hartmann als »außerordentlich günstig« an. Rund 82 % aller nervenkranken Soldaten seien bei 35 ÖStA, KA, KM 1916, Präs. 15-25/155-3, k. u. k. Kriegsministerium, Behandlung von nervenkranken Militärpersonen, 10. Juli 1916. 36 Hartmann, Nervenklinik (1918), 1245 und 1251. 37 Hartmann, Nervenklinik (1918), 1129. 38 Hartmann, Fürsorge/Landeskommission (1918), 28.

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»strenger Bewertung« als »geheilt« oder »weitgehend gebessert« eingestuft und »zu einem großen Teil als weiterhin militärdiensttauglich entlassen« worden.39

Psychiater und Pädagogen im Kriegseinsatz Ein besonderes Anliegen war Hartmann die Errichtung einer Abteilung für Sprachkranke und Gehirnverletzte, deren Behandlung er als vernachlässigtes Aufgabenfeld der Kriegspsychiatrie erkannt hatte.40 Für die  – horribile dictu  – »Gehirnkrüppel«, für Männer also, die durch Kopfschüsse an Bewegungs- und Gleichgewichtsstörungen oder Gedächtnisverlust litten, in vielen Fällen auch ihre Sprachfähigkeit verloren hatten, entwickelte er im Frühjahr 1915 die »Übungsbehandlung«.41 Zunächst wurde eine provisorische »Übungsschule für Sprachkranke und andere Gehirnverletzte« in Räumlichkeiten der Grazer Nervenklinik eingerichtet. Mit Unterstützung des Oberstadtrates (und ehemaligen städtischen Baudirektors) Rudolf Linner gelang die Einrichtung weiterer »heilpädagogischer Behandlungsstätten« im Stadtgebiet.42 In diesen arbeitete Hartmann mit Lehrern zusammen, die sprachschwache Kinder unterrichtet hatten und somit über Erfahrungen im Hilfsschulunterricht verfügten. In enger Kooperation von Neurologen, Psychiatern und Pädagogen sollte »die schulübungsmäßige Wiedererweckung und Wiedererlernung verloren gegangener Hirnleistungen« erwirkt werden.43 Die »Übungsbehandlung« setzte sich aus zwei Teilen zusammen. Zunächst sollte durch mechanische, physikalische und orthopädische Maßnahmen die Bewegungsfähigkeit der Verletzten ermöglicht werden. In einem zweiten Schritt sollten durch gezielte Sprach- und Lernübungen die noch intakten Regionen des Gehirns gefördert werden. Das erklärte Ziel Hartmanns lag im »Wiederersatz der verloren gegangenen oder behinderten Funktionen«, von sinnlich-räumlichen Orientierungsleistungen, Merkfähigkeit und Sprache. Im Idealfall konnte auf diesem Weg für die Patienten eine erhebliche Besserung ihres Zustandes erzielt oder sogar die Wiederaufnahme ihrer 39 Ebd., 31. 40 Zu den Kopfschussverletzungen im Ersten Weltkrieg siehe Hagner, Michael  : Verwundete Gesichter, verletzte Gehirne. Zur Deformation des Kopfes im Ersten Weltkrieg, in  : Schmölders, Claudia/Gilman, Sander L. (Hg.)  : Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte, Köln 2000, 78–95. 41 ÖStA, KA, KM 1915 14. Abt., Präs. 62-5/38, Hartmann, Fritz  : Übungsschule für Sprachkranke und andere Gehirnverletzte an der Grazer Nervenklinik. 42 Vgl. Hartmann, Fritz  : Übungsschulen für »Gehirnkrüppel« (Sprachkranke und andere Gehirnverletzte), in  : Mitteilungen des Vereins für Ärzte Steiermark, 52 (1915), 17–29, 37–45. Kurzfassungen dieser Arbeit veröffentlichte Hartmann in der Münchener Medizinischen Wochenschrift 62 (1915), 769 und 63 (1916), 413. 43 Hartmann, Fürsorge/Landeskommission (1918), 25.

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bisherigen Berufstätigkeit erreicht werden. Eine neuerliche militärische Verwendung war nicht vorgesehen. Die Grazer »Behandlungsstätten« nahmen nur Soldaten auf, die deutsch unterrichtet werden konnten. 1915 und 1916 wurden in diesen über 150 Gehirnverletzte der »Übungsbehandlung« unterzogen, mit einer durchschnittlichen Behandlungsdauer von sechs Monaten. Mit seiner Initiative zur Behandlung von Soldaten mit Kopfschüssen erlangte Hartmann sowohl in der österreichisch-ungarischen als auch in der deutschen Militärneurologie große Aufmerksamkeit.44 Neben dem Aufbau und der Leitung von Spezialnervenheilstätten war dies das wichtigste Handlungsfeld Hartmanns, dem er erhebliche materielle, organisatorische und personelle Ressourcen zur Verfügung stellte.45 Die Grazer Einrichtungen zur Behandlung von Hirnverletzten waren Orte der strukturierten Zusammenarbeit von Chirurgie, Neurologie, Psychiatrie und Pädagogik – und wurden zum Vorläufer dessen, was sich später unter dem Begriff der Neurorehabilitation herausbilden sollte.

Arbeitstherapie versus Elektrotherapie Mit psychischen Schocksymptomen und »traumatischen Neurosen« hatte sich vor 1914 kaum einer der Grazer Psychiater wissenschaftlich befasst. Eine Ausnahme bildete Eduard Phleps, der 1903 mit einer Arbeit über »Psychosen nach Erdbeben« in die Fachöffentlichkeit getreten war und den nach Erdbeben auftretenden »seismischen Schock« beschrieben hatte.46 Daran anschließend beschäftigte sich im Krieg Hartmanns Mitarbeiter Max de Crinis mit der Frage, wie sich Schockwirkungen nach Granatexplosionen pathophysiologisch bestimmen ließen.47 In die fachwissenschaft­ lichen Diskussionen über Kausalität, Genese und Behandlung der Kriegsneurosen, die 1916 auf der Münchener »Kriegstagung der Gesellschaft deutscher Nervenärzte« kulminierten, griffen die Grazer Psychiater allerdings nicht ein. Auch mit den Wiener Nervenärzten und Psychiatern bestand wenig Austausch, obwohl Julius von WagnerJauregg vor seiner Berufung nach Wien als Psychiater in Graz gewirkt hatte. Hingegen wurden im dritten Kriegsjahr, als die Zuteilung nervenkranker Soldaten von der 44 Vgl. Reichmann, Frieda  : Zur praktischen Durchführung der ärztlichen und sozialen Fürsorgemaßnahmen bei Hirnschussverletzten, in  : Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, 58 (1917), 114–140. 45 An der Durchführung der Übungsbehandlung habe »der größte Teil der Ärzte der Klinik« teilgenommen, betonte Hartmann, Fürsorge/Landeskommission (1918), 30. 46 Phleps, Eduard  : Psychosen nach Erdbeben, in  : Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 23 (1903), 382–440. Zur psychiatrischen Erdbebenforschung und Phleps vgl. Coen, Deborah R.: The Earthquake Observers. Disaster Science from Lisbon to Richter, Chicago 2013, 128–129. 47 De Crinis, Max  : Humoralpathologische und biochemische Studien zu den Wirkungen von Explosionen auf das menschliche Nervensystem, in  : Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, 59 (1918), 988–1013.

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Isonzofront abrupt zunahm, Psychiater von anderen Standorten nach Graz beordert. Von Bedeutung war in diesem Zusammenhang der aus Prag kommende Psychiater Leo Taussig (1882–1944)48. Er hatte einen hervorragenden Ruf und tat Dienst an mehreren Grazer Nervenspitälern. Darüber hinaus übernahm er weitere Aufgaben. Taussig war vom Kriegsministerium ausersehen worden, die aus den österreichisch-ungarischen »Nervenspezialanstalten« eingehenden »Erfolgsberichte« zu prüfen. Aufsehen erregten zu diesem Zeitpunkt vor allem die Berichte des ungarischen Nervenarztes Viktor Gonda (1889–1959), Abteilungsarzt am ungarischen Invalidenspital in Rózsahegy. Gonda hatte – ähnlich dem »Kaufmannschen Verfahren« in Deutschland – starke elektrische Ströme mit Suggestion kombiniert und eine »Überrumpelungsbehandlung« der Kriegsneurosen eingeführt, mit der er sämtliche ihm übergebenen Soldaten »vollkommen geheilt« haben wollte.49 Im Juni 1916 reiste Taussig zu Gonda, um sich über sein Behandlungsverfahren ein Bild zu machen. In seinem Bericht konnte Taussig zwar keine »positive Erklärung« für die behaupteten Erfolge geben, konzedierte Gonda jedoch großes therapeutisches Geschick. Das entscheidende Moment des Behandlungsverfahrens bestehe darin, dass »der am Schlachtfeld erlittene Schock des Nervensystems, der die traumatische Neurose zur Folge hat, durch den faradischen Schock abgelöst wird«.50 Nicht nur in westungarischen Lazaretten, sondern auch in Kriegsspitälern südlich von Graz wurden Stromstöße in zahlreichen Modifikationen variiert. In der Nervenabteilung des Militärspitals in Laibach/Ljubljana, das vorrangig Soldaten von der Isonzo­ front aufnahm, hatten der Militärarzt Emmerich Rablorzky und der Röntgenologe ­Edmund von Nesnera ein spezielles Behandlungsverfahren entwickelt  : die »Fulguration«. Dabei handelte es sich um eine Induktionsfunkenserie, die aus einem modifizierten Apparat des Röntgenlaboratoriums gewonnen wurde. Auch bei dieser Methode kam es auf die »Überrumpelung« des Patienten an. Das Behandlungsverfahren setzte auf eine suggestive Atmosphäre und lief stets nach einem bestimmten Ritual ab  : »Der Patient kommt in das verfinsterte Röntgenlaboratorium. Er wird entkleidet, auf dem zu diesem Zweck aufgestellten, mit einem einfachen Leinentuch bedeckten Holztisch mit nach oben gestreckten Armen fixiert.« Sodann vereinbarten die Militärärzte mit dem Patienten, dass er, sobald er im Gewitter der Funken das Gefühl habe, gesund zu sein, dies durch einen lauten Ausruf anzeigen solle. Damit sei die Behandlung abge48 1919 erlangte Taussig in Prag die venia legendi für Psychiatrie, 1931 die außerordentliche Professur. 1942 wurde Taussig in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, wo er an der psychiatrischen Abteilung des Krankenhauses arbeitete. Im Oktober 1944 wurde er in Auschwitz ermordet. Feuß, Axel  : Das Theresienstadt-Konvolut, Hamburg 2002, 73  ; Hlaváčková, Ludmilla/Svobodný, Petr  : Biografický slovník pražské lékařské fak. 2, 1348–1939, Praha 1993, 328. 49 Gonda, Viktor  : Rasche Heilung der Symptome der im Kriege entstandenen »traumatischen Neurose«, in  : Wiener klinische Wochenschrift, 29 (1916), 951. 50 ÖStA, KA, KM 1917, 14. Abt., 43-20/1-2, Oberstabsarzt L[eo] Taussig  : Bericht über das Heilungsverfahren der traumatischen Neurose, 31.7.1916.

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schlossen. Das Verfahren war äußerst schmerzhaft und bedeutete für die behandelten Soldaten eine fortgesetzte Gewalterfahrung. Über die Wirkung des Verfahrens schrieben die beiden Militärärzte  : »Wir haben den Strom an uns selbst versucht. Die Wirkung hat nicht den Typus des Schmerzes des faradischen Stroms, die Reizung ist mehr lokalisiert und der Schmerz in seiner Qualität voller, dichter.«51 Auch in Wien und Prag wurden an den Nervenabteilungen der großen Kriegsspitäler elektrische Verfahren durchgeführt. Maßgebende Psychiater wie Julius von Wagner-Jauregg waren davon überzeugt, dass elektrische Ströme unter den Bedingungen des Krieges die effektivste Form der Behandlung von Nervenerkrankungen waren.52 Erst mit Fortdauer des Krieges, als die elektrischen Behandlungsverfahren aufgrund ihrer Schmerzhaftigkeit und Gefährlichkeit zu Protesten führten, begann sich das zu ändern. Nachdem im Oktober 1917 das Wiener Kriegsministerium Kenntnis davon erlangte, dass »durch die therapeutische Anwendung des Sinusstroms bei der Behandlung von hysterischen Krankheitszuständen in mehreren Fällen der Tod des Patienten verursacht wurde«, wurde dieses Verfahren an allen Militärsanitätsanstalten der Monarchie verboten.53 Die elektrischen Behandlungsverfahren galten zunehmend als diskreditiert. Auf der Suche nach Alternativen gerieten neben psychoanalytischen Verfahren auch arbeitstherapeutische Maßnahmen, so wie sie Hartmann in Graz eingeführt hatte, erneut ins Blickfeld. Im September 1918 wurde in einer weiteren Weisung des Kriegsministeriums zum Ausbau von Nervenspitälern »besonders betont«, dass »die Arbeitstherapie einen der wichtigsten Faktoren bei der Behandlung von Kriegsneurosen bildet und ihr ein ganz besonderes Augenmerk zuzuwenden ist«54. Zu einer einheitlichen Umsetzung der Arbeitstherapie in den Nervenspitälern kam es aufgrund des Kriegsendes nicht mehr.

Hungersterben in der »Heilanstalt« In scharfem Kontrast zu den Grazer militärischen Nervenheilanstalten stand die Situation in der Landes-Irrenanstalt Feldhof im Süden der Stadt. Überfüllung, Mangel an 51 Nesnera, Edmund von/Rablorzky, Emmerich  : Zur Therapie der traumatischen Neurose und der Kriegshysterie, in  : Wiener klinische Wochenschrift, 29 (1916), 1617–1618. 52 Zur Wiener Kriegspsychiatrie siehe Hofer, Hans-Georg  : Between Efficiency and Experimentation  : Revisiting War and Psychiatry in Vienna, 1914–1920, in  : van Bergen, Leo/Vermetten, Eric (Hg.)  : The First World War and Health. Rethinking Resilience, Leiden 2020, 123–145  ; ders.: Beyond Freud and WagnerJauregg  : War, Psychiatry, and the Habsburg Army, in  : Hofer, Hans-Georg/Prüll, Cay-Rüdiger/Eckart, Wolfgang U. (Hg.)  : War, Trauma, and Medicine in Germany and Central Europe, 1914–1939, Freiburg 2011, 49–71. 53 ÖStA, KA, KM 1917 14. Abt., Behandlung von hysterischen Krankheitszuständen  – Anwendung von Sinusströmen (6. Oktober 1917), 53–47. 54 ÖStA, KA, KM 1915 14. Abt., 43–51, weiterer Ausbau von Nervenstationen und Behandlung von Kriegsneurotikern (9. September 1918).

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Hygiene und Überforderung des zahlenmäßig zu geringen Betreuungspersonals führten schon in den Jahren vor dem Krieg zu unhaltbaren Zuständen und hohen Sterblichkeitsraten.55 Die kriegsbedingte Verknappung der Ressourcen sowie die Fokussierung der Grazer Universitätspsychiater auf die Wiedererlangung der Dienst- und Arbeitsfähigkeit nervenkranker Soldaten brachte eine weitere Vernachlässigung der Insass:innen in der Anstaltspsychiatrie mit sich. Hartmann selbst drängte auf eine strikte Trennung zwischen den ihm unterstellten »Nervenabteilungen« und der »geschlossenen Einrichtung« Feldhof, da es dadurch möglich geworden sei, »allen sonst verfügbaren Belagraum und ihre Arbeitskraft für die offene Krankenbehandlung freizuhalten« und »spezialisierte Behandlungen« auszuarbeiten. Er behielt sich allerdings vor, »schwierigere Fälle« und »krankensinnige« [sic  !], zur Begutachtung stehende Militärpersonen am Feldhof zur Aufnahme zu bringen.56 Dies legt die Deutung nahe, dass als aussichtslos erachtete oder aus anderen Gründen als missliebig angesehene Patienten aus den Nervenanstalten in die geschlossene Anstalt abgeschoben wurden. Von einem dortigen arbeitstherapeutischen Engagement der Grazer Universitätspsychiater ist nichts bekannt. Bezeichnend hingegen ist, dass kurz nach Kriegsbeginn die Anstalt Feldhof mit Stacheldraht eingezäunt und von der Außenwelt vollständig abgeschirmt wurde. Die Anstalt geriet ins Abseits. Die Reduzierung der Ressourcen und zugewiesenen Nahrungsmittelrationen verschärfte sich insbesondere ab 1916  ; im Winter 1916/17 konnte die Anstalt nicht mehr beheizt werden. Entsprechende Appelle von Seiten des Leiters der Anstalt, Otto Hassmann, blieben bei Stadt und Behörden ohne Erfolg.57 Nach dem Kriege konnte der Wiener Psychiater Julius Wagner-Jauregg statistisch belegen, dass der Nahrungsmittelmangel in den deutsch-österreichischen Anstalten zu einem Hungersterben geführt hatte. 1917 hatte sich die Sterberate gegenüber 1914 verdreifacht und betrug fast 27 %.58 Die Grazer Anstalt Feldhof war keine Ausnahme, sondern erreichte exakt diese Dimension  : 1917 starben 26,9 % aller Pfleglinge. Jeder vierte Insasse überlebte dieses Jahr nicht.59 55 Vgl. Watzka, Carlos  : Vom Armenhaus zur Landesnervenklinik Sigmund Freud. Zur Geschichte psychisch Kranker und des gesellschaftlichen Umgangs mit ihnen in der steirischen Landeshauptstadt vom 16. bis zum 21. Jahrhundert, in  : Historisches Jahrbuch der Stadt Graz, 36 (2006), hg. von Friedrich Bouvier und Nikolaus Reisinger 295–337, hier 315–316  ; Watzka  : Die »Landes-Irrenanstalt Feldhof bei Graz« und ihre Insassen 1874–1913. Eine Skizze zur Entstehung der »modernen« Anstaltspsychiatrie in der Steiermark, in  : Blätter für Heimatkunde, 80 (2006) Heft 1, 14–40. 56 Hartmann, Nervenklinik (1918), 1166. Näheres hierzu führte Hartmann in seinen Veröffentlichungen nicht aus. Eine Untersuchung der Kriegsverhältnisse in der Heilanstalt steht noch aus. Ausgangspunkt wäre hier der im Wiener Kriegsarchiv aufbewahrte Bestand mit Patientenakten aus dem Feldhof. 57 Vgl. Weiss, Panther (2006), 95. 58 Vgl. Faulstich, Werner  : Hungersterben in der Psychiatrie 1914–1949. Mit einer Topographie der NSPsychiatrie, Freiburg 1998, 60–62  ; Wagner-Jauregg, Julius  : Die Krankenbewegung in den deutsch-österreichischen Irrenanstalten seit Kriegsbeginn und die Abnahme des Alkoholismus, in  : PsychiatrischNeurologische Wochenschrift, 22 (1920/21), 357–360, 373–376. 59 Diese Prozentzahl hat Carlos Watzka anhand von Berichten und statistischen Zusammenstellungen aus

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Zu diesem Zeitpunkt war der Hungertod »geisteskranker« Menschen allgegenwärtig – und wurde nicht selten bewusst in Kauf genommen. Im Herbst 1917 stellte der leitende Psychiater der Landes-Siechenanstalt im südweststeirischen Schwanberg in einem offiziellen Schreiben fest  : »Eine ergiebige Kostaufbesserung für die so Erkrankten ist in der Anstalt untunlich, da die ohnehin äußerst knapp bemessene Lebensmittelmenge dadurch Anderen, noch Gesunden, entzogen werden müßte, und der einmal vorgeschrittener Erkrankte ohnehin verloren ist.«60 Die »Arbeiter-Zeitung« vermeldete im Jänner 1919  : »Aus den Irrenanstalten fast aller Gebiete Deutschösterreichs wird berichtet, daß die Pfleglinge allmählich an Erschöpfung zugrunde gehen und daß die Anstalten aussterben […]. Einzelne kleinere Siechenanstalten auf dem Lande wurden in den letzten Monaten wegen des Absterbens der meisten Pfleglinge geschlossen.«61 Eine ähnliche Entwicklung ist von den Nervenspitälern nicht bekannt, gleichwohl sich auch hier die Verhältnisse massiv verschlechtert hatten.

Psychiatrische und politische Radikalisierung nach 1918 Das im Vergleich zur Wiener Psychiatrie gemäßigte Vorgehen im Ersten Weltkrieg darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass aus der Grazer Psychiatrie Radikalisierungsprozesse in Gang gesetzt wurden und auffällige personelle Kontinuitäten zu den medizinischen Verbrechen im Nationalsozialismus bestehen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Nervenklinik ein Zentrum des Grazer und steirischen »Heimatschutzes«. Hartmann selbst nahm als Obmann des »Bundes der Deutschen« eine herausragende Rolle in der steirischen Heimwehr ein, deren radikal deutschnationalen Flügel er als einflussreicher und prominenter Grazer Psychiater repräsentierte.62 1934 emeritiert, verstarb Hartmann 1937. Aus seinem Mitarbeiterkreis an der Grazer Psychiatrischen Klinik stammten nicht nur vier von sechs der österreichischen Gutachter der nationalsozialistischen »Euthanasie«-Verbrechen,63 sondern auch zwei hochrangige NS-Mediziner. Max de Crinis, im Ersten Weltkrieg einer der engsten Mitarbeiter von Hartmann an der Grazer Nervenklinik, NSDAP-Mitglied seit 1931 und »illegaler« Aktivist, wurde nach politisch motivierten Berufungen nach Köln (1934) und Berlin (1938), wo er zusätzlich eine leitende Position im Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung bekleidete, der »mächtigste medizinische Wissenschaftspolitiker des Nadem Feldhof errechnet, vgl. Watzka, Armenhaus (2006), 321. In absoluten Zahlen starben 1917 in der Anstalt Feldhof 534 Menschen. 60 ÖStA, AVA, MdI Sanität, Karton 3117 (Volkskrankheiten), Dr.  Buchberger, Landes-Siechenanstalt Schwanberg, Schreiben an k. k. Bezirkshauptmannschaft Deutschlandsberg, 20. September 1917. 61 Der Einfluß der Ernährungsnot auf Kinder und Kranke, in  : Arbeiter-Zeitung, 2.1.1919, 6. 62 Vgl. Hubenstorf, Wissenschaft (2002), 332–333. 63 Oskar Begusch (1897–1944), Hans Bertha (1901–1964), Rudolf Lonauer (1907–1945) und Ernst Sorger (1892–1945). Vgl. Hubenstorf, Wissenschaft (2002), 323–330.

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tionalsozialismus ab 1940«.64 Otto Kauffmann, der nach seiner Promotion in Graz von 1921 bis 1927 Assistent an Hartmanns Nervenklinik war, wurde 1942 »Sonderbeauftragter« des »Reichsgesundheitsführers« Leonardo Conti und zählte neben de Crinis zur medizinischen Funktionselite des NS-Regimes.65 Hartmanns Kriegsschriften und sein arbeitstherapeutisch geprägter Umgang mit nervenkranken Soldaten enthalten nur wenige Anzeichen jener deutschnationalen und rassenhygienischen Schubkraft, die von seiner Klinik in der Zwischenkriegszeit ausging. Das Kriegsende, der Zerfall des Habsburgerstaates, die Abtrennung der Untersteiermark, die Not der Nachkriegszeit und der von vielen  – gerade auch in der Medizin – für kaum lebensfähig gehaltene »Rumpfstaat« Deutsch-Österreich vertieften und verschärften seine deutschnational-völkische Geisteshaltung. In Hartmanns erster Nachkriegsvorlesung (Oktober 1919) tritt dies bereits deutlich hervor.66 Die gedruckte Vorlesung war »meinen deutschen Hörern gewidmet  !« und bestand in einer Aneinanderreihung psychiatrischer Parolen, die auf die »Erhaltung und Kräftigung deutscher Geistesverfassung« abzielten  : »Habe jeder Deutsche acht auf die Quelle seiner geistigen Kraft […], habe jeder acht auf die wichtigste Grundlage eines gesunden Volksgeistes, daß alles Handeln der Menge unbeirrt bleibe von fremden geistigen Einfluß.« Voraussetzung dafür war Hartmann zufolge nicht nur die »Steigerung der Arbeitsleistung« aktueller, sondern auch die »reinrassige eheliche Verbindung zur Erzeugung ebensolcher Nachkommenschaft«.67 Damit verband Hartmann Argumente rationalisierter Arbeitstherapie mit Forderungen der Rassenhygiene, die im Laufe des Krieges an Einfluss gewonnen hatte. Hartmanns Vorgänger und Lehrer an der Grazer Nervenklinik, der Psychiater ­Gabriel Anton (1858–1933), hatte eine radikal nationalistische Haltung bereits zu Beginn des Krieges erkennen lassen. Anton hatte von 1894 bis 1905 den Lehrstuhl für Psychiatrie in Graz inne, bevor er einen Ruf als Direktor der Psychiatrischen und Nerven-Klinik an der Universität Halle annahm. 1915 beschwor Anton in einem Vortrag die »aufartende Funktion« des Krieges und warf den Feindesmächten vor, mit »minderwertigen Sklavenrassen« die »Höherzüchtung des deutschen Volkskörpers« verhindern zu wollen.68 Am Ende des Krieges sah sich auch Hartmann als Arzt und 64 Hubenstorf, Wissenschaft (2002), 324. Zu de Crinis siehe Beddies, Thomas  : Universitätspsychiatrie im Dritten Reich. Die Nervenklinik der Charité unter Bonhoeffer und de Crinis, in  : Vom Bruch, Rüdiger (Hg.)  : Die Berliner Universität in der NS-Zeit. Band II  : Fachbereiche und Fakultäten, Stuttgart 2005, 55– 72  ; Jasper, Hinrich  : Maximinian de Crinis (1889–1945). Eine Studie zur Psychiatrie im Nationalsozia­ lismus, Husum 1991. 65 Vgl. Hubenstorf, Wissenschaft (2002), 329–330. 66 Hartmann, Fritz  : Gedanken zum ersten Friedens-Semester  ! Akademische Vorlesung, gehalten am 7. Oktober 1919, Graz 1920. 67 Ebd., 3–4. 68 Anton, Gabriel  : Wohlfahrt und Wiedergenesung der deutschen Rasse, in  : Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift, 17 (1915/16), 85.

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Psychiater aufgerufen, den Wiederaufbau der »Willenstärke« und der »Nervenkraft« des Volkes einzuleiten. Hartmann war kein Einzelfall. Ähnliche, in Diktion und Stoßrichtung zum Teil noch radikalere Forderungen waren am Ende des Ersten Weltkriegs in der deutschen und österreichischen Psychiatrie weit verbreitet, wie die Beispiele von Erwin Stransky in Wien, Emil Kraepelin in München oder – in seiner wirkmächtigsten Form – von Alfred Hoche in Freiburg zeigen.69

Schluss Die Grazer Universitätsmedizin hatte im Ersten Weltkrieg – bedingt durch ihre relative Nähe zur Isonzofront sowie aufgrund ihrer Kapazitäten und ihres hohen Spezialisierungsgrads – große Bedeutung. Dies gilt auch für die Psychiatrie und Nervenheilkunde, die in Graz unter der Leitung von Fritz Hartmann standen. Hartmann verstand es, in Zusammenarbeit mit Politik und Militär spezialisierte Behandlungssysteme zu entwickeln, die in der österreichisch-ungarischen Kriegsmedizin ein hohes Maß an Eigenständigkeit und Funktionalität aufwiesen. Anders als in Wien und den meisten Nervenspitälern der kriegführenden Monarchie standen in Graz nicht die schmerzhaften elektrischen Zwangsverfahren im Mittelpunkt, sondern Behandlungsmethoden, die Hartmann unter dem Postulat »Arbeit als Heilbedingung« zusammenfasste. Dies bedeutete, dass die nervenkranken Soldaten neben physikalischen und diätetischen Therapien zu handwerklicher und landwirtschaftlicher Tätigkeit angeleitet wurden. Mit dieser schon in Friedenszeiten geübten Behandlungspraxis stießen die Ärzte sowohl bei den Patienten als auch bei deren Angehörigen und in der Bevölkerung auf breite Akzeptanz. Der Vorwurf der »elektrischen Folter«, der nach dem Krieg zu einer Verhandlung gegen Julius Wagner-Jauregg und andere Wiener Ärzte führte70, lässt sich mit Blick auf die Grazer Situation nicht feststellen. Dies bedeutet nicht, dass die Grazer Psychiater die individuellen Bedürfnisse und Interessen der Soldaten über militärische Erwägungen gestellt hätten. Die Nervenspitäler waren temporäre Refugien und zugleich Orte, wo Prinzipien medizinischer Rationalisierung und militärischer Remobilisierung konsequent umgesetzt wurden. Die Grazer Nervenklinik stand – so hat es Fritz Hartmann 1918 bilanzierend selbst ausgedrückt – »im Dienst des Krieges«71. Die möglichst schnelle »Wiederherstellung der Dienstfähigkeit« nervenkranker Soldaten 69 Vgl. Freis, David  : Psycho-Politics between the World Wars  : Psychiatry and Society in Germany, Austria, and Switzerland, Cham 2019  ; Hofer, Hans-Georg  : Aus Krieg, Krise und Kälte. Alfred Hoche über »lebensunwertes Leben«, in  : Gadebusch Bondio, Mariacarla/Stamm-Kuhlmann, Thomas (Hg.)  : Wissen und Gewissen. Historische Untersuchungen zu den Zielen von Wissenschaft und Technik, Berlin 2009, 47–89. 70 Vgl. Eissler, Kurt  : Freud und Wagner-Jauregg vor der Kommission zur Erhebung militärischer Pflichtverletzungen, Wien 1979. 71 So der Titel des Aufsatzes von Hartmann, Nervenklinik (1918).

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war das erklärte Ziel der universitären Psychiatrie. Diese verstanden sich als Teil einer militärisch-medizinischen Funktionselite, die mit ihrem therapeutischen Handeln einen Beitrag zum Gewinn des Krieges leisten wollte. Davon abgegrenzt und ausgeschlossen waren jene psychiatrischen Patient:innen – nicht nur, aber vor allem – aus dem zivilen Bereich, die den Krieg in der Landes-Irrenanstalt Feldhof verbrachten. Während in den »Nervenspezialanstalten« und in den »Übungsschulen« für kranke und verletzte Soldaten alle medizinischen und pflegerischen Ressourcen mobilisiert wurden, erfuhren die Patient:innen in der Anstalt Feldhof Ausgrenzung und Vernachlässigung  ; mit Fortdauer des Krieges wurden sie vielfach sich selbst überlassen. War die Wiedererlangung der Dienst- und Arbeitsfähigkeit von Menschen nicht möglich, erschien deren Leben »wertlos«. Auch dies zeigt das Beispiel der Grazer Psychiatrie im Ersten Weltkrieg auf verstörende Art und Weise.

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»V spomin žrtvam svetovne vojne« Gefallenendenkmäler in der Untersteiermark und slowenische Erinnerungs­kultur an den Ersten Weltkrieg »Ein Denkmal ist das steinerne Äquivalent zu einem Knoten im Taschentuch  : Es dient als eine Gedächtnisstütze, es hält dazu an, eine Person oder ein Ereignis nicht zu vergessen«, es ist damit eines der »Medien des kulturellen Gedächtnisses«.1 Wie auch alle anderen Arten von Symbolen sollen auch Denkmäler implizit Werte und Ideologien vermitteln und auf die (Vergangenheits-) Wahrnehmung der Menschen Einfluss nehmen. Gefallenendenkmäler aus der Untersteiermark/(Spodnja) Štajerska, die des Ersten Weltkrieges gedenken, muss man aber zunächst einmal suchen  ; findet man sie, kommt wenig (nationaler) Pathos auf  : »In Erinnerung an die Gefallenen des Weltkrieges«, »in Erinnerung an die Kriegsopfer« und ähnliche Formulierungen sind am häufigsten zu lesen. Es überwiegen die einfachen und schlichten Obelisken, kleinen Gedenktafeln und Bildstöcke. Viele gehen eine Symbiose mit Marien- und Jesus- oder Heiligenverehrung ein, so dass auf dem ersten Blick gar nicht erkenntlich ist, dass es sich um eine Gedenkstätte für Gefallene handelt. Die überwiegende Anzahl bedient sich christlicher Symbolik (Kreuze, Palmenzweige, Engel) oder befindet sich ohnehin im Inneren oder in unmittelbarer Nachbarschaft der Dorfkirche. Manche wenige scheinen in der Tradition militärischer Ehrendenkmäler zu stehen. Doch vielfach ist die Formensprache der Denkmäler erstaunlich schmucklos und einfach konzipiert.2 Diese Feststellung zu den Denkmälern in der Untersteiermark ist symptomatisch für die slowenische Erinnerungskultur an den Ersten Weltkrieg insgesamt, der im kollektiven Gedächtnis nur eine untergeordnete Rolle spielt und bis vor kurzem völlig im 1 Assmann, Aleida  : Speichern oder Erinnern  ? Das kulturelle Gedächtnis zwischen Archiv und Kanon, in  : Kakanien revisited, Jg. 31 (2006) Heft 1, 1–8, hier 6 und 7. 2 Ein Forschungsprojekt und zwei Folgeprojekte des Wissenschaftlichen Forschungszentrums der Slowenischen Akademie der Wissenschaften (ZRC SAZU) haben eine (keine Vollständigkeit beanspruchende) Landkarte der Ersten-Weltkriegsdenkmäler im heutigen Slowenien erarbeitet. Die hier in weiterer Folge getroffenen Beobachtungen haben diese Datensammlung zur Grundlage, die 167 Denkmäler umfasst, wovon ich die 52 in der Štajerska befindlichen ausgewertet habe. Zwar kann aufgrund dieser Datensammlung keine endgültige Aussage getroffen werden, zumal die Angaben und Fotografien in unterschiedlicher (und für die Untersteiermark leider oft unzureichender) Qualität vorliegen. So ließen sich die Inschriften nicht auf allen Fotografien lesen oder gab es nur knappe Angaben zur Umgebung des Denkmals. Dennoch kann auf Basis von 48 in der Untersteiermark befindlichen und digital gesichteten Denkmälern (4 der 52 mussten, weil fehler- oder mangelhaft, unberücksichtigt bleiben) ein recht guter Überblick gewonnen werden, der für die Zwecke dieses Ersteindrucks genügen sollte. Vgl. Zemljevid spomenikov, ZRC SAZU (http://www.arzenal.si/spomeniki/zemljevid  ; download 10.2.2022).

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Schatten des Zweiten Weltkrieges stand. Erst der Reigen der Jubiläumsjahre 2014–2018 hat zu einer noch nie dagewesenen Fokussierung der slowenischen Forschung auf den Ersten Weltkrieg beigetragen, wobei das Thema über öffentlichkeitswirksame Kanäle (Dokumentationen und Filme3, Internetportale4, Ausstellungen5 etc.) nun auch das Interesse der Scientific Community geweckt und gleichzeitig ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gedrungen ist.6 Im vorliegenden Aufsatz soll das Thema der slowenischen Erinnerungskultur an den Ersten Weltkrieg um ein weiteres Mosaikstück ergänzt werden, indem konkret der Denkmalkultur in der Untersteiermark und den neuen »Helden« der slowenischen Meistererzählung über den Ersten Weltkrieg nach 1918 nachgespürt wird. In ihrer historischen Entwicklung und mentalen Orientierung stets auf die gesamte Steiermark ausgerichtet, findet sich die Untersteiermark ab 1918 von der restlichen Steiermark abgetrennt im neuen Staat der Südslawen (SHS-Staat, ab 1. Dezember 1918 3 Spezifisch zur slowenischen Filmografie zum Ersten Weltkrieg, d. h. eine ausführliche Analyse der ersten fünfteiligen Dokumentationsreihe zum Thema überhaupt und der slowenisch-österreichischen Koproduktion »Die Wälder sind noch grün«/»Gozdovi so še vedno zeleni«, siehe auch  : Almasy, Karin  : The Rediscovery of a Forgotten War. The First World War in Slovene Film and Documentary Production, in  : Leidinger, Hannes (Hg.)  : Habsburg’s Last War  : The Filmic Memory (1918 to the present), Cinematic and TV Productions in the Neighbouring Countries and Successor States of the Danube Monarchy  : Austria, Czechia-Slovakia, Germany, Hungary, Italy, Poland, Romania, Russia, Serbia, Slovenia (Studies in Central European History, Culture, and Literature), Wien-New Orleans 2018, 297–327. 4 Besonders verwiesen sei auf das aktuelle und ein breites Publikum ansprechende Erste-WeltkriegsPortal des staatlichen Rundfunks RTV Slovenija, (https://www.rtvslo.si/prva-svetovna-vojna  ; download 10.2.2022) sowie das Onlineportal des slowenischen Komitees für die Kommemoration des hundertjährigen Jubiläums des Ersten Weltkrieges (http://www.100letprve.si/index.html  ; download 10.2.2022). 5 Federführend sind hierbei das Museum des Ersten Weltkriegs in Kobarid (Kobariški muzej) sowie das Museum für Zeitgeschichte (Muzej novejše zgodovine Slovenije) in Ljubljana. 6 Da in einer Fußnote kein Gesamtüberblick über die gesamte geschichtswissenschaftliche Forschung zum Ersten Weltkrieg und die zahlreichen Kommemorationstätigkeiten in den Jubiläumsjahren in Slowenien gegeben werden kann, sei vor allem auf den Überblick über die slowenischen Aktivitäten der Gedenkjahre von Petra Svoljšak in der International Encyclopedia of the First World War verwiesen  : Svoljšak, Petra  : Centenary (Slovenia) (https://encyclopedia.1914-1918-online.net/article/centenary_slovenia  ; download 10.2.2022) sowie auf den erst unlängst als Abschlusspublikation eines gleichnamigen großangelegten Forschungsprojektes zum Kulturerbe des Ersten Weltkrieges erschienenen Sammelband  : Jezernik, Božidar/Fikfak, Jurij (Hg.)  : Dediščina prve svetovne vojne. Reprezentacije in reinterpretacije, Ljubljana 2021. Darin zu finden ein ausführlicher chronologisch geordneter Überblick über die Forschungstätigkeit der slowenischen Geschichtswissenschaft zum Ersten Weltkrieg  : Hazler, Vito  : Dediščina vojaških pokopališč, kapelic, spomenikov in spominskih znamenj prve svetovne vojne na Slovenskem, in  : Jezernik/Fikfak (Hg.)  : Dediščina (2021), 41–86, hier  : 45–50. Kompakt zum Gedenkjahr 2014 mit Beispielen zur slowenischen Erinnerungskultur an den Ersten Weltkrieg, siehe auch  : Almasy, Karin  : Der Stellenwert des Ersten Weltkrieges in der slowenischen Erinnerungskultur und das Gedenkjahr 2014 in Slowenien, in  : Bachinger, Bernhard/Lein, Richard/Moritz, Verena/Walleczek-Fritz, Julia/ Wedrac, Stefan/Wurzer, Markus (Hg.)  : Gedenken und (k)ein Ende  – was bleibt vom Jahr 2014  ? Das Gedenkjahr 1914/2014 und sein historiografisches Vermächtnis, Wien 2017, 51–67.

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Königreich SHS, ab 1929 Königreich Jugoslawien) wieder. Es kam zu politischen Veränderungen, wie sie noch kurz zuvor kaum ein Slowene / eine Slowenin für möglich gehalten hatte  : zur Vereinigung mit dem Königreich Serbien (nachdem sie jahrzehntelang vor der »serbischen Gefahr« gewarnt worden waren) und durch die neue Grenzziehung dieser Jahre zu zwei großen Traumata, der Zuschlagung des Küstenlandes mit der bedeutenden Hafenstadt Triest/Trieste an Italien und durch die Volksabstimmung 1920 zum Verlust Südkärntens.7 Die Slowenen hatten innerhalb der Monarchie als besonders kaisertreu gegolten und in großer Zahl in der österreichischen Armee gedient und auch gegen die Serben gekämpft.8 Nach 1918 fanden sie sich nun mit dem ehemaligen Kriegsgegner in einem gemeinsamen Staat der Südslawen wieder. Sie hatten in großer Zahl ihr Leben gegeben oder sind schwer versehrt aus dem Krieg zurückgekehrt. Sie hatten für einen Staat, für den Kriegsgegner der Serben, gekämpft, den es nun nicht mehr gab, und hatten somit im neugegründeten Königreich SHS unter serbischer Dominanz keinen guten Stand. In der Untersteiermark nimmt die Erinnerungskultur an den Ersten Weltkrieg also zwangsläufig eine andere Form an als in der restlichen Steiermark  : Während die neu gegründete Erste Republik Österreich als Nachfolgestaat der Monarchie auch gewissermaßen die Nachfolge der offiziellen Erinnerungskultur an den gerade erst beendeten Krieg antrat und in der »österreichischen Steiermark« diesbezüglich also eine Kontinuität festzustellen ist, verhält sich dies für die ab 1918 andere Wege beschreitende »slowenische Steiermark« anders. Durch die politische Zäsur 1918 und den Zusammenschluss der südslawischen Gebiete und damit der ehemaligen Kriegsgegner in dieser Region zu einem gemeinsamen Königreich konnte es gerade in den mehrheitlich slowenischsprachigen Gebieten, klarerweise keine solche Kontinuität in der Erinnerungskultur geben. Beleuchtet werden nun im Folgenden die Entstehungszeit und -umstände der Weltkriegsdenkmäler mit Beispielen aus der Untersteiermark und der Veteranenverband »Zveza bojevnikov« [Verband der Krieger] mit Fokus auf dem (geringen) Status der Weltkriegsveteranen in jugoslawischen Zeiten sowie der Notwendigkeit eines neuen slowenischen »Helden«-Narrativs nach 1918 sowie dessen Protagonisten.

7 Vgl. Cvirn, Janez, Die Slovenen und ihr Verhältnis zum neuen Staat (Königreich SHS) 1918/19, in  : Harald, Heppner (Hg.)  : Region und Umbruch 1918  : Zur Geschichte alternativer Ordnungsversuche, Frankfurt-Wien 2001, 87–95 und Perovšek, Jurij  : Die Slovenen in der Umbruchszeit und im neuen jugoslavischen Staat (1918–1929), in  : ebda., 69–85. 8 Vgl. zur Kaisertreue in der slowenischen Politik und in slowenischen Schulbüchern bis 1918  : Stergar, Rok  : »Aber durch die gemeinsame einheitliche Kommandosprache wurde noch kein Mann entnationalisiert …«  : Slowenische katholische Politik zwischen Nationalismus, politischem Pragmatismus und Kaisertreue, in  : Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte, Jg. 115 (2020) Heft 3/4, 217–233  ; sowie Almasy, Karin  : Kanon und nationale Konsolidierung. Übersetzungen und ideologische Steuerung in slowenischen Schullesebüchern (1848–1918), Wien 2018, 266–281.

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Fehlendes Pathos Betrachtet man die Weltkriegsdenkmäler in der Untersteiermark genauer, kommt nur wenig Pathos auf. Einige wenige scheinen in der Tradition militärischer Ehrendenkmäler zu stehen  : hierbei waren das Eiserne Kreuz und ewiges Feuer auf Obelisken und Granaten-Umzäunungen häufig  ; in einem Einzelfall findet man einen verwundeten, dramatisch drapierten Löwen.9 Meist handelt es sich um Steinskulpturen, seltener auch um gebäudeartige Gedenkstätten wie Kapellen oder Gedenkgräber  ; oft aber nur um unauffällige Gedenktafeln an Friedhofs- oder Kirchenmauern (10 von 48 Beispielen, siehe Abb. 1). Auflistungen der Namen der Gefallenen (und manchmal Geburts- und Sterbedaten, Herkunftsort, militärischer Rang und Front, an der gekämpft und gestorben wurde) finden sich in 33 von 48 Beispielen. Solche Namenslisten sind Reinhart Koselleck zufolge ein Zeichen der Demokratisierung des Totengedenkens  : In früheren Zeiten wurde nur den großen Feldherren Denkmäler errichtet  ; einzelne Gefallene und einfache Soldaten blieben ungenannt und wurden erst im 19. und 20.  Jahrhundert »denkmalsfähig« – womit Gleichheit im Tod ausgedrückt werden soll. Durch Namenslisten wird versucht, niemanden »der Vergangenheit anheimfallen zu lassen«.10 Unter den freistehenden Denkmälern war mit Abstand der Obelisk die häufigste Gestaltungsform für ein Soldatendenkmal (15 von 48). In den überwiegenden Fällen befinden sich die Gefallenendenkmäler auf einen Teil des Friedhofes, in oder vor bzw. nahe der Dorfkirche bzw. an einem baulichen Teil, der zum Kirchenkomplex gehört, wie z. B. Nischen in bzw. Tafeln an der Friedhofsmauer, Torbögen etc. Seltener findet man sie in der Dorf- oder Stadtmitte, manchmal auch in Form eines Marterls, eines Bildstockes oder einer kleinen Kapelle am Wegesrand (4 von 48). Einzig im westlich von Ptuj gelegenen Nijverce findet sich eine mächtige Gedenkkapelle mit Militärfriedhof, die noch 1916 erbaut wurde und (als einzige unter den 48 Samples lesbare) Aufschriften in deutscher Sprache aufweist.11 Bezüglich ihrer künstlerischen Ausgestaltung, der Verwendung christlicher Symbolik und auch der Orte ihrer Aufstellung oder Anbringung (Kirchen, Friedhöfe, Parks oder Wegkreuzungen) stellen die Denkmäler auf slowenischen Boden auch keine »slowenische« Besonderheit dar, sondern unterscheiden sich nicht wesentlich von ähnlichen Denkmälern in Österreich, Ungarn oder Deutschland.12 Die Einfachheit und Bescheidenheit der meisten Denkmäler zeugen davon, dass nicht staatliche Institutionen dahintergestanden sind. Einige der erbauten Denkmäler geben die Namen ihrer Stifter an. Es entsteht der Eindruck, dass die Errichtung von Gefallenendenkmälern »nur von dynamischen Einzelpersonen [abhing],   9 Vgl. zur Ansicht  : Polzela (http://www.arzenal.si/spomeniki/95  ; download 10.2.2022). 10 Koselleck, Reinhart  : Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden, in  : Marquard, Odo/ Stierle, Karlheinz (Hg.), Identität (1979), 255–276, hier 259. 11 Zur Ansicht  : Nijverce (http://www.arzenal.si/spomeniki/81  ; download 10.2.2022). 12 Hazler, Dediščina (2021), 67.

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Abb. 1: Gedenktafel für die Gefallenen an der Kirchenmauer in Benedikt, nordöstlich von Maribor.

die es verstanden, eine Sammelaktion unter den Pfarrmitgliedern, in den Soldatenorganisationen oder der Stadtgemeinde zu organisieren und die Denkmalform und den Errichtungsort ausverhandelten.«13 Für die laut bisherigen Schätzungen etwa 35.000 Gefallenen aus den slowenischen Gebieten wurden vor allem von einzelnen Dorfgemeinden, Pfarren, Individuen und der Veteranenorganisation »Zveza bojevnikov« Denkmäler erbaut. Allein letzterer soll für 150 Denkmäler verantwortlich zeichnen.14

»Ein Verband der Herzen und Seelen« Die Veteranenorganisation »Zveza bojevnikov« wurde verhältnismäßig spät, nämlich erst 1931 offiziell gegründet, wobei aber schon seit 1924 jährliche Veteranentreffen in Brezje, nördlich von Kranj (alter dt. Name  : Pirkendorf in der Oberkrain), abgehal13 Čopič, Špelca  : Slovenski spomeniki padlim v prvi svetovni vojni, in  : Kronika. Časopis za slovensko krajevno zgodovino, Jg. 35 (1987) Heft 3, 168–177, hier 169. [Diese und alle weiteren Übersetzungen aus slowenischer Literatur und Quellen stammen, wenn nicht anders angegeben, von der Autorin.] 14 Vgl. Spomeniki 1. Svetovne vojne, ZRC SAZU.

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ten wurden. An diesem wichtigsten Marienwallfahrtsort Sloweniens hielt der Verband seine Jahrestreffen ab. Die Nähe zu Maria und zur katholischen Kirche ist bewusst gewählt  ; schließlich waren die ersten Organisatoren ehemalige Feldkuraten. Außerdem hatten einer Eigenpublikation15 des Verbandes zufolge viele Soldaten bereits vor Kriegsbeginn versprochen, sich bei der Heiligen Gottesmutter in Brezje zu bedanken, sollten sie unversehrt aus dem Krieg heimkehren. Bereits ab 1923 wurden Gottesdienste im Freien abgehalten und 1924, zehn Jahre nach Kriegsbeginn, trafen sich mehr als 10.000 Veteranen und gelobten, bis zu ihrem Lebensende einmal jährlich zu Maria Hilf nach Brezje zu pilgern und stifteten eine Gedenktafel zur Erinnerung ihrer glücklichen Wiederkehr aus dem Krieg. Der Verband setzte es sich zum Ziel, arme Kameraden zu unterstützen, für Witwen und Waisen von Kriegsopfern zu sorgen und das Gedenken an ihre gefallenen Kameraden aufrechtzuerhalten.16 Die »Zveza bojevnikov« beschrieb sich selbst als »selbstständige, unabhängige Organisation auf slowenischem Gebiet«, als »überparteilich und unpolitisch« und als einen »Verband der Herzen und Seelen«. Mitglied werden konnte »jeder ehemalige Soldat und Staatsbürger des Königreich Jugoslawiens«, egal ob er während des Weltkrieges einfacher Soldat oder Offizier gewesen war und egal an welcher Front oder im Hinterland er auch immer gedient habe.17 Der Verband propagierte zum einen slowenisches Nationalbewusstsein, zum anderen auch die Zugehörigkeit zum jugoslawischen Staat und Freundschaft unter den slawischen Völkern und setzte sich für die Rechte der Arbeiterschaft ein  : »Die Grundidee der Organisation ist  : Wahrung des Friedens, Freiheit des Volkes und der Kampf für soziale Gerechtigkeit zwischen Kapital und Proletariat.«18 Von 1931 bis 1936 gab der Verband auch seine eigene Zeitschrift »Bojevnik« heraus, die die Erinnerung an die Kriegsjahre hochhielt und über die Aktivitäten der Organisation informierte. Die Verbandsmitglieder waren in erster Linie ehemalige einfache Soldaten, Arbeiter und Bauern, was sein soziales Engagement für Mitglieder in ökonomischen Nöten erklärt. Durch die Zahlung von Beitrittsgebühren, Mitgliedsbeiträgen, Spenden und Bezugspreisen wurden Unterstützungsfonds gespeist, durch die Denkmäler, Hilfen für Witwen und Waisen u. a., sowie – bei Mitgliedschaft in der »Samopomoč« [Selbsthilfe] des Verbands und im Todesfalle eines Mitgliedes – auch das Sterbegeld finanziert wurde. Der Name »Samopomoč« darf wohl als bezeichnendes Indiz dafür aufgefasst werden, dass von staatlicher Seite keine Unterstützung zu erwarten war.19 15 Zveza bojevnikov (Hg.)  : Brezje. Slovenskim žrtvam svetovne vojne, Ljubljana 1937, 6–8. 16 Ebd. 17 Ebd., 20  ; Bojevnik, Jg. II (25.6.1932) Heft 3, 1. 18 Zveza bojevnikov (Hg.), Brezje (1937), 22. 19 Vgl. Svoljšak, Petra  : Nekaj utrinkov iz delovanja veteranske organizacije Zveza bojevnikov. ›Organizacija Bojevnikov je trdna in močna, je zveza src in duš. Je temelj prijateljstva in ljubezni med narodi‹, in  : Prispevki za novejšo zgodovino, Jg. XLVI (2006) Heft 1, 277–288, hier  : 278–282. Die Zeitschrift wurde (man will spekulieren, aus Finanznöten) 1936 eingestellt und mit zwei anderen Blättern zusammengelegt,

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Dass die Veteranen der ehemaligen Habsburger Armee die Unterstützung dieses Verbandes nötig hatten, wird auch deutlich, wenn man ihre rechtliche Benachteiligung im Königreich SHS besieht. So etwa bekamen Kriegsversehrte – unter den Slowenen war der Kriegsinvalidenanteil mit 15, 4 % überdurchschnittlich hoch (machten sie doch nur 8,4 % der Gesamtbevölkerung im neuen jugoslawischen Staat aus)  –, die auf österreichischer Seite gekämpft hatten, weniger Rente als Soldaten der serbischen Armee. Bis 1925 das neue Invaliditätsgesetz in Kraft trat, galten nämlich noch die gesetzlichen Bestimmungen jener Länder, denen die Betroffenen vor Kriegsausbruch angehört hatten (d. h. entweder die alten österreichischen, ungarischen oder eben serbischen Gesetze). Ein Gesetz zur provisorischen Hilfe für die Kriegsversehrten und Familien der gefallenen, toten, und vermissten Soldaten trat zwar 1921 in Kraft, doch behielt es diese bestehenden Ungleichheiten bei. Wer eine Hilfsleistung bekam, war politisch bestimmt  : Das Hauptkriterium dabei war »der Kampf für den jugoslawischen Staat«. »Ein Opfer für die Befreiung und Vereinigung des jugoslawischen Staates« wurde mit einer Invalidenzulage in doppelter Höhe belohnt. Das waren im Wesentlichen ehemalige Soldaten der Königreiche Serbien und Montenegro. Für alle restlichen Invaliden – und das waren vor allem die ehemaligen Soldaten der österreichisch-ungarischen Armee – galten die alten Gesetze. Die Kriegsversehrtenrenten waren in den ehemaligen habsburgischen Ländern somit um 55 bis 71 % niedriger als jene in den Gebieten Serbiens und Montenegros, jene für die Familienangehörigen von Kriegsversehrten sogar um 55 bis 85 %. Erst 1925 wurde diese gesetzlich verankerte Ungleichbehandlung durch ein einheitliches Gesetz beseitigt.20

»Das Gedächtnis braucht Orte«21 In ihrer überwiegenden Mehrheit entstanden die Denkmäler in Erinnerung an die Gefallenen des Großen Krieges in den 1920er- und 1930er-Jahren, wobei die Bautätigkeit bereits in den 1930er-Jahren deutlich zurückging.22 Die Zeitschrift des Veteranenverso dass es von da an für ganz Slowenien nur noch ein »ein Organ für alle Anhänger der slowenischen Bauern-Arbeiterbewegung« gab, welches auch »in diesem Geiste« schrieb. Vgl. Celjski dogovor, in  : Bojevnik, Jg. V (1936) Heft 27, 3. 20 Vgl. Svoljšak, Nekaj utrinkov (2006), 282–285. 21 Assmann, Jan  : Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 2007, 39. 22 Vgl. Svoljšak, Nekaj utrinkov (2006), 278–282 und Čopič, Slovenski spomeniki (1987), 172. Manche Denkmäler wurden noch während des Krieges errichtet, die meisten unmittelbar danach bzw. in den 1920er- und 1930er-Jahren  ; viele wurden nach 1945 einfach dem Verfall preisgegeben. Nach 1991 wurden im unabhängigen Slowenien einige vergessene Denkmäler renoviert und sogar einige neue (v. a. Gedenktafeln) errichtet. Vgl. Jezernik, Božidar/Fikfak, Jurij  : »Dediščina prve svetovne vojne  : reprezentacije in reinterpretacije«, in  : dies. (Hg.)  : Dediščina (2021), 9–40, hier  : 14 und Hazler  : Dediščina vojaških pokopališč (2021), 44–45.

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bands konstatierte in ihrer ersten Ausgabe 1931 als Grund dafür, dass »infolge der allgemeinen Krise mancherorts die Begeisterung für Denkmäler in Slowenien nachgelassen hat«, »kleine Orte nichts besonders Künstlerisches errichten konnten, weil nicht genügend Mittel zur Verfügung standen« und äußerte diesbezüglich den frommen Wunsch  : »Am idealsten wäre es natürlich, wenn einzelne, insbesondere reichere Orte zum Gedenken an die Gefallenen etwas aufstellen, was nicht nur die Kriegsopfer ehren, sondern auch den Lebenden nützen würde. So wie mancherorts Glocken, die die Namen der Gefallenen tragen und auch späteren Generationen dienen werden  ; ebenso Orgeln, Leuchter, Heilige Gräber mit den Namen der Gefallenen. Andernorts wurden wunderschöne Alleen gepflanzt und jeder Baum trägt den Namen eines Gefallenen  ; Leuchttürme, die den Toten und den lebenden Seefahrern leuchten usw.«23 Man gewinnt den Eindruck, dass sich im Wesentlichen nur der Verband um die Veteranen und ihre Angehörigen gesorgt und dabei einen recht einsamen Kampf gefochten hat. 1941 bringt der Blitzkrieg Hitlers gegen Jugoslawien auch das jähe Ende der Veteranenorganisation, womit die Erinnerungsbestreben an die Soldaten des »Großen Krieges« und die Denkmalbautätigkeit im Wesentlichen zum Erliegen gekommen zu sein scheint. Die Erlebnisgeneration wird älter und stirbt nach und nach, es kommt ein neuer Weltkrieg und nach 1945 hat man viele neue Gefallene, Opfer und Helden, derer man gedenken muss. Folgendes Fazit von Koselleck kann man auch direkt auf die Ersten-Weltkriegs-Denkmäler in der Untersteiermark ummünzen  : »Es ist eine historische Erfahrung, die sich seit der Französischen Revolution abzeichnet, daß die Kriegerdenkmäler mit dem Aussterben der Stiftergeneration ihre Emphase verlieren. Zahlreiche Denkmäler des vergangenen [19.] Jahrhunderts sind nicht nur äußerlich mit Patina überzogen, sie sind in Vergessenheit geraten […].«24 An dieser Stelle drängt sich ein Vergleich über den engeren Rand der Untersteiermark hinaus zwischen den untersteirischen Gefallenendenkmälern mit anderen Beispielen aus mehr oder weniger derselben größeren Region auf. Zunächst ein kleiner Exkurs ins slowenische Küstenland (Primorska), das nach dem Ersten Weltkrieg dem Königreich Italien angeschlossen worden war  : Dort durften in Zeiten der italienischfaschistischen Besatzung keine Denkmäler für die Gefallenen der österreichisch-ungarischen Armee erbaut werden, was die großen Unterschiede in der geographischen Verteilung der Ersten-Weltkriegs-Denkmaldichte für gefallene Slowenen im heutigen Slowenien erklärt.25 Stattdessen wurde ein über dem kleinen Ort Kobarid/Caporetto/ Karfreit thronendes monumentales Beinhaus für etwa 7.000 gefallene italienische Soldaten errichtet und 1938 von Benito Mussolini persönlich eröffnet  : ein kolossaler Bau 23 Bonač, France  : Spomin padlim in umrlim, in  : Bojevnik, Jg. I (1931) Heft 1, 5. 24 Koselleck, Kriegerdenkmale (1979), 274. 25 Auf der benutzten Denkmäler-Landkarte gibt es in Primorska lediglich zwei Denkmäler, vgl. Spomeniki 1. Svetovne vojne, ZRC SAZU. Dafür befinden sich aber im zu Primorska gezählten Soča-Tal, also im Gebiet der ehemaligen Isonzofront, die meisten Soldatenfriedhöfe.

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auf drei achteckigen, nach oben hin schmaler werdenden Ebenen, an deren Spitze eine Kirche steht.26 Oder man denke an das von König Alexander I. in Auftrag gegebene Denkmal für den Unbekannten Soldaten auf dem Avala nahe Belgrad, das zwischen 1934 und 1938 aus schwarzem Granit und nach Plänen des bedeutenden Bildhauers Ivan Meštrović fertiggestellt wurde, und ganz der offiziellen Erinnerungskultur des ersten Jugoslawiens entsprach. Die grundlegende Idee Meštrović’ »Memorialarchitektur« waren »Monumentalität, Repräsentativität und Symbolik« und dieses Denkmal sollte die Krönung seines Opus’ sein und »als ein symbolischer Ort der Ehrung und Huldigung aller gefallenen [serbischen] Kämpfer für die Freiheit« – sprich  : für einen südslawischen Staat – dienen.27 Ein letzter  – innerslowenischer  – Vergleich  : Am Laibacher Zentralfriedhof Žale wurde 1939 auf Anregung des Veteranenverbandes feierlich ein Beinhaus und ein Soldatenfriedhof für mehr als 5.000 Opfer des Ersten Weltkrieges eröffnet, dessen Planung der bedeutendste slowenische Architekt und Otto-Wagner-Schüler Jože Plečnik persönlich übernommen hatte. Letztendlich realisiert wurde aber eine etwas abgespeckte Version dieses geplanten Erinnerungsparks, der Pyramiden, ewiges Feuer, eine 9 Meter hohe Betonsäule und ein Mausoleum vorgesehen hätte, vom Plečnik-Schüler Edo Ravnikar. Dieser Gedenkstätte wurde die Statue des Unbekannten slowenischen Soldaten, des »Krainer Janez« der Bildhauer Svetoslav Peruzzi und Lojze Dolinar beiseitegestellt, welche bereits seit 1923 ein Ehrengrab bewachte hatte. In dieser großen Gedenkstätte, beschützt vom »Krainer Janez«, fanden viele der ›neue Helden‹, von denen im Folgenden noch die Rede sein wird, ihre letzte Ruhestätte.28 In der Veteranen-Zeitschrift »Bojevnik« wird der besagte »Krainer Janez« in einer Bildunterschrift bezeichnend als »Symbol des Leidens und der Erniedrigung der Slowenen im Weltkrieg« bezeichnet.29 Üblicherweise identifizieren Denkmäler, die an einen gewaltsamen Tod erinnern, die Verstorbenen in einer bestimmten Hinsicht  : als Helden, Märtyrer, Opfer, Sieger, Besiegte, Träger bestimmter Tugenden, Hüter und Beschützer des Heimatlandes etc. und geben gleichsam eine Handelsaufforderung für die Lebenden mit, wie sie sich verhalten sollen (die Verstorbenen ehren, ihrer gedenken, sie nachahmen etc.). Nicht nur, dass der Soldatentod politischen Zwecken gedient hat, auch die Erinnerung an den massenhaften Tod muss oft einer politischen Agenda dienen.30 Auch diesbezüglich geben sich die untersuchten Denkmäler aus der Untersteiermark äußerst bescheiden 26 Vgl. den Geschichtslehrpfad von Kobarid, Kobariški muzej (https://www.kobariski-muzej.si/deu/ausstel lungen/gefuhrte-touren/gefuhrte-touren/201803271701300801/italienisches-beinhaus/  ; download 10.2. 2022). 27 Vgl. Spomenik neznanom junaku na Avali, Serbische Akademie der Wissenschaften und Künste (SANU) (http://spomenicikulture.mi.sanu.ac.rs/spomenik.php?id=620  ; download 10.2.2022). 28 Svoljšak, Nekaj utrinkov (2006), 280–282  ; Čopič, Slovenski spomeniki (1987), 168–169. 29 Bojevnik, Jg. I (1931) Heft 3, 1. 30 Vgl. Koselleck, Kriegerdenkmale (1979), 256, 259.

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aus  : In überwiegender Mehrheit sprechen sie von Opfern, von den »Gefallenen«, den »gefallenen Soldaten«, den »Kriegsopfern«  ; nur in wenigen Fällen wird die Terminologie pathetisch-patriotisch und ruft dazu auf »der Helden [zu gedenken]« (Nijverce), spricht von »Ruhm« (Ponikva), »unseren Helden, die ihr Leben für ihre Heimat geopfert haben« (Orehova vas) oder den »Tapferen« (Sveti križ ob Mariboru).31 Ein einziges Soldatendenkmal aus der Untersteiermark kann es an Monumentalität bzw. durch seine Größe ansatzweise mit den Vergleichsbeispielen aufnehmen  : In Šmartno ob Paki/St. Martin an der Pack steht am Friedhof ein Soldatendenkmal von beachtlicher Größe für einen so kleinen Ort, das 1926 vom Bildhauer Vinko Čamernik errichtet wurde.32 Ansonsten hat dieser Vergleich zwischen untersteirischen und anderen Kriegsdenkmälern der Zwischenkriegszeit aber wohl hinlänglich den eindeutigen Dimensionsunterschied deutlich gemacht. Es drängt sich also nach Durchsicht der SAZUDenkmäler-Landkarte der Eindruck auf, dass prominente, großräumige von berühmten Künstlern oder Steinmetzen geschaffene Denkmäler – wenn überhaupt – dann eher im Krainer Kernland und vor allem in Oberkrain (Gorenjska) gebaut worden sind.33 Der hier kursorisch entstandene Eindruck wird auch vom zwischen 2016 und 2018 durchgeführten Forschungsprojekt »Dediščina prve svetovne vojne« [Das Erbe des Ersten Weltkrieges] bestätigt, in dessen Rahmen insgesamt 459 Kulturdenkmäler (darunter 276 Denkmäler, 94 Soldatenfriedhöfe und Begräbnisstätten, 32 Denkmäler für bekannte Persönlichkeiten, 56 Kapellen und Marterln und eine Moschee) im heutigen Slowenien dokumentiert und untersucht werden konnten.34 Die Unscheinbarkeit der allermeisten Erinnerungsorte an den Ersten Weltkrieg in der Untersteiermark wird dabei insofern bestätigt, als dass sowohl in Bezug auf die Anzahl der Soldatenfriedhöfe als auch in Bezug auf die Größe und aufwendige Gestaltung von Denkmälern die meisten und herausragendsten Beispiele nahe der ehemaligen Isonzofront und im engeren Kriegsgebiet Krain zu finden sind  : Von Westen nach Osten verringert sich die Zahl der großen Soldatenfriedhöfe, Kapellen, Beinhäuser und Denkmäler.35

»Ein ausverhandeltes historisches Ereignis«36 Versteht man das Denkmal als einen in Stein gemeißelten Gedächtnisort, um die eigene Interpretation vergangener und denkwürdiger Ereignisse zum Ausdruck zu brin31 Alle Beispiele aus  : http://www.arzenal.si/spomeniki/zemljevid  ; download 10.2.2022. 32 Vgl. Čopič, Slovenski spomeniki (1987), 169. 33 Ebd. und Čopič, Slovenski spomeniki (1987). 34 Vgl. Hazler, Dediščina vojaških pokopališč (2021), 43. Es handelte es sich um eine Zusammenarbeit des Instituts für Ethnologie und Kulturanthropologie der Universität Ljubljana und dem Wissenschaftszentrum der slowenischen Akademie der Wissenschaften ZRC SAZU. 35 Ebd., 54. 36 Uhl, Heidemarie  : Der Erste Weltkrieg im Gedächtnis Österreichs und (Zentral-)Europas – Gedächtnis-

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gen, ist auch das Fehlen vieler oder großer Gedächtnisorte ein aussagekräftiger Befund. Denn  : Eine Gesellschaft erinnert sich nicht nur kollektiv gewisser Ereignisse, sondern ›vergisst‹ auch ebenso kollektiv  ; womit das Vergessen ebenso wie das Erinnern ein gesellschaftlich strukturierter Prozess ist.37 Was Heidemarie Uhl für Österreich konstatiert, scheint auch für Slowenien zu gelten  : »Der Erste Weltkrieg ist ein ausverhandeltes historisches Ereignis« und [a]uch für Kontroversen gibt ›1914–1918‹ – zumindest aus heutiger Sicht – keinen tragfähigen Ansatzpunkt.«38 Das offizielle Gedenken sowie Kontroversen in der slowenischen Gesellschaft richten sich hingegen vorwiegend auf den Zweiten Weltkrieg. Auch in der Denkmalkultur findet dies seinen Niederschlag  : »Die Denkmäler des Zweiten Weltkrieges haben sie [die Denkmäler des Ersten Weltkrieges] in den Schatten gedrängt« und das gesamte Gebiet »überschwemmt«.39 Divergierende Interpretationen der bürgerkriegsartigen Geschehnisse zwischen 1941 und 1945 (Stichwort  : Helden vs. Verräter, Partisanen vs. Domobranzen) und die Frage nach individueller und kollektiver Schuld, Kriegsverbrechen auf beiden Seiten etc. erhitzen bis heute die Gemüter und spaltet den öffentlichen Diskurs in zwei (politische) Lager.40 Dies schlägt sich auch in einem seit 1991 tobenden »Denkmalkampf« nieder. Seit Slowenien seine Unabhängigkeit erlangt und gewisse in jugoslawischen Zeiten geltende Tabus verschwunden sind, sind viele neue Domobranzen-Denkmäler errichtet worden, somit für Gefallene des Zweiten Weltkriegs und Opfer der (kommunistischen) Partisanen des antifaschistischen Widerstands.41 Jedes neue Domobranzen-Denkmal sorgt für erbitterte Kontroversen um die Deutungshoheit über die Ereignisse zwischen 1941 und 1945, während der Erste Weltkrieg als »ausverhandelte[r] Gedächtnisort«, keine Kontroversen (mehr) hervorruft.42 traditionen in (trans)nationaler Perspektive, in  : Bundeskanzleramt et al. (Hg.)  : 1914–2014. Grundlagenpapier österreichischer Wissenschaftler:innen aus Anlass des Gedenkens des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren, Wien 2014, 30–32, 30. 37 Anhand des Fallbeispiels Ljubljana vgl. Božidar Jezernik  : Mesto brez spomina  : Javni spomeniki v Ljubljani. Ljubljana. Modrijan (2014) und allgemein  : Connerton, Paul. How societies remember, Cambridge, 1989. 38 Uhl, Gedächtnistraditionen (2014), 37. 39 Čopič, Slovenski spomeniki (1987), 168 und 175. 40 Vgl. Luthar, Oto/Luthar, Breda  : The Monopolization of Memory  : The Politics and Textuality of War Memorials in Slovenia since 1991, in  : Fassmann, Heinz/Müller-Funk, Wolfgang/Uhl, Heidemarie (Hg.) Kulturen der Differenz – Transformationsprozesse in Zentraleuropa nach 1989, Wien 2009, 195–206. 41 Auch eine digitale Sammlung dieser Domobranzen-Denkmäler ist online verfügbar und umfasst 146 Denkmäler (http://www.arzenal.si/sobe/zbirke/domobranski-spomeniki  ; download 10.2.2022). 42 Nur ein flüchtiger Vergleich der beiden Denkmaldatenbanken macht diesen Intensitäts- und Aktualitätsunterschied deutlich  : Die SAZU-Datenbank der Domobranzen-Denkmäler umfasst 146, jene der Ersten-Weltkriegsdenkmäler hingegen nur unwesentlich mehr, nämlich 167 Fotografien. Erstere Sammlung beinhaltet in großer Mehrzahl neue, nach 1990 errichtete und deutlich größere Denkmäler an prominenteren Plätzen als die zweite, die mehrheitlich alte und vergleichbar unscheinbare Gedächtnisorte umfasst.

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Neues Scheinwerferlicht fiel auf das Gedenken an den Ersten Weltkrieg seit 1991 aber auch durch die Errichtung einiger moderner Sammel- bzw. Kombinationsdenkmäler, durch die ein gesellschaftlicher Minimalkonsens und eine Aussöhnung der politischen Lager erzielt werden soll. Mancherorts wurde so ein Teil des lokalen Friedhofs, wo ein solches Denkmal-Dreigestirn  – Erster-Weltkriegs-, Partisanen- und Domo­ branzendenkmal – steht, in einen »neuen Erinnerungspark« verwandelt.43 Prominentestes Beispiel für ein solches Kombinationsdenkmal ist das 2017 zentral in Ljubljana am Kongresni trg errichtete »Denkmal an die Opfer aller Kriege« (Spomenik žrtvam vseh vojn), an dem seitdem im Rahmen von Staatsbesuchen Kranzniederlegungen und Gedenkveranstaltungen durchgeführt werden.

Neue Zeiten, neue Helden Wie nun also klar geworden ist, wurde den ehemaligen Soldaten der österreichischen Monarchie nach 1918 keine ›Heldenverehrung‹ zuteil und keine staatlichen Denkmäler errichtet. Stattdessen ging man daran, ein gemeinsames jugoslawisches Narrativ zu konstruieren  : Als einzige staatstragende Erinnerungskultur wurde dabei die serbische Freiwilligen-Militärtradition (und man kann hinzufügen  : Widerstand innerhalb der österreichisch-ungarischen Armee) gepflegt. Gedenken an österreichisch-ungarische Soldaten und damit auch an die slowenischen Kriegsopfer als jene, die für einen fremden und besiegten Staat gefallen waren, wurde völlig zurückgewiesen.44 Doch eine neue ideologische Ausrichtung kann nicht einfach mit der alten Meistererzählung brechen, ohne nicht ein neues Narrativ nachzuliefern. Jede historische Meistererzählung45 gruppiert sich schematisch um ihre Helden  – die Slowenen im Königreich SHS mussten sich zwangsläufig neue suchen. Man wählte statt Kriegsheldenromantik, zu der es in einem Kontinuum ohne Staatszerfall wohl gekommen wäre, Einzelschicksale aus, die dem slowenisch-jugoslawischen Narrativ besser entsprachen. Im Folgenden wird nun noch auf drei solcher Beispiele »neuer Helden« eingegangen  : Rudolf Maister, Ivan Endlicher und die Aufständischen von Judenburg. Im Zuge der Ziehung neuer Grenzen war es 1918 nicht eindeutig geklärt, wem die Untersteiermark (oder zumindest das Drautal und insbesondere Maribor/Marburg) zugeschlagen werden sollte. Insbesondere das zahlenstarke deutsche Bevölkerungssegment der Untersteiermark setzte sich für den Verbleib bei Deutsch-Österreich ein. Nach dem Prinzip der Selbstbestimmung der Völker hatte der Marburger Gemeinderat 43 Vgl. Spomeniki 1. Svetovne vojne, ZRC SAZU. 44 Svoljšak, Nekaj utrinkov (2006), 286. 45 Zum Begriff der Meistererzählung, vgl.: Jarausch, Konrad/Sabrow, Martin, »Meistererzählung«  – Zur Karriere eines Begriffs, in  : Dies. (Hg.)  : Die historische Meistererzählung  : Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, Göttingen 2002, 9–32.

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noch am 29. Oktober 1918 erklärt, Deutsch-Österreich angehören zu wollen, während der slowenische Nationalrat die Untersteiermark als Teil des SHS-Staates sah. Diese »Sicherung der Nordgrenze« für den neuen südslawischen Staat, wie es in der slowenischen Historiographie heißt, ist in erster Linie General Rudolf Maister (1874–1934) zu verdanken. Maister, damals k. k. Major und Kommandant des Landsturmregiments in Maribor/Marburg, besetzte in einer Blitzaktion die nur 20 km von der heutigen Staatsgrenze entfernt gelegene Stadt. Seinem energischen Vorgehen ist es zu verdanken, dass Maribor/Marburg ohne Volksabstimmung zu Jugoslawien kam.46 In der Untersteiermark und insbesondere in Maribor/Marburg wird die Erinnerung an General Maister bis heute hoch gehalten, wovon eine große – oft sehr lokalpatriotische – Publikationstätigkeit zeugt.47 Wurden in späterer Zeit Gefallenendenkmäler in der Untersteiermark errichtet, dann selten für die gewöhnlichen slowenischen Soldaten, die in der k. u. k. Armee gedient hatten, sondern eher für jene, die nach dem Umsturz die Seiten gewechselt und unter dem Kommando Maisters (in der Steiermark oder Kärnten) geholfen hatten, »die Nordgrenze« zu sichern.48 Das zweite Beispiel eines neuen »subversiven« Helden ist der slowenische Gymnasiast Ivan Endlicher (1891–1915)  – einer der jungen Anführer der »Preporod«-Bewegung [Erneuerung, Wiedergeburt], die sich für eine Zerschlagung der Monarchie und einen selbstständigen jugoslawischen Staat einsetzte. Er wurde bereits 1913 wegen politischer Aktivitäten des Gymnasiums verwiesen und nach dem Attentat in Sarajevo 1914 gemeinsam mit anderen des Hochverrats angeklagt. In Ljubljana/Laibach wurde er zu sieben Monaten Haft verurteilt und infolge nach Graz transferiert. Das Berufungsgericht verschärfte die Strafe  ; doch Endlicher erlebte die Urteilsverkündigung nicht mehr, weil er »im Grazer Kerker« am 5. September 1915 verstarb. Die Erinnerung an diesen jungen begeisterten Jugoslawen hochzuhalten, schien erstrebenswert, da er in mehreren Generationen von Enzyklopädien bis heute aufscheint. Sein früher Tod machte ihn zu einem jungen jugoslawischen Märtyrer, der im selben Ehrengrab wie die Opfer bzw. die Helden von Judenburg seine letzte Ruhe fand.49 Die steirische Stadt Judenburg nämlich wurde wegen Ereignisse im Frühjahr 1918 zu einem Erinnerungsort 46 Vgl. Guštin, Damjan  : Maister prevzame oblast v Mariboru, in  : Kronika XX. stoletja. 1900–1940, Ljubljana 2005, 210 und Gspan, Nada/Klein, Anton Adalbert  : Rudolf Maister, in  : Österreichisches Biographisches Lexikon (ÖBL) 1815–1950, Bd. 6, Wien 1975, 22–23. 47 Siehe bsw. die Sonderausgabe zu Maister der Časopis za zgodovino in narodopisje, Jg. 82 (2011) Heft 2–3, Maribor und Ude, Lojze  : Boj za severno slovensko mejo 1918/19, Maribor 1977. Zur Mythologisierung von Rudolf Maister vgl. Simonič, Peter  : Maistrovo stoletje  : od vojaka do mita, in  : Jezernik/Fikfak (Hg.)  : Dediščina (2021), 175–196 sowie Veilkonja, Mitja  : Izpodbijana junaka – Gavrilo Princip in Rudolf Maister kot subkulturni ikoni, in  : Jezernik/Fikfak (Hg.)  : Dediščina (2021), 247–266 sowie kompakt  : Almasy, Der Stellenwert des Ersten Weltkrieges (2017), 267–288. 48 Vgl. etwa Artikel über eine solche Denkmalenthüllung in Maribor  : Odkritje spomenika padlim vojakom, in  : Slovenski gospodar, Jg. 61 (1927) Heft 27, 4. 49 Vgl. Rozman, Franc  : Endlicher, Ivan, in  : Enciklopedija Slovenije, Bd 3., Ljubljana 1989, 42 und Svoljšak, Petra  : Obsojeni zaradi veleizdaje, in  : Kronika XX. stoletja. 1900–1940, Ljubljana 2005, 163.

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der neuen slowenischen Meisterzählung, worauf nun im Folgenden noch ausführlicher eingegangen werden soll.

Die Helden / Opfer von Judenburg Im Frühjahr 1918 war die Stimmung in der Armee aufgrund der allgemein schlechten Versorgungssituation bereits sehr angespannt. Das k. u. k. Infanterieregiment Nr. 17 – die »Krainer Janezi« – war damals in Judenburg stationiert. Auf den Schlachtfeldern hatte man solche Verluste erlitten, dass nun auch Minderjährige, alte Männer und kaum genesene Verwundete wieder eingezogen wurden. Auch integrierte man ehemalige Kriegsgefangene wieder in die Regimenter, die gerade erst aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt waren und nach dem Frieden von Brest-Litowsk nicht mehr eingezogen hätten werden dürfen. Sie hatten die Oktoberrevolution in Russland miterlebt und verbreiteten diese Ideen unter den Soldaten der österreichisch-ungarischen Armee (vom Anführer des Judenburger Aufstandes Anton Hafner hieß es, er sei »socialistisch verseucht«50). Aufgrund dieser schlechten Stimmung, strenger Strafen, einer allgemeinen Kriegsmüdigkeit, der unerträglich schlechten Ernährungssituation und dominant werdender nationaler Ideen von Freiheit und Unabhängigkeit  – man könnte sagen »aus nationaler Unzufriedenheit«51 – brachen in Judenburg, Murau und Bad Radkersburg bewaffnete Soldatenaufstände aus, von denen jener in Judenburg der größte slowenische und der erste große im österreichisch-ungarischen Hinterland war.52 Diese Aufstände standen im größeren Kontext mehrerer anderer Militäraufstände im Mai/Juni 1918  : Tschechische Soldaten des 7. Schützenregiments revoltierten in Rumburk, serbische Soldaten des 6. Infanterieregiments in Pécs, die slowakische Mannschaft des 71. Infanterieregiments in Kragujevac  – der Staatsapparat war aber noch mächtig genug, um alle blutig niederzuschlagen und weitere derartige Aktivitä-

50 Nachricht aus Judenburg an die 5. Abteilung des Kriegsministeriums vom 14. Mai, zit. nach  : Ude, Lojze  : Upori slovenskega vojaštva v avstro-ogrski armadi, in  : Zgodovinski časopis, Jg. XXII (1968) Heft 3–4, 185–205, hier  : 194. Ausführlich zu Hafners Biografie  : Ude, Lojze  : Anton Hafner, voditelj upora slovenskega vojaštva v Judenburgu 12. Maja 1918, in  : Loški razgledi, Jg. 15 (1968), 78–88. 51 Vgl. Ude, Upori (1968), 192. 52 Vgl. Nemanič, Ivan  : Upori slovenskih vojakov v maju 1918. Judenburg – Murau – Radgona, in  : Arhivi, Jg. XXV (2002) Heft 1, 137–143, hier  : 137. Auf die Aufstände in Murau und Bad Radkersburg wird im Folgenden nicht näher eingegangen, da sie nach jenem in Judenburg stattfanden, zahlenmäßig von viel weniger Soldaten unterstützt und folglich binnen weniger Stunden niedergeschlagen wurden. Doch auch hier wurden die Anführer exekutiert  : Boštjan Olip in Murau und Rudolf Ukovič und Andrej Melihn in Bad Radkersburg. Ihnen (und Anton Hafner) ist gemein, dass sie von der Ostfronterfahrung und/oder der russischen Kriegsgegangenschaft geprägt und den Idealen der (slowenischen oder jugoslawischen) Eigenstaatlichkeit beflügelt waren und die Idee, nochmals an die Front zu müssen, nicht ertragen konnten.

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Abb. 2: Das Innere der ›Jugoslawen­ kapelle‹ am Friedhof Judenburg, die 1935 als Gedächtniskapelle für die Aufständischen des Judenburger Aufstandes geweiht wurde. Das Secco-Gemälde zeigt einen gefallenen Soldaten.

ten (bis zum Oktober 1918) völlig zu unterbinden. Deutsches Militär hat nicht gemeutert, was von einer nationalen Komponente dieser Aufstände zeugt.53 Am Sonntagabend des 12.  Mai 1918 brach unter den slowenischen Soldaten (v. a. des XL. Marschbataillons) in Judenburg der Aufstand los – am Folgetag hätten sie wieder an die Front abziehen sollen – und brach sich, zwar nicht spontan, doch auch nicht wirklich gut geplant, seine Bahn (Hafner kam selbst erst am 23. April nach Judenburg). Die Kaserne, die Großmenage, das Offizierskasino und der Bahnhof wurden gestürmt und besetzt. Nach diesem militärischen Sieg gaben sich viele Soldaten der Siegestrunkenheit und Sorglosigkeit hin, feierten und betranken sich in der Stadt. Der Plan war es, in die Heimat abzuziehen. Doch schon in den Vormittagsstunden des Folgetages kamen die ersten Einheiten, ein ungarisches Sturmbataillon und noch weitere Einheiten aus Klagenfurt und Leoben, um den Aufstand niederzuschlagen und es gelang ihnen, die Fliehenden mehrheitlich einzufangen. Nachts fielen im Gefecht etwa 20 Sol53 Vgl. Ude, Upori (1968), 192. Von den sieben Meutereien, von denen das Kriegsministerium am 24.5.1918 berichtete, waren drei von slowenischen Truppen getragen  ; laut Lojze Ude »eine Tatsache, die bisher weder in der jugoslawischen noch in der österreichischen Geschichtsschreibung gebührend gewürdigt wurde«. Ebd., 205.

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daten und 180 wurden verwundet. Der Aufstand wurde niedergeschlagen. Die Anführer (Korporal Anton Hafner, Karel Možina, Lojze Štefanič und Joso Davtović) wurden am 16. Mai vor ein Standgericht gestellt, zum Tode verurteilt und das Urteil zwei Stunden später exekutiert. Sie wurden hinter dem Judenburger Friedhof erschossen. Einige Tage später wurden noch zwei weitere Todesurteile exekutiert.54 Die Aufständischen des Mai 1918 waren vielfach von nationalen bzw. jugoslawischen Ideen beseelt und waren demnach im neugegründeten jugoslawischen Staat Helden, die der neuen jugoslawischen Meistererzählung (und im Übrigen auch jener des Zweiten Jugoslawiens nach 1945 und des unabhängigen Sloweniens nach 1991) entsprachen. Dementsprechend wurde ihnen Ehrengedenken und Verehrung zuteil, wie sie die habsburgtreuen gefallenen Soldaten nach 1918 niemals erfuhren. Im Juni 1923 wurden ihre sterblichen Überreste nach Ljubljana/Laibach überführt und auf dem Friedhof Žale in einem Ehrengrab – geziert von dem bereits genannten Denkmal des »Krainer Janez« – beigesetzt. Die Särge wurden per Eisenbahn überführt, wo die Feierlichkeiten mit einem Dokumentarfilm festgehalten wurden. Zwischen Maribor/Marburg und Ljubljana/Laibach hielt der Zug an vielen Haltestellen, in denen jeweils eine Menschenmenge wartete und jubelte. Bei den Begräbnisfeierlichkeiten in Ljubljana/Laibach waren wichtige kulturelle und politische Repräsentanten anwesend. Die Prozession bewegte sich schließlich begleitet von Blaskapelle, Feuerwehr, Offizieren, Bürger:innen, Vertretern des nationalen Turnvereins »Sokol« uvm. in Richtung Friedhof, wo schließlich das Denkmal für die »Krainer Janezi« enthüllt wurde. 1939 wurde dieses Ehrengrab, wie bereits geschildert, zu einem Beinhaus und einem Soldatenfriedhof ausgebaut.55 Die Aufständischen sollen bei der Bevölkerung Judenburgs auf starken Rückhalt gestoßen sein. Die Arbeiter der stark industrialisierten Obersteiermark, in Judenburg insbesondere die Arbeiter der Steiermärkischen Gussstahlwerke, hatten bereits im Januar gestreikt und einen Friedensschluss gefordert. Darum scheint es plausibel, dass die Judenburger Aufständischen Sympathie für ihre Antikriegsstimmung erfuhren.56 Ein Hinweis für diese Solidarität war eine 1935 in Judenburg abgehaltene Gedenkveranstaltung für die Verstorbenen des Judenburger Aufstandes, als die so genannte Jugoslawenkapelle am Friedhof eingeweiht wurde. Ein Artikel in der »Chronik der slowenischen Städte« lobt in den höchsten Tönen die Gastfreundschaft der Stadt Judenburg, die die Weihe dieser Gedenkstätte am 10.  November 1935 in brüderlicher Eintracht mit ihren jugoslawischen Gästen beging.57 Mehrere Autobusse reisten bereits am Vortag mit slowenischen Gästen an, welche aktiv an den Gedenkfeiern teilnah54 Das waren der Truppenführer Lojze Rogelj und der Wiener Franc Grahovina. Vgl. Svoljšak, Petra  : Judenburg  : v boj proti vojni, in  : Kronika XX. stoletja, 1900–1940, Ljubljana 2005, 193–194 und Ude, Upori (1968), 196–199 und Nemanič, Upori slovenskih vojakov (2002), 142. 55 Nemanič, Upori slovenskih vojakov (2002), 142–143. 56 Vgl. Ude, Upori (1968), 195 und Nemanič, Upori slovenskih vojakov (2002), 138. 57 Vgl. N. N., Grobnica Janezov v Judenburgu, in  : Kronika slovenskih mest, Jg. 2 (1935) Heft 4, 317–321.

»V spomin žrtvam svetovne vojne« 

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men. Anwesend bei den Feierlichkeiten waren sowohl slowenische als auch heimische Ehrenbürger, hohe Geistliche und am »Dollfuß-Platz« begann ein Ehrenzug Richtung Friedhof. Die Militärkapelle, die Feuerwehr, eine Ehrengarde, Vertreter der Veteranenvereine und viele Stadt- und Umlandbewohner:innen in steirischen Trachten waren zugegen. Es wurde eine stille Messe bei der Gedenkkapelle abgehalten, Ehrensalven abgefeuert und slowenische Lieder gesungen. Das Innere der Kapelle schmückt ein Secco-Gemälde eines gefallenen Soldaten und eine silberne Inschrift (auch in slowenischer Sprache) »für die geliebten Brüder« und eine weiße Marmortafel mit den Namen der begrabenen Soldaten  ; darunter 86 Slowenen (siehe Abb. 2). Die slowenischen Gäste legten Kränze mit der jugoslawischen Trikolore ab, aber es gab auch »überraschend viele andere Kränze, meist aus Fichtenzweigen und Alpenblumen geflochten, mit weiß-grünen und rot-weißen Bändern«.58 »Ban Dr. Vončina sprach Judenburg im Namen der Banschaft Drau für den gastfreundlichen Empfang seinen Dank aus und versicherte, dass die Banschaft Drau niemals die Sympathie vergessen werde, die die Stadt Judenburg im und nach dem Krieg den slowenischen Angehörigen des ehemaligen siebzehnten Regiments zuteilwerden ließ« und sprach eine herzliche Gegeneinladung für das folgende Jahr aus, als in Ljubljana/Laibach das große Soldatenbeinhaus eingeweiht werden sollte.59 Am 12. Mai 1968 wurde außerdem in Godešič bei Škofja loka – dem Heimatort Anton Hafners – an seinem Geburtshaus eine Gedenktafel zu seinen Ehren enthüllt und der Anlass in Anwesenheit seiner noch lebenden Verwandten mit einem Trachtenumzug entsprechend gefeiert.60 Die Aufständischen von Judenburg waren also sowohl im ersten wie auch im zweiten Jugoslawien geeigneter Stoff für die neue slowenische bzw. jugoslawische Meistererzählung. Tief in das slowenische Erinnern an den Ersten Weltkrieg eingeschrieben wurden die Aufständischen von Judenburg auch deshalb, weil ihnen der wichtige slowenische Schriftsteller Prežihov Voranc (1893–1950) in seinem Kriegsroman »Doberdob« ein literarisches Denkmal gesetzt hat.61 Der literarische Autodidakt Lovro Kuhar (Pseudonym Prežihov Voranc) aus dem Kärntner Miestal war selbst Kriegsteilnehmer und kämpfte an der Isonzofront. Als aktiver Kommunist lebte er ab 1930 in der Illegalität, musste aus dem Königreich Jugoslawien fliehen und reiste quer durch Europa. 1939 kehrte er nach Jugoslawien zurück und schloss sich bald der Widerstandsbewegung an. 1943 wurde er verhaftet und ins KZ Mauthausen deportiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte er wichtige Parteifunktionen inne, starb allerdings bereits 1950. Prežihov 58 Ebd., 320. 59 Ebd., 321. Wir wissen allerdings, dass es erst 1939 zu dieser Einweihung kam  ; vgl. Svoljšak, Nekaj utrinkov (2006), 280–282 und Čopič, Slovenski spomeniki (1987), 168–169. 60 Vgl. Ude, Anton Hafner (1968), 86. 61 Kuhar, Lovro [Voranc, Prežihov], Doberdob. Vojni roman slovenskega naroda, Ljubljana 1940 und  : Doberdo. Slowenischer Antikriegsroman. Aus dem Slowenischen von Karin Almasy und Klaus Detlef Olof (Edition Slovenica 11), Klagenfurt 2008/2009.

373

374

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Karin Almasy

Voranc gilt als wichtigster Vertreter des slowenischen Sozialrealismus.62 Seinen aus vier Teilen bestehenden Kriegsroman »Doberdob« begann er zwar bereits in den 1920erJahren zu schreiben  ; doch in seinen Jahren im Exil gingen die Manuskripte mehrfach verloren, wurden von der Polizei beschlagnahmt etc. und Voranc musste mehrmals neu zu schreiben beginnen. Deshalb erschien der Roman »Doberdob« erst 1940 und erlebte zahlreiche Neuauflagen. Er gilt bis heute als einziger slowenischer Roman zum Ersten Weltkrieg. Inhaltlich und stilistisch wird er, der die Gräuel des Krieges aus Sicht einfacher Soldaten verdeutlicht, in eine Reihe mit Émile Zolas »La Débâcle«, Henri Barbusse »Le Feu« und Erich Maria Remarques »Im Westen nichts Neues« etc. gestellt.63 Voranc verknüpft darin seine eigenen Kriegserlebnisse in der Etappe (1. Teil Landsturm und 3. Teil Lebring) und an der Front (2. Teil Doberdob) mit den historischen Ereignissen in Judenburg (4. Teil), für den er gewissenhaft die Hergänge recherchiert, Zeitzeugen- und Archivberichte herangezogen haben soll. Deshalb lautet die allgemeine Einschätzung, Voranc habe die Ereignisse in Judenburg sehr detailtreu und wahrheitsgemäß geschildert.64

Als Schlusswort: Sag mir, wo die ›Helden‹ sind? Fasst man das in aller Kürze Skizzierte zusammen, so scheint es, dass in der Untersteiermark das ›Helden‹-Gedenken für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges so gut wie ausgeblieben ist. Zwar stellte der Zusammenbruch der Monarchie eine Zäsur für das gesamte ehemalige Kronland Steiermark dar, doch erlebte die Untersteiermark durch die neue Grenzziehung einen viel radikaleren Umbruch in ihren staatlichen, kulturellen und politischen Rahmenbedingungen als der bei Deutsch-Österreich verbliebene Teil der Steiermark. Für eine Monarchie, die es nun nicht mehr gab, gekämpft und sein Leben gegeben zu haben, brachte einem Betroffenen nur noch wenig posthume Ehrung und soziales Prestige ein. Die überlebenden Veteranen und Invaliden oder die zurückgebliebenen Familien hatten (zumindest bis 1925) unter schlechten rechtlichen Bedingungen zu leiden und bekamen nur wenig Hilfe. Engagement für ein Gefallenengedenken und Hilfe für die Invaliden und Kriegshinterbliebenen entstand fast ausschließlich aus privater Initiative und auf Mikroebene wie durch den Veteranenverband »Zveza bojev62 Ebd. Klappentext. Ausführlichere Biographie und zur Genese des Romans in den Anmerkungen von Drago Druškovič, in  : Voranc, Prežihov  : Zbrano delo 5, Doberdob, 243–289 und auf Deutsch, in  : Almasy, Karin  : Subversion oder Assimilation  ? Die Anthologie ›Slowenische Novellen‹ (1940) und ihre soziokulturelle Einbettung, Graz 2009. 63 Vgl. Druškovič, Opombe, 252. 64 Vgl. Ude, Upori (1968), 195 und ders., Anton Hafner (1968), 80 und Material zum Judenburger Aufstand, die in Voranc’ Nachlass gefunden wurden und die er für das Kapitel Judenburg herangezogen hat, in  : Druškovič, Opombe (1968), 266–282.

»V spomin žrtvam svetovne vojne« 

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nikov«. Auch die an die Gefallenen erinnernden Denkmäler in der Untersteiermark nehmen sich sehr bescheiden aus. Augenscheinlich wird dies vor allem durch einen Vergleich in Größe und Pomp zwischen zeitgleich errichteten italienischen oder serbischen Gefallenendenkmälern (wie in Kobarid und auf dem Avala) und den bescheidenen Namenstäfelchen, die in der Untersteiermark überwiegen. Stoff für ›neue (jugoslawische/slowenische) Helden‹ waren nunmehr unter den Soldaten nur noch die »Verteidiger der Nordgrenze« (General Maister & Co), Widerständige gegen den ›Völkerkerker‹ Monarchie (wie die Aufständischen von Judenburg) oder ›Märtyrer für die jugoslawische Idee‹ (wie Ivan Endlicher). Insbesondere der Gedächtnisort Judenburg für die slowenische Geschichte  – der durch Prežihov Voranc ein literarisches Denkmal gesetzt bekam – scheint ein in der österreichischen Historiographie bislang wenig beachtetes Ereignis zu sein65 –, dabei sind doch gerade verbindende Elemente wie die gemeinsame Einweihung der ›Jugo­ slawenkapelle‹ 1935 in Judenburg eine Spur, die es wert wäre, weiter verfolgt zu werden, um friedliche und freundschaftliche Querverbindungen zwischen österreichischer und slowenischer Seite nach 1918 zu finden. Es bestätigt sich außerdem der Befund, dass mit zunehmender zeitlicher Distanz und erschwert durch den Umstand, dass ab 1941 der nächste folgenschwere Krieg gefochten werden musste – das Thema Erster Weltkrieg dem kollektiven Vergessen anheimgefallen ist. Der Zweite Weltkrieg bzw. Kontroversen rund um ihn nehmen im kollektiven slowenischen Gedächtnis bis heute einen so prominenten Platz ein, dass der Erste Weltkrieg – trotz des mittlerweile deutlich gesteigerten Interesses durch die Jubiläumsjahre – auch in naher Zukunft tendenziell bleiben wird, was er bislang war  : nur ein Nebenschauplatz der kollektiven Erinnerung.

65 Vgl. dazu einzig ausführlich Andritsch, Johann  : Die Meuterei in Judenburg im Mai 1918 (Judenburger Museumsschriften 4), Judenburg 1968.

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Peter Teibenbacher

Zivile demografische Verluste in der Steiermark während des Ersten Weltkriegs sowie deren Auswirkungen auf die Bevölkerungsstruktur in den ersten fünf Nachkriegsjahren

In diesem Beitrag geht es nicht um militärische Verluste, auch nicht um den Verlust der sogenannten Untersteiermark  – heute als Štajerska der nordöstliche Landesteil Sloweniens  –, sondern um zivile Verluste aufgrund veränderter Mortalität/Sterblichkeit, Fertilität/Fruchtbarkeit und Nuptialität/Heiratsverhalten im Bereich des späteren Bundeslandes Steiermark während des Ersten Weltkriegs. Im Weiteren werden die unmittelbaren Auswirkungen auf die Bevölkerungsstruktur in der unmittelbaren Nachkriegszeit untersucht.

Vorbemerkungen In der Steiermark hatte schon vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs der sogenannte Erste Demografische Übergang eingesetzt. Dieser war vor allem von einem Rückgang der Fertilität gekennzeichnet, sowohl relativ als auch absolut. Es ist hier nicht der Platz, die Debatte um diese Transition wiederzugeben, welche die Historische Demografie als Disziplin beinahe spaltet und sich um die Kernfrage dreht, ob es überhaupt eine »Erste« Transition war, oder ob es schon eine »Transition vor der Transition« gab. Der Autor vertritt die Meinung, dass es in vorangehenden Jahrhunderten durchaus demografische Wellen längerer Dauer gab, dass es sich jedoch beim Ersten Demografischen Übergang wirklich um die erste Transition handelte, weil diese unmittelbar an die originären und nachhaltigen Umbrüche in gesellschaftlichen und ökonomischen Bereichen und Lebensbedingungen geknüpft war. Diese Umbrüche waren vor allem durch die Industrialisierung, den Übergang zu einem Marktsystem, die Ablösung gesellschaftlicher, (agrarisch-)homöostatisch orientierter demografischer »Regime« durch individuelle Optionen und durch die Säkularisierung definiert. Auch der Rückgang der Mortalität (Epidemiologische Transition), vor allem der Säuglings- und Kindersterblichkeit, trug dazu bei, dass offensichtlich zur Reproduktion nicht mehr so viele Geburten nötig waren. Man muss demnach jedenfalls zwischen einem Brutto- und einem Nettorückgang in der Fertilität sprechen. Ersterer brachte bloß – aufgrund des Rückgangs der Mortalität – eine Angleichung der Geburtenzahl, die Zahl der überlebenden Kinder nahm nicht ab. Einen solchen Rückgang kann man vor allem im Agrarbereich beobachten.

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Peter Teibenbacher

Der Nettorückgang erzielte tatsächlich auch einen Rückgang in der Zahl der überlebenden Kinder und ist vor allem im urbanen Bereich und auch in den Industriezonen zu beobachten. Hier handelt es sich um einen sogenannten quantity-quality-turn, der besagt, dass sich die Familien darauf konzentrierten, lieber weniger Kindern eine moderne Lebensqualität zu bieten, anstatt das Kapital auf viele Kinder auszudünnen. Diese Lebensqualität überschritt die alten Anforderungen nach bloßer Ernährbarkeit und umfasste eben eine bessere medizinische Versorgung, Ausstattung und Ernährung und vor allem eine bessere Ausbildung der Kinder. Die Kosten für die Kinder stiegen und ihr Nutzen als Arbeitskräfte  – wie er im Agrarbereich immer gegeben gewesen war – sank natürlich im urbanen Bereich und in den Industriezonen. Aber auch die Bauern kamen aufgrund der Umstellung von einem grundherrschaftlichen auf ein Marktsystem nicht darum herum, ihre Fertilität anzupassen. Und wurde in vorigen Jahrhunderten die Fertilität vor allem über gesellschaftlich normierte Nuptialität sozusagen auch extern kontrolliert, so wurde die Fertilität nun immer mehr zu einer Frage der familieninternen Kalkulation von Kosten- und Nutzenfaktoren. So wurden auch in der Steiermark 1868/69 alle bestehenden Heiratsrestriktionen aufgehoben, mit welchen früher armen Leuten das Heiraten untersagt wurde, um die Fertilität auf einem homöostatischen Niveau, eben in einem Gleichgewicht von benötigten Arbeitskräften und ernährbaren Personen zu halten. Die Heirat wurde zur persönlichen Option und ein gesellschaftlich definiertes, demografisches »Regime« zur Regulierung der Fertilität über die Nuptialität ad acta gelegt1. Diese Vorbemerkungen sind wichtig, da offensichtlich der Erste Weltkrieg zwar eine Unterbrechung dieser demografischen Transition mit sich brachte – die Mortalität stieg stark an und die Fertilität und Nuptialität sanken stark ab –, der Transitionsprozess aber nach einer kurzen, nach verlustreichen Krisen 1 Zu diesen Heiratsrestriktionen vgl. Pelikan, Christa  : Aspekte der Geschichte des Eherechts in Österreich, Phil. Diss. Wien 1981. Zu Theorien des Ersten Demografischen Übergangs vgl. Coale, Ansley/­Watkins, Susan (Hg.)  : The Decline of Fertility in Europe, Princeton 1986  ; Caldwell, John C.: Demographic Transition Theory. Dordrecht 2006  ; Doepke, Matthias  : Child Mortality and Fertility Decline  : Does the Barro-­Becker Model fit the Facts  ?, in  : Journal of Population Economics, Jg. 18 (2005) Heft 2, 337–366  ; Van Poppel, Frans et al.: Mortality Decline and reproductive Change during the Dutch Demographic Transition  : Revisiting a traditional Debate with new Data, in  : Demographic Research, 37 (2012) art. 11, 299–338  ; Dribe, Martin  : Demand and Supply Factors in the Fertility Transition  : a County-level Analysis of age-specific marital Fertility in Sweden, 1880–1930, in  : European Review of Economic History, Jg. 13 (2009) Heft 1, 65–94  ; Weigl, Andreas  : Ist das Konzept des »Demographischen Übergangs« für die Geschichtswissenschaften noch adäquat  ?, in  : Karl Hardach (Hg.), Internationale Studien zur Geschichte von Wirtschaft und Gesellschaft. Tl. 2, Frankfurt/Main et al. 2012, 1189–1199  ; Ehmer, J./Ehrhardt, J./ Kohli, M. (Hg.)  : Fertility in the 20th Century. Trends, Theories, Policies, Discources (= Historical Social Research, special Jg. 36 (2011) Heft 2)  ; Gehrmann, Rolf  : Geburtenbeschränkung im ländlichen Deutschland vor dem Fertility Decline, in  : Historical Social Research, Jg. 32 (2007) Heft 2, 91–110. Während für die Menschen im Kriege die Anreize zu heiraten und Kinder zu kriegen gering waren, wollte der Staat die Fertilität fördern. Scharf, Michaela  : Die Mobilisierung der Wiegen, Online-Ausstellung »Erster Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie« (https://ww1.habsburger.net/de/kapitel/die-mobilisierung-der-wiegen, download 8.2.2022). Diese »Mobilisierung« war aber nicht erfolgreich.

Zivile demografische Verluste in der Steiermark während des Ersten Weltkriegs 

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Abb. 1: Rohe Raten der natürlichen Bevölkerungsbewegung in Steiermark 1819–2012.

üblichen Aufholphase (»Hurra, wir leben noch/wieder«) ab etwa 1922 wieder einsetzte und sich rascher fortsetzte als es vor dem Kriege der Fall gewesen war.2 Aus Abbildung 1 geht hervor, dass in der Aufholphase die unmittelbaren Vorkriegswerte der rohen Geburtenrate (Fertilität) nicht überschritten wurden und ab etwa 1922 der Demografische Übergang wieder dort einsetzte, wo er sich unmittelbar vor dem Kriege befunden hatte.

Fertilität, Nuptialität und Mortalität im Kriege In Zeiten des Krieges hatten Fertilität und Nuptialität natürlich immer ab- und die Mortalität zugenommen. Das erste Kriegsjahr zeigt bezüglich der Nuptialität noch ein Paradoxon, die Heiratsrate steigt an. Dies hatte jedoch eine sehr natürliche Ursache  : jung Verlobte oder sich gefunden habende Paare oder solche, wo die Partnerin bereits schwanger war, heirateten, um der Frau das harsche Schicksal einer unversorgten Person zu ersparen. Als Verheiratete erhoffte man sich im Falle des Kriegstodes des 2 Vgl. Weigl, Andreas  : Demographic Transitions accelerated  : Abortion, Body Politics, and the End of Supra-Regional Labor Immigration in Post-War Austria, in  : Bischof, Günter/Plasser, Fritz (Hg.)  : From Empire to Republic  : Post-World War I Austria (Contemporary Austrian Studies 19), New Orleans 2010, 142–171.

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Peter Teibenbacher

Ehepartners für die Kriegerwitwe staatliche soziale Unterstützung.3 Der Krieg an sich verhinderte im weiteren Verlauf die Anbahnung von Heiraten und die Heiratsrate sank stark ab. Die Tabellen 1–3 zeigen die entsprechenden Werte der Fertilität, der Nuptialität und der Mortalität für die einzelnen Politischen Bezirke. Deren administrative Grenzen waren bis auf geringfügige Ausnahmen an der neuen Grenze zu Slowenien bzw. dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen ident mit jenen nach 1918. Tab. 1: Die Fertilität in den steirischen Bezirken, 1913–1919 (alle Geburten). Bezirk

1913=1

1914

1915

1916

1917

1918

1919

Verluste 1914–18

In %

Graz-Stadt

4266

1,02

0,88

0,75

0,68

0,69

0,73

–2723,0

–13,7

Bruck/Mur

1368

1,05

0,80

0,68

0,64

0,65

0,66

–832,0

–13,8

Deutschlandsberg

1297

1,09

0,82

0,65

0,67

0,77

0,85

–751,0

–12,6

Feldbach

2150

1,05

0,78

0,63

0,63

0,75

0,88

–1711,0

–17,2

Graz Land

2748

1,01

0,77

0,64

0,59

0,64

0,75

–3925,0

–28,1

Gröbming

871

0,96

0,74

0,58

0,58

0,61

0,66

–1220,0

–28,8

Hartberg

1609

1,03

0,81

0,64

0,63

0,69

0,76

–1228,0

–16,7

Judenburg

2112

0,97

0,76

0,64

0,57

0,61

0,64

–3248,0

–30,2

Leibnitz

1698

0,95

0,98

0,72

0,74

0,69

0,90

–871,0

–11,2

Leoben

2002

0,95

0,73

0,61

0,50

0,51

0,61

–3163,0

–32,4

790

1,05

0,82

0,61

0,59

0,57

0,65

–786,0

–21,5

1256

0,99

0,77

0,63

0,54

0,54

0,53

–1459,0

–25,1 –18,6

Liezen Mürzzuschlag Murau

874

1,01

0,80

0,65

0,65

0,72

0,75

–764,0

Radkersburg

712

0,98

0,79

0,59

0,64

0,67

1,13

–508,0

–16,3

Voitsberg

1135

1,00

0,81

0,60

0,65

0,66

0,75

–1040,0

–19,8

Weiz

1827

0,99

0,79

0,62

0,63

0,73

0,78

–2012,0

–22,7

Quelle: Die Bewegung der Bevölkerung in den Jahren 1914 bis 1921, hg. vom Bundesamte für Statistik, Wien 1923 und Österreichische Statistik, Bd. 14, Heft 1 (für das Jahr 1913). Der Wert von 1913 repräsentiert geg. den Werten der Jahre 1914–1919 jeweils den Wert 1 oder 100 %.

Tabelle 1 zeigt deutlich, dass selbst im ersten Friedensjahre (1919) die Geburtenzahlen in den meisten Bezirken nur etwa drei Viertel oder zwei Drittel, in manchen Bezirken sogar noch weniger des Wertes von 1913 betrugen. Lediglich die südlichen Bezirke Deutschlandsberg, Leibnitz, Radkersburg sowie Feldbach holen schnell auf und erreichen im Jahre 1919 bereits deutlich mehr als 80 % des Vorkriegswertes. Andererseits liegen gerade die obersteirischen Bezirke im Jahre 1919 bei nur etwa zwei Drittel des Vorkriegswertes. Diese auffällige regionale Streuung muss wohl auf die ökonomischen 3 Vgl. Pawlowsky, Verena/Wendelin, Harald  : Die Wunden des Staates. Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938, Wien-Köln-Weimar 2015, bes. 52–92.

Zivile demografische Verluste in der Steiermark während des Ersten Weltkriegs 

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Strukturen zurückzuführen sein. Die obersteirischen Bezirke  – mit Ausnahme von Gröbming und Murau – weisen die höchsten Industrialisierungsgrade auf, die südsteirischen Bezirke noch immer die höchsten Agrarwerte. Gerade in der Arbeiterschicht kann man von einem stärkeren Wiederbezug auf die demografische Transition ausgehen. Unter der Annahme und Berücksichtigung eines regelmäßigen Rückganges im Rahmen dieser Transition im Falle von Friedensjahren – Fortsetzung des Trends der Jahre 1910–1913  – anstelle von Kriegsjahren enthält die Spalte »Verluste« in Tabelle 1 eine vorsichtige Schätzung der in den Jahren 1914–1918 aufgrund des Krieges »verlorenen« Geburten. Angesichts der Annahme eines regelmäßigen Rückgangs der Geburtenzahlen aufgrund des Trends der Jahre 1910–19134 – und keiner Beschleunigung desselben unter den Bedingungen des Demografischen Übergangs in angenommenen Friedenszeiten, was aber durchaus nicht auszuschließen wäre  –, könnte man die Verlustzahlen auch vielleicht um etwa 2–3 % geringer ansetzen. Dies würde die Dramatik der Verluste an sich aber wohl kaum schmälern. Diese Verluste sind in der Spalte »in %« unter Berücksichtigung einer in Friedenszeiten fortgesetzter demografischer Transition (Fertilitätsrückgang  !) ausgedrückt. Z. B. betrug der Verlust an Geburten – im Kriege 1914–1918 tatsächlich passierte Anzahl der Geburten minus der in Friedenszeiten lt. Trend 1910–1913 erwarteten Anzahl in % der erwarteten Werte – in der Stadt Graz –13,7 %. Das Heiraten kann zwar noch nicht ganz als individuell entschieden angenommen werden, vor allem auf dem Lande dürfte die »arrangierte« Heirat noch verbreitet gewesen sein. Dennoch kann für urbane und industrialisierte Regionen davon ausgegangen werden, dass es in den letzten Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs kaum strukturelle Heiratsbeschränkungen gab.5 Die Heiratsrate war auch in den vorangegangenen Jahrzehnten leicht angestiegen. Vergleicht man die Verluste in der Nuptialität (siehe Tab. 2) mit jenen in der Fertilität (siehe Tab. 1), so muss man berücksichtigen, dass in verschiedenen Regionen/Bezirken im Rahmen des Demografischen Übergangs unterschiedliche Fertilitätsniveaus herrschten. In der Landeshauptstadt war der Verlust an Heiraten kleiner als jener an neuen Geburten. Dies lag daran, dass der Demografische Übergang in urbanen Zentren schon besonders starke Ausmaße angenommen hatte, die Chance zu heiraten aber im Rahmen der Modernisierung zugenommen hatte. Umgekehrt hat im agrarischen Bezirk Murau die Fertilität – relativ gesehen – weniger nachgelassen als die Nuptialität. Dies lag am verspäteten Einsetzen des Demografischen Übergangs in diesem ländlichen Bezirk, den dort noch länger höheren Geburtenraten und den noch eher traditionellen Routinen unterliegenden Heiratsbedingungen sowie der Abwanderung. Man kann davon ausgehen, dass die Geschwindigkeit des Demografischen Übergangs im 4 Bei den Geburten freilich kann man auch 1914 noch als »Friedensjahr« bezeichnen, der Krieg hatte noch keinen Einfluss auf deren Anzahl in diesem Jahr. 5 Wohl aber gab es strukturelle Heiratsschranken zwischen sozialen Schichten.

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Peter Teibenbacher

Sinne des Rückgangs der Fertilität während der Kriegsjahre nicht diametral verschieden zu schon vorher unterschiedlichen regionalen Strukturen erfolgte. Die Gegenthese, dass der »universelle« Krieg hier die regionalen Unterschiede verwischend, sie einebnend wirkte, ist natürlich auch nicht ganz von der Hand zu weisen. Die Kurvenverläufe der rohen Geburtenraten allerdings legen bei all der gemeinsamen Betroffenheit eher den Erhalt regionaler Vorkriegs-Unterschiede, teilweise sogar eine Verstärkung dieser Trends nahe. Tab. 2: Die Nuptialität in den steirischen Bezirken, 1913–1919 (alle Heiraten). Bezirk

1913=1

1914

1915

Graz-Stadt

1568

1,08

0,99

Bruck/Mur

567

0,81

0,63

Deutschlandsberg

301

0,84

0,26

Feldbach

443

0,74

0,25

Graz Land

747

0,91

Gröbming

212

0,57

Hartberg

284

0,77

Judenburg

430

Leibnitz

386

Leoben Liezen

1916

1919

Verluste 1914–18

1917

1918

In %

0,81

0,77

1,00

1,87

–319,0

–4,2

0,67

0,74

1,08

2,96

–1339,0

–37,6

0,34

0,52

0,79

1,60

–612,0

–42,5

0,32

0,51

0,81

2,05

–984,0

–45,8

0,48

0,40

0,45

0,64

1,39

–1639,0

–43,2

0,30

0,34

0,41

0,61

1,31

–620,0

–56,6

0,32

0,31

0,52

0,80

1,86

–502,0

–39,4

0,90

0,77

0,63

0,46

0,64

1,16

–560,0

–27,7

0,78

0,35

0,53

0,68

0,99

2,26

–548,0

–29,9

500

1,05

0,66

0,58

0,55

0,65

1,19

–526,0

–23,2

170

0,92

0,85

0,54

0,69

0,75

1,51

–229,0

–26,5

Mürzzuschlag

276

0,95

0,67

0,66

0,49

0,61

1,32

–455,0

–32,7

Murau

145

0,98

0,59

0,54

0,46

0,59

1,61

–131,0

–22,2

Radkersburg

124

0,87

0,38

0,45

0,77

0,90

2,97

–1,0

–0,2

Voitsberg

259

0,82

0,51

0,36

0,56

0,58

1,74

–646,0

–47,0

Weiz

409

0,83

0,34

0,29

0,47

0,70

1,69

–992,0

–48,0

Quelle: Die Bewegung der Bevölkerung in den Jahren 1914 bis 1921, hg. vom Bundesamte für Statistik, Wien 1923 und Österreichische Statistik, Bd. 14, Heft 1 (für das Jahr 1913). Der Wert von 1913 repräsentiert geg. den Werten der Jahre 1914–1919 jeweils den Wert 1 oder 100 %.

Die Bezirke mit noch traditional höherer Fertilität, wie etwa das obersteirische Murau oder das südsteirische Radkersburg, zeigen einen deutlich geringeren relativen Rückgang ihrer Fertilitätswerte während des Krieges als etwa die Stadt Graz oder die obersteirische Industrieregion Leoben, die schon vor dem Kriege stärker vom Demografischen Übergang geprägt gewesen waren.6 Warum aber gerade die Verluste an Heiraten in Graz-Stadt und noch mehr in Radkersburg so gering waren würde eine lokale Tie-

6 Die Erklärung signifikanter regionaler Unterschiede muss aber hypothetisch bleiben.

Zivile demografische Verluste in der Steiermark während des Ersten Weltkriegs 

|

fenstudie7 brauchen, hier könnten nur Vermutungen angestellt werden. Fakt jedenfalls ist etwa, dass im Bezirk Radkersburg nach dramatischen Verlusten in den Jahren 1915 und 1916 in den beiden Folgejahren 1917 und 1918 deutliche Überschüsse gegenüber den für Friedenszeiten erwarteten Werten der Eheschließungen erzielt wurden. Ein Hauptgrund für die errechneten, geringen Verluste in Radkersburg war der starke und regelmäßige empirische Rückgang in den letzten Vorkriegsjahren – im Jahre 1913 betrug der Wert nur mehr drei Viertel des Jahres 1910 –, dadurch verringerten sich rechnerisch die erwarteten Werte für eine angenommene Friedenszeit und in Folge die Verluste gegenüber den empirischen Kriegswerten.8 Tab. 3: Die zivile Mortalität in den steirischen Bezirken, 1913–1919 (alle zivilen Todesfälle). Bezirk

1913=1

1914

1915

1916

1917

1918

1919

Zuwächse 1914–18

In %

Graz-Stadt

3736

1,03

1,21

1,30

1,48

1,55

1,23

4469,0

22,3

Bruck/Mur

836

1,01

1,13

1,13

1,20

1,62

1,10

1026,0

25,2

Deutschlandsberg

1084

0,85

0,99

0,95

1,16

1,61

1,06

258,0

4,5

Feldbach

1846

0,97

1,06

1,04

1,15

1,45

0,99

1402,7

15,5

Graz Land

2015

0,97

1,06

1,04

1,15

1,45

0,99

1526,0

15,4

Gröbming

501

1,04

1,02

0,88

1,20

1,41

1,09

443,0

19,0

Hartberg

1162

0,95

1,00

0,97

1,12

1,38

0,98

387,0

6,5

Judenburg

1252

0,97

1,06

1,04

1,15

1,45

0,99

1519,4

27,2

Leibnitz

1353

0,97

1,06

1,04

1,15

1,45

0,99

1217,1

18,9

Leoben

1263

0,97

1,06

1,04

1,15

1,45

0,99

1066,8

17,5

Liezen

526

1,02

1,00

0,96

1,11

1,23

0,85

139,0

5,2

Mürzzuschlag

795

1,03

1,12

1,07

1,19

1,39

0,96

416,0

9,9

Murau

552

0,88

1,07

0,91

0,96

1,38

0,91

178,0

6,6

Radkersburg

643

0,89

1,02

1,01

1,02

1,26

1,20

–126,0

–3,6

831

0,97

1,07

1,26

1,21

1,71

1,19

1624,0

45,7

1317

0,94

1,07

0,99

0,99

1,45

1,02

742,0

11,6

Voitsberg Weiz

Quelle: Die Bewegung der Bevölkerung in den Jahren 1914 bis 1921, hg. vom Bundesamte für Statistik, Wien 1923 und Österreichische Statistik, Bd. 14, Heft 1 (für das Jahr 1913). Der Wert von 1913 repräsentiert gegenüber den Werten der Jahre 1914–1919 jeweils den Wert 1 oder 100 %. Für die mit Lagermortalität belasteten Bezirke (Feldbach, Graz Land, Judenburg, Leibnitz, Leoben) wurde ein mittleres Veränderungspotential aus dem Mittel der anderen Bezirke errechnet, daher sind bei den »Lagerbezirken« die Indexwerte identisch.

7 Es ginge also eher um den starken Rückgang der Nuptialität in den letzten Vorkriegsjahren. Man müsste alle Pfarrmatrikeln des Bezirkes anschauen, wer waren die Brautleute, woher kamen sie etc. 8 Das sind leider die »Kosten« des gerechneten Modells.

383

384

| 

Peter Teibenbacher

Bezüglich der Mortalität (siehe Tab. 3) muss angemerkt werden, dass die Österreichische Statistik auch die Todesfälle in den allfälligen Kriegsgefangenen-/Flüchtlingsund Interniertenlagern als zivile Todesopfer in die zivile Mortalitätsstatistik des Bezirkes zählte. Größere solcher Lager existierten im Bezirk Leibnitz (Lebring, Wagna), im Bezirk Judenburg (Knittelfeld), im Bezirk Leoben (ein Kriegsgefangenen-Arbeitslager, Pulverfabrik in Trofaiach), im Bezirk Feldbach sowie im Bezirk Graz-Land (Zivilinterniertenlager Thalerhof).9 In Wagna (Bezirk Leibnitz) entstand ein riesiges Lager, das vor allem Flüchtlingen aus Galizien und später aus dem Friaul dienen sollte, Tausende starben aber auch hier an Cholera, Typhus oder Fleckfieber  ; in einem Lager in Graz-Thalerhof (Bezirk GrazUmgebung) wurden vor allem ruthenische Flüchtlinge interniert, die der »Russenfreundlichkeit« verdächtigt wurden  ; Es handelte sich hier also nicht nur um Flüchtlinge, sondern eher um zwangsverschickte Personen. In diesen Bezirken würden sich unter Berücksichtigung der Ziviltoten in den Kriegsgefangenenlagern bzw. Flüchtlingsund Internierungslagern noch viel höhere Verlustwerte ergeben. Für die genannten Bezirke wurden die Werte in Tabelle 4 nach einem gesamtsteirischen Durchschnitt – ohne diese Bezirke berechnet – geschätzt. Der exorbitant hohe Wert im Bezirk Voitsberg ist auf eine sprunghaft erhöhte Sterblichkeit im Jahre 1918 zurückzuführen. Die Erklärung kann nur in der Spanischen Grippe liegen. Die offizielle Statistik des Bundesstaates Österreich10 führte in der Sterbestatistik nicht den Begriff »Spanische Grippe«, sondern verwendete etwa den Terminus »Lungenentzündung«. In dieser Kategorie ist eine markante Zunahme der Todesfälle von 11.205 im Jahre 1917 auf 21.065 im Jahre 1918 für ganz Österreich in Nachkriegsgrenzen festzustellen. Dort also müssen wir die Opfer der »Spanischen Grippe« suchen. Es erfolgte demnach eine Steigerung um fast 80 % gegenüber dem Wert von 1917  ! Leider liegen keine bezirksweisen Statistiken der Todesursachen vor, doch liegt die Vermutung nahe, dass die ausgedehnten Kohlereviere um Voitsberg, Bärnbach und Köflach viele Opfer hervorbrachten  : Die Kohlearbeiter waren aufgrund ihrer Arbeits- und der schlechten Umweltbedingungen sicherlich bezüglich ihrer Atmungsorgane und der Lunge bereits geschädigt und von daher eine »leichte Beute« für die Spanische Grippe.11 Die Spanische Grippe erweist sich hier als eine durch soziale Bedingungen tödliche Krankheit, so wie die Tuberkulose meistens eine Krankheit der Armen war.12

  9 Vgl. Hansak, Peter  : Das Kriegsgefangenenwesen während des I. Weltkrieges im Gebiet der heutigen Steiermark, Phil. Diss. Graz 1991. 10 Die Bewegung der Bevölkerung in den Jahren 1914 bis 1921, hg. vom Bundesamte für Statistik, Wien 1923. 11 Vgl. die Lokalstudie von  : Hörzer, Thomas  : Die Spanische Grippe in der Steiermark, Phil. Dipl. Graz 2010. 12 Vgl. Dietrich-Daum, Elisabeth  : Die »Wiener Krankheit«  : Eine Sozialgeschichte der Tuberkulose in Österreich, Wien 2007.

Zivile demografische Verluste in der Steiermark während des Ersten Weltkriegs 

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Tab. 4: Die zivilen Bevölkerungsverluste in Summe, infolge verlorener Geburten und zunehmender ziviler Todesfälle. Bezirk

1914

1915

1916

1917

1918

Verluste 1914–18

In % der Bev. 1920

Graz-Stadt

162,3

–925,3

–1613,0

–2384,7

–2431,3

–7192,0

–4,61

Bruck/Mur

104,3

–293,3

–415,0

–481,7

–772,3

–1858,0

–3,88

Deutschlandsberg

344,3

–100,3

–217,0

–371,7

–664,3

–1009,0

–1,92

Feldbach

207,9

–501,3

–751,3

–907,6

–1161,3

–3113,7

–3,62

Graz Land

77,7

–814,8

–1129,7

–1542,0

–2042,1

–5451,0

–4,86

Gröbming

–63,3

–239,7

–317,0

–478,3

–564,7

–1663,0

–5,42

Hartberg

154,7

–201,7

–384,0

–519,3

–664,7

–1615,0

–2,89

Judenburg

–80,5

–691,4

–991,6

–1328,4

–1675,5

–4767,4

–7,37

Leibnitz

–17,3

–73,3

–446,5

–538,9

–1012,0

–2088,1

–3,20

Leoben

–51,8

–609,4

–829,1

–1196,7

–1542,8

–4229,8

–6,70

Liezen

45,3

–98,3

–220,0

–299,7

–352,3

–925,0

–3,66

Mürzzuschlag

14,7

–291,7

–384,0

–549,3

–664,7

–1875,0

–4,61

Murau

87,3

–189,3

–216,0

–234,7

–389,3

–942,0

–3,46 –1,33

Radkersburg Voitsberg Weiz

104,7

–72,7

–159,0

–83,3

–171,7

–382,0

7,7

–306,7

–705,0

–624,3

–1035,7

–2664,0

–6,57

71,7

–466,7

–665,0

–638,3

–1055,7

–2754,0

–4,25

Quelle: Die Bewegung der Bevölkerung in den Jahren 1914 bis 1921, hg. vom Bundesamte für Statistik, Wien 1923 und Österreichische Statistik, Bd. 14, Heft 1 (für das Jahr 1913). Die Bevölkerung der Stadt Graz z. B. hätte im Jahre 1920 ohne die zivilen demografischen Verluste in den Jahren 1914–1918 um 4,61 % ihres Bestandes mehr betragen können.

Die höheren Werte für die Bezirke Judenburg und Leoben können nach einer bereinigten Schätzung (siehe Tab. 3) eigentlich nicht mehr gravierend von den zusammen mit den als Ziviltote verzeichneten Kriegsgefangenen/Internierten/Flüchtlingen belastet sein. In diesen beiden Industriebezirken tragen vielmehr die strukturellen Fertilitätsverluste (siehe Tab. 1) zu den im regionalen Vergleich erhöhten Gesamtverlusten in Tabelle 4 markant bei.13 Die südsteirischen Agrarbezirke zeigen wesentlich geringere 13 Summiert man die Verluste an Geburten und die erhöhten, zivilen Sterbefälle als Differenz zwischen tatsächlichen Werten im Kriege und nach dem Trend erwarteten Werten, so kann man diese in Prozent der Bevölkerung von 1920 ausdrücken. Zu ähnlichen Modellrechnungen vgl. Teibenbacher, Peter  : War, Peace and times of transition  : Civil demographic losses in Austria during WW I and »recovery« until 1938, in  : Da Silvo, Helena/Teodoro des Matos, Paulo/Sardica, Jose Miguel (Hg.)  : War Hecatomb. International Effects on Public Health, Demography and Mentalities in the 20th Century, Bern et al. 2019, 179–200 sowie Vandenbroucke, Guillaume  : Fertility and Wars  : The Case of World War I in France, in  : American Economic Journal-Macroeconomics, Jg. 6 (April 2014) Heft 2, 108–136.

385

386

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Peter Teibenbacher

Fertilitätsverluste (siehe Tab. 1) und daher ist selbst im Bezirk Leibnitz nach dem Herausrechnen der als Ziviltote verstorbenen Kriegsgefangenen (Lager Lebring) und Flüchtlinge (Lager Wagna) der Gesamtverlust (siehe Tab. 4) im Vergleich relativ gering.

Die unmittelbaren Auswirkungen Die unmittelbaren Auswirkungen der demografischen Verluste  – jetzt inklusive der Militärtoten betrachtet  – sind schwer abzuschätzen. Strukturell gab es natürlich die entsprechenden Veränderungen in der Alters- und der Geschlechterstruktur der Bevölkerung. Die ersten Volkszählungen in den Jahren 1920 und 1923 sind aber bereits vom schon im Herbst 1918 einsetzenden Nachkriegsboom in den Heiraten und Geburten geprägt. Dieser Boom macht natürlich unmittelbare Veränderungen in Alters- und Geschlechterstruktur der Bevölkerung (Herbst 1918) »zunichte« und ist wohl treffend mit den Worten »Hurra, wir leben wieder/noch« zu bezeichnen. Überlebende kommen (wieder) zusammen, heiraten, Witwen heiraten wieder, alle haben doch eine individuelle Hoffnung auf eine bessere Zukunft, und bekommen auch Kinder (siehe Abb. 1). Dieser Boom ist evident und verträgt sich so gar nicht mit dem angeblichen, pessimistischen »Megatrend« vom »Staat wider Willen«.14 Tab. 5: Durchschnitt der rohen Geburts- und Heiratsraten in Regionen und Zeitabschnitten. GR 1910–13

Region

GR 1914–18

GR 1919–23

HR 1910–13

HR 1914–18

HR 1919–23

Graz-Stadt

29,6

21,8

21,0

10,9

9,3

18,9

Oberstmk., industriell1

30,8

22,4

27,2

  8,1

6,2

11,8

30,1

22,8

29,5

  6,2

3,9

  8,8

Mittelstmk., agrarisch3

Oberstmk., agrarisch

28,1

20,6

27,1

  6,2

3,4

  8,8

Südstmk., agrarisch4

25,9

19,5

26,3

  5,5

3,2

  8,8

2

GR = rohe Geburtenrate, HR = rohe Heiratsrate; 1Bezirke Bruck an der Mur, Judenburg, Leoben, Mürzzuschlag; 2Bezirke Murau, Gröbming, Liezen; 3Bezirke Graz-Umgebung, Weiz, Hartberg 4 Bezirke Deutschlandsberg, Leibnitz, Feldbach, Radkersburg, Weiz. Quelle: GAFP-Graz Fertility Project (FWF P 21156-G15)

Tabelle 5 zeigt deutlich, dass im urbanen Zentrum Graz-Stadt zwischen 1919 und 1923 zwar fast doppelt so oft geheiratet wurde als im Kriege, dass diese Ehen aber offen14 Vgl. Adler, Alois/Ableitinger, Alfred  : Vom Staat wider Willen zum Staat, den wir wollen. 50 Jahre Republik Österreich, Graz 1968  ; Bruckmüller, Ernst  : Kleinstaat Österreich – Ablehnung und (langsame) Akzeptanz, in  : Karner, Stefan/Mikoletzky, Lorenz (Hg.)  : Österreich. 90 Jahre Republik. Ausstellung im Parlament, Wien 2008, 599–609.

Zivile demografische Verluste in der Steiermark während des Ersten Weltkriegs 

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sichtlich in dieser Zeit noch kinderarm blieben, denn die rohe Geburtenrate stieg nicht deutlich an, was aber überall sonst im Lande der Fall war. Und während überall sonst im Kriege die Heiratsraten deutlich zurückgingen, war dies in der Stadt Graz nur abgeschwächt der Fall, weil die Stadt im Jahre 1914 mit besonders vielen, vorsorgenden Kriegsheiraten hervorstach. Die hohe Politik und das Alltagsleben der kleinen Leute sind doch verschiedene Paar Schuhe. Der Boom dauerte allerdings nur etwa drei bis vier Jahre, bis ins Jahr 1922. Er war sehr stark, die Geburtswerte erreichten jene der unmittelbaren Vorkriegsjahre wieder, die Heiratswerte lagen sogar höher als in den Jahren 1910–1913. Es gab dabei aber ein merkbares Gefälle von ländlichen Agrarregionen zu urbanen und industriellen Regionen (siehe Tab. 5). Tab. 6: Bevölkerung, geschlechtsspezifisch, in den Jahren 1910 und 1923. Bevölkerung männl. 1910, in %

Bevölkerung männl. 1920, in %

Graz-Stadt

45,4

46,0

48,7

Bruck/Mur

52,7

50,6

51,4 49,8

Bezirk

Bevölkerung männl. 1923, in %

Deutschlandsberg

50,8

49,7

Feldbach

48,9

47,9

47,5

Graz Land

50,4

48,7

48,8

Gröbming

50,4

48,6

49,1

Hartberg

49,9

48,7

48,7

Judenburg

52,6

50,6

51,0

Leibnitz

50,0

49,2

49,3

Leoben

53,5

50,7

53,7

Liezen

52,1

49,2

50,8

Mürzzuschlag

52,2

50,3

51,7

Murau

51,0

49,3

49,7

Radkersburg

49,4

48,1

48,1

Voitsberg

51,2

50,1

51,4

Weiz

50,2

48,4

48,4

Quelle: Österreichische Statistik (Neue Folge 1, Wien 1912, und Neue Folge 14, Wien 1918) und Statistisches Handbuch für die Republik Österreich, Jg.  II, Wien 1921, und Jg.  IV, Wien 1924; Daten für das Jahr 1910 in den Vorkriegsgrenzen, für die Jahre 1913, 1920 und 1923 in den Nachkriegsgrenzen.

Tabelle 6 zeigt den Verlust an männlicher Bevölkerung gegenüber 1910, der auch bis 1923 nicht ersetzt werden konnte. Lediglich die Stadt Graz erfuhr (junge) männliche Zuwanderung. Der Bevölkerungsverlust in den Nachkriegsgrenzen im Bundesland Steiermark im Vergleich 1913 zu 1920 betrug rund 30.000, im Jahre 1923 noch immer

387

388

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Peter Teibenbacher

rund 4.600 Personen, ohne dass bis dahin eine merkliche Immigration stattgefunden hätte, auch nicht aus der ehemaligen Untersteiermark. Die Verluste an Militär- und Ziviltoten sowie ausgebliebene Geburten hatten also nachhaltige Konsequenzen für den Bevölkerungsstand. Trotz des starken Geburtenaufschwunges seit 1919 (siehe Abb. 1) erholte sich der Bevölkerungsbestand auch bis 1923 nicht vollständig, als die Fertilität bereits wieder in einen starken Rückgangsprozess (=Wiedereinsetzen und Verschärfung des schon vor dem Kriege begonnenen Demografischen Übergangs)15 eingetreten war. Eine natürliche Bevölkerungsvermehrung – ohne Zuwanderung also – konnte nun primär nur mehr aufgrund eines Rückgangs der Mortalität stattfinden. Es erhöhte sich also vor allem bloß die Zahl der Überlebenden in den oberen Altersklassen (>14 Jahre alt). Tab. 7: Anteile der männlichen Bevölkerung in groben Altersgruppen, 1910, 1920 und 1923 Bundesland Steiermark, Altersgruppe

Bevölkerung männlich 1910, in %

Bevölkerung männlich 1920, in %

Bevölkerung männlich 1923, in %

50,5

50,0

50,2

15-59

50,7

48,4

49,2

60 und älter

49,2

47,8

48,3

0-14

Quelle: Statistisches Handbuch für die Republik Österreich, Jg.  II, Wien 1921, und Jg.  VIII, Wien 1927; Daten für alle Jahre in Nachkriegsgrenzen.

Tabelle 7 zeigt den Verlust an männlicher Bevölkerung aufgrund des Krieges. Während die Anteile der männlichen Kinder (bis 14 Jahre alt) von 1910 auf 1923 nahezu konstant bleiben, sinken die Anteile der Männer in den oberen Altersklassen um 1,5 bis 2,3 % zwischen 1910 und 1920. Bis 1923 findet ein leichter Aufholprozess statt, doch werden die Werte von 1910 auch bis 1923 nicht mehr erreicht. Die Verluste an männlicher Bevölkerung aufgrund des Krieges sind vor allem unter den 20- bis 30-Jährigen zu suchen und werden durch die statistisch verfügbare, grobe Altersgruppe der 15- bis 59-Jährigen etwas verdeckt. Diese Verluste hatten natürlich auch Auswirkungen auf den österreichischen Arbeitsmarkt, denn etwa im Jahre 1930 fehlten dann die entsprechenden 35- bis 45-jährigen Arbeitskräfte.16 Böse Zungen mögen behaupten, die Arbeitslosigkeit wäre in der gerade beginnenden Weltwirtschaftskrise ohne diese Verluste dann noch schlimmer gewesen. Der Anteil der 0- bis 14-Jährigen ist im Jahre 1923 fast 15 Vgl. Weigl, Demographic Transitions (2010) 142–171. 16 Vgl. Winkler, Wilhelm  : Berufsstatistik der Kriegstoten der österreichisch-ungarischen Monarchie, Wien 1919  ; Winkler, Wilhelm  : Die Bevölkerungslage Österreichs, in  : Redaktionskomitee der Wirtschaftskommission (Hg.)  : Bericht über die Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten Österreichs, Wien 1931, 41–48.

Zivile demografische Verluste in der Steiermark während des Ersten Weltkriegs 

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gleich jenem im Jahre 1910, das ist dem Geburtenboom 1919–1922 geschuldet. Der Anteil der Alten (60+) ist kleiner und sollte wegen der steigenden Lebenserwartung, die schon vor dem Kriege eingesetzt hatte aber eigentlich größer sein. Hier sind auch zivile Sterbeverluste unter den 50- bis 60-Jährigen aufgrund der schlechten Versorgungslage während des Krieges »versteckt«.

Zusammenfassung Die zivilen demografischen Verluste während des Krieges waren enorm. Der Ausfall an Geburten war noch eklatanter als die wegen der mangelnden Versorgung angestiegene Mortalität. Insgesamt ergaben sich in der Steiermark zwischen 1914–1918 gegenüber einem erwarteten Trend nach den letzten Vorkriegsjahren etwa 26.300 Geburtenausfälle17 und etwa 16.300 zusätzliche Sterbefälle. Die Militärsterbefälle betrugen inklusive in Kriegsgefangenschaft Verstorbener in ganz Österreich in Nachkriegsgrenzen etwa 240.00018, das dürften in Relation zur Bevölkerung für die Steiermark ca. 34.500 – gegenüber ca. 42.500 an zivilen demografischen Verlusten – gewesen sein. Das Geburtenloch hatte unmittelbare Auswirkungen auf die Nachkriegsfertilität, welche in den Jahren 1919–1922 stark anstieg. Dieser Anstieg ist als ein Aufholungsprozess zu verstehen und kann mit dem Motto »Hurra, wir leben wieder/noch« umschrieben werden. Doch schon ab 1923 setzt wieder der Erste Demografische Übergang ein (Rückgang der Fertilität), der schon vor dem Kriege begonnen hatte. Dieser Prozess war der Modernisierung geschuldet, den Änderungen der Berufsstrukturen (Rückgang der agrarisch tätigen Bevölkerung), den verschobenen Kosten-Nutzen-Relationen der Kinder und den erhöhten Erwartungshaltungen der Eltern bezüglich ihres eigenen Lebens und vor allem bezüglich einer guten Zukunft für ihre Kinder. Zwar stieg auch in der Stadt Graz die Heiratsrate 1919–1923 wieder stark an, aber typisch für den Ersten Demografischen Übergang waren die urbanen Zentren auch die Gebiete niedriger Fertilität. Die regionalen Unterschiede in den demografischen Verlusten waren stark ausgeprägt. Bezüglich des Geburtenausfalls scheint aber auch während des Krieges der Demografische Übergang mehr gewirkt zu haben als die Kriegsumstände selbst  : Agrarische 17 Winkler, Wilhelm  : Die Bevölkerungslage Österreichs, in  : Redaktionskomitee der Wirtschaftskommission (Hg)  : Bericht über die Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten Österreichs, Wien 1931, 41–48, spricht von einem Geburtenausfall während des Krieges für ganz Österreich in den Nachkriegsgrenzen in der Höhe von 280.000. Das ergäbe in Relation zur Bevölkerung für die Steiermark etwa 36.000 ausgefallene Geburten. Dieser Wert ist sicherlich zu hoch, als absolutes Maximum kann man vielleicht 30.000 gelten lassen. Winkler berücksichtigt den in Friedenszeiten erwartbaren Fertilitätsrückgang nicht oder unterschätzt diesen. Allerdings war der Geburtenausfall in Wien noch drastischer, der von Winkler errechnete gesamtösterreichische Wert dürfte demnach nicht allzu hoch sein. Vgl. auch Weigl, Demographic Transitions (2010), 142–171. 18 Vgl. Winkler, Bevölkerungslage (1931).

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Peter Teibenbacher

Gebiete der Obersteiermark (Murau vor allem) und der Süd- und Südoststeiermark waren vom Übergang (=Fertilitätsrückgang) weniger betroffen, das war auch schon vor dem Kriege so gewesen. Die nicht-agrarischen Gebiete hatten – cum grano salis – die relativ höheren Verluste. Umgekehrt war die Mortalität in den Industriebezirken während des Krieges stärker ausgeprägt. Dies widerspricht jetzt nicht dem Trend des Mortalitätsrückganges, der schon vor dem Kriege eingesetzt hatte, sondern ist wirklich den Kriegsumständen geschuldet  : Die Versorgungslage war in diesen Gebieten offensichtlich schlechter als in den Agrargebieten, wodurch vor allem Mangelkrankheiten eher zum Tode führen konnten. In Bergbaugebieten wütete 1918 die Spanische Grippe unter den Arbeiter:innen wegen ihrer ohnehin angegriffenen Lungen. Bezüglich der Mortalitätsverluste ist aber im mikroregionalen Vergleich anzumerken, dass die erhöhten Werte in jenen Bezirken, wo Kriegsgefangenen- oder Zivilinternierungs- und Flüchtlingslager bestanden nur mit Vorbehalt vergleichbar sind. Diese Werte entstammen nicht einer internen Bezirksstruktur, sondern eben externen Einflüssen. Die genderspezifische Altersstruktur entsprach im Jahre 1923 fast jener des Jahres 1910. Man muss jedoch beachten, dass die in der Statistik verfügbare Altersgruppe der 15- bis 59-Jährigen die männlichen, militärischen Verluste der durch den Krieg besonders betroffenen Altersgruppe der 20- bis 30-Jährigen nur ungenügend wiedergibt.

Autor:innenverzeichnis Karin Almasy, Mag.a Dr.in phil. MA., Historikerin und Übersetzerin, Studienabschlüsse Übersetzen (2009) und Geschichte des Südöstlichen Europa (2013), Promotion 2017  ; aktuell Lektorin am Institut für Translationswissenschaft im Fachbereich Slowenisch. Forschungsschwerpunkte  : slowenisch/slawische-deutsche Wechselbeziehungen, natio­ nale Differenzierungsprozesse, die Rolle von Sprache in Nationswerdungsprozessen, Translationsgeschichte, die Slawen in der Habsburgermonarchie, historische Postkarten als Quellenmedium und Geschichte des österreichischen Schulwesens. Gerhard Michael Dienes (†), Dr.  phil., Historiker, ab 1980 im Stadtmuseum Graz, von 1990 bis 2004 dessen Leiter, ab 2005 im Universalmuseum Joanneum (Direktion/ Auslandskulturprojekte). Kurator von über 90 Ausstellungen im In- und Ausland, ca. 150 Publikationen zur Stadt-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, zur Industrie- und Verkehrsgeschichte, zum Thema Vorstädte und Vororte, zur Kultur- und Mentalitätsgeschichte sowie zur Geschichte des Alpen-Adria-Raumes. Nicole-Melanie Goll, Mag.a Dr.in phil., Historikerin, Studium der Geschichte und Fächerkombination, Promotion 2014, 2010–2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte (Zeitgeschichte) der Universität Graz, 2017–2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Haus der Geschichte Österreich (hdgö), 2020–2021 wissenschaftliche Projektmitarbeiterin am Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust Studien, seit 2022 Provenienzforscherin an der Akademie der bildenden Künste Wien im Auftrag der Kommission für Provenienzforschung / Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlicher Dienst und Sport. Forschungsinteressen  : Geschichte der beiden Weltkriege, Sozial- und Kulturgeschichte des Krieges. Heimo Halbrainer, Dr.  phil., Historiker in Graz, Leiter von CLIO (Verein für Geschichts- und Bildungsarbeit) und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centrum für Jüdische Studien der Universität Graz. Forschungsschwerpunkte und Publikationen zu den Themen NS-Herrschaft, Widerstand und Verfolgung während der NS-Zeit, jüdische Regionalgeschichte sowie dem Umgang mit der NS-Zeit nach 1945 (Erinnerungskultur und Justizgeschichte). Sabine A.  Haring-Mosbacher, Assoz. Prof.in Mag.a Dr.in, Studium der Soziologie und Geschichte, Promotion 2005, 1999–2005 wissenschaftliche Mitarbeiterin im SFB »Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900«  ; seit 1997 Mitarbeiterin am Institut

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Autor:innenverzeichnis

für Soziologie der Universität Graz, 2014 Habilitation in Soziologie. Arbeitsschwerpunkte  : Historische und Politische Soziologie, zentraleuropäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Emotionssoziologie. Hans-Georg Hofer, Prof. Dr., Historiker (Medizin- und Wissenschaftsgeschichte), promovierte mit einer Arbeit zur Geschichte der Psychiatrie an der Universität Graz (Nervenschwäche und Krieg. Modernitätskritik und Krisenbewältigung in der österreichischen Psychiatrie, 1880–1920, Wien  : Böhlau 2004). Nach Stationen in Freiburg, Manchester und Bonn (Habilitation 2010) seit 2015 Professor für Geschichte und Theorie der Medizin an der Universität Münster. Helmut Konrad, Em.o.Univ.-Prof. Dr.  phil. Dr. h.c., Studium der Geschichte und Germanistik, 1980 Habilitation für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte, 1981–1984 Außerordentlicher Professor an der Universität Linz, 1982–1983 Vertretungsprofessur Universität Innsbruck (Zeitgeschichte), ab 1984 Ordinarius für Allgemeine Zeitgeschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz, 1993 bis 1997 Rektor ebendort, Emeritierung 2016. Arbeitsschwerpunkte  : Geschichte der Arbeiterbewegung, politische Geschichte der Ersten Republik und Alltags- und Kulturgeschichte. Gerald Lamprecht, Univ.-Prof. Dr., Professor für jüdische Geschichte und Zeitgeschichte sowie Leiter des Centrums für Jüdische Studien (CJS) der Karl-FranzensUniversität Graz. Arbeitsschwerpunkte  : Europäisch-jüdische Geschichte, Antisemitismusforschung, Geschichte des Nationalsozialismus und die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung, Gedächtnisgeschichte. Martin Moll, Univ.-Dozent Dr., Studium Geschichte und Germanistik an der KarlFranzens-Universität Graz, Promotion 1987. 2003 Habilitation für Neuere und Zeitgeschichte ebendort. Forschungsschwerpunkte  : Geschichte der beiden Weltkriege sowie der Spätphase der Habsburgermonarchie, Propaganda- und Mediengeschichte. Michael Georg Schiestl, Dr.  phil., Historiker, Leiter des Stadtmuseums Judenburg. Veröffentlichungen zur Geschichte der Stadt Judenburg, zur Kultur- und Personengeschichte und zur frühneuzeitlichen Realienkunde. Organisation und Gestaltung zahlreicher Ausstellungen zur Stadt- und Regionalgeschichte. Arbeitsschwerpunkte  : Geschichte und Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, Geschichte der Juden in der Region Aichfeld-Murboden. Karin M.  Schmidlechner, Ao.Univ.-Prof.in i.R. für Zeitgeschichte am Institut für Geschichte der Universität Graz, Herausgeberin der Grazer-Gender-Studies und des Historischen Jahrbuchs der Stadt Graz. Aktuelle Forschungsschwerpunkte  : Regionale

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Frauen- und Geschlechterforschung, genderspezifische regionale und inter/transnatio­ nale Migrationsforschung. Ute Sonnleitner, Mag.a Dr.in, Historikerin und Leiterin des Landesbildungssekretariat des ÖGB Steiermark. Sie ist in Lehre und Forschung am Institut für Geschichte/ Zeitgeschichte der Karl-Franzens-Universität Graz aktiv. Forschungsschwerpunkte  : Frauen und Geschlechterforschung, Migrationsforschung, Theatergeschichte, Alltag/ Freizeit, Widerstand (sowie deren wechselseitige Verknüpfungen). Monika Stromberger, Mag.a Dr.in, Historikerin, Promotion 2001, Senior Lecturer am Institut für Geschichte (Arbeitsbereich Zeitgeschichte) der Karl-Franzens-Universität Graz. Arbeitsschwerpunkte  : Stadtforschung, Gedächtnis, Kulturtransfer, Architekturgeschichte und Visual History. Werner Suppanz, Assoz. Prof. DDr., Studium der Rechtswissenschaft und Geschichte, Promotion 1994, 1996–2004 Mitarbeiter im SFB „Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900“. Seit 2007 Mitarbeiter am Institut für Geschichte/Zeitgeschichte der Universität Graz. 2017 Habilitation in Zeitgeschichte. Arbeitsschwerpunkte  : Gedächtnisgeschichte und Geschichtspolitik, Politische Kultur, Krieg aus kulturwissenschaftlicher Perspektive. Peter Teibenbacher, Ao. Univ.-Prof. Dr., Studium der Geschichte und ­Kunstgeschichte, 1982 Promotion zum Dr. phil, seit 1986 Assistent am Institut für Wirtschafts-, Sozialund Unternehmensgeschichte der SOWI-Fakultät an der Karl-Franzens-Universität Graz. Habilitation 1999. Seit 1999 Vorstandsmitglied und seit 2015 Vizepräsident der ICHD (International Commission for Historical Demography). Hauptforschungs- und Lehrbereiche  : Historische Demografie, Regionale Wirtschafts- und Sozialgeschichte mit Schwerpunkt Österreich im 19. und 20. Jahrhundert, Historische Statistik. Bernhard Thonhofer, Mag. Dr. phil., Studium der Geschichte an der Karl-FranzensUniversität Graz, Promotion mit einer Arbeit über das Einschreiben des Krieges in den Stadtalltag (Graz 1914. Der Volkskrieg auf der Straße, Wien  : Böhlau 2018). Interessengebiete  : Alltagsgeschichte und Mikrohistorien. Jay Murray Winter, em. Charles J. Stille Professor für Geschichte an der Yale University, Honorarprofessor an der Australian National University, Mitbegründer des Historial de la Grande Guerre in Péronne, Frankreich. Forschungs- und Interessensschwerpunkte  : Britische und Europäische Geschichte unter besonderer Berücksichtigung des Ersten Weltkrieges und seiner Auswirkungen auf das 20.  Jahrhundert aus kulturwissenschaftlicher Perspektive.

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Autor:innenverzeichnis

Heidrun Zettelbauer, Assoz. Prof.in Mag.a Dr.in, Geschlechterhistorikerin und Kul­ tur­ wissenschaftlerin. Leitung des Arbeitsbereichs für »Kultur- und Geschlechtergeschichte«, Institut für Geschichte, Universität Graz. 2017 Habilitation in »Neuere/ Neueste Geschichte«. Mitherausgeberin von Zeitgeschichte und L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft. Arbeitsschwerpunkte  : Genderund Kulturtheorien, Nationalismen, Krieg, Gewalt, Auto/Biographie, Körper und Museologie aus kultur- und geschlechterhistorischer Perspektive. Anita Ziegerhofer, Univ.-Prof.in Mag.a Dr.in, Leiterin des Fachbereiches Rechtsgeschichte und Europäische Rechtsgeschichte am Institut für Rechtswissenschaftliche Grundlagen der Karl-Franzens-Universität Graz. Mitglied der Kommission für Österreichische Rechtsgeschichte an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften sowie wissenschaftliche Beirätin in mehreren Kommissionen. Forschungsbereiche  : Integrationsrechtsgeschichte, Verfassungsrechtsgeschichte, Gender.

Bildnachweise Sabine A. Haring-Mosbacher, Anna erzählt. Zum Alltag einer Grazer Schülerin von Oktober 1916 bis November 1917 Abb. 1, 2, 4, 5, 6 Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien Abb. 3  : Brigitte Essler Hans-Georg Hofer, Arbeit als Heilbedingung. Fritz Hartmann und die Grazer Psychiatrie im Ersten Weltkrieg Abb. 1–3 Hartmann, Fritz  : Die Grazer k. k. Nervenklinik im Dienst des Krieges, in  : Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 59 (1918), 1162– 1258, hier 1181, 1183 und 1189. Karin Almasy, »V spomin žrtvam svetovne vojne«. Gefallenendenkmäler in der Untersteiermark und slowenische Erinnerungskultur an den Ersten Weltkrieg Abb. 1 Arzenal ZRC SAZU, http://www.arzenal.si/spomeniki/5 (Foto von Mateja Ratej) Abb. 2 Ailura auf Wikimedia Commons, lizensiert unter CC BY-SA 3.0, Stand  : 7.9.2012 Peter Teibenbacher, Zivile demografische Verluste in der Steiermark während des Ersten Weltkriegs sowie deren Auswirkungen auf die Bevölkerungsstruktur in den ersten fünf Nachkriegsjahren Abb. 1 Tafeln zur Statistik der oesterreichischen Monarchie  ; Oesterreichische Statistik  ; Statistisches Handbuch für die Republik Österreich  ; Statistisches Jahrbuch Österreichs. Graphik vom Autor erstellt.